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Offene Tür bei der Regierung - Das Volk will nur mal gucken | Der Souverän wartet. Auf Einlass. Die Schlange aus meist barbeinigen Besuchern windet sich am Sonntagmittag mehrmals vor dem Bundeskanzleramt. Das Volk ist bunt: Junge Familien, geschniegelte Studenten, gebräunte Rentner. Die Bundesregierung hat die Bürger zum „Staatsbesuch“ geladen: Kanzleramt, Bundespresseamt und vierzehn Bundesministerien öffnen ihre Türen. Warum er gekommen sei, will ein Kamerateam von einem Wartenden wissen. Einfach nur zum Gucken, antwortet ein schlaksiger Mittfünfziger. Zustimmendes Nicken bei den Mitbürgern. In den hellen Fluren des Kanzleramts stillt das Volk seine Neugierde an Glasvitrinen. Staatsgeschenke sind dort ausgestellt: funkelnder Schmuck aus Turkmenistan und hochpolierte Holzkästchen aus Japan. Im Informationsraum läuft in Dauerschleife ein Film über die ehemaligen Regierungssitze. Vor der Kanzlergalerie üben sich die „Staatsgäste“ im Kanzlerraten. Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger sind eher wenigen in Erinnerung geblieben. Im Garten auf der gegenüberliegenden Spreeseite wird der Kanzleramtsbesuch zum Volksfest. Vor weißen Imbisszelten warten Einheimische und Touristen auf Bratwürstchen und Ofenkartoffeln. Im Informationszelt versorgen Mitarbeiter der Bundesregierung die Besucher mit bedruckten Stoffbeuteln und Angela Merkel-Porträts. Auf der Bühne zerreißt Zauberer Bert Rex Seidenpapier. Ein „Fest der Demokratie“ sei das, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Samstagmittag im Bundespresseamt. Die Regierten, ganz nah an den Regierenden. [[nid:54912]] Nah herankommen – das wollen die Regierten im Kanzleramt tatsächlich, vor allem am Sonntag, als die Kanzlerin sich ankündigt. Gegen halb drei am Nachmittag recken sie auf dem Ehrenhof die Hälse und zücken die Handykameras. Das Stabsmusikkorps der Bundeswehr bläst den Marsch. Langsam bahnt sich Angela Merkel den Weg durch die Menge. Sie schüttelt Hände, lächelt und winkt. Dann steht sie in türkisfarbenem Blazer und heller Hose auf der Bühne, vor dem Volk. Nachdem das Bundeswehr-Korps die letzten Töne gespielt hat, fragt Merkel zum Einstieg den Dirigenten, welche Nationalhymne denn am schwierigsten zu spielen sei. Er antwortet: „Die argentinische - dafür ist sie aber auch die schönste.“ Das will Merkel nicht so stehen lassen, verzieht den Mund und lässt ein zweifelndes „Naja“ von den Lippen. Lachen im Publikum. Danach erklärt die Kanzlerin, wie Staatsbesuche ablaufen und warum sie Frankreichs Präsidenten François Hollande nicht immer mit militärischen Ehren empfängt. Dann ist es Zeit, in den Dialog mit den Regierten zu treten: „Waren Sie schon drinnen im Kanzleramt?“ Das Volk nickt und schüttelt den Kopf. „Haben Sie dann noch Fragen?“, fragt Merkel. Ob sie bei Staatsbesuchen den Gästen auch die Kanzlergalerie zeige, will jemand wissen. Nein, meistens nicht, denn die könnten sich ihre Gäste auch selbst angucken, antwortet Merkel. Die zweite Frage ist die letzte: Welchen Traum sie für Berlin habe. „Dass man irgendwann nicht mehr sieht, wo Ost- und wo West-Berlin war“, spricht die Kanzlerin, dankt und geht von der Bühne. Der Beifall ist noch nicht verstummt, schon folgt des Volkes Urteil. „Die ist ja echt klein. Noch kleiner als ich“, gluckst eine ältere Frau. Im Fernsehen sei Merkel anders. Währenddessen versucht Merkel wieder in ihren Regierungssitz zu gelangen. Breitschultrige Sicherheitsleute schieben beherzt die Regierten weg. Ein wenig Distanz, die muss schon sein. | Sascha Brandt | Die Bundesregierung hat am Wochenende die Türen für Besucher geöffnet. Minister und Kanzlerin treffen auf das Volk. Szenen einer Begegnung von Regierenden und Regierten | []
| innenpolitik | 2013-08-26T09:57:42+0200 | 2013-08-26T09:57:42+0200 | https://www.cicero.de//innenpolitik/offene-tuer-bei-der-regierung-das-volk-will-nur-mal-gucken/55530 |
Frank-Walter Steinmeier - NSA-Affäre wird zum SPD-Problem | Ist die NSA-Affäre vorbei? Aufklären lassen sich Geheimdienstgeschichten ja nie. Aber wenn es stimmt, was Bundesregierung und deutsche Sicherheitsbehörden jetzt insinuieren, dann platzt bald ein riesiger Ballon, der mit viel Empörungsluft aufgepustet worden war. Wir erinnern uns: Im Zentrum der Affäre steht die Krake, das Monster, Big Brother, also die „National Security Agency“ (NSA). Die wird nach den Enthüllungen des Computerspezialisten Edward Snowden bezichtigt, in Deutschland monatlich 500 Millionen Daten abzugreifen. Diese „Totalüberwachung deutscher Staatsbürger“ verstoße eklatant gegen das Grundgesetz, heißt es. Die Bespitzelungspraktiken seien schlimmer als die der Stasi. Nun steht die Gegenthese im Raum. Demnach bestehen die 500 Millionen NSA-Daten pro Monat nicht etwa aus privaten Informationen über unschuldige Deutsche, sondern sind zum größten Teil das Ergebnis der ganz legalen Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes aus Krisenländern wie Afghanistan. Diese Ergebnisse werden der NSA auf der Grundlage eines 2002 geschlossenen Abkommens regelmäßig ganz legal zur Verfügung gestellt. Damals regierte Rot-Grün, der zuständige Kanzleramtsminister war Frank-Walter Steinmeier. Aus der Schlagzeile „Amerikaner spionieren massenhaft Deutsche aus“ wird plötzlich „Deutsche spionieren Afghanen aus“. Die Wut darüber dürfte sich in Grenzen halten. Aus der Schlagzeile „Regierung in NSA-Affäre unter Druck“ wird plötzlich „SPD und Grüne in Erklärungsnot“. Gut möglich, dass die sachliche und chronologische Klärung der Sachverhalte im weiter anschwellenden Wahlkampfgetöse ohnehin untergeht. Doch Zeithistoriker, die sich mit Entstehung und Verlauf von Skandalen befassen, finden hier ein pointenreiches Forschungsfeld, in dem apokalyptische Gesellschaftsvisionen nicht eben selten waren. Denn zum Skandal gerinnt meist das, was böse Ahnungen bestätigt. Von „Patriot Act“ über Drohneneinsätze bis Guantanamo: Die Amerikaner übertreiben es mit ihrem Sicherheitswahn nach Nine-Eleven. Von George Orwell über Google bis Facebook: Technisch ist die globale Überwachung möglich, der „gläserne Mensch“ bald Wirklichkeit. Was lag nach Snowden näher, als zu folgern, der Wust an Datenmengen sei ein weiteres Indiz für die rechtsmissachtenden Tendenzen paranoider und allmachtslüsterner amerikanischer Antiterrorpolitik – womöglich gar wissentlich geduldet von Spitzenpolitikern in Deutschland? Noch steht das endgültige Urteil aus. Die einzige Quelle hält sich mit Asyl in Russland versteckt. Und was ist mit dem Vorwurf der Industriespionage und der Verwanzung europäischer Einrichtungen? Nein, beendet ist die Affäre wohl kaum. Nur sollte, das lehrt der Verlauf der Debatte, nichts an sich schon für bewiesen oder widerlegt gelten. Der Verurteilungsdrang darf dem Wissen- und Verstehenwollen nicht übergeordnet sein. Kein Grund für die Regierung, die über weite Strecken einen kläglich-abwartenden und erschreckend desinformierten Eindruck hinterließ, jetzt hämisch zu kontern. Kein Grund aber auch für Sozialdemokraten und Grüne, jetzt weiterzumachen, als wäre man selbst nicht ebenfalls auf die eine oder andere Art verstrickt. Falls der Ballon tatsächlich platzt, wäre vielleicht sogar eine überparteiliche Entschuldigung wegen einiger grober Unterstellungen an die Adresse der Obama-Regierung angebracht. Zumindest in einer Traumwelt, in der es weder Wahlkampf noch rechthaberischen Groll gibt. | Malte Lehming | Amis spähen Deutsche aus, hieß es vor kurzem. Deutsche spähen Afghanen aus, heißt es nun. Doch das empört niemanden mehr. Nähert sich die NSA-Affäre gar ihrem Ende? | []
| innenpolitik | 2013-08-09T10:42:00+0200 | 2013-08-09T10:42:00+0200 | https://www.cicero.de//innenpolitik/frank-walter-steinmeier-nsa-affaere-wird-zum-spd-problem/55347 |
Doppelte Staatsbürgerschaft - Merkels Widerstand wird bröckeln | Schnittchen, Händeschütteln, Multi-Kulti-Bildchen: Beim diesjährigen Integrationsgipfel ist Angela Merkel auf einer unteren Treppenstufe stehen geblieben – mal wieder. Ein schmales Bekenntnis zu mehr „Teilhabe in unserem Land“, das war‘s. Allerdings – was hatte man auch erwartet? Im Wahljahr spielt die Kanzlerin wieder einmal jenes Spielchen, das sie seit Jahren am besten beherrscht: effektheischend die Reformagenda zu besetzen, ohne die eigenen Positionen auch nur einen Millimeter weit anzupassen. Sie spulte sechs Integrationsgipfel herunter, leierte etliche Islamkonferenzen ab, zimmerte den „Nationalen Aktionsplan Integration“, holte die Integrationsbeauftragte ins Kanzleramt – aber gegen die doppelte Staatsbürgerschaft stemmt sie sich weiterhin. Merkels Kalkül: Der konservative Unionsflügel wurde in all den Regierungsjahren schon weit genug gestutzt. Ob Eurokrise, Kernenergie, Wehrpflicht, Mindestlohn oder zuletzt die Frauenquote – die Zumutungen waren gewaltig. Von rechts knabbert auch noch die AfD. Jetzt bei der Integrationsfrage einzuknicken, würde ihr die christdemokratische Klientel vermutlich nicht verzeihen. Dabei deckt die Union auch in der Integrationsfrage längst das gesamte gesellschaftliche Spektrum ab. Da gibt es Hardliner vom Schlag des Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU), der wahlweise gegen Roma poltert oder den EU-Ländern Rumänien und Bulgarien die Tür zum Schengen-Beitritt zuschlägt. Da gibt es aber auch Leute wie Cemile Giousouf aus Hagen, die im Herbst wahrscheinlich als erste Muslima für die Union in den Bundestag ziehen wird. Oder Leute wie Serap Güler, seit einem Jahr erste türkischstämmige CDU-Abgeordnete in Nordrhein-Westfalen. Merkel wagt zwischen diesen integrationspolitischen Standpunkten einen schmerzhaften Spagat. Dabei ist die Verrenkung völlig sinnlos. Denn die gefühlte Mehrheit, die die Kanzlerin mit ihrem faktischen Blockadekurs bedienen will, ist längst keine mehr. Die Gesellschaft ist offener und toleranter geworden. Die meisten Menschen haben erkannt, dass Deutschland seinen Wohlstand langfristig nur mit Zuwanderern sichern kann. Die Cicero-Titelgeschichte des Juni-Hefts zeichnet ein farbenfrohes Bild: Mit den richtigen integrationspolitischen Anreizen könnte die Bevölkerung sogar wachsen. Die doppelte Staatsbürgerschaft wäre so ein Signal für eine echte Willkommenskultur. Das bisherige Optionsmodell ist nichts als Zwang und staatliche Bevormundung: Demnach müssen sich Doppelstaatler bis zum vollendeten 23. Lebensjahr für eine ihrer beiden Nationalitäten entscheiden. Es ist auch diskriminierend. Denn das Optionsmodell gilt weder für EU-Bürger noch für Zuwanderer, deren Herkunftsländer die Abgabe der Staatsbürgerschaft verweigern. All das passt nicht zu einer demokratischen Gesellschaft. Das sehen nicht nur alle Oppositionsparteien, sondern auch der eigene Koalitionspartner so. Neben FDP-Wirtschaftsminister Rösler, der sich noch vor dem Gipfel für die Reform eingesetzt hatte, wirkt die Union wie eine Partei aus dem Vorgestern. Merkel glaubt zwar, damit noch konservative Wählerstimmen zu binden. Zumal der Groll der tatsächlich Betroffenen im Wahljahr überschaubar bleiben wird: 2013 müssen sich 3.300 Menschen für oder gegen Deutschland entscheiden. Doch schon in der nächsten Legislaturperiode kommt die Kanzlerin an dem Thema nicht mehr vorbei. Nicht nur, weil Merkel dann eine türkischstämmige Fraktionskollegin hat. Und auch nicht nur, weil mit dem Gesetzentwurf der Türkischen Gemeinde Deutschlands jetzt eine Diskussionsgrundlage für Inklusion auf dem Tisch liegt, die sich schon beim nächsten Gipfeltreffen nicht mehr abräumen lässt. Sondern auch, weil 2018 Experten zufolge schon 40.000 potenzielle Wahlberechtigte vor der Staatsbürgerschafts-Frage stehen. Genau das war übrigens die Zahl, die Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg einst für eine Reduktion der Truppenstärke nannte. Mit 40.000 Zeit- und Berufssoldaten weniger könne man auch gleich die Wehrpflicht abschaffen, so sein Argument. Was sich der Plagiatsbaron damals noch als Leistung anheftete, war eigentlich ein Kunststück der FDP. Die Liberalen setzten in den Koalitionsverhandlungen eine Verkürzung der Wehrpflicht auf ein halbes Jahr durch. Später fand sich nicht einmal mehr in der Union noch jemand, der das sechsmonatige Kasernenpraktikum verteidigt hätte – das Aus für die Wehrpflicht. So hatte die FDP nonchalant ein jahrzehntelanges Bollwerk konservativer Werte geschleift. Wenn es im Herbst zu einer Neuauflage von Schwarz-Gelb kommt, sollten sich die Liberalen beim Streit um die Integrationspolitik an diesen Trick erinnern. Die Erfolgschancen stehen gar nicht mal so schlecht: Dann könnte sich Merkel die Reform – wie einst ihr Skandalminister – als eigene Idee anheften. Denn die doppelte Staatsbürgerschaft ist die logische Fortsetzung ihres Integrationsgipfels. | Petra Sorge | Noch lehnt Angela Merkel die doppelte Staatsbürgerschaft aus parteitaktischen Gründen ab. Dabei deutet alles darauf hin, dass ihr Widerstand schon in der nächsten Legislaturperiode einbricht. Bei der Integrationspolitik könnte es so ablaufen wie bei der Wehrpflicht | []
| innenpolitik | 2013-05-29T09:31:58+0200 | 2013-05-29T09:31:58+0200 | https://www.cicero.de//innenpolitik/doppelte-staatsbuergerschaft-merkels-widerstand-wird-broeckeln/54558 |
Townies – Sturm im Wasserglas | In den vergangen Kolumnen ging es vor allem um Bücher. Ich frage mich, ob ich mir vielleicht nicht zu viel vorgenommen habe für diese kleinen Samstagstexte, die ja auch ein paar Empfehlungen für das Berliner Alltagsleben geben sollen. Dass ich in den vergangenen Wochen viel auf meinem Sofa lag und las, ist dafür sicherlich ein wenig kontraproduktiv. Mir war einfach nur nach Lesen. Ich habe nicht einmal die ganzen amerikanischen Fernsehserien geschaut, die ich sonst im Netz verfolge. Ganze drei Episoden der Tina-Fey-Sitcom „30 Rock“ warten noch auf mich, ganz zu schweigen von den beiden letzten Folgen des Anwaltsdramas „The Good Wife“, die ich noch aufholen muss – beides wirklich großartige Shows, die sich um meinen Büroalltag zu drehen scheinen, irgendwo zwischen Irrenhaus und Kanzlei. Stattdessen: Romane. [gallery:Die Bilder zur Kolumne] Ich glaube, nach Trennungen ist das oft so. Wochenlang kann man nichts essen und unterhält sich mit all seinen Freunden darüber, warum man die E-Mail, die man am Tag zuvor bekommen hat, besser nicht mit „Go fuck yourself“ oder „Burn in hell“ beantworten sollte, auch wenn man es wirklich, wirklich will. Romane können in einer solchen Situation für eine innere Ruhe sorgen, mit der aufmerksamkeitsgeile Bewegtbilder nicht dienen. Bücher sind offener, man kann beim Lesen viel besser fröhlich vor sich hinprojizieren. An der ganzen psychoanalytischen Literaturtheorie, die den geisteswissenschaftlichen Studenten seit Jahren eingetrichtert wird, ist, denke ich, wirklich etwas dran. Mein Bearbeitungsbuch der vergangenen Woche war übrigens Olga Grjasnowas „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, und ich kann es nur weiterempfehlen. Eine junge, hoch traumatisierte Dolmetscherstudentin aus dem ehemaligen Aserbaidschan geistert darin durch Frankfurt und Tel Aviv und versucht, irgendwie mit dem Tod ihres Freundes zurande zu kommen. Es ist ein wunderschönes Buch ohne große Hoffnung, mit einer Menge Wut und gut dosiertem Drama. Man versinkt darin wie in einem klaren, warmen Sommerwasserstrudel. Ein Zustand aber ist das natürlich nicht. Irgendwann muss man raus aus Wohnung und Büro. Über seine Probleme kann man sich schließlich auch im Museum oder bei einer Galerieeröffnung unterhalten. An dieser Stelle könnte ich eine Reihe von Ausstellungen empfehlen, die man sich unbedingt anschauen sollte. Nicht nur, weil es die letzten Reste des bildungsbürgerlichen Gewissens gebieten (die Westküstenkunstausstellung „Pacific Standard Time“ im Martin-Gropius-Bau etwa), sondern auch, weil man sonst einfach Bewegendes verpasst (Boris Mikhailovs Ode ans dysfunktionale Scheißleben in der Berlinischen Galerie zum Beispiel) oder richtig Großes (wie Gerhard Richters „Betty“ in der Nationalgalerie, ein Bild, das man schon tausendmal reproduziert gesehen hat und dessen heimliche Trauer einen doch wochenlang umtreibt, wenn man es sich live anschaut). Aber viele der Bilder, die in Erinnerung bleiben, findet man auch in kleineren Ausstellungen, von denen es in Berlin glücklicherweise viele gibt. Eine dieser Ausstellungen ist „Upon Paper“, ein von außen recht unscheinbarer, kürzlich gegründeter Projektraum in der Max-Beer-Straße in Mitte, der vom Boutique-Papierhersteller Hahnemühle Fine Art ins Leben gerufen wurde. Die dortigen Schauen – zurzeit heißt das Thema „Planet L.A.“ – werden jeweils durch ein großformatiges Magazin in Kunstbuchqualität ergänzt. Eigentlich ist es nicht mehr besonders originell, über den leeren Mythos Los Angeles zu sprechen, in der Kunst zumindest ist die Stadt schon lange zu einem Allerweltstopos allererster Güte geworden. Aber viele der Arbeiten, die gezeigt werden, sind dann doch ziemlich umwerfend. Terrence Kohs ironischer „White Cock“ leuchtet an der Wand und spielt mit Finesse mit unseren schmutzigen Gedanken und unseren Ideen von Sex und Ethnie. Ein traumhaft schönes Dries-van-Noten-Kleid steht versetzt vor zwei von James Reeves‘ „Lightscape“-Fotos, deren nächtliche Lichterlandschaften sich melancholisch in den Mustern der dunkelblauen Couture spiegeln. Und ganz hinten in den Ausstellungsräumen hängt ein unglaublich graues, unglaublich berührendes Bild von Jack Pierson, einem meiner liebsten Künstler, der mit traurigen Fotos von schönen Jungs berühmt wurde und mit Installationen aus ausrangierten Leuchtbuchstaben mit glimmenden Ein-Wort-Botschaften wie „LOVE“. Das großformatige Bild zeigt eine leere Straße, die ins Nirgendwo zu führen scheint. Es wirkt, als sei es ausgebleicht, von einer großen Stille durchtränkt. Doch dann stellt man fest, dass es darauf stürmt, orkanartig und unfassbar laut stürmt und dass nur niemand da ist, um es zu bemerken. Olga Grjasnowa „Der Russe is einer, der Birken liebt“, Hanser-Verlag, 288 Seiten, 18,90 Euro Planet L.A., Upon Paper, Max-Beer Straße 25, 10119 Berlin, Dienstag bis Samstag, 12:00 bis 18:00 Uhr | Runter vom Sofa, ab ins Museum, rät Daniel Schreiber in seiner Samstagskolumne. Auch dort kann man über seine Probleme reden | []
| kultur | 2012-04-13T17:07:08+0200 | 2012-04-13T17:07:08+0200 | https://www.cicero.de//kultur/sturm-im-wasserglas/48959 |
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Fastenzeit – Wie ich versuchte, die Welt zu verbessern | Ich bin nicht religiös. Ich bin nicht übergewichtig. Ich sehe
auch nichts, wofür ich büßen müsste. Fasten macht für mich partout
keinen Sinn. Aber deswegen auf gute Vorsätze verzichten? Meiner
soll darin bestehen, dem Schlechten zu entsagen. Nicht durch
Verzicht auf Völlerei. Statt zu fasten, will ich die Welt mit guten
Taten füttern. Die Welt ist groß. Ich bin 156 Zentimeter klein. Ich werde also
ganz unten anfangen müssen. Ich will versuchen, jeden Tag etwas
Gutes zu tun. Etwas ganz Alltägliches. Etwas Kleines. Etwas,
was jeder kann. Etwas, was die Welt vielleicht freundlicher machen
würde, wenn es alle täten. Ich nehme mir vor, die Welt zu
verbessern. Einen Monat lang. Der Monat des guten Vorsatzes fängt denkbar schlecht an.
Zahnarzttermin. Eckzahn oben links braucht neue Verplombung. „Mit
oder ohne Betäubung?“ fragt der Dentist meines Vertrauens. „Ohne“
gurgelt es aus meinem aufgesperrten Mund. Mein Martyrium könnte das
deutsche Gesundheitssystem um eine Schmerzspritze entlasten. Beim
Bohren stellt sich heraus, der Zahn war eh tot. Macht allenfalls
einen halben Punkt auf meinem Gute-Taten-Konto. Dann treffe ich Frau T. am Praxisausgang. Hinter dicken
Brillengläsern starrt die alte Dame auf die Treppenstufen wie auf
einen Abgrund. „Darf ich Ihnen helfen?“ Frau T. guckt etwas
ungläubig, als ich sie unterhake. Wenn sie nun stolpert, kugeln wir
beide abwärts. „Linkes Bein vor – prima!“ und noch einmal „linkes
Bein vor“. Nach drei Minuten haben wir das eine Stockwerk zur
Haustür geschafft. „Ging doch gut“, sage ich. Frau T. lächelt ein
dankbares „Muss ja“ zum Abschied. Das tut gut, aber eine Nummer weltbewegender darf`s schon sein.
Im Internet findet sich eine Protestkampagne gegen Polens Einstieg
in die Atomkraft . Ich will kein neues AKW. Nicht in Grenznähe. Und
auch sonst nirgendwo. Absender eingeben, Mustereinspruch
unterzeichnen. Zwei Mausklicks und die polnische Regierung wird
meine Meinung zu ihren Atomplänen kennenlernen! Mein Einspruch ist
einer von über 60.000. Er hat keine bindende Wirkung. Aber ein
bisschen stolz bin ich schon auf mich. Welt verbessern ist
eigentlich nicht sehr anstrengend. „Die Post – ein Päckchen für Sie“ – beim ersten Klingelzeichen
spurte ich die fünf Stockwerke zur Haustür hinunter. Die zierliche
Postbotin mit der prallen gelben Tasche hat`s eh schwer genug.
Heute erspare ich ihr das Treppensteigen und wünsche ihr einen
„Guten Morgen!“. Seitdem lachen wir uns an, wenn wir uns auf der
Straße begegnen. Geht doch! Nächste Seite: Gutes tun kann eine Win-Win-Situation
sein 2012 ist noch frisch und mein Gute-Tatendrang auch. Ich
liebäugele mit einem Jahreslos bei dieser Fernseh-Lotterie, die
Koffer voller Geld über armen Leuten ausschüttet. Aber erst bekommt
der frierende Motzverkäufer seinen Euro. Später sehe ich ihn auf
dem U-Bahnhof mit schnapsseligen Kumpels. Ich zweifle, ob meine
Spende als gute Tat zählt. Die Weihnachtslektüre stapelt sich immer noch vor dem
Bücherregal. Nicht alles muss raus, aber etwas. Ich packe alle
Bücher der Kategorie „Ganz nett, aber nicht ein zweites Mal lesen“
in eine Kiste und fahre in meine Neuköllner Stadtbücherei. „Ach,
das ist aber nett“, die Freude der Bibliothekarin ist echt. Man ist
hier froh über jede Gratis- Vermehrung des Lese-Bestands. Zwei
Wochen später ist das erste „meiner“ Bücher ausgeliehen und ich
habe Platz im Regal für neue. Gutes tun kann eine Win-Win-Situation
sein. Meine erste Woche der guten Taten hat nicht die Welt, aber
zumindest meinen Gemütszustand verbessert. Gutes tun kann bedeuten, Schlechtes zu lassen. In der zweiten
Woche meines Selbstversuchs verbanne ich alle Plastikverpackungen.
Schluss mit eingeschweißtem Parma-Schinken . Beim Einkauf werde ich
zur „Nein bitte ohne Tüte“-Kundin. Der türkische Gemüsehändler
schaut verständnislos, die Karstadt-Kassiererin beleidigt. Erst
nach zweimaliger Aufforderung bringe ich sie dazu, meine frisch
erworbene Kugelschreibermine wieder aus der Plastiktüte zu fingern.
Sie hat den Auftrag, Kunden ungefragt Gutes zu tun – ich habe den
Vorsatz, die Welt vor dem Plastikinfarkt zu retten. Ein
Kommunikationsdesaster. So wird das nichts mit dem
Weltverbessern. Deshalb auf ins Grüne. Aufs Land! Hier ist die Welt eh ziemlich
schön und die Menschen sind freundlich zueinander. Nur: Welche gute
Tat soll ich hier tun? Dem Bagger, der hier unberührte Natur zum
„Ferienhausidyll“ planiert, Zucker in den Tank schütten? Ich
spendiere den Meisen im Garten ein Futterhäuschen. Und komme mir
mit meinem täglichen guten Vorsatz lächerlich vor. Zurück in Berlin zeigt sich meine Nachbarschaft einmal mehr von
ihrer schlechtesten Seite. Was immer an alten Fernsehern und Sofas
Modernerem weichen musste, steht auf dem Bürgersteig. Jeder ärgert
sich darüber und jeder weiß: Wo einmal Müll steht, steht bald noch
mehr. Ich frage mich zum Ordnungsamt meines Bezirkes durch. Das
dauert. Aber schließlich notiert eine freundliche Dame:
Straßenname, Fernseher vor Hausnummer sieben, Matratze vor der 13.
Vier Tage später ist der Müll tatsächlich futsch. Meine zweite
Woche als Weltverbesserin endet mit einem kleinen
Erfolgserlebnis. Halbzeit. Ich spüre meinen guten Vorsatz wanken. Die Ideen gehen
aus. Die Stadt bibbert vor Kälte und igelt sich ein. Ich verlege
meine gute Taten ins weltweite Netz. Dort ist es warm und dort
lässt sich schier unbegrenzt Gutes tun: Petitionen unterzeichnen,
US-Präsident Obama die Leviten lesen für 10 Jahre Gefangenenlager
Guantanamo, Hilfsprojekte unterstützen. Professionell organisierte
Spendenportale bieten einen ganzen Katalog guter Taten. Ich könnte
Brunnen bohren helfen in Afrika, einem Kinderhospiz unter die Arme
greifen, Solarkocher für Indonesien zahlen. Ich kann mich nicht
entscheiden. Ich bin nicht reich. Weiß ich, wohin mein Geld fließt
bei all diesen Maschen im weltweiten Netz? Ich spende fünf Euro für
eine Schulbank in Kenia – und komme mir elendig knickerig vor. Nächste Seite: Wie man eine Revolution adoptiert Die Woche drauf werde ich deshalb „eine Revolution adoptieren“ –
so jedenfalls wirbt ein Bündnis von deutschen und syrischen
Menschenrechtsgruppen. Meine Spende soll Bloggern einer
oppositionellen syrischen Studentenorganisation helfen, ihr
Internet zu zahlen. Heute mache ich Muttertag! Eine halbe Stunde stelle ich mich an
die Tür eines Einkaufszentrums, um Frauen mit Kinderwagen die
sperrigen Glasportale aufzuhalten. Die erste Mutter ist ein Vater
mit Buggy. Sieben Mal wuchte ich die schwere Tür auf. Immer ernte
ich dankbare Blicke. Es stimmt tatsächlich: Gutes tun, kann Freude
machen. Ich hoffe nur, niemand sieht mich. Denn im Souterrain der
Einkaufsmeile bitten einige „Profis“ diskret um eine kleine
Geldspende für die gleiche Hilfestellung. Um die Woche drei
abzurunden, fahre ich fünf U-Bahn-Stationen weit für ein Kilo fair
gehandelten Espresso. Endspurt . Das Weltverbessern wird mühsam. Alles kommt mir so
albern selbstverständlich vor. Ich biete über dem Stadtplan
rätselnden Berlin-Besuchern ein „May I help you?“ an, lasse eine
Mutter mit Baby in der Schlange am Postschalter vor, stehe für alte
Damen in der U-Bahn auf, um tags darauf selbst mit gequältem
„Danke, sehr freundlich“ den Platz abzuwehren, den mir ein junger
Mann anbietet. Wie kommt der Lümmel dazu, mich so alt zu
machen! Ich verabrede mich mit meinem Neuköllner Patenkind, das ich im
Rahmen eines Ehrenamtes betreue. Wir kochen gemeinsam, natürlich
fleischlos, auf dass der Elfjährige seine Mutter bei der Hausarbeit
entlastet. Er lernt, dass man Nudeln nicht in kaltes Wasser
schüttet, um sie zu garen. Ich lerne, dass heutzutage schon
Elfjährige fragen: „Duuu, welchen Beruf soll ich machen, damit ich
später eine gute Rente kriege?“ Mein Weltverbesserungsvorsatz schwächelt. Am Wochenende vergesse
ich ihn ganz. Unter der Woche gibt es Aussetzer. Zum Schluss jedoch
gehe ich an meine ganz persönlichen Grenzen. Ich verkleinere meinen
ökologischen Fußabdruck. Ich drehe die Heizung zwei Grad runter.
Das nützt dem Weltklima und dem Geldbeutel. Ich krame Pulswärmer
heraus, sitze mit Skisocken am Laptop. Am frühen Abend gebe ich
auf. Für einige gute Vorsätze bin ich einfach anatomisch nicht
geschaffen. Für andere schon. Vier Wochen gute Taten haben mich aufmerksamer
gemacht für meine Umwelt, für mitmenschliche Freundlichkeiten, für
kleine Möglichkeiten, sich einzumischen in die große Politik oder
den Alltag, für Rücksichtnahme und Hilfestellungen, die erstaunlich
viele Menschen auch ganz ohne gute Vorsätze leisten. Die Welt ist
die Gleiche geblieben. Ich auch. Aber ich nehme mir fest vor, einen
Teil dieser Achtsamkeit zu bewahren. Nur ist da nach einem
Monat auch die Lust, etwas ganz Gemeines zu machen: knusprige
Billig-Masthähnchen essen oder besser noch: allen Handy-Schwätzern
in Bus und Bahnen das Smart-Phone vom Ohr pflücken. Ein Monat ganz
ohne „Hallo, ich bin gerade“-Plapperei. Das wäre doch mal eine
segensreiche Fastenzeit. | Am Aschermittwoch hat die Fastenzeit begonnen. Doch in Zeiten von Überfluss und Übergewicht ist der Verzicht auf ein bisschen Essen kein Zeichen mehr von Umkehr und Buße. Warum stattdessen nicht versuchen, Gutes zu tun – einmal am Tag, einen Monat lang? Ein Selbstversuch von Vera Gaserow | []
| kultur | 2012-02-22T12:31:35+0100 | 2012-02-22T12:31:35+0100 | https://www.cicero.de//kultur/wie-ich-versuchte-die-welt-zu-verbessern/48333 |
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Flüchtlinge in Deutschland - „Europa ist kein Paradies“ | Herr Nkamani, im Film lachen Sie darüber nach Deutschland, in ein Land ohne Schwarze, ziehen zu wollen. Wie gefällt Ihnen das jetzt, wo Sie hier sind?
Um ehrlich zu sein, gibt es sehr viele Schwarze hier. Mit dem Flüchtlingsstrom sind viele Afrikaner aus Eritrea, Äthiopien und Westafrika hergekommen. In der Hinsicht hat sich meine Hoffnung also nicht erfüllt (lacht). In Berlin sind die Leute Schwarze auch gewohnt. In Wilmersdorf, dem Berliner Stadtteil wo ich jetzt wohne, leben allerdings nicht so viele. Gegenwärtig arbeiten sie als Krankenpfleger. Wie reagieren ihre Kollegen und Patienten auf Sie?
Das ist unterschiedlich. Ich bin dort jetzt seit fast zehn Monaten. Für manche bin ich noch fremd. Aber ich glaube, sie müssen sich einfach nur daran gewöhnen. Für Kollegen, die nicht aus Europa stammen, ist es sowieso kein Problem. Aber eine andere Kollegin fand es am Anfang nicht so gut, dass ein Schwarzer mit ihr zusammenarbeitet. Sagt sie das auch ganz offen?
Ja, ein Mal. Ein anderer Kollege hat mich gefragt, ob ich eine Familie oder ein Kind in Deutschland hätte. Das habe ich verneint. Daraufhin sagte er, dass ich dann später meine Familie und meinen Hund aus Afrika nachholen würde. Das ist häufig die Annahme – wenn einer kommt, kommen alle. Das finde ich nicht richtig. Und die anderen Kollegen?
Für die ist das kein Problem. Sagen Ihre Patienten auch manchmal etwas in der Richtung?
Mit den Patienten ist es wundervoll. Fast alle sind zufrieden mit mir und wollen mich wiedersehen. Trotzdem merkt man den Generationenunterschied beim Klischee des Ausländers. Viele sind auf eine nette Art neugierig und fragen, woher ich komme. Ich erzähle ihnen dann oft, dass Kamerun mal eine deutsche Kolonie war. Die Meisten wissen das bereits, weil sie das in der Schule im Geschichtsunterricht gelernt haben. Sie finden das nicht so schlimm, denn immerhin bin ich kein Muslim und komme aus keinem islamischen Land. An meiner Kreuzkette erkennen sie auch, dass ich Christ bin und das finden sie gut. Es ist ihnen sogar sehr wichtig, denn die meisten haben den christlichen Glauben. Sie wohnen jetzt bei den Eltern des Regisseurs Jakob Preuss. Ist eine Privatunterkunft die bessere Alternative zum Flüchtlingsheim?
Es ist viel besser, bei jemandem zuhause zu sein. Flüchtlingsunterkünfte sind nicht so einfach. In dem Heim, in dem ich hätte bleiben sollen, gibt es zwar große Zimmer. In denen wohnen dann aber vier Leute. Deswegen gibt es keine Privatsphäre. Außerdem legen die Leute ganz unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag. Sie kommen von überall her und manche finden sich hier nicht so gut zurecht, sind sogar wütend. Problematisch ist auch, dass Menschen aus so unterschiedlichen Kultur- und Religionskreisen so eng zusammenleben. In dem Film erzählen sie auch, dass Leute aus Kamerun, die es schon nach Deutschland geschafft haben, sehr positive Bilder über das Leben hier bei Facebook posten.
In Kamerun sieht man wirklich nur tolle Bilder aus Europa – saubere Straßen, schöne Autos. Die Leute versuchen zu zeigen, dass Europa ein Paradies ist. Es ist kein Paradies. Auch hier muss man weiter um sein Leben kämpfen. Es gibt nichts umsonst oder geschenkt. Erstmal braucht man einen Asyl-Status und danach Arbeit oder eine Ausbildung. Aber darum muss man sich schon selbst bemühen. Es ist nicht so einfach. Posten Sie das auch auf Facebook?
Ich poste eher unfreiwillig. Ich mache das nur, wenn mich die Leute fragen. Meine Familie bittet mich zum Beispiel oft darum. Sie wollen sehen, wie ich gerade aussehe, wie es mir geht. Aber ich poste keine schönen Straßen oder Gebäude und behaupte, dass Flüchtlinge so leben. Natürlich möchte ich auch schöne Fotos von mir haben, aber das ist für mich. Das ist meine Geschichte. Später kann ich die anschauen und sagen, schau, da habe ich in Deutschland gelebt. Aber die teile ich nicht. Im Film sagen Sie auch, dass nicht alle Menschen aus Subsahara-Afrika nach Europa kommen sollten. Warum?
Weil Afrika sonst leer wäre (lacht). Nein, aber Spaß beiseite. Europa hat auch eigene wirtschaftliche Probleme. Trotzdem ist es besser als bei uns. Aber wenn alle Leute herkommen, werden sich die Probleme vermehren. Es gäbe dann auch mehr Konkurrenzkampf um die Arbeitsplätze, die Wohnungen und so weiter. Sollte die EU ihre Grenzen also überall so schützen wie am Grenzzaun von Melilla, der spanischen Exklave in Marokko?
Die Grenzen zu schließen ist nicht die Lösung. Wenn die reichen Länder Europas mehr in die afrikanischen Länder investieren würden, könnten sie bei uns mehr Arbeitsplätze schaffen. Wenn jemand einen Job in seinem Heimatland hat, warum sollte er nach Europa kommen? Für was? Wenn es keinen Krieg, Aufstände oder Ähnliches gibt und man einen Job hat, gibt es keinen Fluchtgrund. Die Leute wollen immer lieber zuhause bei ihren Familien sein. Wenn es also mehr Investitionen gäbe, würde sich dann niemand mehr auf den gefährlichen Weg durch die Sahara oder über das Mittelmeer machen?
Niemand! Selbst wenn Europa nach Aushilfskräften fragen würde, niemand würde kommen. Die Leute gehen nicht nach Europa, weil es hier so schön ist. Afrika ist Europa mehr als hundert Jahre hinterher. Es würde aber nicht so lange dauern, den Rückstand aufzuholen. Um ein Beispiel zu nennen: 1960 waren China, Südkorea und Ostasien auf dem gleichen Entwicklungsstand wie Subsahara-Afrika. Jetzt haben wir 2017 und China und Südkorea sind sehr viel weiter. Dafür haben sie keine 100 Jahre gebraucht. Es kann also auch ziemlich schnell gehen. Aber beide Länder haben einen ziemlich hohen Preis für diese Entwicklung gezahlt.
Ich glaube nicht, dass das heute – im Jahr 2017 – noch so geschehen würde. Dank der heutigen medizinischen Entwicklung könnten im Gegensatz zu China alle Leute davon profitieren. Afrika ist zwar arm und ausgebeutet, aber nicht, weil es keine Technologie gibt. Wenn Europa uns helfen würde, könnten wir das auch schaffen. Mangelnde Liquidität ist ein Problem. Oft wird das aber noch durch Korruption verschlimmert. Viele Länder sind von Partikularismus und Clanstrukturen geprägt. Muss sich dort nicht zuerst etwas ändern?
Das geht aber Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Verbessert sich das Eine, verbessert sich auch das Andere. Probleme wie Korruption entstehen aus wenig Möglichkeiten zur Arbeit. In Europa gibt es auch Einzelfälle von Korruption. Es ist aber sehr selten. Warum? Weil es viel zu tun gibt. Man muss das nicht machen. Bei uns bewerben sich zu viele Menschen auf einen Arbeitsplatz. Das fördert die Korruption zusätzlich und macht unsere Gesellschaft kaputt. Mehr Geld bedeutet aber nicht zwingend, dass es besser funktioniert.
Das stimmt. Aber nur dank des Marshall-Plans wurde Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufgebaut. Ohne den wäre das Wachstum nicht möglich gewesen. Das ist wie bei uns. Afrika braucht auch einen Marshall-Plan. Der wurde jetzt ja von unserem Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungszusammenarbeit vorgelegt.
Das ist nur Politikgerede. Das wird wahrscheinlich nicht umgesetzt. Sehen Sie diesen Kaffee? (Deutet auf den Kaffee vor sich) Man trinkt ihn in Europa jeden Tag. Bei uns wird er angebaut, aber ich trinke nicht jeden Morgen einen Kaffee. Europa nimmt sich nur den Rohstoff und verarbeitet ihn bei sich weiter. Danach kommt das Endprodukt wieder zu uns. Warum? Das muss doch normalerweise eine Fabrik bei uns machen. Das schafft auch Arbeitsplätze und nach der Arbeit können wir dann einfach alle zusammen einen Kaffe trinken gehen (lacht). Am 31.8.2017 ist Kinostart des Dokumentarfilms „Als Paul über das kam“, Farbfilm Verleih, 97 Minuten. | Chiara Thies | Paul Nkamani floh von Kamerun nach Deutschland. In Marokko traf er den Regisseur Jakob Preuss, der ihn von dort an auf seiner Flucht begleitete. Ein Gespräch über Integration, Grenzen und warum Europa nicht alle Flüchtlinge aufnehmen darf | [
"Flüchtlinge",
"Migration",
"Fluchtwege"
]
| innenpolitik | 2017-08-22T13:22:43+0200 | 2017-08-22T13:22:43+0200 | https://www.cicero.de//innenpolitik/fluechtlinge-in-deutschland-europa-ist-kein-paradies |
Demografiegipfel - Wo bleiben die Rentenzahler? | Grob vereinfacht kann man es so beschreiben: In Deutschland leben die Menschen durchschnittlich immer gesünder und immer länger. Gleichzeitig werden aber immer weniger Kinder geboren. Mehr noch: Es sterben mehr Menschen, als neue geboren werden. Und das heißt: Deutschland schrumpft (zumindest ohne Zuwanderung) und wird immer älter. In Zahlen ausgedrückt: 1990 lag der Anteil der über 65-Jährigen noch bei 15 Prozent, 2011 waren es bereits 21 Prozent – so hoch wie in keinem anderen EU-Staat, Tendenz weiter steigend. 2011 wurden 663.000 Kinder geboren, das waren 15.000 weniger als 2010 und der Tiefstand seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Als demografischer Wandel wird das gemeinhin bezeichnet, und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat am Wochenende gefordert, diese Entwicklung nicht immer als Problem, sondern als Chance zu sehen. Aber egal, ob nun das Glas halb voll oder halb leer ist, die Herausforderungen, die hinter den Zahlen stecken, liegen auf der Hand. Wenn immer mehr Menschen immer älter werden und die Bevölkerungszahl gleichzeitig sinkt, heißt das, dass immer weniger Menschen mit ihren Steuern und Sozialabgaben die Leistungen des Staates, insbesondere für ältere, aber auch jüngere Menschen finanzieren müssen. Das betrifft das Rentensystem, aber auch Wohnungs- und Straßenbau, Bildung oder medizinische Versorgung. Dieses Ungleichgewicht betrifft nahezu jeden Lebensbereich, allerdings, und das kommt als zusätzliche Herausforderung hinzu, nicht jede Region gleichermaßen. Sieben Bundesländer verzeichneten 2011 eine Bevölkerungszunahme: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen und Schleswig-Holstein. Im Rest war die Zahl rückläufig. Das Statistische Bundesamt schätzt, dass Deutschland bis 2030 mehr als vier Millionen Einwohner verlieren wird, bis 2050 sollen es sogar rund 14 Millionen sein. Dann dürften weniger als 70 Millionen Menschen in der Bundesrepublik leben. Neu ist diese Entwicklung nicht. Jedoch ist die politische Lösung nicht einfach, weil die verschiedensten Politikfelder betroffen sind – und auch die verschiedensten föderalen Ebenen. Die Bundesregierung hat es zunächst einmal mit Demografiegipfeln versucht. Davon gab es im vergangenen Herbst den ersten. Neun Arbeitsgruppen mit diversen Unterarbeitsgruppen wurden gebildet. An der Spitze steht jeweils ein Kabinettsmitglied. An diesem Dienstag sollen nun erste Zwischenergebnisse präsentiert werden. Im federführenden Bundesinnenministerium warnt man aber vor allzu hohen Erwartungen. Beim Deutschen Städte- und Gemeindebund will man sich mit dem Gipfel nicht zufriedengeben. „Der Demografiegipfel ist ein notwendiger Zwischenschritt, aber er liefert keinen Durchbruch für die zahlreichen Herausforderungen“, sagte Vizepräsident Roland Schäfer dem Tagesspiegel. Eine der Fragen laute: Wie geht es mit der Entwicklung im ländlichen Raum weiter? „Dabei geht es auch um den Ausbau der Breitbandverbindungen. Da hat sich zwar etwas getan, aber längst noch nicht genug. Eine ordentliche digitale Infrastruktur ist eine Frage der Daseinsvorsorge, und da steht der Bund in der Pflicht, vernünftige Rahmenbedingungen zu schaffen“, forderte Schäfer. Für die Lösung des Problems, oder wie es Angela Merkel wohl sagen würde, für die Bewältigung der Herausforderung, sind unterschiedliche Ansätze notwendig, und jeder nimmt unterschiedliche Perspektiven ein. FDP-Chef Philipp Rösler forderte am Montag beispielsweise mehr Zuwanderung von Fachkräften, um dem Bevölkerungsschwund entgegenzuwirken. Vor allem nutzt er das Thema, um ein paar Wahlkampfpunkte gegenüber dem eigenen Koalitionspartner zu sammeln. „Der Demografiegipfel der Regierung am Dienstag bietet eine ideale Möglichkeit auch für die Union, ganz konkret zu liefern“, sagte Rösler. Die FDP plädiere weiter für ein System der gesteuerten Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Andere wie der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, fordern, deutlich mehr Ältere zu beschäftigen. Die deutsche Wirtschaft könne den demografischen Wandel nur bewältigen, wenn ältere Arbeitnehmer besser und länger ins Berufsleben einbezogen würden, sagte Hüther. Ältere Mitarbeiter hätten oft mehr Erfahrung und Wissen. „Um das zu nutzen, müssen wir sie aber kontinuierlich weiterbilden – über das gesamte Arbeitsleben.“ Und so werden am heutigen Dienstag nicht nur verschiedene Zwischenergebnisse präsentiert, sondern auch unterschiedliche Forderungen, die sich daraus ableiten. Mit diesen kann sich dann die nächste Bundesregierung auseinandersetzen. Auch eine Herausforderung. Oder eine Chance. | Christian Tretbar | Gipfel gibt es immer dann, wenn keine wirklich konkreten Ergebnisse zu erwarten sind: Klimagipfel, Energiegipfel. Am Dienstag gibt es den zweiten Demografiegipfel. Sogar Zwischenergebnisse soll es geben. Trotzdem dämpfen die Beteiligten die Erwartungen. Dabei drängt das Thema | []
| innenpolitik | 2013-05-14T08:54:33+0200 | 2013-05-14T08:54:33+0200 | https://www.cicero.de//innenpolitik/demografiegipfel-wo-bleiben-die-rentenzahler/54426 |
Erziehungsratgeber der Amadeu Antonio Stiftung - „Die Stiftung wollte mich mundtot machen“ | Er sagt, er habe die Korken knallen lassen, als er die Nachricht erfuhr. Falko Liecke (CDU), Jugendstadtrat von Berlin-Neukölln, darf auf der Homepage seines Bezirks weiterhin von der Nutzung eines Ratgebers der Amadeu Antonio Stiftung („Ene, mene, muh – und raus bist Du“) abraten, der Erzieherinnen und Erziehern Strategien im Umgang mit Kindern aus rechtsextremen Elternhäusern gibt. Das hat jetzt das Verwaltungsgericht Berlin entschieden. Dem Urteil war ein bizarrer Streit zwischen dem CDU-Politiker und der steuerfinanzierten Stiftung vorausgegangen. Diese hatte Liecke, der zugleich auch stellvertretender Bezirksbürgermeister von Neukölln ist, im Januar eine Unterlassungsaufforderung geschickt. Wenn er die Warnung vor der umstrittenen Broschüre nicht von der Homepage des Bezirksamts lösche, drohe ihm ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro. Was die Sache besonders pikant machte: Das Bundesfamilienministerium hatte den Druck der Broschüre mit 4.600 Euro mitfinanziert. Das Vorwort hatte Familienministerin Franziska Giffey (SPD) geschrieben – und die Herausgeber der Broschüre gegen jede Kritik in Schutz genommen. „Kinder schnappen rassistische Bemerkungen oder antisemitische Einstellungen auf und geben sie weiter. Oder Eltern kommen damit auf die Erzieherinnen und Erzieher zu. Was tun? Wie reagieren, wie vorbeugen?“ Giffey war vor ihrem Wechsel in die Bundesregierung Bezirksbürgermeisterin von Neukölln. Im Streit mit der Amadeo-Antonio-Stiftung hatte sich Liecke auf die Meinungsfreiheit berufen. Es sei nicht Aufgabe des Kita-Personals, die politische Gesinnung der Eltern zu prüfen. Die Herausgeber der 58-seitigen Broschüre wollten Vorurteile bekämpfen, vermittelten sie aber selbst, kritisierte er in Anspielung auf eine Passage aus der Broschüre, die besonders bei der CDU und in der AfD für Empörung gesorgt hatte. Darin hieß es, Kinder rechtsextremer Eltern erkenne man daran, dass sie schon in jungen Jahren traditionelle Geschlechterrollen übernommen hätten. „Das Mädchen trägt Kleider und Zöpfe, es wird zu Hause zu Haus- und Handarbeiten angeleitet, der Junge wird stark körperlich gefordert und gedrillt. Beide kommen häufig am Morgen in die Einrichtung, nachdem sie bereits einen 1,5-km-Lauf absolviert haben.“ Völkische Klischees aus der Mottenkiste. Das Gericht kam jetzt zu dem Schluss, dass die Amadeo Antonio Stiftung nicht glaubhaft dargelegt hätte, warum der Jugendstadtrat rechtswidrig gehandelt haben soll. Liecke habe sich mit seiner Äußerung sehr wohl „im Rahmen des ihm zugewiesenen Aufgabenbereichs bewegt“ und „das Sachlichkeitsgebot gewahrt.“ Der Angeklagte registrierte das Urteil mit Genugtuung. „Die Stiftung wollte mich mundtot machen“, sagte er dem Cicero. Als oberster Dienstherr der Erzieherinnen und Erzieher trage er die Verantwortung für die pädagogischen Richtlinien in den 200 Kitas in seinem Bezirk. Und diese Broschüre sei ein unzulässiger Eingriff in die Privatsphäre der Familien. In Neukölln gäbe es im übrigen mehr Probleme mit religiösem Extremismus, „wenn Kinder beispielweise zum Tragen des Kopftuches genötigt oder Zwangsehen schon im Kindesalter arrangiert werden.“ Verbieten werde er den Erziehern in Neukölln den Gebrauch der Broschüre nicht. „Es hat aber auch noch keiner danach gefragt.“ Der Bundesfamilienministerin riet Liecke nach dem Urteil, künftig genauer hinzuschauen, was für Broschüren ihr Ministerium mit Steuergeldern fördere – auch solche, die Linksterrorismus oder Islamismus betreffen. Und die Amadeu Antonio Stiftung? Ihr Geschäftsführer, Timo Reinfrank, hält an der Kritik der Kritik des Neuköllner Jugendstadrates fest. Er sieht die Stiftung als Opfer einer Diffamierungskampagne, der sich auch Liecke angeschlossen habe. „Aus der über sechzigseitigen Publikation griff die Pressemitteilung zwei Fallbeispiele auf, die zuvor durch gezielte Auslassung, falsche Zitierung und offenbar bewussten Missinterpretation von rechtspopulistischen Medien in der Öffentlichkeit skandalisiert worden waren.“ In einer Pressemitteilung schreibt Reinfrank, er bedauere, „dass das Wohl der Kinder und die realen Bedarfe der Kitas in der öffentlichen Debatte bisher in den Hintergrund gerückt sind.“ Nach einer Studie des Deutschen Kinderhilfswerks habe die Mehrheit der befragten Kita-Leiter „Erfahrungen mit Rechtspopulismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gemacht." Es sei gesetzlicher Auftrag der Kitas, sich auch mit Lebensverhältnissen von Familien auseinanderzusetzen. Und diesem Auftrag habe die Stiftung mit dem Ratgeber Rechnung getragen. Mit Blick auf Falko Liecke und die anderen Kritiker der Broschüre sagte Reinfrank, die Debatte um Rechtspopulismus müsse nun endlich sachlich geführt werden. | Antje Hildebrandt | Falko Liecke (CDU), Jugendstadtrat von Berlin-Neukölln, darf weiterhin vor dem Erziehungsratgeber „Ene, mene, muh – und raus bist Du“ warnen. Das hat das Verwaltungsgericht Berlin entschieden. Der Herausgeber – die Amadeu Antonio Stiftung – spricht weiter von gezielter Diffamierung | [
"Amadeu Antonio Stiftung",
"Rechtsextremismus",
"Kindergarten",
"Falko Liecke",
"Neukölln",
"Bezirksbürgermeister",
"Franziska Giffey"
]
| innenpolitik | 2019-04-16T15:03:16+0200 | 2019-04-16T15:03:16+0200 | https://www.cicero.de//innenpolitik/amadeu-antonio-stiftung-falko-liecke-bezirksamt-neukoelln-ratgeber-ene-mene-muh-verwaltungsgericht/plus |
Statistisches Bundesamt - Die Inflation sinkt im November auf 3,2 Prozent | Die Inflationsrate in Deutschland wird im November 2023 voraussichtlich +3,2 % betragen, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Mittwoch nach einer ersten Schätzung mitteilte. Das ist der niedrigste Stand seit Juni 2021 (+2,4 %). Gemessen wird die Inflationsrate als Veränderung des Verbraucherpreisindex (VPI) zum Vorjahresmonat. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) nach bisher vorliegenden Ergebnissen weiter mitteilt, sinken die Verbraucherpreise gegenüber Oktober 2023 voraussichtlich um 0,4 %. Die Inflationsrate ohne Nahrungsmittel und Energie, oftmals auch als Kerninflation bezeichnet, beträgt voraussichtlich +3,8 %. Dämpfend auf die Inflationsrate wirkte im November 2023 insbesondere der Rückgang der Energiepreise um 4,5 % gegenüber dem Vorjahresmonat. Hier kam ein Basiseffekt infolge des sehr hohen Energiepreisniveaus im Vorjahr zum Tragen. Zudem stiegen die Preise für Nahrungsmittel im November 2023 mit +5,5 % gegenüber dem Vorjahresmonat nicht mehr so stark wie noch in den Vormonaten. | Cicero-Redaktion | Die Teuerungsrate ist in Deutschland erneut gefallen, steht aber weiter deutlich über dem offiziellen Inflationsziel von zwei Prozent. | []
| wirtschaft | 2023-11-29T14:18:25+0100 | 2023-11-29T14:18:25+0100 | https://www.cicero.de//wirtschaft/statistisches-bundesamt-die-inflation-sinkt-im-november-auf-32-prozent |
Social Media - Wie das TV-Duell bei Twitter einschlug | Soziale Netze und besonders Twitter werden bei großen TV-Ereignissen zunehmend als „Second Screen“ genutzt: Während auf dem ersten Bildschirm die Sendung gesehen wird, diskutieren Nutzer auf dem zweiten Bildschirm das Gesehene mit anderen Nutzern, machen Witze oder decken Logikfehler auf. In Deutschland hat sich dies zum Beispiel beim sonntäglichen Tatort oder bei Sport-Events eingebürgert. Dass es ein politisches Event in Deutschland mit der Masse an Tweets zum #Tatort aufnehmen kann, ist da schon eher ungewöhnlich, liegt aber sicher auch darin begründet, dass es in diesem Wahlkampf nur dieses eine direkte Aufeinandertreffen von Merkel und Steinbrück geben sollte. Twitter selbst verkündete gar, dass das deutsche #tvduell am Abend weltweit das am häufigsten genannte Hashtag war. Während der TV-Übertragung wurden demnach über 173.000 Tweets verschickt - für die doch eher geringe Anzahl deutscher Twitternutzer ein beachtlicher Wert. [[nid:55612]] Blickt man auf die Twitter-Accounts, die im Zusammenhang mit dem Hashtag #tvduell am häufigsten genannt wurden, gibt es einige Überraschungen. An vorderster Stelle liegt hier neben dem offiziellen Tagesschau-Account das Profil von Peer Steinbrück, der sogar während seines TV-Auftritts twitterte bzw. twittern ließ. Auch wenn in Steinbrücks Profil offen angegeben wird, dass sein Team die meisten Tweets schreibt, zeigten sich doch viele User verwundert bis verärgert über diese offensichtliche Diskrepanz und auch die politische Konkurrenz nahm die Steilvorlage dankend an. Ein weiterer sehr häufig genannter Account wurde erst während des Duells angemeldet. So war schon nach wenigen Minuten diversen Usern Merkels Halskette in den Deutschlandfarben aufgefallen, auch wenn einige darauf hinwiesen, dass die Reihenfolge der Farben wohl eher auf Belgien schließen lasse. Dies nahm ein gedankenschneller Twitter-User zum Anlass den Account @schlandkette anzumelden und während des Duells einige Statements zu twittern. Mit Aussagen wie „Also ich häng hier so rum... und ihr?” schaffte es der anonyme User innerhalb weniger Stunden auf über 6.000 Abonnenten. Ein ähnliches Phänomen ist der Account @grumpymerkel. In Anlehnung an ein verbreitetes Internet-Meme, die sauertöpfisch blickende „Grumpy Cat”, twittert hier Merkels Alter Ego etwas missmutig „live” vom TV-Duell: „Der Raab soll sich mit der Hand melden, wenn er was fragen will.” Wer den Twitter-Nutzern aber unterstellt, es drehe sich auf der Plattform alles um kleine Witzchen, der unterschätzt die Bandbreite der politischen Diskussion in diesem Medium. Besonders da hier politische Inhalte durch die Kürze der Tweets prägnant und knapp formuliert werden müssen, entstehen oft Statements, die so viel aussagen können wie ganze Leitartikel. Der Journalist Stefan Niggemeier etwa thematisiert in seinem Tweet einen viel sagenden Satz von Merkel während des Duells: „Angela Merkels Regierungsprogramm in einem Satz: Sie kennen mich.“ Auch dass beide Kandidaten oft nicht wirklich auf die gestellten Fragen antworteten, stieß vielen Nutzern auf: „Merkel heute großzügig: Sie hört sich die Frage vorher an, bevor sie sie ignoriert!“. Ein weiterer Vorteil am „Second Screen” Twitter: Falschaussagen der Kandidaten können oft sofort geprüft und widerlegt werden. So behauptete z.B. Steinbrück, dass Snowden kein Asyl in Deutschland beantragt hätte und sich diese Frage deshalb nicht stelle. Dabei hat Snowden, wenn auch rechtlich nicht korrekt, durchaus um Asyl gebeten. Auf Twitter konnte dies wenige Minuten nach dem Statement nachgelesen werden. Aber nicht nur die Statements der beteiligten Politiker wurden diskutiert, sondern auch das Format an sich. Schon im Vorfeld wurde die Kritik laut, dass ein TV-Duell zwischen zwei Kandidaten einen reinen Zweikampf suggeriere und deshalb die politische Vielfalt in Deutschland nur unzureichend abbildet. Marina Weisband von den Piraten brachte dies in einem im Vorfeld des Duells sehr häufig verbreiteten Tweet ironisch auf den Punkt: „Zum Glück gibt es das #TVduell, um uns daran zu erinnern, dass wir eh nur die Wahl zwischen zwei Parteien haben.” Aus den USA, die im Gegensatz zu Deutschland eine lange TV-Duell-Historie haben, stammt der Begriff der Spin-Doktoren. Diese sollen im Anschluss an die TV-Auftritte dafür sorgen, dass die Medienberichterstattung auch den „gewünschten Dreh” in Richtung ihres Wunschkandidaten bekommt. So wurde bisher immer davon ausgegangen, dass die Schlagzeilen am Morgen nach dem TV-Duell den größten Anteil daran haben, wer als Sieger vom Platz geht als die Live-Sendung selbst. [[nid:55612]] Nun stellt sich heute die Frage, wie viele Menschen wirklich noch auf die Schlagzeilen der Tageszeitungen warten oder ob sie nicht bis dahin schon längst die diversen Einordnungen der Online-Medien gelesen haben. Neben diversen Live-Tickern, Live-Votings und Blitzumfragen werden auch hier die Sozialen Netze zum Schauplatz des Kampfs um die Deutungshoheit. Politiker und andere Spin-Doktoren sitzen deshalb nicht mehr nur in den Talkshows nach dem Duell, um den eigenen Kandidaten als Sieger zu küren, sondern kommentieren schon während des Duells und besonders kurz danach auf allen Kanälen. Auf Twitter konnten deshalb von allen Parteien und vielen Politikern mehr oder weniger profunde Einschätzungen des Duells vernommen werden. Manche reagierten dabei erstaunlich schnell. So nutzten etwa die Grünen eine Aussage Merkels zum NSA-Skandal für eine neue Version ihres Wahlplakats. Auf der CDU-Seite fiel besonders auf, dass Hermann Gröhe, der sonst gerne als Sprachrohr der Partei auf Twitter auftritt, wohl während seines ZDF-Auftritts keine Zeit zum twittern hatte und im Gegensatz zu Steinbrück kein angebliches Multitasking betreibt. | Tobias Wagner | Im Netz war das TV-Duell zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück das Thema des Tages. Während die Nutzer Aussagen, Versprecher oder Kleidungsstücke der Kandidaten kommentieren, nutzen Parteien und Politiker den Kanal dazu, den Ausgang des Duells in die gewünschte Richtung zu deuten | []
| innenpolitik | 2013-09-02T13:50:49+0200 | 2013-09-02T13:50:49+0200 | https://www.cicero.de//innenpolitik/tv-duell-twitter/55618 |
Oberverwaltungsgericht NRW - Urteil: AfD zu Recht rechtsextremistischer Verdachtsfall | Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die AfD nach einem Urteil des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts zu Recht als rechtsextremistischen Verdachtsfall eingestuft. Das Gericht bestätigte am Montag in Münster ein Urteil aus der Vorinstanz. Damit darf der Verfassungsschutz auch weiterhin nachrichtendienstliche Mittel zur Beobachtung der Partei einsetzen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das OVG ließ zwar keine Revision zu. Die AfD kann aber Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig einlegen (Az: 5 A 1216/22, 5 A 1217/22 und 5 A 1218/22). Die Befugnisse des Verfassungsschutzes seien „keineswegs grenzenlos weit“, aber eine wehrhafte Demokratie dürfe auch kein „zahnloser Tiger“ sein, betonte Gerald Buck, Vorsitzender Richter des 5. Senats, in der Begründung der Entscheidung. Vor allem bei der Beobachtung einer besonders geschützten politischen Partei müsse der Verfassungsschutz „hinreichend verdichtete Umstände“ vorlegen können, die darauf hinweisen, dass eine Gruppierung möglicherweise Bestrebungen gegen die freiheitliche Grundordnung verfolge. Das sah der Senat im Fall der Einstufung der AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall gegeben. Es gebe nach Überzeugung des Senats den begründeten Verdacht, „dass es den politischen Zielsetzungen jedenfalls eines maßgeblichen Teils der AfD entspricht, deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status zuzuerkennen“, hieß es in der Begründung. Das sei laut Grundgesetz eine „unzulässige Diskriminierung“. Die AfD hatte sich in dem Berufungsverfahren dagegen gewehrt, dass der Verfassungsschutz die gesamte Partei, den mittlerweile aufgelösten AfD-„Flügel“ und die Jugendorganisation Junge Alternative als extremistischen Verdachtsfall führt. Beim Flügel geht es zusätzlich um die Einstufung als gesichert extremistische Bestrebung. In erster Instanz hatte das Verwaltungsgericht Köln den Verfassungsschützern recht gegeben: Die Richter sahen ausreichend Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der AfD. Dem schloss sich das OVG jetzt an. Damit darf der Verfassungsschutz die Partei weiterhin mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachten. Bewertungsmaßstab ist das Bundesverfassungsschutzgesetz. Die Anwälte der Partei hatten bereits vor dem Urteil angekündigt, in die nächste Instanz zu ziehen. Dabei würde das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig die Entscheidung des OVG auf Rechtsfehler prüfen. Am Montag vertrat Roman Reusch aus dem Bundesvorstand nach Parteiangaben die AfD. Die Klagen richteten sich gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz. Weil das Bundesamt seinen Sitz in Köln hat, waren die Gerichte in NRW zuständig. dpa | Cicero-Redaktion | Nach sieben Tagen mündlicher Verhandlung ziehen die obersten NRW-Verwaltungsrichter einen Schlussstrich unter den jahrelangen Rechtsstreit zwischen der AfD und dem Verfassungsschutz. Zumindest vorläufig. | [
"AfD",
"Rechtsextremismus"
]
| innenpolitik | 2024-05-13T10:20:03+0200 | 2024-05-13T10:20:03+0200 | https://www.cicero.de//innenpolitik/urteil-des-oberverwaltungsgerichts-nrw-afd-bleibt-rechtsextremistischer-verdachtsfall |
Regierungsbildung in Italien - Die Schwanzschläge des Krokodils | Und am Ende, als alle das Krokodil für erledigt hielten, hat es mit einem einzigen Schwanzschlag wieder alles umgeworfen: Silvio Berlusconi hat den Weg für eine Regierung der Parteien Fünf-Sterne und Lega freigemacht, indem er sich und seine Partei Forza Italia aus der Allianz mit der Lega zurückgezogen hat. Forza Italia kündigte eine „wohlwollende Enthaltung“ bei der Vertrauensfrage für eine Regierung Lega-Fünf-Sterne an – ein weiteres Oxymoron der an logischen Widersprüchen reichen italienischen Politik. So soll nun bis Sonntag die neue Regierung stehen. Warum Berlusconi diesen Schritt gemacht hat? Natürlich, weil er Neuwahlen fürchtet, genauso wie sein politischer Widersacher Matteo Renzi von der Demokratischen Partei. Laut Umfragen liegt Berlusconis Forza Italia bei 10 Prozent, Renzis Demokratische Partei bei 15 oder sogar 12 Prozent. Renzi hat in seiner zweijährigen Regierungszeit viele politische Niederlagen eingefahren und so seine Partei zum schlechtesten Wahlergebnis in der Geschichte der italienischen Linken geführt. Er ist nicht mehr Generalsekretär, sondern einfacher Senator – bestimmt aber unverändert die Geschicke der unrettbar masochistisch veranlagten Demokratischen Partei. Für Renzi und Berlusconi wären Neuwahlen ihr politisches Ende. Auch aus diesem Grunde jubelte Renzi nach Berlusconis Ankündigung. Er kündigte seinerseits an, es sich jetzt mit Popcorn gemütlich zu machen und zuzusehen, wie die neue Regierung vor die Wand fährt. Die mögliche Koalition verfügt über 346 Stimmen und hat damit 30 mehr als notwendig. Im Falle von Neuwahlen wäre es für Berlusconi bereits ein Traumergebnis, noch mal zehn Prozent zu erlangen. Außerdem ist die Finanzlage seines Medienimperiums angeschlagen. Klar, dass es da besser ist, minimal an der Regierung beteiligt zu sein, als von draußen zusehen zu müssen, wie Gesetze verabschiedet würden, die sein Ende besiegeln. Und genau das ist der Knackpunkt der Verhandlungen zwischen den Fünf-Sternen und der Lega: Berlusconi wird nicht tatenlos zusehen, wenn (notwendige) Gesetze zum Interessenskonflikt und über seine große Medienkonzentration verabschiedet werden. Die Frage ist: Wie weit zieht der Lega-Chef Matteo Salvini mit? Und mit wem? Tatsächlich mit den Fünf-Sternen oder doch mit seinem Bündnispartner, dem Krokodil? Im Senat bringen es Fünf-Sterne und Lega lediglich auf eine Mehrheit von acht Stimmen. Da kommt Berlusconis Ankündigung ins Spiel, gegebenenfalls ein paar von den „Hungerleidern“ der Fünf-Sterne-Bewegung zu kaufen, die nicht bereit sind, sich an die parteiinterne Regel zu halten, einen Teil ihres Gehalts in einen Fonds für Mikrokredite für Kleinunternehmer einzuzahlen.. Berlusconi sitzt also wieder mal als unsichtbarer Gast mit am Tisch. Auch weil er in Kommissionen vertreten sein wird, die traditionell den Oppositionsparteien vorbehalten sind, also Berlusconis Forza Italia und Renzis Demokratischer Partei. Und deshalb war in diesen Tagen der italienischen Regierungsbildung ein kleiner Moment viel aussagekräftiger, als jeder Kommentar und jede blumige und noch so kämpferische Ankündigung der Wahlsieger Luigi Di Maio, Chef der Fünf-Sterne-Bewegung, und Matteo Salvini. Es war, als der 81-jährige Berlusconi nach dem letzten Beratungsgespräch im Präsidentenpalast um einen kleinen Gefallen bat. Darum, ein paar Minuten mit dem Staatspräsidenten Sergio Mattarella unter vier Augen sprechen zu können. Nein, um die Regierungsbildung sei es ihm nicht gegangen. Sondern stattdessen habe er versucht, den Staatspräsidenten zu überzeugen, sich für die vorzeitige Haftentlassung des wegen Unterstützung der Mafia einsitzenden Freundes Marcello Dell’Utri einzusetzen. Dell’Utri, ehemaliger Senator, Gründer von Forza Italia und rechte Hand von Berlusconi, sitzt seit 2014 in Gefängnis, verurteilt zu sieben Jahren Haft. Seine Anwälte haben sich bereits mehrmals vergeblich um seine vorzeitige Entlassung bemüht. Sie wiesen darauf hin, dass ihr illustrer Klient an der Prostata, an Herzbeschwerden und einer Diabetes leide. Die Gerichte lehnten jedoch ab und wiesen darauf hin, dass sein Gesundheitszustand mit den Haftbedingungen kompatibel sei. Die Haft habe ebenfalls erzieherischen Charakter. Der sei umso notwendiger, als die Gesundheitsprobleme Dell’Utri im Jahr 2014 auch nicht davon abgehalten haben, in den Libanon zu flüchten, um der Haft zu entgehen. Jetzt sei die Fluchtgefahr noch immer groß, da er erst vor wenigen Wochen zu weiteren zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Die Gerichte sahen es als bewiesen an, dass Dell’Utri der „Transmissionsriemen“ zwischen der Forderungen der Mafia und der Regierung Berlusconi war. Das ist die traurige Realität in Italien. Silvio Berlusconi ist vorbestraft, darf nicht bei Wahlen kandidieren und für fünf Jahre kein politisches Amt ausüben. Trotzdem darf er den Präsidentenpalast betreten und Gespräche über eine mögliche Regierungsbildung führen. Für ihn ist es normal, einen Staatspräsidenten, dessen Bruder von der Mafia ermordet wurde, darum zu bitten, seinen wegen Unterstützung der Mafia verurteilten Freund aus der Haft zu entlassen. Das hat viele Italiener verbittert – nicht zuletzt die 11 Millionen Italiener, knapp 33 Prozent, die für die Fünf-Sterne-Bewegung gestimmt haben. Dass ein politischer Führer die Politik ausschließlich für seine persönlichen und unternehmerischen Interessen nutzt, ist eine Anomalie, die sich durch die italienische Politik der vergangenen 25 Jahre zieht. Unter dem wohlwollenden Blick der EU übrigens. Diese protestierte nicht, als sich Mitglieder von Forza Italia der Europäischen Volkspartei anschloss. Berlusconi ist der Tumor der italienischen Politik, gegen den nichts hilft. Berlusconi schaffte es, die italienische Linke in eine seiner Krücken zu verwandeln, auf die er sich stützen konnte, wenn es anders nicht mehr ging. Es gelang Berlusconi, Umberto Bossis Meuterei gegen ihn niederzuschlagen und die Lega in einen Selbstbedienungsladen für Parteifunktionäre zu verwandeln. Und er war es auch, der letztlich den Anstoß für die Entstehung der Fünf-Sterne-Bewegung gab. Die lehnte sich dagegen auf, dass es jahrzehntelang keine echte Opposition gegen Silvio Berlusconi gab. Um so mehr grummelt es jetzt im Bauch der Fünf-Sterne-Basis – jenen „Grillini“, die für Berlusconi vor ein paar Tagen noch gerade gut genug waren, bei seinem Fernsehsender Mediaset die Toiletten zu putzen. Natürlich: Die Einigung mit Salvini war für die Fünf-Sterne alternativlos. Die Gespräche mit Demokratischen Partei waren gestoppt worden, noch bevor sie angefangen hatten, als Renzi in der Talkshow „Che tempo che fa“ sein „Nein“ sprach. Jetzt bangt die Basis der Fünf-Sterne darum, dass ihre politischen Ziele auch von der Lega geteilt werden: Wird der Gesetzesvorschlag zur Lösung des Interessenskonflikt in den Koalitionsverhandlungen auftauchen? Wie wird es aussehen mit den Antimafia-Gesetzen? Mit Gesetzen gegen Steuerhinterziehung? Mit Antikorruptionsgesetzen? Wie weit wird Salvini gehen? Sollte die Regierung abgesegnet werden, muss sie sofort über eine umstrittene Rechtsreform zur Regelung der Abhörpraxis und eine Haftstrafenreform entscheiden und außerdem die Geheimdienstchefs, Polizeichefs und den Rundfunkrat ernennen. Zentrale Fragen, auch für Berlusconi. Staatspräsident Mattarella versucht, die beiden Koalitionspartner schon jetzt auf Europakurs zu bringen. Er wird auch die Liste der Minister absegnen. Zu hoffen ist dabei, dass er sich besser verhält als sein Vorgänger Giorgio Napolitano, der den Antimafia-Staatsanwalt Nicola Grattieri als Justizminister verhindert hat. Damit tat er Berlusconi und der Mafia einen großen Gefallen. In den kommenden Tagen, wenn die Namen der Minister und des Premierministers (weder Salvini noch Di Maio), bekannt gegeben werden, wird sich herausstellen, ob das Krokodil wirklich tot ist. Oder ob noch weitere Schwanzschläge zu befürchten sind. | Petra Reski | Bereits am Sonntag sollen die Koalitionsverhandlungen zwischen Lega und Fünf-Sterne enden. Möglich wurde dies, weil Silvio Berlusconi seine Forza Italia zurückgezogen hat. Trotzdem bleibt er eine Schlüsselfigur in der italienischen Politik | [
"Italien",
"Lega",
"Forza Italia",
"Fünf-Sterne-Bewegung",
"Silvio Berlusconi"
]
| außenpolitik | 2018-05-11T13:08:03+0200 | 2018-05-11T13:08:03+0200 | https://www.cicero.de//aussenpolitik/regierungsbildung-italien-renzi-salvini-berlusconi-lega-forza-italia-fuenf-sterne |
Jesper Juuls Streitschrift – Mein Kind, das Investitionsobjekt | „Ach, du arbeitest schon wieder?“ Eine Frage, der ich ein
halbes Jahr nach der Geburt meiner Tochter mit gemischtem
Gefühl entgegentrete, einer Melange aus schlechtem Gewissen und
Stolz, aus Unsicherheit und dem Wunsch nach Bestätigung. Was danach
kommt, zerstört meist entweder die eine oder andere Empfindung: Ein
„Das ist aber früh!“ mit hochgezogenen Augenbrauen etwa lässt
mich jedes Mal um zehn Zentimeter zusammensacken. In grün oder blau kennen diese Situation wohl alle Väter und
Mütter, die ihre Kleinkinder zeitweise von jemand anderem betreuen
lassen. Wir werden das Gefühl nicht los, dass wir unseren Kindern
nicht gerecht werden. Dass wir sie zu früh in die Kinderbetreuung
geben, dass wir sie zu spät abholen. Gleichzeitig haben wir Angst,
dass wir unseren Job vernachlässigen, zu früh nach Hause gehen, zu
unflexibel sind. Die Sicherheit, dass man es richtig macht, gibt es nicht. Erst
recht nicht, wenn man nicht das Glück hat, einen Partner zuhause zu
wissen, der sich mindestens genauso gut mit Brokkoli-Brei und
Bäuerchen auskennt wie man selbst. Viele Eltern eint zurzeit ein Gedanke: Die Wut auf die
Einführung des Betreuungsgeldes. Denn Wut tut gut, besonders in
Momenten der Unsicherheit. Da ist es Balsam für die Seele, einmal
verbal draufkloppen zu können – auf die da oben, die CSU und ihre
Kuhhändler von der FDP, die sich mit der Abschaffung der
Praxisgebühr so einfach kaufen lassen. Wer wettert nicht gegen das
Betreuungsgeld. Diese rückwärtsgewandte Herdprämie, diese rasselnde
Kette am Fuß der emanzipierten Frau. An den Herd soll sie uns
drängen, weg vom Arbeitsplatz. Während heute noch über gläserne
Decken und ungleiche Gehälter gesprochen wird, ist für die Zeit
nach der Einführung des Betreuungsgeldes eines klar: Mutti wird in
ihrer Schürze und mit krakehlenden Kindern am Rockzipfel daheim auf
den Mann warten, der nach getaner Arbeit die dampfende Suppe auf
dem gewienerten Esszimmertisch erwartet. Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass alles gut wäre, gäbe
es nur das vermaledeite Betreuungsgeld nicht. Dabei machen wir es
der Politik mit unserer einseitigen und schön kanalisierten Rage
ziemlich einfach. Leichtes Spiel hat die SPD, die jetzt nur noch,
wie Kanzlerkandidat Peer Steinbrück davon faseln muss, das Ganze
sei „schwachsinnig“ und man werde es nach der Bundestagswahl,
sofern gewählt, sofort wieder abschaffen. Damit aber ist es nicht getan. Das Problem des Betreuungsgeldes
ist vor allem, dass es eine Farce ist. 100 Euro soll es im
Monat für die Betreuung eines Kindes zuhause geben, während ein
Kitaplatz den Staat etwa 1000 Euro kostet – das ist nicht nur
ungerecht, sondern legt den Gedanken nahe, dass die Politik die
Empfänger für mathematische Analphabeten hält. So bleibt das
Betreuungsgeld vor allem eines: ein Signal an Seehofers CSU. Den
Eltern zuhause hilft es nicht. Und der von
Betreuungsgeldbefürwortern herbeigeredeten Wahlfreiheit schon gar
nicht. Die aber ist oberste Prämisse der Bundesfamilienministerin
Kristina Schröder. Sie versagt in ihrem Tun genauso wie der Rest
der Republik. Nächste Seite: Kinder müssen „profitabel“ sein Denn die Betreuungslage in Deutschland ist nicht so, dass sie
unseren Kindern besonders gut tut. In der vergangenen Woche wurden
einmal mehr bedrückenden Zahlen veröffentlicht: Die Kommunen sind
nicht in der Lage, die versprochenen Kitaplätze bis zum August 2013
zu schaffen. Um die 780.000 versprochenen Plätzen zu
bewerkstelligen, müssten in den kommenden „neun Monaten mehr
zusätzliche Kindergartenplätze geschaffen werden als in den vergangenen vier Jahren insgesamt“.
Ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist also so gekommen wie befürchtet: Viele Eltern
werden klagen. Vor allem aber werden auf Teufel komm raus Plätze
für die Kinder geschaffen. Kindergartenplätze, wie sie heute schon
nicht den Ansprüchen genügen. Die „Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und
Erziehung in der frühen Kindheit“ (NUBBEK) hat nach zwei Jahren
des Elaborierens herausgefunden: Höchstens zehn Prozent aller
Kinderbetreuungseinrichtungen in Deutschland haben eine gute
Qualität was Gruppengröße, Zuwendung durch Erzieher, Zufriedenheit
der Kinder und ihrer Eltern angeht. Gerade jetzt erhebt auch Jesper
Juul, der Dalai Lama unter den Pädagogen, seine Stimme. In der
Streitschrift „Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, den Eltern
oder sich selbst?“, die morgen in die Buchläden kommt, geht er auf
die Barrikaden. Als Beweis für die unzureichende Qualität in den
Betreuungseinrichtungen führt Juul die Zunahme an fälschlich als
„problematisch“ titulierten Jungen ins Feld. Außerdem beobachte man
viel zu viele Kinder, deren Cortisolspiegel – ein Stresshormon –
durch den Kitabesuch ungesund ansteige. Juul trommelt für die Schwächsten in Europa. Er tut das mit
Verve und geißelt auch sein Heimatland Dänemark, was hierzulande
einige überraschen wird. Denn in Deutschland schielt man seit
Jahren auf Länder wie Dänemark und Schweden, vermeintliche
Musterschüler in Sachen Kinderbetreuung. Juul aber donnert los:
„Kinderkrippen wurden geschaffen, um die Bedürfnisse der Eltern zu
erfüllen, nicht die der Kinder“. Nun würden die Kleinsten dazu
missbraucht, die Länder konkurrenzfähig zu halten. Um das Potential
an gut ausgebildeten Menschen, viele von ihnen jungen Frauen, die
zuhause am Herd versauerten, abzuschöpfen, müssten Kinder
„profitabel“ sein. Sie würden zu Investitionsobjekten. Neben der Politik nimmt Juul vor allem die Eltern aufs Korn. Sie
würden bei dem Thema viel zu passiv bleiben, weil ihre ganze
Lebensgestaltung vom Angebot der Kinderbetreuung abhänge und er
entlarvt den einen Satz, den jede arbeitende Mutter schon einmal
gedacht und ausgesprochen hat: „Wäre es denn besser für mein Kind,
den ganzen Tag mit einer unglücklichen und frustrierten Mutter
zusammen zu sein?“ Die Antwort lautet: „Natürlich nicht!“, aber das
sei – so Juul – noch lange keine Antwort auf die Frage: „Ist eine
Tageseinrichtung oder die Betreuung in der Familie besser für ein
Kind?“ Für arbeitende Eltern stellt sich diese Frage nicht. Sie ist
keine Option. Weil sie weh tut. Und so lässt sie Juuls Schelte dann
auch eher ratlos zurück Ich muss jetzt los. Es wird schon dunkel, im Kindergarten wird
heute Laterne gelaufen, die Dreijährige wartet bestimmt schon
ungeduldig mit ihrem selbstgebastelten Lampion. Meine kinderlosen
Kollegen bleiben noch hier. Sie haben zu tun. Und ich ein
schlechtes Gewissen. Jesper Juul: Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, den
Eltern oder sich selbst? - Ansichten zur Frühbetreuung, 1. Auflage
2012. 40 Seiten. Broschiert. Preis 4,95 € | Kinder müssen "profitabel" sein, schimpft Jesper Juul in seiner neuen Streitschrift. Über das Arbeitsleben mit einem Investitionsobjekt und das ewige schlechte Gewissen. Die Sonntagskolumne | []
| kultur | 2012-11-11T12:24:52+0100 | 2012-11-11T12:24:52+0100 | https://www.cicero.de//kultur/mein-kind-das-investitionsobjekt/52526 |
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Nach Großangriff aus Gaza - In Berlin freuen sich Hamas-Sympathisanten über Terror gegen Israel | Nach dem Großangriff der islamistischen Hamas auf Israel hat der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, auf die Bedrohung jüdischen Lebens auch anderswo hingewiesen. „Der Terrorkrieg der Hamas und der libanesischen Hisbollah gegen Israel ist an Grausamkeit kaum zu überbieten», sagte Schuster am Sonntag einer Mitteilung zufolge. «Die Gefährdung für jüdische Einrichtungen auch hier in Deutschland zeigt, dass es den Terroristen nicht allein um Israel geht, sondern dass jüdisches Leben überall von ihnen infrage gestellt wird.“ Schuster bezeichnete es als wichtiges Zeichen in dieser «kritischen Zeit» für Israel und alle Juden, dass die Sicherheitsbehörden schnell reagiert hätten, um jüdische Einrichtungen hierzulande zu schützen. Nach dem Großangriff der islamistischen Hamas auf Israel am Samstag hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) den Schutz verstärken lassen. Auch die große Solidarität in Deutschland sei wichtig, machte Schuster deutlich. „Die Unterstützung aus allen Teilen unserer Gesellschaft hilft dabei, diese Zeit zu überstehen“, sagte er. Bei Jubelszenen auch in Deutschland angesichts des barbarischen Terrors gegen #Israel wird einem speiübel.
Hier haben wir versagt, da gibt es kein vertun. Der Umgang damit muss sich ändern. Jubel über Terror, Mord u. Leichenschändung ist menschlich& gesellschaftlich inakzeptabel. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, warnte, israelbezogener Antisemitismus sei auch hierzulande eine reale Gefahr. „Aus der jüngeren Vergangenheit wissen wir: Wenn Israel von der antisemitischen Terrororganisation Hamas angegriffen wird, steigt auch die Gefahr für Jüdinnen und Juden in Deutschland“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Mit Blick auf Hamas-Sympathisanten, die am Samstag im Berliner Stadtteil Neukölln mit dem Verteilen von Süßigkeiten den Angriff auf Israel feierten, fügte Klein hinzu: „Eine solch widerwärtige Verherrlichung von Gewalt gegen Jüdinnen und Juden dürfen wir als Gesellschaft nicht hinnehmen.“ Seit heute Morgen um 6.30 Uhr ermorden Terroristen der Hamas wahllos israelische Zivilisten. Alle Demokraten sollten absolut schockiert sein, dass Samidoun diesen Terror nun mitten in Berlin, mitten in Deutschland, feiert. Samidoun missbraucht als Trojanisches Pferd die deutsche… pic.twitter.com/eoNg1FYMhF | Cicero-Redaktion | Während sich der Zentralrat der Juden entsetzt zeigt über den aktuellen Terror gegen Israel, gehen in Berlin Sympathisanten der Hamas auf die Straße – und verteilen sogar Süßigkeiten, um den Großangriff aus Gaza zu feiern. | [
"Israel",
"Hamas",
"Berlin"
]
| innenpolitik | 2023-10-08T12:03:34+0200 | 2023-10-08T12:03:34+0200 | https://www.cicero.de/innenpolitik/nach-grossangriff-aus-gaza-in-berlin-freuen-sich-hamas-sympathisanten-uber-terror-gegen-israel |
Durchmarsch der Rechten - Ein wahrhaft europäisches Land | Deutschland ist bunt geworden. Wenn demnächst in Stuttgart, Mainz oder Magdeburg Landesregierungen gebildet werden, dann sind dazu die ulkigsten Koalitionsmodelle nötig: Deutschland-Koalition, Kenia-Koalition, Grün-Schwarz, Grün-Rot-Gelb. Es ist unübersehbar: Die rechtspopulistische AfD hat die deutsche Politik an diesem 13. März 2016 aufgemischt. Und zwar ganz gewaltig. Muss einen diese politisch-tektonische Verschiebung beunruhigen? Eine Verschiebung, die ausgelöst wurde durch eine Partei, die in ihren Reihen Rechtsextremisten hat oder führende Köpfe, die vom tausendjährigen Deutschland oder von Schüssen auf Flüchtlinge schwafeln? Nein, beunruhigen muss das nicht. Denn der Durchmarsch der AfD ist zunächst einmal ein Zeichen, dass Deutschland normal geworden ist, zumindest normal im europäischen Maßstab. In den meisten EU-Ländern existieren rechtspopulistische Parteien, die es bei Wahlen in die Parlamente schaffen. In Ungarn, Polen, Griechenland oder Finnland sind sie sogar in der Regierung. Ob es einem passt oder nicht: Es gibt nun einmal rechtspopulistische Anschauungen unter Europas Wählern, und in einer Demokratie ist es völlig normal, dass Parteien, die rechtspopulistisch agitieren, dann auch in den Parlamenten vertreten sind. So paradox es klingen mag: Die ziemlich nationalistische AfD hat Deutschland somit zu einem wahrhaft europäischen Land gemacht. Beunruhigen muss einen der Durchmarsch der selbsternannten Alternative für Deutschland nicht. Aber er sollte nachdenklich machen. Vor allem die etablierten Parteien, die durch massiven Wählerschwund teilweise bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurden. Siehe SPD. Die AfD rühmt sich damit, die politikverdrossenen Nichtwähler zurück an die Wahlurnen gebracht zu haben. Das ist keine Parteipropaganda, sondern eine Tatsache. In Sachsen-Anhalt etwa votierten 104.000 frühere Nichtwähler für die AfD – deutlich mehr, als die Rechtspopulisten bei CDU, SPD oder Linkspartei abwerben konnten. Insofern sind die etablierten Parteien gut beraten, einmal zu analysieren, was die AfDler richtig gemacht und sie selber versäumt haben. Es ist nicht so schwierig herauszufinden. Die Wahlforscher von Infratest haben ermittelt, dass es vor allem zwei Themen waren, die der AfD Wähler verschafft haben: Angst und soziale Gerechtigkeit. Der Bauchpolitiker Sigmar Gabriel, Vorsitzender der früheren Volkspartei SPD, hatte also durchaus den richtigen Riecher, als er kurz vor den drei Landtagswahlen vorpreschte und forderte, jetzt müsse endlich auch etwas für Deutsche getan werden – und nicht nur für Flüchtlinge. Gabriel hatte durchaus das richtige Gespür, dass in Sachen soziale Gerechtigkeit etwas im Argen liegt. Aber er hat das Thema völlig falsch intoniert. Deutsche versus Flüchtlinge – dieses Gegeneinander-Ausspielen kann nicht funktionieren. Da zieht zum einen Koalitionspartnerin Angela Merkel nicht mit, zum anderen verschaffte es der AfD weiteren Zulauf. Viele Wähler haben eindeutig Angst: vor Kriminalität, vor „Überfremdung“, vor sozialer und beruflicher Konkurrenz durch Flüchtlinge, vor sozialem Abstieg durch die Kosten der Integration. Es ist relativ unerheblich, ob diese Ängste berechtigt sind. Sie sind da, und wenn die etablierten Parteien nicht von allen guten Geistern verlassen sind, dann gehen sie auf diese Ängste ein. Natürlich sollten sie nicht den „Grenzen dicht!“-Parolen der AfD hinterherlaufen oder gar deren ausländer- oder islamfeindliche Thesen aufgreifen. Zum einen ziehen Wähler meist das Original der Kopie vor. Zum anderen: Selbst in der AfD-Hochburg Sachsen-Anhalt stimmten mehr als 60 Prozent der Wähler für Parteien, die im Grundsatz hinter der aktuellen Flüchtlingspolitik stehen. Und selbst ein hoher Anteil der AfD-Wähler, so fanden die Wahlforscher von Infratest heraus, steht rechtsextremen Parolen sehr skeptisch gegenüber. Die Lösung lautet: Erklären. Erklären. Und noch einmal erklären. Das gilt vor allem für Angela Merkel. Ihr „Wir schaffen das“ klang sehr schön emotional, vor allem für die ansonsten eher unterkühlte Kanzlerin. Aber das alleine reicht nicht. Sie muss auch erklären, wie wir das schaffen wollen. Erklären muss sie auch, weshalb wir Flüchtlinge aufnehmen. Nicht nur zweimal bei Anne Will, sondern immer wieder. Sie muss erklären, dass es mehr Polizisten geben wird, weil durch die Zahl der Flüchtlinge auch die Gesamtbevölkerung gewachsen ist. Dass es mehr Lehrer, mehr Kindergärtner, mehr Kommunalbeamte, mehr Ärzte geben wird. Dass mehr (Sozial-)Wohnungen gebaut werden, dass es dadurch mehr Arbeitsplätze geben wird. Und so weiter und so fort. Mutmaßlich hat Angela Merkel das Gefühl, dies alles schon einmal gesagt zu haben. Aber das reicht eben nicht. Sie muss nicht nur die Gehirne, sondern auch die Herzen der Wähler erreichen. Und das geht offenbar nicht ohne eine gewisse Redundanz. Entscheidend ist aber, dass sie nicht nur ständig darüber redet, dass wir den Untergang des Abendlandes nicht zu befürchten haben. Ganz entscheidend ist, dass sie auch handelt. Zum Beispiel, indem der Bund die Gelder bereitstellt, damit es mehr Wohnungen, Schulen und Lehrer gibt, von denen nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Deutsche profitieren. Zum Teil ist dies bereits geschehen, doch offenbar ist dies noch nicht überall angekommen. Also gilt wieder: erklären, erklären und nochmals erklären. Eine andere Wahl haben Merkel und Gabriel gar nicht. Denn nehmen sie die Ängste der Bürger nicht ernst und gehen darauf ein, werden sie in absehbarer Zeit nur noch in einer einzigen Koalitionsvariante regieren können. Die heißt: schwarz-rot-gelb-grün-dunkelrot. Vor mehr als 26 Jahren wurde diese Variante „Regierung der Nationalen Front“ genannt. Und so etwas wird es dann nicht nur in Mainz oder Magdeburg geben. | Andreas Theyssen | Der Erfolg der Rechtspopulisten zeigt deutlich die Defizite der etablierten Parteien. Doch die haben durchaus die Chance gegenzusteuern, indem sie die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen und darauf eingehen | []
| innenpolitik | 2016-03-14T13:16:00+0100 | 2016-03-14T13:16:00+0100 | https://www.cicero.de//innenpolitik/durchmarsch-der-rechten-ein-wahrhaft-europaeisches-land/60630 |
EU-Report über Rechtsstaatlichkeit und Bulgarien - Bojko Borissows Götterdämmerung strahlt aus bis nach Brüssel | Den sechsundachtzigsten Tag in Folge dröhnte am vergangenen Donnerstagabend eine Kakophonie aus Klängen von Vuvuzelas und Trillerpfeifen durch die Straßen Sofias. Sie bildete den akustischen Hintergrund für skandierte Rufe aus hunderten Kehlen nach der sofortigen Abdankung der Regierung von Ministerpräsident Bojko Borissow. Auch auf seiner Dienstreise zum Rat der Europäischen Union (EU) ereilte den Regierungschef der Ruf nach seinem Rücktritt. Als sich Borissows Fahrzeugkolonne in der belgischen Hauptstadt Brüssel dem Europaviertel näherte, passierte sie Vertreter der bulgarischen Diaspora am Straßenrand. Sie hielten Pappschilder hoch, auf denen geschrieben stand: Ostavka! (Rücktritt). „Zunächst möchte ich der Europäischen Kommission für den ausgesprochen objektiven Bericht danken“, sprach kurze Zeit später ein auffällig ernsthafter Ministerpräsident Borissow in die TV-Kameras. In dem Bulgarien betreffenden Kapitel des am Mittwoch erstmals veröffentlichten Berichts zur Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union sei „der Fortschritt in Bulgarien verzeichnet“, lobte er. „Es ist auch gut beschrieben, was wir noch tun müssen, um zu den Besten in diesem Bereich zu gehören“. Eine grundsätzlich andere Lesart des Berichts gab Bulgariens Staatspräsident Rumen Radew. Obwohl das bulgarische Staatsoberhaupt eine lediglich repräsentative Funktion innehat, stellt sich der von den oppositionellen Sozialisten ins Amt gehobene Radev in unerhörter Weise auf die Seite der Protestbewegung. Wie sie verpasst er der Regierung Borissow das Prädikat „Mafia“. Das Bulgarien betreffende Kapitel des Berichts der EU-Kommission konstatiere „Probleme, die den Bulgaren seit Jahren offensichtlich sind“, kommentierte Präsident Radev. „Meine Unterstützung gilt all denen Bürgern, die aufgehört haben, Konstatierungen und Entscheidungen von Außen zu erwarten, um mit der politischen Korruption, dem schlechten Medienumfeld und den oligarchischen Abhängigkeiten fertigzuwerden.“ Das systematische Verletzen des Gesetzes und des öffentlichen Interesses seitens des Generalstaatsanwalts in seinem Bestreben, um jeden Preis die Regierung und bestimmte Oligarchen zu schützen und Unbotmäßige zu attackieren, unterhöhlt laut Radev „das Fundament des Rechtsstaats und erfordert eine Reaktion des gesamten Justizsystems“. Im Sommer 2009 hat der ehemalige Leibwächter des in Ungnade gefallenen Diktators Todor Schiwkow sein erstes von inzwischen drei Regierungsmadaten angetreten. Damals erklärte er insbesondere den Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität zu einer der wichtigsten Prioritäten seiner Regierungspolitik. Kaum hatte er seine ersten hundert Tage im Amt hinter sich gebracht, unternahm er eine in Bulgarien beispiellose Serie großmaßstäblicher Polizeioperationen mit zum Teil bizarren Codenamen wie Oktopod (Octopus), Naglite (die Frechen), Killerite (die Killer), Peperudite (die Schmetterlinge), Fakirite (die Fakire). Hunderte Menschen wurden bei den Polizeiaktionen festgenommen, doch nur ein verschwindend geringer Teil von ihnen wurde schließlich rechtskräftig verurteilt. Zahlreiche Verurteilungen Bulgariens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg resultierten aus Borissows Offensive gegen die Kriminalität, die entsprechenden Entschädigungszahlungen kamen dem bulgarischen Steuerzahler teuer zu stehen. In den vergangenen elf Jahren hat Borissow ein bis zwei Mal im Jahr Gelegenheit gehabt, sein Land betreffende Evaluationsberichte der Europäischen Kommission zum Stand Inneres, Bekämpfung von Korruption und Verbrechen, zu kommentieren. Für gewöhnlich gelang ihm dies mit Charme und Chupze. Das windelweiche Diplomatensprech des Kooperations- und Überprüfungsmechanismus konnte ihn kaum aus der Reserve locken. Stets erwiesen sich die Brüsseler Autoren als Virtuosen der Ausgewogenheit, erkannten gewisse Fortschritte etwa bei der Reform des Justizwesens an und bemängelten gleichzeitig das Ausbleiben rechtskräftiger Verurteilungen korrupter Staatsbeamter und Politiker. Das Bulgarien-Kapitel des aktuellen Berichts zur Hoheit des Rechts in der EU ist das jüngste Beispiel dafür. So fiel Bojko Borissow auch diesmal sein Versprechen nicht schwer, seine Regierung werde alle Empfehlungen der EU-Kommission umsetzen. Und dennoch ist die Situation für ihn inzwischen eine grundlegend andere. Aufgrund der anhaltenden Demonstrationen wurden Europa und der Welt eine Überfülle an Korruptionsskandalen bekannt, die ernsthafte Zweifel an der Rechtschaffenheit der Regierung Borissow erwecken. Allein im vergangenen Jahr haben spektakuläre Affären das Land erschüttert, die Bezeichnungen tragen wie Romantitel: „Apartmentgate“, „Die acht Zwerge“ oder „Drohnen-Gate“. Abhöraufnahmen von Telefonaten, die Borissows Amtsmissbrauch zu belegen scheinen, oder Filmaufnahmen von Borissows Nachttischschublade vollgestopft mit 500-Euro-Scheinen haben in internationalen Medien ein großes Echo gefunden, erkennbar aufgeklärt wurden sie von der bulgarischen Generalstaatsanwaltschaft indes nicht. Selbst die letzten Hinterbänkler im Europäischen Parlament dürften inzwischen erfahren haben, dass in Bulgarien Beamte des Transportministeriums einen schwunghaften Handel mit Führerscheinen betreiben, Politiker Luxusapartments zu Spottpreisen erwerben können und „Die acht Zwerge“ kein Märchen ist, sondern ein schockierender Erpressungsthriller. Zwischen Borissows Lippenbekenntnissen zum Rechtsstaat und den tatsächlichen Verhältnissen in dem Balkanland klafft unübersehbar eine Kluft. Wenn das Europäische Parlament auf seiner Sitzung am 5. Oktober 2020 über die Hoheit des Rechts in Bulgarien debattiert, dürfte sie ebenso vermessen werden wie im November 2020, wenn sich der Rat der Europäischen Union des leidigen Themas annehmen wird. Neben der Bemängelung des Ausbleibens rechtskräftiger Verurteilungen hoher Staatsbeamter und Politiker und der Kritik an der Unantastbarkeit des Generalstaatsanwalts konstatiert der Bericht der EU-Kommission auch die beklagenswerte Situation der Medien. Bevor Bulgarien zum Januar 2007 der EU beigetreten ist, führte die Pressefreiheitsrangliste von Reportern ohne Grenzen (RoG) das Balkanland noch auf Rang 35. Nach 13 Jahren EU-Mitgliedsschaft und elf Jahren Bojko Borissow liegt Bulgarien in diesem Jahr zum zweiten Mal in Folge auf Rang 111, als am schlechtesten platziertes Land nicht nur der EU, sondern des ganzen Balkans. Der EU-Bericht nennt einige Gründe dafür wie etwa Drohungen und gewalttätige Übergriffe gegen Journalisten oder das oft verschleierte Eigentum an Medien. Einen Eindruck über die Situation der Medien in Bulgarien geben aber auch die Worte von Toma Bikow. Der ehemalige Journalist und jetzige Abgeordnete von Bojko Borissows Regierungspartei Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens (GERB) behauptete gegenüber dem Bulgarischen Nationalen Fernsehen (BNT), bei Veröffentlichungen über Bulgarien in den europäischen Medien handle es sich um „von Bulgaren bezahlte Publikationen“. „Da ich keine Beweise habe, kann ich keine konkreten Publikationen nennen, doch bei einem nicht kleinen Teil von ihnen handelt es sich um Auftragsarbeiten“. Toma Bikow ist erst seit wenigen Jahren Bojko Borissows Parteigänger, zählte früher zu dessen schärfsten Kritikern. „Borissow ist kein Diktator, sondern die Karikatur eines Diktators“, schmähte er im Herbst 2012 und räsonierte damals, „Borissow hat keinen Ausweg, entweder noch ein Mandat oder es dürfte gegen ihn ermittelt werden. Es besteht die Chance, dass er der erste Premier ist, der im Gefängnis liegt“. | Frank Stier | Die EU-Kommission hat einen Report zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedsländern vorgelegt. Doch dieser geht allzu diplomatisch mit Bulgarien um. Druck auf den skandalumwitterten Ministerpräsident Bojko Borissow macht derweil seine eigene Bevölkerung. | [
"Bulgarien",
"Boiko Borissow",
"EU",
"Rechtsstaatlichkeit",
"korruption"
]
| außenpolitik | 2020-10-02T16:09:44+0200 | 2020-10-02T16:09:44+0200 | https://www.cicero.de//aussenpolitik/eu-report-rechtsstaatlichkeit-bulgarien-bojko-borissow-goetterdammerung-bruessel |
5000 Jahre Schulden – David Graeber und die verlorene Wette auf die Zukunft | Diesen Text finden Sie in der neuen Ausgabe von
Literaturen.
Gemeinsam mit Cicero am Kiosk oder gleich im
Online Shop bestellen. „Das winzige Territorium, über das El Rey als ungekrönter König
herrscht, findet sich auf keiner Landkarte und besitzt, aus sehr
praktischen Gründen, keine offizielle Existenz.“ So beginnt Jim
Thompson das Schlusskapitel seines 1958 erschienenen Romans „The
Getaway“. Dieses Kapitel ist von der vorangegangenen Handlung
weitgehend abgekoppelt, es ist eine beinahe eigenständige Erzählung
und als Fabel über die Abgründe unserer Zivilisation mit Franz
Kafkas „In der Strafkolonie“. Man könnte El Rey, den allmächtigen
Herrscher über das von Thompson ersonnene Fabelreich, für einen
ungerechten Mann halten, aber das ist er nicht. El Rey ist bloß
unerbittlich. Mit der größten Strenge wacht er über die Einhaltung
der Regeln, die er seinen Untertanen auferlegt hat. Da sein Reich
auf keiner Karte verzeichnet ist, gibt es auch keine äußere Macht,
die ihn daran hindern könnte. Das Territorium ist ein letztes Refugium für Menschen auf der
Flucht, hier stranden die, die sonst nirgends mehr ein Versteck
finden. Es ist ein Gefängnis, in das sich die Verbrecher – denn es
sind ausschließlich Verbrecher, die hier ihr Leben beschließen –
freiwillig selbst einliefern. Einmal angekommen, zahlen sie ihre
Barschaften auf der Bank ein und genießen vorerst alle
Annehmlichkeiten der sogenannten Zivilisation. Da aber kaum einer
reiten will, verfetten die Pferde in ihren Ställen, und weil
niemand badet, wird das Wasser der Swimmingpools brackig. Das Leben
hier scheint bequem zu sein, aber es ist nicht teuer. Eine Villa,
die an der Riviera tausend Dollar im Monat kosten würde, wird für
wenige hundert Dollar vermietet. Aber auch, wenn die Ausgaben
überschaubar sind, haben die Bewohner des Territoriums ein Problem:
Es gibt Konsum, aber keine Arbeit; Geld muss ausgegeben, darf aber
nicht verdient werden. Und alles fließt direkt und ausschließlich
in El Reys Tasche. So geht auch das größte Vermögen, das die Ankömmlinge im Zuge
ihrer kriminellen Vorgeschichten erworben haben, unweigerlich
einmal zur Neige. Für diesen Fall sind die Vorkehrungen schon
getroffen: In einem Dorf abseits der Hauptstadt des Territoriums
wandeln die Ausgemergelten vor weißgetünchten Häusern. In der Luft
liegt der Geruch von verbranntem Fleisch, er kommt aus den
Schornsteinen der Krematorien. Im Territorium endet das Leben
unweigerlich mit dem Hungertod. Die böseste Pointe dieser sowieso
schon bösen Geschichte ist aber, dass auch ihr Autor, Jim Thompson,
im Jahr 1977 tatsächlich verhungert ist. Einsam und verwahrlost
hatte er zuletzt aufgehört zu essen. Zu diesem Zeitpunkt war in
Amerika kein einziger seiner vielen Romane mehr lieferbar,
offensichtlich schienen antikapitalistische Geschichten wie diese
gerade hier unzumutbar. Die Ankunft auf dem Territorium ist nur eine Metapher für die
Geburt des Menschen. Dieser Mensch, so unterstellt dieser Text,
kommt schuldig zur Welt, und als Schuldiger macht er weiterhin
Schulden, die er niemals wird zurückzahlen können. Zur Pointierung
versetzt Thompson seiner literarischen Laborsituation nur einen
einzigen, realitätsfremden Dreh: Von einem Land, in dem es unter
allen Umständen untersagt ist, Geld zu verdienen, um Schulden zu
begleichen, ist bislang noch nichts bekannt geworden. Dennoch zeigt
zum Beispiel die Dritte Welt, dass Schulden auch in der Realität so
groß werden können, dass sie faktisch nicht mehr zu begleichen
sind. Sie sind dann eine bereits verlorene Wette auf die
Zukunft. Wer über Schulden spricht und mit der Literatur beginnt, gerät
in den Verdacht, ein Schwätzer zu sein. Schließlich scheint die
Ökonomie, zu der die Schulden gehören, eine Expertenwissenschaft
und das Sprechen darüber professionell qualifizierten Kennern
vorbehalten zu sein. „Sie haben noch nie etwas von der Laffer-Kurve
gehört?“ – „Sie brauchen aber unbedingt eine Einführung in das
wirtschaftliche Einmaleins“ – so klingen, nach David Graeber, ganz
übliche Reaktionen auf die Überlegungen Fachfremder. Auch Graeber
ist nicht vom Fach. Als Ethnologe sollte er sich, in den Augen
eines Ökonomen, vielleicht auf melanesische Cargo-Kulte
konzentrieren, seine Finger aber unbedingt von so etwas Heiklem und
Heiligem wie unserer westlichen Wirtschaft lassen. Das aber hat er
nicht getan und nun stattdessen ein Standardwerk darüber
geschrieben, wie sich die Menschen seit jeher miteinander
verbunden, aneinander gekettet und gegenseitig geknechtet
haben. Seite 2: Die Geschichte unserer Kultur, ein
Horrorroman „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“, so der freche Titel, erzählt
die Geschichte unserer Kultur als einen Horrorroman. Das Buch
handelt von der dunklen Seite der Macht und ihrer perfidesten
Erfindung: Schuld und Schulden erscheinen als Hauptübel unserer
Kultur und zugleich als Grund für Kriege, Sklaverei und
Katastrophen. Als Wissenschaftler genießt David Graeber das größte
Ansehen seiner Kollegen: Der berühmte Ethnologe Maurice Bloch hält
den 51-jährigen Amerikaner, innerhalb seiner Generation, gar für
den herausragenden Vertreter der Disziplin. Zur heroischen Figur
ist Graeber aber besonders außerhalb der akademischen Welt
geworden: Sein Engagement in globalisierungskritischen Bewegungen,
zuletzt Occupy Wall Street, haben ihn wohl seine Professur an der
Yale-Universität gekostet. Die Institutsleitung musste sich
vorwerfen lassen, die Stelle aus politischen Gründen nicht
verlängert zu haben. Heute lehrt er an der Universität von London. Und nun: sein
großes Buch, sein Hauptwerk, das auch im deutschen Feuilleton schon
gefeiert wurde, bevor die Übersetzung überhaupt vorlag. David
Graeber schreibt mit Herzblut und Geduld. Auf über fünfhundert
Seiten breitet er die akribisch geführten Nachweise seiner großen
These aus. Sein Rüstzeug ist die Ethnologie, was aber etymologisch,
philosophisch oder archäologisch grundierte Argumente nicht
ausschließt. Die Essenz des Buches fand sich schon auf den wenigen Seiten,
die Jim Thompson zur Schilderung des Territoriums von El Rey
genügten. Und diese Essenz ist schlicht, sie ist der Kern unserer
kulturellen und religiösen Großerzählungen: Schulden stehen am
Anfang von allem. Wir werden schuldig geboren und häufen weitere
Schulden an, die wir nie wieder werden zurückzahlen können. Das
führt zu Sklaverei und Unterdrückung. Aber was ist der Ausweg? Auch Graebers Überlegungen handeln von einer Fiktion, die sich
aber nicht als Fiktion zu erkennen gibt. Der Autor nennt sie den
„Mythos vom Tauschhandel“, der in zahllosen Varianten immer und
immer wieder erzählt wird. Etwa von Adam Smith, der im 18.
Jahrhundert den folgenreichen Begriff der unsichtbaren Hand geprägt
und unsere moderne Nationalökonomie begründet hat. „Unter Jägern
und Hirten“, schrieb Smith, „stellt beispielsweise ein Mitglied des
Stammes besonders leicht und geschickt Pfeil und Bogen her. Häufig
tauscht er sie bei seinen Gefährten gegen Vieh oder Wildbret ein,
und er findet schließlich, dass er auf diese Weise mehr davon
bekommen kann, als wenn er selbst hinausgeht, um es zu jagen. Es
liegt daher in seinem Interesse, dass er das Anfertigen von Pfeil
und Bogen zur Hauptbeschäftigung macht und somit zum Büchsenmacher
wird.“ Ein Klassiker: Die Bedürfnisse in einem arbeitsteiligen
Gemeinwesen können von Verschiedenen in unterschiedlicher Weise
befriedigt werden. Der eine hat das Fleisch, der andere die Waffen,
um es zu erbeuten. Ein weiterer ist Schmied, Zimmermann oder
Gerber. Und alle profitieren voneinander, indem sie ihre
Erzeugnisse untereinander tauschen. Leider stößt diese Praxis aber an Grenzen. Jeder muss Dinge
horten, von denen er denkt, dass andere sie würden gebrauchen
können. Hat der eine, so formuliert Adam Smith das Dilemma, „gerade
nichts zur Hand, was der erste braucht, käme kein Tausch unter
ihnen zustande“. Missliche Lage. Und ein ganz logischer Ausweg:
Zumindest will es die Legende, dass sich aus dem Tauschhandel
heraus nach und nach universell verwendbare Zahlungsmittel
entwickelten, die, weil jedem zugänglich und mit einem klaren Wert
bemessen, den Handel flexibel und das Einlagern spezieller
Tauschwaren überflüssig machten: Je nach Epoche und Weltregion
waren solche Zahlungsmittel Salz, Stockfisch, Tabak, Edelmetalle –
am Ende lief es aber stets auf Geld hinaus. Geld flexibilisierte
den Handel. Wer flüssig war, konnte sich alles Mögliche
leisten. Seite 3: Tauschhandels-Gesellschaften, ein märchenhaftes
Ungefähr? Eine schöne Geschichte. Und bis heute halten alle
einflussreichen ökonomischen Theorien an ihr fest wie an einem
biblischen Glaubenssatz. Geld, so ihre Konsequenz, ist etwas wert,
Geld hat eine unmittelbare Entsprechung. Und ist all dieses nicht:
ein Zeichen, eine Information, eine an sich leere Behauptung.
Großer Unsinn, ruft hier Graeber, der Feldforscher. „Niemand
tauschte je Pfeilspitzen gegen Fleischstücke.“ Das hat die
empirische Wissenschaft längst widerlegt. So der Befund der in
Cambridge lehrenden Anthropologin Caroline Humphrey: „Schlicht und
ergreifend“, sagt sie, „wurde nicht ein einziges Beispiel einer
Tauschwirtschaft jemals beschrieben, ganz zu schweigen davon, dass
daraus Geld entstand; nach allen ethnografischen Daten hat es das
nicht gegeben.“ Nicht umsonst sind daher Erzählungen von
Tauschhandels-Gesellschaften im märchenhaften Ungefähr verortet.
Nicht, dass es keinen Tausch gegeben hätte: Unter anderem schildert
Graeber den „dzamalag“, ein komplexes Ritual des zeremoniellen
Tauschhandels, das der australische Aborigine-Stamm der Gunwinggu
mit seinen Nachbarvölkern betreibt. Stets handelt es sich aber um
Begegnungen zwischen Fremden, die sich wahrscheinlich niemals
wieder begegnen werden – und eben nicht um einen Handel zwischen
gleichberechtigten Partnern, wie es die Vertragswerke der
westlichen Ökonomie voraussetzen. Dieser Streit um Urszenen ist von
allergrößter Bedeutung, schließlich hängt die Legitimation der
Ökonomie von seinem Ausgang ab. Und Graeber sagt: Am Anfang stand nicht der Tausch, am Anfang
standen die Schulden, das Kreditwesen. Das heißt, wir leben seit
Menschengedenken in einer Schuldenkultur. Kredite, also die
Verpflichtung zwischen Gläubigern und Schuldnern, sind nach Graeber
älter als alle schriftlichen Aufzeichnungen, daher verlieren sich
ihre Anfänge im historischen Halbdunkel. Wahrscheinlich aber seien
die Schulden von den Tempelverwaltern der mesopotamischen Antike
erfunden worden, um ein kompliziertes Kalkül um Erntezyklen und die
Transportlogistik entlang von Euphrat und Tigris profitabel zu
machen. Und Graeber geht weiter, seine ökonomisch fundierte
Kulturtheorie schließt die großen Fragen der Religion und der Moral
mit ein: Warum, so fragt er, sprechen wir von Jesus Christus als
dem „Erlöser“? Die Bedeutung des lateinischen „redemptio“ sei
schließlich das Rückkaufen oder Wiedererlangen von etwas, das als
Sicherheit für einen Kredit hinterlegt wurde. Es sei verblüffend,
so Graebers lakonischer Befund, dass der Kern der christlichen
Botschaft in die Sprache eines Geschäftsakts gekleidet ist. Haben also die Weltreligionen ihre Entstehung ökonomischen
Krisen zu verdanken? „Sie alle“, behauptet der Autor, „vom
Zoroastrismus bis zum Islam – sind inmitten heftiger
Auseinandersetzungen über die Rolle des Geldes und des Marktes im
Leben des Menschen entstanden, speziell in Auseinandersetzungen
darüber, was diese Einrichtungen hinsichtlich der Fragen, was
Menschen einander schulden, zu bedeuten hatten.“ Da haben wir es
also: Schuld und Schulden gehören zusammen, weshalb auch die
Begriffe der Moral und der Ökonomie nicht voneinander zu trennen
sind. Was daraus folgt? Schulden stehen nicht, wie Adam Smith und
andere es wollten, einfach auf der Soll-Seite der unbestechlichen
doppelten Buchführung. Sie sind auch nicht bloß der gerechte Fluch
über jene, denen das Wasser bis zum Hals steht. Schulden sind immer
schon ein Produkt der Kultur – eine Setzung, eine Behauptung, ein
Instrument der Macht. Seite 4: Vom antiken Schuldenerlass bis zur
Occupy-Bewegung Eine Geschichte der Schulden, wie Graeber sie hier von ihren
frühesten Ursprüngen an erzählt, stand noch aus. Sie erscheint umso
dringlicher, als die Finanzkrisen der Gegenwart, individuelle und
nationalstaatliche Überschuldung sowie der drohende wirtschaftliche
Kollaps der Drittweltstaaten derzeit mehr Aufmerksamkeit
beanspruchen denn je. Die Occupy-Bewegung hat Graeber nicht umsonst
zu ihrem intellektuellen Frontmann erkoren. Seine Einsicht, dass
Schulden kein ehernes Naturgesetz sind, sondern lediglich eine im
Gewand der Moral verkaufte Setzung, treibt die Forderung nach
Schuldenerlassen voran. Denn das zeigt Graeber eben auch: Die
Geschichte ist reich an Präzedenzfällen für die Lösung von
Schuldenkrisen. In diesem Sinne führt der Autor die antiken Schuldenerlasse vor
Augen, die sich bereits in Mesopotamien sowie in der griechischen
und römischen Polis nachweisen lassen. Zumindest die freien Bürger
der Polis mussten keine Steuern zahlen. Die hebräische und im
Mittelalter die christliche Kultur schlossen an solche Traditionen
der Großzügigkeit an: Im rituell zelebrierten Jubeljahr wurden
Sklaven entlassen und verpfändete Grundstücke zurückgegeben.
Graeber geht es darum, dass es stets Erlösungs- und
Entschuldungsakte waren, die etwas Neues in Gang gesetzt haben: Was
tat Gott als Erstes? Er befreite die Juden aus der ägyptischen
Knechtschaft. „Drop the Debt!“ Graeber beteiligt sich an politaktivistischen
Kampagnen, gegen den IWF und für einen Schuldenerlass gegenüber
Drittweltländern. Schulden sind, nach Graeber, eben eher ein
politisches Phänomen als ein wirtschaftliches. Und stellen wir uns
vor, die Star-Autoren Aristoteles und Platon würden per
Zeitmaschine in die Vereinigten Staaten von Amerika befördert, um
eine Reportage über die working poor von heute zu verfassen. Sie
würden sich wohl die Augen reiben angesichts dieser altbekannten
Form der Schuldsklaverei. Das Territorium, das El Rey, dieser
unerbittliche, wenn auch ungekrönte König und Herrscher über Schuld
und Schulden, regiert, dieses Reich ist gar nicht so klein. Es
beginnt gleich hier, vor der Haustür, und reicht weit hinaus in die
Welt. David
Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Aus dem Englischen von
Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer
Klett-Cotta, Stuttgart 2012
536 S., 26,95 € | Ist, wer Schulden hat, auch schuldig? Was hat Wirtschaft mit Moral (oder gar Religion) zu tun? Der Ethnologe David Graeber erschüttert unser Denken über Geld. Und schon jetzt steht fest: "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" ist das Sachbuch des Jahres | []
| kultur | 2012-05-29T15:18:13+0200 | 2012-05-29T15:18:13+0200 | https://www.cicero.de/kultur/david-graeber-und-die-verlorene-wette-auf-die-zukunft/49492 |
|
Boston-Attentäter - Die Brüder Zarnajew: Je mehr Opfer, desto besser | [[{"fid":"54858","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":814,"width":596,"style":"width: 120px; height: 164px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (Juni). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen. Am Abend des 12. Februar 1894 warf Émile Henry im Café Terminus am Gare Saint-Lazare einen Blechtopf voller Sprengstoff in die Luft. Von den Angestellten, Arbeitern und kleinen Ladenbesitzern, die gerade ihr Bier tranken, wurden 20 verletzt, eine Frau tödlich. Als man ihm vorwarf, unschuldige Menschen verletzt zu haben, rief der selbst ernannte Anarchist aus: „Il n’y a pas d’innocents!“ – es gibt keine Unschuldigen. An drei Wochenenden im April 1999 zündete David Copeland in London drei Sprengsätze, die er in Sporttaschen versteckt hatte. Die Tatorte waren Treffpunkte von Einwanderern und Homosexuellen. Drei Menschen starben, 129 wurden verwundet. Der „Nagelbomber“ hatte seine Pläne mit niemandem abgesprochen. Neben politischen Gründen gab er an: „Wenn sich niemand daran erinnert, wer du warst, hast du niemals existiert.“ Den Brüdern Zarnajew, die in Boston jüngst drei Menschen töteten und 264 verletzten, sagt man nach, sie hätten den Islam verteidigen wollen. Tamerlan, dem älteren, hatte seine Mutter vor Jahren empfohlen, sich in Palästina am globalen Dschihad zu beteiligen. Bei der Zielauswahl zeigten sich die Brüder flexibel. Da die Bomben vorzeitig fertig waren, zogen sie den Explosionstermin vor. Die Eingebung, weitere Sprengsätze am New Yorker Times Square zu zünden, ereilte sie während der Flucht. Der terroristische Einzeltäter ist keine Erfindung des offenen Netzwerks Al Qaida. Die ideologischen Versatzstücke sind ebenso austauschbar wie die Motive. Der „einsame Wolf“, wie er im Jargon der Geheimdienste heißt, kann Blutbäder im Namen der Gerechtigkeit anrichten, unter der Fahne „rassischer Reinheit“ oder des globalen Kalifats. Doch bedürfen große Verbrechen weder großer Ideen noch extremer Wutanfälle. Massaker sind auch keine Massenkommunikation. Wer sie als Botschaft missversteht, tappt geradewegs in die Propagandafalle der Bedeutung, die der Täter dem Publikum aufgestellt hat. Die Tat soll Angst, Entsetzen, kopflose Panik hervorrufen. Im Gegensatz zum politischen Mörder hat es der Terrorsolist weniger auf einen Tyrannen noch einen Polizeioffizier oder eine Kaiserin abgesehen als vielmehr auf die Menschheit schlechthin. Je mehr Opfer, desto besser. Je lauter der Widerhall, desto leuchtender das Fanal. Häufig wählt er belebte Plätze, an denen es die Opfer wahllos trifft. Der Solist handelt auf eigene Faust. Er gehört keiner Gruppe, keiner Zelle, Sekte oder Miliz an. Sogar ferne Gesinnungsfreunde sind überrascht von seiner Existenz. Er erhält keine Anweisung und keinen Befehl. Der Treibsatz liegt im Täter selbst. Niemand hat ihn überredet oder verführt. Entweder hat er sich die Phrasen, mit denen er sein Tun rechtfertigt, selbstständig zusammengesucht oder sich von Parolen bereitwillig überzeugen lassen. Nicht wenige haben eine Lieblingslektüre. Verstreute Islamisten erbauen sich im Netz an den Fernpredigten radikaler Vorbeter; Copeland oder Timothy McVeigh, der „Oklahoma-Bomber“, ließen sich von den „Turner Diaries“ inspirieren, einer Novelle des Neonazis William Pierce. Dennoch montiert der Einzeltäter sein Hassbild aus eigenen Stücken. Er lebt in einer abgeschirmten Gedankenwelt. Intellektuell ist er ein Eigenbrötler oder Autodidakt. Konvertiten, welche die Frömmigkeit rasch nachholen wollen, meinen es mit sich und der Welt oft besonders streng. Keineswegs kopiert der Einzelgänger blind die Stereotype, die in einer Gruppe sozial verbindlich sind. Sein Denkraum liegt nicht in einem Chatroom, sondern in seiner Einbildungskraft. In der Imagination lässt sich ungestraft alles vorstellen und planen. Die Fantasie befreit von Bedenken und Wankelmut. Da er für sich ist, kann der Terrorsolist seine eigene Gewalttechnik erfinden. Mancher baut lediglich bewährte Vorlagen aus Handbüchern oder Zeitschriften nach. Doch weil niemand seine Kreativität einschränkt, ist er in der Wahl der Ziele und Mittel frei. Mehrere Innovationen gehen auf sein Konto. Einzeltäter sind verantwortlich für die erste Autobombe, die erste Flugzeugentführung, die erste Vergiftung von Nahrungsmitteln, den ersten Anthrax-Brief und – wie im Falle des Norwegers Anders Breivik – den ersten Anschlag, der Explosion und Amoksturm kombinierte. Während der Vorbereitung ist der Solist wenig mitteilsam. Nur Verschwiegenheit schützt ihn zuverlässig. Einige rechnen sich einer Protestbewegung oder welthistorischen Mission zu. Doch dies sind nur Fantasiegebilde. Vereinzelte Bemerkungen werden kaum als Vorzeichen wahrgenommen. Auf die Weltbühne tritt er erst mit der Tat. Das Blut der Opfer beglaubigt seine Existenz. Nun explodiert sein Geheimnis, und er wird seltsam gesprächig. Breivik versandte stolz ein obskures Machwerk von über 1500 Seiten kurz vor dem Osloer Anschlag. Theodore Kaczynski, der „Unabomber“, der zwischen 1978 und 1995 mit 16 Briefbomben drei Menschen tötete und 23 verletzte, ließ in der New York Times ein Manifest von 35 000 Wörtern gegen die industrielle Zivilisation veröffentlichen. Sein Bruder erkannte den Schreibstil und verriet ihn an das FBI. Émile Henry verfasste für den Gefängnisdirektor einen Essay über den Anarchismus. Auf der Anklagebank trug er seine Konfession so überzeugend vor, dass nicht wenige Sympathisanten ihn klammheimlich bewunderten. Von Dschochar Zarnajew, der die Verfolgungsjagd überlebte, dürften keine großen Reden zu erwarten sein. Er hat weiter nichts zu sagen. | Wolfgang Sofsky | Die Brüder Zarnajew wollten mit ihrem Bomben-Attentat auf den Marathon in Bosten „den Islam verteidigen“. Sind sie der Prototyp des Attentäters? | []
| außenpolitik | 2013-07-27T10:20:12+0200 | 2013-07-27T10:20:12+0200 | https://www.cicero.de//aussenpolitik/boston-attentaeter-die-brueder-zarnajew-je-mehr-opfer-desto-besser/55124 |
Regierungskrise in Frankreich - Was das Misstrauensvotum gegen die Regierung Barnier bedeutet | Nicht einmal drei Monate nach dem Amtsantritt droht der französischen Regierung von Premierminister Michel Barnier das Aus. Präsident Emmanuel Macron hatte den konservativen Politiker zum Regierungschef gemacht, obwohl er keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Weil der Streit um Barniers geplanten Sparhaushalt eskalierte, wollen die oppositionellen Abgeordneten der Nationalversammlung, sowohl das Linksbündnis als auch Rassemblement National von Marine Le Pen, über einen Misstrauensantrag abstimmen. Die wichtigsten Fragen und Antworten: Wann wird abgestimmt? Die Abstimmung über beide Misstrauensvoten, das des Linksbündnisses und ein weiteres des Rassembement National von Marine Le Pen, wird am Mittwoch ab 16 Uhr in der Nationalversammlung stattfinden. Ist schon klar, wie das Votum ausgeht? Es ist zu erwarten, dass eine Mehrheit der Abgeordneten der Regierung das Vertrauen entzieht und sie somit stürzt. Das linke Lager aus Kommunisten, Grünen, Sozialisten und Linken hatte einen Antrag eingereicht. Ihre Stimmen gelten als relativ sicher. Die Rechtsnationalen um Marine Le Pen haben angekündigt, dem Antrag des linken Lagers zuzustimmen, allerdings haben sie zusätzlich einen eigenen Antrag gestellt. Zusammen erreichen die Oppositionsparteien die nötige absolute Mehrheit von 289 Stimmen. Wird damit auch Präsident Macron abgewählt? Nein. Das Misstrauensvotum gilt nur für die Regierung, die von Präsident Emmanuel Macron ernannt wurde, der er aber nicht angehört. Aber ein Regierungssturz wird auch ihn unter Druck setzen, denn sein Mitte-Lager regiert mit. Le Pen und die Linke hoffen möglicherweise darauf, Macron mit dem Regierungssturz zu einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl zu bewegen. Eigentlich steht das Votum erst 2027 an. Macron kann nach zwei Amtszeiten nicht erneut antreten. Kommen in Frankreich jetzt also wieder Wahlen? Neue Parlamentswahlen wird es auch mit einem Regierungssturz nicht geben. Zur Erinnerung: Macron hatte die Nationalversammlung im Frühjahr aufgelöst und Neuwahlen einberufen. Abermalige Wahlen sind erst ein Jahr nach der zweiten Wahlrunde wieder möglich, also im Juli. Auch ein Regierungssturz würde also nichts an den komplizierten parlamentarischen Verhältnissen ändern. Derzeit haben weder Macrons Mitte-Kräfte und die Konservativen, noch das linke Lager, noch der Rassemblement National und seine Verbündeten eine eigene Mehrheit in der Parlamentskammer. Zwar dürften Teile der Opposition auf eine vorgezogene Präsidentschaftswahl hoffen. Macron hatte jedoch immer wieder betont, bis zum Ende seiner Amtszeit Staatschef bleiben zu wollen – also bis zur regulär anstehenden Wahl 2027. Steht Frankreich dann bald ohne Regierung da? Ist das Misstrauensvotum wie erwartet erfolgreich, muss Premier Barnier bei Präsident Macron seinen Rücktritt und den Rücktritt der Regierung einreichen. Die Ministerinnen und Minister dürfte Macron dann aber geschäftsführend im Amt lassen, bis es eine neue Regierung gibt. Sie könnten sich dann um laufende Regierungsangelegenheiten kümmern, nicht aber neue Gesetzesinitiativen anstoßen. Doch auch mit einem geschäftsführenden Kabinett würde ein Regierungssturz Frankreich erneut in eine politische Krise stürzen. Schon nach den Parlamentswahlen im Sommer war die Regierungsfindung äußert kompliziert und langwierig. Das Ergebnis war mit der Barnier-Regierung nur ein geduldetes Kabinett ohne eigene Mehrheit. Die Situation dürfte bei gleichbleibenden Kräfteverhältnissen nun nicht leichter werden. Hinzu kommt, dass der Haushalt für das kommende Jahr noch nicht verabschiedet wurde. Zwar droht in Frankreich kein Shutdown wie in den USA. Mit den notwendigen anvisierten Sparplänen wird es ohne Regierung jedoch schwierig. Hat Frankreich historische Erfahrungen mit dieser Situation? Nein. Die französischen Regierungen, die stets vom Präsidenten ernannt werden, haben in den letzten Jahren meist kürzer gehalten als etwa in Deutschland und auch während einer parlamentarischen Legislaturperiode gewechselt. Unter Macron, der seit 2017 Präsident ist, gab es je nach Zählweise bereits mindestens sechs Regierungen mit fünf verschiedenen Premierministern. Druck aus dem Parlament hat bei den Regierungswechseln mitunter zwar auch eine Rolle gespielt, aber dass die Abgeordneten das Kabinett abwählten, ist seit über 60 jahren nicht vorgekommen. In der jüngeren französischen Geschichte waren Abgeordnete erst einmal mit einem Misstrauensvotum erfolgreich: 1962 entzogen sie Premier Georges Pompidou und seiner Regierung unter Staatschef Charles de Gaulle das Vertrauen. Es kam zur Neuwahl. dpa | Cicero-Redaktion | Frankreich steht erneut vor einer politischen Krise. Ein Misstrauensvotum könnte am Mittwoch die Mitte-Rechts-Regierung von Barnier stürzen. Was man über Erfolgsaussicht und Folgen wissen muss. | [
"Frankreich",
"Emmanuel Macron",
"Marine Le Pen"
]
| außenpolitik | 2024-12-03T10:49:24+0100 | 2024-12-03T10:49:24+0100 | https://www.cicero.de//aussenpolitik/regierungskrise-frankreich-misstrauensvotum-barnier |
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Teure Unternehmensberater in der Asylverwaltung | Im September 2015, auf dem Höhepunkt des Flüchtlingszuzugs nach Deutschland, trat Innenminister Thomas de Maizière mit seinem neuen Krisenbewältiger vor die Presse – Frank-Jürgen Weise, Chef der Bundesagentur für Arbeit und frisch ernannter Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Weise sollte beim Bamf alles anders machen, besser, effizienter. Heißt vor allem: den Berg an Asylanträgen abtragen. Der war unter seinem Vorgänger Manfred Schmidt angewachsen, ohne, dass die Politik ihm sichtbar zur Seite gesprungen war. Weise hatte Visionen. Seine erste: Er werde McKinsey ins Haus holen, um die Asylverfahren zu beschleunigen. Allerdings zunächst „ohne Bezahlung“. Den Umgang mit Unternehmensberatungen kennt Weise schon von seiner Arbeitsagentur. McKinsey hat auch schon Schweden und Dänemark in Flüchtlingsfragen unterstützt. Die kostenfreie Beratung dauerte aber nur kurz an. Sechs Wochen später, am 30. Oktober, wurde mit McKinsey ein eigener Vertrag geschlossen, wie ein Sprecher des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge auf Cicero-Anfrage einräumte. Es blieb nicht der einzige. Am 11. November wurde die Unternehmensberatung Roland Berger hereingeholt, am 17. Dezember Ernst & Young. Auf die Frage, ob es für die Dienstleistungen eine europaweite Ausschreibung gegeben habe, antwortete die Bamf-Pressestelle: „Nein“. Dabei müssen Bundesbehörden Dienstleistungen ab einem Schwellenwert von 135.000 Euro in der Regel öffentlich ausschreiben. Ausnahmetatbestände sind genau zu begründen. Welchen Umfang die Beraterverträge haben, wie hoch die einzelnen Honorare sind, gab das Bundesamt nicht bekannt. Auch die betroffenen Firmen wollten sich auf Cicero-Anfrage nicht äußern. Das Bundesamt teilte lediglich mit, dass die Unternehmensberater aus einem Topf mit dem Titel „Behördenspezifische fachbezogene Verwaltungsausgaben“ bezahlt werden. Für das Jahr 2016 seien dafür vorsorglich 12 Millionen Euro eingeplant. Aus diesem Titel würden aber auch sonstige Sachverständige wie Dolmetscher und Schriftgutexperten bezahlt. Mitarbeiter des Bundesamtes beobachten, dass Berater häufig mit einem Taxi anreisen. Die Pressestelle sagt dazu: „Reisekosten der Berater werden vom Bamf nicht erstattet.“ Eine freihändige Vergabe eines Auftrags an McKinsey hat in Berlin in diesen Wochen zu einem Eklat geführt. Dort sollte die Beraterfirma den „Masterplan Integration und Sicherheit“ erstellen. Oder besser gesagt: Der SPD-Mann Lutz Diwell, der von McKinsey bezahlt und von SPD-Bürgermeister Michael Müller eingesetzt worden sein soll. Auftragshöhe: 238.000 Euro. Es stand der Vorwurf der Vetternwirtschaft im Raum. Die Betroffenen mussten sich unangenehmen Fragen im Berliner Abgeordnetenhaus stellen. Das Bamf betont: Die Unternehmensberater arbeiten keine Asylanträge ab, sondern sie sollen vor allem das Verfahren verbessern. Dazu zählen Maßnahmen wie ein Online-Buchungssystem, der elektronische Datenaustausch mit den Gerichten und eine schnellere Dokumentenlogistik. Zu den Aufgaben gehöre auch die Organisation in der Fläche: Neben der Nürnberger Zentrale hat das Bundesamt seit Anfang März 17 neue Außenstellen, elf Ankunftszentren, vier Entscheidungszentren, zwei Warteräume, fünf Bearbeitungsstraßen und ein Qualifizierungszentrum. Ziel sei es, den Gesamtprozess „von der Einreise bis zur Asylantragsstellung in ein integriertes Flüchtlingsmanagement“ zu optimieren. Mit den Beratern hat das Bundesamt nach eigenen Angaben die Zahl der Entscheidungen deutlich steigern können. Zwischen Oktober 2015 bis Ende Februar 2016 seien es mehr als 211.000 Entscheidungen gewesen, im Vorjahreszeitraum dagegen nur 78.000. Auch sei die Bearbeitungsdauer von Asylanträgen aus sicheren und unsicheren Herkunftsländern von 152 Tagen auf 48 Stunden gesenkt worden. Das Pilotverfahren soll nun auch in den Außenstellen umgesetzt werden. Indes: Zwischen 2014 und 2015 hat sich die Zahl der Asylanträge auch mehr als verdoppelt, und im Zuge der Flüchtlingskrise hat die Große Koalition immer mehr Länder als „sicher“ eingestuft. Dass ein Antrag aus einem solchen Land schneller – nämlich: abschlägig – beurteilt wird, ist offensichtlich. Und noch immer stapeln sich die unerledigten Asylanträge beim Bundesamt. Ende Februar waren es rund 393.000. Zudem hat das Bundesamt sein Personal zuletzt deutlich aufgestockt, auf inzwischen 5900 Mitarbeiter. Es wurde so rasant eingestellt, dass von mehreren Hundert Mitarbeitern noch in der Probezeit wieder Dutzende kündigten. Der Personalrat hat wegen der Einstellungspraxis der Behörde beim Verwaltungsgericht Ansbach mehrere Klagen eingereicht. Dem Behördensprecher war noch etwas wichtig: darauf hinzuweisen, dass die Zusammenarbeit mit McKinsey „im Rahmen seiner Kooperation mit der Bundesagentur“ für Arbeit begonnen wurde. In anderen Worten: Dass das Bundesamt jetzt mit Beratungsfirmen kooperiert, geht auf das Konto des neuen Doppel-Behörden-Chefs Frank-Jürgen Weise. Denn seine Bundesagentur für Arbeit setzt schon viel länger auf externe Beratung. Am 1. Juli 2014 schloss es einen Vertrag mit der Boston Consulting Group (BCG). Anders als beim Bamf erfolgte die Vergabe nach einer Ausschreibung – „im Rahmen eines europaweiten Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb“, wie es aus der Behörde heißt. Inhalt der Beratung seien die Weiterentwicklung des durch die Agentur selbst erstellten Zukunftsprogramms „BA 2020“, die Verbesserung von Dienstleistungen und interner Prozesse. 2016 hat die Bundesagentur für den Posten „Honorare und Reisekosten an externe Sachverständige“ vorsorglich zehn Millionen Euro eingeplant. Aus diesem Titel werden auch die Unternehmensberater bezahlt. Die Bundesagentur hat nach eigenen Angaben allein in diesem Jahr für zwei Projekte insgesamt 27 Beratertage abgerufen. Wie hoch das Honorar lag und welchen finanziellen Umfang der Vertrag hat, gab die Behörde nicht bekannt. Auch die Boston Consulting Group ging auf die Cicero-Fragen nicht ein. | Petra Sorge | McKinsey, Roland Berger, Ernst & Young: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge setzt bei der Bewältigung der Asylanträge auf zahlreiche externe Berater. Behördenchef Frank-Jürgen Weise überträgt damit ein Prinzip, das er schon bei seiner Bundesagentur für Arbeit jahrelang anwendet. Die Bamf-Aufträge wurden nicht ausgeschrieben | []
| innenpolitik | 2016-03-24T15:21:53+0100 | 2016-03-24T15:21:53+0100 | https://www.cicero.de//innenpolitik/asylverwaltung-bundesamt-kauft-sich-unternehmensberater-ein/60685 |
Debatten um den Supreme Court - Die falschen Propheten | Das Bild, das die meisten US-Amerikaner in den vergangenen Jahrzehnten von den politischen Eliten in Washington, D.C. gewinnen konnten, ist ambivalent. Dies beginnt bei der Frage, ob ein Abgeordneter eher seinen Wählern oder eher Konzernen und Lobbyverbänden verpflichtet sei. Und es endet bei den regelmäßigen gegenseitigen Haushaltsblockaden der Demokraten und Republikaner, die dann einen Shutdown nach sich zogen: Der Staat wurde auf Notbetrieb gestellt und war für den Bürger in verschiedenen Bereichen praktisch ausgeschaltet. Der Eindruck des Versumpfens einer nur mit sich selbst und nicht mit Land und Bürgern befassten politischen Klasse lähmte das Vertrauen in die Demokratie. Dieser Vertrauensverlust hat damals maßgeblich zum Wahlerfolg von Donald Trump beigetragen: Ein Außenseiter, der niemandem in Washington, D.C. einen Gefallen schuldete. Das aber hat auch maßgeblich zu den Abwehrreflexen gegen Trump beigetragen: Wenn es diesem Außenseiter gelänge, erfolgreicher als die Berufspolitiker zu sein, stünde die Systemfrage im Raum. Zwar hat Trump beim Versuch der Wiederwahl drei Millionen Wähler hinzugewinnen können, aber jene Propheten, die auf seine Abwahl gesetzt hatten, lagen dennoch richtig. In dieser Gemengelage hatte der Oberste Gerichtshof, der Supreme Court of the United States (SCOTUS) eine selten zuvor erreichte Strahlkraft erreicht. Schon zuvor galt er als eine geradezu mythische Einrichtung, die weit über den Alltagskämpfen der Washingtoner Politik stand. SCOTUS ist den meisten Amerikanern Garant, dass die Welt nicht aus den Fugen gerät. Und das trotz der Art, wie er besetzt wird. Der Supreme Court ist das einzige Gericht, das in der US-Verfassung ausdrücklich genannt wird. Zunächst hatte er sechs Richter, die meiste Zeit seines Bestehens aber neun. Die jeweilige Anzahl legt der Kongress fest. Wichtige staatliche Positionen in den USA können nur besetzt werden, wenn eine Mehrheit der derzeit 100 Senatoren im Kongress einen Kandidaten bestätigt. Das gilt für Minister, Chefs von Bundesbehörden, aber auch für Generäle. Richter an Bundesgerichten und auch dem Obersten Gerichtshof gelangen ins Amt, indem der Präsident sie nominiert und der Senat sie anschließend bestätigt. Das Procedere: Der jeweilige Fachausschuss des Senats befragt den Kandidaten, um sich eine Meinung über dessen Ansichten und seine Amtsfähigkeit zu bilden. Im Ergebnis empfiehlt der Ausschuss dem Plenum Annahme oder Ablehnung. Sitzt der Kandidat erst einmal auf dem Richterstuhl, so sitzt er dort auf Lebenszeit. Seine Entscheidungen in politischen Angelegenheiten können auch gegen die politische Auffassung Senatoren gerichtet sein, die ihn empfohlen und bestätigt haben. Die Richter sollen aber im Namen des Volkes urteilen, nicht im Namen der Politik. So geraten die Anhörungen von Richterkandidaten immer öfter zu einer Show, die einer alten Demokratie unwürdig ist. Viele deutsche Politik-Propheten kommentierten die Besetzung jener drei Richterposten, die nach der Wahl Trumps ins Amt kamen, mit großem moralischen Eifer. Als etwa 2017 ein Nachfolger für Antonin Scalia gesucht wurde, von vielen als lebende Legende des Rechts angesehen, fiel Trumps Wahl auf Neil Gorsuch. Der damals 49jährige war bis ein erfolgreicher Jurist und bereits in jungen Jahren als Clerk am Supreme Court tätig gewesen. Als der Präsident am 31. Januar 2016 die Nominierung Gorsuchs bekanntgab, geschah, was in den Folgejahren noch allzu oft geschehen sollte: Ein Furor entstand, der nach Meinung mancher Beobachter mehr mit dem Nominierenden als dem Nominierten zu tun hatte. Der Nominierte wurde abermals von der American Bar Association als sehr qualifiziert für das Amt am Supreme Court bewertet. Doch während die Demokraten im Senat durch Filibuster die Abstimmung über Gorsuchs Ernennung herauszögerten geschah in der Öffentlichkeit, was sachliche Auseinandersetzung mit politischen Positionen immer häufiger ersetzt: Journalisten warfen ihm Plagiate in seiner Doktorarbeit vor. Bei der finalen Abstimmung im Senat stimmten zwar alle Republikaner für ihn, aber nur drei Demokraten. Elf Jahre zuvor hatte Gorsuch aufgrund seiner fachlichen Qualifikation noch die seltene Ausnahme einer einstimmigen Senatsbestätigung erreicht – und nun hielten ihn alle Demokraten bis auf drei plötzlich nicht mehr für qualifiziert. Möglicherweise war das ein Schritt auf dem Weg der tiefen Spaltung des Landes, die während der Präsidentschaft Trumps entstand. War das Abstimmungsergebnis gar ein Dammbruch, der Ersatz sachlicher Entscheidung zum Wohle der Nation zur Obstruktion der Handlungsfähigkeit des ungeliebten Präsidenten? Die Kommentare ließen das nicht als abwegig erscheinen. Es sollte verhindert werden, so war häufig zu hören, dass Trumps geistiges Erbe noch Jahre und Jahrzehnte die Rechtsprechung in den USA beeinflussen würde. Schließlich ist Gorsuch einer der jüngsten je ernannten Richter. Bemerkenswerterweise hatten alle Präsidenten der letzten Jahrzehnte oberste Richter nominiert, die ihren Werten nahestanden: Demokratische Präsidenten nominierten liberale Richter, republikanische Präsidenten konservative. Erst unter Trump entwickelte sich daraus vollends eine ideologiegetriebene Schlacht. Als 2018 ein Nachfolger für Supreme-Court-Richter Anthony Kennedy gesucht wurde, war es nicht anders. Trump nominierte Brett Cavanaugh. Wie Gorsuch war er zuvor Richter an einem Bundesberufungsgericht gewesen. Es waren daher nicht fachliche Zweifel, die im Zentrum jenes Sturms standen, der nach Kavanaughs Nominierung losbrach, vielmehr wurde die charakterliche Eignung Kavanaughs von den demokratischen Senatoren in Zweifel gezogen, nachdem er zu einigen Fragen Stellungnahmen abgelehnt hatte. Darunter waren seine Ansichten zur Abtreibung sowie zur Befugnis des Präsidenten, sich selbst zu begnadigen. Und schließlich erhob die ehemalige Mitschülerin und Psychologieprofessorin Christine Blasey Ford schwere Vorwürfe gegen den Kandidaten: Der damals minderjährige und betrunkene Cavanaugh habe sie Jahrzehnte zuvor am Rande einer Feier festgehalten und sich entblößt, so dass sie eine Vergewaltigung gefürchtet habe. Die eingeschaltete Bundespolizei FBI fand nach kurzer Ermittlung und nach Befragung von Zeugen keinen Anhaltspunkt für justiziables Verhalten. Das heißt nicht, dass sich diese Jahrzehnte alten angeblichen oder tatsächlichen Ereignisse – die erst nach der Nominierung Cavanaughs durch Trump vom mutmaßlichen Opfer öffentlich gemacht wurden - nicht abgespielt haben. Nur im Rahmen des Nominierungsverfahrens waren sie nicht aufzuklären. Sie werden aber wohl ewig mit Cavanaughs Namen verbunden bleiben. Am Ende wurde Cavanaugh vom Senat mit knapper Mehrheit bestätigt. Und abermals zeigte sich eine Spaltung im Senat, die nahelegte, dass allein fachliche Qualifikation nicht ausreicht, um gewählt zu werden. Die Demokraten stimmten – mit einer Ausnahme – geschlossen gegen den von Trump nominierten Kandidaten. Dies sollte bei der dritten Nominierung der Trump-Administration für den Supreme Court ähnlich sein. Ebenso wie die beiden zuvor ernannten Richter war Amy Coney Barrett nach dem Studium als Law Clerk bei hohen Richtern tätig gewesen. Sie war also entsprechend qualifiziert als Trump sie 2017 als Richterin am siebten Bundesberufungsgericht nominierte. In den folgenden Senatsanhörungen wurde unter anderem ein rund 20 Jahre alter Fachaufsatz Coney Barretts thematisiert, den sie gemeinsam mit einem fünfundzwanzig Jahre älteren Professor verfasst hatte. Die beiden katholischen Autoren hatten argumentiert, dass katholische Richter sich enthalten sollten, wenn es um die Todesstrafe gehe. Fehlende richterliche Härte beim Thema Todesstrafe ist aber vielen konservativen Amerikanern suspekt. Andererseits wurde ihr zum Vorwurf gemacht, dass sie bei Familienfragen - und damit auch in Sachen Abtreibung und Gleichgeschlechtlichkeit - zu konservativ sein könnte. Am Ende wurde Amy Coney Barrett mit 55:43 Stimmen bestätigt. Gab die Bar Association auch ihr die Höchstnote „sehr qualifiziert“, so geriet sie doch direkt in die Räder des politischen Betriebs – und wurde. das erste Mitglied des Supreme Courts seit 150 Jahren, das nicht eine einzige Oppositionsstimme erhalten hatte. Mit dem festen Glauben alttestamentarischer Propheten und dem Sendungsbewusstsein der Propheten neuzeitlicher Weltuntergangssekten stand für viele deutsche Experten außer Frage: Die drei von Trump nominierten Richter würden dessen konservative Politik, ja – schlimmer noch – dessen Amtsverständnis über Jahre im US-Recht zementieren. Die Horror-Szenarien gingen gar so weit, dass sie seine schon früh angekündigten gerichtlichen Schritte bei den Präsidentschaftswahlen ebenso blind durchwinken würden wie alle seine nachfolgenden privaten Wünsche – angefangen von seinen Steuerakten bis hin zu Straffreiheit für möglicherweise vor seiner Präsidentschaft begangenen Taten. Doch mit Prophezeiungen ist es so eine Sache: Sie sind ein probates Mittel, sakrosankten Status zu erlangen, wenn das prophezeite Ergebnis eintrifft. Aber sie sind der schnellste Weg zur Narrenecke, wenn man die eigene Hysterie zum Maßstab der Vorhersage des Handelns Anderer gemacht hat und damit falsch lag. Im vorliegenden Fall haben sich beinahe alle Propheten geirrt. Und zwar blamabel. Als Donald Trump eine Einstweilige Verfügung gegen die Ernennung Joe Bidens zum Wahlsieger beantragte, lehnte der Supreme Court dies mit nur einem Satz ab. Rund einen Monat nach seiner Amtszeit lehnte der Supreme Court in einer seiner seltenen einstimmigen Entscheidungen Trumps Antrag ab, dass seine Steuerunterlagen nicht herausgegeben werden dürfen. Doch auch über Trumps persönliche Anliegen hinaus lösen sich viele hysterisch vorgetragene Befürchtungen in Nichts auf. So etwa, dass die konservative 6:3 Mehrheit des Supreme Court Trumps konservative Politik, sein „America First“-Programm oder generell konservative „US-Weltpolizei-Positionen“ weiterverfolgte. Zum Beispiel hat das Gericht 2020 im bahnbrechenden Fall Bostock vs. Clayton County die LGTBQ-Rechte in einem Umfang gestärkt, der von den meisten Amerikanern kaum für möglich gehalten wurde. Bemerkenswerterweise stimmten zwei der drei von Trump nominierten Richter zu Gunsten des Klägers. Der dritte – Gorsuch – stimmte nicht dagegen, sondern kam aus rechtsförmlichen Erwägungen zum Schluss, dass die Entscheidung vom Senat und nicht dem Supreme Court getroffen werden müsse. In demselben Jahr wurden in Sachen McGirt vs. Oklahoma die Rechte von US-Ureinwohnern gestärkt – ein wichtiges Thema für viele Demokraten. Und schließlich lehnte der Supreme Court vor wenigen Wochen im Welfenschatz-Streit die grundsätzliche Zuständigkeit von US-Gerichten bei NS-Raubkunstfällen in Deutschland ab – auch dort wieder einstimmig. Das krachende Scheitern der Propheten sollte Anlass zu Besinnung und Selbstkritik sein, vor allem aber ein Signal zur Umkehr. Die obersten Gerichte müssen in Demokratien ein Ort des Rechts bleiben und nicht der Politisierung und Popularisierung. Jene, die sich bei der Beurteilung der Situation die Positionen der Demokraten im US-Kongress zu eigen gemacht haben, sollten eines bedenken: Wer den Republikanern vorwirft, mit ihrer Mehrheit die Ernennung des letzten von Obama nominierten Richters verhindert, nun aber die letzte Ernennung Trumps ermöglicht zu haben, zeigt ein bedenkliches Demokratieverständnis. Wer dann aber freudig in die Hände klatscht, wenn die Demokraten ankündigen, mittels ihrer gegenwärtigen Mehrheit die Anzahl der Richterstellen zu erhöhen, um das Verhältnis im Supreme Court zu Gunsten der von Demokraten bestätigten Kandidaten zu erhöhen, der sollte seinen demokratischen Kompass überprüfen – vor allem aber sein Verständnis von Recht und Gewaltenteilung. | Julien Reitzenstein | Bei der Besetzung des Supreme Courts durch den letzten US-Präsidenten Donald Trump hat es immer wieder Ängste und Vorbehalte gegeben. Vieles war unnötige Kaffeesatzleserei und falsches Prophetentum. Das belegt auch ein Blick auf die letzten Urteile des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten. | [
"Justiz",
"USA",
"Supreme Court"
]
| außenpolitik | 2021-04-01T14:29:07+0200 | 2021-04-01T14:29:07+0200 | https://www.cicero.de/aussenpolitik/supreme-court-usa-unabhaengigkeit-kritik-recht |
Abstimmung im Bundestag - Merz im zweiten Anlauf zum Kanzler gewählt | CDU-Chef Friedrich Merz ist im zweiten Anlauf im Bundestag zum zehnten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Er erhielt in geheimer Abstimmung 325 Ja-Stimmen und damit neun mehr als die nötige Mehrheit von 316. Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD haben zusammen 328 Sitze im Parlament. Merz nahm die Wahl an. „Ich bedanke mich für das Vertrauen, und ich nehme die Wahl an“, sagte er auf eine entsprechende Frage von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner Im ersten Wahlgang hatten Merz überraschend sechs Stimmen gefehlt. Das war in der Geschichte der Bundesrepublik in der Form ein Novum: Noch nie war nach einer Bundestagswahl und erfolgreichen Koalitionsverhandlungen ein designierter Kanzler bei der Wahl im Bundestag durchgefallen. Jetzt steht dem Regierungswechsel auf den Tag genau ein halbes Jahr nach dem Bruch der Ampel-Koalition aber nichts mehr im Wege. Merz muss aber im Schloss Bellevue von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier noch die Ernennungsurkunde erhalten und ist erst dann auch rechtlich gesehen Bundeskanzler. Anschließend fährt er zurück in den Bundestag und spricht dort den Amtseid. Auch die Vereidigung der 17 Bundesministerinnen und Bundesminister soll noch heute stattfinden. Dem Kabinett gehören zehn Männer und acht Frauen an. CDU und SPD stellen jeweils sieben Minister und Ministerinnen, die CSU drei. Vizekanzler und damit zweitmächtigster Mann im Kabinett nach Merz ist der künftige Finanzminister Lars Klingbeil (SPD). Der Erfolg der Regierung wird maßgeblich davon abhängen, wie die beiden sich verstehen. In den Koalitionsverhandlungen hat das ganz gut geklappt. Die Erwartungen sind groß. Im Inland hoffen die Menschen vor allem auf die Ankurbelung der seit langem schwächelnden deutschen Wirtschaft. Im Ausland warten die europäischen Verbündeten seit dem radikalen Kurswechsel in der US-Außenpolitik unter Präsident Donald Trump darauf, dass Deutschland als wirtschaftsstärkstes und bevölkerungsreichstes EU-Land wieder voll handlungsfähig wird – gerade mit Blick auf die Bedrohung aus Russland und die Konkurrenz aus China. Besonders große Aufmerksamkeit wird in den ersten Tagen bekommen, was der designierte Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) zur Eindämmung der irregulären Migration angekündigt hat. „Die ersten Entscheidungen werden nach Amtsantritt an diesem Mittwoch getroffen. Dazu werden die Grenzkontrollen hochgefahren und die Zurückweisungen gesteigert“, hatte der CSU-Politiker der „Bild am Sonntag“ gesagt. Ebenfalls am Mittwoch will Merz seine ersten Antrittsbesuche in den Nachbarländern Frankreich und Polen absolvieren. Warschau ist alles andere als begeistert von den deutschen Plänen zur Kontrolle der Grenzen. Das dürfte Thema beim Treffen von Merz mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk sein. Mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron wird Merz vor allem darüber sprechen, wie die europäische Souveränität gestärkt werden kann. dpa | Cicero-Redaktion | Es war ein krachender Fehlstart für CDU-Chef Friedrich Merz. Bei der Kanzlerwahl fällt er im ersten Versuch durch. Zu Fall bringen lässt er sich dadurch aber nicht. | [
"Friedrich Merz",
"Bundeskanzler"
]
| innenpolitik | 2025-05-06T16:25:52+0200 | 2025-05-06T16:25:52+0200 | https://www.cicero.de//innenpolitik/abstimmung-im-bundestag-merz-im-zweiten-anlauf-zum-kanzler-gewahlt |
Raus aus Deutschland und Europa – Servus, Bayern! | Mir san mir! Das Motto selbstsicherer Bayern hat Konjunktur. Gerade in der Eurokrise. Natürlich, die Stimmen derer, die da weniger Europa fordern, den Euro beklagen, kommen nicht nur aus Bayern. Aber dort fallen sie auf besonders fruchtbaren Boden. Auf selbstbewusste Bürger, für die Subsidiarität mehr ist als eine Rangfolge der Verantwortlichkeiten, und sich Tradition nicht allein in Sonntagsreden erschöpft. Während die bekannten und bekennenden Eurokritiker Griechenland offen mit dem Rausschmiss drohen, gehen nun einige Urbayern voran und sagen sich selbstbewusst: Wenn die Griechen nicht gehen, gehen halt wir. Die Bayernpartei fordert sie schon lange. Die Unabhängigkeit Bayerns. Und nun führt der Straußfreund und Urkonservator Wilfried Scharnagl den Lebewohlprotest an. In seinem Buch „Bayern kann es auch allein“ zementiert er den Glauben, dass das Schicksal der Bayern nur besser werden könne, wenn der Freistaat nicht länger den Zwängen und Ausbeutungen einer doppelten Transferunion, einer deutschen und einer europäischen, ausgeliefert sei. „Wenn man das allgemein für undenkbar Gehaltene ausspricht, wird das Undenkbare denkbar“, erklärte Scharnagl in einem Interview. Er will das Undenkbare denkbar machen. Folgen wir ihm – dankbar – und machen es denkbar: 1. Januar 2013. Bayern erklärt seine Unabhängigkeit. Die Erklärung endet mit den Worten Dobrindts, man wolle ein Exempel statuieren. Die bayerische Landesverfassung von 1946 wird zur Grundlage der Separation. (Da das Grundgesetz eh nie wirklich anerkannt wurde – in Bayern stimmte man seinerzeit dagegen, da man darin einen Angriff auf die Eigenständigkeit sah – ändert sich zunächst nicht viel.) Seehofer als amtierender Ministerpräsident führt sein Volk souverän in die neue Ära. Die Landesfarben sind weiß und blau. Bayern wird laut Verfassung zu einem Volksstaat. Seehofer wird nach einem Volksentscheid über eine Verfassungsänderung zum direkt gewählten Staatspräsidenten. Dobrindt übernimmt das Amt des Ministerpräsidenten und Söder wechselt ins neuerschaffene Verteidigungsministerium. Eine bayerische Wehrpflicht wird eingeführt, Uniformen natürlich in blau-weiß gehalten. Die traditionellen Garnisonsstädte Fürstenfeldbruck, Oberhaus, Lechfeld und Plassenburg werden reaktiviert. Die Franken nutzen die Volksabstimmung, um für den Verbleib in der Bundesrepublik zu stimmen. Bayern verliert ein Drittel seines gerade gewonnen Staatsgebietes. Die Stimmung gegen Franken kippt endgültig. Die Folge: Wer das „R“ übermäßig rollt, wird zur Ausbürgerung angehalten. Durch die Separation sind alle Verträge mit der EU aufgehoben. Der bayerische Gulden wird wieder eingeführt. Neben König Ludwig gibt es Sonderprägungen mit Strauß, Beckenbauer und Seehofer. Bayern wird zur Insel der Glückseligen für alle Eurokritiker und Merkelmüden. Hans-Olaf Henkel und Gertrud Höhler stellen einen Einbürgerungsantrag (Henkel darf einreisen, Höhler muss warten, da zur Einreise die Unterschrift eines männlichen Erziehungsberechtigten laut Einreiseparagraph obligatorisch ist). Zu Guttenberg wird als Heimkehrer gefeiert und zum Außenminister ernannt. Die Grenzposten tragen Lederhosen, die weiß-blauen Maibäume werden zu Schlagbäumen umfunktioniert. Seite 2: Warum Seehofer zum König wird Eine zweite parlamentarische Kammer wird wieder eingeführt, in der Vertreter aus den Bezirken Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz und Schwaben föderalistisch agieren und so dem Zentralstaat Bayern das Leben erschweren. Die CSU schluckt die Bayernpartei und wird zur Staatspartei mit „gesonderten Rechten“. Die FDP wird in FBR (Freie Bayerische Partei), die SPD in SPB unbenannt. Zusammen mit den Grünen (die jetzt die Blauen heißen), der Linken (die sich auf zugereiste Ostdeutsche spezialisiert) und den Piraten (umbenannt in Lederhosen-Taliban) gehören sie den Bayerischen Blockparteien – kurz „BB“ – an. Artikel 8 der Verfassung, der die Gleichstellung aller Deutschen in Bayern garantierte, wird aufgehoben. Deutsche werden hinter gebürtigen Bayern zu Staatsbürgern zweiter Klasse, in Tabakläden wird ihnen fortan nur noch der grobkörnige Schnupftabak verkauft. Es kommt zu einer Ausreisewelle. Auch sportlich geht man eigene Wege. Bayern trifft in der WM-Qualifikation 2014 auf die Bundesrepublik Deutschland und gewinnt gegen Jogis Multikultitruppe durch ein frühes Tor durch Thomas Müller. Das Spiel wird später annulliert, da man dem Torschützen nachweisen konnte, dass sein Urururgroßvater preußischen Ursprungs war. Beim olympischen Komitee geht zum Jahresende ein Antrag ein, in dem Bayern fordert, dass Fingerhakeln olympisch wird. Kopftücher verschwinden aus dem öffentlichen Leben, Trachten werden an öffentlichen Institutionen Pflicht. Die Bayernhymne (Gott mit dir, du Land der Bayern, deutsche Erde, Vaterland!) wird als oberste Hymne von Peter Steiner uraufgeführt . Da Brasilien die Internet-Domain „br“ besetzt hält, „ba“ von Bosnien-Herzegowina okkupiert ist und „by“ von Weißrussland genutzt wird, einigt man sich auf die Endung „ww“ in Anlehnung an gelebte Tradition – die Weiß-Wurscht. Unterdessen wird das Berliner Hofbräuhaus zur Interimsbotschaft umfunktioniert. Das dreigliedriges Schulsystem bekommt Verfassungsrang. Frauen irgendwie auch. Die Gelder aus dem nun wegfallenden Solidaritätszuschlag und Länderfinanzausgleich werden in ein neues Heimatschutzministerium investiert. Bilaterale Verträge mit Tirol und dem Inselstaat Palau werden geschlossen. Durch den Wegfall der EU-Agrar-Subventionen und anderer europäischer Förderprogramme stürzt die bayerische Landwirtschaft in die Krise. Die Bauern begehren auf. Es kommt zum Flächenbrand. Rufe nach einem starken Mann werden laut. Per Volksabstimmung führt der „ewige Horst“, wie sie ihn mittlerweile nennen, die konstitutionelle Monarchie ein. Da kein Wittelsbacher Monarch zur Hand ist (leider starb die Königliche Linie des Prinzen Leopold bereits 1997 aus), wird Seehofer kurzerhand selbst zum König und lässt sich vom Papst später zum Kaiser krönen. Seehofer und sein Kronprinz Dobrindt ziehen von München ins Schloss Neuschwanstein um. Der bayerische Wald wird für Touristen gesperrt und zu Seehofers Jagdrevier erklärt. Währenddessen hat der Euro sich regeneriert. Europa hat die Rezession überstanden. Und in Bayern wird an einigen Stammtischen über die gute alte Zeit sinniert, da man als Teil Deutschlands und Europas großes Ansehen genoss. | CSU-Größen wie Söder oder Dobrindt würden die Griechen am liebsten aus dem Euroraum schmeißen. Einige Bayern drehen den Spieß nun um und fordern den Austritt Bayerns aus Deutschland und Europa. Wie das aussähe? Wir haben recherchiert. Achtung, Glosse | []
| innenpolitik | 2012-08-28T13:00:49+0200 | 2012-08-28T13:00:49+0200 | https://www.cicero.de//innenpolitik/servus-bayern/51655 |
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Trump versus Biden - Die US-Demokratie auf der Intensivstation | Denk ich an Amerika in der Nacht, werd ich um den Schlaf gebracht – und dies in gleich zweierlei Dimension. Zum einen, weil man für das Duell Biden/Trump wie zu den einst legendären Boxkämpfen Muhammad Alis zu nachtschlafender Zeit den Wecker stellen musste. Zum anderen, weil dieses Duell im Ringen um die mächtigste Position auf unserem Erdball zwischen einem Menschen mit bizarrem Verhältnis zur Wahrheit und einem Altersschwachen abläuft und damit geradezu pathologische Züge trägt. Dies führt uns im Kern vor Augen, wie sehr die älteste Demokratie der Welt sich auf der Intensivstation befindet. Ein Zustand, der uns alle mit großer Sorge erfüllen sollte. Man kann es nicht anders formulieren: Dieses Duell war eine Schande für die amerikanische Demokratie und damit die restverbliebene hegemoniale Macht des 21. Jahrhunderts. Vom Sachwalter demokratischen Anstands und diskursfreundlicher Debattenprinzipien war, auch vonseiten der verantwortlichen Senders CNN, weit und breit nichts zu sehen. Da attackiert ein ehemaliger und wahrscheinlich künftiger Präsident in einem aggressiven, mithin beleidigenden und ehrverletzenden Ton seinen Gegner mit Gewehrsalven offensichtlicher Falschbehauptungen, ohne dass er je von einem der moderierenden Journalisten unterbrochen wurde bzw. zu den Thesen Nachfragen gestellt wurden. Selbst im mittlerweile tendenzjournalistischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk hierzulande wäre mit Faktenchecks, Ein- und Nachhaken entsprechende journalistische Verantwortung wahrgenommen worden. In Atlanta/Georgia: Fehlanzeige. So verbreitet Trump unwidersprochen und ohne dabei rot zu werden die Mär, dass die Demokraten auch noch bei der Geburt von neun Monate alten Babys für Abtreibungen stehen und Kinder ohne Versorgung nach der Entbindung sterben lassen wollen. Oder Trump behauptet, sich selbst in Rage redend, dass illegale Einwanderer in die USA der hispanischen und schwarzen Arbeitnehmerschaft 20 Millionen Arbeitsplätze weggenommen hätten und dass Biden zusätzlich dem Leben der Schwarzen durch seine „durch ihn induzierte Inflation massiven Schaden“ zufügt. Selbstverständlich sind weder die Zahl noch die Korrelation eines Crowding Outs spezifischer Gruppen am Arbeitsmarkt numerisch belegbar oder haben irgendetwas mit makroökonomischen Realitäten zu tun. Auch die Inflation haben, wenn überhaupt, alle Präsidenten, einschließlich Donald Trump, zu verantworten. Denn die überbordende Verschuldung infolge der Attitüde Amerikas, seine heutigen Partys zu Lasten künftiger Generationen zu feiern, hat in den USA – und es sei erlaubt hinzuzufügen: auch andernorts – keine politische Farbe. „He’s the worst president of our country, he destroyed our country“, giftet Trump in Richtung Biden. Und weiter: „Veterans are living in the streets and these people (gemeint sind Biden und seine Administration) are living in luxury hotels.“ Dies sagt ausgerechnet der Initiator von Luxushotels und Clubs für die Schönen und Reichen. An Heuchelei und Zynismus ist dies kaum zu überbieten. Insbesondere Trump bewegt sich in weiten Teilen unterhalb der für deutsche Verhältnisse auch nur annähernd akzeptablen Gürtellinie. Der Höhepunkt ist sein völlig irrer Vorwurf an Biden: „He is a Manchurian candidate, he gets money from China.“ Respekt als Fundament jeden demokratischen Diskurses konnte man bei diesem Duell wahrlich nicht erkennen. Stattdessen faktenfreie politische Narrative, die von den Moderatoren nicht ein einziges mal korrigiert bzw. durch Nachhaken aufgeklärt wurden. Bei einer solchen Debattenkultur stehen die Verlierer fest: die USA, die Demokratie und nicht zuletzt CNN. Der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten hingegen erzeugt mit seiner gebrochenen, heiseren und bisweilen kaum verständlichen Stimme sowie regelmäßigen hör- und sichtbaren zerebralen Ausfällen bzw. häufigem sprachlichen Verheddern den Eindruck, dass er nicht mehr Herr der Lage und zur Führung der wichtigsten Nation der freien Welt befähigt ist. Er wirkt müde, sein Gesicht zur Maske verzerrt. Seine Versuche, mit Fakten den Tiraden Trumps entgegenzutreten, wirken durch seine physische Schwäche stumpf und kraftlos. Biden empfindet offensichtlich und verständlicherweise Unbehagen bei dieser Debatte. Er kann einem fast leid tun, wäre da nicht die berechtigte Forderung an ihn und die Verantwortung für sein Amt, seine persönliche Lage selbstkritisch einzuschätzen und die notwendigen Schlüsse daraus zu ziehen. Beurteilt man das Duell rein vom „energy level“ der beiden Gegner, dann kann man durchaus von einem technischen K.O.-Sieg Trumps sprechen. Trump wiederum antwortet auf keine ihn persönlich in Schwierigkeiten bringende Frage, sondern iteriert sein Tremolo gegen den „schwächsten Präsidenten aller Zeiten“. Er bestreitet offensichtliche Tatsachen, so etwa die, dass er drei Stunden während des Sturms auf das Kapitol in seinem Büro passiv zugesehen hat, statt sich, trotz heftigen Drängens seines Vize-Präsidenten, energisch schützend vor die Demokratie zu stellen. Dennoch: Trump ist wesentlich energetischer und kraftvoller in seinem Auftritt. Biden verliert sich schlapp und müde, bisweilen sogar verwirrt wirkend, in seinen eigenen Sätzen. Der peinlichste Moment entstand, als die beiden wechselseitig über ihre Golfschwünge und Handicaps stritten und Biden zunächst ein Handicap 6 und dann korrigierend eines von 8 für sich reklamierte. Man kann dies selbst wohlmeinend nicht mehr mit einer geradezu infantilen Neigung der Amerikaner zur Überbewertung sportlicher Ambition erklären, sondern nur damit, dass wir es in dieser Nacht mit zwei Kandidaten zu tun hatten, die schlicht, jeder für sich, ein anderes Handicap haben und zwar eines, das die gesamte Welt in Bedrängnis bringen kann und mit gerütteter Wahrscheinlichkeit auch wird. Der Verlierer ist weder Trump noch Biden, sondern die führende Nation der freien Welt, die USA. Wer sich das Niveau dieses Duells vor Augen führt, der muss wahrlich um die Glaubwürdigkeit und damit auch den Fortbestand der ältesten Demokratie auf diesem Erdball bangen und damit in der Konsequenz auch um die Wehrhaftigkeit der Demokratie als Staatsform insgesamt auf unserem von Systemkonkurrenz gezeichneten Globus. Wer nach diesem Duell noch immer an die Führungsstärke Amerikas in und für diese noch freie Welt glauben mag, dem kann man nur noch grenzenlosen Optimismus attestieren. In diesem Format und dieser Form ist Donald Trump nicht zu schlagen, Amerika schon. Die USA drohen mit dieser Wahl vom Sicherheitsgaranten zum Sicherheitsrisiko zu mutieren. Fazit: Europa muss sich mehr denn je auf sich selbst und seine eigenen Kräfte besinnen. Deutschland muss souverän werden. | Dirk Notheis | Respekt als Fundament jeden demokratischen Diskurses ließ sich beim TV-Duell zwischen Biden und Trump nicht erkennen. Stattdessen faktenfreie politische Narrative und Moderatoren, die nicht einschritten. Die Verlierer stehen fest: die USA, die Demokratie und CNN. | [
"Donald Trump",
"Joe Biden",
"US-Wahlen"
]
| außenpolitik | 2024-06-28T08:04:06+0200 | 2024-06-28T08:04:06+0200 | https://www.cicero.de//aussenpolitik/trump-versus-biden-die-us-demokratie-auf-der-intensivstation |
Schuldenbremse - Bundesrechnungshof rügt Nachtragshaushalt 2023 | Der Bundesrechnungshof, die oberste Finanzaufsicht, rügt die Bundesregierung für den Nachtragshaushalt 2023, den die Bundesregierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorlegte. Er soll am 14 Dezember im Bundestag genehmigt werden. Dieser Etat ist laut einer Stellungnahme des Rechnungshofes auch wieder verfassungswidrig. Darüber berichtet die Bild-Zeitung. Die Prüfer kritisieren, dass die Ampel sogenannte Sondervermögen weiterhin „nicht bei der Berechnung der in der Schuldenregel einzubeziehenden Kreditaufnahme“ berücksichtige. „Dies wäre aus Sicht des Bundesrechnungshofes jedoch geboten.“ Weiter heißt es in dem Dokument: „Die Berechnung der Bundesregierung hinsichtlich der für die Schuldenregel maßgeblichen Kreditaufnahme ist nach Auffassung des Bundesrechnungshofs deshalb unvollständig.“ Die Bundesregierung habe damit Schulden in Höhe von 14,3 Milliarden Euro an der Verfassung vorbei getrickst. Die Stellungnahme ist nicht verbindlich. Der Bundesrechnungshof hatte schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kritisiert, dass die Konstruktion von Sondervermögen, die zeitlich und thematisch umgebucht werden, nicht verfassungsgemäß sei. | Cicero-Redaktion | Der Bundesrechnungshof sieht auch den Nachtragshaushalt fürs laufende Jahr als eine Verletzung der Schuldenbremse, also einen erneuten Verfassungsbruch. | []
| innenpolitik | 2023-12-04T16:38:24+0100 | 2023-12-04T16:38:24+0100 | https://www.cicero.de//innenpolitik/schuldenbremse-bundesrechnungshof-rugt-nachtragshaushalt-2023 |
Schumpeter verkehrt in Deutschland - Die unschöpferische Zerstörung | Der Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ war für Joseph Schumpeter die treibende Kraft für das Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft. „Der Prozess der schöpferischen Zerstörung ist die wesentliche Tatsache des Kapitalismus. Er ist das, worin der Kapitalismus besteht und womit jedes kapitalistische Unternehmen leben muss ... Dieser Prozess der industriellen Mutation – wenn ich diesen biologischen Begriff verwenden darf – revolutioniert unaufhörlich die wirtschaftliche Struktur von innen heraus, zerstört unaufhörlich die alte und schafft unaufhörlich eine neue“, schrieb er in seinem 1942 erschienenen Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“. Ähnlich sah dies Mancur Olson. In seinem 1982 erschienenen Buch „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ argumentierte er, dass stabile Gesellschaften im Laufe der Zeit immer mehr Interessengruppen (wie Gewerkschaften oder Berufsverbände) hervorbringen würden, die darauf abzielen, ihre eigenen Vorteile zu schützen, oft durch Lobbyarbeit für Vorschriften und Schutzmaßnahmen für ihre Mitglieder. Dabei werden diese Gruppen umso mächtiger, je länger die politischen Verhältnisse stabil sind. Indem sie Reformen blockieren, Starrheit fördern, Innovation ausbremsen und Wettbewerb schwächen, schaffen sie wirtschaftliche Ineffizienz. Die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft sinkt und das Wirtschaftswachstum erlischt. Mit seiner Theorie versuchte Olson zu erklären, warum einige Nationen oder Imperien nach langen Perioden der Stabilität einen Niedergang erlebten, während andere, die durch Umwälzungen gingen, danach dynamisch wuchsen. Positive Beispiele dafür sind Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg. Durch den Krieg wurden viele der mächtigen, fest verwurzelten Interessengruppen in beiden Ländern vernichtet. Da diese Gruppen ausgeschaltet oder zumindest stark geschwächt waren, konnten Deutschland und Japan ihre Volkswirtschaften mit größerer Flexibilität, weniger Widerstand gegen Reformen und offeneren Märkten wiederaufbauen. Olson zufolge trug dies zu dem raschen Wirtschaftswachstum bei, das beide Länder in der Nachkriegszeit erlebten. Ein Beispiel dafür, was geschieht, wenn schöpferische Zerstörung verhindert wird, gibt Japan nach dem Platzen der „Blasenökonomie“ Anfang der neunziger Jahre. Mit enormen Stützungsmaßnahmen konnte die Regierung nach dem Crash des Aktien- und Immobilienmarkts eine Rezession vermeiden. Aber weil eigentlich bankrotte Firmen und Banken gerettet und alte Strukturen konserviert wurden, fiel die Wirtschaft in eine lange Zeit der Stagnation. Bis heute leidet die japanische Wirtschaft an der Verschleppung der schöpferischen Zerstörung. Das jüngste Anschauungsmaterial über die Wirkungen der schöpferischen Zerstörung liefert ein Vergleich der Wirtschaftsentwicklungen in den USA und Deutschland in der Zeit der Coronapandemie. In beiden Ländern gab es während dieser Zeit flächendeckende „Lockdowns“, und die Wirtschaft brach ein. Beide Staaten ergriffen umfangreiche fiskalpolitische Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft, die zu einem erheblichen Teil durch Geldschaffung der Notenbanken finanziert wurden. Auf beiden Seiten des Atlantiks stieg die Inflation, und die Wirtschaft erholte sich nach dem Ende der Lockdowns. Doch die Erholung fiel in Deutschland viel schwächer aus als in den USA. Gängige Erklärungen dafür sind, dass Deutschland viel stärker von der mit dem Ukrainekrieg verbundenen Verteuerung der Energie betroffen und die deutsche Fiskalpolitik möglicherweise weniger expansiv war als die der USA. Zum Teil treffen diese Erklärungen sicherlich zu. Aber ein weiterer, wesentlicher Umstand dürfte gewesen sein, dass in den USA während der Pandemie der Prozess der schöpferischen Zerstörung weit stärker wirken konnte als in Deutschland. In den USA lag der Schwerpunkt der Unterstützung auf direkten Finanzhilfen und Arbeitslosenhilfe, während Deutschland auf Kurzarbeit und Arbeitsplatzsicherung setzte. Folglich fiel in den USA die Beschäftigung mit Jahresraten von bis zu elf Prozent, während der Rückgang in Deutschland nicht mehr als 1,3 Prozent betrug. Nach dem Ende der Lockdowns stieg die Beschäftigung in den USA um bis zu neun Prozent, in Deutschland dagegen nur um bis zu 1,6 Prozent. Viele der in den USA entlassenen Arbeitnehmer kehrten später nicht in ihre alten Jobs zurück, sondern wechselten in andere Bereiche, wo sie produktiver eingesetzt wurden. So stieg zum Beispiel nach der Pandemie die Beschäftigung im Bereich der freiberuflichen und Unternehmensdienstleistungen stärker als vorher, während sie im Bereich der Hotel- und Gaststätten weniger stark zunahm. Nach anfänglichen Schwankungen pendelte sich folglich das jährliche Wachstum der Arbeitsproduktivität pro Stunde in den USA mit knapp drei Prozent auf deutlich höhere Werte ein als vor der Pandemie. In Deutschland, wo ein ähnlicher Strukturwandel nicht zu beobachten ist, schrumpft die stündliche Arbeitsproduktivität mit einer Jahresrate von zuletzt minus 0,3 Prozent. Die Deutschen sind eine alte und wohlstandsverwöhnte Gesellschaft. Man schätzt Sicherheit und Beständigkeit. „Schöpferische Zerstörung“ ist unbeliebt. Das zeigt die strukturerhaltende Wirtschaftspolitik in der Zeit der Pandemie oder jüngst die Aufregung über einen geplanten Abbau der Arbeitsplätze bei der Volkswagen AG vor dem Hintergrund eines allseits beklagten Mangels an Arbeitskräften. Die „Meyer-Werft“ soll vom Staat gerettet werden, um Arbeitsplätze in einem Unternehmen zu sichern, dessen Produkte – Kreuzfahrtschiffe – immer weniger nachgefragt werden. Der von Olson identifizierte Mechanismus zur Erstarrung im Status quo scheint in Deutschland gut zu wirken. Als ob das nicht genug wäre, kommt die Verschränkung von Regulierungen und Recht auf nationaler und europäischer Ebene dazu. Auch wenn der Leidensdruck auf nationaler Ebene so groß wird, dass er den Widerstand von Interessengruppen gegen notwendige Veränderungen brechen könnte, stehen dem oft europäisches Recht und Vorschriften entgegen. Die Debatte um die Möglichkeit, nationale Maßnahmen gegen die unkontrollierte Einwanderung in den deutschen Sozialstaat zu ergreifen, ist ein Beispiel dafür. Auch wenn dies zur Rettung des deutschen Sozialstaats von einer großen Mehrheit der deutschen Wähler als dringend notwendig empfunden und es Mehrheiten im Bundestag für Rechtsänderungen zur Lösung dieses Problems geben würde, stehen Teile des europäischen Rechtsrahmens dem entgegen. So werden Zurückweisungen illegitimer Zuwanderer an den Grenzen als unvereinbar mit dem europäischen Recht betrachtet, während gleichzeitig die im europäischen Recht vorgesehene Rückführung eingereister illegitimer Zuwanderer nach dem „Dublin-Verfahren“ kaum funktioniert. Auch wenn es offensichtlich dysfunktional ist, so ist europäisches Recht noch schwerer zu ändern als nationales Recht, denn es reflektiert nicht nur die Lobbyarbeit verschiedener privater Interessengruppen, sondern auch die verschiedenen Interessen und Lobbyarbeit einer erheblichen Zahl von Staaten. Eine europäische Öffentlichkeit, die für das Gemeinwohl gegen die am Status quo interessierten privaten und staatlichen Lobbygruppen eintreten und Änderungen erzwingen könnte, gibt es nicht. Die rechtliche und institutionelle Verflechtung der Europäischen Union auf den nationalen und europäischen Ebenen hat Olsons Mechanismus zur Verkrustung nahezu perfektioniert. Die Blockade schöpferischer Zerstörung allein wäre schlimm genug. Hinzu kommt jedoch auch eine Zerstörung ohne Schöpfung durch eine ideologiegetriebene staatliche Wirtschaftsplanung. Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel ist die fehlgeschlagene „Energiewende“, die den elektrischen Strom für die deutsche Industrie extrem verteuert hat und für die Zukunft eine unsichere Versorgung erwarten lässt. Das Ergebnis ist die Abwanderung ganzer Industriebranchen und die „Deindustrialisierung“ Deutschlands. Ein aktuelles Beispiel für Zerstörung ohne Schöpfung ist die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) der Europäischen Union. Diese Direktive soll die Transparenz und Vergleichbarkeit von Nachhaltigkeitsberichten von Unternehmen verbessern. Dafür müssen Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern, einem Jahresumsatz von mehr als 40 Millionen Euro oder einer Bilanzsumme von über 20 Millionen Euro detailliertere Informationen zu einer Vielzahl von Nachhaltigkeitskriterien berichten. Dazu gehören Umweltaspekte wie CO₂-Emissionen oder Energieverbrauch, soziale und arbeitsrechtliche Themen wie Arbeitnehmerrechte oder Diversität und „Governance“-Fragen wie Unternehmensführung oder interne Kontrollmechanismen. Die Unternehmen müssen sowohl darüber berichten, wie Nachhaltigkeitsthemen ihr Geschäft beeinflussen, als auch darüber, wie ihre Geschäftstätigkeit die Umwelt und die Gesellschaft beeinflussen. Die Nachhaltigkeitsberichte müssen von einem externen Prüfer oder einer Prüfgesellschaft verifiziert werden. Große Unternehmen müssen schon ab dem Geschäftsjahr 2024 berichten, kleiner Unternehmen sind ab 2026 zur Berichterstattung verpflichtet. Ob die Direktive zu mehr „Nachhaltigkeit“ führt, ist mehr als zweifelhaft, dass sie Bürokratiekosten verursacht und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen schwächt, ist dagegen sicher. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ hieß der zerstörerische Spruch der Achtundsechziger. Heute scheinen ihn die Wähler der zerstörerischen Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums zu ihrem Motto gemacht zu haben. Zerstörung muss aber mit Schöpfung verbunden sein, um fruchtbar zu werden. Es liegt an den liberal-konservativen Parteien, dies zu leisten. Der erste Schritt dazu wäre, dass die FDP nicht länger zögert und durch ihren Austritt die Ampelregierung zerstört. Der zweite Schritt wäre, dass die Unionsparteien eine neue, schlagkräftige Regierung anführen, die alte Verkrustungen aufbricht, damit Neues entstehen kann. Und wo dysfunktionales EU-Recht dies verhindert, muss es nötigenfalls ebenfalls zerstört werden, um neu aufgebaut werden zu können. | Thomas Mayer | Zerstörung ist gut in einer Marktwirtschaft. Aber nur, wenn durch sie Neues geschaffen wird. Derzeit wird in Deutschland nur ideologiegetrieben zerstört, während der Staat erstarrte Strukturen für Interessengruppen erhält. | [
"Wirtschaftsstandort Deutschland",
"Wirtschaftspolitik"
]
| wirtschaft | 2024-09-09T12:37:50+0200 | 2024-09-09T12:37:50+0200 | https://www.cicero.de//wirtschaft/schumpeter-zerstoerung-schoepfung-olson |
Eurokrise – Merkel sollte die Vertrauensfrage stellen | Angela Merkel wird es auch diesmal nicht stören. Am Donnerstag
kommt der Bundestag zu einer Sondersitzung zusammen. Auf der
Tagesordnung steht diesmal die Rettung der spanischen Banken.
Wieder geht es bei der Eurorettung um Milliardenhilfen. Wieder
werden zahlreiche Abgeordnete des Regierungslagers ihrer Kanzlerin
die Gefolgschaft verweigern. Wieder wird Merkel die Kanzlermehrheit
verfehlen und auf die Stimmen der Opposition angewiesen sein, wie
zuvor am 27. Februar beim zweiten Griechenlandpaket oder am 29.
Juni bei der Verabschiedung von Europäischen
Stabilitätsmechanismus (ESM) und Fiskalpakt. Eigentlich wäre das nun der Zeitpunkt, an dem die Kanzlerin sich
der eigenen Mehrheit vergewissert. Eigentlich wäre es überfällig,
dass die Bundeskanzlerin nach Artikel 68 des Grundgesetzes im
Bundestag die Vertrauensfrage stellt und die eigenen Reihen
schließt. Es geht bei der Eurokrise letztlich nicht um eine
beliebige politische Sachfrage. Es steht im Bundestag nicht
irgendein einfaches Gesetz auf der Tagesordnung. Die milliardenschweren Rettungspakete haben vielmehr eine
herausragende politische Bedeutung. Sie berühren die politischen,
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundfesten Deutschlands
und Europas. Eigentlich müsste in solchen Zeiten die
Regierungsmehrheit stehen. Doch stattdessen hebt die Eurokrise eine
in sechs Jehrzehnten bewährte parlamentarische Praxis aus den
Angeln. Angela Merkel denkt schließlich überhaupt nicht daran, die
Vertrauensfrage zu stellen. Sie verlässt sich darauf, dass die
Oppositionsparteien SPD und Grüne jener staatspolitischen
Verantwortung nachkommen, die Teile des eigenen Lagers ihr
mittlerweile verweigern. In Sachen Europa regiert in Berlin längst
nicht mehr Schwarz-Gelb, sondern eine „Koalition der
Verantwortung“. Viel spricht dafür, dass die Kanzlerin sich mit
dieser bis zum Ende der Legislaturperiode schleppen wird, um sich
nach der Bundestagswahl in eine Große Koalition mit den
Sozialdemokraten hinüber zu retten. [gallery:Szenen einer Ehe – Bilder aus dem schwarz-gelben
Fotoalbum] Die Chronik der jüngsten Ereignisse im Parlament lässt auch für
Donnerstag nichts Gutes erahnen. So erklärt Merkel am frühen Abend
des 29. Juni im Bundestag in einer gut 20-minütigen Rede die
Veränderungen zum ESM, die auf dem davor stattgefundenen EU-Gipfel
mit Italien und Spanien vereinbart worden sind. Müde und abgekämpft von einem nächtlichen Verhandlungsmarathon
spricht sie im Bundestag von „Memorandum of Understanding“ und
„Preferred Creditor Status“ und dass sich im Prinzip die deutschen
Interessen in Brüssel durchgesetzt hätten. So richtig folgen können
ihr im Plenarsaal nur wenige Abgeordnete. Es ist der Tag, an dem der Bundestag und der Bundesrat mit
Zweidrittelmehrheit den ESM und den Fiskalpakt verabschieden. Zwei
Gesetze, die zu diesem Zeitpunkt schon überholt sind, von eben
jenen vorangegangen nächtlichen Entscheidungen in Brüssel. Kurz
nach Mitternacht, am 30. Juni, wird vermeldet, dass in der
Abstimmung zu ESM und Fiskalpakt aus den Reihen von CDU/CSU und FDP
300 Abgeordnete mit „Ja“ gestimmt haben. Damit hat die Kanzlerin nach dem Griechenlandpaket im Februar
schon zum zweiten Mal in der Euro-Rettung die Kanzlermehrheit
verfehlt. Der Rückhalt für die Kanzlerin schwindet im
schwarz-gelben Lager zusehends. Im Februar stimmten immerhin noch
304 schwarz-gelbe Abgeordnete für die Euro-Rettungsmaßnahmen. Als Kanzlermehrheit wird die Mehrheit der Mitglieder des
Bundestags bezeichnet. Mit Überhangmandaten hat der Bundestag in
der laufenden Legislaturperiode 620 Abgeordnete, das heißt, dass
diese qualifizierte Mehrheit gegenwärtig bei 311 Stimmen liegt.
Schwarz-Gelb kommt zusammen auf 330 Volksvertreter, so dass sich
Merkel sogar bequem 19 Abweichler erlauben könnte. Doch die Kanzlerin schert es wenig, dass es mittlerweile mehr
sind. Für sie gilt das Motto „Mehrheit ist Mehrheit“. Im
ZDF-Sommerinterview sagte sie dazu, „wenn ich zur Kanzlerin gewählt
wurde, habe ich die Kanzlermehrheit jeweils gehabt. Wenn eigene
Mehrheiten notwendig waren, bekomme ich sie. Wir bekommen immer die
Mehrheiten, die wir brauchen.“ Die Kanzlermehrheit also nur zur
Kanzlerwahl? Formal hat Merkel recht. Dennoch war die parlamentarische Praxis
bislang eine andere. Jahrzehnte lang war es die vornehmste Aufgabe
der Parlamentarischen Geschäftsführer der Regierungsfraktionen, bei
wichtigen Entscheidungen die Kanzlermehrheit sicherzustellen.
Gelang dies nicht, war die Aufregung groß und eine Regierungskrise
nicht weit. Doch plötzlich heißt es nun, darauf käme es nicht an,
eine solche Mehrheit sei nicht erforderlich. Die Vertrauensfrage
stellt sich der Kanzlerin nicht. Auf der nächsten Seite: Warum die Kanzlerin wohl
ohne Vertrauensfrage auskommt Noch bei Rot-Grün war dies anders. Gerhard Schröder ließ sich im
November 2001 nicht lange bitten und vor allem nicht von der
Opposition verhöhnen. Er verknüpfte damals die Frage, ob
Deutschland an der Seite der USA in den Afghanistan-Krieg ziehen
solle, mit der Vertrauensfrage. Nicht nur für die Kanzlerwahl
bedarf es der Kanzlermehrheit, sondern auch für die
Vertrauensfrage. Obwohl die Union und FDP mit der Regierung
gestimmt hätten, war Schröder die eigene Mehrheit wichtig. Vor
allem die pazifistischen Grünen mussten damals Kröten schlucken.
Wäre Schröder mit der Vertrauensfrage gescheitert, hätte es schon
nach drei Jahren Rot-Grün Neuwahlen gegeben. Angela Merkel jedoch will von Kanzlermehrheit und
Vertrauensfrage nichts wissen. Es sind Krisenzeiten, sie ist die
Krisenmanagerin und sie setzt darauf, dass alle, denen Europa und
der Euro am Herzen liegen, mithelfen, die Krise zu lösen. Die
Tatsache, dass SPD und Grüne seit 2010 alle Rettungsmaßnahmen in
Sachen Euro mitgetragen haben, überdeckt Merkels Problem. Die
eigenen Leute stehen seit Anfang des Jahres nicht mehr geschlossen
hinter ihrer Kanzlerin. Einen vergleichbaren Aufstand bürgerlicher
Bundestagsabgeordneter hat es in der Geschichte schwarz-gelber
Bundesregierungen noch nicht gegeben, nicht unter Adenauer, nicht
unter Erhard und auch nicht unter Kohl. [gallery:Persönlichkeit statt Patriotismus – Die Ahnengalerie
deutscher Bundeskanzler] Vielleicht hat dies mit der schwarz-gelben Endzeitstimmung zu
tun, die sich in Berlin breit gemacht hat. Kaum noch jemand wettet
dort auf eine Neuauflage der bürgerlichen Koalition nach der
Bundestagswahl 2013. Die Chancen für Merkel hingegen, im Kanzleramt
zu verbleiben, stehen äußerst gut. Es würde dann offiziell, was
seit etlichen Monaten informell längst besteht: die Große
Koalition. | Bei der Bundestagsabstimmung über die Hilfen für Spanien könnte Merkel zum dritten Mal die Kanzlermehrheit verfehlen. Eigentlich müsste das für Schwarz-Gelb Konsequenzen haben. Doch der Kanzlerin ist es egal. Sie regiert in Sachen Europa längst mit einer Großen Koalition der Verantwortung | []
| innenpolitik | 2012-07-18T17:23:07+0200 | 2012-07-18T17:23:07+0200 | https://www.cicero.de//innenpolitik/merkel-sollte-die-vertrauensfrage-stellen/51260 |
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Russland - Wie weit gehen Putins Expansionspläne? | Wieder geht ein Gespenst um. Und nicht nur in Europa. Die Westukraine fürchtet nach dem Hochgeschwindigkeitsanschluss der Krim einen russischen Einmarsch. Aber Wladimir Putins früherer Wirtschaftsberater Andrei Illarijonow sagte dem Svenska Dagbladet, Russland werde erst Halt machen, wenn es Weißrussland, die baltischen Staaten und Finnland erobert habe. Auch die Washington Post grault sich: Putin sei entschlossen, mit Hilfe von Rüstungs- und Rohstoffexporten potente Drittländer wie China oder Indien an sich zu binden, sogar EU-Mitglieder in seine neue Eurasische Union zu locken. Und er wolle Europa mit Hilfe rechtsradikaler Parteien in Großbritannien, Frankreich, Griechenland, Italien oder Ungarn ideologisch aushöhlen. Angstszenarien, man könnte auch sagen, Fantasien. Es liegen keine Dokumente über neue Annexionspläne des Kremls vor. Der - wachsende - Militärhaushalt Russlands macht immer noch nur ein Zehntel des US-amerikanischen aus, das gemeinsame Bruttoinlandsprodukt der EU, der USA und Japans aber ist knapp 20 mal größer als das Russlands. Da malt wohl jemand den Teufel sehr überlebensgroß an die Wand. Aber auch Russland neigt zurzeit nicht zum Understatement. Man sei ja das einzige Land der Welt, dass Amerika in atomare Asche verwandelten könnte, prahlt Dmitri Kisiljew, Chefmoderator des Staatsfernsehens. Außerdem hat der Kreml mit dem Anschluss der ukrainischen Krim einen Präzedenzfall geschaffen. Präzedenzfälle sind bekanntlich wiederholbar. Moskau beruft sich auf ein Gesetz von 2009. Es gibt der Staatsmacht die Befugnis „für den Einsatz der Streitkräfte zur Gewährleistung des Schutzes ihrer Bürger, die sich außerhalb der Grenzen der russischen Föderation aufhalten“. Wladimir Putin hat sich dieses Einsatzrecht für die Ukraine bewilligen lassen und russische Truppen zur Blockade ukrainischer Garnisonen auf der Krim in Bewegung gesetzt. Wie sehr der promovierte Rechtswissenschaftler dabei seinen eigenen Argumenten traute, zeigt die Tatsache, dass seine Soldaten schamhaft alle Erkennungsabzeichen von ihren Uniformen entfernt hatten. Ideologisch begründet Putin den Anschluss mit heftigem Winken in Richtung Deutschland: Russland habe bei der Wiedervereinigung von BRD und DDR das „ehrliche und unaufhaltsame Drängen“ der Deutschen nach nationaler Einheit vorbehaltslos unterstützt. „Ich rechne darauf, dass die Bürger Deutschlands ebenfalls den Drang der russischen Welt, des historischen Russlands, nach Wiederherstellung der Einheit unterstützen.“ Klingt so, als müsse man künftig öfters mit russischen Einheitswiederherstellungen rechnen. Und was meint Putin mit „russischer Welt“ und „historischem Russland“? Meint er Gebiete, die in der Vergangenheit einmal zum russischen Imperium gehört haben? Oder Regionen und Orte, die die Russen mit ihrer Kultur geprägt haben oder gerade prägen? Alaska, Ostpolen, oder Baden-Baden, wo einst Dostojewski sein Geld verspielte? Auch „Londongrad“, wo russischen Oligarchen ganze Erstligaklubs gehören? Putin drückt sich wohl mit Absicht höchst unklar aus. Und er scheint die Unruhe zu genießen, die jetzt außer in Kiew auch in Riga, im kasachischen Almaty oder Washington herrscht. Russland hat offen die territoriale Unversehrtheit der Ukraine verletzt, die es 1994 im Protokoll von Prag gemeinsam mit den USA und Großbritannien garantierte, im Gegenzug lieferte die Ukraine damals ihre Atomwaffen ab. „Russlands Entscheidung, 20 Jahre später Truppen in die Ukraine zu schicken“, schimpft der kasachische Politologe Erlan Karin, „hat alle Rechtsgrundlagen für die Sicherheit des postsowjetischen Raumes ausradiert.“ Wie die Ukraine und Weißrussland gab damals auch Kasachstan seine Atomwaffen ab. Kasachstan gilt als enger Verbündeter Moskau. Aber 24 Prozent seiner Einwohner sind Russen. Moskauer Schreihälse wie Wladimir Schirinowski oder Eduard Limonow forderten bereits, zur Wiederherstellung des russischen Imperiums müsse man auch Kasachstan Gebiete abnehmen. Staatschef Nursultan Nasarbajew, 73, kränkelt, seine Nachfolge gilt als ungeklärt. Und Kasachstan ist eines der rohstoffreichsten Länder der Welt. Ein Filetstück. Ähnlich wie die einstigen mittelasiatischen Sowjetrepubliken Usbekistan (Gas) und Turkmenistan (Gas), wo ethnische Russen im Gegensatz zur Ukraine wirklich diskriminiert werden. Oder Aserbaidschan (Öl), einer weiteren Einmann-Diktatur, die Moskau bei Bedarf und Gelegenheit zum unverzichtbaren Bestandteil der „Russischen Welt“ erklären könnte. Adschar Kurtow, Analytiker des Russischen Instituts für Strategischen Studien beschwichtigt: „In Turkmenistan hat Russland selbst dann nicht eingegriffen, als der turkmenische Geheimdienst systematisch nach Bürgern fahndete, die ihre russischen Pässe nicht abgeben wollten.“ Aber auch die Krim zeigt, dass der Kreml nur dort Repressalien gegen Russen entdeckt, wo es sich machtpolitisch rechnet. Die vorwiegend russischsprachige Urlaubshalbinsel lebt seit 20 Jahren friedlich bis zur Langeweile. Die „Russische Einheit“, die einzige moskautreue Partei dort, holte bei den jüngsten Regionalwahlen 2010 gerade 4 Prozent der Stimmen. Putin erprobte dort trotzdem eine neue Militärdoktrin: Wir setzen unsere Truppen auch offensiv ein. Dort, wo ein Nachbarstaat in der Krise steckt, wo es ethnische Russen gibt, die wir verteidigen können, wo kein oder nur geringer Widerstand droht. Und wo es sich für uns lohnt! Bettelarme Republiken im geopolitischen Hinterhof der GUS wie Armenien, Tadschikistan oder Kirgistan sind weniger gefährdet, zumal die Russen in Tadschikistan oder Kirgistan bereits Militärbasen unterhalten. Aber Geopolitik ist eine wechselhafte Angelegenheit. Neben der Ukraine ist jetzt vor allem das ebenfalls bettelarme Moldawien in Bedrängnis geraten. Seine Regierung strebt eine EU-Integration an, die kommunistische Opposition aber will mit Moskau paktieren. In der moldawischen Rebellenrepublik Transnistrien stehen seit Jahrzehnten russische Truppen, von gut 550.000 Transnistriern besitzen über 100.000 bereits russische Pässe. Stratege Kurtow schließt eine russische Militäraktion in Moldawien nicht aus. Auch Alexander Lukaschenko, Weißrusslands wortgewaltiger Staatschef, wird es sich zweimal überlegen, bevor er Moskau das nächste Mal androht, sich angesichts zu hoher Ölpreise Richtung Westen umzuorientieren. Estland und Lettland, wo Russen ein Viertel der Bevölkerung stellen und ebenfalls benachteiligt werden, droht dagegen kaum ein russischer Einfall. Sie haben das Glück, Nato-Mitglieder zu sein. Auch das neutrale Finnland betrachten die Russen seit dem Winterkrieg 1940 als sehr wehrhaft. Und all diese Kleinstaaten sind rohstoffarm. Gleichzeitig demonstrieren russische Politiker und Propagandisten, selbst Facebook-Kommentatoren ganz neue verbale Dominanz: „Nein, Berlin wollen wir nicht, da waren wir ja schon. Und warum sollen wir das deutsche Bier verderben? Wir wollen Florida.“ „Wir wollen keine Teilung der Ukraine.“ Anlässlich der Abtrennung der Krim von der Ukraine klingen auch Putins Beschwichtigungen wie Spott. Seine GUS-Nachbarn stehen künftig vor demselben Problem wie die EU oder die Nato: Sie haben es mit einem Russland zu tun, das nur noch beschränkt berechenbar ist. | Stefan Scholl | Neue Nationalidee, neue Militärdoktrin, neues Machtgefühl. Nach Moskaus Intervention auf der Krim befürchten nicht nur Russlands Nachbarn eine Wiederholung | []
| außenpolitik | 2014-04-03T11:25:40+0200 | 2014-04-03T11:25:40+0200 | https://www.cicero.de//aussenpolitik/russische-expansionsplaene-wir-wollen-florida/57337 |