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C 123/8
Amtsblatt der Europäischen Union
18.3.2022
Beispiel 4 Situationsbestimmung: Unternehmen X organisiert Orchesterkonzerte und andere Veranstaltungen klassischer Musik.
Für Unternehmen X arbeiten mehrere Musiker, entweder als Arbeitnehmer oder als Selbständige, auf der Grundlage von Jahresverträgen.
Die Musiker erhalten unabhängig von ihrem Status vom Kulturdirektor des Unternehmens X Weisungen hinsichtlich der Stücke, die sie spielen müssen, des Zeitpunkts und Orts der Proben und der Veranstaltungen, an denen sie mitwirken müssen.
Unternehmen X hat einen Tarifvertrag mit allen Musikern geschlossen.
Darin sind eine Obergrenze von 45 Arbeitsstunden pro Woche und ein Tag Sonderurlaub nach Aufführung von drei Konzerten innerhalb derselben Woche vorgesehen.
Analyse: Die solo-selbständigen Musiker befinden sich in einer Situation, die mit derjenigen der Arbeitnehmer des Unternehmens X hinsichtlich des Unterordnungsverhältnisses und der Ähnlichkeit der Aufgaben vergleichbar ist.
Sie übernehmen dieselben Aufgaben wie die angestellten Musiker (d. h. sie spielen Musik für Aufführungen), sie unterliegen denselben Weisungen des Unternehmens X hinsichtlich Inhalt, Ort und Zeitpunkt der Aufführungen und sie werden für einen ähnlichen Zeitraum engagiert wie die angestellten Musiker.
In Anbetracht dieser Umstände fällt der Tarifvertrag, der die Arbeitsbedingungen der Musiker regelt, nicht unter Artikel 101 AEUV.
c)
Solo-Selbständige, die über digitale Arbeitsplattformen arbeiten
(28) Das Entstehen der Online-Plattformwirtschaft und die Bereitstellung von Arbeit über digitale Arbeitsplattformen haben eine neue Realität für bestimmte Solo-Selbständige geschaffen, die sich gegenüber den digitalen Arbeitsplattformen, über die oder für die sie ihre Arbeit erbringen, in einer Situation befinden, die mit derjenigen von Arbeitnehmern vergleichbar ist.
Solo-Selbständige können von digitalen Plattformen abhängig sein, insbesondere hinsichtlich der Kundenreichweite, und haben bei Arbeitsangeboten oft nur die Wahl „Alles oder nichts“ und wenig oder überhaupt keinen Spielraum, um über ihre Arbeitsbedingungen, einschließlich ihrer Vergütung, zu verhandeln.
Digitale Arbeitsplattformen können in der Regel die Bedingungen des Vertragsverhältnisses einseitig vorgeben, ohne dass die Solo-Selbständigen vorab informiert oder konsultiert werden.
(29) Aus den neueren Entwicklungen in der Rechtsprechung und Gesetzgebung auf innerstaatlicher Ebene ergeben sich weitere Hinweise für die Vergleichbarkeit dieser Selbständigen mit Arbeitnehmern.
In Fällen, in denen nationale Gerichte über die korrekte Einstufung zu entscheiden haben, wird zunehmend anerkannt, dass bei bestimmten Arten von Plattformen ein Abhängigkeitsverhältnis der Dienstleistungserbringer oder sogar ein Arbeitsverhältnis vorliegt (26).
Im gleichen Sinne haben manche Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften erlassen (27), in denen eine Vermutung für das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses festgelegt oder ein Recht auf Kollektivverhandlungen für Dienstleistungserbringer, die für oder über digitale Plattformen tätig sind, eingeführt wird.
(30) In diesen Leitlinien bezeichnet der Ausdruck „digitale Arbeitsplattform“ eine natürliche oder juristische Person, die eine kommerzielle Dienstleistung erbringt, welche alle nachstehend genannten Anforderungen erfüllt: (i) sie wird — zumindest teilweise — aus der Ferne über elektronische Mittel wie zum Beispiel eine Website oder eine mobile App erbracht, (ii) sie wird auf Anforderung eines Empfängers der Dienstleistung erbracht, und (iii) sie umfasst als notwendigen und wesentlichen Bestandteil die Organisation der Arbeit, die von Einzelpersonen ausgeführt wird, unabhängig davon, ob diese Arbeit online oder an einem bestimmten Ort erledigt wird.
Plattformen, die nicht die Arbeit von Einzelpersonen organisieren, sondern nur ein Mittel bereitstellen, über das die Solo-Selbständigen die Endnutzer erreichen können, stellen keine digitalen Arbeitsplattformen dar.
Eine Plattform, die zum Beispiel nur die in einem bestimmten Gebiet verfügbaren Dienstleistungserbringer (z. B. Klempner) zusammenstellt und anzeigt und den Kunden dadurch ermöglicht, auf Anforderung deren Dienste in Anspruch zu nehmen, wird nicht als digitale Arbeitsplattform betrachtet, da die Plattform nicht die Organisation der Arbeit der Dienstleistungserbringer übernimmt.
(31) In Anbetracht dieser Erwägungen fallen Tarifverträge zwischen Solo-Selbständigen und digitalen Arbeitsplattformen, die aufgrund ihrer Art und ihres Gegenstands auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen zielen, nicht unter Artikel 101 AEUV, und zwar auch dann nicht, wenn die Selbständigen von den nationalen Behörden/Gerichten nicht als Arbeitnehmer eingestuft worden sind.
(26) Für eine ausführliche Übersicht über die Rechtsprechung in neun EU-Mitgliedstaaten, der Schweiz und im Vereinigten Königreich siehe Hießl, C., „Case Law on the Classification of Platform Workers: Cross-European Comparative Analysis and Tentative Conclusions“, Comparative Labour Law & Policy Journal, 2.5.2021, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3839603.
(27) Siehe zum Beispiel in Spanien das Königliche Gesetzesdekret 9/2021 vom 11. Mai 2021 zur Änderung der Neufassung des Arbeitneh­ merstatuts, gebilligt durch das Königliche Gesetzesvertretende Dekret 2/2015 vom 23. Oktober 2015, in dem im Vertrieb über digitale Plattformen tätigen Personen Arbeitnehmerrechte garantiert werden, Staatsanzeiger Nr. 113 vom 12. Mai 2021, S. 56733-56738; oder in Griechenland das Gesetz der Hellenischen Republik 4808/2021 zum Arbeitsschutz — Einrichtung einer unabhängigen Arbeitsaufsichtsbehörde — Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt — Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 187 der Internationalen Arbeitsorganisation über den Förderungsrahmen für den Arbeitsschutz — Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und andere Bestimmungen des Ministeriums für Arbeit und Soziales sowie andere dringende Regelungen, Amtsanzeiger Α' 101/19-06-2021.