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Mengenunterscheidung bei Tieren
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= Mengenunterscheidung bei Tieren =
Die Unterscheidung von Mengen bei Tieren (engl.: numerosity) sowie die Generalisierung von Anzahlen (engl.: number estimation) wurde in zahlreichen, voneinander unabhängigen verhaltensbiologischen Experimenten nachgewiesen. Insbesondere einige in Japan und in den USA mit Schimpansen – den nächsten Verwandten des Menschen – durchgeführte Studien lassen den Schluss zu, dass einfache mathematische Fähigkeiten nicht auf den Menschen beschränkt sind. Der Nachweis, dass Tiere unterschiedlicher Arten fähig sind, Anzahlen (und einige von ihnen auch Zahlen) zu unterscheiden, könnte, wenn eines Tages hinreichend viele Studien vorliegen sollten, einen Hinweis darauf geben, wie sich die Fähigkeit zum Rechnen im Verlauf der Stammesgeschichte der Arten entwickelt hat.
Kopfrechnen und die Anwendung komplexer mathematischer Formeln sind zwar kulturelle Leistungen und kommen vermutlich nicht ohne die Fähigkeit zum Benutzen einer Sprache aus. Ein Gespür für mehr oder weniger sowie die Fähigkeit, Anzahlen zu schätzen, sind hingegen nicht an Sprache gekoppelt („Zahlensinn“). Das Unterscheiden von Quantitäten dürfte – neben der Wahrnehmung von Raum und Zeit – eine der elementarsten Voraussetzungen dafür sein, dass Tiere zum Beispiel bei der Futtersuche angemessen auf ihre Umwelt reagieren können.Experimente mit Säuglingen belegen, dass bereits drei Monate alte Babys unterschiedlich große Mengen voneinander unterscheiden können. Allerdings lassen „diese Erkenntnisse über erste Fähigkeiten von Kindern zur Mengenunterscheidung [...] kaum Rückschlüsse zu, inwieweit man hier von einem Verständnis für Mengen im mathematischen Sinne sprechen kann.“
== Erste Studien ==
Untersuchungen zur „Relationserfassung“ oder zum „Zahlenverständnis“ von Tieren wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts – vor der Etablierung des akademischen Faches Tierpsychologie – durchgeführt und bildeten damals die Brücke zur Psychologie des Menschen. Es entstand „eine ausgedehnte Literatur über dieses Phänomen“: Allein im Jahr 1913 wurden mehr als 500 Berichte veröffentlicht, berichtete der Münchener Physiologe Otto Frank 1914 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift. Frank publizierte zugleich genaue Vorschläge, wie man mit Hilfe sorgfältig durchgeführter Tests die angeblich mathematischen Fähigkeiten von Tieren als Selbstbetrug ihrer Besitzer entlarven könnte. Frank führte das Fehlen solcher Tests darauf zurück, dass sich „die Psychologie noch in der ersten Entwicklung befindet und man wünschen möchte, daß eine bestimmte Richtschnur zur Beurteilung der Denkleistungen der Tiere zur Verfügung stünde.“
=== „Kluge“ Hunde und Pferde ===
In seiner 1914 veröffentlichten Übersichtsarbeit hatte Otto Frank am Beispiel des Hundes Rolf aus Mannheim zudem festgestellt: „Nicht der Gelehrte, sondern ein erfahrener Zirkusdirektor oder ein geschickter Detektiv scheint in erster Linie zur Aufklärung berufen. Das wissenschaftlich Interessante liegt mehr in der Psychologie der handelnden Personen.“ Eine sehr umfangreiche Verhaltensanalyse des „denkenden Hundes Rolf von Mannheim“ wurde daraufhin im August 1916 in der Münchener Medizinischen Wochenschrift publiziert. Jener Rolf galt zuvor – auch nach Ansicht „einer größeren Anzahl von bedeutenden Psychologen“ – als befähigt, sich mit Hilfe eines „Klopfalphabetes“ (einer Art Morsealphabet) mit den Menschen zu verständigen. Angeblich konnte der Hund rechnen und lesen, Briefe und Gedichte diktieren, ja seine Autobiografie verfassen. Tatsächlich war es – der Verhaltensanalyse zufolge – die Mimik der Besitzerin des Hundes, die dessen Klopfen steuerte. Über den Hund eines Bauernjungen aus der Nähe von Zeitz (heute Sachsen-Anhalt), der rund 30 Wörter sprechen konnte, hatte 1715 auch Gottfried Wilhelm Leibniz berichtet, nachdem er Augen- und Ohrenzeugen dieses kuriosen Phänomens geworden war.Wegen solcher angeblicher Wundertiere musste sich die neu entstehende Tierpsychologie in den 1920er- und 1930er-Jahren den Rang einer ernstzunehmenden Wissenschaft erst mühsam erkämpfen, da ihre Tierexperimente und -dressuren in den Augen der Akademiker gewissermaßen in Konkurrenz zu pseudowissenschaftlichen Jahrmarktsdarbietungen standen. Bernhard Hassenstein schrieb 1974 in seinem Nachruf auf Otto Koehler:
„Besonderes Aufsehen erregten die so genannten klugen Tiere: die Elberfelder Pferde, sowie Rolf, Lumpi, Fips, Kurwenal, Isolde und – bis 1938 – weitere rund 80 Hunde, die scheinbar jedes Menschenwort verstanden, rechneten, Wurzeln zogen und buchstabierten. Auf die Frage eines Theologieprofessors: Welches ist deine Weltanschauung? antwortete der Dackel Kurwenal: Meine ist die Eure! – Dass diese Wundertiere nur so lange klopften oder bellten, bis ihnen ihre Besitzer, meistens unbewusst, ein Zeichen gaben aufzuhören, ihnen also ihre eigenen Antworten diktierten, war mehrfach erwiesen. Um so entschiedener setzten sich die Gekränkten für ihre Lieblinge ein, und selbst ein Professor der Zoologie diskutierte mit Überzeugung ‚Die zahlensprechenden Hunde als Domestikationserscheinung…‘“
Zu besonderer Bekanntheit hatte es damals der Kluge Hans gebracht, ein Pferd, von dem es hieß, es könne zählen. Es stellte sich jedoch heraus, dass das Tier nur hochsensibel auf Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen von Menschen reagierte.
Im Jahre 2008 wiesen Forscherinnen der University of Essex dann aber nach, dass Pferde tatsächlich Quantitäten unterscheiden können: Im Wahlversuch zwischen beispielsweise 6 und 4 Äpfeln (sowie 2 gegen 1, 3 gegen 2) entschieden sich die Pferde jeweils für die größere Anzahl. Hunde hingegen bevorzugen laut einer 2013 publizierten Studie in solchen Wahlversuchen in der Regel nicht die größere Portion an dargebotenem Futter; allerdings waren laut einer älteren Studie zumindest einzelne Testtiere hierzu in der Lage. Ferner scheinen verwilderte Haushunde die Größe eines ‚feindlichen‘ Hunderudels abschätzen zu können. Für Wölfe wurde von österreichischen Forschern wiederum belegt, dass sie die Größe von Futtermengen unterscheiden (zum Beispiel 1:3) und im Wahlversuch bevorzugt die größere Futtermenge aufsuchen; daraus wurde geschlossen, dass Hunde diese Fähigkeit im Verlauf der Domestikation verloren haben.Die Beobachtungen bei Pferden und anderen „klugen“ Tieren führten letztlich „zu einer Revolution in der Verhaltensforschung: Bei Studien zu kognitiven Fähigkeiten von Tieren hat jeder Augen- oder Gesichtskontakt strikt zu unterbleiben.“
=== „Zählversuche“ mit Vögeln ===
Werner Fischel, ab 1941 der erste Dozent für Tierpsychologie in Deutschland, publizierte 1926 seine bei Otto Koehler an der Universität München verfasste Doktorarbeit unter dem Titel: „Haben Vögel ein ‚Zahlengedächtnis‘?“ Otto Koehler und seine Mitarbeiter waren die ersten, die in zahlreichen Veröffentlichungen „Zählversuche“ speziell von Vögeln dokumentierten, die Koehler wiederholt mit exakten naturwissenschaftlichen Methoden untersuchte. So lernten Tauben und Wellensittiche beispielsweise, je nach verschiedenfarbigen Anweisern, entweder 2 oder 4 Köder aufzunehmen. Einem gezähmten Kolkraben brachte Koehler bei, unter mehreren Gefäßen stets dasjenige auszuwählen, auf dessen Deckel sich fünf Punkte befanden, wobei Form, Größe und Lage der Punkte von Versuch zu Versuch verändert wurden. Der Graupapagei Jako reagierte auf akustische und visuelle Reize, indem er beispielsweise nach 3 Lichtblitzen 3 Köder aus den dargebotenen Schälchen entnahm, zudem unterschied er Ein- von Zweiklängen.
Otto Koehler zufolge reichte das Unterscheiden von Anzahlen stets bis zu bestimmten oberen Grenzen: bei Tauben 5, bei Wellensittichen und Dohlen 6, bei Amazonenpapageien, Elstern und Kolkraben 7, beim Graupapagei 8. Diese Daten wurden von anderen Forschern im Wesentlichen bestätigt. Da auch der Mensch etwa 7 Informationseinheiten gleichzeitig in seinem Kurzzeitgedächtnis behalten kann (die sogenannte Millersche Zahl), vermutete Bernhard Hassenstein 1974, dass das Vermögen, Anzahlen zu unterscheiden, bei Menschen und Tieren „einer gemeinsamen Wurzel entstammt“, schließlich könnten unter gleichartigen Versuchsbedingungen „Menschen etwa dasselbe leisten wie diese Tiere“.
=== Frühe Versuche mit Ratten ===
Die Experimente Otto Koehlers mit Vögeln wurden in den 1930er- und 1940er-Jahren von anderen Forschergruppen weder reproduziert noch fortgeführt. Vor allem in den USA war die Verhaltensforschung zudem durch behavioristische Forschungsansätze geprägt, die zunächst kein Interesse an Fragestellungen zu angeborenen, anscheinend kognitiven Leistungen von Tieren aufkommen ließen. Dennoch war es dann aber gerade einer der Pioniere des aus dem Behaviorismus abgeleiteten, sogenannten programmierten Lernens, der US-amerikanische Psychologe Francis Mechner von der Columbia University, der Anfang der 1960er-Jahre ein überzeugendes Nachweisverfahren zum Unterscheiden von Quantitäten entwickelte, und zwar bei Ratten.Mechner schloss jeden möglichen Einfluss des Versuchsleiters auf das Verhalten der Testtiere dadurch aus, dass er eine so genannte Skinner-Box benutzte. Hungrige Ratten fanden in dieser geschlossenen Versuchsapparatur zwei Hebel vor, die sie mit Schnauze oder Pfoten drücken konnten. Wurde Hebel 2 gedrückt, gab ein Automat ein wenig Futter frei – allerdings nur dann, wenn zuvor auch Hebel 1 gedrückt worden war. In unterschiedlichen Versuchsansätzen wurde die Zahl der nötigen Hebeldrücke auf Hebel 1 variiert: Einige Tiere erhielten ihre Futterbelohnung erst, wenn sie zum Beispiel viermal Hebel 1 und danach Hebel 2 drückten, andere Tiere mussten achtmal Hebel 1 und dann erst Hebel 2 drücken, um etwas Futter zu erhalten.
Nach einigem Training drückten die Testtiere tatsächlich im Mittel vier- bzw. achtmal Hebel 1 und dann erst Hebel 2; auch 12- und 16-faches Hebeldrücken konnte ihnen beigebracht werden, wobei aber nicht jedes Testtier immer genau die vom Versuchsleiter vorgegebene Anzahl drückte. Rund 75 Prozent der 4er-Gruppe drückten drei bis sechs Mal den Hebel, in der 8er-Gruppe drückten etwa 75 Prozent der Testtiere sieben bis elf Mal den Hebel. Hieraus kann man ableiten, dass Ratten nur relativ grob eine bestimmte, erforderliche Anzahl von Aktionen erlernen können. Um auszuschließen, dass die Testtiere statt der Anzahl der Hebeldrücke eine bestimmte Zeitdauer kontinuierlichen Hebeldrückens lernten, wurden unterschiedlich hungrige Ratten getestet: Je hungriger die Tiere waren, desto hektischer drückten sie zwar die Hebel, ohne dass sich dies aber auf die Anzahl der Hebeldrücke auswirkte.
Andere Ratten wurden in einem Tunnelsystem darauf dressiert, jeweils die vierte Abzweigung nach links zu wählen, und zwar unabhängig von den Abständen zwischen den Abzweigungen.Zwei Forscher der Brown University, Russell Church und Warren Meck, veröffentlichten 1984 eine Studie, die nahelegt, dass Ratten nicht nur lernen können, eine bestimmte Anzahl von Hebeldrücken in einer bestimmten Situation auszuführen. Vielmehr können sie das Gelernte auch auf eine neue Situation übertragen; vermenschlichend ausgedrückt könnte man sagen: Die Tiere verallgemeinern das gelernte Verhalten. Die Forscher brachten den Tieren zunächst bei, nach zwei Tönen den linken Hebel zu drücken und nach vier Tönen den rechten. Danach lernten die Tiere zusätzlich, nach zwei Lichtblitzen den linken Hebel zu drücken und nach vier Lichtblitzen den rechten. Schließlich wurden den Ratten während einiger Tests sowohl Töne als auch Lichtblitze präsentiert, und die Ratten drückten den linken Hebel auch dann, wenn ihnen ein Lichtblitz plus ein Ton bzw. den rechten, wenn zwei Lichtblitze plus zwei Töne dargeboten wurden.
== Wirbellose ==
=== Honigbienen ===
Honigbienen (Apis mellifera) sind bekannt dafür, dass sie sich an Landmarken orientieren, wenn sie wiederholt ertragreiche Futterpflanzen anfliegen. Forscherinnen der Australian National University trainierten Bienen darauf, in einen Tunnel zu fliegen, in dem gelbe Striche oder Punkte als Markierung für eine bestimmte Anzahl von Futterstellen dienten. Die Versuchsbienen lernten, eine bestimmte Futterstelle (an der ersten, zweiten oder dritten usw. Markierung) anzufliegen, wobei die Abstände zwischen den Markierungen und die Form der Markierungen veränderlich waren. Der eigentliche Test bestand darin, dass die trainierten Bienen in den Tunnel flogen, ohne dass an der gewohnten Futterstelle Futter bereit lag. Die Tests ergaben, dass Bienen sich die Anzahl zu überfliegender Landmarken – unabhängig von deren Form und deren Entfernung zueinander – merken können, jedoch nicht mehr als vier Landmarken.Ein gemeinsames Experiment von Forschern der Australian National University und der Würzburger Arbeitsgruppe von Jürgen Tautz ergab, dass Honigbienen Anzahlen von bis zu vier Symbolen unterscheiden können, nicht aber größere Anzahlen wie vier gegen fünf oder vier gegen sechs Symbole. Die Bienen lernten zunächst, dass hinter einer Tafel, auf der zwei blaue Punkte abgebildet waren, eine Belohnung (Zuckerwasser) versteckt war. Den so konditionierten Testtieren wurde dann zugleich eine Tafel mit zwei Symbolen und eine weitere Tafel mit beispielsweise vier Symbolen zur Auswahl gestellt: Die trainierten Tiere flogen jeweils die Tafel mit den zwei Symbolen an. In weiteren Experimenten konnten die Bienen auf Quantitäten bis zu vier Symbolen konditioniert werden. Außerdem wurden Testtieren, die auf eine bestimmte Quantität blauer Punkte konditioniert waren, beispielsweise Tafeln mit gelben Sternen oder grünen Blättern zur Auswahl gestellt: Auch unter solchen veränderten Bedingungen blieb die Unterscheidungsfähigkeit für die zuvor gelernte Quantität erhalten. Die Autoren erläuterten, dass ihre Studie erstmals bei Insekten die Fähigkeit zum Unterscheiden von Quantitäten nachgewiesen habe.
2018 wurde in Science berichtet, dass Bienen zudem das „Konzept Null“ beherrschen können. Den Testtieren wurden zunächst jeweils zwei Bilder mit schwarzen Objekten auf weißem Hintergrund präsentiert, und sie wurden mit Futter belohnt, wenn sie das Bild mit der kleineren Anzahl schwarzer Objekte anflogen. Nach erfolgtem Training wurde ihnen erstmals ein rein weißes Bild und eines mit zwei oder drei schwarzen Objekten präsentiert: In 64 Prozent aller Testflüge – also überzufällig häufig – wurde das „leere“ Bild angeflogen.2019 wurden Hinweise darauf publiziert, dass Bienen zur Addition und Subtraktion befähigt sind. 14 frei fliegende Testtiere wurden zunächst mit Hilfe einer Futterdressur trainiert, in der Testapparatur durch ein Einflugloch in eine kleine Kammer und danach entweder nach links oder nach rechts durch jeweils ein weiteres Loch in eine zweite Kammer zu fliegen. In der anschließenden Testsituation wurde neben dem ersten Einflugloch eine kleine graue Tafel mit farbigen geometrischen Symbolen (Quadraten) als Test-Stimulus angebracht. Zeigte diese Tafel zum Beispiel drei blaue Quadrate, wurde neben einem der beiden inneren Fluglöcher eine Tafel mit vier blauen Symbolen (korrekte Reaktion) und neben dem zweiten inneren Flugloch eine Tafel mit zum Beispiel fünf oder zwei blauen Symbolen (falsche Reaktion) angebracht. In ähnlicher Weise wurde überprüft, ob dieselben Testtiere nach Darbietung eines Test-Stimulus von zum Beispiel drei gelben Symbolen das mit zwei gelben Symbolen markierte innere Flugloch (korrekte Reaktion) durchfliegen oder das alternative innere Flugloch, das zum Beispiel mit einem oder mit vier gelben Symbolen (falsche Reaktion) markiert war. Das Ergebnis: Eine statistische Analyse ergab, dass Bienen die beiden Farben als Symbole für Addition und Subtraktion erkannten und dass sie fähig sind, „plus eins“ und „minus eins“ im Zahlenraum bis 5 zu berücksichtigen. 2022 wurde mit ähnlicher Methodik eine vergleichbare Fähigkeit bei Fischen nachgewiesen.
=== Spinnen ===
Das Beutemachen von jungen Springspinnen der Art Portia africana, ein Verhalten, das gegen Nester der Art Oecobius amboseli (Oecobiidae) gerichtet ist, wurde in einer umfangreichen Laborstudie analysiert. Bekannt war bereits, dass häufig zwei Jungtiere von Portia africana gemeinsam im Netz der Beute fressen. Die Versuchsanordnungen ergaben, dass ein Testtier von Portia africana am ehesten dann in ein Nest der Beute-Art eindringt, wenn dort genau ein Individuum ihrer eigenen Art sitzt. Statistisch signifikant seltener sucht Portia africana das Nest auf, wenn sich dort bereits zwei oder drei Individuen der eigenen Art aufhalten oder wenn noch gar kein Individuum der eigenen Art im Nest vorhanden ist.
== Fische ==
Gambusen (Moskitofische) der Art Gambusia holbrooki schließen sich, wann immer möglich, zu Schwärmen zusammen, wobei Einzeltiere jeweils zum größten von mehreren Schwärmen schwimmen. Psychologen der Universität Padua nutzten dieses Verhalten, um zu testen, wie groß die Differenz zwischen zwei Schwärmen sein muss, um von einem einzelnen Tier noch unterschieden zu werden. Sie wiesen nach, dass im Labor gehaltene Fische Schwärme von 3 Individuen gegen solche von 4 Individuen unterscheiden können, nicht aber ein Verhältnis von 4:5. Auch ein Verhältnis von 2:4, 4:8 und 8:16 erwies sich als unterscheidbar. Eine weitere Studie ergab, dass diese Tiere auch kleine Anzahlen von abstrakten Symbolen (2:3) unterscheiden können.
In der Bonner Arbeitsgruppe der Zoologin Vera Schluessel wurde bei Blauen Malawibuntbarschen (Maylandia zebra) und Pfauenaugen-Stechrochen (Potamotrygon motoro) mit Hilfe einer Futterdressur überprüft, ob sie lernen, nach Darbietung eines Test-Stimulus von zum Beispiel zwei blauen geometrischen Symbolen durch eine Öffnung und dahinter gezielt zu einem Bild mit drei blauen Symbolen zu schwimmen und nicht zu einem gleichfalls dargebotenen Bild mit einem blauen Symbol. In ähnlicher Weise durch überprüft, ob dieselben Testtiere nach Darbietung eines Test-Stimulus von zum Beispiel zwei gelben geometrischen Symbolen lernen, gezielt zu einem Bild mit einem einzigen gelben Symbol zu schwimmen und nicht zu einem gleichfalls dargebotenen Bild mit drei gelben Symbolen. Bei den Symbolen handelte es sich um beliebig kombinierbare Kreise, Quadrate und Dreiecke. Das Ergebnis: Sechs von zehn trainierten Buntbarschen und vier von zehn Stechrochen wurden erfolgreich trainiert und erkannten die beiden Farben als Symbole für Addition und Subtraktion. In einem zweiten Schritt wurde experimentell nachgewiesen, dass die Fähigkeit zum Berücksichtigen von „plus eins“ und „minus eins“ im Zahlenraum bis 5 vorhanden ist. Mit vergleichbarer Methodik waren zuvor bereits Honigbienen mit vergleichbaren Ergebnissen getestet worden.
== Amphibien ==
Auch Rotrücken-Waldsalamander (Plethodon cinereus), also Amphibien, können unterschiedlich große Anzahlen voneinander unterscheiden. Dies geht aus einer Studie hervor, die eine Forschergruppe um Claudia Uller von der University of Louisiana at Lafayette im Jahr 2003 in der Zeitschrift Animal Cognition publizierte. Den Testtieren wurde jeweils gleichzeitig in zwei Glasröhren eine unterschiedlich große Anzahl von Fruchtfliegen als Futter dargeboten, zum Beispiel eine Fliege im einen Röhrchen und zwei Fliegen im anderen Röhrchen. Die Testtiere waren ohne vorheriges Training in der Lage, diese unterschiedlich großen Futtermengen voneinander zu unterscheiden und das Röhrchen mit der größeren Anzahl Fliegen anzusteuern. Sie waren in der Lage, sowohl das Verhältnis von 1:2 als auch von 2:3 zu unterscheiden, nicht aber das Verhältnis von 3:4 und von 4:6.
Die Forscher deuteten die Ergebnisse ihrer Arbeit als Ausdruck einer im Tierreich weit verbreiteten Tendenz, jeweils die größere Futtermenge aufzusuchen. Diese Neigung sei angeboren, da sie ohne Übung auftrete und mindestens voraussetze, dass eine größere Futtermenge von einer kleineren unterschieden werden könne. Bei kleinen Quantitäten beruhe diese Unterscheidungsfähigkeit aber nicht auf bloßem Abschätzen, sondern auf genauem Unterscheiden der Unterschiede. Da das Verhältnis 2:3 unterschieden werde, nicht aber das Verhältnis 4:6, gehen die Forscher davon aus, dass tatsächlich die genaue „Anzahl“ der Objekte (2 oder 3) das Verhalten der Tiere beeinflusste und nicht allein das mengenmäßige Verhältnis der Futtertiere in den beiden Glasröhrchen. Bei Salamandern scheint die zuverlässig unterscheidbare Anzahl von Objekten also bei maximal 3 zu liegen.
== Vögel ==
=== Küken ===
Küken von Haushühnern verfügen, wenn sie aus dem Ei schlüpfen, über kein angeborenes Bild ihrer Artgenossen; vielmehr lernen sie diese erst unmittelbar nach dem Schlüpfen – durch Prägung – zu erkennen. Im Experiment können Küken daher auch auf Menschen oder auf unbelebte Gegenstände geprägt werden. Zudem schließen sich Küken, wann immer möglich, der jeweils größten von mehreren Gruppen ihrer Artgenossen an. Beide Sachverhalte nutzten Forscher der Universität Padua, um das Zählvermögen frisch geschlüpfter, weitestgehend erfahrungsloser Küken zu testen. Sie prägten die Küken zunächst auf kleine Bälle und setzen die Tiere danach auf ein Podest, von dem aus sie zwei Gruppen dieser Bällchen sehen konnten. Anschließend wurden die Bällchen jeweils hinter einen Schirm gelegt, so dass sie von den Küken nicht mehr wahrgenommen werden konnten. Danach wurden – für die Küken sichtbar – einzelne Bällchen vom einen Versteck ins andere gelegt. Durch diesen Versuchsaufbau sollte geklärt werden, ob die Küken mitzählen, wo sich nach den Umlagerungen die größte Anzahl ihrer „Artgenossen“ versteckt hat. Tatsächlich suchten die Küken nach solchen Umlagerungen jeweils die größere Gruppe von Bällchen auf. Ohne jedes vorherige Lernen konnten die Küken entscheiden, dass
4
−
2
{\displaystyle 4-2}
kleiner war als
1
+
2
{\displaystyle 1+2}
, dass
0
+
3
{\displaystyle 0+3}
größer war als
5
−
3
{\displaystyle 5-3}
und dass
4
−
1
{\displaystyle 4-1}
größer war als
1
+
1
{\displaystyle 1+1}
. Demnach scheint bei ihnen die Fähigkeit zum Addieren und Subtrahieren eine angeborene Eigenschaft zu sein.
=== Tauben ===
Auch aus Experimenten an Tauben ist bekannt, dass sie kleine Quantitäten präziser voneinander unterscheiden als große. Der kanadische Forscher William Roberts analysierte daher eine analoge Form der Reizverarbeitung: das Verhalten in Abhängigkeit von der Dauer eines Reizes. Er dressierte Tauben darauf, gegen einen roten Hebel zu picken, wenn eine Lichtquelle kurz (zum Beispiel eine Sekunde) leuchtete. Wenn die Lichtquelle aber lang (zum Beispiel 16 Sekunden) leuchtete, mussten sie gegen einen grünen Hebel picken. Man hätte nun erwarten können, dass bei mittlerer Leuchtdauer von 8 oder 9 Sekunden von kurz auf lang (das heißt vom roten auf den grünen Hebel) gewechselt wird oder dass die Testtiere verwirrt sind und nur rein zufällig mal gegen rot und gegen grün picken. Tatsächlich geschah der Wechsel aber bei 4 Sekunden. Ferner wurde beobachtet, dass die Tiere eine Lichtdauer von 1 zu 4 Sekunden besser unterscheiden konnten als eine Lichtdauer von 13 zu 16 Sekunden, während sie 9 zu 10 Sekunden besser unterscheiden konnten als 7 zu 8 Sekunden. Der Forscher deutete diese Befunde dahingehend, dass eine Zeitspanne im Gehirn der Tauben nicht gleichförmig (linear) verarbeitet wird, sondern gewissermaßen logarithmisch. Würden die Tauben Zeitintervalle linear verarbeiten, müssten sie 1- oder 4-Sekunden-Intervalle jeweils gleich genau unterscheiden können. Bei einer Logarithmus-ähnlichen Reizverarbeitung hingegen würde ein 13:16-Intervall kleiner erscheinen als ein 1:4-Intervall, was die beobachtete Ungenauigkeit beim Unterscheiden des 13:16-Intervalls im Vergleich zum 1:4-Intervall erklären würde.
In einer weiteren Studie wurde Tauben auf einem Bildschirm eine unterschiedliche Anzahl unterschiedlich geformter Symbole gezeigt, zum Beispiel 4 gelbe Ovale, 8 grüne Quadrate, 5 blaue Punkte. Projiziert wurden jeweils zugleich zwei unterschiedlich große Anzahlen und unterschiedliche Symbole. Die Tauben lernten mit einer Genauigkeit von im Mittel 80 Prozent, jeweils zunächst die kleinere Anzahl – unabhängig von deren Form – durch Picken anzuzeigen und anschließend die größere Anzahl.
=== Langbeinschnäpper ===
Frei lebende neuseeländische Langbeinschnäpper (Petroica australis) können einer Studie von Forschern der Victoria University zufolge Anzahlen wie beispielsweise 1 gegen 2, 2 gegen 3 und 4 gegen 6 unterscheiden. Forscher der Arbeitsgruppe von Simon Hunt hatten in freier Natur 14 Langbeinschnäpper getestet. Bei jedem Test wurden zwei unterschiedlich große Quantitäten von Würmern in zwei Gefäße gelegt und anschließend den Vögeln zum Fressen dargeboten. Die Vögel konnten stets beobachten, welche Anzahl von Würmern in das jeweilige Testgefäß gelegt wurde. Die Vögel suchten danach mit hoher Treffsicherheit das Gefäß mit der größeren Futtermenge auf: Bei der Alternative 1 Wurm gegen 2 Würmer wurden in fast 90 Prozent der Tests zunächst die 2 Würmer gefressen. Bei den Alternativen 2 gegen 3, 3 gegen 4 und 4 gegen 8 lag die Trefferquote noch bei 80 Prozent. Erst bei höheren Kombinationen (wie 6 gegen 8) näherte sich die Trefferquote dem Zufallswert von 50 Prozent.
In einem zweiten Test wurden bestimmte unterschiedliche Anzahlen von Würmern in die Testgefäße gesteckt, einige davon verschwanden jedoch durch eine Falltür aus dem Gefäß. Anschließend zeigte sich erneut, dass die Vögel zunächst das Gefäß mit der anfangs größeren Wurmzahl anflogen. Sie hielten sich an diesem Gefäß jedoch beispielsweise viermal so lange auf, wenn zunächst 2 Würmer darin gelegen hatten, die Vögel aber nur einen fanden, als wenn von Beginn an nur 1 Wurm darin abgelegt worden war. Die Forscher schlossen daraus, dass die Tiere tatsächlich mitgezählt und eine bestimmte Anzahl an Würmern erwartet hatten.
=== Graupapageien ===
Die Fähigkeiten von Graupapageien, unterschiedlich große Quantitäten voneinander unterscheiden zu können, untersucht seit mehr als 25 Jahren die US-amerikanische Wissenschaftlerin Irene Pepperberg. Ihr Graupapagei Alex (1976–2007) lernte unter anderem, 50 ihm dargebotene Objekte korrekt durch eine spezielle Lautäußerung zu bezeichnen, dazu sieben Farben und fünf Formen.Ihren Angaben zufolge konnte Alex auch einfache Additionen vornehmen und bis sechs zählen. In einem Experiment, bei dem zwei, drei und sechs verschiedenfarbige Objekte vor ihm lagen und er gefragt wurde, welche Farbe fünf (gleichfarbige) Objekte haben, antwortete Alex: None (‚keine‘). Hieraus schlussfolgerte die Forscherin ein zero-like concept (‚null-ähnliches Konzept‘) bei Alex und betonte zugleich, dass Null und Nichts keineswegs identisch seien.
=== Fuchskolibris ===
Der in Nordamerika heimische Fuchskolibri ist tagaktiv, er ernährt sich vom Nektar der Blüten und besiedelt – als Zugvogel aus dem Winterquartier in Mexiko kommend – während der warmen Jahreszeit auch die Täler der Rocky Mountains. In einem Freilandexperiment wurden im Jahr 2017 neun Vögel kurz nach ihrer Ankunft im Westcastle Valley (Alberta, Kanada) markiert, nachdem sie eine leuchtend gelbe „künstliche Blume“ besucht und die von ihr angebotene Zuckerlösung verzehrt hatten. Die Testanordnung bestand aus zehn gleichartig in Reihe stehenden, 60 Zentimeter hohen Holzstäben, auf denen oberseits jeweils eine „Blüte“ angebracht war. Zunächst wurde nachts nur die erste Blüte in der Reihe mit Zuckerlösung präpariert, die – wenig überraschend – an den folgenden Tagen alsbald gezielt angeflogen wurde. Nach dieser Trainingsphase wurde jeweils eine andere, zufällig ausgewählte „Blüte“ mit Zuckerlösung präpariert: Die markierten Vögel flogen zunächst dennoch gezielt die erste Blüte in der Reihe an; sie hatten also die Position der Futterquelle gelernt und sich nicht allein am Geruch der Zuckerlösung orientiert. In weiteren Versuchsanordnungen wurde jeweils die zweite, dritte oder vierte „Blüte“ in der Zehnerreihe zunächst mehrfach mit Zuckerlösung präpariert und schließlich ohne dieses Nahrungsangebot belassen: Auch in diesem Fall flogen die Vögel zunächst die zuvor präparierte „Blüte“ an; sie sind folglich in der Lage, die Position eines Objektes in einer Reihe gleichartiger Objekte anhand numerischer Kriterien zu identifizieren.
== Säugetiere ==
=== Waschbären ===
Stanislas Dehaene berichtet in seinem Buch Der Zahlensinn von einem Experiment, in dem Waschbären lernten, Rosinen aus einem durchsichtigen Kasten zu entnehmen – und zwar immer aus jenem Kasten, der drei Rosinen enthielt und nicht aus einem der benachbarten Kästen, in denen zwei oder vier Rosinen lagen.
=== Amerikanische Schwarzbären ===
Drei Schwarzbären wurden vor einem Touchscreen darauf trainiert, unterschiedliche Anzahlen von sich bewegenden oder unbeweglichen Punkten zu unterscheiden. Dies gelang allen drei Tieren.
=== Asiatische Elefanten ===
Dem vierzehnjährigen Asiatischen Elefanten Authai aus dem Ueno-Zoo wurden auf einem Touchscreen, den er mit der Spitze seines Rüssels bedienen konnte, jeweils zwei unterschiedliche Anzahlen von Bananen, Äpfeln oder Wassermelonen gezeigt, und er wurde mit Leckereien belohnt, wenn er auf die jeweils größere Anzahl deutete. Diese Früchte (0 bis 10) wurden nie einheitlich groß abgebildet, um sicherzustellen, dass die Wahl nicht anhand der bedeckten Fläche getroffen werden konnte. In 181 von 271 Wahlvorgängen (= 66,8 %) wurde die größere Menge korrekt angezeigt. Dabei war es unerheblich, wie groß der Abstand zwischen den dargestellten Anzahlen war, jedoch war der zeitliche Abstand zwischen Beginn eines Tests und Antwort umso länger, je geringer der Abstand zwischen den dargestellten Anzahlen war. Diese 2018 publizierte Studie bestätigte eine frühere Forschungsarbeit aus dem Jahr 2009, in der nachgewiesen worden war, dass Asiatische Elefanten bei bis zu sechs Objekten unterschiedlich große Mengen unterscheiden können.Asiatische Elefanten können zudem allein anhand des Geruchs eine größere von einer kleineren Nahrungsmenge unterscheiden.
=== Rhesusaffen ===
Im Jahre 1998 wiesen Elizabeth M. Brannon und Herbert S. Terrace in einer viel zitierten Studie bei Rhesusaffen nach, dass sie größere von kleineren Quantitäten unterscheiden können. Vergleichbare Befunde zum Verhalten der Anubispaviane wurden 2013 publiziert.Die Arbeitsgruppe Primaten-Neurokognition von Andreas Nieder (Hertie-Institut für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen) untersuchte nicht-sprachliche Vorformen von numerischer Kompetenz bei Rhesusaffen. So trainierte sein Team in einem Test zwei Rhesusaffen darauf, bestimmte Anzahlen von Punkten zu unterscheiden, die ihnen auf einem Computerbildschirm gezeigt wurden. Zum Beispiel zeigte man den Tieren einen Kreis mit vier Punkten und nach einer Pause einen anderen Kreis, in dem sich entweder ebenfalls vier oder aber drei oder fünf Punkte befanden. Wenn die als zweites gezeigte Anzahl mit der ersten identisch war, ließ der Affe einen Hebel los und bekam eine Belohnung. War die Punktzahl unterschiedlich, hielt das Testtier den Hebel weiterhin und so lange gedrückt, bis ihm die identische Punktzahl präsentiert wurde.
Zugleich registrierten die Forscher mit Hilfe implantierter Mikroelektroden die Aktivität einzelner Nervenzellen in bestimmten Gehirnbereichen der Testtiere, in denen numerische Informationen verarbeitet werden: Im Sulcus intraparietalis – einem Scheitellappen der Großhirnrinde – sowie um den präfrontalen Cortex, einem Bereich des Stirnlappens. Nieders Team fand heraus, dass numerische Informationen zunächst im Sulcus intraparietalis verarbeitet und von diesem „vermutlich zum Präfrontalkortex weitergeleitet“ werden, wo sie verstärkt und im Kurzzeitgedächtnis behalten werden und so für die Kontrolle des Verhaltens bereitstehen. Ferner konnte auf diese Weise nachgewiesen werden, dass einzelne Nervenzellen auf die Verarbeitung bestimmter Quantitäten ‚geeicht‘ sind: Sie feuern dann besonders intensiv, wenn dem Tier ‚ihre‘ Quantität präsentiert wird. Bestimmte Neuronen haben demnach eine bestimmte ‚Lieblingsmenge‘.In einer weiteren Studie wurde nachgewiesen, dass 20 Prozent der im präfrontalen Cortex von Rhesusaffen lokalisierten Neuronen aktiv sind, wenn die Testtiere zur Unterscheidung von Quantitäten angeregt werden. Die Forscher hatten zwei Affen darauf trainiert, einen Hebel zu bewegen, wenn die Anzahl von Punkten auf einem Bild größer war als eine zuvor gezeigte beziehungsweise wenn sie kleiner war als eine zuvor gezeigte. Im präfrontalen Cortex waren jeweils voneinander unterscheidbare Gruppen von Neuronen aktiv, abhängig davon, ob eine gezeigte Anzahl kleiner oder größer war als eine zuvor gezeigte.
Im Dezember 2007 berichteten zwei Forscherinnen der Duke University, dass Rhesusaffen-Weibchen und Studenten einfache Additionsaufgaben vergleichbar zuverlässig lösen können. Den Probanden wurden auf einem Touchscreen Gruppen von Punkten gezeigt, beispielsweise eine halbe Sekunde lang fünf Punkte, nach einer kurzen Pause drei Punkte und nach einer weiteren kurzen Pause zwei Kästchen mit acht beziehungsweise vier Punkten. Wenn das korrekte Kästchen angetippt wurde, gab es für die beiden Testtiere Fruchtsaft als Belohnung, die zwölf Studenten wurden pauschal honoriert. Insgesamt mussten von jedem Teilnehmer 40 derartige Additionsaufgaben gelöst werden. Die Menschen lösten 95 Prozent der Aufgaben, die Affen 75 Prozent. Fehler entstanden am ehesten, wenn die beiden angebotenen Lösungen sehr nah zueinander waren, also zum Beispiel aus elf beziehungsweise zwölf Punkten bestanden.
=== Schimpansen ===
David Premack veröffentlichte 1981 zusammen mit Guy Woodruff in der Zeitschrift Nature eine Studie, die nahelegt, dass Schimpansen mit Bruchteilen von Quantitäten operieren können. Den Testtieren wurde beispielsweise ein halbvolles Glas gezeigt, und sie mussten dann auf ein anderes halbvolles Glas deuten und nicht auf ein zu drei Vierteln gefülltes. Nachdem die Tiere dies gelernt hatten, wurde ihnen ein halbvolles Glas gezeigt, danach aber ein halber Apfel und ein Dreiviertel-Apfel. Obwohl Äpfel und Gläser völlig anders aussehende Gegenstände sind, wiesen die Testtiere auf den halben Apfel; vermenschlichend ausgedrückt könnte man sagen: Die Schimpansen wussten, dass sich ein halber Kuchen zu einem ganzen Kuchen verhält wie das zur Hälfte gefüllte Glas zu einem ganzen Glas. Mit ähnlichem Erfolg konnten sie ein Viertel und drei Viertel unterscheiden. Wurde den Tieren in einem weiteren Experiment ein halbvolles Glas und zugleich ein Viertel-Apfel gezeigt, wurde anschließend häufiger auf einen Dreiviertel-Kreis gedeutet als auf einen ganzen Kreis.1988 wurde die Schimpansin Sheba von Sally Boysen im Ohio State University Chimpanzee Center im Umgang mit Quantitäten und Zahlen trainiert. Sie war das erste Tier, bei dem man das Verständnis der Bedeutung von Null nachweisen konnte. Sie beherrscht die Zahlen bis 8 und hat in diesem Zahlenraum spontan Additionen ausgeführt. Nach Sheba wurden an der Ohio State University auch andere Schimpansen in vergleichbarer Weise mit dem Zählen und dem Benennen von Anzahlen vertraut gemacht. Dies geschah dadurch, dass den Tieren zum Beispiel beigebracht wurde, zunächst eine gewisse Anzahl Orangen einzusammeln und danach auf jene Zahl zu deuten, die der Anzahl an Orangen entsprach – also zum Beispiel nach dem Aufsammeln von vier Orangen auf die Ziffer 4 zu deuten. Sheba ist zudem das einzige bisher bekannte Tier, das Zahlen auch rein symbolisch addieren konnte: Wurde ihr die Ziffer 2 auf einem Bild gezeigt und die Ziffer 4 auf einem anderen, war sie vom ersten Versuch an in der Lage, anschließend auf die Ziffer 6 zu deuten. Anfang 2006 wurde das 1983 von Sally Boysen gegründete Ohio State University Chimpanzee Center aus Geldmangel aufgelöst und die Tiere in einem Primatenzentrum in Texas untergebracht.Am Primate Research Institute der Universität von Kyōto wurden gleichfalls Tests mit mehreren Schimpansen durchgeführt, die vergleichbare Ergebnisse erbrachten: Die Schimpansin „Ayumu“ und fünf weitere Tiere können die auf einem Bildschirm beliebig angeordneten Zahlen von 1 bis 9 aufsteigend und in korrekter Reihenfolge mit dem Finger anzeigen, und eines der Tiere mit Namen „Ai“ kann dies von 0 bis 9.Dieser Erfolg wurde allerdings erst nach jahrelangem Training erzielt. Ai hatte zunächst die Bedeutung der arabischen Ziffer 1 gelernt. Als dann auch die Ziffer 2 eingeführt wurde, stellte sich heraus, dass 2 zunächst von ihr im Sinne von mehr als 1 verwendet wurde. Nachdem sie die arabische Ziffer 2 sicher anwenden konnte, wurde die Ziffer 3 ins Trainingsprogramm aufgenommen: Auch die Zahl 3 wurde von dem Tier zunächst im Sinne von mehr als 2 benutzt. Jede einzelne Zahl bis hin zur 9 musste auf diese Weise in langen Trainingsphasen erlernt werden.
Dieses Lernverhalten ist vergleichbar mit dem etwa 30 Monate alter Menschenkinder. Fünfjährige Kinder hingegen verfügen bereits über ein hinreichend großes Abstraktionsvermögen, das es ihnen ermöglicht, selbst sehr große Zahlen kreativ zu benutzen, die außerhalb ihrer normalen Erfahrungswelt liegen.
== Biologische und soziale Grundlagen beim Menschen ==
Ob sich die Fähigkeit zum Unterscheiden von Quantitäten im Verlauf der Stammesgeschichte mehrfach unabhängig voneinander (also konvergent) entwickelte oder ob bereits die gemeinsamen Vorfahren von Bienen, Vögeln und Menschen hierzu in der Lage waren, ist unbekannt. Auch über das Zahlenverständnis oder gar die mathematischen Fähigkeiten der Vormenschen und der frühen, nicht-schriftlichen Kulturen ist nichts bekannt. Die ersten Nachweise beim Menschen sind der Ishango-Knochen sowie Aufzeichnungen der Sumerer und der alten Ägypter. Sie entwickelten unter anderem Systeme zum Umgang mit großen Zahlen, zum Beispiel für die Vorratswirtschaft.
Als gesichert gilt allerdings, dass die Fähigkeit zum Umgang mit Anzahlen und Zahlen auch beim Menschen auf bestimmten angeborenen Eigenschaften des Gehirns, und u. a. speziell des visuellen Cortex beruht. Sind die hierfür tätigen Bereiche des Gehirns zum Beispiel durch eine Verletzung gestört, kann dies zum Krankheitsbild der Dyskalkulie führen. US-Forscher wiesen einen Zusammenhang zwischen dem Abschätzen von Anzahlen und dem Lösen von Mathematik-Aufgaben bei 5- bis 14-jährigen Kindern nach. Zudem gibt es Hinweise auf den Einfluss der Erbanlagen.
=== Studien an Säuglingen und Kleinkindern ===
Für ein angeborenes Erkennen von Quantitäten auch beim Menschen spricht eine Studie französischer Psychologen an 80 bis zu drei Tage alten Neugeborenen, die kleine von großen Mengen unterscheiden konnten. Von vergleichbaren Befunden berichteten US-amerikanischer Psychologen nach Experimenten mit 48 Kindern, die im Alter von sechs Monaten und erneut im Alter von 3½ Jahren getestet worden waren. Schon die Säuglinge richteten im Wahlversuch ihre Aufmerksamkeit eher auf einen Bildschirm, auf dem die Anzahl aufscheinender Punkte in jeweils unterschiedlicher Anordnung und zudem stetig wechselnd zwischen 10 und 20 lag als auf einen zweiten Bildschirm, auf dem stets genau 10 Punkte in wechselnder Anordnung aufschienen. Zudem zeigten jene Kinder, die im Alter von sechs Monaten besonders auffällig auf den erstgenannten Bildschirm blickten, auch im Alter von 3½ Jahren ein besonders gutes Unterscheidungsvermögen für unterschiedlich große Anzahlen. Für sechs Monate alte Säuglinge ist belegt, dass sie 1:2, jedoch nicht 2:3 Elemente unterscheiden können, 10 Monate alten Säuglingen gelingt es, 8:12 (also 2:3), nicht aber 8:10 (also 4:5) Elemente zu unterscheiden.Vergleichbare Befunde berichteten französische Forscher in einer Studie. Bei 36 drei Monate alten Babys hatten sie die Hirnströme registriert, während den Babys Bilder auf einem Bildschirm dargeboten worden waren. Auf den Bildern waren abwechselnd unterschiedliche Gegenstände abgebildet, auf jedem einzelnen Bild aber jeweils die gleichen Gegenstände und in der Regel eine bestimmte Anzahl davon, also zum Beispiel vier Enten; gelegentlich wurde jedoch eine abweichende Anzahl projiziert. Nachweisbar war auf diese Weise, dass eine Abweichung von der üblichen Anzahl projizierter Gegenstände eine Veränderung der Aktivitäten in einer bestimmten Hirnregion zur Folge hatte, und zwar in einer anderen Region, als dies bei einer Veränderung der abgebildeten Gegenstände unter Beibehaltung von deren Anzahl der Fall war.
Dass die Wahrnehmung von unterschiedlich großen Quantitäten und die Fähigkeit zum Rechnen im Gehirn eng miteinander verbunden sind, legt eine weitere Studie an Säuglingen nahe. Sechs- bis neunmonatigen Babys hatten die Forscher der Ben-Gurion-Universität des Negev auf einem Bildschirm zunächst jeweils mehrfach die gleiche Anzahl von Puppen gezeigt (entweder eine Puppe oder zwei). Danach wurde ihnen jeweils eine Puppe zu viel beziehungsweise zu wenig gezeigt. Diese Abweichung führte dazu, dass die Säuglinge den Bildschirm etwa eine Sekunde länger fixierten als zuvor. Für die Forscher war das ein Hinweis darauf, dass die Säuglinge die unterschiedlichen Anzahlen wahrgenommen hatten. Solche Experimente hatte Michael Posner schon 15 Jahre zuvor mit gleichem Ergebnis durchgeführt, allerdings waren seine Deutungen immer wieder infrage gestellt worden. Daher hatte sein Team diesmal zusätzlich zur Beobachtung der Augen den Säuglingen ein spezielles Messsystem mit 128 Elektroden zur Aufzeichnung der Hirnströme angelegt. Wie die Forscher berichteten, wiesen die Hirnstrommessungen deutliche Parallelen zu Messungen des erwachsenen Gehirns beim Rechnen auf.Auch eine Studie mit Vorschulkindern, die noch keinen Mathematikunterricht gehabt hatten, erbrachte 2011 Hinweise auf eine positive Korrelation zwischen dem korrekten Abschätzen von Anzahlen und weitergehenden mathematischen Fähigkeiten. 2022 wurde ferner bei Vorschulkindern ein Zusammenhang der Fähigkeit zum Zählen mit dem Entwickeln der Fähigkeit zum gerechten Teilen festgestellt. Zudem gibt das Krankheitsbild des Gerstmann-Syndroms Hinweise darauf, dass ein enger neuropsychologischer Zusammenhang zwischen Zahlenverständnis und Schwierigkeiten beim Benennen und Identifizieren der eigenen Finger besteht; möglicherweise begann das Zählen daher – stammesgeschichtlich betrachtet – unter Zuhilfenahme der Finger, was wiederum das verbreitete 10er-System erklären würde.
=== Studien an Erwachsenen ===
Wenn Erwachsene – ohne zu zählen – die Anzahl von Objekten benennen soll, werden Anzahlen größer als 4 zunehmend fehlerhaft erkannt; erstmals wurde dies bereits 1871 in der Fachzeitschrift Nature berichtet. Diese Beobachtungen stehen in Einklang mit frühen schriftlichen Überlieferungen aus der alten griechischen Stadt Karystos sowie der Kreter, Hethiter, Phönizier und aus dem China der Yin-Dynastie, in denen nur die Anzahlen 1 bis 4 durch vertikale (Mittelmeerraum) beziehungsweise horizontale Striche (China) dargestellt, für die Anzahlen 5 und größer jedoch hiervon abweichende Zeichen benutzt wurden.Stanislas Dehaene berichtete 2008 von Untersuchungen bei den Munduruku, einem indigenen Volk im brasilianischen Amazonas-Gebiet. Die Munduruku besuchen keine Schulen und kennen nur Worte für die Zahlen eins bis fünf; größere Quantitäten werden pauschal als „einige“ oder „viele“ bezeichnet. Dehaene bat seine Testpersonen, unterschiedlichen Anzahlen von Punkten – jeweils zwischen 1 und 10 Punkten, in einem zweiten Test zwischen 10 und 100 Punkten – eine Position auf einer Geraden zuzuweisen. Während europäische Testpersonen 5 beziehungsweise 50 Punkte recht genau in der Mitte der Geraden anordnen, wurden die 5 beziehungsweise 50 Punkte von den indigenen Testpersonen stets näher bei 10 beziehungsweise 100 angeordnet. Da eine vergleichbare „Stauchung“ größerer Anzahlen auch bei europäischen Kindern nachgewiesen wurde, schloss Dehaene aus seinen Befunden, dass die ursprüngliche intuitive Zuordnung der Quantitäten logarithmisch ist. Das Konzept der linearen Anordnung bezeichnete er als kulturelle Errungenschaft, die sich in Abwesenheit von formeller Ausbildung nicht entwickelt.Auf kulturelle Einflüsse beim Erkennen und Benennen von großen Anzahlen wies auch eine Studie an Nutzern der nicaraguanischen Gebärdensprache hin. Bei Quantitäten größer als drei wurden diese Personen ungenau und zeigten beispielsweise neun Finger für die Anzahl „10“; Nutzer der American Sign Language wiesen solche Ungenauigkeiten hingegen in der Regel nicht auf. Beide Gruppen leben in einem sozialen Umfeld, in dem der Umgang mit großen Zahlen und Anzahlen üblich ist.
== Ein Sonderfall: die Venusfliegenfalle ==
Die Venusfliegenfalle kann registrieren, wie oft ein Insekt ihre Sinneshaare berührt. Eine einzelne Berührung löst den Fallen-Mechanismus nicht aus, sondern erst eine zweite Berührung. Bei fünf und mehr Berührungen aktiviert die Pflanze zusätzlich in ihren Drüsen die Gene für Verdauungsenzyme.
== Siehe auch ==
Simultanerfassung
Werkzeuggebrauch bei Tieren
Geschichte der Mathematik
== Literatur ==
Brian Butterworth: Can Fish Count? What Animals Reveal about our Uniquely Mathematical Mind. Quercus Publishing, London 2022, ISBN 978-1529411256.
Stanislas Dehaene: Der Zahlensinn oder Warum wir rechnen können. Birkhäuser Verlag, Basel 1999, ISBN 3-7643-5960-9.(Originaltitel: The Number Sense. Oxford University Press, 1997.)
Francesco d'Errico et al.: From number sense to number symbols. An archaeological perspective. In: Philosophical Transactions of the Royal Society B. Band 373, Nr. 1740, 2018, doi:10.1098/rstb.2016.0518.
Hans Joachim Gross: Können Tiere zählen? Die magische Zahl Vier und das angeborene Zahlenverständnis von Mensch und Tier. In: Biologie in unserer Zeit. Bd. 42, Nr. 4, 2012, S. 232–237, doi:10.1002/biuz.201210483.
Michael Groß: Are numbers in our nature? In: Current Biology. Band 30, Nr. 21, 2020, PR1283-R1285, doi:10.1016/j.cub.2020.10.035.
Andreas Nieder: A Brain for Numbers: The Biology of the Number Instinct. The MIT Press, 2019, ISBN 978-0-262-04278-9.
Uta Seibt: Zahlbegriff und Zahlverhalten bei Tieren. Neue Versuche und Deutungen. In: Zeitschrift für Tierpsychologie. Bd. 60, Nr. 4, 1982, S. 325–341, doi:10.1111/j.1439-0310.1982.tb01090.x.
== Weblinks ==
„Zählende“ Tiere. (Papageien, Elstern, Eichhörnchen) Historische Filmdokumentation aus dem Labor von Otto Koehler
Mengenunterscheidung beim Hund Video der BBC
== Belege ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mengenunterscheidung_bei_Tieren
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Oderteich
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= Oderteich =
Der Oderteich ist eine historische Talsperre im Harz. Er liegt nahe dem Braunlager Stadtteil St. Andreasberg im gemeindefreien Gebiet Harz des niedersächsischen Landkreises Goslar und staut das Wasser der Oder auf.
Die Stauanlage des Oderteiches wurde in den Jahren 1715 bis 1722 von Sankt Andreasberger Bergleuten erbaut und wird von den Harzwasserwerken betrieben. Sie gehört seit Juli 2010 gemeinsam mit den anderen Bauwerken des Oberharzer Wasserregals unter der Bezeichnung Bergwerk Rammelsberg, Altstadt von Goslar und Oberharzer Wasserwirtschaft zum UNESCO-Weltkulturerbe.Der Oderteich war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die größte Talsperre Deutschlands.
== Geographische Lage ==
Der Oderteich liegt im Oberharz innerhalb des Nationalparks Harz im Ortsdreieck Braunlage-Sankt Andreasberg-Altenau. Sein Staudamm befindet sich 6,8 km nordwestlich der Kernstadt von Braunlage und 6 km nordnordöstlich vom Braunlager Ortsteil Sankt Andreasberg. Der Stauteich liegt zwischen der Achtermannshöhe (ca. 920 m) im Ostsüdosten, dem Sonnenberg (853,4 m) im Südsüdwesten und dem Bruchberg (ca. 927 m) im Westnordwesten.
Gespeist wird der Oderteich von der von Osten heran fließenden Oder und der unweit davon von Nordnordwesten kommenden Rotenbeek; etwa 350 Bachmeter oberhalb der Einmündung nimmt die Rotenbeek von Westnordwesten den kleinen Bach Sonnenkappe auf. Der Stauteich ist länglich von der Rotenbeek im Norden bis zum Staudamm im Süden gestreckt. Es gibt keine Ortschaften am Teich; aber in seinem Einzugsgebiet liegt 1,2 km östlich vom Stauraum der kleine Braunlager Ortsteil Oderbrück.
Über den Staudamm führt die Bundesstraße 242, die etwa 800 m südöstlich in die Bundesstraße 4 mündet. Etwa 12 km südlich liegt oderabwärts die 1934 fertiggestellte größere Odertalsperre.
== Zweck ==
Der Oderteich wurde errichtet, um über den Rehberger Graben die Wasserräder der Sankt Andreasberger Bergwerke auch in Trockenzeiten zuverlässig mit Aufschlagwasser zu versorgen. Sein Fassungsvermögen reichte aus, um eine Trockenperiode von etwa drei Monaten zu überbrücken. Er ist der größte aller Oberharzer Teiche.
Heute treibt das Wasser des Oderteiches noch mehrere Wasserkraftwerke in Sankt Andreasberg, in der Grube Samson und im Sperrluttertal an.
== Geschichte ==
Im Jahre 1703 wurde der Neue Rehberger Graben fertiggestellt, der Oderwasser nach Sankt Andreasberg leitete. Dies verbesserte deutlich die Aufschlagwasserversorgung der dortigen Bergwerke, doch konnte die Oder nach längerer Trockenheit nicht genügend Wasser liefern. Dies löste Überlegungen aus, die Kraftwasserversorgung durch die Anlage eines Wasserspeichers weiter zu verbessern.Zehn bis 15 Kilometer weiter westlich, im Raum Clausthal-Zellerfeld und Hahnenklee waren zu diesem Zeitpunkt 50 bis 60 kleine Talsperrenbauwerke in Betrieb. Der dortige Baustil ließ sich aber nicht kopieren, da die für die Dichtung des Bauwerkes verwendeten Rasensoden in der Umgebung des Oderteiches nicht zur Verfügung standen.Zwischenzeitlich war man dabei, den nur mit Holzgefludern angelegten Rehberger Graben zu „mauern“, das heißt, die Gefluder durch einen aus Erdbaustoffen und Trockenmauerwerk hergestellten, wesentlich beständigeren Kunstgraben zu ersetzen. Dabei stellte man fest, dass gründlich festgestampfter Granitgrus eine wirksame Dichtung bildet.Der Vizebergmeister Caspar Dannenberger schrieb 1712 zwei Briefe an das Bergamt Clausthal und schlug vor, den Oderteichdamm aus Granitmauerwerk mit einer Granitgrus-Dichtung zu errichten. Dieser Vorschlag wurde umgesetzt. Dannenberger, der geistige Vater des Oderteichdammes, erlebte die Umsetzung nicht mehr; er starb am 23. April 1713.Im August 1714 war die Planung des Projektes beendet. Der Markscheider Bernhard Ripking hatte die erste Bauzeichnung erstellt, nach der Andreas Leopold Hartzig (1685–1761) einen Kostenvoranschlag verfasste. Bereits am 14. September genehmigte König Georg Ludwig durch einen allergnädigsten Spezialbefehl den Bau des Oderteichdammes und stellte die veranschlagten Mittel in Höhe von „3048 Thalern 27 gl“ bereit.Im Frühjahr 1715 begann der Bau. Zunächst wurde ein Gründungsgraben ausgehoben, an dem die Dammdichtung angeschlossen wurde. In kleinen Steinbrüchen im künftigen Stauraum wurden die für das wasser- und luftseitige Mauerwerk erforderlichen Granitsteine und der Granitsand gewonnen. Dadurch konnte der künftige Beckeninhalt zugleich etwas vergrößert werden.Die Arbeiten zogen sich bis 1722 hin. Da Hochwässer während der Bauzeit weder aufgestaut noch über den – relativ klein dimensionierten – Grundablass abgeleitet werden konnten, musste man ständig eine Hochwasserentlastungsanlage (Ausflut) vorhalten, die mit dem Staudamm mitwuchs.Kurz nach Baubeginn wurde erstmals thematisiert, den Damm höher als ursprünglich geplant auszuführen. Letztendlich wurde im Jahr 1717 nach längerer Diskussion genehmigt, den Damm anstelle von sieben geplanten auf insgesamt neun Lachter (knapp 18 Meter) Höhe aufzuschütten. Dadurch vergrößerte sich das Dammschüttvolumen um 55 % und das Stauvolumen verdoppelte sich auf 1,67 Millionen Kubikmeter.Durch die Erhöhung und andere Einflüsse erhöhten sich die Baukosten während der Ausführungszeit erheblich: Letztendlich kostete der Oderteichdamm rund 11.700 Reichstaler, fast das Vierfache der ursprünglich veranschlagten und genehmigten Summe. Das mehrfache Beantragen und Genehmigen der Nachträge wurde aber vom König nicht beanstandet. Die drei verantwortlichen Bergmeister und Grabensteiger wurden 1724 mit Geldprämien zwischen 12 und 100 Talern ausgezeichnet.Der Sankt Andreasberger Bergbau kam im Jahre 1913 zum Erliegen. Fortan nutzte man die Anlagen des Oberharzer Wasserregals zur Stromerzeugung: Das Wasser des Oderteiches fließt weiterhin nach Sankt Andreasberg und wird dort in mehreren Kraftwerken, vor allem in der Grube Samson genutzt. Dies gewährleistet bis heute den wirtschaftlichen Betrieb von Oderteich und Rehberger Graben. Zu den Gefällepächtern gehören heute unter anderem die Unternehmen Harz Energie und Eckold.
Ende der 1920er Jahre planten die Harzwasserwerke eine deutliche Erhöhung des Oderteichdammes. Dabei wurden der Damm und die Geologie der Umgebung gründlich untersucht. Durch Schürfe wurde auch die Dichtung aus Granitgrus freigelegt und man stellte fest, dass diese aufgrund ihrer hohen Festigkeit kaum mit der Kreuzhacke zu bearbeiten war. Diese Planungen wurden später aus unbekannten Gründen nicht weiter verfolgt.
== Konstruktion ==
Der Staudamm des Oderteiches unterscheidet sich erheblich von den sonstigen Staubauwerken des Oberharzer Wasserregals. Das Dammbauwerk ist deutlich höher und das Stauvolumen erreicht knapp das Dreifache der Kubatur der größten Teiche um Clausthal-Zellerfeld und Hahnenklee. Außerdem wurden andere Baustoffe eingesetzt.
=== Staubauwerk ===
Die Talsperre wurde von 1715 bis 1722 errichtet. Sie ist 17,3 Meter über der Gewässersohle und 22 m über der Gründungssohle hoch; vom luftseitigen Dammfuß aus gemessen beträgt die Höhe 19 Meter. Die Krone liegt auf 724,7 m ü. NN Höhe. Das Bauwerk hat unterschiedlichen Angaben zufolge 36.500 bis 42.000 m³ Volumen. Es ist an der Krone 153 m lang und 16,1 m breit; der Fuß hat 34,6 m Basisbreite.
In der Dammmitte befindet sich mit bis zu 11,5 Meter Mächtigkeit die Dammdichtung aus festgestampften Granitgrus. Links und rechts davon wurde normales Dammschüttmaterial eingebracht. Die luft- und wasserseitigen Böschungen bestehen aus einem Zyklopenmauerwerk aus großen Granitsteinen und einer luft- und wasserseitigen Böschungsneigung von 1:0,625.Die Talsperre erweist sich als ein sehr dauerhaftes Bauwerk und befindet sich wie die gesamte Stauanlage praktisch noch im Originalzustand. Grundsätzlich ist es nicht ganz klar, ob es sich beim Oderteichstaubauwerk um einen Staudamm oder um eine Staumauer handelt – wohl eine Kombination von beiden.
=== Grundablass (Striegel) ===
Die Absicht, für den Oderteich besonders beständiges Material zu verwenden, zeigt sich am besten an der Striegelanlage. An der taltiefsten Stelle wurde in den Damm ein Schacht mit einem Querschnitt von etwa 1,10 × 1,20 Metern eingebaut. Dieser Schacht ist mit großen behauenen Granitsteinen eingefasst und reicht bis zur natürlichen Talsohle. Von der Schachtsohle aus führt ein einlaufendes Gerinne von 0,75 Meter Breite und 0,90 Meter Höhe in den Stauraum. Dadurch kommuniziert der Stauraum des Teiches stets mit dem Wasserstand im Schacht. Von der Schachtsohle aus führen zwei Holzgerenne aus Eichenholz mit quadratischen Querschnitten von etwa 25 × 25 Zentimetern zum luftseitigen Dammfuß. Sie haben an der Schachtsohle einen Einlauf von oben, der ähnlich wie mit einem Badewannenstöpsel durch einen Striegelzapfen verschlossen wird. Über ein Gestänge kann dieser Zapfen vom Striegelhaus über dem Schacht aus gezogen oder abgesenkt werden. Das Eichengerenne ist so eingebaut, dass es auch bei geschlossenem Grundablass stets unter Wasser ist und damit kaum verrottet. Die gesamte Grundablasskonstruktion wird Striegel genannt.2016 wurde festgestellt, dass beide Holzgerenne schadhaft sind. Sie wiesen größere Fehlstellen auf; das Wasser hatte sich durch das umgebende Dichtungsmaterial Hohlräume geschaffen, wodurch es in großen Mengen den Weg aus dem Striegelschacht am Verschlussorgan vorbei in die Gerenne fand. In beide Gerenne wurde daher jeweils ein Kunststoffrohr eingeschoben, der verbleibende Zwischenraum sowie die Hohlräume mit einem Tonmehl-Zementgemisch verpresst. Das originale Holzgerenne verblieb damit an seiner Stelle; auch der Striegel als Verschlussorgan erfüllt weiterhin seine ursprüngliche Funktion.
=== Die Große Ausflut ===
Jede Talsperre benötigt eine Hochwasserentlastungsanlage, damit auch außergewöhnlich große Hochwässer nicht zum Überströmen der Dammkrone führen. Beim Oderteich befindet sie sich am östlichen Dammende.
Im Stauraum vor der Ausflut fallen einige hinkelsteinähnliche, etwa 2,50 Meter hohe Stelen aus Granit auf. Sie dienen dazu, Eisschollen vom Überlauf fernzuhalten, da diese den Ablaufquerschnitt verklausen könnten. Die Schützanlage der alten Ausflut wurde 1895 von der Königlichen Centralschmiede Clausthal gefertigt. Sie ermöglicht es, das Stauziel noch einmal um einen Meter zu erhöhen.
Ursprünglich führte die Ausflut noch fast 100 Meter weiter geradeaus in Richtung Süden, ehe das Wasser zu Tal stürzen konnte. Diese Trasse ist für das geübte Auge im Gelände noch erkennbar. Als gegen Ende der Bauarbeiten 1722 noch Steine zur Fertigstellung der Staumauer fehlten, sprengte man etwa 60 Meter unterhalb der Schützanlage im rechten Winkel zu dieser Ausflut die steil abfallende und etwa 80 Meter lange Große Ausflut aus dem Fels, mit der man sich wohl eine günstigere hydraulische Leistungsfähigkeit erhoffte. Die in den Fels gehauene Schussstrecke ist insbesondere bei Betrieb sehr beeindruckend.
Die Ausflut war anfangs nicht ausreichend dimensioniert. Im Dezember 1760 wurde bei einem außergewöhnlichen Hochwasser der Staudamm überströmt. Durch die stabile Dammkonstruktion traten nur geringe Schäden ein. Man reagierte mit einer Dammerhöhung um einen Meter, die wahrscheinlich lediglich die bis dahin eingetretene Dammsetzung ausgeglichen hat.1886/87 kam man zu dem Schluss, dass die Leistungsfähigkeit der Ausflut weiter erhöht werden musste. Hierzu wurde wenige Meter östlich der vorhandenen Ausflut eine weitere, am Einlauf zwölf Meter breite Ausflut gebaut, deren Überlaufschwelle etwa einen Meter über der Schwelle der alten Hauptausflut liegt. Sie unterquert parallel zur Hauptausflut die B 242 und wird kurz vor dem Überlaufpegel und der anschließenden Schussrinne mit dieser zusammengeführt. Dadurch konnte die Leistungsfähigkeit der Hochwasserentlastungsanlage um etwa 50 % erhöht werden.
== Stauraum ==
Der Oderteich hat eine Fläche von 30 ha. Sein Stauraum (Speicherraum) ist 1,668 Millionen m³ und sein Gesamtstauraum 1,83 Mio. m³ groß. Das Stauziel liegt auf 723,35 m ü. NN Höhe. Sein Einzugsgebiet ist 12,2 km² groß. Das Bemessungshochwasser liegt bei 31 m³/s
Der Ausbaugrad des Oderteiches ist sehr gering: Sein Stauraum kann nur 14 % des Jahresdurchflusses speichern. Dies erklärt die hohen Wasserspiegelschwankungen. Der Teich kann sich bei weitgehend leerem Stauraum innerhalb weniger Stunden bis zum Überlauf füllen und läuft in der Regel mehrmals im Jahr über.
Im Oderteich gibt es keine Fische. Vermutlich bietet ihnen das relativ saure Milieu des Wassers keinen Lebensraum. Das Wasser kommt zu einem großen Teil aus Hochmoorgebieten und hat einen hohen Huminsäureanteil. Dies setzt die Oberflächenspannung herab und verursacht die braune Färbung des Wassers sowie auffällige Schaumkronen im Zu- und Ablauf.
== Stromerzeugung ==
Für die Stromerzeugung werden vom Oderteich stets 200 bis 300 Liter Wasser pro Sekunde in den Rehberger Graben abgegeben. Sobald der Zufluss geringer als die Abgabe ist, sinkt der Wasserstand im Teich. Bei anhaltender Trockenheit über mehrere Monate kann der Teich auch ganz leerfallen. Dies kommt etwa alle fünf bis zehn Jahre vor, zuletzt geschah es in den Jahren 1999, 2003 und 2018.
== Größte Talsperre ==
Der Oderteich wird oft als älteste Talsperre Deutschlands bezeichnet. Dies ist aber nicht korrekt, da es bereits im Mittelalter im Erzgebirge und im Oberharz eine Vielzahl von Staubauwerken gab, die nach der Talsperrendefinition als Talsperren einzuordnen sind. Allerdings war er von seiner Fertigstellung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts über einen Zeitraum von 170 Jahren die größte Talsperre Deutschlands. Bezüglich der Stauhöhe wurde er 1891 durch die Eschbachtalsperre im Bergischen Land übertroffen, die eine 23 m hohe Staumauer aufwies. In Hinblick auf das Stauvolumen wurde der Oderteich erst 1899 durch die Lingesetalsperre mit einem Stauvolumen von 2,6 Millionen Kubikmetern abgelöst.
== Touristische Erschließung ==
Badebetrieb ist im südlichen Drittel des Oderteichs, also in Dammnähe, erlaubt. Der nördliche Bereich wird im Sommer durch eine Schwimmerkette abgegrenzt und soll ausschließlich der Natur überlassen werden. Es gibt einen etwa 4,5 Kilometer langen Rundwanderweg um den Teich, der streckenweise als Bohlensteg durch hochmoorähnliche Flächen führt. Der im Norden in den Oderteich mündende Bach Rotenbeek (Sonnenkappe) ist als Nr. 217 in das System der Stempelstellen der Harzer Wandernadel einbezogen; die Stempelstelle befindet sich an dessen Westufer – nahe der Bachmündung in das Staubecken.
Eissportliche Nutzungen im Winter sind nicht zu empfehlen, da der stark wechselnde Wasserstand die Bildung einer stabilen Eisdecke insbesondere im Uferbereich erheblich erschwert.Von den Betreibern des Oderteiches, den Harzwasserwerken, wurde Mitte der 1990er Jahre ein Informations-„WasserWanderWeg“ angelegt. Dieser führt über die Dammkrone zu den beiden Ausfluten, weist auf die beiden zusätzlichen Sammelgräben hin und geht über den Überlaufpegel entlang der großen Ausflut und deren Schussrinne hinunter zum luftseitigen Dammfuß. Von dort aus hat man einen Blick auf das luftseitige Mauerwerk des Staudammes und kann den Auslass des Grundablasses sowie den Beginn des Rehberger Grabens betrachten. Informationstafeln entlang dieses Weges erläutern die verschiedenen Bauwerke.
== Sonstiges ==
Die Dammansicht wird durch die auf der Krone verlaufende B 242 geprägt, was als wenig denkmalgerecht angesehen wird. Bemühungen seitens des Nationalparks und der Denkmalschutzbehörden, die Straße gefälliger zu gestalten, scheiterten regelmäßig an dem Sicherheitsverständnis der für die Straße zuständigen Behörden. Insbesondere ein Ersatz der Leitplanken durch andere Konstruktionen konnte aus diesen Gründen bisher nicht umgesetzt werden.
Bei abgesenktem Wasserstand werden gut einige Stellen der Materialentnahme für den Bau erkennbar. Das Ostufer ist im nördlichen, unbeeinflussten Bereich mit großen Granitsteinen übersät. Dagegen befinden sich in Dammnähe fast strandähnliche Zustände: In diesem Bereich wurden die Granitsteine alle entnommen, um sie im Mauerwerk oder als Dammschüttmaterial zu verwerten. Auch am Westufer sind ähnliche Verhältnisse erkennbar, bei sehr leerem Teich kann man noch Reste eines Steinbruches erahnen.
Bis in die 1960er Jahre stand am westlichen Dammende das zuletzt auch als Gaststätte genutzte Teichwärterhaus. Nachdem die ständige Anwesenheit des Teichwärters als nicht mehr erforderlich angesehen wurde, wurde es abgerissen. Die Grundmauern des Gebäudes kann man in der Ecke luftseitig der Bundesstraße noch schwach erkennen. Eine Ende der 1940er Jahre errichtete Skihütte des MTV Goslar wird auch als Selbstversorger-Gruppenquartier benutzt.
Bei vollkommener Entleerung des Oderteiches sind im Stauraum zirka 200 Meter oberhalb des Hauptdammes die Reste eines Notdammes zu erkennen. Dieser wurde 1898 angelegt, um während einer Striegelreparatur den Wasserzufluss in den Grundablass reduzieren zu können. Der Notdamm soll beim Abschluss der Reparatur gebrochen sein.
Etwa zehn Kilometer flussabwärts südlich des Oderteiches wurde im Jahre 1934 die Odertalsperre fertiggestellt, die gelegentlich mit dem Oderteich verwechselt wird. Abgesehen von der Namensähnlichkeit und der Tatsache, dass beide Talsperrenbauwerke denselben Fluss aufstauen, gibt es aber keine Parallelen.
== Trivia ==
Im Winter 1928/29 landete der Flugpionier Walter Spengler auf dem zugefrorenen Oderteich.
== Siehe auch ==
Talsperren im Harz
Liste von Talsperren in Deutschland
Liste von Seen in Niedersachsen
Bergwerk Rammelsberg, Altstadt von Goslar und Oberharzer Wasserwirtschaft
== Literatur ==
Peter Franke, Wolfgang Frey: Talsperren in der Bundesrepublik Deutschland. Systemdruck, Berlin 1987, ISBN 3-926520-00-0.
Hugo Haase: Kunstbauten alter Wasserwirtschaft im Oberharz. Hanggräben, Teiche, Stollen in Landschaft, Wirtschaft und Geschichte. Bearbeitet und erweitert von Wolfgang Lampe. 5. Auflage. Pieper, Clausthal-Zellerfeld 1985, ISBN 3-923605-42-0.
Markus Liebermann, Wilfried Ließmann, Andreas Rutsch: 300 Jahre Neuer Rehberger Graben. Jubiläumsfestschrift 300 Jahre Rehberger Graben. (= Beiträge zur Bergbaugeschichte von Sankt Andreasberg. Band 3). Selbstverlag, Sankt Andreasberg 2003.
Martin Schmidt: Das Kulturdenkmal Oberharzer Wasserregal (Memento vom 19. Juli 2011 im Internet Archive), abgerufen am 3. Mai 2016, auf archive.org, Stand Juli 2010, aus harzwasserwerke.de (PDF; 1,74 MB)
Martin Schmidt: Die Wasserwirtschaft des Oberharzer Bergbaus (= Schriftenreihe der Frontinus-Gesellschaft. Heft 13). 3. ergänzte Auflage. Harzwasserwerke, Hildesheim 2002, ISBN 3-00-009609-4, S. 380.
== Weblinks ==
UNESCO-Welterbe im Harz → Die Welterbe-Route im Harz
Querschnitt durch den Damm des Oderteiches (Grafik), in Wasserwirtschaft, auf lehrbergwerk.de
Der Oderteich, auf harzlife.de
UNESCO-Welterbe Oberharzer Wasserwirtschaft – Das Oberharzer Wasserregal (Faltblatt mit Übersichtskarte aller aktiven Anlagen), auf harzwasserwerke.de (PDF; 525 kB)
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Oderteich
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Orgellandschaft Ostfriesland
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= Orgellandschaft Ostfriesland =
Die Orgellandschaft Ostfriesland ist mit mehr als 90 bedeutenden Orgeln aus sechs Jahrhunderten eine der reichsten Orgellandschaften der Welt. Der Begriff Orgellandschaft allein nimmt Bezug auf die historisch bedingten regionalen Eigenheiten der Orgeln. 60 der ostfriesischen Orgeln stammen aus der Zeit vor 1850. Hinzu kommen 15 historische Prospekte, hinter denen neue Werke eingebaut sind. Während im 15. und 16. Jahrhundert der niederländische Orgelbau für Ostfriesland prägend war, traten im 17. und 18. Jahrhundert Einflüsse aus Hamburg und Westfalen hinzu. Der ostfriesische Orgelbau im 19. Jahrhundert war bis etwa 1870 konservativ ausgerichtet und schuf Instrumente nach barocken Bauprinzipien. Da zwischen 1870 und 1950 verhältnismäßig wenig neue Orgelwerke gebaut wurden, blieben viele historische Instrumente erhalten. Fast alle Originalinstrumente wurden in den letzten 50 Jahren in vorbildlicher Weise restauriert, sodass sie in der Klanggestalt wieder ihrem Ursprung nahekommen und weltweit Impulse für Restaurierungspraxis und Orgelbau gegeben haben. In den vergangenen Jahrzehnten wurde in zunehmendem Maß der Wert dieser Instrumente ins öffentliche Bewusstsein gerufen und die Orgellandschaft Ostfriesland Orgelbauern und Organisten aus aller Welt, aber auch einem breiten Publikum erschlossen.
== Geografische Verbreitung ==
In der Karte sind alle erhaltenen bedeutenden Orgeln Ostfrieslands eingetragen. Durch die Darstellung wird die hohe Dichte an historischen Werken illustriert, die in der Krummhörn eine besondere Konzentration aufweist. Die Farbe zeigt das Jahrhundert an, in dem das Instrument errichtet wurde, sofern der Grundbestand noch im Wesentlichen erhalten ist. Ist nur noch der Prospekt original, wird dies durch einen Ring dargestellt. Die Form des Zeichens gibt den Bedeutungsgrad an. Die Kategorien für die Einordnung sind dem grundlegenden Werk von Harald Vogel: Orgellandschaft Ostfriesland entnommen.
Unter Siehe auch finden sich Listen, die für jeden der Landkreise Ostfrieslands vollständige Übersichten aller Orgeln mit weiteren Informationen bieten.
== Geschichte ==
=== Gotik ===
Als im Laufe der Gotik die Orgel zum Hauptinstrument in der christlichen Liturgie aufstieg, hielten Orgeln in vielen Kirchen Einzug. Schon für die spätgotische Zeit ist in Ostfriesland eine blühende Orgelkultur dokumentiert, die vor allem durch die Niederlande geprägt war, wo im 15. bis 17. Jahrhundert ein Zentrum des nordeuropäischen Orgelbaus lag. So sind allein in der Krummhörn zehn Orgelwerke aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nachweisbar, als Ostfriesland unter Ulrich I. eine Blütezeit erfuhr. Zu diesen ersten Orgeln zählt das Werk von Meister Thidricus de Dominis, das die Marienkirche in Marienhafe 1437 erhielt. Im Jahr 1480 erbaute Meister Hinrick für Emden ein Orgelwerk. Um 1500 besaßen bereits viele ostfriesische Klöster und Kirchen eine Orgel. Diese gotischen Instrumente waren sogenannte Blockwerke, bei denen die einzelnen Pfeifenreihen noch nicht separat bedient werden konnten, sondern immer das volle Werk erklang. Die Pfeifen wurden in der Regel aus gehämmertem Blei gefertigt und die Labien weisen die charakteristischen gotischen Spitzbögen auf. In der Regel wurden die Instrumente bis ins 17. Jahrhundert hinein mit reich bemalten Flügeltüren versehen. Diese verschließbaren Türen wurden aus künstlerischen, klanglichen und liturgischen, aber auch aus praktischen Gründen angebracht, um die Orgel vor Vogelkot und sonstigen Verschmutzungen zu schützen.
Eine dieser weltweit ältesten, noch in ihrem Grundbestand erhaltenen und bis heute spielbaren Orgeln steht in Rysum. Das Instrument wurde wahrscheinlich um das Jahr 1440 von Meister Harmannus aus Groningen gebaut, der auch mit der Orgel der Groninger Martinikerk (um 1450) in Verbindung gebracht wird. Die Rysumer bezahlten in Naturalien und baten den lokalen Häuptling Olde Imell schriftlich um Erlaubnis.
Ursprünglich ist dieses Instrument wahrscheinlich ein Blockwerk mit einem Tonumfang H–f2 für die mittlere bis hohe Tonlage (den Diskant) mit einem Basswerk gewesen, dessen Pfeifen im Prospekt mit den originalen Mensuren erhalten geblieben sind. Ein Hebel beim Spieltisch für diesen Prästanten zeugt noch von der Transformation des Blockwerks in ein Orgelwerk mit Schleifladen. Wahrscheinlich ist dieser Umbau ins Jahr 1513 zu datieren, denn die in die Empore eingefügte Organistenkanzel trägt diese Jahreszahl. Die Prinzipalregister aus gehämmertem Metall sind stärkstens bleihaltig und klingen ungewöhnlich dunkel und intensiv. Eindrucksvoll ist das Zusammenspiel von Orgel und Glocke, wie Harald Vogel es anhand der Redeuntes-Kompositionen aus dem Buxheimer Orgelbuch demonstriert hat. Bis dahin waren die langen orgelpunktartigen Haltetöne im Bass liturgisch nicht zu deuten. Durch den Einsatz der Glocke, die in Rysum mit der Tonhöhe der Orgel übereinstimmt, konnten diese Kompositionen musikalisch neu erschlossen werden. Das Gehäuse der Rysumer Orgel zeichnet sich durch kräftige Stollenprofile aus, wie es ganz ähnlich beim gotischen Untergehäuse in Westerhusen zu sehen ist. Die Pfeifenfelder mit ihren Schleierbrettern, den auslaufenden Spitzbögen und (rekonstruierten) bekrönenden Fialen weisen typisch spätgotische Kennzeichen auf.
=== Spätrenaissance und Frühbarock ===
Im 16. und 17. Jahrhundert stand Ostfriesland unter dem Einfluss der niederländischen und hamburgischen Orgelkultur. Emden war im 16. Jahrhundert das Zentrum des ostfriesischen Orgelbaus. Petrus von Emden baute 1520 eine Orgel für Groothusen. Von Johannes Emedensis („von Emden“) ist bezeugt, dass er 1531 eine Orgel für Uphusen baute, von der noch die späteren Flügeltüren (1571) und Gehäusefüllungen erhalten sind. Der kunstvolle Prospekt seiner Orgel (1526) im niederländischen Scheemda mit seinen ziselierten Pfeifen befindet sich heute im Rijksmuseum Amsterdam. Religionsflüchtlinge reformierten Glaubens, die im Zuge des Achtzigjährigen Krieges aus den Niederlanden flohen und in Emden Aufnahme fanden, prägten im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert auch den Orgelbau in Ostfriesland. Vom äußeren Aufbau her sind der zentrale polygonale Bassturm und zwei seitliche Spitztürme für die Pfeifen in Tenorlage kennzeichnend. Die hohen (und entsprechend kurzen) Pfeifen im Diskant sind dazwischen in zwei Flachfeldern angeordnet, die nicht selten doppelgeschossig angelegt sind. Wesentliches verdankt der Hamburger Prospekt diesem niederländischen Einfluss. Der ursprüngliche Umfang der Klaviaturen bei Instrumenten aus der Renaissance von FGA–g2a2 wurde im Laufe der Jahrhunderte auf den modernen Umfang ab C ausgeweitet. Kennzeichnend für den Renaissancestil sind zudem die Art des Schleierwerks über den Prospektpfeifen, die Bekrönungen auf den Pfeifentürmen und die durchlaufenden Spruchbänder. Hervorzuheben ist, dass bei vielen ostfriesischen Orgeln des 17. Jahrhunderts Pfeifenmaterial aus den Vorgängerinstrumenten des 16. Jahrhunderts wiederverwendet wurde. Mit dem aufkommenden Zeitalter des Barock wichen die Flügeltüren seitlichen Ohren aus Schleierwerk.
Die Orgel der Großen Kirche in Leer geht auf die Orgel aus dem Kloster Thedinga zurück, die wahrscheinlich der deutsch-niederländische Orgelbauer Andreas de Mare um 1570 gebaut hatte. Als Graf Enno III. im Jahr 1609 der reformierten Kirchengemeinde in Leer diese Orgel schenkte, baute Marten de Mare sie in ein Renaissanceinstrument für die alte Liudgeri-Kirche um. 1787 wurde die Orgel in die Große Kirche überführt und erfuhr im Laufe der Jahrhunderte mehrere Erweiterungen zu einer großen Stadtorgel, wobei der jeweilige Grundbestand im Wesentlichen erhalten blieb. Das innere Tragwerk des Hauptwerks stammt wahrscheinlich noch aus der de-Mare-Orgel, deren Proportionen sich noch im Prospekt widerspiegeln.Der niederländische Orgelbauer Johannes Millensis baute die Orgel in Larrelt in den Jahren 1618 bis 1619 unter Verwendung älterer Register aus dem 16. Jahrhundert. In den Jahren 1848 bis 1855 wurde das Werk von Gerd Sieben Janssen eingreifend umgebaut, wobei etwa die Hälfte der alten Register wiederverwendet wurden. Die Orgel spiegelt den frühen niederländischen Einfluss auf den Orgelbau in Ostfriesland wider und gilt mit ihren alten Bleipfeifen zur Darstellung der vokal beeinflussten Polyphonie der Renaissance als besonders geeignet.
Die kostbare Spätrenaissance-Orgel in Osteel, die eine der besterhaltenen Renaissanceorgeln Norddeutschlands ist, stammt ebenfalls von einem deutsch-niederländischen Orgelbauer: Edo Evers aus Groningen. Evers verwendete für sein Werk aus dem Jahr 1619 Pfeifen und Teile des Gehäuses aus der alten Andreas-de-Mare-Orgel (1566–67) der Ludgerikirche in Norden. Charakteristisch sind die reichen Verzierungen auf der jeweils mittleren Prospektpfeife in jedem Turm. Die Einzelregister zeichnen sich durch klangliche Eleganz und hohe vokale Qualität aus. Da sie auch in den verschiedenen Kombinationen ihre große Transparenz bewahren, sind sie insbesondere für die Aufführung der polyphonen Renaissancemusik einsetzbar.Wesentlich für die weitere Entwicklung des Orgelbaus war, dass in Ostfriesland ab dem Jahr 1640 im Gottesdienst die Orgelbegleitung für den Gemeindegesang eingeführt wurde. Vorher sang die Gemeinde unbegleitet, die Orgel hatte nur liturgische Funktion. Sie spielte in größeren Kirchen im Wechsel mit dem Chor oder übernahm einzelne Orgelverse, also Bearbeitungen von Motetten, Chorälen oder Psalmen. Zum ersten Mal wird 1640 in Emden von dem Versuch berichtet, die Orgel zum bevorstehenden Weihnachtsfest gemeinsam mit der Gemeinde erklingen zu lassen, nachdem vonseiten der Gemeinde der Antrag
Nach derartig zögerlichen Anfängen setzte sich die Orgel schnell in ihrer neuen Funktion zur Gesangsbegleitung durch, was aber eine neue Klangkonzeption erforderlich machte.
Mit ihren trotz beschränkter Disposition kräftigen Klängen wurde die Orgel in Westerhusen von Jost Sieburg (1642–43) speziell für einen starken Gemeindegesang konzipiert. Zu diesem Zweck wurde ein Großteil der Register aus der gotischen Vorgängerorgel (um 1500) hinter einem Hamburger Prospekt umgearbeitet. Die weiten, stark bleihaltigen gotischen Prinzipalregister wurden aufgeschnitten und in engerer Mensur wieder zugelötet. Das hatte verhältnismäßig breite Labien zur Folge. Kräftig und obertonreich erklingt der Vier-Fuß-Prinzipal im Prospekt. Die farbige und obertonreiche Trompete mit den offenen Kehlen und kurzen Bechern ist typisch für die Bauweise der Renaissance. Neben der Uttumer Orgel gilt sie als eines der ältesten Trompetenregister überhaupt. Die Mixtur verleiht dem Plenum einen brillanten Klang, der durch die terzenreine Stimmung noch gefördert wird. Aufgrund ihrer hochliegenden Chöre und eng mensurierten Pfeifen ist die Mixtur für die homophone Begleitung des Gemeindegesangs entworfen.
Die Orgel in Uttum wurde um 1660 von einem unbekannten Meister erbaut und ist ein klingendes Zeugnis für die Blüte des niederländischen Orgelbaus der Renaissance. Es wird vermutet, dass die Brüder Cornelius und Michael Slegel aus Zwolle die Erbauer waren. Der Aufbau des Gehäuses mit dem trapezförmigen Mittelturm und den beiden nebeneinander stehenden Basspfeifen in der Mitte ist typisch für den Groninger Orgelstil des 17. Jahrhunderts. Verwendet wurde Pfeifenmaterial entweder aus der Vorgängerorgel oder aus einer Orgel einer aufgegebenen Klosterkirche. Nach einer alten Tradition soll es sich um das Kloster Sielmönken handeln. Das Pfeifenwerk mit seinen singenden, vokalen Prinzipalen und den anderen farbigen Registern, die unterschiedliche Instrumentenfamilien imitieren, ist nahezu komplett original, einschließlich des Trompetenregisters, das neben der Westerhuser Orgel als eines der ältesten der Welt gilt.
=== Barock ===
Nachdem sich Ostfriesland von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges erholt hatte, setzte gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine rege Orgelbautätigkeit ein, die durch die Weihnachtsflut 1717 ein abruptes Ende fand. Ab dem 18. Jahrhundert schwand allmählich der starke niederländische Einfluss auf den Orgelbau in Ostfriesland. Zum einen wirkte die Schnitgerschule fort, zum anderen erlangten ostfriesische Orgelbauer größere Selbstständigkeit.
==== Arp Schnitger ====
Auch Arp Schnitger aus Hamburg, mit dem der barocke Orgelbau in Nordeuropa seinen Höhepunkt erreichte, hat die Orgelkultur Ostfrieslands mit geprägt. Schnitger vollendete das Werkprinzip mit baulich und klanglich voneinander unabhängigen Werken (Hauptwerk, in verkleinerter Form als Rückpositiv in der Emporenbrüstung, Pedal in separaten seitlichen Pedaltürmen, bei größeren Orgeln zudem Brustwerk und Oberwerk). Gegenüber den recht milden Aliquotregistern in den Werken der Spätrenaissance schuf Schnitger Orgeln mit einem brillanten Plenum und einem reichen Bestand an Zungenregistern. Andere gemischte Stimmen wie Rauschpfeife, Sesquialtera und Scharf ermöglichen eine Vielzahl an unterschiedlichen Plenumklängen. Ab etwa 1687 setzte Schnitger zunehmend homophone Mixturen mit mehrfach besetzten Chören und hoch liegenden Repetitionen ein. Das selbstständige Pedalwerk mit langbechrigen Zungen verlieh der Begleitung des Gemeindegesangs ein tragendes Fundament.
In der Norder Ludgeri-Kirche (1686–88/1691–92) steht nach der Orgel in der Hamburger Jacobikirche Schnitgers zweitgrößtes erhaltenes Werk in Deutschland. Mit 46 Registern und fünf Werken auf drei Manualklaviaturen und Pedal ist es das zweitgrößte Orgelwerk Ostfrieslands. Die Orgel in Norden ist historisch und musikalisch ein Kunstwerk von internationalem Rang. Acht Register, die Schnitger von der Vorgängerorgel (Edo Evers, 1618) übernommen hat, sind noch erhalten und von besonderer Qualität. Über den Kontrakt hinaus fügte Schnitger ein Brustwerk mit sechs Stimmen und in einem zweiten Bauabschnitt (1691–92) noch ein Oberpositiv mit acht Stimmen hinzu, das an die Traktur des Brustwerks angehängt war und daher ebenfalls vom dritten Manual angespielt wird. Architektonisch genial ist die Konstruktion eines einzigen Pedalturms um den südöstlichen Vierungspfeiler mit Klangrichtung ins Hauptschiff, um den schwierigen akustischen Verhältnissen gerecht zu werden. Durch die Restaurierung durch Jürgen Ahrend (1981–85) wurde das alte Klangbild wieder konsequent hergestellt. Insbesondere seine Rekonstruktion der Prinzipale und Zungenregister gilt als meisterhaft. Die modifizierte mitteltönige Stimmung, die das pythagoreische Komma fünfteilt (statt das syntonische Komma vierzuteilen) und als Norder Stimmung bezeichnet wird, führt zu einer großen Klangreinheit und ist seitdem auch bei anderen Restaurierungen und Neubauten angelegt worden.
Aufgrund zahlreicher Umbauten erklingen in der Orgel in Weener (1709–10) nur noch sechs Register von Schnitger. Seine heutige Gestalt erfuhr das Instrument im Jahr 1782, als Johann Friedrich Wenthin die Orgel auf eine neue Empore vor dem Chorraum setzte und seitlich Pedaltürme ergänzte. Die Orgel in Weener ist das letzte Beispiel für frei stehende Pedaltürme. Ungewöhnlich ist das äußere Erscheinungsbild durch die strenge schnitgersche Formgebung in den beiden Manualwerken einerseits und die geschwungenen Pedaltürme und die zeitgleich entstandene Emporenbrüstung im Rokokostil andererseits. In der Lutherkirche Leer und in Wittmund, St. Nicolai, wurden Schnitgers zweimanualige Orgeln aufgrund des sich ändernden Zeitgeschmacks gegen Ende des 18. Jahrhunderts vollständig durch Neubauten von Hinrich Just Müller ersetzt.
==== Schnitger-Schule ====
Zeitgleich baute der in Aurich geborene Schnitger-Schüler Gerhard von Holy die Instrumente in Dornum und in Marienhafe. Die Dornumer Orgel (1710–11) ist eine der größten Dorforgeln im norddeutschen Raum und die drittgrößte historische Orgel in Ostfriesland. Von besonderer Klangcharakteristik sind die vier originalen Holzflöten, aber auch die reichen Möglichkeiten für Plenum-Registrierungen. Die Orgel in Marienhafe (1711–13) ist die am besten und vollständigsten erhaltene Barockorgel Ostfrieslands. Sogar die Prinzipale im Prospekt, alle Aliquotregister und die Mixturen blieben über die Jahrhunderte unversehrt. Weitgehend unangetastet blieb auch die ursprüngliche Intonation. Ins Auge fallen die reichen Schnitzereien. Da das Instrument in baulicher und klanglicher Hinsicht ganz in der Tradition der Schnitger-Schule steht, wurde es lange für ein Werk von Arp Schnitger gehalten. Die farbigen Flötenstimmen weisen aber bereits auf die Klangästhetik des 18. Jahrhunderts. Die große Anzahl von möglichen Plenum-Registrierungen erklärt sich wie bei der Norder Schnitger-Orgel dadurch, dass das Instrument für die Begleitung des Gemeindegesangs konzipiert ist. Hierzu dient auch der flexible Wind der originalen Windanlage. Ab 1723 wirkte von Holy in Westfalen.
Albertus Antonius Hinsz heiratete die Witwe von Franz Caspar Schnitger und übernahm die Schnitgerwerkstatt in Groningen. Das einzige größere Orgelprojekt, das Hinsz außerhalb der Niederlande durchführte, war der Erweiterungsumbau in der Großen Kirche Leer (1763–66), der einem Neubau gleichkam. Sein Kostenanschlag für den Orgelneubau in der Großen Kirche in Emden (1747) wurde nicht angenommen. Auch Matthias Amoor aus Groningen ist mehrfach mit Arbeiten in Ostfriesland nachweisbar. So ersetzte er die gotischen Flügeltüren der Rysumer Orgel durch Ohren aus Schnitzwerk und verlieh dem Instrument auf diese Weise eine barocke Gestalt.
==== Eigenständige ostfriesische Orgelbauer ====
Joachim Richborn, der bedeutendste Hamburger Orgelbauer aus der Zeit Schnitgers, dessen Arbeitsfeld sich bis nach Skandinavien erstreckte, hat Orgeln in Berdum (1677) und Buttforde (1681) gebaut. Die Orgel in Buttforde ist fast vollständig unversehrt und gehört zu den wertvollsten Orgeln der Region. Wegen der nötigen Höhe für den Principal 8′ musste über der Orgel eine Aussparung in der zu niedrigen Holzdecke angebracht werden, damit das Instrument auf dem Lettner stehen konnte. Hier liegt der seltene Fall vor, dass sogar die originale Intonation mit ihrer vokalen Klangfärbung weitgehend erhalten ist und kaum Kernstiche aufweist. Insbesondere beim Principal im Prospekt ist dieser unveränderte Originalzustand für das 17. Jahrhundert nahezu ohne Parallele.Ähnliches gilt für das Meisterwerk in Pilsum (1694), das vom Auricher Orgelbauer Valentin Ulrich Grotian stammt. Grotians Pfeifen weisen einen höheren Bleianteil auf und sind weniger fein gearbeitet als bei Schnitger. Im Oberwerk findet sich neben dem Prinzipalchor ein eigenständiger Flötenchor. Die seitlichen Blindflügel erfüllen eine dekorative Funktion und enthalten stumme Pfeifen. Weitere Werke von Grotian finden sich in Petkum (1694–99), Bensersiel (1696) und Stedesdorf (1696). Lediglich in Ostfriesland und im Jeverland konnten sich Grotian und Joachim Kayser eine gewisse Zeit durch eigenständige Werke neben ihrem Zeitgenossen Arp Schnitger profilieren. Schnitger war bemüht, im nordwestdeutschen Küstengebiet seine Orgelbau-Privilegien auszudehnen, und duldete keine Konkurrenz neben sich. Von Joachim Kayser (Jever), der verschiedene Orgeln in Ostfriesland neu baute, umbaute oder reparierte, sind nur noch in Eilsum (1710) der Prospekt und das Gehäuse erhalten.
Von seinen zwölf Orgelneubauten ist von Johann Friedrich Constabel aus Wittmund, der auch im angrenzenden Jeverland tätig war, nur ein einziges Instrument erhalten. Ursprünglich für Bargebur im Jahr 1738 gebaut, stand es 1864–1967 in Hamswehrum, um anschließend zum heutigen Standort in Jennelt überführt zu werden. Seine Orgel in Greetsiel (1738) fiel 1914 einem Neubau zum Opfer, sodass nur noch das originale Gehäuse erhalten ist. Im Jahr 1760 begann Constabel noch mit einem Neubau in Funnix; er wurde aber 1762 von Hinrich Just Müller, der Constabels Werkstatt fortführte, vollendet.
=== Spätbarock und Frühklassizismus ===
Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebte die Region wieder eine wirtschaftliche Blütezeit, die auch zugereisten Orgelbauern ein großes Wirkungsfeld ermöglichte. Selbst verhältnismäßig kleine Dorfkirchen legten sich teils repräsentative Orgeln zu.
Verschiedentlich ist im Laufe des 18. Jahrhunderts ein westfälischer Einfluss auf den ostfriesischen Orgelbau auszumachen, wodurch der Baustil Schnitgers schließlich ganz verdrängt wurde. Äußerlich ist dieser neue Stileinfluss durch viele kleine Pfeifenfelder erkennbar, die um den großen Mittelturm seitlich immer weiter abgestuft sind. Gegenüber dem fünfteiligen Prospektaufbau Schnitgers, der in der Regel von einer kurzen Oktave ausgeht und demzufolge weniger Basspfeifen benötigt, entspricht die westfälische Gestaltung den Erfordernissen der voll ausgebauten Bassoktave. Durch reichhaltiges Schnitzwerk in den Pfeifenfeldern, durch die seitlichen Ohren und das bekrönende Rankwerk auf dem Orgelgehäuse wird eine repräsentative Wirkung erzielt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konkurrierten in Ostfriesland Hinrich Just Müller (Wittmund) und Johann Friedrich Wenthin (Emden) mit zahlreichen Orgelneubauten und Umbauten. Von Müller, der aus dem Osnabrücker Land stammte und 1760–1811 in über 50 Gemeinden Ostfrieslands wirkte, sind Werke erhalten in Midlum (1766), Holtrop (1772), Nortmoor (1773–75), Simonswolde (1777), Manslagt (1776–78), Carolinensiel (1780–81), Remels (1782), Middels (1784–86), Neermoor (1796–98) und Woquard (1802–04). Müllers hohe Kunstfertigkeit verband sich mit praktischem Geschäftssinn. In Remels steht die letzte ostfriesische Orgel mit einem Rückpositiv. Diese Tradition wurde erst wieder bei historisierenden Neubauten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgegriffen.
Dirk Lohman aus Emden, der an zahlreichen ostfriesischen Orgeln Reparaturen durchführte, wurde lediglich in Hage (1776–83) mit einem Neubau betraut, für den er einige Register aus dem 17. Jahrhundert verwendete. Im Jahr 1788 übersiedelte er nach Groningen, wo der Familienbetrieb über vier Generationen fortgeführt wurde.
Neben Müller übten drei weitere Orgelbauer einen westfälischen Einfluss auf die Orgellandschaft Ostfriesland aus: Christian Klausing aus Herford verfertigte 1734 bis 1737 die Orgel in Ochtersum. Johann Adam Berner aus Osnabrück baute ein kleines Instrument in Pogum (1758–59) und wurde mit Umbauten und Reparaturen ostfriesischer Orgeln betraut. Von Heinrich Wilhelm Eckmann, der ansonsten vorwiegend im Osnabrücker Land tätig war, sind die Orgeln in Amdorf (1773) und Bagband (1774–75) gut erhalten.
Wenthins Klangideal war gegenüber Müller weit fortschrittlicher und stärker vom Rokoko, teils bereits vom Klassizismus geprägt. Dies ist in optischer Hinsicht an den geschwungenen Prospektformen und Deckelvasen auf dem Gehäuse erkennbar, klanglich an neuartigen Registern und der Verwendung der gleichstufigen Stimmung. Wenthins Orgel in Groothusen (1798–1801) ist das größte Orgelwerk der Krummhörn und mit ihrem innovativen Klangkonzept und vielfältigen Klangschattierungen ein Kunstdenkmal europäischen Ranges. Einzigartig sind die zarten Flötenregister aus Mahagoni, insbesondere der Traversflötenchor in Acht-Fuß-, Vier-Fuß- und Drei-Fuß-Lage. Ungewöhnlich sind aber auch die beiden geteilten Register: das labiale Cornet und die Vox angelica, ein Trompetenregister, das im Bass als Zwei-Fuß-Register und im Diskant als Acht-Fuß-Register gebaut ist. Weitere Orgeln von Wenthin, der 1774–1805 in Ostfriesland wirkte, finden sich in Backemoor (1783), wo das einzige originale Gambenregister aus dem 18. Jahrhundert erhalten ist, in Reepsholt (1788–89), in Wolthusen (1790–93) und Westerende (1793).
=== Klassizismus und Romantik ===
Nachdem der Orgelbau in Ostfriesland im 18. Jahrhundert stark durch zugereiste Orgelbauer geprägt war, traten im 19. Jahrhundert vorwiegend ostfriesische Orgelbauerfamilien hervor. Sie führten zunächst die bisherigen Orgelbautraditionen fort, erweiterten sie allerdings um Kennzeichen der Romantik. Hierzu gehörte der flächige Verbundprospekt, der sich als Tendenz bereits im 18. Jahrhundert abzeichnete und das traditionelle Werkprinzip ablöste. In der Disposition wurden verstärkt grundtönige Register in Acht-Fuß-Lage eingesetzt, während Zungenregister und gemischte Stimmen rückläufig waren. Dass sie weiterhin verwendet wurden, liegt in dem bis heute starken Gemeindegesang der Region begründet. Schwellwerke wurden im 19. Jahrhundert nicht gebaut, wie überhaupt eine ausgeprägte romantische Phase nicht auszumachen ist. Nach einer blühenden Orgelkultur über einen Zeitraum von 500 Jahren erreichte das Niveau im ostfriesischen Orgelbau im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Tiefpunkt, was teils den verschlechterten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geschuldet war. Da die Region schließlich verarmte, verfügten die Kirchen nicht über ausreichende Mittel, sich zeitgemäßere Instrumente anzuschaffen, sodass die alten Orgeln meist erhalten blieben. Die Orgelbauer waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwiegend mit Wartungs- und Pflegearbeiten und kleineren Umbaumaßnahmen beschäftigt.
Der einflussreichste ostfriesische Orgelbauer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Müllers Schüler Johann Gottfried Rohlfs (Esens), der in fast 60 Gemeinden Ostfrieslands tätig war und einen Familienbetrieb mit drei Generationen begründete. Von ihm sind noch Neubauten erhalten in Bangstede (1794–95), der Christuskirche Norden (1796–97), Neustadtgödens (1796–98), Barstede (1801), Veenhusen (1801–02), Holtland (1810–13), Nüttermoor (1815–16), Wiesens (1820–22), Böhmerwold (1828), Roggenstede (1827–33) und Collinghorst (1838). Seine Werke weisen farbige Klänge auf und sind dem Vorbild seines Lehrers verpflichtet. Sein Sohn Arnold Rohlfs stand wie sein Vater in dieser barocken Orgeltradition und baute bis etwa 1860 vorwiegend kleine Dorforgeln mit einem Manual und angehängtem Pedal in traditioneller Weise, die sich jedoch bereits durch verschiedene romantische Elemente auszeichneten. Danach entwickelte Arnold Rohlfs einen eigenen Orgelstil, indem er Instrumente ganz ohne Aliquotregister und Mixturen konzipierte. Sein größtes Werk mit 30 Registern befindet sich in der Magnuskirche in seiner Vaterstadt Esens (1848–60) und ist fast unverändert erhalten. Zugleich ist es die größte Orgel Ostfrieslands aus dem 19. Jahrhundert. Andere Orgeln aus seiner Werkstatt, die weitgehend unverändert blieben, stehen in Westerholt (1841–42), Siegelsum (1842–45), Fulkum (1860–66) und Holtgaste (1864–65).
Neben Rohlfs waren die Familienbetriebe von Gerd Sieben Janssen und Wilhelm Eilert Schmid in Ostfriesland tätig, die das Niveau von Müller und Wenthin aber nicht mehr halten konnten. Janssen (Aurich) erlernte bei Johann Gottfried Rohlfs den Orgelbau und stand in Kontinuität zu den barocken Prinzipien des Orgelbaus. Da Janssen beim Umbau der Larrelter Orgel einige alte Register der Vorgängerorgel von Johannes Millensis (1618–19) wiederverwendete, blieben diese bewahrt und lassen noch die ursprünglichen Renaissance-Klänge hörbar werden. Schmid baute fast ausschließlich kleinere, einmanualige Dorforgeln und betätigte sich ansonsten vor allem durch Wartungen und Umbauten von Orgeln. Die verschiedenen Linien der Orgelbauerfamilie Schmid waren teils über mehrere Generationen in Ostfriesland, im Oldenburger Land und im Osnabrücker Land tätig.Wilhelm Caspar Joseph Höffgen stand in Emden in der Tradition Wenthins, schuf aber nur zwei Neubauten. Sein Instrument in Emden-Uphusen (1836–39) weist mit der in Einzelregister aufgeteilten Mixtur italienische Elemente auf. Ebenso wie sein kleines Werk in Freepsum ist es fast vollständig erhalten. Als letzter ostfriesischer Orgelbauer trat Johann Diepenbrock in Erscheinung; er schuf in Wymeer (1888) und Werdum (1897–98) Werke mit mechanischer Kegellade. Während die meisten seiner Orgelgehäuse neogotisch gestaltet sind, orientiert sich der fünfteilige Prospekt in Werdum in historisierender Weise an der Vorgängerorgel von Valentin Ulrich Grotian (um 1690).
=== 20. und 21. Jahrhundert ===
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte Ostfriesland keine selbstständigen Orgelwerkstätten mehr. Stattdessen führten Einzelpersonen wie Max Maucher und Karl Puchar Wartungen und kleinere Modernisierungen durch. Der industrielle Orgelbau, der vorwiegend pneumatische Orgeln baute, blieb ohne großen Einfluss. Pneumatische Orgeln, wie sie in der Norder Mennonitenkirche (1900), in Weenermoor (1906) und Etzel (1928) anzutreffen sind, waren in Ostfriesland die Ausnahme. Einige größere pneumatische Werke in Aurich und Leer blieben nicht erhalten oder wurden wie das Orgelwerk von Friedrich Klassmeier in der Großen Kirche in Emden (1927), das mit 51 Registern 16 Jahre lang die größte Orgel Ostfrieslands war, im Zweiten Weltkrieg zerstört.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt die Orgelbewegung wichtige Impulse durch den reichen Bestand historischer Orgeln in Nordwestdeutschland. Hier spielte die Schnitger-Orgel in Norden eine bedeutende Rolle; sie wurde auf Initiative von Christhard Mahrenholz als eine der ersten Orgeln unter Denkmalschutz gestellt.Kaum zu überschätzen ist die Arbeit des führenden Orgelbauers Jürgen Ahrend, der sich 1954 in Leer-Loga selbstständig machte und bis 1971 eine Kooperative mit Gerhard Brunzema bildete. Seine vorbildlichen Restaurierungen und Neubauten haben weltweit Aufsehen erregt und im Orgelbau vielfach eine Rückkehr zu den traditionellen handwerklichen Prinzipien und den klassischen Klangidealen des Orgelbaus bewirkt. Einflussreiche Neubauten von Ahrend (und Brunzema) finden sich beispielsweise in der Lambertikirche Aurich (1960–61) und der Lutherkirche Leer (2002). Seit 2005 wird die Firma von seinem Sohn Hendrik Ahrend fortgeführt. Fünf weitere Orgelbauer betreiben ihre Werkstätten in Ostfriesland, sind aber auch überregional tätig: Bartelt Immer (Norden), Regina Stegemann (Tannenhausen), Jürgen Kopp (Emden/Tannenhausen), Martin ter Haseborg (Uplengen) und Harm Dieder Kirschner (Stapelmoor). Um den Erhalt und die Restaurierung historischer Orgeln in Ostfriesland hat sich auch die Firma Alfred Führer (Wilhelmshaven) verdient gemacht, die ebenfalls weit beachtete Neubauten errichtet hat, wie die Orgel in Bunde (1980). Nach der Insolvenz der Firma gründeten ehemalige Mitarbeiter den Ostfriesischen Orgelservice (Wiesmoor), der sich auf Reparatur- und Wartungsdienste konzentriert.Ergänzt wird die Orgellandschaft durch die originalgetreue Replik der Louis-Alexandre-Clicquot-Orgel (Houdan, 1734) in Stapelmoor (1997), der ersten Orgel Deutschlands in konsequent barock-französischem Stil, sowie durch eine englische Orgel von Joseph William Walker (1844), die sich seit 2007 in Jemgum befindet. Dreimanualige Neubauten mit Schwellwerk zur Darstellung spätromantischer und französisch-symphonischer Musik stehen in der Emder Martin-Luther-Kirche (Rudolf von Beckerath, 1995) und in der Evangelischen Inselkirche auf Norderney (Kirschner, 2008) bereit.
== Erschließung für die Öffentlichkeit ==
Wesentliche Impulse für die Förderung der Orgellandschaft gingen vom Dollart-Festival (1981–2003) und der Arbeit der Norddeutschen Orgelakademie aus (ab 1977 in Bunderhee, heute in Verbindung mit der Hochschule für Künste Bremen), die beide von Harald Vogel gegründet und geleitet wurden. Vogels Radio- und CD-Aufnahmen sowie seine Publikationstätigkeit haben die ostfriesischen Orgeln bekanntgemacht und Organisten und Orgelbauer aus aller Welt angezogen. Multiplikatorische Wirkung hatten seine internationalen Meisterkurse mit dem Konzept, die Orgelliteratur der Gotik, Renaissance und des Barock auf den jeweiligen Originalinstrumenten in historischer Spielweise (mit alten Fingersätzen) zur Darstellung zu bringen. Heute ist das Organeum mit der Orgelakademie Ostfriesland in Weener unter Leitung von Winfried Dahlke das wichtigste Orgelzentrum zur Erforschung und Förderung der regionalen Orgelkultur und bietet neben Konzerten auch Orgelexkursionen und die Möglichkeit zur wissenschaftlichen organologischen Forschung an.
Alljährlich werden in der St. Ludgerikirche Norden, der Lutherkirche und der Großen Kirche in Leer, der Georgskirche Weener und in Dornum Konzertreihen veranstaltet. Seit 2001 hat sich der Krummhörner Orgelfrühling etabliert. Auch im Rahmen des überregional bekannten Festivals Musikalischer Sommer in Ostfriesland (seit 1985) finden Orgelkonzerte statt.
== Siehe auch ==
Liste der historischen Orgeln in Ostfriesland
Liste der Orgeln im Landkreis Aurich
Liste der Orgeln in Emden
Liste der Orgeln im Landkreis Leer
Liste der Orgeln im Landkreis Wittmund
Orgellandschaft Oldenburg
Orgellandschaft zwischen Elbe und Weser
== Literatur ==
Winfried Dahlke: Orgelland Ostfriesland. In: Klangjuwelen. Band 2, 2020, S. 23–30.
Cornelius H. Edskes: Der Orgelbau im Ems-Dollart-Gebiet in Gotik und Renaissance. In: Ostfriesland. Zeitschrift für Kultur, Wirtschaft und Verkehr. Nr. 2, 1978, S. 29–33.
Cornelius H. Edskes: Orgelbau in Ostfriesland heute. In: Ostfriesland. Zeitschrift für Kultur, Wirtschaft und Verkehr. Nr. 2, 1978, S. 33–34.
Cleveland Johnson: Ems-Dollart Region. In: Douglas E. Bush, Richard Kassel (Hrsg.): The Organ. An Encyclopedia. Routledge, New York, London 2006, ISBN 0-415-94174-1, S. 170–172 (online).
Walter Kaufmann: Die Orgeln Ostfrieslands. Ostfriesische Landschaft, Aurich 1968.
Walter Kaufmann: Oldenburg – Ostfriesland. Zur zweiundzwanzigsten Internationalen Orgeltagung vom 29. Juli bis zum 3. August 1974. In: Ars Organi. Band 22, Nr. 44, 1974, S. 1952–1958.
Uda von der Nahmer: Windgesang. Orgeln, Wind und Verwandte. Ostfriesische Landschaftliche Verlags- und Vertriebsgesellschaft, Aurich 2008, ISBN 978-3-940601-03-2.
Ralph Nickles: Orgelinventar der Krummhörn und der Stadt Emden. Hauschild Verlag, Bremen 1995, ISBN 3-929902-62-1.
Ibo Ortgies: Die Praxis der Orgelstimmung in Norddeutschland im 17. und 18. Jahrhundert und ihr Verhältnis zur zeitgenössischen Musikpraxis. Göteborgs universitet, Göteborg 2007 (gbv.de [PDF; 5,4 MB] Erstausgabe: 2004).
Ibo Ortgies: Von den alten Orgeln: Die Orgellandschaft Ostfrieslands. Eine Einführung. In: Concerto. Band 5, VI/7–8, 1988, S. 12–18.
Fritz Schild: Denkmal-Orgeln. Dokumentation der Restaurierung durch Orgelbau Führer 1974–1991. Florian Noetzel, Wilhelmshaven 2005, ISBN 978-3-7959-0862-1 (2 Teile: Backmoor-Groothusen, Hage-Wiesens).
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Harald Vogel, Günter Lade, Nicola Borger-Keweloh: Orgeln in Niedersachsen. Hauschild, Bremen 1997, ISBN 3-931785-50-5.
Harald Vogel, Reinhard Ruge, Robert Noah, Martin Stromann: Orgellandschaft Ostfriesland. 2. Auflage. Soltau-Kurier-Norden, Norden 1997, ISBN 3-928327-19-4.
Harald Vogel, Reinhard Ruge, Stef Tuinstra: Wegweiser zu den Orgeln der Ems-Dollart-Region. 2. Auflage. Rautenberg, Leer 1992.
== Aufnahmen/Tonträger ==
Die Ahrend-Orgel der Lutherkirche zu Leer. 2005. Amb 96869 (Wolfgang Zerer)
Dietrich Buxtehude: Orgelwerke. Vol. 5. 1993. MD+G L 3425 (Harald Vogel in Pilsum, Buttforde, Langwarden, Basedow, Groß Eichsen).
Harald Vogel spielt 12 Orgeln in Ostfriesland. Edition Falkenberger. 2017, ISBN 978-3-95494-136-0 (Werke von C. Paumann, J.P. Sweelinck, H. Scheidemann, G. Böhm, C.P.E. Bach)
Die Holy-Orgel der Marienkirche zu Marienhafe. 2001. Amb 97829 (Martin Böcker).
Les plus belles orgues. 1994. Analekta Classics, AN 28216-7, 2 CD (Antoine Bouchard in Rysum, Osteel, Steinkirchen, Mittelnkirchen, Ganderkesee, Westerhusen, Dedesdorf).
Orgelland Ostfriesland. 1989. Deutsche Harmonia Mundi, HM 939-2 (Harald Vogel in Norden, Uttum, Rysum, Westerhusen, Marienhafe, Weener).
Orgellandschaften. Folge 4: Eine musikalische Reise zu acht Orgeln der Region Ostfriesland (Teil 1). 2013, NOMINE e. V., LC 18240 (Thiemo Janssen in Rysum, Osteel, Westerhusen, Marienhafe, Dornum und Agnes Luchterhandt in Uttum, Pilsum, Norden)
Orgellandschaften. Folge 6: Eine musikalische Reise zu acht Orgeln der Region Ostfriesland (Teil 2). 2 CDs, 2016, NOMINE e. V. (Winfried Dahlke in Buttforde, Weener, Esens, Groothusen, Midlum, Böhmerwold, Manslagt, und Backemoor mit Werken von J.S. Bach, D. Buxtehude, G. Böhm, J.L. Krebs, J.A. Holzmann, C.P.E. Bach, F. Mendelssohn u. a.).
Orgeln in Ostfriesland. Vol. 1. 1996. Organeum OC-09601 (Harald Vogel in Osteel, Buttforde, Neermoor, Veenhusen, Groothusen).
Orgeln in Ostfriesland. Vol. 2. 1997. Organeum OC-09602 (Harald Vogel in Rysum, Uttum, Norden, Marienhafe).
Orgels in de eems-dollard regio. Vol. 1. 1999. VLS VLC 0599 (Peter Westerbrink in Dornum).
Orgels in de eems-dollard regio. Vol. 2. 2003. VLS VLC 0302 (Peter Westerbrink in Marienhafe).
Vorbilder und Entwicklungen. Orgelmusik von Sweelinck bis Bach. 2006. Ambiente, ACD-1023 (Ingo Bredenbach in Hinte).
Jacob Praetorius: Motets & Organ Works. 1996. CPO 999215-2 (Harald Vogel in Osteel).
Thomas Tomkins: Complete Keyboard Music. Vol. 4. 1996. MD+G 6070706 (Bernhard Klapprott in Uttum).
Diskografie der Schnitgerorgeln in Norden u. Weener
Orgeln Ostfrieslands 1. 2005. Ostfriesland-Filme. DVD (Geschichte und Klangbeispiele der Orgeln in Norden, Rysum, Hage, Victorbur, Strackholt, Riepe, Hinte, Dornum, Westerholt und Groothusen)
== Weblinks ==
Historische Orgeln in Ostfriesland. NOMINE e. V.
Kirchen und Orgeln ostfriesland.de
Klangbeispiel Rysum: Orgel mit Glocke, Conrad Paumann: Redeuntes in mi aus dem Buxheimer Orgelbuch mit Harald Vogel
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Orgellandschaft_Ostfriesland
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Orly
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= Orly =
Orly ist eine französische Stadt mit 24.361 Einwohnern (Stand 1. Januar 2020) südlich von Paris im Département Val-de-Marne. Bekannt ist sie vor allem wegen des Flughafens Paris-Orly.
== Geografie ==
Orly liegt innerhalb der Unité urbaine von Paris etwa 15 Kilometer südlich des Stadtzentrums an der Seine.
Im Zuge des Wachstums der Gemeinde im 20. Jahrhundert wurden etliche ehemals selbständige Nachbarortschaften eingemeindet. Die heutigen Nachbargemeinden von Orly sind die weitgehend ähnlich großen Gemeinden Thiais, Choisy-le-Roi, Villeneuve-le-Roi, Villeneuve-Saint-Georges und Paray-Vieille-Poste.
== Bevölkerungsentwicklung ==
== Geschichte ==
Der Name Orly geht auf den lateinischen Namen Aureliacum zurück und weist auf die Herkunft des Ortes aus einer römischen Gründung hin. Der Ort Orly wird schon in der Karolingerzeit in drei Schenkungsurkunden für das Pariser Domkapitel erwähnt. Die erste stellte der fränkische König Karl der Große im Jahr 774 aus (D_K_I Nr. 193). Im Jahr 829 wurde "Aureliacum" erneut als Besitz des Kapitels von Notre-Dame in Paris erwähnt (Cart.Gen.Paris Tome 1 No. 035). Schließlich lesen wir von Orly 851 in einer Urkunde des westfränkischen Königs Karl II., auch "Karl der Kahle" genannt (D_Ch_II Nr. 137, erwähnt bei www.francia.ahlfeldt.se).
Im Verlauf des Hundertjährigen Krieges belagerten Jahr 1346 die Engländer Orly drei Monate lang, während sich die Einwohner im Kirchturm verschanzten.
Seit Anfang der 1930er Jahre ist Orly durch seine Schule zur Pilotenausbildung mit der Geschichte der zivilen Luftfahrt verbunden; diese Schule geht auf eine Anregung der französischen Flugpionierin Maryse Bastié zurück. Diese Verbindung zur Luftfahrt, die auch durch den Flughafen Paris-Orly besteht, kommt im Wappen der Gemeinde mit seinen fünf stilisierten Flugzeugen im silbernen Winkel auf blauem Grund zum Ausdruck.
== Sehenswürdigkeiten ==
Die restaurierte Kirche Saint-Germain-de-Paris wurde im 12. Jahrhundert erbaut. Der Kirchturm wurde während der englischen Belagerung im 14. Jahrhundert teilweise zerstört und nicht mehr vollständig wieder aufgebaut.
Siehe auch: Liste der Monuments historiques in Orly
== Städtepartnerschaften ==
Orly ist Städtepartnerschaften eingegangen mit:
Pointe-à-Pitre in Guadeloupe, seit 1973
Klin in der Oblast Moskau, Russland, seit 1979
Campi Bisenzio in der Toskana, Italien, seit 1980
Turnu-Severin in Rumänien, seit 2000
== Literatur ==
Le Patrimoine des Communes du Val-de-Marne. 2. Auflage. Flohic Editions, Charenton-le-Pont 1994, ISBN 2-908958-94-5.
== Einzelnachweise ==
== Weblinks ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Orly
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Dauerwaldvertrag
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= Dauerwaldvertrag =
Der Dauerwaldvertrag (auch Dauerwaldkaufvertrag oder Jahrhundertvertrag) bezeichnet eine Vereinbarung des kommunalen Zweckverbandes Groß-Berlin mit dem Königlich-Preußischen Staat zum Walderwerb vom 27. März 1915. Die heutige Großstadt Berlin, die fünf Jahre später aus dem Zweckverband hervorging, trat als Rechtsnachfolger in den Vertrag ein. Der Vertrag schuf die Voraussetzung dafür, dass „Berlin – verglichen mit anderen Millionenstädten – über Waldflächen von einzigartiger Ausdehnung verfügt.“Der Bestandteil Dauerwald im Namen verweist auf die Dauer des für den Erwerb des Waldes geschlossenen Vertrages und bezieht sich nicht auf den Begriff Dauerwald als forstwirtschaftliche Nutzungsform.
== Walderwerb und Preis ==
Der Zweckverband Groß-Berlin kaufte vom Preußischen Staat für 50 Millionen Goldmark große Waldteile – insgesamt rund 10.000 Hektar – von den Förstereien Grunewald, Tegel, Grünau, Köpenick, die zu dieser Zeit noch nicht zu Berlin gehörten, sowie von der Försterei Potsdam. Der Verband verpflichtete sich, die erworbenen Waldflächen weder zu bebauen noch weiterzuverkaufen, sondern auf Dauer für die Bürger als Naherholungsflächen zu erhalten. Teile der erworbenen Waldfläche, wie die Parforceheide, lagen und liegen auch heute noch außerhalb der Berliner Stadtgrenze in Brandenburg und werden nach der Wende wieder von den Berliner Forstämtern bewirtschaftet.
Der Zweckverband Groß-Berlin (1911–1920), dem der Stadtkreis Berlin und selbstständige Stadtkreise, Landgemeinden und Gutsbezirke wie Charlottenburg, Schöneberg, Steglitz, Köpenick oder Reinickendorf angehörten, richtete schon 1912 eine Anfrage zum Walderwerb an die Regierung und erhielt daraufhin ein Angebot über 11.200 Hektar Waldfläche für 179 Millionen Goldmark. Diese Summe konnte der Verband nicht aufbringen.
Laut Hermann Kötschke lag den Regierungsangeboten ursprünglich eine Kalkulation von knapp 2 Mark je Quadratmeter zu Grunde, die am gängigen Quadratmeterpreis für Parkflächen orientiert war. Der Zweckverband wandte ein, der Preis könne nicht auf weiter entfernte Waldteile übertragen werden. In die folgenden langwierigen Verhandlungen griff der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. ein, der ohnehin jedem Verkauf staatlichen Forstbesitzes zustimmen musste. Vom schließlichen Kaufpreis in Höhe von 50 Millionen Goldmark für 10.000 Hektar musste der Verband 5 Millionen sofort und den Rest in 15 Jahresraten von jeweils 3 Millionen begleichen.
== Verpflichtung ==
In einem Beitrag über den Berliner Waldbesitz im Wandel der Zeiten gab der Forstrat Martin Klees den zentralen Inhalt des Vertrages wie folgt wieder:
„Im Vertrage, der ungeachtet des Ausbruchs des ersten Weltkrieges am 27.3.1915 abgeschlossen wurde, verpflichtete sich der Zweckverband Groß-Berlin, die gekauften Grundstücke ausschließlich zum [Erwerb und zur Erhaltung größerer von der Bebauung frei zu haltender Flächen wie Wälder, Parks, Wiesen, Seen usw.] zu verwenden und in ihrem wesentlichen Bestande als Waldgelände zu erhalten sowie den Erlös aus möglichen Veräußerungen zum Erwerb entsprechender Ersatzflächen zu verwenden.“
== Beweggründe ==
=== Gesundheitspolitische Gründe ===
Ein wesentlicher Grund für die vorausschauende Waldpolitik war die Sorge um das gefährdete Volkswohl. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich die Ansprüche an die Waldnutzung zunehmend vom Produktions- zum Erholungswald gewandelt. Bereits im Januar 1893 richtete der Magistrat der Stadt Berlin einen Antrag an den Minister mit dem Ziel, „… aus Gründen der öffentlichen Gesundheitspflege … größere Gelände in unseren Gemeinschaftsbesitz zu bringen, um so der wachsenden Bevölkerung der Reichshauptstadt für die fernere Zukunft die Gelegenheit der Erholung und Erfrischung im Freien und im Walde zu sichern.“ Im Almanach „Groß-Berliner Kalender 1913“ setzte sich Richard van der Borght in einem ausführlichen Beitrag für einen „Waldgürtel“ um die Stadt ein und hob die Bedeutung des Waldes hervor: „...für Luft- und Bodentemperatur, für Menge und Verteilung der Niederschläge, für die Wasseraufspeicherung und Quellbildung, für Befestigung des Verwitterungsbodens, für Windschutz, für Schutz gegen Sandverwehungen und Erdrutsch usw., insbesondere aber auch sein Wert für die gesundheitlichen Verhältnisse und für das Seelen- und Gemütsleben der Menschen.“
=== Wasserversorgung, Abholzungen ===
Wie bei van der Borght bereits anklingt, bestand ein weiterer wesentlicher Grund für den Abschluss des Dauerwaldvertrages darin, die Trinkwasserversorgung für die rasant wachsende Berliner Bevölkerung (von 1861 auf 1910 von 500.000 auf 2 Millionen vervierfacht) zu sichern. In den erworbenen Waldgebieten lagen zahlreiche Seen und Laken mit bester Wasserqualität, wie der Schlachtensee oder die Krumme Lanke – Seen, die heute wie selbstverständlich Berlin zugerechnet werden, damals jedoch weit außerhalb der Stadtgrenze lagen. Für eine bessere Bodendurchnässung sollte die Änderung der Forstpolitik dienen, die eine naturgerechtere Durchmischung der Wälder vorsah, die zum Ausklang des 19. Jahrhunderts zum großen Teil aus Kiefern-Monokulturen bestanden.
Zudem hatte die Agglomeration Berlin, die beim Zusammenschluss 1920 3,8 Millionen Einwohner zählte, das Problem, die riesigen Abwassermengen aus den Haushalten, Brauereien, Färbereien, Gerbereien und weiteren Gewerben und Fabriken zu bewältigen. Auch zur zukunftsorientierten Lösung dieses Problems, insbesondere mit Hilfe von Rieselfeldern, waren große Flächen erforderlich.
=== Bodenspekulation – Erste Umweltbewegung ===
Ferner sollte die zu dieser Zeit ausufernde Bodenspekulation und die dadurch verursachte Waldvernichtung eingedämmt werden. Seit 1850, vor allem aber in der raschen Industrialisierung der frühen Kaiserzeit waren die früher als Acker, Felder oder Wälder genutzten Flächen der einstigen Dörfer (z. B. Schöneberg, Steglitz, Hermsdorf, Pankow, Lichtenberg …) bis auf geringe Reste aufgekauft worden. Die Wälder erhielten sich etwas länger, da man sie dem preußischen König abkaufen musste und nicht mit einzelnen Bauern handelte, die dabei Vermögen verdienen konnten (sogenannte „Schöneberger Millionenbauern“). Insbesondere die Lagen im Grunewald waren begehrt.
Als Ausdruck der ersten deutschen Umweltbewegung kamen auf Initiative zweier Berliner Zeitungen im Jahr 1904 rund 30.000 Unterschriften bei einer Protestaktion gegen die Vernichtung des Grunewalds zusammen.
An den dennoch weitergehenden Spekulationen beteiligten sich sowohl der Staat (auch mit der angrenzenden Domäne Dahlem) als auch private Waldbesitzer. Im Jahr 1909 erreichte die Spekulation mit Waldflächen im Berliner Raum einen Umfang von rund 1800 Hektar. Der „Zweite Berliner Waldschutztag“ vom 16. Januar 1909 wandte sich vehement gegen die rücksichtslose Spekulation und Waldvernichtung.
Laut Forstrat Martin Klees fand die „Beunruhigung der Bevölkerung […] ihren erneuten Niederschlag in einem von einer Groß-Lichterfelder Zeitung herausgebrachten Sonderabzug mit der Überschrift: ‚Der Grunewald ist dem Verderben geweiht‘“.1913, zwei Jahre vor Abschluss des Dauerwaldvertrages, klagte Hermann Kötschke in dem Artikel „Waldschutz für Groß-Berlin“: „Besonders bedauerlich ist, daß z. B. »Prinz Friedrich Leopold«, der den riesigen Forst Düppel-Dreilinden besitzt, den herrlichen Besitz zu Gelde machen will. Die prächtigen Seeufer am kleinen Wannsee, am Stolper See und am Griebnitzsee sind dabei schon größtenteils unzugänglich geworden. Nur ein paar Ruten (Boden-Maßeinheit) für das Kleistdenkmal sind gerettet. Sonst sagt man doch Reichtum und Adel verpflichten.“
Wie die Geschichte des Zweckverbandes und der Abschluss des Dauerwaldvertrages zeigen, konnte sich der Preußische Staat dem Druck der Argumente und der Proteste nicht entziehen.
== Auswirkung des Dauerwaldvertrages heute ==
Durch die Käufe des Zweckverbandes, kleinere parallele Käufe der Stadt Berlin selbst und weitere Zukäufe nach dem Zusammenschluss 1920 besaß Groß-Berlin eine Waldfläche von insgesamt rund 21.500 Hektar, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges betrug die Fläche rund 25.000 Hektar. Davon verblieben West-Berlin nach der Teilung Deutschlands und Gründung der DDR 1949 rund 7.300 Hektar. Nach der Wiedervereinigung der getrennten Stadtteile und nach der Rückgabe der im Umland liegenden Waldgebiete durch die Treuhand 1995 (9.500 Hektar) verfügt Berlin heute über 29.000 Hektar Waldfläche bei einer Gesamtfläche von 89.200 Hektar. Dank des Dauerwaldvertrages von 1915, der in mehreren Teilgesetzen und Verordnungen im Kern unverändert fortlebt, ist Berlin rund einhundert Jahre nach seinem Abschluss die europäische Millionenstadt mit der größten Waldfläche.
Im „Landeswaldgesetz“ des West-Berliner Senats vom 30. Januar 1979, das seit 1990 für ganz Berlin gilt, fand der Jahrhundertvertrag zur Erhaltung des Waldes seinen endgültigen Niederschlag in Form eines Gesetzes. Die gesamte Berliner Waldfläche wurde zum Schutz- und Erholungswald erklärt. Der im § 1 angeführte Zweck ist sprachlich etwas moderner gefasst, der Inhalt könnte aus den 1920er Jahren stammen:
„… den Wald wegen seiner Bedeutung für die Umwelt, insbesondere für die dauernde Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes, das Klima, den Wasserhaushalt, die Reinhaltung der Luft, die Bodenfeuchtigkeit, das Landschaftsbild sowie die Erholung der Bevölkerung zu erhalten, nach Möglichkeit zu mehren und seine ordnungsgemäße Pflege nachhaltig zu sichern.“
== Literatur ==
Reiner Cornelius: Geschichte der Waldentwicklung. 1. Auflage. Hrsg. von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz Berlin. Monitoringprogramm Naturhaushalt. H. 3. Kulturbuchverlag, Berlin 1995. ISSN 0946-3631
Hermann Kötschke: Waldschutz für Groß Berlin. In: Ernst Friedel (Hrsg.): Groß Berliner Kalender, Illustriertes Jahrbuch 1913. Verlag von Karl Siegismund Königlich Sächsischer Hofbuchhändler, Berlin 1913, S. 353–360. (Quadratmeterpreis und einzelne Flächenangaben S. 359.)
Richard van der Borght: Waldgürtel. In: Groß Berliner Kalender, Illustriertes Jahrbuch 1913. Hrsg. Ernst Friedel. Verlag von Karl Siegismund Königlich Sächsischer Hofbuchhändler, Berlin 1913, S. 213–220 (Zitat S. 212 f.)
Michael Erbe: Berlin im Kaiserreich (1871–1918). In: Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Geschichte Berlins. Band 2. C.H.Beck, München 1987. ISBN 3-406-31591-7 (Zitat in der Einleitung, S. 750, Gesamtpassage: „Immerhin ist es ein bleibendes Verdienst des Zweckverbandes, daß Berlin – verglichen mit anderen Millionenstädten – über Waldflächen von einzigartiger Ausdehnung verfügt.“)
Hainer Weißpflug: Das Landeswaldgesetz wird erlassen. In: Berlinische Monatsschrift (Luisenstädtischer Bildungsverein). Heft 1, 1999, ISSN 0944-5560, S. 47–49 (luise-berlin.de). (Zitat § 1 Landeswaldgesetz, S. 47; Quelle zu „waldreichste Stadt Europas“, S. 49)
Dr. Angela von Lührte: 100 Jahre Berliner Dauerwaldvertrag BUND Berlin 03/2015. https://www.denkmalpflege.tu-berlin.de/fileadmin/fg265/Projekte/Dauerwaldvertrag_2010.pdf
== Weblinks ==
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Forsten
Groß-Berlin-Gesetz vom 27. Juli 1920
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dauerwaldvertrag
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Phantom Ride
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= Phantom Ride =
Als Phantom Ride [ˈfæntəm ɹaɪd], also ‚scheinbare oder geisterhafte Fahrt‘, wird ein Genre der frühen Filmgeschichte bezeichnet, das um 1900 besonders in Großbritannien und den Vereinigten Staaten populär war. Zur Erstellung der Phantom Rides wurde eine Filmkamera an die Spitze einer Lokomotive montiert, welche die Fahrt als Point-of-View-Shot aufzeichnete.
Die dynamischen Präsentationen von Landschaften in den Phantom Rides waren die ersten Beispiele für Kamerafahrten in der Filmgeschichte. Als Vorläufer der Reisefilme stellen sie eine Vorform der Dokumentarfilme dar. Eine moderne Variante sind die Führerstandsmitfahrten, die seit den 1990er Jahren im Nachtprogramm einiger Fernsehsender ausgestrahlt wurden.
Die Phantom Rides sind auch für die Entwicklung des narrativen Films von Bedeutung, da sie zur Etablierung des Filmschnitts als künstlerischem Ausdrucksmittel beitrugen. Aufgrund ihrer Vermarktung als Attraktion in Vergnügungsparks ab 1905 unter dem Namen Hale’s Tours and Scenes of the World können sie außerdem als Vorbild für Fahrsimulatoren betrachtet werden.
== Ursprünge ==
Die Entstehungsgeschichte des Kinos ist eng verbunden mit den ersten Vorführungen der Brüder Lumière, deren Film L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat mit der Einfahrt eines Zuges in einen Bahnhof zu den bekanntesten Beispielen des frühen Kinos zählt. Die hohe Popularität der Lumière-Filme führte zu zahlreichen Kopien des Sujets, das bereits vor der Entwicklung des Films zu einem Massenmedium bei Vorführungen der Laterna magica zum Einsatz kam. Fotografen wie Burton Holmes hatten in ihre Reisevorträge Landschaftsansichten, die aus fahrenden Zügen heraus aufgenommen wurden, integriert.Bereits 1896 – wenige Monate, nachdem die Vorführungen des Cinématographe zu einem Sensationserfolg in Paris wurden – entstand in Rennes ein Film, bei dem die Filmkamera auf dem Kuhfänger einer Dampflokomotive montiert wurde und so – ähnlich wie bei den bereits bekannten Aufnahmen der Reisefotografen – die Bewegung des Zuges durch die Landschaft direkt aufgezeichnet werden konnte. In kurzer Zeit entwickelten sich die so aufgenommenen Eisenbahnfilme zu der beliebtesten Variante der dokumentarischen Landschaftsansichten (meist bezeichnet als Panorama, pris d’un train … ‚vom Zug aus gefilmtes Panorama‘) und Reisefilme, die in den Katalogen der Brüder Lumière den Hauptteil der Filme ausmachten.Dank ihres weltweiten Vertriebsnetzes für fotografisches Zubehör gelang es den Brüdern Lumière, Ansichten aus der ganzen Welt aufzunehmen und zu vertreiben. Der französische Kameraoperateur Alexandre Promio positionierte im Herbst 1896 den Cinématographe in einem venezianischen Vaporetto und filmte analog zu den Point-of-View-Shots der Eisenbahnfilme den Canal Grande (Panorama du Grand Canal vu d’un bateau). Auch andere Verkehrsmittel wie Straßen- und Untergrundbahnen oder Automobile wurden eingesetzt und dienten somit als Vorläufer der heutigen Kamerawagen.
Zu einer Zeit, als die Filmkamera fest auf einem Stativ stand und Kameraschwenks noch nicht als filmische Mittel verwendet wurden, gelang es den Kameraoperateuren mit diesen Filmen erstmals, nicht nur Bewegung aus einer starren Position heraus aufzunehmen, sondern mittels einer Kamerafahrt selbst Bewegung zu erzeugen. Der panoramatische Blick des Reisenden, der durch die hohen Geschwindigkeiten der Eisenbahn beim Durchfahren der Landschaften den Verlust des Bildvordergrundes hinnehmen musste, übertrug sich auf die Phantom Rides. Die deutlich wahrnehmbare subjektive Kamera vermittelt laut dem Filmhistoriker Tom Gunning „den Eindruck eines sich durch den Raum bewegenden Auges, wodurch der Akt des Sehens selbst ebenso deutlich sichtbar wird wie die gezeigte Ansicht.“ Die Kamera trete buchstäblich selbst als Reisender auf.
== Verbreitung der Phantom Rides ==
1897 imitierte erstmals die American Mutoscope Company mit einer gefilmten Durchfahrt des New Yorker Haverstraw-Tunnels die Lumière’schen Eisenbahnfilme. Hier wurde auch der Begriff Phantom Ride geprägt. So sah sich im Sommer 1897 der Rezensent des Journals Phonoscope beim Betrachten des Films The Haverstraw Tunnel als Passagier einer geisterhaften Eisenbahnfahrt („passenger on a phantom train ride“), die ihn „mit einer Geschwindigkeit von beinahe einer Meile pro Minute durch den Raum wirbelt. Es gab keinen Rauch, kein Anzeichen eines erbebenden Fahrgestells oder schmettender Räder.“ Gerade bei den Phantom Rides zeigte sich die anfängliche technische Überlegenheit des Biograph-Filmprojektors der American Mutoscope Company gegenüber Edisons Vitaskop-Filmen. Da beim Biograph im Gegensatz zum bisher üblichen 35-mm-Film der doppelt so breite 70-mm-Film verwendet wurde, hatten die Landschaftsdarstellungen eine bis dahin unbekannte Klarheit und Detailfülle.
Vorführungen von The Haverstraw Tunnel in London machten die Phantom Rides in kurzer Zeit in Großbritannien äußerst populär. Die Theaterzeitschrift Era schrieb begeistert, dass dem Zuschauer noch nie zuvor ein so aufregendes und sensationelles Abbild der Realität geboten wurde. Das Satiremagazin Punch karikierte dagegen den Geschwindigkeitsrausch, den die gebannten Zuschauer beim Betrachten der Eisenbahnfahrten verspürten.Britische Filmemacher fertigten unverzüglich eigene Phantom Rides an. Vor allem der Filmpionier Cecil Hepworth wurde zum führenden Produzenten dieses neuen Genres. Hepworth entwickelte zum Ende des Jahrzehnts eine neue Kamera mit einem besonders großen Filmmagazin, um mehrminütige Fahrten aufzuzeichnen. Im Jahr 1899 produzierte er mit Dalmeny to Dumfermline, Scotland, via the Firth of Forth Bridge einen zwölf Minuten langen Streifen, der stolz als „der längste, pittoreskeste und interessanteste Film, der jemals produziert wurde“, beworben wurde. Zuvor wurden bereits Filmreihen wie die 1898 bei Charles Urbans Warwick Trading Company veröffentlichten Phantom Rides View From An Engine Front im Paket angeboten, so dass eine zusammenhängende Bahnfahrt zwischen zwei Stationen vorgeführt werden konnte. Die American Mutoscope Company setzte einzelne, nur eine Minute dauernde Filme einer Zugfahrt in Brooklyn so geschickt zusammen, dass der Eindruck einer kontinuierlichen Einstellung entstand. So trugen die Phantom Rides zu der Entwicklung längerer Filme bei.
== Vom Phantom Ride zum narrativen Film ==
Auch bei der Entwicklung des narrativen Films lieferten Phantom Rides wichtige Beiträge. Im Februar 1899 filmte der Brightoner Filmpionier George Albert Smith im Studio eine komische Szene, in der ein elegant gekleideter Mann mit einer Frau in einem Zugabteil flirtet und sie schließlich – im Schutze der Dunkelheit beim Durchfahren eines Tunnels – leidenschaftlich küsst. Diese Szene montierte er in einen Phantom Ride von Cecil Hepworth, so dass die Sekunden des Films, in denen der Zug einen Tunnel durchfuhr, mit dem neu gefilmten Material gefüllt werden konnten. Der so entstandene Film The Kiss in the Tunnel gilt als eines der frühesten und bekanntesten Beispiele des szenischen Filmschnitts.Smiths Film wurde ein großer Erfolg und trug mit dazu bei, den unsichtbaren Schnitt als die wichtigste Montagetechnik des klassischen Films zu etablieren. Zahlreiche andere Filmemacher kopierten die Szene und entwickelten ihre eigenen Varianten, so Ferdinand Zecca in Une idylle sous un tunnel (1901), Siegmund Lubin in Love in a Railroad Train (1903) und Edwin S. Porter in What Happened in the Tunnel (1903). Diese Filme wurden von den Filmvorführern zur Auflockerung der Phantom Rides gezeigt, eine festgelegte Szenenfolge lag also noch nicht vor. Dieses änderte sich 1903, als Edwin S. Porter nach den Erfahrungen des in mehreren Einstellungen gedrehten Films A Romance of the Rail mit Der große Eisenbahnraub einen der ersten komplexen narrativen Filme fertigstellte, in dem die Eisenbahn zwar noch eine große Rolle spielte, auf die Verwendung von Point-of-View-Shots aber verzichtet wurde.
== Simulierte Eisenbahnfahrten mit Hale’s Tours ==
Anfang der 1900er-Jahre waren die Phantom Rides keine Novität mehr und – wie die dokumentarischen Aktualitätenfilme im Allgemeinen – zunehmend der Konkurrenz durch fiktionale Filme ausgesetzt. Um eine höhere Attraktivität zu erzielen, wurden vermehrt exotische Schauplätze gefilmt und Ansichten berühmter Städte von Straßenbahnen und Automobilen aus aufgenommen. Mit hohem Aufwand wurde dem Publikum ungewöhnliche Bilder in den Phantom Rides geboten. So filmte im Jahr 1903 die Deutsche Mutoskop und Biograph im Stil eines Phantom Ride den irischen Automobilisten H.H.P. Deasy, wie er mit einem Schweizer Martini-Automobil die Strecke der Zahnradbahn von Glion zur knapp 2000 Meter hoch gelegenen Bergstation am Rochers de Naye befuhr (Captain Deasy’s Daring Drive).Einen anderen Weg ging George C. Hale, der 1904 auf der Weltausstellung in St. Louis ein neuartiges Konzept der Filmvorführung vorstellte, bei dem Phantom Rides in speziell ausgestatteten Waggons präsentiert wurden. Durch den Einsatz von Sound- und Windeffekten sowie durch Rüttelbewegungen des Waggons wurde eine Eisenbahnfahrt simuliert, wodurch der kinästhetische Effekt der Phantom Rides verstärkt wurde. Um die Illusion perfekt zu machen, wurde anstelle eines Eintrittsgeldes eine Fahrkarte für 10 Cent gelöst. Bis zu 72 Personen konnten die 10 bis 20 Minuten langen Vorführungen besuchen. Vorbilder für diese Art der Filmvorführung waren das bei der Pariser Weltausstellung von 1900 präsentierte Maréorama sowie die Myrioramas des 19. Jahrhunderts, bei denen auf eine Leinwand gemalte Landschaften mittels einer Rolle an den Zuschauern vorbeigezogen wurden.
Nach dem Erfolg bei der Louisiana Purchase Exposition eröffnete Hale am 28. Mai 1905 im Vergnügungspark Electric Park von Kansas City mit Hale’s Tours and Scenes of the World eine identische Attraktion. Hale’s Tours wurde ein Publikumsrenner, der an Lizenznehmer in den gesamten Vereinigten Staaten verkauft wurde. Innerhalb eines Jahres existierten Hale’s Tours an mehr als 500 Spielstätten in den Vereinigten Staaten, Kanada und mehreren europäischen Städten. Bei der Londoner Premiere pries die britische Kinematograph and Lantern Weekly die Hale’s Tours als „eine der cleversten optischen Täuschungen der modernen Zeit“. Wie bereits acht Jahre zuvor bei den ersten Präsentationen der Phantom Rides wurde auch hier beschrieben, wie intensiv und realistisch beim Betrachten der Filme das Empfinden war, tatsächlich in Bewegung zu sein.
Hale zeigte in seinen Tours zunächst meist ältere Phantom Rides, die teilweise thematisch zusammengefasst wurden, um Reiseziele wie China besonders anzupreisen. Bei einer „Fahrt“ nach Kalifornien wurden im Sommer 1906 neben Eisenbahnstrecken auch neue Aufnahmen von San Francisco nach dem großen Erdbeben gezeigt. Die Betreiber von Hale’s Tours entdeckten die alten komischen Filme als Zwischenspiele wieder, mit denen sie wie die Filmvorführer wenige Jahre zuvor ihre Phantom Rides auflockerten. Adolph Zukor, der spätere Gründer von Paramount Pictures, setzte Porters Der Große Eisenbahnraub in seinem New Yorker Hale’s-Tours-Betrieb äußerst erfolgreich ein, woraufhin neue narrative Filme als Ergänzung zu den nun wieder zahlreich bei Edison und Biograph gedrehten Phantom Rides produziert wurden. Der erfolgreichste Film, der ausschließlich für Hale’s Tours gedreht wurde, war Biographs The Hold-up of the Rocky Mountain Express, in dem eine Story ähnlich dem Großen Eisenbahnraub von längeren Passagen einer Eisenbahnfahrt, die im Stil der Phantom Rides gehalten waren, unterbrochen wurde.Hale’s Tours wurde binnen weniger Monate zu einem internationalen Erfolg, der zur Wiederbelebung des Genres der Phantom Rides führte. Doch trotz der Versuche, die monotonen Landschaftsaufnahmen der Zugfahrten durch ereignisreichere Filme aufzulockern, verebbte der Trubel um Hale’s Tours schnell. Einige Betreiber hielten ihre Attraktionen bis zum Beginn der 1910er-Jahre offen, viele wechselten aber zum Nickelodeon, das sich zeitgleich als Filmaufführungsstätte etabliert hatte. Mit dem Ende von Hale’s Tours endet auch die Geschichte der Phantom Rides als eigenständiges Filmgenre. Nur noch zu besonderen Anlässen wurden vereinzelt neue Phantom Rides produziert, so 1913 bei der Eröffnung der Lötschbergbahn oder Ende der 1920er-Jahre in einer Reihe von Kurzfilmen für Gaumont British an Bord eines Flugzeugs zur Demonstration der Luftbildfotografie.
== Moderne Varianten ==
=== Filmische Umsetzungen und Bearbeitungen ===
Auch wenn Anfang der 1910er-Jahre das Genre der Phantom Rides als typischer Vertreter des „Kinos der Attraktionen“ der Vergangenheit angehörte, blieb die Idee, Bewegung durch Point-of-View-Shots darzustellen, als filmisches Stilmittel sowohl im Dokumentarfilm als auch im fiktionalen Film erhalten. Besonders bei der Darstellung von Verfolgungsjagden fanden solche Einstellungen Verwendung.Die Verfolgungsjagd entwickelte sich bereits um 1905 als das nach Ansicht von Tom Gunning erste wirklich narrative Filmgenre. Sie wurde zu einem festen Bestandteil der klassischen Slapstick-Komödie und findet auch heute noch ihren Platz in modernen Actionfilmen, wo der Phantom Ride als filmisches Stilmittel technische Veränderungen durchlief. Die neuen Gestaltungsmöglichkeiten durch die Einführung digitaler Effekte führten zur Entwicklung ungewöhnlicher Point-of-View-Shots. So wird in dem Film Pearl Harbor aus dem Jahr 2001 die Versenkung der USS Arizona aus der „Sicht“ einer Bombe gezeigt, die von einem japanischen Flugzeug abgeworfen wurde – ein nach Ansicht des britischen Filmkritikers David Thomson archetypisches Beispiel für die Computerspiel-Ästhetik des Regisseurs Michael Bay.Die dokumentarische Funktion der Phantom Rides ging in filmisch komplexeren Reisefilmen (Travelogues) auf, die eine Variante des ethnographischen Films darstellen. Bereits 1904 hatte Charles Urban in dem Film Living London Ansichten eines Phantom Ride als eine von zahlreichen Einstellungen ausgewählt, die ein vielseitiges Bild der Metropole London boten. In Walter Ruttmanns Dokumentarfilm Berlin – Die Sinfonie der Großstadt aus dem Jahr 1927 bilden längere Passagen eines Phantom Ride, in denen sich der Zuschauer langsam der Stadt Berlin annähert, den Auftakt der filmischen Collage. Auch andere experimentelle Dokumentarfilme wie Harry Watts und Basil Wrights Night Mail verwendeten kurze Einstellungen im Stil eines Phantom Ride.
Zurück zur unbearbeiteten Darstellung von Landschaften in langen Kamerafahrten gingen um 1995 verschiedene Fernsehsendungen, die Lücken im Nachtprogramm schlossen. So zeigt das Schweizer Fernsehen in der Sendereihe Swiss View Landschaftsansichten aus einem Helikopter heraus. Für die Sendung Straßenfeger im Nachtprogramm des ZDF wurden zwischen 1995 und 2001 Autofahrten durch die Windschutzscheibe aufgenommen, während Das Erste in der seit 1995 produzierten Reihe Die schönsten Bahnstrecken Führerstandsmitfahrten zeigt. Anders als bei den Phantom Rides befindet sich bei diesen erstmals vom SFB konzipierten Eisenbahnfahrten die Kamera innerhalb des Führerhauses.
Im modernen Experimentalfilm wurden die Phantom Rides in Form von Found-Footage-Filmen wiederentdeckt. So basiert Ernie Gehrs Film Eureka aus dem Jahr 1979 auf einem Phantom Ride aus San Francisco, der Mitte der 1900er-Jahre für Hale’s Tours produziert wurde. Anfang der 1990er-Jahre experimentierte Ken Jacobs mit verschiedenen Phantom Rides, die unter anderem in seinen Filmen Opening the Nineteenth Century: 1896 von 1991 und The Georgetown Loop von 1996 verarbeitet wurden. Der österreichische Experimentalfilmer Siegfried A. Fruhauf ging noch einen Schritt weiter und bearbeitete neu gefilmtes Material, um es wie einen Found-Footage-Film aus den 1900er-Jahren erscheinen zu lassen. Der so entstandene einmütige Trailer Phantom Ride wurde 2004 für das Filmfestival Crossing Europe produziert. Mit der Installation Overture des Videokünstlers Stan Douglas fanden Phantom Rides schließlich Einzug in die Bildende Kunst. Douglas projizierte Edison-Filme aus den Jahren 1899 und 1901 und spielte dazu Texte aus Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ab, so dass Film und Literatur aufeinander trafen.
=== Simulationen als Attraktionen ===
Als direkte Nachfolger der Phantom Rides können verschiedene Versuche zur Wiederbelebung des Kinos als Attraktion betrachtet werden. Der Medienwissenschaftler Erkki Huhtamo sieht in den Versuchen, das Publikum mit den Breitwandformaten von Cinerama und IMAX zu bannen, eine Fortsetzung der Vermarktungsstrategie der Phantom Rides. Tatsächlich begann der 1952 uraufgeführte Film Das ist Cinerama mit einer Achterbahnfahrt, die im Stil eines Phantom Ride aus einem der Wagen aufgenommen wurde. In den Programmen der IMAX-Kinos finden sich seit den 1980er-Jahren eine Reihe von Filmen, die die Tradition der Phantom Rides fortsetzen und den Zuschauern Aufnahmen in rasanten Point-of-View-Shots präsentieren, beispielsweise als ein Hubschrauberflug in der Naturdokumentation Grand Canyon – Verborgene Geheimnisse von 1986, als unterhaltender Effekt in dem 3D-Film Das Geisterschloss 3D von 2001 oder als reiner Geschwindigkeitsrausch in NASCAR 3D von 2004. Ähnliche Filme wurden bereits seit den späten 1970er-Jahren in den 180-Grad-Kinos präsentiert, bei denen sich eine gewölbte Kinoleinwand über das gesamte Gesichtsfeld der Zuschauer erstreckte.Auch das Konzept von Hale’s Tours wurde nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder aufgegriffen. Bereits zur Eröffnung von Disneyland im Jahr 1955 zählte die Show A Flight to the Moon zu den Attraktionen. Bei dieser Simulation eines Weltraumflugs wurden den Zuschauern bewegliche Sitze im Kinosaal geboten, so dass die Kraft eines Meteoritenschauers möglichst realistisch empfunden werden konnte.Die Fahrtsimulationen wurde weiter perfektioniert, als 1985 der Spezialeffekte-Spezialist Douglas Trumbull sein Showscan-Verfahren für den Bewegungssimulatorfilm Tour of the Universe anwendete. Trumballs Design wurde 1987 von Disney für die auf Star Wars basierende Simulation Star Tours übernommen, weitere Attraktionen basierend auf den Indiana-Jones-Filmen und die Zurück-in-die-Zukunft-Trilogie folgten. Die Weiterentwicklung computergesteuerter Simulatoren sowie Fortschritte bei der Gestaltung computeranimierter Filme machten die Attraktionen immer flexibler; Fahrgeschäfte wie der Venturer konnten auch auf Volksfesten vorgeführt werden, womit der Film zu seinen Ursprüngen als eine Jahrmarktattraktion zurückkehrte.
== Siehe auch ==
Onridevideo
Führerstandsmitfahrt
== Literatur ==
Christa Blümlinger: Lumière, der Zug und die Avantgarde (PDF; 489 kB). In: Die Spur durch den Spiegel. Der Film in der Kultur der Moderne (Hrsg. Malte Hagener, Johann N. Schmidt und Michael Wedel). Bertz, Berlin 2004, ISBN 978-3-86505-155-4, S. 27–41.
Tom Gunning: Vor dem Dokumentarfilm. Frühe non-fiction-Filme und die Ästhetik der ‚Ansicht‘. In: Anfänge des dokumentarischen Films, KINtop Nr. 4, 1995, S. 111–121.
Charles Musser: The Emergence of Cinema. The American Screen to 1907 (= History of the American Cinema. Bd. 1). University of California Press, Berkeley CA u. a. 1994, ISBN 0-520-08533-7.
Charles Musser: Moving towards fictional narratives. In: The Silent Cinema Reader (Hrsg. Lee Grieveson und Peter Krämer). Routledge, London 2004, ISBN 0-415-25284-9, S. 87–101.
Jeffrey Ruoff (Hrsg.): Virtual Voyages: Cinema and Travel. Duke University Press, Durham 2006, ISBN 0-8223-3713-4.
== Weblinks ==
Phantom Ride im Lexikon der Filmbegriffe des Bender Verlags
Phantom Rides – Artikel von Christian Hayes auf Screenonline (englisch)
The Phantom Ride: Early Cinema and The Train – Artikel von Brian Phelan auf oomska (englisch)
Scottish Screen Archive – Filmausschnitte aus Railway Ride over the Tay Bridge (englisch)
A Trip Down Market Street Before the Fire – Dieser Film von 1906 aus San Francisco, kurz vor dem Erdbeben, wurde aus dem Fenster einer Straßenbahn aufgenommen
== Anmerkungen und Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Phantom_Ride
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Praviršulio tyrelis
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= Praviršulio tyrelis =
Der Praviršulio tyrelis ist eine ausgedehnte Moorlandschaft in Litauen mit vielen seltenen Tier- und Pflanzenarten. Seit 1969 steht das Moor als botanisch-zoologisches Schutzgebiet (litauisch: Praviršulio tyrelio botaninis-zoologinis draustinis) unter Naturschutz. Zudem wurde das Moor in gleicher Ausdehnung gemäß der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (Natura 2000) als Biotop-Schutzgebiet ausgewiesen, seit 2010 auch als Vogelschutzgebiet gemäß der Vogelschutzrichtlinie der EU. Das Schutzgebiet hat eine Fläche von 3316 ha.
== Geographie ==
Das Moor befindet sich am Ostrand des niederlitauischen Rückens auf der Wasserscheide zwischen Dubysa im Westen und Nevėžis im Osten. Dabei fließt die Luknė, die historisch ihren Ursprung im See Praviršulis hat, zur Dubysa, während die Flüsse Šventupis und Žadikė in die Šušvė münden. Im südlichen Teil bei 55° 31′ 0″ N, 23° 26′ 0″ O befindet sich der für das Moorgebiet namensgebende See Praviršulis, ein Moorauge mit einer Fläche von 70 ha und einer maximalen Tiefe von 4 m. Im westlichen Randbereich des Schutzgebietes befindet sich der See Kragų ežeras mit einer Fläche von 3 ha.
Die tiefste Stelle befindet sich im Nordosten mit 110 m ü. Meeresspiegel, die höchste Erhebung ist eine Insel im Moor mit etwa 125 m. Die Mächtigkeit des Torfes beträgt maximal acht Meter, der Torfvorrat wird auf 79 Mio. m³ geschätzt. Der Moorkomplex ist innerhalb Litauens die fünftgrößte geschlossene Moorlandschaft, wobei die größten Moore Žuvintų pelkė (68,5 km²) und Čepkelių raistas (58,6 km²) teilweise als Totalreservat geschützt sind und auch als Ramsar-Territorium gemeldet sind. Der Čepkelių raistas ist zudem Bestandteil des Nationalparks Dzūkija.
Die jährliche Niederschlagsmenge liegt bei 600 mm, die Verdunstungsmenge bei 390 mm. Die jährliche Sonneneinstrahlung beträgt 356 kJ/cm².Orte in der Umgebung des Moores sind Vosiliškis (etwa 300 Einwohner), Šaukotas (500), Papušinys (300) und Žaiginys (400). Das Moor wird nur am äußersten Nordrand von einer teils asphaltierten Straße (Verbindung Šiluva – Grinkiškis), geschnitten. Im Moorgebiet gibt es keine Siedlungen. Die frühere Existenz von einigen Einzelhöfen ist jedoch noch aus Obstgärten und Natursteinfundamenten zu ersehen. Die Besiedlungsdichte liegt in der Region bei etwa 15 Einwohnern/km².
Administrativ gehört das Naturschutzgebiet zu 97 % zum Kreis Radviliškis, der Rest zum Kreis Raseiniai. Die Verwaltung des Naturschutzgebietes obliegt der Direktion des Regionalparks Tytuvėnai.
== Biotope ==
Der südliche Teil um den See Praviršulis ist durch Hochmoore bzw. durch Entwässerung daraus hervorgegangene Moorheiden und Moorwälder geprägt. Der Ostrand des leicht abgesenkten Sees neigt zur Verlandung und ist von Schwingrasen bedeckt. Die eigentliche, völlig baumfreie Hochmoorweite nimmt nur etwa 30 ha ein. Deren Randbereich ist durch Quellwasser geprägt, angezeigt durch Fieberklee. Der Moorrand und der ganze Nordteil wird von Bruchwäldern eingenommen. Ein kleiner, aber botanisch besonders wertvoller Teil besteht aus kalkhaltigen Niedermooren mit Kleinseggenried und Röhricht. Auf Erhebungen im Moor findet sich natürlicher Nadelmischwald mit einem hohen Anteil an Totholz. Vereinzelt sind Überreste von anthropogen geprägten Biotopen, Ergebnisse extensiver Landwirtschaft, zu finden.
== Flora ==
Entsprechend der Vielzahl verschiedener Biotope ist auch die Flora artenreich, mit vielen Vertretern, die im litauischen Rotbuch geführt werden. Das Moor ist erst spät von der Botanik zur Kenntnis genommen worden, in Standardwerken bis in die 1990er Jahre fehlt jede Erwähnung. Hier wies Vaclovas Stukonis erstmals in Litauen das Blutrote Knabenkraut nach, hier ist einer der wenigen Fundorte der Fliegen-Ragwurz und das ausgedehnteste Vorkommen des Karlszepters in Litauen anzutreffen. Weiter wachsen hier Sumpf-Läusekraut, Fettkraut, Baltisches Knabenkraut, Geflecktes Knabenkraut, Strohgelbes Knabenkraut, Traunsteiners Knabenkraut, Zweiblättrige Waldhyazinthe, Grünliche Waldhyazinthe, Kleinblütiges Einblatt, Sumpf-Glanzkraut, Torfgränke, Moltebeere, Strauch-Birke, Sonnentau-Arten, Blasenbinse, Wollgräser, darunter das seltene Zierliche Wollgras, Lockerblütiges Rispengras, Mittlerer Lerchensporn, See-Brachsenkraut und viele andere.
Unsicher ist der Status von Moor-Steinbrech von dem frühere Funde bekannt sind, die aber gegenwärtig nicht verifiziert werden können.
== Fauna ==
An seltenen Säugetieren sind Elch, Wolf, Schneehase und Otter anzutreffen. Im zentralen und südlichen Teil sind zahlreiche Biber mit der Aufstauung des Entwässerungssystems beschäftigt. Recht häufig sind Reh, Fuchs und Wildschwein. Vereinzelt wurden der Luchs oder dessen Spuren gesichtet. Ob es sich um durchziehende oder sesshafte Tiere handelt ist nicht gesichert.
Brutvögel sind unter anderen Rohrweihe, Wachtelkönig, Birkhuhn, Ziegenmelker, Goldregenpfeifer, Kranich, Schreiadler und Schwarzstorch.
Einige Insekten sind innerhalb Litauens bisher nur in dieser Moorlandschaft beobachtet worden, dazu gehören die Tanzfliegen Empis caudatula und Empis stercorea, die Minierfliege Phytomyza continua, die Schwebfliege Dasysyrphus arcuatus und die Bremse Chrysops rufipes. Charakteristische Schmetterlinge der Moorlandschaft sind etwa Hochmoorgelbling, Hochmoorbläuling, Gelbringfalter, Wald-Wiesenvögelchen und Großes Wiesenvögelchen (Satyrinae), Skabiosen-Scheckenfalter und Baldrian-Scheckenfalter.
== Pilze ==
In den Moorwäldern sind Birkenpilze häufig, die hier auch gesammelt werden. In höheren Lagen finden sich verschiedene Steinpilze. An Speisepilzen kommen zudem der Pfifferling und Edelreizker vor. Im Mischwald am Südrand des Schutzgebietes wurde der markante violette Schleierling gefunden.
Besonders zahlreich sind durch das große Angebot an Totholz verschiedene Baumpilze. Stellvertretend sei hier der im Rotbuch Litauens gelistete, seltene Glänzende Lackporling genannt.
== Anthropogene Beeinflussung ==
Im Gegensatz zu anderen Moorgebieten um die nahe gelegenen Orte Šiluva und Tytuvėnai, die teilweise komplett dem Torfabbau zum Opfer gefallen sind, ist das Moor Praviršulis gut erhalten, aber dennoch gekennzeichnet durch menschliche Tätigkeit. Stellen, an denen Beerensammler, Angler und Jäger verkehren – insbesondere am Ufer und an den Zugängen zum See Praviršulis sowie an Hochsitzen – sind vermüllt.
=== Hydromelioration ===
Das Moorgebiet war noch vor hundert Jahren wesentlich größer als heute. Weite Bereiche wurden trockengelegt und werden heute landwirtschaftlich genutzt. Teilweise wurden in unmittelbarer Nachbarschaft des Moores auch Flächen aufgegeben, die vernässen und verholzen – dieser Prozess hat aber mit der Zahlung von EU-Agrarsubventionen aufgehört und wird teils sogar rückgängig gemacht.
Die älteste bekannte Entwässerung stammt vom Ende des 19. Jh., als der Besitzer des Gutes Burbiškiai einen Entwässerungsgraben aus dem See Praviršulis graben ließ, um Weideland zu gewinnen. Sämtliche Fließgewässer wurden in den 1950er Jahren kanalisiert und begradigt und weitere Entwässerungsgräben angelegt.
In den 1950er bis 1960er Jahren wurde im südlichen Lagg des Hochmoores auf einer Fläche von etwa 70 ha Torf gestochen. Eine aktive Renaturierung erfolgte nicht. Mittlerweile hat sich ein Mosaik aus Schwingrasen mit Moosbeere in den ehemaligen Torfstichgräben und Moorwald mit Moorbirke, Kiefer und Sumpfporst gebildet.
In den 1980er Jahren wurden die Gräben um das Moor vertieft. Die Naturschutzgesetzgebung in Litauen formuliert, dass „das hydrologische Regime nicht verändert werden darf“. Dieser Umstand macht es außerordentlich kompliziert, den sonst üblichen Moorschutz durch Verfüllung der Entwässerungsgräben durchzusetzen.
Insbesondere der Abfluss aus großen Teilen des Hochmoors durch Gräben, statt, wie früher durch den See Praviršulis, führt zu einer verringerten Durchflussrate im See, verbunden mit Eutrophierung und Verlandung. Zudem wurde der Wasserspiegel im See abgesenkt, was zu einer schnellen Sukzession der umliegenden Moorwälder führt.
=== Jagd ===
Das Naturschutzgebiet wurde im Jahr 2000 per Ministererlass der Landwirtschaftlichen Universität Litauens und dem Litauischen Waldinstitut als Jagdrevier zu Lehr- und Forschungszwecken für zehn Jahre zugeteilt.
Anwohner melden jedoch Zweifel daran an, dass alle umliegenden Jagdpächter das Naturschutzgebiet respektieren.
=== Land- und Forstwirtschaft ===
Ein Teil des Territoriums wurde früher landwirtschaftlich genutzt, überwiegend als Wiese und Weideland in extensiver Nutzung. Zum Teil handelte es sich um Feuchtwiesen oder kleine Wieseneinsprengsel im Wald, die von der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie im Anhang II unter der Bezeichnung „*6530 Wiesen mit Gehölzen in Fennoskandien“ als besonders schützenswerter Biotop bezeichnet werden. Diese Biotope sind wegen der Aufgabe kleiner Höfe in ihrer Existenz gefährdet. Daher sieht der Managementplan im Entwurf eine regelmäßige Entkusselung verschiedener Bereiche vor – allerdings bei ungeklärter Finanzierung.
Nach dem Beitritt zur EU wurden viele brach liegende Flächen am Rande des Moores wieder einer intensiven Landwirtschaft zugeführt oder mit EU-Fördermitteln aufgeforstet. Damit wird erneut die Gefahr des Eintrags von Düngemitteln sowie Herbiziden und Pestiziden in die empfindliche Moorlandschaft aktuell. Daneben droht wertvollen Weidebiotopen die Zerstörung durch Bepflanzung mit Fichten.
Ein Projekt des regionalen Vereins Sargelių bendruomenės centras, das von der UNDP finanziert wird, hat das Ziel, in den Rand- und Pufferbereichen des Moores mehr extensive und umweltverträgliche Landwirtschaft zu fördern.
Besonders die nördlichen Bereiche des Moores werden forstwirtschaftlich genutzt. Hier wachsen vor allem Schwarzerle, Gemeine Esche, Birken und in trockeneren Lagen Espe und Fichte. Auf Kahlschlägen oder ehemaligen extensiv genutzten Wiesen und Weiden wurden Gemeine Kiefer und Fichte in Monokultur angepflanzt. Im Interesse der Forstwirtschaft und Jagdpächter werden teils Fahrwege freigehalten und Biberdämme zerstört. Zudem ist die Forstwirtschaft verantwortlich für Schneisen zwischen den Planquadraten in den Wäldern, eingeschlossen Moorwälder, die eigentlich keine forstwirtschaftliche Bedeutung haben. 2004 wurden Teile des Moorwaldes als sogenannte Schlüsselbiotope (lit. kertinė miško buveinė, e. woodland key habitat) markiert. In diesen Wäldern, die zum staatlichen Forst gehören, wird nicht mehr eingeschlagen.
== Geschichte ==
Von den an das Moor angrenzenden Ortschaften wurde als erste Tendžiogala im 14. Jahrhundert erwähnt im Zusammenhang mit der zeitweiligen Besetzung Niederlitauens durch den Deutschen Orden. Zu dieser Zeit war Tendžiogala ein regionales Zentrum – archäologisch wurden aber nur einige mittelalterliche Grablagen untersucht, und auch das nur in geringem Umfang.
Schlackefunde in Ortschaften am Moor und eisenhaltige Quellen machen den Abbau von Rasenerz nebst lokaler Verhüttung wahrscheinlich. Ebenfalls in Tendžiogala wurde zum Ende des 19. Jahrhunderts in dem Gut eine Schnapsbrennerei eingerichtet, die Moorwasser verwendete. Spätere Versuche, Wasser aus Brunnen oder Tiefenbohrungen zu verwenden, führten zu minderer Qualität.
Im Zweiten Weltkrieg diente das Moor als Zuflucht der Bewohner – in manchen Dörfern wurden sämtliche Gebäude im Juni 1941 vernichtet. Nach dem Krieg verbargen sich antisowjetische Partisanen in verschiedenen Verstecken, darunter auch solchen im Moor Praviršulis.
Die wissenschaftliche Untersuchung des Moores ist eng mit der Hydromelioration zur Gewinnung von landwirtschaftlicher Nutzfläche und dem Abbau von Torf verbunden. Die Einstellung des Torfstichs und der Schutz des Territoriums erfolgte auf Drängen einzelner Enthusiasten, speziell unter Verweis auf den Schreiadler als Brutvogel.
=== Name ===
Der Namensbestandteil tyrelis ist eine regional verwendete Bezeichnung für Moore, insbesondere die Hochmoorweite oder baumfreie Moorheide. Der Begriff ist verwandt mit tyras („leer, klar, edel, ohne Beimengungen“) und tyrė („Brei“). Anwohner verwenden zumeist jedoch den hochsprachlichen Begriff pelkė, der auch teilweise in der Literatur anzutreffen ist.
Der namensgebende See wurde verschieden gedeutet. Wahrscheinlich ist der Bezug zu viršus („oben“), was sich dann wiederum auf die Lage des Sees im Hochmoor beziehen könnte.
== Ortssagen ==
Die bekannteste Sage, die auch heute noch erzählt wird, beschäftigt sich mit der Ätiologie des Sees Praviršulis.
Der See befand sich ursprünglich an einem anderen Ort weiter im Süden. Da er keinen Namen hatte (in Varianten gibt es auch andere Gründe), erhob er sich eines Tages mit großem Lärm und hing nun als Wolke über mehreren Dörfern. Da das herabstürzende Wasser die Dörfer zerstört hätte, musste sich jemand opfern, um den See in eine menschenleere Gegend zu führen und ihm dort einen Namen zu geben. Dazu fand sich schließlich eine Frau namens Uršulė bereit; sie ging ins Moor und rief: „Ich bin Uršulė und du sei Prauršulis“. Da fiel der See herab. Als die Anwohner herbeieilten, fanden sie zu ihrer Überraschung Uršulė lebend auf einer Insel im See.Ein anderes Motiv existiert gleichfalls in verschiedenen Varianten und ist auch von anderen Seepaaren in Litauen bekannt.
In dem See Meiliškio ežeras ertrank einst eine Kuh, die dann später im fünf Kilometer entfernt liegenden See Praviršulis aufgefunden wurde.
== Literatur ==
Daiva Šeškauskaitė, Bernd Gliwa (Hrsg.): Praviršulis. Kaunas 2009, ISBN 978-9955-37-079-6
Laura Penikaitė Janulaitienė, Raimondas Čiuplys, Justinas Janulaitis: Praviršulio tyrelio gamtotvarkos planas (Managementplan, 2005, bisher unbestätigter Entwurf)
Zigmantas Gudžinskas, Mindaugas Ryla: Lietuvos gegužraibiniai (Orchidaceae Lituaniae). Botanikos institutas, Vilnius 2006, ISBN 9986-662-28-1.
L. Balčiauskas et al.: Lietuvos gamtinė įvairovė – Radviliškio rajonas. Kaunas 1997.
== Weblinks ==
Karte und kurze Beschreibung (litauisch)
Eintrag bei EUNIS (nicht ganz aktuell)
Sargeliai e. V. (zusätzliche Bilder, Biotope, Schmetterlinge, Libellen, Orchideen)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pravir%C5%A1ulio_tyrelis
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Gebetbuch Ottos III.
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= Gebetbuch Ottos III. =
Das Gebetbuch Ottos III., auch als Königsgebetbuch Ottos III. oder als Pommersfelder Gebetbuch bezeichnet, ist eine mittelalterliche Handschrift, die zu den Hauptwerken der ottonischen Buchmalerei gezählt wird. Die Handschrift wird seit 1994 unter der Signatur Clm 30111 in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrt. Die zwischen 984 und 991 entstandene und zum Privatgebrauch des jungen Königs Otto III. bestimmte Handschrift ist das einzige erhaltene Gebetbuch eines Königs der ottonischen Zeit. Texte und Buchkunst der Handschrift vermitteln ein monastisch geprägtes Herrscherideal.
== Beschreibung ==
=== Das Buch ===
Der Codex ist mit einem Format von 15 × 12 cm ungewöhnlich klein, aber dafür ausgesprochen prächtig ausgestattet. Die 44 Pergamentblätter sind mit Goldtinte auf gemaltem Purpurgrund beschrieben. Der Buchschmuck besteht aus fünf ganzseitigen Miniaturen und insgesamt 25 kleinen Goldinitialen mit roten Konturen und blauen Binnengründen. Die Schrift ist eine regelmäßige karolingische Minuskel; einige Überschriften sind in Capitalis rustica ausgeführt. Die Schriftfläche misst 9,5 × 7,5 cm und ist von einer zinnoberrot umsäumten Goldleiste gerahmt. Die durchschnittlich 14 bis 15 Zeilen pro Seite wurden mit einem Griffel vorgezeichnet.Die Handschrift ist seit 1950 in zwei mit blauem, in sich gemustertem Samt bezogene hölzerne Buchdeckel gebunden, die durch zwei Schließen mit Lederschlaufen zusammengehalten werden. Dieser Einband ersetzte einen schwarzen Samteinband, der ebenfalls nicht ursprünglich war. Der Buchblock weist einen Goldschnitt auf, weshalb eine Neubindung im Barock vermutet wird.Die Handschrift ist weitgehend vollständig. Sie enthält alles Wesentliche, was in einem Gebetbuch für die private Andacht eines Laien zu erwarten ist. Dennoch können einzelne Blätter verloren gegangen sein, wobei jedoch Wert darauf gelegt wurde, das Gebetbuch in einem vollständig erscheinenden Zustand zu erhalten. Auf fol. 31r ist oben ein isolierter Gebetsschluss sorgfältig getilgt worden; der Beginn des Gebets muss sich auf einem verlorenen Vorblatt befunden haben. Vermutlich ist das äußere Doppelblatt zur Lage fol. 31-36 verloren gegangen, hierfür spricht auch, dass die Lage heute mit einer Rubrik für ein Morgengebet schließt, der sich auf fol. 37r jedoch kein Morgengebet anschließt. Das Lagenschema lautet I + 2 IV + II + IV + 2 III + I.
=== Der Text ===
Der Codex ist das private Gebetbuch eines Königs und gehört schon deshalb zu einem selten überlieferten Handschriftentypus. Außer dem Gebetbuch Ottos III. sind nur das Gebetbuch Karls des Kahlen (München, Schatzkammer der Residenz, Inv.-Nr. 4) und ein Psalter erhalten, der für den privaten Gebrauch Ludwigs des Deutschen geschrieben wurde (Berlin, Staatsbibliothek, Ms. theol. lat. fol. 58). Einen festen Kanon oder eine Textvorlage für private Gebetbücher gab es nicht.
Nach der ersten Miniatur beginnt die Handschrift mit den Psalmen 6, 31, 37, 50, 101, 129 und 142, den sogenannten Bußpsalmen. Die in den Bußpsalmen ausgedrückte Glaubenshaltung war, dass der Mensch sündig und sein Abstand zur erhabenen Majestät Gottes unüberbrückbar war, so dass er Heilige und Engel als Vermittler und Fürbitter benötigte. Nach einer Rubrik folgt eine Allerheiligenlitanei; insgesamt werden 81 Heilige um Beistand angerufen. Die Fürbitten der Litanei umfassen zahlreiche Anliegen, unter anderem Frieden und Eintracht, wahre Reue und Nachlass der Sünden. Für sich selbst erfleht der Betende Zerknirschung des Herzens und die Gabe der Tränen, Bewahrung vor der ewigen Verdammnis, Gottes Erbarmen und in Bewusstsein seines königlichen Rangs und der Verantwortung des Herrschers:
Nach dem dreimaligen Kyrie und dem Vaterunser folgen vier Schlussgebete und die zweite Miniatur. Fol. 21v, die Rückseite der Majestas, ist unbeschrieben, zeigt jedoch den purpurnen Schriftspiegel der anderen Seite. Auf fol. 22r folgt eine Gebetseinleitung, der sich Gebete zu den Heiligen, den Aposteln, Maria, Gottvater, Christus, dem Heiligen Geist und der Dreifaltigkeit sowie ein Ablassgebet, ein Morgengebet, ein Kyrie und Kollektengebet, Gebete zur Kreuzverehrung und Gebete zum Betreten und Verlassen der Kirche anschließen. Nach dem letzten Gebet steht als Explicit Explicit liber sowie der Segenswunsch Tu rex vive feliciter. Amen (Du, König, lebe glücklich. Amen). Die Handschrift schließt mit dem Dedikationsbild und dem Widmungsgedicht.
Die Gebete sind nicht eigens für den Empfänger der Handschrift geschrieben worden. Mehrere Gebete, etwa das zu Gottvater fol. 26v, sind dem Alkuin zugeschriebenen Libellus precum des späten 8. Jahrhunderts entnommen. Die Zusammenstellung der Gebete im Gebetbuch Ottos III. ist ohne direktes Vorbild und stimmt mit keinem erhaltenen mittelalterlichen Gebetbuch überein.Außer dem eigentlichen Text des Gebetbuches enthält der Codex auf fol. 1r., das ursprünglich leer war, in einer ins 11. Jahrhundert datierten Schrift den Besitzeintrag einer Duriswint; dieselbe Hand schrieb auch auf dem letzten Blatt einen Auszug aus der Genealogie Christi nieder.
=== Die Miniaturen ===
==== Kreuzigung und Deesis ====
Die erste Miniatur zeigt auf der Versoseite die Kreuzigung, unten flankiert von Maria und dem Evangelisten Johannes, oben von den Personifikationen von Sol und Luna. Die Rectoseite ist in zwei Register geteilt. Im Oberen steht Christus im Sinn der Deesis zwischen Johannes dem Täufer und Maria, die sich ihm zuwenden. Unten ist ein barhäuptiger junger Laie in Gebetshaltung zwischen den durch ihre Attribute gekennzeichneten Heiligen Petrus und Paulus abgebildet. Er trägt ein mit Goldborten besetztes Gewand, darüber einen als Chlamys bezeichneten kurzen Mantel, dessen Purpurfarbe ihn als König ausweist. Insignien, wie zum Beispiel eine Krone, fehlen. Im Begleittext der Kreuzigung bittet der Betende den rex regum (König der Könige, gemeint ist Christus) um die Erleuchtung von Herz und Leib im Sinn der Kreuznachfolge. Das Gebet lautet:
Das Gebet setzt sich aus Betrachtung und Bitte zusammen und bindet den Betrachter in die Miniatur ein. Der auf der Gegenseite abgebildete junge König ist gleichzeitig Betrachter der Kreuznachfolge wie auch Objekt eigener Betrachtung.
==== Otto in Proskynese und Maiestas ====
Die Verso-Seite zeigt denselben jungen König wie das Deesis-Bild in tiefer Proskynese, einer Geste der demütigen Verehrung. Er trägt den Purpurchlamys sowie eine golddurchwirkte Brustbinde, die möglicherweise vom Loros der byzantinischen Kaisertracht beeinflusst ist, jedoch keine Herrschaftsinsignien. Er liegt vor einer herrschaftlichen Architektur mit einem zentralen Torbogen und darüber aufragenden Turm, in der eine Figur mit erhobenem Schwert steht. Sein Blick ist auf die auf der Recto-Seite dargestellte Maiestas gerichtet. Der Schwertträger hinter ihm ist mit einer blauen Tunika und Purpurchlamys, identisch zum König, bekleidet. Wie der König ist er mit der Vision der Maiestas begnadet.Auf der Gegenseite thront Christus in der von zwei Engeln gehaltenen Mandorla. Er sitzt auf einem goldenen Kreissegment, die Füße ruhen auf einem Regenbogen. Gekleidet ist er in eine grün-rosa Tunika mit Purpurclavi (Streifen, die sich aus der Tracht römischer Adeligen ableiten) und ein goldenes Pallium. Die rechte Hand ist zum Segen erhoben, in der linken Hand hält er ein Buch. In den Bildecken befinden sich vier goldene Sterne. Der Blick Christi ist auf den in Gebet verharrenden König gerichtet. Die Maiestas ist keine Maiestas Domini, sondern eine Engelmaiestas. Sie steht für den in der Vision erschienenen, erhöhten Gottessohn.
==== Dedikationsbild ====
Das abschließende Bild, dem auf der Rectoseite ein Widmungstext gegenübersteht, zeigt den thronenden König. Er trägt über der Tunika den Purpurchlamys mit goldenem Ornamentbesatz und eine vierseitige, kastenförmige Krone. Er sitzt mit gekreuzten Beinen auf einem verzierten Kastenthron unter einem von zwei Säulen getragenen Giebel. Von rechts nähert sich ihm ein im Sinn der Bedeutungsperspektive bedeutend kleiner dargestellter Kanoniker in einfacher Kleidung, der das Buch überreicht. Dem Bild gegenüber steht das hexametrische Widmungsgedicht:
== Kunsthistorische Erkenntnisse ==
=== Datierung und Lokalisierung ===
Der Heiligenbestand der Litanei enthält zahlreiche Heilige, die aus der Diözese Mainz stammen und dort ihren Verehrungsschwerpunkt hatten, unter anderem Ferrucius, Albanus, Theonestus und Aureus, was eine Entstehung in Mainz nahelegt. Unsicher ist, ob der Codex am Dom oder im Kloster St. Alban geschrieben wurde. Der Empfänger der Handschrift ist in dieser nicht namentlich benannt, was ihre Datierung erschwerte. Aufgrund seiner Darstellung im Deesisbild als bartloser Jüngling sowie einiger Rubriken, die sich an einen noch jungen König richten, kamen als Empfänger jedoch nur Otto III., Heinrich IV. sowie dessen Söhne Heinrich V. und Konrad in Betracht. Aus der Fürbitte „dass du mich, deinen unwürdigen Knecht und König und alle unsere Fürsten bewahrst, wie es deinem Willen entspricht“ wurde gefolgert, dass der König im jugendlichen Alter bereits selbstständig regiert haben müsse, weshalb die Söhne Heinrichs IV. als Empfänger abgelehnt wurden, da sie erst als Erwachsene die Königswürde erlangten. Aufgrund des byzantinischen Einflusses in den Miniaturen, Ottos III. Abstammung von der Byzantinerin Theophanu und des Umstands, dass deren Kanzler und Vertrauter Willigis Erzbischof von Mainz war, erfolgte die Identifizierung des Empfängers als Otto III. und die Datierung zwischen dessen Krönung zum König 983 und dem Tod der Theophanu 991. Auch paläographisch ist die Datierung in diese Zeit gesichert: Der Schreiber des Gebetbuches fertigte auch ein heute nur noch als Fragment erhaltenes Evangeliar (Epinal, Bibliothèque municipale, ms. 201) an, das ebenfalls nach Mainz lokalisiert wird. Hartmut Hoffmann identifizierte ihn außerdem als einen von drei Schreibern des heute im Vatikan aufbewahrten Evangelistars BAV Reg. lat. 15, bei dem er lediglich fol. 1r und 2v geschrieben habe. An diesem Evangelistar wirkte Hoffmann zufolge auch der Meister des Registrum Gregorii mit, der vielleicht beste Buchmaler der ottonischen Kunst.Als Auftraggeber des Gebetbuchs wird überwiegend Erzbischof Willigis vermutet. Hoffmann wies jedoch darauf hin, dass sich das scripsi im Widmungsgedicht nicht als Ich habe schreiben lassen übersetzen lasse und Willigis sicher auch begabtere Maler und bessere Schreiber für ein solches Geschenk gefunden hätte. Der Stifter des Gebetbuches erscheint im Widmungsbild als Kleriker, und nach dem Wortlaut war er mit dem König gut vertraut. Davon ausgehend erwägt Hauke, dass das Gebetbuch ein Geschenk Bernwards von Hildesheim gewesen sein könne. Bernward war 987 durch Theophanu, möglicherweise auf Vorschlag des Willigis, der ihn um 985 zum Diakon und Priester geweiht hatte, zum Erzieher Ottos ernannt worden, was er bis zur Weihe als Bischof von Hildesheim 993 blieb. Otto und Bernward blieben bis zu Ottos frühem Tod befreundet.
=== Das Bildprogramm der Handschrift ===
Ein bestimmtes Dekorationsprogramm für private Gebetbücher gab es nicht, im Gegensatz zum anderen privaten Gebet- und Andachtsbuch, dem Psalter. Der überwiegende Teil der erhaltenen frühmittelalterlichen Gebetbücher ist bilderlos oder weist nur mehr oder weniger aufwendige Initialen auf. Text und Miniaturen des Gebetbuchs Ottos III. folgen einer bestimmten Planung, die Miniaturen sind ein integraler Teil der Handschrift. Sie gliedern die Handschrift, gleichzeitig dienten sie der andächtigen Betrachtung. Der Inhalt der Miniaturen ist dem auf Christus zentrierten mittelalterlichen Herrschaftsverständnis verhaftet, das das Königtum als ein von Gott verliehenes Amt begreift.Winterer weist darauf hin, dass die Rolle des Abtes, wie sie in der Benediktsregel niedergelegt ist, auch als eine Richtschnur für königliches Handeln gesehen wurde. Deshalb sei im Gebetbuch mehrfach der Einfluss monastischer Meditationsliteratur, namentlich des Figurengedichts De laudibus sanctae crucis von Hrabanus Maurus, feststellbar. Ebenso wie dieses Werk beginne das Gebetbuch mit der Kreuzigung und einer Herrscherdarstellung. Auch im Bild des in Proskynese betenden Königs sei ein Einfluss des Bildgedichts Hrabanus' feststellbar, das eine Miniatur des das Kreuz in dieser Haltung verehrenden Dichters enthält. Das Kreuz, das von Hrabanus und im ebenfalls von Hrabanus' Bildgedicht beeinflussten Anbetungsbild im Gebetbuch Karls des Kahlen verehrt wird, sei im Gebetbuch Ottos durch Christus ersetzt, der Otto die Mitherrschaft im Himmel verheiße. Erst mit dem Thronbild verlasse der König die demütig-mönchische Rolle. Die Bilder des Gebetbuches stellen den König in seinem Erleuchtungsprozess dar: Nach der Bitte um Erleuchtung, wie sie im Bildtext des Kreuzigungsbildes ausgesprochen wird, wird dem demütigen Stellvertreter Christi auf Erden im Devotionsbild die Vision Christi gewährt. Im abschließenden Bild nimmt der König die Handschrift entgegen, wobei der gegenüberstehende Widmungstext seine Frömmigkeit und erfolgte Erleuchtung betont und ihm beständige Königsmacht wünscht. Die Bilder spiegeln daher Vorstellungen der Königsherrschaft wider.
==== Deesis ====
Das Motiv der Deesis stammt aus Byzanz; die Darstellung im Gebetbuch Ottos III. ist das früheste Beispiel für diesen Bildtypus in der abendländischen Buchmalerei. Die Bitte, mit der sich Maria und Johannes in der Miniatur an Christus wenden, muss als Fürbitte für den Herrscher, der durch seine Darstellung im unteren Bildfeld in die himmlische Hierarchie aufgenommen ist, und seine unter Christi Schutz stehende Herrschaft verstanden werden. Die Apostel Petrus und Paulus stehen in der Miniatur als persönliche Schutzpatrone Ottos, haben jedoch darüber hinaus einen Bezug auf Rom. Sie sind Repräsentanten der Kirche, Schutzpatrone der Stadt Rom und damit die Garanten seiner Herrschaft. Auch die Hintergrundfarben der Deesis-Darstellung haben Bedeutung: Die eigentliche Deesis steht vor einem tiefen Dunkelblau, das die himmlischen Sphären kennzeichnen; der Purpurgrund des unteren Registers kennzeichnet die Sphäre des von Gott eingesetzten Herrschers.
==== Proskynese und Maiestas ====
Die eher seltene Verteilung eines Anbetungsbildes auf zwei gegenüberliegende Seiten kam bereits im Gebetbuch Karls des Kahlen vor und erscheint etwa gleichzeitig mit dem Entstehen des Gebetbuchs Ottos III. im Everger-Epistular.
Die Proskynese war im Hofzeremoniell des Westens unüblich, aber Teil der Liturgie bei der Verehrung des Kreuzes. Nach dem Mainzer Königsordo, der die Krönungszeremonie des Ostfränkischen Reiches überliefert, lag der König während der Litanei in Kreuzhaltung vor dem Altar. Als ikonographisches Motiv stammt die Proskynese aus Byzanz als sichtbarer Ausdruck des Gedankens, dass der Herrscher als Vasall und Stellvertreter Christi handele. Die Proskynese vor dem Kreuz in der westlichen Buchmalerei ist wiederum von der Darstellung des Hrabanus Maurus in seinem Figurengedicht De laudibus sanctae crucis beeinflusst.In der Architekturdarstellung könnte eine Anspielung auf eine Stadt verborgen sein, nämlich Aachen. Hierfür spricht insbesondere der ungewöhnlich stark hervortretende Mauercharakter, der nicht den herkömmlichen Hoheitsformeln für Innenräume, wie zum Beispiel Säulen, Giebel und Vorhängen, entspricht. Saurma-Jeltsch sieht in der Architekturdarstellung dagegen die Flächenprojektion eines Kirchenbaus, in dem der Gebetsvorgang stattfindet. Der Arkadenbogen diene sowohl als Hoheitszeichen als auch als Zeichen dafür, dass die Ereignisse im Zentrum des Raumes stattfänden, in dem der Schwertträger hinter dem betenden König stehe. Saurma-Jeltsch vermutet, dass die Figur des Schwertträgers eine Verdoppelung des Herrschers sein könne. Schwertträger sind als Begleitfiguren in Herrscherdarstellungen häufiger, allerdings nicht in Devotionsbildern. Das Schwert war ein Herrschaftssymbol, die Übernahme des Schwertes während der Krönungszeremonie machte den König zum „defensor ecclesiae“, zum Verteidiger des Glaubens.
Die Majestas-Darstellung zeigt den Einfluss byzantinischer Himmelfahrtsdarstellungen; Lauer verweist beispielsweise auf das Kuppelmosaik in der Hagia Sophia in Thessaloniki, in dem die Haltung Christi und der Engel fast identisch sei. Durch sein demütiges Gebet empfängt der König die Vision Christi, der ihm seinen Segen spendet. Der auf Christus gerichtete Blick erhebt den König trotz der Demutshaltung – er ist offenbar der Anschauung Christi würdig.
==== Dedikationsbild und Widmungsgedicht ====
Das Thronbild erscheint gegenüber den anderen Miniaturen der Handschrift weniger gelungen; möglicherweise sah sich der Maler, der bei Kreuzigung, Deesis und Majestas auf vertraute Motive zurückgreifen konnte, bei diesem mit einer ungewohnten Aufgabe konfrontiert, da die byzantinische Kunst Dedikationsbilder nicht kennt. Auffällig ist, dass die durch ihre weiße Farbe als Marmor gekennzeichnete Aedikula, unter der der König thront, den Rahmen überschneidet. Lauer hält es für möglich, dass der Maler sie aus einem anderen Zusammenhang kopierte. Der das Buch überreichende Geistliche ist unorganisch eingefügt und hat keine Blickbeziehung zum König. Haltung und Gestik des Königs passen nicht, der König sitzt nicht fest auf dem Thron, sondern scheint auf dessen Vorderkante zu balancieren. Möglicherweise griff der Maler auf verschiedene Vorbilder zurück. Im Typus ist ein Einfluss des zweiten Dedikationsbildes aus einer Handschrift des De laudibus sanctae crucis (Vatikan, BAV, Reg. lat. 124) möglich, die sich zur Entstehungszeit des Gebetbuches in Mainz befand.
Durch die Aedikula wird das Dedikationsbild einem Herrscherbild angenähert. Das Motiv der Aedikula fand gelegentlich in Herrscherbildern, häufiger in Evangelistenbildern Anwendung. Der Maler könnte die Aedikula ebenfalls aus der karolingischen Buchmalerei übernommen haben. Auch die Figur des Königs weist Bezüge zur karolingischen Buchmalerei auf, seine Haltung ist nahe mit der des Evangelisten Lukas des Lorscher Evangeliars verwandt, selbst die Falten unter oder hinter der Hüfte.
== Geschichte ==
Otto III. dürfte das Gebetbuch bis an sein Lebensende benutzt haben. Nach dem Tod Ottos III. im Jahre 1002 gelangte die Handschrift möglicherweise in den Besitz einer seiner Schwestern, die bedeutenden Frauenstiften vorstanden. Der Namenseintrag der Duriswint, über die nicht mehr bekannt ist, könnte in einem dieser Stifte entstanden sein. Später, der genaue Zeitpunkt ist nicht bekannt, gelangte die Handschrift in den Besitz der Grafen von Schönborn und wurde auf Schloss Weissenstein in Pommersfelden in den Privatgemächern der Grafen aufbewahrt, bevor sie unter der Signatur Hs. 2490 in die Schlossbibliothek kam.
1847 berichtete Ludwig Konrad Bethmann in einem Aufsatz erstmals über die Handschrift, als deren Empfänger er Heinrich IV. vermutete.1897 erfolgte durch Joseph Anton Endres und Adalbert Ebner (1861–1898) eine erste ausführliche Beschreibung, die weiter an der Zuschreibung an Heinrich IV. festhielt. 1950 wurde der Codex restauriert und neu gebunden, wobei versucht wurde, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, der bei einer früheren Neubindung verändert worden war. Die Identifizierung Ottos III. als Empfänger der Handschrift erfolgte 1957 durch Carl Nordenfalk (1907–1992).1994 verkaufte Karl Graf von Schönborn-Wiesentheid die Handschrift für 7,4 Millionen Deutsche Mark an eine Finanzierungskoalition aus der Bundesrepublik Deutschland, der Kulturstiftung der Länder, dem Freistaat Bayern sowie der Bayerischen Landesstiftung, um mit dem Erlös Schloss Pommersfelden sanieren zu können. Seitdem befindet sich der Codex unter der Signatur Clm 30111 in der Bayerischen Staatsbibliothek.
== Faksimile ==
Das Gebetbuch Ottos III. wurde 2008 als Faksimile einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Codex ist zudem als Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek im Internet zugänglich.
== Literatur ==
Wolfgang Irtenkauf: Die Litanei des Pommersfelder Königsgebetbuches. In: Studien zur Buchmalerei und Goldschmiedekunst des Mittelalters. Festschrift für Hermann Karl Usener. Verlag des Kunstgeschichtlichen Seminars an der Universität Marburg an der Lahn, Marburg 1967, S. 129–136.
Hartmut Hoffmann: Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen Reich (= Schriften der Monumenta Germaniae Historica. Band 30). Hiersemann, Stuttgart 1986, ISBN 3-7772-8638-9.
Rudolf Ferdinand Lauer: Studien zur ottonischen Mainzer Buchmalerei. Dissertation Bonn 1987.
Bayerische Staatsbibliothek (Hrsg.): Gebetbuch Ottos III. Clm 30111. (= Patrimonia. Band 84). Bayerische Staatsbibliothek, München 1995.
Sarah Hamilton: Most illustrious king of kings. Evidence for Ottonian kingship in the Otto III. prayerbook. In: Journal of Medieval History 27, 2001, S. 257–288.
Klaus Gereon Beuckers: Das ottonische Stifterbild. Bildtypen, Handlungsmotive und Stifterstatus in ottonischen und frühsalischen Stifterdarstellungen. In: Klaus Gereon Beuckers, Johannes Cramer, Michael Imhof (Hrsg.): Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Imhof, Petersberg 2002, ISBN 3-932526-91-0, S. 63–102.
Christoph Winterer: Monastische Meditatio versus fürstliche Repräsentation. Überlegungen zu zwei Gebrauchsprofilen ottonischer Buchmalerei. In: Klaus Gereon Beuckers, Johannes Cramer, Michael Imhof (Hrsg.): Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Imhof, Petersberg 2002, ISBN 3-932526-91-0, S. 103–128.
Elisabeth Klemm: Die ottonischen und frühromanischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek. (= Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Band 2). Reichert, Wiesbaden 2004, S. 222–223, Nr. 202 (Digitalisat).
Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Das Gebetbuch Ottos III. Dem Herrscher zur Ermahnung und Verheißung bis in die Ewigkeit. In: Frühmittelalterliche Studien 38, 2004, S. 55–88.
Das Gebetbuch Ottos III. Kommentar zur Faksimile-Edition der Handschrift Clm 30111 der Bayerischen Staatsbibliothek München. Faksimile-Verlag, Luzern 2008, ISBN 978-3-85672-115-2, darin:
Hermann Hauke: Das Gebetbuch Ottos III. Geschichte, kodikologische und inhaltliche Beschreibung. S. 13–62.
Elisabeth Klemm: Kunstgeschichtlicher Kommentar. Der Buchtyp – Das frühmittelalterliche Gebetbuch. Eine Übersicht. S. 13–62.
== Weblinks ==
Digitalisat bei der Bayerischen Staatsbibliothek
Eintrag im Online-Katalog der Bayerischen Staatsbibliothek
Ikonographische Erschließung der Miniaturen in der Warburg Institute Iconographic Database, mit Links zur digitalen Ausgabe der Bayerischen Staatsbibliothek
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gebetbuch_Ottos_III.
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Prieschka
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= Prieschka =
Prieschka ist ein Ortsteil der Kurstadt Bad Liebenwerda im südbrandenburgischen Landkreis Elbe-Elster.
Die gegenwärtig 300 Einwohner zählende Ortschaft geht auf eine slawische Siedlung zurück, die sich auf einer vom Wasser der Schwarzen Elster umgebenen Insel im heutigen Kernbereich des Dorfes befand. Das Dorf wurde urkundlich 1325 erstmals als Prischka erwähnt. Es gehörte zur Herrschaft Würdenhain, die 1442 auf Befehl des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Sanftmütigen aufgelöst wurde.
Um 1520 entstand an der Schwarzen Elster ein Mühlengut, aus dem 1698 das Prieschkaer Erb- und Freigut mit dem dazugehörigen Gutsbezirk hervorging. An der Dorfstraße wurde 1929 ein heute denkmalgeschützter Glockenturm aus roten Klinkern mit Hilfe von Spendengeldern zweier Brüder aus Leipzig zur Erinnerung an ihren Geburtsort Prieschka errichtet. Im Verlauf der Kreisgebietsreform in Brandenburg wurde der Ort am 6. Dezember 1993 nach Bad Liebenwerda eingemeindet.Nordöstlich der Ortslage erstreckt sich als Teil des Naturparks Niederlausitzer Heidelandschaft das etwa 80 Hektar umfassende Naturschutzgebiet Alte Röder bei Prieschka, das unter anderem der Erhaltung und Entwicklung des dort bereits vor dem Zweiten Weltkrieg nachgewiesenen Elbebibers dient.
== Geografie ==
=== Geografie und Naturraum ===
Der Ort befindet sich linksseitig an der Einmündung der Großen Röder in die Schwarze Elster im Breslau-Magdeburger Urstromtal, das wenige Kilometer östlich in der Niederung des Schradens zwischen Elsterwerda und Merzdorf mit sieben Kilometer Breite seine engste Stelle erreicht und dann nach Nordwesten schwenkt.
Umgeben ist Prieschka vom etwa 6011 Hektar großen Landschaftsschutzgebiet Elsteraue, das in drei ökologische Raumeinheiten aufgeteilt ist, wobei das Teilgebiet Elsteraue II Prieschka einschließt. Einer der Schutzzwecke des Landschaftsschutzgebietes ist die Erhaltung des Gebietes wegen seiner besonderen Bedeutung für die naturnahe Erholung im Bereich der Kurstadt Bad Liebenwerda, die etwa fünf Kilometer nördlich des Dorfes liegt.Als Teil des 484 Quadratkilometer umfassenden Naturparks Niederlausitzer Heidelandschaft erstreckt sich nordöstlich der Ortslage das etwa 80 Hektar große Naturschutzgebiet Alte Röder bei Prieschka. Sein Schutzzweck ist unter anderem die Erhaltung und Entwicklung dieses Gebietes als Lebensraum des Elbebibers und anderer existenzbedrohter Tierarten. Die 1981 unter Naturschutz gestellte Röderniederung beherbergt eines der beständigsten Vorkommen des vom Aussterben bedrohten Elbebibers. Bereits für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist dort das Vorkommen der seltenen Unterart des Europäischen Bibers bekannt; im Jahr 2002 betrug der Gesamtweltbestand 6000 Tiere.
=== Klima ===
Mit seinem humiden Klima liegt Prieschka in der kühl-gemäßigten Klimazone, jedoch ist ein Übergang zum Kontinentalklima spürbar. Die nächsten Wetterstationen befinden sich in Richtung Nordosten in Doberlug-Kirchhain, westlich in Torgau und südlich in Oschatz.
Der Monat mit den geringsten Niederschlägen ist der Februar, der niederschlagsreichste der Juli. Die mittlere jährliche Lufttemperatur beträgt an der etwa 20 Kilometer nordöstlich gelegenen Wetterstation Doberlug-Kirchhain 8,5 °C. Der Unterschied zwischen dem kältesten Monat Januar und dem wärmsten Monat Juli beträgt 18,4 °C.
== Geschichte ==
=== Ortsname und erste urkundliche Erwähnung ===
Eine erste urkundliche Erwähnung des Ortes erfolgte 1325 als Prischka. Weitere Formen des Ortsnamens waren:
1408 Prischka
1443 Brissigk
1463 Brißk
1484 Prischk
1486 Brissig
1540 Brischk
1550 Prischka
1577 Brischkaw
1675 Prischke, Pritschke, PrißkeDie Namensformen von 1325 und 1408 sind durch spätere Abschriften überliefert. Sie zeigen Schreibgewohnheiten aus dem 16. Jahrhundert. Am wahrscheinlichsten ist eine Ableitung der Ortsnamen aus dem altsorbischen Brež(e)k (Ort am Ufer), vielleicht auch Brežky oder obersorbisch brjóh, niedersorbisch brjog (Rand, Ufer), polnisch brzeg und Brezky (kleine Birken, Birkenwäldchen).
=== Frühgeschichte ===
Die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung in Prieschka stammen aus der mittleren Steinzeit. Auch aus der später folgenden Bronzezeit wurden auf der Feldflur des Ortes Siedlungsspuren gefunden. Außerdem befindet sich dort ein germanischer Friedhof aus der Zeit des 3. und 4. Jahrhunderts, von dem einige Gräber in den Jahren 1907 und 1928 sachgemäß freigelegt werden konnten. Die in Prieschka gefundenen Brandgrubengräber werden dem Stamm der Burgunden zugeschrieben. Bei den Funden handelt es sich neben Tongefäßen unter anderem um Lanzen- und Pfeilspitzen, Äxte, Messer sowie Schwerter, Sporen und Eimerhenkel. Sie gelangten zum größten Teil in das Berliner Staatsmuseum, das Hallenser Landesmuseum für Vorgeschichte und in das Bad Liebenwerdaer Kreismuseum.
=== Von der Entstehung der Ortschaft bis zur Reformation ===
Die Gründung des Ortes geht auf eine slawische Siedlung zurück, die sich inmitten eines Waldes auf einer vom Wasser der Schwarzen Elster umgebenen Insel befand. Das Dorf hatte eine typische Hufeisenform, die auch als Rundweiler bezeichnet wird.
Prieschka gehörte ursprünglich zur Herrschaft Würdenhain. Kernstück der Herrschaft war der etwa 1700 Morgen umfassende Eichwald, auch Oppach genannt, der sich östlich von Prieschka befand. Nur Prieschka besaß damals schon eine kleine offene Flur für die dortige wendische Siedlung. 1442 wurde der Würdenhainer Schlossherr Hans Marschalk wegen Landfriedensbruch ins Gefängnis geworfen. Kurfürst Friedrich der Sanftmütige ließ sein Lehen einziehen und das Würdenhainer Schloss schleifen. Das Würdenhainer Herrschaftsgebiet wurde an die Herrschaft Mühlberg übertragen. Im folgenden Jahr kam das Gebiet durch Tausch- und Kaufgeschäfte an den böhmischen Adligen Hinko Birke von der Duba. Um 1484 war Prieschka Leibgedinge von Agnes von Bircke (geb. von Schleinitz).
Ab 1520 gehörte Prieschka dem Amt Mühlberg an, dem das einstige Würdenhainer Herrschaftsgebiet angegliedert wurde und wohin fortan Steuern und Frondienste zu leisten waren. Im selben Jahr entstand dort am Flusslauf der Schwarzen Elster ein Mühlengut, aus dem später das Prieschkaer Rittergut hervorging.
Für das Jahr 1550 ist belegt, dass es in Prieschka, wo zu dieser Zeit noch Sorbisch gesprochen wurde, dreizehn „besessene Mann“ gab. Vierzehn Jahre später kam es zu einem Aufruhr der Bauern aus Prieschka, Würdenhain, Haida und Reichenhain gegen den Mühlberger Amtsvogt Fuchs. Sie legten ihre Beschwerden in einem Schriftstück Die 10 Klageartikel der Dorfschaften Werdenhayn und Heide nieder und leiteten es über den Amtmann nach Dresden. Da sie aber dem Dienstweg nicht trauten, schickten sie eine zweite Ausfertigung direkt an den Kurfürsten „zu seinen selbstigen Händen“. Sie beschwerten sich unter anderem über die Beeinträchtigung der Fischerei und der Forstnutzungsrechte sowie über geschmälerten Lohn beim Schlossbau in Mühlberg. Da man das Vorgehen der Bauern als gefährlich und strafwürdig ansah, ordnete Dresden daraufhin zunächst Nachforschungen nach den „Rehdelsführern“ an. Der Würdenhainer Kretzschmann (Schankwirt) Hans Bräunig, der Wortführer der Bauern, wurde zunächst verhaftet. Er und einige andere beteiligte Bauern wurden später mit Gerichtsbußen belegt.Die Bewohner des Ortes waren nach Würdenhain eingepfarrt. Sie nahmen während der Reformation im Jahre 1541 den evangelischen Glauben an. Der auf dem Prieschkaer Mühlengut geborene katholische Pfarrer Thomas Bantzer weigerte sich allerdings, den lutherischen Glauben anzunehmen, errichtete auf dem Würdenhainer Pfarrgut ein Häuschen und entsagte seinem Amte. Zu Himmelfahrt 1541 wurde der erste lutherische Pfarrer in Würdenhain ordiniert. Die alten Bräuche und Sitten legte die einfache Bevölkerung allerdings nicht einfach ab und so wurde noch im Jahre 1578 aus dem Kirchspiel berichtet: „In Prieschka und Oschätzchen werden Lobetänze gehalten, dabei geschieht allerlei Leichtfertigkeit mit Verdrehen und sonst.“
=== Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Koalitionskriegen ===
Im Jahre 1618 brach nach dem Prager Fenstersturz der Dreißigjährige Krieg aus. Er brachte für die gesamte Region viel Elend und Plünderungen durchziehender Truppen. Aber auch die Pest forderte während dieser Zeit Opfer. Als im Jahre 1626 in Prieschka diese hochgradig ansteckende Infektionskrankheit ausbrach, starben in der Ortschaft zwanzig Menschen und damit etwa die Hälfte der Prieschkaer Einwohner. Im Januar 1637 bezogen die Scharen des schwedischen Generals Johan Banér ihr Winterquartier bis zum Frühsommer in Torgau. Dabei durchstreiften sie das angrenzende Elbe-Elster-Gebiet, plünderten die Orte und setzten sie in Brand. Beim Einfall der Truppen in Prieschka gab es etwa zwanzig Tote und vier zerstörte Gehöfte.
Im Jahr 1692 gelangte das Prieschkaer Mühlengut durch Vererbung in den Besitz des Obristwachtmeisters Andreas Gottfried von Kirchbach. Gleichzeitig erwarb er alle Ländereien der durch den Dreißigjährigen Krieg verwaisten Bauernhöfe. Im Jahre 1698 erhielt er die Ober- und Erbgerichte sowie die Schriftsässigkeit und es entstand das Erb- und Freigut mit dem dazugehörigen Gutsbezirk. Von Kirchbach vererbte das Gut 1724 seinem Vetter Hans Karl von Kirchbach. Im Jahr 1766 gelangte es in den Besitz von Heinrich Rudolf Vitzthum von Eckstädt, der es bis 1800 behielt.
Zu dieser Zeit waren die Koalitionskriege nach der Französischen Revolution bereits im vollen Gange und gingen auch an Prieschka nicht spurlos vorüber. Die Region hatte insbesondere im Vorfeld der Völkerschlacht bei Leipzig im Herbst 1813 unter riesigen Truppenbewegungen zu leiden. Ende September nahmen die Korps der Generäle Dobschütz und Tauentzien mit 30.000 Mann in Liebenwerda für zehn Tage Quartier. Vom 28. bis 30. September 1813 lagerte das Korps von Gebhard Leberecht von Blücher mit ebenfalls 30.000 Mann im unweit entfernten Elsterwerda. Die Einwohner von Prieschka mussten zwischen den Jahren 1806 und 1807 mehrmals französische Truppen einquartieren. Eine Überlieferung besagt, dass ein französischer Reiter auf den Breitenwiesen, einem an der Schwarzen Elster gelegenen Flurstück zwischen Prieschka und Würdenhain, im Morast stecken geblieben und versunken sei.
=== Vom Wiener Kongress bis zur Auflösung des Prieschkaer Gutsbezirks ===
Nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses 1815 gelangte Prieschka schließlich vom Königreich Sachsen zum Regierungsbezirk Merseburg der preußischen Provinz Sachsen und es entstand 1816 der Kreis Liebenwerda, in dem ein großer Teil des Amtes Mühlberg, das Amt Liebenwerda sowie Teile des Amtes Großenhain aufgingen.
Im Jahr 1833 wurde der Oppach, der in der Gegenwart nahezu vollständig entwaldet ist, zwecks Separation vermessen. Die Rechte der anliegenden Dörfer (mit Ausnahme von Saathain) zur Nutzung dieses Gebietes wie Hutung, Graserei, Fischerei, Entnahme von Raff- und Leseholz, Lehm, Sand oder Kies wurden durch Übertragung großer Flächen abgefunden. Dabei entstanden auch die neuen Gemeindegrenzen, die zum Teil schnurgerade verliefen. Durch die Teilung der Forstreviere erwarb das Prieschkaer Rittergut die Flurstücke Oppach und Kliebing. Damit vergrößerte es sich erheblich. Die Waldgebiete reichten bis zu den Orten Würdenhain, Saathain und Reichenhain und grenzten an die Gemarkungen von Oschätzchen und Zobersdorf. Prieschka erhielt allein 276 Morgen, davon das Rittergut mit 59 Morgen. Wahrscheinlich erfolgten in dieser Zeit größere Abholzungen und die Urbarmachung für Äcker und Wiesen. Kurze Zeit später wurde 1849 die gutsherrliche Gerichtsbarkeit aufgehoben und im Jahr 1852 begannen nahe dem benachbarten Dorf Zeischa die ersten Bauarbeiten zur Regulierung der Schwarzen Elster, nachdem die preußische Provinzialregierung bereits seit 1817 versucht hatte, Pläne für dieses Vorhaben zu entwickeln. Der Fluss, der bis dahin aus zahlreichen Fließen bestand, erhielt bis 1861 sein heutiges Bett und wurde mit Dämmen eingedeicht. Die Große Röder, die vorher in Würdenhain mündete, wurde in das alte Elsterbett (Alte Röder) geleitet und mündete bis zum Ersten Weltkrieg etwa sechshundert Meter nordöstlich der Prieschkaer Ortslage am Gänsewinkel in den neuen Flusslauf der Schwarzen Elster.Etwa zur selben Zeit begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung der Region um Prieschka. Den Ort selbst, in dem die Landwirtschaft die Haupterwerbsquelle blieb, betraf diese Entwicklung nur indirekt. Das Dorf lag abseits wichtiger Eisenbahnstrecken und Straßen. Der Fischfang in den Flüssen Röder und Schwarze Elster war infolge der zunehmenden Verunreinigung durch die neu entstandenen Industriebetriebe, wie das Zellstoffwerk in Gröditz, weitgehend unmöglich geworden. Prieschkaer Einwohner fanden in den sich in der Folgezeit vergrößernden, verkehrsgünstig besser gelegenen Orten der Umgebung Arbeit. 1863 ließ der Rittergutsbesitzer und preußische Offizier Leutnant Rudolf Fischer eine Umwandlung des gesamten Gutes vornehmen. Er siedelte sich mit dem Gut, zu dem etwa 700 Morgen Land gehörten, nun etwa 500 Meter nördlich der Prieschkaer Ortslage an und ließ dort 1868 ein neues Herrenhaus errichten. Die alten an der Röder gelegenen Gebäude ließ er zum großen Teil abbrechen.
Die Prieschkaer Kinder besuchten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Dorfschule in Würdenhain. Die noch aus dem Spätmittelalter stammenden Strukturen hatten sich teilweise auch wegen der immer noch bestehenden Kirchspielgrenzen bis dahin erhalten. Im Jahre 1898 wurden die Kinder des Dorfes in Würdenhain ausgeschult. Zunächst wurde das alte Herrenhaus des Rittergutes an der Mühle, das die Gemeinde erworben hatte, als Schulhaus genutzt. Vier Jahre später wurde die Prieschkaer Schule erbaut. Am 17. August 1902 fand die Schulweihe, verbunden mit einem Kinderfest, statt. Darüber erschien ein Bericht im Liebenwerdaer Kreisblatt.Im Jahr 1909 wurden dreihundert Morgen des siebenhundert Morgen umfassenden Rittergutes parzelliert; der Deutsche Privat-Beamten-Verein verkaufte die Anteile. Die restlichen vierhundert Morgen erwarb der bisherige Gutsinspektor Georg Steblein (1855–1909), der allerdings noch im Februar desselben Jahres verstarb. Nach seinem Tod erbte es seine Ehefrau. 1926 kam das Rittergut in den Besitz von Otto Klaue. Kurze Zeit später, im Jahr 1928, wurde der Prieschkaer Gutsbezirk aufgelöst. Sämtliche Geschäfte des Dorfes übernahm von da an der Gemeindevorsteher.Während des Ersten Weltkrieges wurde die Mündung der Großen Röder im Zuge ihrer Regulierung durch die Röderregulierungsgenossenschaft Saathain wieder nach Würdenhain verlegt. Da es der Alten Röder nun an Fließgeschwindigkeit fehlte, erhielt der Prieschkaer Mühlenbesitzer vom Regierungsbezirk eine Entschädigung von 30.000 Mark. Um den Mühlenbetrieb in Prieschka aufrechtzuerhalten, erfolgte der Einbau eines Ölmotors. Außerdem wurde die Mühle modernisiert.
=== Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart ===
Als am Ende des Zweiten Weltkrieges am 22. April 1945 die Rote Armee den Ort erreichte, starben bei Schießereien neun Einwohner und sieben Soldaten.
Bereits im Herbst 1945 begann im Kreis Bad Liebenwerda die Bodenreform. Dabei erfolgte gemäß der Bodenreformverordnung (BRVO) die Enteignung und Aufteilung von privatem und staatlichem Großgrundbesitz über 100 Hektar mit allen Gebäuden, lebendem und totem Inventar sowie anderem landwirtschaftlichen Vermögen. Unter Einspruch des Rittergutsbesitzers Fritz Dotti wegen der relativ geringen Überschreitung der festgelegten Obergrenze teilte man im Kreis laut Protokoll der Kreisverwaltung am 11. Oktober 1945 zuerst die 116 Hektar umfassenden Flächen in Prieschka auf. Bis zum 1. März des folgenden Jahres waren im Kreis insgesamt 9580 Hektar enteignet und verteilt.In der im Oktober 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik gehörte Prieschka zunächst zum 1952 aufgelösten Land Sachsen-Anhalt. Nach der Gründung der Bezirke gehörte die Ortschaft bis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 zum Bezirk Cottbus.
Im Jahr 1961 erfolgte in Prieschka die Gründung der LPG Elstergrund, die 1964 in ein Volkseigenes Gut umgewandelt wurde. Außerdem nahm man Verbesserungen der Infrastruktur im Dorf vor. Das Feuerwehrhaus wurde von 1965 bis 1966 errichtet und ein Jahr darauf weihte man eine Konsum-Verkaufsstelle ein. Kurz vor der Wende begann in Prieschka der Bau einer zentralen Trinkwasserversorgung, dem 1993 der Straßenausbau und ein neues Abwasserkanalnetz folgten.
Prieschka gehörte bis zur Kreisgebietsreform in Brandenburg im Jahre 1993 zum Landkreis Bad Liebenwerda, der am 6. Dezember 1993 mit den Landkreisen Herzberg und Finsterwalde in den Landkreis Elbe-Elster einging. Am selben Tag wurde die Gemeinde zusammen mit den Orten Dobra, Kosilenzien, Kröbeln, Lausitz, Maasdorf, Möglenz, Neuburxdorf, Oschätzchen, Thalberg, Theisa, Zeischa und Zobersdorf in die Stadt Bad Liebenwerda eingemeindet.
=== Bevölkerungsentwicklung ===
1835 zählte das Dorf 33 Wohnhäuser mit 177 Einwohnern. Es wurden 31 Pferde, 238 Stück Rindvieh, 8 Ziegen und 65 Schweine gezählt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Einwohnerzahl Prieschkas durch den Zuzug von Vertriebenen im Jahre 1946 bis auf 533. Sie erreichte damit ihren Höchststand. Bis 2016 sank die Zahl auf 286.
== Politik ==
=== Ortsteilvertretung ===
Seit der Eingemeindung des Dorfes nach Bad Liebenwerda 1993 ist Prieschka ein Ortsteil der Kurstadt. Vertreten wird Prieschka nach der Hauptsatzung der Stadt durch den Ortsvorsteher und einen Ortsbeirat.
Ortsvorsteher ist gegenwärtig Sandro Lindner, der Ortsbeirat ist Björn Küster und Janin Weser.
=== Wappen und Siegel ===
Der heutige Ortsteil Prieschka führt kein eigenes Wappen. Allerdings ist von Prieschka ein altes Dorfsiegel erhalten geblieben, das wie die meisten der wenigen bekannten Dorfsiegel des Altkreises Bad Liebenwerda vermutlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. In der Mitte des Siegels befindet sich eine Figur, die man als Frauengestalt oder Sämann deuten kann, welche in der rechten Hand einen Gegenstand hält. Über deren Haupt ist eine Wolke angedeutet. In der Umschrift des hochovalen Siegels befindet sich der Ortsname Prieschka.
== Kultur und Sehenswürdigkeiten ==
=== Freizeit und Tourismus ===
Mehrere befestigte Radwege entlang der Schwarzen Elster verbinden Prieschka mit den Sehenswürdigkeiten des Umlandes und dem Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft. Mit der Tour Brandenburg führt der mit 1111 Kilometern längste Radfernweg Deutschlands am Dorf vorbei. Weitere Radrouten sind der Fürst-Pückler-Radweg, der unter dem Motto 500 Kilometer durch die Zeit in die Projektliste der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land aufgenommen wurde und der 108 Kilometer lange Schwarze-Elster-Radweg. An der Elsterbrücke am Flusskilometer 64,5 befindet sich eine Bootsanlegestelle für den in jüngerer Zeit aufkommenden Gewässertourismus. Das Waldbad Zeischa, wo sich auch ein Campingplatz mit 137 Stellplätzen und Mietbungalows befindet, liegt etwa drei Kilometer nordöstlich der Prieschkaer Ortslage.Jährliche Höhepunkte des Ortes sind das Frühlingsfest in der Behindertenwohnstätte pro civitate, die Maibaum-Aufstellung und das Kinder- und Dorffest. Aktive Vereine sind der Feuerwehrverein Prieschka e. V. sowie der örtliche Jugendclub.
=== Bauwerke ===
In Prieschka befinden sich zwei Bauwerke, die in der Denkmalliste des Landkreises Elbe-Elster aufgenommen wurden, ein 1827 erbautes Fachwerkhaus in der Dorfstraße 62 und der Prieschkaer Glockenturm an der Einmündung der Würdenhain Straße in die Dorfstraße, der 1929 zum großen Teil von den im Prieschka geborenen Brüdern Georg und Julius Müller aus Leipzig gestiftet wurde. Sie spendeten 5000 Mark für die Anschaffung zweier Glocken und wurden daraufhin zu Ehrenbürgern der Gemeinde ernannt.
Eine lange Geschichte hatte die Prieschkaer Mühle am Ortsausgang in Richtung Waldbad Zeischa. Bereits Anfang des 16. Jahrhunderts soll es an dieser Stelle ein Mühlengut an einem dort entlangführenden Lauf der Schwarzen Elster gegeben haben, das zunächst dem meißnischen Adelsgeschlecht von Schleinitz gehörte. Nachdem die Mühle zu DDR-Zeiten zur Herstellung von Mischfutter für die Rinder- und Schweinemast umgerüstet wurde, ruhte der Mühlenbetrieb seit der Reprivatisierung kurz nach der Wende. Im Jahre 2013 wurde sie schließlich abgerissen.
Ein weiteres, das Prieschkaer Ortsbild prägendes Gebäude war die einstige Gaststätte Zum Elstergrund, die sich gegenüber dem 1902 errichteten roten Backsteinbau der ehemaligen Prieschkaer Schule befand. Bereits 1768 hatte der Landwirt Funke am selben Standort den Gasthof Zum goldenen Hirsch errichtet. Nachdem der Gasthof und weitere Gebäude des Schankgutes 1839 völlig niedergebrannt waren, erfolgte 1841 der Neubau und der Gasthof erhielt seinen heutigen Namen. An der linken Seite des Gasthauses wurde 1929 ein flaches Gebäude angebaut. Ab 1967 war die Gaststätte im Besitz der Konsumgenossenschaft, die dort auch eine Verkaufsstelle einrichtete. Der Gaststättenbetrieb wurde nach der Wende aufgegeben; das ungenutzte Gebäude wurde 2022 abgerissen.
Das Eingangsportal des Prieschkaer Friedhofs in der Reichenhainer Straße wurde in Form eines Heldentors gestaltet. In den Säulen des am 7. Juni 1925 eingeweihten Kriegerdenkmals befinden sich Tafeln mit fünfzehn Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Dorfbewohner. Zum Gedenken der im Zweiten Weltkrieg Gefallenen oder Vermissten befinden sich am Eingang der Trauerhalle links und rechts Tafeln mit insgesamt fünfzig Namen.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
In Prieschka sind einige mittelständische Unternehmen ansässig, wie der Steinmetzbetrieb Bötig, der Elektroinstallateurbetrieb Schmidt oder die Osterhuber Agrar GmbH, die seit 1991 das Prieschkaer Gut bewirtschaftet. Seit 2004 befindet sich dort mit dem Haus Prieschka eine behindertengerechte Wohn- und Pflegestätte der Unternehmensgruppe pro civitate, die vierzig Personen Platz bietet. Im Ort befindet sich eine Tierarzt-Praxis für Groß- und Kleintiere. Die dem Dorf am nächsten gelegenen Gewerbegebiete befinden sich in Haida, Bad Liebenwerda und Elsterwerda.
Im Ort zweigt die Landesstraße 593 von der Landesstraße 59 in Richtung Waldbad Zeischa und Bundesstraße 101 ab. Die nächstgelegenen Bahnhöfe sind Elsterwerda-Biehla und Bad Liebenwerda an der Bahnstrecke Węgliniec–Falkenberg/Elster und der Bahnhof Elsterwerda an den Bahnstrecken Berlin–Dresden und Riesa–Elsterwerda.
In Prieschka erscheint als regionale Tageszeitung die Lausitzer Rundschau. Sie wird im Elbe-Elster-Kreis als Elbe-Elster-Rundschau herausgegeben und hat insgesamt eine Auflage von etwa 99.000 Exemplaren. Die kostenlosen Anzeigenblätter Wochenkurier und SonntagsWochenBlatt erscheinen wöchentlich. Die Stadt Bad Liebenwerda gibt monatlich das Amtsblatt Der Stadtschreiber heraus; der Kreisanzeiger des Landkreises Elbe-Elster erscheint nach Bedarf. Des Weiteren erscheint seit 2016 sechsmal jährlich das örtliche Informationsblatt Der Hammer in Prieschka, welches die Einwohner über Neuigkeiten und Veranstaltungen im Ort informiert. Das Blatt entstand mit dem Hintergrund, dass es im Ort einst Tradition war, Informationen und Mitteilungen auf einem Holzbrett geheftet von Haushalt zu Haushalt zu verbreiten, in dem dieses von Haus zu Haus gereicht und der Hammer genannt wurde.
== Bildung ==
Die Kinder des Ortsteils werden gegenwärtig in Bad Liebenwerda eingeschult. Das dortige Grundschulzentrum Robert Reiss mit dem Status einer Ganztagsschule entstand im August 2006 durch den Zusammenschluss der Grundschulen in Bad Liebenwerda, Neuburxdorf und Zobersdorf, wo bis zu diesem Zeitpunkt auch die Prieschkaer Kinder eingeschult wurden.Des Weiteren gibt es in Bad Liebenwerda eine Oberschule. Eine Förderschule mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung befindet sich im benachbarten Ortsteil Oschätzchen. Die Kreisvolkshochschule Elbe-Elster bietet in ihrer Bad Liebenwerdaer Regionalstelle Kurse und andere Weiterbildungsmöglichkeiten an. Die Kreismusikschule Gebrüder Graun hat in der Stadt eine Außenstelle. Außerdem gibt es dort eine Stadtbibliothek, die neben den üblichen Ausleihmöglichkeiten von gegenwärtig etwa 20.300 Medien, Bibliotheksführungen, literarische Veranstaltungen und Schriftstellerlesungen anbietet.Ein Gymnasium sowie weitere Bildungseinrichtungen befinden sich in der etwa zehn Kilometer östlich von Prieschka gelegenen Stadt Elsterwerda.
== Persönlichkeiten ==
Der kursächsische Kapellmeister und Komponist Friedrich Christoph Gestewitz wurde am 3. November 1753 in Prieschka geboren. Er starb am 1. August 1805 in Dresden.
== Literatur ==
Rene Lindner: Ortsteil Prieschka in Chronik der Stadt Liebenwerda. Hrsg.: Verein für Stadtmarketing und Wirtschaft Bad Liebenwerda e.V. Winklerdruck GmbH Gräfenhainichen, Bad Liebenwerda 2007, ISBN 3-7245-1420-4, S. 266/267.
Matthäus Karl Fitzkow: Zur älteren Geschichte der Stadt Liebenwerda und ihres Kreisgebietes. Hrsg.: Kreismuseum Bad Liebenwerda. Bad Liebenwerda 1961.
Rudolf Matthies: Chronik des Dorfes Würdenhain.
Matthias Donath: Schlösser zwischen Elbe und Elster. Meißen 2007, S. 85.
== Einzelnachweise ==
== Weblinks ==
Homepage des Ortsteils Prieschka
Der Hammer, Informationsblatt für Prieschka
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https://de.wikipedia.org/wiki/Prieschka
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Puhl & Wagner
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= Puhl & Wagner =
Das 1889 gegründete Unternehmen Puhl & Wagner mit Stammsitz in Berlin-Neukölln war der bedeutendste und größte deutsche Hersteller von Glasmosaiken und Glasmalereien. Die eigene Glashütte machte Puhl & Wagner unabhängig von der Lieferung von Mosaiksteinchen durch die italienischen Konkurrenten, und ein neues Setzverfahren erlaubte die kostengünstige Produktion von Mosaiken. Die zunächst auf 15 Jahre angelegte Fusion mit Gottfried Heinersdorffs Kunstanstalt für Glasmalerei, Bleiverglasungen und Glasmosaik im Frühjahr 1914 versprach eine künstlerische Erneuerung, da ihr Gründer der Reformbewegung Deutscher Werkbund nahestand. Die wirtschaftlich schwierige Lage während des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit brachten das stark von staatlichen und kirchlichen Aufträgen abhängige Unternehmen nahe an den Zusammenbruch, Exportaufträge sicherten das Überleben. Ein seit Mitte der 1920er Jahre schwelender Konflikt zwischen den beiden Gesellschaftern August Wagner und Gottfried Heinersdorff führte 1933 zum Ausscheiden Heinersdorffs, der – von den Nationalsozialisten zum „Halbjuden“ erklärt – das Unternehmen verlassen musste. Damit endeten die Reformbemühungen. Das Unternehmen, wegen der Lieferungen für die Bauten der „Welthauptstadt Germania“ sogar zum „kriegswichtigen Betrieb“ erklärt, lieferte Ausstattungen für zahlreiche Bauten der Nationalsozialisten. Reparaturarbeiten, aber auch Neuaufträge, ermöglichten in der Nachkriegszeit zunächst die Weiterführung des Betriebs in West-Berlin. Das geschwundene Auftragsvolumen führte 1969 zur Liquidation des Unternehmens, und das architektonisch bedeutende Fabrikgebäude des Architekten Franz Schwechten wich 1972 dem Straßenbau.
== Die Renaissance der Glasmosaiken im 19. Jahrhundert ==
Die spätantike und mittelalterliche Mosaikkunst mit ihren beeindruckenden Leistungen in Rom, Ravenna, Venedig oder auf Sizilien war im 18. Jahrhundert endgültig erloschen. Mit dem erwachenden Interesse für historische Baustile im 19. Jahrhundert wuchs auch das Interesse an Mosaiken. In Preußen erwarb der kunstinteressierte König Friedrich Wilhelm IV. 1834 das Apsismosaik der abgebrochenen Kirche San Cipriano auf der Insel Murano bei Venedig und ließ es in der Potsdamer Friedenskirche einbauen. Der Baustil der frühchristlichen und byzantinischen Kirchen stand in den Augen des Königs für seine politisch-religiöse Überzeugung mit seinem unerschütterlichen Glauben an das Gottesgnadentum seiner Herrschaft. Viele von ihm in Auftrag gegebenen Kirchenbauten, wie St. Nikolai in Potsdam oder die Kapelle des Berliner Stadtschlosses, zeigen im Inneren byzantinische Stilelemente. An die Stelle der Goldmosaiken der Vorbilder traten aber als Ersatz Malereien auf Goldgrund, da die Technik der Mosaikherstellung verloren war.
In Venedig mit seiner bedeutenden Glastradition, wo sich die Mosaikkunst am längsten gehalten hatte, gelang Antonio Salviati Mitte des 19. Jahrhunderts die Wiederbelebung der Mosaiktechnik durch die Rationalisierung des zeit- und lohnintensiven Setzverfahrens. Die Rationalisierung machte Mosaiken billiger und erschwinglich und so wuchs der Bedarf an „dauerhafter Malerei und Dekoration“, mit denen die Mosaiken assoziiert wurden – zuerst für Kircheninnenräume aber auch schnell für neue Anwendungsgebiete wie Häuserfassaden.
Bis in die 1890er Jahre musste in Berlin zur Ausführung von Glasmosaiken auf die italienischen Mosaikkünstler von Antonio Salviati zurückgegriffen werden. 1873 zum Beispiel fertigte Salviati das Mosaik im Sockel der Berliner Siegessäule nach dem Entwurf von Anton von Werner und 1886 das von Otto Lessing entworfene Deckenmosaik in der Eingangshalle des (im Zweiten Weltkrieg zerstörten) Museums für Völkerkunde. Selbst die Glasmosaiken mit den Allegorien der Kulturen und Künste an der Fassade des Berliner Kunstgewerbemuseums, das die Leistungsfähigkeit des deutschen Kunsthandwerks und Kunstgewerbes demonstrieren sollte, lieferte zwischen 1879 und 1881 Antonio Salviati.
== Unternehmensgeschichte ==
=== Vom Atelier für Dekorationsmalerei zur Deutschen Glasmosaiken-Anstalt ===
Bereits 1886 hatte der 20-jährige Kaufmann August Wagner mit dem an der Berliner Akademie der Künste ausgebildeten 35-jährigen Kunstmaler Wilhelm Wiegmann ein Atelier für Dekorationsmalerei gegründet. Neben Dekorationen für Innenräume führten Puhl & Wagner auch Fassadenmalereien aus und machten schnell die Erfahrung mit ihrer geringen Beständigkeit. Auf ihrer Suche nach einer dauerhafteren Technik stießen sie auf die Glasmosaiken, deren Herstellung sie zu kopieren und damit das italienische Monopol zu brechen versuchten.
Das Setzverfahren war einfach zu kopieren. So konzentrierten sich die beiden zunächst auf den Glasherstellungsprozess – schließlich galt es, mit der jahrhundertealten Tradition Venedigs und den gut gehüteten Werkstattgeheimnissen seiner Glashütten in Konkurrenz zu treten. Wiegmanns Schwager, der Ingenieur Friedrich Puhl, brachte das notwendige technische Wissen ein. In einer alten Schmiedewerkstatt an der Ackerstraße im Berliner Norden und ab 1889 in Rixdorf, dem heutigen Berlin-Neukölln, unternahmen sie mit dem ungenutzten Ofen eines Messinggießers unzählige Schmelzversuche. Weitere Unterstützung fanden sie in Julius Lessing, dem ersten Direktor des Berliner Kunstgewerbemuseums, der die Versuche begleitete. Nach einem Jahr beherrschten sie das Herstellungsverfahren so weit, dass die ersten Probearbeiten angefertigt werden konnten. Mit dem Abschluss der Versuche verfügten die drei über ein witterungsbeständiges Glasmaterial mit einer standardisierten und reproduzierbaren Farbskala als Grundlage für die Aufnahme der regulären Produktion. Im Oktober 1889 schlossen sie sich zur Deutschen Glasmosaik-Anstalt von Wiegmann, Puhl und Wagner zusammen und ließen vom Glashütten-Ingenieur Robert Dralle auf einem gemieteten Fabrikgrundstück an der Berliner Straße 97/98 einen Hafenofen mit vier Häfen von je 50 bis 60 Kilogramm Inhalt errichten, der im Dauerbetrieb zur Hälfte mit Gas, zu Hälfte mit Kohle befeuert wurde. Nach einer Umnummerierung der Straße 1895 erhielt das Grundstück in der Nähe des Hermannplatzes die neue Nummer 7–9.
=== Einflussreiche Förderer, Erfolg und Wachstum ===
Das junge Unternehmen fand einflussreiche Förderer. Der Vizepräsident des Preußischen Abgeordnetenhauses, Clemens August Freiherr Heereman von Zuydwyck, regte in der Sitzung vom 24. Februar 1893 an, dass bei Staatsbauten, wo ein Schmuck nothwendig ist, auch seitens der Regierung auf die Anwendung von Mosaik Bedacht genommen werde. Aber auch der ganzen Oeffentlichkeit empfahl er, ihr Augenmerk und ihr Wohlwollen auf den Schmuck von Mosaik zu richten, man müsse sich nicht mehr nach Venedig wenden, um solche Arbeiten zu bekommen, sondern habe nun die Gelegenheit, diesen Zweig des Kunstgewerbes im Inland zu fördern. Den größten Förderer aber fand Puhl & Wagner in Kaiser Wilhelm II., der das Rixdorfer Unternehmen bei zahllosen Staatsaufträgen hinzuzog, unter anderem für die 2740 m² Mosaikfläche in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Im Dienste der Außenpolitik erhielt Puhl & Wagner Aufträge wie für den Deutschen Brunnen auf dem Hippodrom in Istanbul, ein Geschenk Kaiser Wilhelms II. an den Sultan Abdülhamid II., oder für die Himmelfahrtkirche in Jerusalem. 1901 verlieh der Kaiser dem Unternehmen als Zeichen seiner Wertschätzung den Titel Hoflieferant Seiner Majestät Des Kaisers Und Königs.
Die Zahl der Arbeiter wuchs bis 1896 auf 30–40 Mosaikarbeiter, und man musste sogar italienische Arbeiter anwerben, um rascher genügend weitere Arbeiter auszubilden. Trotzdem versuchte sich Puhl & Wagner neben den Glasmosaiken in anderen Geschäftszweigen – das Berliner Adressbuch 1895 verzeichnet neben der Glasmosaikabteilung auch eine zweite Abteilung für Kunstmarmor und Terrazzo.Nach einer Studienreise nach Italien und Sizilien 1896 eröffnete Wilhelm Wiegmann ein eigenes Unternehmen in den Stadtbahnbögen 483–487 beim Bahnhof Tiergarten, das Mosaik-Atelier Wilhelm Wiegmann. Bereits im Folgejahr firmierte es in Deutsche Glasmosaik-Gesellschaft Wilhelm Wiegmann um. Auch das Rixdorfer Unternehmen änderte die Firma in Deutsche Glasmosaik-Gesellschaft Puhl & Wagner. Mit dem Namenswechsel war ein Wechsel der Besitzverhältnisse verbunden, denn das Berliner Adressbuch 1897 nennt nun nur noch Friedrich Puhl und August Wagner als Inhaber.Von den verbliebenen Partnern übernahm August Wagner die kaufmännische Leitung und die Akquisition neuer Aufträge, während Friedrich Puhl als technischer Leiter die Herstellung der Glasmassen und Mosaiken überwachte. In seinen Aufgabenbereich fiel auch die Forschung und Entwicklung neuer Produkte, etwa neuer Farbnuancen der Gläser oder verbesserter Zementmassen zur Befestigung der Mosaiken.
=== Der Neubau des Fabrikgebäudes in Rixdorf ===
Um die Jahrhundertwende hatte die städtische Bebauung der stetig wachsenden Großstadt Berlin den Hermannplatz erreicht. Eine Erweiterung am bisherigen Standort war daher nicht möglich; zudem erlaubte der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens den Erwerb eines eigenen Grundstücks für den Neubau. Dieses fand sich an der Kiefholzstraße 72–75 wiederum in Rixdorf, nahe der Ringbahn und an der Grenze zu Treptow. Man beauftragte 1903 den renommierten Architekten Franz Schwechten mit dem Neubau der Werkstätten. Der vom Kaiser hochgeschätzte Schwechten hatte bereits bekannte Bauten wie den Anhalter Bahnhof oder die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit den einrahmenden romanischen Häusern am Auguste-Viktoria-Platz, dem heutigen Breitscheidplatz, entworfen.
Auch im Auftrag von Puhl & Wagner wählte er neuromanische Formen. Auf der Parzelle plante er in großzügiger und lockerer Bebauung im hinteren Teil die eigentliche Fabrik und vorgelagert an der Kiefholzstraße ein Verwaltungs- und Wohngebäude. Eine ausgedehnte Gartenanlage sollte die Gebäude umfassen. Vom Gesamtentwurf kam 1904 lediglich der Fabrikbau zur Ausführung.
Die Bauten des Fabrikkomplexes gruppierten sich um den rechteckigen Innenhof. Ein an einen Kreuzgang erinnernder Bogengang, in den nach den ursprünglichen Plänen ein vom Wohngebäude herkommender, gleichgestalteter Verbindungsgang münden sollte, schloss den Hof gegen die Straßenseite ab. Die Kapitelle, wie auch das mittlere Gewölbefeld, an dem der Verbindungsgang zum Wohngebäude einmünden sollte, bedeckten Glasmosaiken aus eigener Produktion. An der gegenüberliegenden Hofseite lag die eingeschossige Glashütte mit dem hoch aufragenden Schornstein des Glasschmelzofens, vollständig überzogen mit farbigen Mosaiken nach Entwürfen Hermann Schapers. Das weithin sichtbare Wahrzeichen der Fabrik diente so gleichzeitig als wirksamer Werbeträger für die Produkte von Puhl & Wagner.
Die beiden anderen Seiten des Hofes schlossen zwei dreigeschossige Fabrikflügel ab. Der rechte Flügel nahm im Erdgeschoss das Lager für die Gläser und Glasmosaiksteinchen auf und war direkt mit der Glashütte verbunden. Der Zeichensaal im ersten und der überhohe Setzersaal im zweiten Obergeschoss nahmen wie das Lager die gesamte Etage ein, gut beleuchtet durch die großen Rundbogenfenster. Ein anschließender, als Turm ausgebildeter Infrastrukturteil nahm Treppenhaus, Toiletten und das Büro des Direktors sowie eine alle Etagen verbindende Warenliftanlage ein. Eine Glasmosaik-Sonnenuhr im Giebel über der Mittelachse der Hoffassade demonstrierte wiederum die Anwendung der Produkte von Puhl & Wagner.
Eine Durchfahrt zum Hof durchschnitt das Erdgeschoss des linken Flügels. Im Erdgeschoss und ersten Obergeschoss fanden weitere Einrichtungen der Fabrik wie Tischlerei und Packerei für den Versand der fertigen Mosaiken und Glasfenster, Chemikalienlager, Kontor, Garderoben und Erfrischungsraum Platz. Während die unteren Geschosse in viele kleinere Räume unterteilt waren, nahm der Ausstellungsraum die gesamte dritte Etage ein. Im überhohen Raum ließen sich auch große Arbeiten präsentieren und die Besucher bekamen von einer erhöhten Galerie einen besseren Überblick. Große, und wie beim gegenüberliegenden Trakt gestaltete Rundbogenfenster, sorgten für gute Beleuchtung.
=== Fusion zu den Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff ===
Per 1. April 1914 fusionierten die Deutsche Glasmosaikanstalt Puhl & Wagner mit Gottfried Heinersdorff, Kunstanstalt für Glasmalerei, Bleiverglasungen und Glasmosaik zu den Vereinigte Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff. Heinersdorff zog mit seinem Betrieb in das Fabrikgebäude von Puhl & Wagner an der Kiefholzstraße. Er stand dem 1907 gegründeten Deutschen Werkbund nahe. In dieser aus der Überwindung des Historismus entstandenen Reformbewegung des Kunstgewerbes hatte er sich den Ruf eines Reformers der Glasbildkunst erworben und verfügte über hervorragende Kontakte zu Künstlern wie Henry van de Velde, Hans Poelzig, Lyonel Feininger und Heinrich Vogeler oder zum Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus, Gründer des Museums Folkwang. Bei der Fusion drängte Wagner seinen bisherigen Sozius Friedrich Puhl, mit dem er 26 Jahre zusammengearbeitet hatte, aus dem Unternehmen. Die neuen Inhaber, der knapp 50-jährige August Wagner und der 31-jährige Gottfried Heinersdorff, schlossen einen Gesellschaftervertrag für vorerst 15 Jahre.
Die Gründe und Motive für die Fusion von Puhl & Wagner mit dem wesentlich kleineren Betrieb Heinersdorffs waren vielschichtig. Einerseits produzierten beide Firmen seit 1908 die gleichen Produkte – Heinersdorff, dessen Vater bereits erfolgreich eine Glasmalerwerkstatt betrieben hatte, stellte seit 1908 zusätzlich Glasmosaiken her und Puhl & Wagner betrieb seit 1908 eine eigene Glasmalereiabteilung unter Leitung des Malers Adolf Becker. Die Einrichtung dieser Abteilung erfolgte wohl im Zusammenhang mit der Erfindung des „Mosaikglases“, zu dessen Herstellung der Rixdorfer Betrieb seit 1905 das Reichspatent Nr. 193370 besaß. Herkömmliche Gläser wirken nur bei durchfallendem Licht farbig. Bei den Mosaikgläsern bewirkt ein zwischen zwei Glasschichten eingeschmolzenes Metallhäutchen, dass die Farbwirkung sowohl bei auffallendem wie bei durchfallendem Licht eintritt. Mit der Vereinigung konkurrierten die Betriebe nicht mehr. Puhl & Wagner profitierte von den langjährigen Erfahrungen und Beziehungen der Glasmalerwerkstatt Heinersdorffs, während dieser das Glasmosaik-Patent frei nutzen konnte. Andererseits versprach die Fusion auch eine künstlerische Erneuerung und Lösung von den historistischen Vorbildern durch die guten Verbindungen Heinersdorffs zum Werkbund. Sicher war für Heinersdorff auch der Zugriff auf die eigene Glashütte von Puhl & Wagner attraktiv.
=== Wirtschaftliche Schwierigkeiten im Ersten Weltkrieg ===
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Fusionsjahr verschlechterte die Auftragslage des im Luxusgütersektor tätigen und von staatlichen und kirchlichen Aufträgen abhängigen Unternehmens einschneidend. Mit einer Mappe Heldenehrung, die Entwürfe von Künstlern wie César Klein oder Jan Thorn Prikker für Mosaik-Gedenktafeln und Gedenkfenster für Kirchen oder Friedhöfe enthielt, versuchte man die heikle kommerzielle Auswertung der Gefallenenlisten, die bald von den Schlachtfeldern des Krieges eintrafen. Auch der Kaiser wurde um Hilfe gebeten – ein 1916 an Wilhelm II. gesandter Brief schilderte eindringlich die durch den Wegfall der kaiserlichen Aufträge ernsthaft bedrohte Existenz des Unternehmens. Sein Antwortschreiben vom 8. September 1916, in dem er „sehr beklagen würde“, wenn es nicht gelänge, das „um die Deutsche Kunst und das Deutsche Kunstgewerbe hochverdiente Institut während der Kriegszeit nicht aufrecht zu erhalten“, wurde als „Kaiserbrief“ verschiedenen Architekten, Museumsdirektoren und Künstlern weitergeleitet, in der Hoffnung, mit der kaiserlichen Schützenhilfe Aufträge zu erhalten.
Bereits am 27. Oktober 1916 wandte sich das Unternehmen erneut an den allergnädigsten, grossmächtigsten Kaiser, König und Herrn und bat um die Verleihung des Titels Hofmosaik-Kunst-Anstalt und Hofglasmalerei Seiner Majestät. Einerseits war das alte Prädikat mit der Fusion 1914 verloren gegangen, weil Heinersdorffs Gesellschaft keines besaß, andererseits bot der geplante Zusammenschluss mit der Königl. Bayerischen Hofmosaik-Kunstanstalt, Prof. Theodor Rauecker den Vorwand, statt des bisherigen Prädikates Hoflieferant eine den Münchner Werkstätten gleichgestellte Bezeichnung zu fordern. Im letzten Kriegsjahr 1918 erfolgte dann tatsächlich die Fusion von Puhl & Wagner mit der in den 1890er Jahren gegründeten Königlich Bayerischen Hofmosaik-Kunstanstalt, die künftig als Vereinigte Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei, München-Solln firmierte. Mit dem Zusammengehen erhielt das Unternehmen eine zweite Produktionsstätte und konnte den einzigen nennenswerten Konkurrenten in Deutschland ausschalten. Auch weltweit erreichte Puhl & Wagner durch die Fusion eine monopolartige Stellung.
=== Wechselvolle Entwicklungen in den 1920er Jahren ===
Die Auftragslage verbesserte sich in der Nachkriegszeit nicht wesentlich. Man versuchte sich in der Produktion elektrischer Beleuchtungskörper, die auf der Leipziger Messe 1919 erstmals gezeigt wurden. In der kritischsten Zeit von 1919 bis 1921 stellte Gottfried Heinersdorffs Schwiegervater Otto Bolte 800.000 Mark, den Großteil seines Vermögens, den Vereinigten Werkstätten zur Verfügung und rettete sie so vor der Insolvenz.
Weitere Aktivitäten zielten auf die Erschließung neuer Einnahmequellen und die Wiederbelebung der für das Unternehmen so wichtigen Staatsaufträge. Im Dezember 1920 unterbreitete Gottfried Heinersdorff Wilhelm Waetzoldt, einem hohen Beamten im Preußischen Kultusministerium und späteren Direktor der Berliner Museen, den Vorschlag, dem Unternehmen eine staatliche Ausbildungsstätte anzugliedern, um das Unternehmen durch staatliche Beiträge zu sanieren. 1921 erschien Mosaik in Not – Denkschrift über die Notlage der deutschen Mosaikkunst mit 18 Gutachten namhafter Künstler sowie Vertretern von Kirche und Wirtschaft. Hinter der reich illustrierten Schrift standen als ungenannte Herausgeber die Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff und die Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei, München-Solln, die auf diesem Weg die junge Weimarer Republik zur Wiederaufnahme der im Kaiserreich so zahlreichen Staatsaufträge veranlassen wollten. Ein weiteres Zielpublikum waren Architekten und private Bauherren, die bei der Gestaltung von Bädern, Hallen oder Brunnen Mosaiken einsetzen sollten.
Ab Beginn der 1920er Jahre arbeiteten die Werkstätten in Berlin-Neukölln und in München-Solln an mehreren großen Exportaufträgen. Darunter waren der Goldene Saal des Stadthauses in Stockholm, eigentlich ein Vorkriegsauftrag, und Aufträge in den USA, wie die Kathedrale von St. Louis, der Bahnhof Cincinnati und in New York die Irving Trust Bank und das Hotel Waldorf-Astoria. Das Geschäft in Amerika wuchs so stark, dass man 1923 eine Vertretung in New York und in St. Louis eine Montagewerkstätte unter dem Namen United Mosaic Studio eröffnete, die später unter Ravenna Mosaic Company firmierte. Die Niederlassung war ein gemeinsames Unternehmen mit dem St. Louis Art Glass Studio im Besitz von Emil Frei. Wichtige Großaufträge nach der wirtschaftlichen Erholung im Inland waren die Mosaiken in den Bäderanlagen beim Umbau des Berliner Hotels Excelsior und Mosaiken für die Schwesterschiffe Europa und Bremen des Norddeutschen Lloyd. Neue Techniken fanden Aufnahme in das Angebot – die kostengünstigen Putzmosaiken, wo ein Großteil der Wand in Putz ausgeführt wurde und nur Ornamente und Figuren als Mosaik. Natursteinmosaiken und Mosaiken mit größeren Glasbruchstücken folgten dem veränderten Zeitgeschmack.
=== Konflikte – Kommerz gegen ideale Bestrebungen, Wagner gegen Heinersdorff ===
Die wirtschaftlich schwierigen Zeiten nach der Fusion waren schlechte Voraussetzungen für die erhoffte künstlerische Erneuerung. Gottfried Heinersdorff war jedoch als Geschäftsmann bereit zur Gratwanderung zwischen Kommerz und idealen Bestrebungen. Lichtblicke waren 1917 die Ausstattung der Ausstellungsräume des Berliner Kunsthändlers Wolfgang Gurlitt mit farbigen Verglasungen nach Entwürfen von Max Pechstein oder 1919 seines Wohnhauses mit Glasmalereien und Mosaiken nach Entwürfen von César Klein. Dieser Konflikt zwischen Kommerz und idealen Bestrebungen spiegelte sich im Sortiment wider in seiner Mischung aus kommerzieller Serienware und moderner wie historistischer Auftragskunst – personifizierte sich aber auch in den beiden Inhabern, dem „kaisertreuen“ Wagner und dem „reformerischen“ Heinersdorff. Beinahe zwölf Jahre arrangierten sich die beiden, aber zu Beginn des Jahres 1926 versuchte August Wagner, seinen Teilhaber aus dem Unternehmen zu drängen. In einem Memorandum kündigte er den 1914 auf 15 Jahre geschlossenen Gesellschaftervertrag vorzeitig. Damit wollte er die Firma in den alleinigen Besitz der Familie Wagner bringen und seinen Sohn Hans als Nachfolger installieren. Heinersdorff beschritt den Rechtsweg, unterstützt durch eidesstattliche Versicherungen der Künstler Max Pechstein und Franz Becker-Tempelburg und von Reichskunstwart Edwin Redslob, die seine Bedeutung für die wirtschaftliche und künstlerische Entwicklung des Unternehmens bestätigten. Das Urteil des Schiedsgerichtes zwang Wagner, seine Kündigung zurückzunehmen. Erfreulicher für Heinersdorff war die künstlerische Zusammenarbeit mit Josef Albers, der im Rixdorfer Betrieb nach der Schließung der Glaswerkstätten des Bauhauses 1923 einen neuen Partner fand. Bedeutendes Ergebnis waren 1927 die von Albers gestalteten Hallen und Treppenhausfenster im Neubau des Ullstein-Druckhauses in Berlin, gebaut nach Plänen des Architekten Eugen Schmohl. Die Weltwirtschaftskrise 1929 traf das Unternehmen schwer, da ein Großteil der Produktion nach Amerika ging. Zudem unterband der Boykott amerikanischer Arbeitnehmerorganisationen die Fortsetzung des Exports und der amerikanische Partner, das St. Louis Art Glass Studio, trennte sich Ende 1929/1930 einvernehmlich von der Ravenna Mosaic Company.
=== Ausscheiden Heinersdorffs 1933 und staatliche Auftragskunst für die Nationalsozialisten ===
August Wagner erreichte nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 durch einen weiteren Prozess die Auflösung des Gesellschaftervertrages von 1914 mit seinem Teilhaber jüdischer Abstammung. Er setzte Hans W. Wagner, einen seiner Söhne, als neuen Leiter ein. Auf Grundlage der Nürnberger Rassengesetze 1935 zum Halbjuden erklärt, konnte Heinersdorff 1937 (durch Fürsprache von Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht) nach Frankreich emigrieren, wo er, seiner wirtschaftlichen Existenzgrundlagen beraubt, 1941 starb.
Nach dem Ausscheiden Heinersdorffs firmierte das Unternehmen ab 1935 unter August Wagner, vereinigte Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei. Die neuen Machthaber bestellten Mosaiken und Glasfenster mit nationalsozialistischen Emblemen für ihre großen Bauprojekte. Die Aufträge fingen 1935 mit Fenstern für das Haus der Kunst in München an, 1936 folgte das Berliner Reichsluftfahrtministerium und 1937 der Tribünenbau auf der Zeppelinwiese für das durch Albert Speer gestaltete Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. August Wagner lieferte Ausstattungen für das Deutsche Haus auf der Weltausstellung 1937 in Paris, wie auch für das KdF-Passagierschiff Wilhelm Gustloff. Mit Mosaiken für den Soldatenturm im Reichsehrenmal Tannenberg und für die Neue Reichskanzlei in Berlin erhielten die Werkstätten 1939 zwei weitere prestigeträchtige Staatsaufträge. Auch Arbeiten im Rahmen des geplanten Umzugs von zwölf Botschaften in das Botschaftsviertel wurden ausgeführt, so 1939/1940 das Oberlicht für die neue Jugoslawische Gesandtschaft. Am alten Platz waren die Botschaften dem GBI-Plan für die „Welthauptstadt Germania“ im Weg.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kappte die letzten Verbindungen zur Niederlassung in Amerika. Paul Heuduck, der seinerzeit 1923 im Auftrag von Puhl & Wagner nach Amerika ausgewandert war, übernahm die Ravenna Mosaic Company, die unter seinem Sohn Arno Heuduck bis 1988 weiter existierte. Die Erklärung der ehemaligen Muttergesellschaft zum „kriegswichtigen Betrieb“ illustriert ihre Bedeutung in den Planungen für die „Welthauptstadt Germania“, wo August Wagner zahlreiche Monumentalbauten, wie etwa den Triumphbogen auf der Nord-Süd-Achse, mit Mosaiken ausstatten sollte. Für das Kuppelmosaik in Albert Speers Großer Halle des Volkes fertigte man tonnenweise Goldmosaiksteinchen, die sich noch Jahrzehnte später in der Konkursmasse fanden und bei der Restaurierung und Rekonstruktion der Mosaiken am Martin-Gropius-Bau verwendet wurden.
=== Wirtschaftlicher Niedergang im Nachkriegsdeutschland ===
Der erste bedeutende Auftrag in der Nachkriegszeit waren die Mosaiken im Pavillon des 1946–1949 errichteten Sowjetischen Ehrenmales im Treptower Park. Sonst prägten eher wieder sakrale und private Aufträge den Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1950er Jahren brauchten neu- oder wiederaufgebaute Kirchen Glasfenster und Banken ließen ihre Schalterhallen mit Mosaiken ausstatten. Auch die Zusammenarbeit mit Künstlern, die Gottfried Heinersdorff seinerzeit gepflegt hatte, wurde wieder aufgenommen und so entstanden Arbeiten nach Entwürfen von Hann Trier oder Heinz Trökes.
Das stetig sinkende Auftragsvolumen führte 1969 zur Aufgabe der Fabrik und der Liquidation des Unternehmens, die 1965 noch über 50 Mitarbeiter zählte. Ein Neubeginn in Österreich scheiterte. Das Land Berlin erwarb 1971 die ehemaligen Fabrikanlagen für 475.000 DM und ließ im Folgejahr 1972 das Fabrikgebäude für den Bau einer Umgehungsstraße abreißen. Das bedeutende Firmenarchiv mit zahlreichen Fotografien ausgeführter Werke, Entwurfskartons und rund 300 Laufmeter weitere Akten verwahrt die Berlinische Galerie.
Der Film Tätowierung mit Helga Anders und Christof Wackernagel wurde in der vom Architekten Franz Schwechten gebauten Mosaikfabrik Puhl & Wagner gedreht. Sie war von dem Szenenbildner Götz Heymann für den Film als Hauptmotiv gefunden worden.
== Fertigungsprozesse ==
Als Besonderheit vereinigte Puhl & Wagner alle Handwerkszweige zur Herstellung von Glasmosaiken unter einem Dach. 1908 folgten für die Glasmalerei weitere Werkstätten zum Schleifen und Ätzen der Gläser.
=== Die Glasfabrikation ===
Die für die Glasmosaiksteinchen verwendeten Glasarten gehören zu den Bleigläsern, wo die bei anderen Gläsern üblichen Erdalkalioxide wie Calciumoxid durch Bleioxid ersetzt sind. In kleinen Mengen zugegebene Metalloxide färben diese Gläser – Cobaltoxide führen zu blauen, Eisenoxide zu grün-blaugrünen, gelben oder braun-schwarzen Farbtönen. Die heute wegen ihrer Radioaktivität nicht mehr verwendeten Uranoxide färben die Gläser gelb. Das zerkleinerte Rohmaterial, möglichst eisenfreier Sand, Kalium- und Bleioxid wurden in den ungefähr 60 Kilogramm fassenden Häfen auf 1200–1300 °C erhitzt und eingeschmolzen. In der Glaspresse pressten die Hüttenarbeiter die noch weiche Glasmasse zu tellergroßen, verschieden starken Kuchen, die sie anschließend während fünf Tagen langsam abkühlen ließen. Mit Spitzhammer und Meißel zerkleinerten sie im nächsten Arbeitsschritt die Kuchen zu den Mosaiksteinchen, den Tesserae. Diese Mosaiksteinchen aus Glas werden auch als Smalten bezeichnet. Besondere Fertigkeiten bei der Herstellung erforderten die goldenen und silbernen Mosaiksteinchen, bei denen eine dünne Gold- oder Silberfolie zwischen zwei Glasscheiben eingeschmolzen wird. Eine dieser Glasschichten ist meist aus dunklerem oder undurchsichtigem Glas, damit das einfallende Licht besser reflektiert wird. Jede Charge erhielt eine Nummer und ein Steinchen ging als Muster in die sogenannte Farbpyramide, ein pyramidenförmiges Regal mit allen lieferbaren Farbtönen. Dieses System erlaubte den schnellen Zugriff auf alle Farbtöne und auf die Chargen der eingelagerten Steinchen. Die Zahl der verfügbaren Farbtöne, ein wichtiger Wettbewerbsvorteil, stieg von 8.000 bis 10.000 im Jahr 1903 auf 15.000 im Jahre 1925.
=== Mosaikherstellung ===
Bei der herkömmlichen Arbeitstechnik, dem positiven oder direkten Setzverfahren, übertrug der Mosaikarbeiter den Entwurf des Künstlers auf den feuchten Putz an der Wand. Anschließend setzte er die einzelnen Mosaiksteinchen direkt in den feuchten Putz. Diese Methode erforderte die Anwesenheit des Künstlers zur Kontrolle, zumindest bei entscheidenden Schritten wie der Übertragung des Kartons auf die Wand. Bei dem von Antonio Salviati entwickelten negativen oder indirekten Setzverfahren, das Puhl & Wagner von ihrem Konkurrenten übernahm, übertrugen Zeichner den Entwurf des Künstlers im Maßstab 1:1 auf Kartons. Im nächsten Schritt wurde mit Hilfe von Transparentpapier der Karton seitenverkehrt kopiert und gleichzeitig in kleinere Abschnitte, die Kompartimente, unterteilt und nummeriert. Auf diese Kompartimente klebten die Mosaikarbeiter nun die Mosaiksteinchen mit der Schauseite nach unten. Die Nummerierung der Farben und Chargen der Mosaiksteinchen sicherte eine genaue Umsetzung des Entwurfs des Künstlers, aber auch die Konsistenz der Arbeiten der verschiedenen Mosaiksetzer.
Geschichtet in Kisten verpackt, verschickte man die fertigen Kompartimente an den Bestimmungsort, wo spezialisierte Arbeiter die einzelnen Teile an der mit einer feuchten Putzschicht vorbereiteten Wand oder Decke anbrachten und mit Hilfe der Nummern zum vollständigen Mosaik zusammensetzten. Waren die Mosaiksteinchen in der Putzschicht verankert, lösten sie das Transparentpapier durch Anfeuchten. Nach Ausbesserung von Fehlstellen und Schließen der „Nähte“ zwischen den verschiedenen Teilen des Mosaiks, schlämmten sie die Fugen ein und stampften sie fest. Im letzten Schritt reinigten sie das zusammengesetzte und nun nicht mehr spiegelbildliche Mosaik.
Das negative Setzverfahren mit der Trennung von Herstellungs- und Anbringungsort der Mosaiken brachte verschiedene Vorteile mit sich. Die Aufteilung der Bildvorlage in die Kompartimente erlaubte eine arbeitsteilige Organisation des Herstellungsprozesses, wo verschiedene Setzer gleichzeitig an einem Mosaik arbeiten konnten, was beim herkömmlichen Setzverfahren aus Platzgründen meist nicht möglich war. Die Aufteilung in einzelne Segmente machte die Mosaiken als weiteren Vorteil transportierbar, was dem Hersteller größere Absatzmärkte erschloss. Für den Bauherren ergab sich eine Bauzeitverkürzung, da die Mosaiken bereits parallel zum Bau des Gebäudes vorbereitet werden konnten. Waren die zu schmückenden Wände und Decken im Rohbau fertiggestellt, brauchten die Mosaiken nur noch angebracht werden, während im herkömmlichen Verfahren zu diesem Zeitpunkt die Mosaikarbeiter überhaupt erst mit der Arbeit beginnen konnten. Für den entwerfenden Künstler, wie für den Bauherrn, sicherte das neue Verfahren kontrollierbare Resultate und einfachere Korrekturen, indem sich die Mosaikteile vor der Anbringung – seitenverkehrt zwar – kontrollieren und korrigieren ließen. In der konventionellen Methode mussten die ausgeführten Mosaiken wieder abgeschlagen werden.
Die Rationalisierung des herkömmlichen langsamen, arbeitsintensiven und damit teuren Stein-für-Stein-Setzverfahrens war erwünscht und gefordert. Trotzdem sollte das Ergebnis nicht allzu perfekt und industriell aussehen, sondern im Gegenteil handwerklich wirken. So bauten die Setzer auf Wunsch bewusste Fehlstellen wie schiefe Mosaiksteinchen und kleine Risse ein oder verwendeten in der Farbe leicht abweichende Steinchen. Der Künstler Max Seliger etwa schrieb an Puhl & Wagner zur Ausführung seines Entwurfes für das Mosaik Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche: Auch wenn Sie bei weniger wichtigen Gegenden recht klaffende Lücken, Risse und höher stehende Steinchen setzten wollten, würde ich entzückt sein.
== Die vielfältige Verwendung von Glasmosaiken ==
Neben der angestammten Anwendung bei der inneren Dekoration von Kirchen eroberten sich die Glasmosaiken schnell auch neue Einsatzgebiete. In einer Firmenschrift von 1897 zeigte sich Puhl & Wagner überzeugt, „dass die Glasmosaik noch ein weites Feld der Verwendung vor sich hat“, und „dass keine andere Methode, Fassaden und Innenräume, die starken Temperatur- oder Feuchtigkeits-Einflüssen ausgesetzt sind, unter Zuhülfename der Farbe dekorativ auszuschmücken, den Vergleich mit Mosaik aushält“.Insbesondere an Fassaden zeigte sich die Qualität des wiederentdeckten Baustoffes, der mit seiner dauerhaften, beinahe unzerstörbaren Oberfläche den bisher verwendeten Fresken und anderen Wandmalereien im Außenbereich überlegen war und sich zudem einfach auch an belebtere architektonische Formen anpassen ließ. Die technischen Vorteile des modernen und fortschrittlichen Materials verbanden sich mit dem „monumentalen Charakter“, dem Ansehen der Mosaiken aus ihrer historischen Anwendung als Symbolisierung von Glanz, Reichtum, Repräsentation und beinahe etwas „kaiserlicher Würde“, später sicher noch gefördert durch ihre intensive Verwendung bei Prestigeprojekten Wilhelms II. So sorgten Mosaiken an Geschäftshausfassaden mit ihrer Leuchtkraft für die Reklame der Geschäfte und an staatlichen Gebäuden, wie Rathäusern oder an den Bauten der Reichspost, prangten dauerhafte farbige Hoheitszeichen in Form von Wappen und Reichsadlern – letztere wurden als Serienarbeit „in den verschiedensten Groessenverhaeltnissen (bis 12 m²)“ geliefert.Waren die byzantinischen Mosaiken, beziehungsweise ihre stilgerechte Nachbildung ein wichtiger Auslöser zur Renaissance der Glasmosaiken und anfangs prägend für den Stil bei der Ausstattung der Kirchen, so ermöglichte die wieder erfundene Mosaiktechnik beliebige Stilformen. Die Firmenschrift betont ausdrücklich, dass „die Gegenwart ihr Recht verlange“, und dass „nicht nur wesentlich andere Ansprüche gestellt, sondern auch befriedigt werden können“. Neben Mosaiken, speziell entworfen und gefertigt für ein einzelnes Objekt, lieferte Puhl & Wagner auch künstlerisch eher anspruchslose aber handwerklich gediegene Serienarbeiten. Beispiele sind Kopien antiker Mosaiken oder Mosaiken für Grabmäler wie ein von Paul Mohn entworfener Palmzweig tragender Engel.
Die Firmenschrift von Puhl & Wagner von 1897 nennt als Kosten für einen einfachen, glatten Hintergrund 50–100 Mark pro Quadratmeter. Goldgrund aus den teuren Goldmosaiksteinchen, einfache Ornamente, Inschriften oder heraldische Darstellungen kosteten 100–200 Mark pro Quadratmeter. Für reichere Ornamente mussten die Bauherren mit 200–300 Mark pro Quadratmeter rechnen und reiche Ornamente schlugen mit über 300 Mark pro Quadratmeter zu Buche. Am teuersten mit 300–400 Mark pro Quadratmeter waren die individuell gefertigten figürlichen Darstellungen in Verbindung mit Ornamenten.
== Beispiele von Bauten mit Mosaiken und Glasmalereien von Puhl & Wagner ==
In den acht Jahrzehnten ihres Bestehens stattete Puhl & Wagner zahllose Gebäude im In- und Ausland mit Mosaiken und Glasfenstern aus. Viele dieser Ausstattungen wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört oder sind dem veränderten Zeitgeschmack zum Opfer gefallen.
=== Sakralbauten ===
=== Profanbauten – Fassadendekorationen und Reklamen ===
=== Profanbauten – Innendekorationen ===
=== Brunnen, Monumente und Grabmonumente ===
=== Diverses ===
== Literatur ==
Ohne Verfasser: Deutsche Glasmosaik-Gesellschaft Puhl & Wagner – Rixdorf, Berlin. Firmenschrift verlegt bei Ernst Wasmuth, Berlin 1897, Ergänzungsblätter 1899.
Christoph Josef Cremer (Hrsg.): Das gewerbliche Leben im Kreise Teltow. Aus Veranlassung der ‚Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896‘ im Auftrag des Kreis-Ausschusses. Heymann, Berlin 1900.
Ohne Verfasser: Deutsche Glasmosaik-Gesellschaft Puhl & Wagner – Rixdorf – Berlin. Firmenschrift, Giesecke & Devrient, Berlin 1904.
Josef Ludwig Fischer: Deutsches Mosaik und seine geschichtlichen Quellen. Verlag Karl W. Hiersemann, Leipzig 1939. (Dieses Werk dokumentiert im umfangreichen Tafelteil während des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und in der Zeit des Dritten Reiches entstandene Arbeiten von Puhl & Wagner).
Hubertus Lossow: August Wagner, vereinigte Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Berlin. In: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft., 15, 1962, S. 449–456.
Annemarie Richter: In Kaisers und Onassis’ Diensten. Die Deutsche Glasmosaik-Anstalt Puhl & Wagner in Berlin-Neukölln. Kunstamt Neukölln, Heimatmuseum, Berlin 1985 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 13. März bis 18. Mai 1985 im Heimatmuseum Neukölln).
Helmut Geisert, Elisabeth Moortgat (Red.): Wände aus farbigem Glas. Das Archiv der Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff. Berlinische Galerie, Berlin 1989, ISBN 3-927873-01-2 (Katalog zur Ausstellung vom 8. Dezember 1989–21. Januar 1990 im Martin-Gropius-Bau Berlin; Gegenwart Museum. Nr. 9).
Dorothea Müller: Bunte Würfel der Macht. Ein Überblick über die Geschichte und Bedeutung des Mosaiks in Deutschland zur Zeit des Historismus. Lang, Frankfurt am Main u. a. 1995, ISBN 3-631-48505-0.
Bettina Berendes: Carl Otto Czeschka – Die Schönheit als Botschaft. Das Glasfenster der Hamburger Kunstgewerbeschule, 2005
Roland Jaeger: Malerei in Glas und Stein – Das Mosaikschaffen von Eduard Bargheer. ConferencePoint Verlag, Hamburg 2007.
== Weblinks ==
Das Firmenarchiv Puhl & Wagner bei der Berlinischen Galerie
Fabrikgebäude an der Kiefholzstraße: Abbildung des mit Glasmosaiken überzogenen Schornsteins bei bildindex.de
Fabrikgebäude an der Kiefholzstraße: Abbildung des Ausstellungssaales bei bildindex.de
Website zur Geschichte von Ravenna Mosaic Company (englisch)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Puhl_%26_Wagner
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Rathaus Schmargendorf
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= Rathaus Schmargendorf =
Das Rathaus Schmargendorf ist das ehemalige Rathaus der einstmals selbstständigen Gemeinde Schmargendorf, die 1920 in Berlin eingemeindet wurde und seit 2001 ein Ortsteil des Berliner Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf ist. Das historisierende Gebäude wurde 1900 bis 1902 nach Plänen von Otto Kerwien im Stil der märkischen Backsteingotik errichtet. Kerwien nahm mit seinem Entwurf des Rathauses Bezug auf die meist mittelalterlichen Profanbauten Tangermündes und Stendals. Heute befinden sich hier das Standesamt des Bezirks, die Musikschule und die Adolf-Reichwein-Bibliothek genannte Zweigstelle der Stadtbibliothek.
== Vorgeschichte ==
Zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich das Bauerndorf Schmargendorf am Rande des Grunewaldes zu einem Vorort Berlins entwickelt. 1883 erhielt es eine Station an der nächstgelegenen Stelle der Ringbahn (Bahnhof Schmargendorf) und im Jahr 1899 wurde der Ort im Landkreis Teltow zum selbstständigen Amtsbezirk. Zu diesem Zeitpunkt tagte die Gemeindevertretung Schmargendorfs noch in einem kleinen Bauernhaus in der Breiten Straße. 1900 wurde deshalb der Neubau eines Rathauses beschlossen. Beauftragt wurde der Potsdamer Architekt Otto Kerwien, der kurz zuvor den Bau des Babelsberger Rathauses fertiggestellt hatte.
== Bau des Rathauses ==
Am 1. Juni 1900 begann der Bau des Rathauses Schmargendorf außerhalb des bisherigen Siedlungsgebietes auf einem knapp 2000 Quadratmeter großen Grundstück am Berkaer Platz. Die Baukosten wurden auf 200.000 Mark veranschlagt. Exakt zwei Jahre nach dem Baubeginn erfolgte am 1. Juni 1902 die Eröffnung des neuen Rathauses. Wegen zahlreicher nachträglicher Bauverschönerungen und Preissteigerungen kostete der Bau mit 394.000 Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund 3,02 Millionen Euro) annähernd die doppelte der ursprünglich veranschlagten Summe.
=== Baukörper ===
Das Gebäude mit einer Grundfläche von 840 Quadratmetern besteht aus zwei Flügeln, die in einem stumpfen Winkel von etwa 125° aneinanderstoßen. Als „Gelenk“ zwischen den beiden Flügeln fungiert der Rathausturm mit einer Höhe von 46 Metern. Der nutzbare Bereich des Gebäudes umfasst fünf Etagen vom Tiefparterre bis zum Dachgeschoss. Im Tiefparterre wurden Räumlichkeiten für den Ratskeller angelegt, der einen separaten Eingang an der Ecke der beiden zusammentreffenden Flügel hat, also unterhalb des Turmes. Weiterhin wurden im Tiefparterre eine Wohnung für den Hausverwalter und vier Zellen für polizeilich Inhaftierte eingerichtet. Im Erdgeschoss befanden sich neben dem Vestibül Räume für die Polizei, die Kasse, die Steuerverwaltung, An- und Abmeldungen, das Baubüro und eine große Wohnung mit fünf Zimmern für einen höheren Verwaltungsbeamten.
Der 108 Quadratmeter große Ratssaal erstreckt sich mit einer Höhe von neun Metern über das erste und zweite Obergeschoss und dominiert somit den Ostflügel. Im ersten Obergeschoss befand sich noch ein kleiner Sitzungssaal, ein Zimmer des Amts- und Gemeindevorstehers, ein Zimmer des Amts- und Gemeinde-Sekretärs, Zimmer der Registratur und eine geräumige Wohnung für den Gemeindevorsteher. Im zweiten Obergeschoss befand sich oberhalb des kleinen Sitzungssaals die Zuschauertribüne des Ratssaals. Die restliche Fläche wurde ebenso wie das Dachgeschoss für Beamtenwohnungen hergerichtet.
Die beiden Flügelbauten finden in steilen Satteldächern mit Stufengiebeln ihren Abschluss. Bis auf die Nordwestfassade befinden sich in allen Fassaden Fenster. Die Nordwestfront schließt mit einer Brandwand ab. Hier hätte entlang der Berkaer Straße das Rathaus bei Bedarf erweitert werden können.
=== Innengestaltung ===
Alle für den Publikumsverkehr vorgesehenen Flure, das Haupt-Treppenhaus und der Ratskeller wurden mit Kreuz- oder Sterngewölben geschmückt. Diese Gewölbe wurden als Rabitz-Konstruktion ausgeführt und massiv vorgemauert, wobei hierfür extra unter Vorlage von Originalsteinen eines märkischen Klosters Ziegelsteinrippen nachgebildet wurden.
Das Haupt-Treppenhaus wurde mit 2,50 Meter breiten Treppenläufen, auf denen Granitstufen ruhen, ausgeführt. Die Geländer sind mit Durchbrüchen massiv gemauert und mit farbig glasierten Backsteinen verblendet.
Besonders ausgeschmückt wurde der 9 m × 12 m große Ratssaal. Unter der Holzbalkendecke wurde wiederum als Rabitz-Konstruktion ein imitiertes Gewölbe mit dem Querschnitt eines Tudorbogens und Stichkappen eingezogen. Der gewünschte Eindruck war der eines komplett aus Sandstein gebildeten Gewölbes. Von der Decke hängend wurden an zwei Stellen schwere Leuchter nach den Entwürfen des Architekten Otto Nachtigall befestigt. Auf die schmiedeeisernen Beleuchtungskörper sind Verzierungen aus Bronze in Form von Wildschwein- und Bärenköpfen genietet. Sie sollten an den nahen Grunewald erinnern.
Die westliche Querseite des Sitzungssaales schmückte ein großer Kamin, in dem die Heizkörper der damaligen Niederdruckdampfheizung eingebaut waren. Über der Kaminöffnung befindet sich ein Relief des Charlottenburger Bildhauers Rudolf Franke. Es zeigt Wotan und Brünhilde darstellend den Feuerzauber aus der Walküre. Gekrönt wird der Kamin von den Wappenschilden der Familien von Stubenrauch und von Eberstein, denen der damalige Vorsteher des Landkreises Teltow entstammte. Auch die fünf Buntglasfenster des Saales zeigten Wappenschilde. Hier wurden die Wappen von Adelsgeschlechtern des Landkreises Teltow gezeigt, es handelte sich um die Familien von Beyme, von Gerlach, von Schlegel, Graf von Podewils und von Wilmersdorff. Gegenüber der Fensterfront befanden sich auf Eichenholz-Postamenten drei ebenfalls von Franke gestaltete Büsten der deutschen Kaiser Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. Geschnitzte Paneele, die die Wände bis zu etwa einem Meter Höhe bedeckten und die durch Schnitzereien ebenfalls reich verzierten Flügeltüren waren passend zu den Postamenten aus Eichenholz gefertigt. Über der einen Tür ist im Bogenfeld die Dorfkirche Schmargendorf dargestellt.
=== Fassade ===
Vorbilder für die Gestaltung des Schmargendorfer Rathauses waren die mittelalterlichen spätgotischen Befestigungsbauten in der Altmark. Vor allem in Tangermünde und Stendal befinden sich Bauten in sehr ähnlicher Gestaltung. Am Uenglinger Tor der Stendaler Stadtbefestigung finden sich neben der gleichen Turmgestaltung auch bereits die weiß verblendeten Giebel, die schief liegenden verblendeten Wappenfelder und der Einsatz von Formsteinen.
Kerwien beabsichtigte dem Gebäude ein „malerisches“ Aussehen zu geben. Hierfür versah er das Gebäude mit zahlreichen Giebeln, Türmen und Zinnen. Außerdem setzte er in die rote Fassade weiße Blenden und nutzte unterschiedliche Fenstergrößen und -formen. Während die Räumlichkeiten dem damaligen Bedarf angemessen waren, war der architektonische Bezug zum Mittelalter „sinnentleert“.Der gesamte Bau besitzt einen Sockel aus Porphyrgranit. Das tragende Mauerwerk aus Miltenberger Sandstein wurde mit roten Backsteinen („Rathenower Handstrichsteine“) im Klosterformat verblendet. Am Hauptgiebel in der Südfassade befindet sich reicher Schmuck aus Glasmosaik, hergestellt von der Rixdorfer Firma Puhl & Wagner.
Die Hauptfassade, an der sich auch die meisten Schmuckelemente befinden, bildet die Südfront zum Berkaer Platz. Hier befindet sich auch der Haupteingang zum Gebäude. Über einer kurzen Treppe ragt das Eingangsportal des Rathauses aus der Südfassade heraus. Oberhalb des Portals befindet sich die Fensterfront des Ratssaals, dessen fünf Fenster mit Glasmosaiken gekrönt sind. Über dem mittleren Fenster befindet sich groß das preußische Königswappen, über den anderen vier Fenstern klein die Wappen der vier Markgrafengeschlechter, die einst über Brandenburg geherrscht haben. Dies sind (von links nach rechts) die Wappen der Askanier, der Wittelsbacher, der Luxemburger und der Hohenzollern. Über diesen Wappen prangt, ebenfalls als Glasmosaik, die Inschrift „Anno Salutis MDCCCCI“ – ebenfalls ein Bezug auf die mittelalterlichen Vorbilder, da diese Formulierung bereits zur Bauzeit seit etwa 100 Jahren üblicherweise keine Verwendung mehr fand. Gekrönt wird die Südfassade von einem langgestreckten Mosaik des märkischen Adlers.
Der Schmuck der restlichen Fassaden beschränkt sich auf die erwähnten Blenden und baulichen Zierraten. Vor allem im Turmbereich kommen zusätzlich dunkelgrün glasierte Backsteine zum Einsatz. Der Turm selbst weist bis zur Firsthöhe der Flügelbauten einen quadratischen Grundriss auf. Über dem First scheint sich aus dem quadratischen Turm ein runder Turm geradezu herauszuschrauben – ein Effekt, der durch den spiralförmigen Einsatz glasierter Steine in der runden Turmfassade erreicht wurde. Bis zum zweiten Geschoss ist dem Turm ein Altan vorgelagert, der auch den Eingang zum Ratskeller bildet.
== Umbauten ==
Keine 20 Jahre nach der Einweihung des Rathauses verlor das Gebäude mit der Bildung von Groß-Berlin am 1. Oktober 1920 seine Funktion, da Schmargendorf nun ein Ortsteil des Bezirks Wilmersdorf wurde. In das Schmargendorfer Rathaus zog das Standesamt des Bezirks ein, der nicht mehr benötigte Ratssaal dient als Trausaal. Die Zuschauertribüne wurde in diesem Rahmen ebenfalls nicht mehr benötigt und zurückgebaut. Aufgrund des romantischen Erscheinungsbildes des Rathauses mit seiner verspielten Architektur entwickelte sich das Standesamt zu einem beliebten Hochzeitsort.
Den Zweiten Weltkrieg überstand der Rathausbau größtenteils unbeschadet. Nur eine in der Nähe explodierende Bombe zerstörte einen Großteil der Verglasungen. Die zerstörten Glasmalereien des ehemaligen Ratssaals wurden nach dem Krieg durch einfache Rautenverglasungen ersetzt.
Anfang der 1960er Jahre fand eine Restaurierung statt. Die Fassade wurde hierbei gereinigt und Kriegsschäden ausgebessert. Für die Wiederherstellung des Erscheinungsbildes wurden auch historische Verfahren angewendet. So wurden beispielsweise die Blenden nach mittelalterlichem Verfahren mit eingesumpftem Kalk geweißt. Im Rahmen der Restaurierung wurden auch die Fenster im Haupttreppenhaus ersetzt. Das Aussehen der ursprünglichen Buntglasfenster ist nicht überliefert. Die neuen Buntglasfenster entwarf in den Jahren 1962 bis 1964 die Wilmersdorfer Künstlerin Helena Starck-Buchholz, Ehefrau des Künstlers Erich Buchholz. Ausgeführt wurden die Arbeiten 1964/1965 wiederum durch die Firma von August Wagner, die bereits gut 60 Jahre zuvor die Glasmosaiken der Fassade geliefert hatte. Insgesamt befinden sich 14 Fenster im Haupttreppenhaus, von denen fünf kreisrund sind.
Zahlreiche Umbauten im Laufe der Jahre, bedingt durch die unterschiedlichen Raumansprüche zu unterschiedlichen Zeiten, veränderte das innere Erscheinungsbild des Hauses. So wurden beispielsweise schlichte Flure, die sich vor den Dienstwohnungen befanden, mit kreuzgewölbegeschmückten Fluren für den Publikumsverkehr verbunden, sodass in den heutigen Fluren die Kreuzgewölbe unvermittelt aufhören. Auch Leuchten, Türen und Zwischenwände, die nachträglich eingebaut wurden, passen meist nicht zum ursprünglichen historisierenden Erscheinungsbild.
== Nutzung ==
=== Standesamt ===
Auch nach der Bezirksreform im Jahr 2001 blieb das Standesamt, jetzt des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf, im Schmargendorfer Rathaus. Weiterhin erfreut es sich hoher Beliebtheit unter Hochzeitspaaren. Auch Prominente wie Regisseur Ernst Lubitsch (1922), Physiker Albert Einstein, Komponist Friedrich Hollaender (1932), Schauspieler Curd Jürgens (1937), Physiker Manfred von Ardenne (1938), Musiker Helmut Zacharias (1943), Rennfahrer Bernd Rosemeyer, Schauspielerin Romy Schneider (1975), Schauspieler Erik Ode (1954), Boxer Bubi Scholz (1955), Schauspielerin Anita Kupsch, Musiker Paul Kuhn, Fußballtrainer Helmut „Fiffi“ Kronsbein, Schauspielerin Ingrid Steeger, Sänger Gunter Gabriel, Sänger Roland Kaiser, Sängerin Susi Dorée (1970), Schauspieler Harald Juhnke (8. April 1971) und Politiker Friedbert Pflüger (22. Dezember 2006) gaben sich hier das Ja-Wort.
=== Stadtteilbibliothek ===
Weiterhin befindet sich die Stadtteilbibliothek im Rathaus, die nach dem Pädagogen und Widerstandskämpfer Adolf Reichwein benannt wurde. Die Erwachsenen-Abteilung nutzt die ehemaligen Polizeiräume im Erdgeschoss, die Jugendabteilung residiert im zweiten Obergeschoss. Im Vestibül wurde zum Gedenken eine von Knud Knudsen geschaffene Büste Adolf Reichweins aufgestellt. Die Bibliothek wurde ab 1952 von Hertha Block aufgebaut, die im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller aktiv war und im SA-Gefängnis Papestraße inhaftiert worden war. Zum Gedenken an Block wurde die 2012 eröffnete Hertha-Block-Promenade des Ost-West-Grünzugs nach der Bibliothekarin benannt.
=== Weitere Institutionen ===
Im Nordflügel nutzt die Musikschule des Bezirks zahlreiche Räume. Zwischenzeitlich waren auch ein Jugendheim und ein Kinderhort im Rathaus untergekommen. Der Ratskeller, der nach der Renovierung des gesamten Gebäudes am 1. September 1963 wiedereröffnet wurde, hat sich auf die Ausrichtung von Familienfeiern und die Verpflegung von Reisegruppen spezialisiert.
== Vorplatz ==
Rechts seitlich vom Rathaus Schmargendorf erinnert ein Findling an die 1991 geschlossene Partnerschaft zwischen dem Landkreis Kulmbach und dem Bezirk Wilmersdorf.
== Literatur ==
Das neue Rathhaus in Schmargendorf. In: Baugewerks-Zeitung, 34. Jg., Nr. 76 (20. September 1902), S. 1233–1235 und eine Tafel
A.H.: Zu unseren Bildern. In: Berliner Architekturwelt. Nr. 11, Februar 1902, S. 13–16 (zlb.de – mit einer Farbtafel, S. 14).
Christine Klautzsch: Das Rathaus Schmargendorf – Baugeschichte und Ausstattung. Schriftliche Hausarbeit im Fach Kunstwissenschaft für die Magisterprüfung am Fachbereich I der Technischen Universität Berlin. Berlin 1979.
== Weblinks ==
Rathaus Schmargendorf, Baudenkmal. In: Lexikon des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf.
Hainer Weißpflug: Rathaus Schmargendorf. In: Hans-Jürgen Mende, Kurt Wernicke (Hrsg.): Berliner Bezirkslexikon, Charlottenburg-Wilmersdorf. Luisenstädtischer Bildungsverein. Haude und Spener / Edition Luisenstadt, Berlin 2005, ISBN 3-7759-0479-4 (luise-berlin.de – Stand 7. Oktober 2009).
Eintrag in der Berliner Landesdenkmalliste
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rathaus_Schmargendorf
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Direkte Demokratie in Deutschland
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= Direkte Demokratie in Deutschland =
Elemente der direkten Demokratie wurden in Deutschland erstmals in der Weimarer Republik eingeführt. Auf Reichsebene fanden lediglich drei Volksbegehren statt. Nur dasjenige zur Fürstenenteignung und das Volksbegehren gegen den Young-Plan schafften es bis zum Volksentscheid, beide konnten die für Verfassungsänderungen erforderliche Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten nicht erreichen.
In der Bundesrepublik sind direktdemokratische Verfahren auf der Bundesebene schwach ausgeprägt. Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes betont die Volkssouveränität und bestimmt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt.“ Während sich „Wahlen“ immer auf Personalentscheidungen beziehen, stellen „Abstimmungen“ unmittelbare Entscheidungen des Staatsvolkes über Sachfragen dar. Dennoch sieht das Grundgesetz nur in zwei sehr eng eingegrenzten Fällen Volksabstimmungen vor: Zum einen bei der Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung, zum anderen im Falle einer Neugliederung des Bundesgebietes, bei dem lediglich die wahlberechtigten Bürger in den betroffenen Gebieten stimmberechtigt sind. Von diesen beiden Ausnahmen abgesehen, ist die Bundespolitik als reines Repräsentativsystem ausgestaltet.
Auf der Länderebene sind direktdemokratische Instrumente deutlich stärker verankert. Bei der Gründung der deutschen Bundesländer nach 1945 wurden acht Landesverfassungen per Referendum angenommen. Alle bis 1950 verabschiedeten Landesverfassungen enthielten direktdemokratische Verfahren, in acht davon war die Volksgesetzgebung verankert. Die später beschlossenen Verfassungen verzichteten darauf. Die Hürden für die Volksgesetzgebung wurden so hoch gezogen, dass es, von einigen Abstimmungen über Gebietsveränderungen abgesehen, erst 1968 in Bayern zu einem Volksentscheid kam. Außerhalb Bayerns gab es bis 1997 keinen einzigen. In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik spielten nur obligatorische Verfassungsreferenden in Bayern und Hessen eine Rolle. Ab 1989/90 setzte eine neue Dynamik in der Entwicklung der direkten Demokratie auf Landesebene ein. Bis 1996 wurde die Volksgesetzgebung in alle Landesverfassungen aufgenommen. Das Gesetzgebungsverfahren ist bei Initiativen aus dem Volk auf Landesebene meist als dreistufige Volksgesetzgebung ausgestaltet, beginnend mit einer Volksinitiative beziehungsweise einem Antrag auf ein Volksbegehren, gefolgt vom Volksbegehren und abgeschlossen durch einen Volksentscheid. Die gesetzlichen Regelungen variieren dabei stark, von entscheidender Bedeutung sind die geforderten Quoren sowie Fristen und Themenausschlüsse. In Bayern sowie in jüngerer Zeit in Berlin und Hamburg finden Volksentscheide deshalb in nennenswerter Zahl statt, während die Hürden dafür in anderen Ländern als nahezu unüberwindlich gelten. Kaum eine Rolle spielen Referenden zu einfachen Gesetzen, die in manchen Ländern die Landesregierung oder der Landtag ansetzen kann.
Ebenfalls seit den frühen 1990er Jahren haben sich auf der kommunalen Ebene Bürgerbegehren und Bürgerentscheide überall durchgesetzt, die es bis 1990 nur in Baden-Württemberg gab. Zeitgleich setzte sich die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten durch. Wahlen von Repräsentanten werden jedoch üblicherweise auch dann nicht zu den direktdemokratischen Verfahren gerechnet, wenn diese unmittelbar sind.
Die größten verfassungsrechtlichen Hindernisse für die Einführung direktdemokratischer Instrumente auf Bundesebene stellen im politischen System Deutschlands der Föderalismus und der in der Bundesrepublik besonders ausgeprägte Vorrang des Grundgesetzes dar. Die demokratietheoretischen Argumente unterscheiden sich in der deutschen Debatte nicht grundsätzlich von denen in anderen Ländern. Ablehnende Haltungen gegenüber der Einführung bundesweiter Volksentscheide werden aber häufig mit den „Weimarer Erfahrungen“ begründet, während positive Einstellungen oft mit einer Parteienkritik einhergehen oder auf diese reagieren.
== Geschichte der direkten Demokratie in Deutschland ==
=== Direktdemokratische Forderungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert ===
Im Zeitalter der Restauration hatte die Rezeption radikaldemokratischer französischer, Schweizer oder amerikanischer Vordenker der direkten Demokratie in Deutschland keinen Platz. Das gilt auch für die wenigen verbliebenen, oligarchisch verfassten Stadtrepubliken. Im Vormärz artikulierten erstmals deutsche Vertreter der demokratischen Bewegung wie Moritz Rittinghausen, Julius Fröbel, Johann Jacoby und Hermann Köchly direktdemokratische Forderungen. Ihre Vorschläge hatten nach der Revolution von 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung jedoch selbst im Kreis der demokratischen Linken, der „Fraktion Donnersberg“, keine Chance. Die Liberalen hegten eine Abneigung gegenüber dem „Volk“ als einer von niederen Instinkten geleiteten Masse, das wie in der Französischen Revolution aufgehetzt werden könne und zu gewalttätigen Exzessen neige. Stattdessen fand das System der parlamentarischen Repräsentation nach britischem Vorbild breiten Anklang.
Erst als sich nach 1860 die Arbeiterbewegung in Deutschland formierte, fanden die Vorschläge Moritz Rittinghausens eine breitere Anhängerschaft und gingen 1869 in das Eisenacher Programm und 1875 in das Gothaer Programm der SPD ein. Im frühen 20. Jahrhundert begannen auch Vertreter des Linksliberalismus, direktdemokratische Verfahren in Erwägung zu ziehen.Karl Marx und Friedrich Engels hatten eine Volksgesetzgebung mit Hinweis auf die Sozialstruktur und eine politische Unreife weiter Teile der deutschen Bevölkerung abgelehnt, die konservative und reaktionäre Kräfte begünstigt hätten. Sie propagierten eine Rätedemokratie, die eine besondere Form demokratischer Direktheit darstellt. Ihr Hauptanliegen war die (Wieder-)Verschränkung von Wirtschaft und Politik im Sinne einer sozialistischen Produktionsgemeinschaft, die demokratietheoretischen Aspekte traten dahinter zurück. Umgesetzt wurde das Konzept kurzzeitig in den Räterepubliken nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution. Basisdemokratische und direktdemokratische Instrumente im Rätemodell waren Volksversammlungen, das imperative Mandat, die Anbindung gewählter Repräsentanten an den Volkswillen durch permanente Abwahlmöglichkeit und das Rotationsprinzip, Volksbegehren und Volksentscheid. Besonders die Münchner Räterepublik erlangte Bedeutung, wurde aber am 2./3. Mai 1919 nach nicht einmal einem Monat niedergeschlagen.
=== Weimarer Republik ===
==== Volksbegehren und Volksentscheide in der Weimarer Republik ====
Direktdemokratische Instrumente wurden in Deutschland erstmals in der Weimarer Republik eingeführt. Die Artikel 73 bis 76 der Weimarer Verfassung bestimmten die grundsätzlichen direktdemokratischen Verfahren. Die genauen Regelungen waren im Gesetz über den Volksentscheid vom 27. Juni 1921 sowie in der Reichsstimmordnung vom 14. März 1924 festgelegt.Die Verfassung räumte der Bevölkerung das Recht ein, dem Parlament mit den Unterschriften von mindestens zehn Prozent der Wahlberechtigten durch ein Volksbegehren einen Gesetzesvorschlag vorzulegen. Stimmte das Parlament diesem nicht zu, kam es zum Volksentscheid, dessen Erfolg davon abhing, dass 50 Prozent des Wahlvolkes daran teilnahmen und überdies die Mehrheit der Teilnehmer mit Ja stimmte. Der Reichstag konnte einen Volksentscheid verlangen, wenn eine von ihm beschlossene Verfassungsänderung vom Reichsrat abgelehnt wurde. Außerdem konnte auch ein Drittel der Mitglieder des Reichstags einen Volksentscheid über ein beschlossenes Gesetz initiieren. In diesem Fall war zusätzlich die Unterstützung von fünf Prozent der Stimmberechtigten nötig. Schließlich konnte der Reichspräsident einen Volksentscheid über ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz anordnen. Über den Haushaltsplan, über Abgabengesetze und Besoldungsordnungen konnte nur der Reichspräsident einen Volksentscheid veranlassen.
Grundsätzlich war das politische System der Weimarer Republik als parlamentarische Demokratie und als Parteiendemokratie angelegt. In politischen Normallagen sollte weder der volksgewählte Reichspräsident noch die Volksgesetzgebung, sondern der Reichstag das Organ der Gesetzgebung sowie der Kontrolle der Reichsregierung sein. Die direktdemokratischen Verfahren waren vielmehr als korrigierendes Gegengewicht zu einer Parteiendemokratie sowie zu einem „Parlamentsabsolutismus“ in Einzelfällen und somit als Ergänzung zum Repräsentativsystem gedacht. Daneben spielte die Hoffnung eine Rolle, das Volk durch die aktive Beteiligung zu politischer Kultur und Verantwortlichkeit erziehen und Akzeptanz für die Demokratie schaffen zu können. In der gegebenen desolaten Situation und angesichts der schwachen demokratischen Tradition in Deutschland war dies ein optimistisches Vorhaben. Die maßgeblichen Sprecher der demokratischen Parteien waren sich des Risikos bewusst, aber davon überzeugt, dass die Weimarer Verfassung im Ganzen ohne eine umfassende Demokratisierung der Bevölkerung wenig Chancen auf dauerhaften Bestand hätte. Der Einführung direktdemokratischer Verfahren lag zudem kein Vorbild in der Verfassungsordnung eines anderen, ähnlich großen und inhomogenen Staates zugrunde.Auf Reichsebene fanden lediglich drei Volksbegehren statt, nur zwei davon schafften es bis zum Volksentscheid. Diese Gesetzesvorlagen wurden, nicht unumstritten, von der Reichsregierung jeweils als verfassungsändernd eingestuft und konnten die dafür erforderliche Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten nicht erreichen. Beide wären jedoch auch am Beteiligungsquorum von 50 Prozent für einfache Gesetze gescheitert. 1926 scheiterte die von KPD und SPD unterstützte Fürstenenteignung am Quorum, obwohl die Debatte zu einer der umfassendsten politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik eskalierte. Das Volksbegehren „Gegen den Panzerkreuzerbau“, unterstützt von der KPD, scheiterte 1928 mit 1,2 Mio. Unterschriften bereits am Unterschriftenquorum. Der Volksentscheid gegen den Young-Plan, der von NSDAP und DNVP unterstützt worden war, scheiterte 1929 mit nur 14,9 Prozent Stimmbeteiligung ebenfalls deutlich. In der Praxis wurden die Volksbegehren zumeist federführend von oppositionellen Parteien organisiert. Angesichts der hohen Beteiligungs- und Zustimmungsquoren bestand die Taktik der jeweiligen Gegner der Volksentscheide nicht darin, um eine Stimmenmehrheit zu kämpfen, sondern in einem Boykott der Abstimmung.
In den meisten Ländern fanden direktdemokratische Verfahren Eingang in die jeweilige Landesverfassung, wie es sie auf Reichsebene gab. Mit dem ersten Volksentscheid in der deutschen Geschichte wurde am 13. April 1919 die badische Landesverfassung angenommen. Diese blieb die einzige durch eine Volksabstimmung beschlossene Verfassung der Weimarer Republik. Bis 1933 wurden in den Ländern insgesamt zwölf direktdemokratische Abstimmungen abgehalten, die zum Großteil auf die vorzeitige Auflösung des Parlamentes gerichtet waren. Nur einmal, bei der Auflösung des Oldenburgischen Landtags 1932, war ein solcher Volksentscheid erfolgreich. Die anderen Versuche, darunter der Anfang 1931 von antidemokratischen rechten Parteien und Organisationen (Stahlhelm, DNVP, NSDAP u. a.) sowie der KPD herbeigeführte Volksentscheid zur Auflösung des preußischen Landtages, scheiterten am nötigen Quorum.
==== Volksabstimmungen über territoriale Veränderungen auf der Grundlage des Versailler Vertrags ====
Auf der Grundlage der Artikel 88, 94 und 104 des Friedensvertrags von Versailles wurden in einer Reihe von Grenzgebieten mit bedeutenden nationalen Minderheiten Volksabstimmungen abgehalten. Entschieden wurde dabei jeweils die Frage, ob die Abstimmungsgebiete bei Deutschland verbleiben oder den Nachbarländern Dänemark beziehungsweise Polen angeschlossen werden sollten. Andere Gebietsabtretungen wurden ohne Volksabstimmungen vollzogen.
Mehrere Volksabstimmungen in Schleswig im Februar und März 1920 ergaben, dass Nordschleswig künftig zu Dänemark, Mittelschleswig dagegen weiterhin zum Deutschen Reich gehören sollte. Im Abstimmungsgebiet Marienwerder (Provinz Westpreußen) und im Abstimmungsgebiet Allenstein (Provinz Ostpreußen) stimmte am 11. Juli 1920 jeweils eine überwältigende Mehrheit für den Verbleib bei Deutschland. Am 20. März 1921 folgten weitere Volksabstimmungen in Oberschlesien und einem kleinen Teil Niederschlesiens. Während sich in Niederschlesien ebenfalls eine deutliche Mehrheit für einen Verbleib bei Deutschland aussprach, fiel das Ergebnis in Oberschlesien territorial sehr uneinheitlich aus. Im größeren Westteil der Provinz favorisierte eine klare Mehrheit den Verbleib bei Deutschland, der kleinere Ostteil um Kattowitz mit seinen wertvollen Kohlegruben stimmte dagegen ebenso deutlich für einen Beitritt zur Polnischen Republik. Um diesem Dilemma zu begegnen, beschloss eine Botschafterkonferenz in Paris die Teilung Oberschlesiens entlang der sogenannten Sforza-Linie, wobei das westliche Oberschlesien als Provinz bei Deutschland verblieb und der kleinere Ostteil der polnischen Autonomen Woiwodschaft Schlesien zugeschlagen wurde.
=== Zeit des Nationalsozialismus ===
Während der Diktatur der Nationalsozialisten trat das Gesetz über Volksabstimmung vom 14. Juli 1933 an die Stelle der Artikel 73–76 der Weimarer Reichsverfassung, die jedoch formal nicht aufgehoben wurden. Es ermöglichte der Reichsregierung, ein Referendum zu initiieren, dessen Gegenstand nicht nur Gesetze, sondern allgemein „beabsichtigte Maßnahmen“ sein konnten. Das Quorum und damit die Vetomöglichkeit durch Abstimmungsboykott wurden abgeschafft. Da lediglich ein zustimmendes Votum verbindlich war, handelte es sich bei den Volksabstimmungen lediglich um Volksbefragungen.Auf dieser Grundlage wurden vier Volksbefragungen durchgeführt, die jedoch nicht „beabsichtigte Maßnahmen“ zum Inhalt hatten, sondern jeweils bereits vollzogene Akte legitimieren sollten. Als erste fand am 12. November 1933 eine Volksabstimmung über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund statt. Am 19. August 1934 folgte eine über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs, mit der die Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers vereinigt und auf Adolf Hitler als Führer und Reichskanzler übertragen wurden. Dazu gab es am 29. März 1936 die Volksabstimmung über die Ermächtigung zur Rheinlandbesetzung und am 10. April 1938 die Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich über den Anschluss Österreichs. Die Abstimmungsbeteiligung lag jeweils zwischen 95,7 Prozent und 99,7 Prozent, die Zustimmungsquote zwischen 88,1 Prozent und 99,0 Prozent.
Aufgrund der Missachtung der Grundsätze einer demokratischen Abstimmung, neuerschaffener Demokratiebegriffe und „völkisch-plebiszitärer“ Staatskonzepte gelten diese Volksabstimmungen als Missbrauch direktdemokratischer Verfahren. Sie hatten die Funktion pseudolegalistischer Akklamationen zuvor gefasster Entscheidungen der Reichsregierung. Dennoch ist davon auszugehen, dass die große Mehrheit der Deutschen den Abstimmungsvorlagen aus Überzeugung zustimmte.Als letzte Deutschland betreffende Volksabstimmung im Zuge des Versailler Vertrags wurde am 13. Januar 1935 mit der Saarabstimmung über die Zugehörigkeit des unter Völkerbundmandat stehenden Saargebiets abgestimmt. Die Abstimmung erbrachte eine Mehrheit von 90,7 Prozent für Deutschland, so dass das Saargebiet dem Deutschen Reich angegliedert wurde.
=== DDR ===
Die erste direktdemokratische Abstimmung in der Nachkriegszeit fand in der sowjetischen Besatzungszone noch vor jeder Landtagswahl statt. Der Volksentscheid in Sachsen am 30. Juni 1946 sah die entschädigungslose Enteignung von Großgrundbesitzern, Kriegsverbrechern und aktiven Nationalsozialisten vor. Bei einer Beteiligung von 93,7 Prozent stimmten 77,6 Prozent für das Gesetz und 16,6 Prozent dagegen.Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 bestimmte Volksbegehren und Volksentscheide als Instrumente der Legislative, die gleichberechtigt neben der Volkskammer stehen sollten. Demnach konnten zehn Prozent der Stimmberechtigten oder die anerkannten Parteien und Massenorganisationen einen Volksentscheid beantragen. Zur Annahme des Gesetzentwurfs war eine einfache Mehrheit nötig. Auch die Volkskammer konnte durch einen Volksentscheid aufgelöst werden.Volksentscheide wurden auch in den 1946/47 verabschiedeten Verfassungen der fünf Länder der SBZ bzw. der DDR verankert. So hieß es in der Verfassung des Landes Thüringen vom 20. Dezember 1946: „Das Volk verwirklicht seinen Willen durch die Wahl der Volksvertretungen, durch Volksentscheid, durch die Mitwirkung an Verwaltung und Rechtsprechung und durch die umfassende Kontrolle der öffentlichen Verwaltungsorgane.“ Annähernd gleichlautende Formulierungen wurden in die übrigen Landesverfassungen übernommen.Die gesetzlichen Bestimmungen zum Volksentscheid blieben theoretisch. Im einzigen Volksentscheid der DDR-Geschichte wurde 1968 über eine neue Verfassung abgestimmt. Die Initiative ging vom Zentralkomitee der SED aus. Am 6. April 1968 wurde der Verfassungsentwurf per Volksabstimmung bestätigt, die jedoch ohne die Möglichkeit einer geheimen Abstimmung und freien Diskussion nicht demokratischen Grundsätzen entsprach. Dennoch wagte eine relativ große Zahl der Bürger den Widerspruch. Anstelle der bei Wahlen in der DDR üblichen Ergebnisse im Bereich von 99 Prozent Zustimmung wurde selbst im offiziellen Ergebnis eine Zustimmung von 96,37 Prozent der abgegebenen Stimmen und 3,4 Prozent Nein-Stimmen ausgewiesen. Drei Tage später trat die neue Verfassung offiziell in Kraft, in der die Möglichkeit eines Volksbegehrens nicht mehr vorkam. Die Volkskammer konnte dagegen weiterhin die Durchführung eines Referendums beschließen.Darüber hinaus gab es in den 1950er Jahren zwei in der Verfassung nicht vorgesehene Volksbefragungen mit propagandistischer Zielsetzung. 1951 sprachen sich bei einer Stimmbeteiligung von 99,42 Prozent 95,98 Prozent der Abstimmenden gegen die Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik und für einen Friedensvertrag aus, 4,02 Prozent stimmten dagegen. Trotz eines Verbotes der Behörden der Bundesrepublik fand dort eine Parallelabstimmung statt, an der sich nach Angaben des Veranstalters, dem der KPD nahestehenden Hauptausschuss für Volksbefragungen, 6.267.312 Abstimmende beteiligten, was einer Wahlbeteiligung von etwa 20 Prozent entsprochen hätte. 94,42 Prozent der Abstimmenden sollen mit „Ja“, 5,58 Prozent mit „Nein“ gestimmt haben. Nachdem die Bundesrepublik den Generalvertrag und den später nicht in Kraft getretenen Vertrag zur Errichtung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) mit den drei Westmächten Frankreich, Großbritannien und USA ratifiziert hatte, beschloss die Volkskammer 1954 eine erneute Volksbefragung. Bei einer Wahlbeteiligung von 98,60 Prozent stimmten 93,46 Prozent für einen Friedensvertrag sowie einen Abzug der Besatzungstruppen, 6,54 Prozent stimmten für die EVG. Eine parallele Befragung in der Bundesrepublik fand diesmal nicht statt.
Nach den Umbrüchen im Herbst 1989 richtete der Zentrale Runde Tisch eine Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ ein, der bis zur Volkskammerwahl am 6. Mai 1990 einen Verfassungsentwurf erarbeiten sollte. Nachdem der Wahltermin auf den 18. März vorverlegt worden war und sich der Zentrale Runde Tisch unmittelbar danach aufgelöst hatte, übergab die Arbeitsgruppe den Entwurf am 4. April 1990 den neu gewählten Abgeordneten der Volkskammer. Der Verfassungsentwurf sah umfassende direktdemokratische Beteiligungsmöglichkeiten vor. Zu diesem Zeitpunkt waren aber maßgebliche Entscheidungen bereits getroffen, zudem unterschied sich die Zusammensetzung der Volkskammer, in der die CDU mit Abstand stärkste Partei geworden war, erheblich von derjenigen des Runden Tisches, so dass der Entwurf im raschen Verlauf des Vereinigungsprozesses keine Rolle mehr spielte. Die Volkskammer lehnte es ab, ihn auch nur zur weiteren Beratung in die Ausschüsse zu verweisen. In der letzten Kommunalverfassung der DDR vom Mai 1990 wurde der Bürgerentscheid verankert, der nach der Wiedervereinigung in alle Gemeindeordnungen der neuen Bundesländer aufgenommen wurde.
=== Bundesrepublik ===
==== Nachkriegszeit ====
===== Entscheidungen bei der Entstehung des Grundgesetzes =====
Die aus der Londoner Sechsmächtekonferenz hervorgegangenen, am 1. Juli 1948 verabschiedeten Frankfurter Dokumente sahen vor, eine Verfassung durch Referenden in den Ländern zu ratifizieren. Um ihren provisorischen Charakter zu unterstreichen und die deutsche Teilung nicht zu zementieren, beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder in den drei Westzonen jedoch auf der Rittersturz-Konferenz vom 8. bis 10. Juli 1948, auf den Begriff „Verfassung“ zu verzichten und das „Grundgesetz“ durch die Landesparlamente statt durch eine Volksabstimmung ratifizieren zu lassen. Der vom 10. bis 23. August 1948 tagende Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee verständigte sich auf die Vorgabe, dass es in der auszuarbeitenden Verfassung kein Volksbegehren, wohl aber ein obligatorisches Referendum bei Änderungen des Grundgesetzes geben solle. Der Parlamentarische Rat wich nach kontroverser Debatte von dieser Empfehlung ab und beschloss, keine plebiszitären Elemente in das Grundgesetz aufzunehmen, sondern ganz auf die repräsentative Demokratie zu setzen.
Diese Entscheidung wurde im Nachhinein als Ergebnis der konkreten Erfahrungen aus der Weimarer Republik interpretiert. Neuere Forschungen betonen dagegen, dass sie im Wesentlichen zeitbedingt gewesen sei. Die wichtigsten Gründe für die ablehnende Haltung waren demnach die Furcht vor einem Missbrauch von Volksabstimmungen durch die SED bzw. die KPD im aufkommenden Kalten Krieg, der provisorische Charakter, den das Grundgesetz haben sollte, und die Schwierigkeiten, die Volksabstimmungen angesichts der zerstörten Infrastruktur in der Nachkriegszeit mit sich gebracht hätten. Die Parteien schwankten zwischen prinzipieller Bejahung und situativer Ablehnung der direkten Demokratie, jedoch lehnte keine Partei im Parlamentarischen Rat die Aufnahme direktdemokratischer Verfahren generell ab. Der Parlamentarische Rat habe vielmehr die junge Demokratie für eine Übergangszeit vor sich selbst schützen und die direkte Demokratie in „Quarantäne“ nehmen, direktdemokratische Verfahren aber nicht ein für alle Mal ausschließen wollen.
===== Direktdemokratische Verfahren in den ersten Länderverfassungen =====
Die Verfassungsberatungen in den Ländern und die Debatte um das Grundgesetz beeinflussten sich gegenseitig, nicht zuletzt, weil die meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rats auch in einer verfassunggebenden Versammlung eines Landes aktiv waren. Alle vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen sahen direktdemokratische Verfahren nach dem Vorbild der Weimarer Reichs- und Länderverfassungen vor, wobei die geforderten Quoren außer in Bayern deutlich heraufgesetzt wurden. Nach der Verabschiedung des Grundgesetzes nahm nur noch die Verfassung von Nordrhein-Westfalen die Volksgesetzgebung auf, die entsprechenden Regelungen waren aber bereits im Juli 1948 mit breiter Mehrheit beschlossen worden. Ebenso wurden bis Oktober 1947 sieben Länderverfassungen per Referendum angenommen, danach nur noch diejenige von Nordrhein-Westfalen im Juni 1950. Die übrigen wurden von den Landtagen verabschiedet.
In Hessen, Rheinland-Pfalz und Bremen wurde mit dem Volksentscheid über die Landesverfassung in Sonderabstimmungen auch über einzelne umstrittene Artikel abgestimmt. In Hessen betraf dies den Artikel 41 zur Möglichkeit von Sozialisierungen, in Rheinland-Pfalz den Artikel 20 zur Gestaltung und Rolle der Schulen im Land sowie in Bremen der Artikel 47 zur Frage der Arbeitnehmermitbestimmung.
==== Stagnation der direkten Demokratie in der Bonner Republik ====
===== Die Bundesebene bis zur Wiedervereinigung =====
1958 beantragte die SPD-Fraktion im Bundestag eine nicht bindende „Volksbefragung wegen einer atomaren Aufrüstung der Bundeswehr“ als konfirmatives Referendum des souveränen Parlaments, die keiner grundgesetzlichen Änderung bedürfe. Die Regierungsmehrheit lehnte den Antrag ab. Die SPD-geführte hessische Landesregierung widersetzte sich der Aufforderung aus Bonn, durch kommunale Gebietskörperschaften initiierte Volksbefragungen zu unterbinden, scheiterte damit aber vor dem Bundesverfassungsgericht.Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung bewertete 1969 die von der NPD erhobene Forderung nach Volksabstimmungen auf Bundesebene und der Direktwahl des Bundespräsidenten als eine „Forderung für die Beseitigung der heutigen Stabilität der Demokratie in der Bundesrepublik“, da diese durch Verzicht auf derartige direktdemokratische Elemente habe erzielt werden können.Die vom Parlamentarischen Rat vollzogene Absage an plebiszitäre Elemente auf der Bundesebene wurde im Bundestag lange Zeit nicht in Frage gestellt. Eine Enquete-Kommission Verfassungsreform lehnte in ihrem 1976 vorgelegten Schlussbericht mit breitem Konsens alle Formen unmittelbarer Beteiligung in Sachfragen ab.Erst als die 1980 gegründeten Grünen nach der Bundestagswahl 1983 in das Parlament einzogen, wurde das Thema direkte Demokratie im Bundestag wieder thematisiert. Noch 1983 brachten die Grünen einen Gesetzentwurf zur Durchführung einer konsultativen Volksbefragung über die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses ein. Versuche, die Möglichkeiten der Volksgesetzgebung in Hessen und in Baden-Württemberg für entsprechende Initiativen zu nutzen, scheiterten an der Bundeszuständigkeit in Fragen der Verteidigung. Die von einer Gruppierung der Grünen gegründete „Aktion Volksentscheid“ richtete 1983 eine Sammelpetition an den Bundestag, die Volksgesetzgebung auf Bundesebene einzuführen. Sie argumentierte, die Einführung einer Volksgesetzgebung bedürfe keiner Verfassungsänderung, da Artikel 20 des Grundgesetzes diese bereits erlaube. Auf Empfehlung des Petitionsausschusses erklärte das Plenum die Petition gegen die Stimmen der Grünen wegen verfassungsrechtlicher Bedenken für erledigt.
===== Direkte Demokratie in den Ländern bis 1989/90 =====
Ein im Falle der Neugliederung des Bundesgebietes, also bei der Zusammenlegung oder Aufspaltung von Bundesländern, vom Grundgesetz vorgeschriebenes obligatorisches Referendum gab es 1952 bei der Gründung des Bundeslandes Baden-Württemberg. Auf kommunaler Ebene gilt Baden-Württemberg, wo 1955 das Bürgerbegehren in die Gemeindeordnung eingeführt wurde, als das „Mutterland direkter Demokratie“.1955 wurde im – damals nicht zu Deutschland gehörenden – Saarland ein konfirmatives Referendum über den Status des Landes abgehalten. In der Volksbefragung sprachen sich 67,7 Prozent der Stimmberechtigten gegen eine Autonomie im Rahmen des Europäischen Saarstatuts als außerstaatliches Sonderterritorium der Westeuropäischen Union aus. Daraufhin nahm die Regierung des Saarlandes Verhandlungen mit der deutschen Bundesregierung auf, und das Saarland trat zum 1. Januar 1957 der Bundesrepublik Deutschland bei.
1968 kam es in Bayern zum ersten auf ein Volksbegehren zurückgehenden Volksentscheid über die Gemeinschaftsschule. Außerhalb Bayerns gab es, von einigen Abstimmungen über Gebietsveränderungen abgesehen, bis 1997 keinen einzigen.
1974 führten Baden-Württemberg und 1979 das Saarland die Volksgesetzgebung ein, wobei die vorgeschriebenen Quoren jeweils äußerst hoch angesetzt wurden. In Berlin dagegen wurde der Volksentscheid, der niemals durch ein Ausführungsgesetz konkretisiert worden und folglich nie zur Anwendung gekommen war, 1974 aus der Verfassung getilgt.
==== Expansion direktdemokratischer Verfahren seit 1989/90 ====
===== Gesetzesinitiativen im Bundestag =====
Die nach der Wiedervereinigung eingesetzte Gemeinsame Verfassungskommission erarbeitete Vorschläge für die Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung auf Bundesebene. Kein anderes Thema der Beratungen stand so im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, wie 266.000 Eingaben an die Verfassungskommission belegen. In der Kommission erhielten die Anträge von SPD und Grünen für die Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid zwar einfache Mehrheiten, die für eine Änderung des Grundgesetzes erforderliche Zweidrittelmehrheit kam jedoch nicht zustande. Auch die weit verbreitete Forderung nach einer abschließenden Volksabstimmung über das Grundgesetz und dessen Reform gemäß Art. 146 GG setzte sich nicht durch. Ebenso wenig Erfolg hatte ein Antrag der SPD, den Artikel 146 GG dahingehend zu ändern, dass eine Volksabstimmung die Frage nach dem Sitz von Bundestag und Bundesregierung entscheiden solle.Im November 1992 und im März 1998 brachten die Grünen, im Juni 1999 die PDS erfolglos Gesetzentwürfe zu bundesweiten Volksentscheiden in den Deutschen Bundestag ein. Nach dem Wahlsieg von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei der Bundestagswahl 1998 wurde die Einführung direktdemokratischer Verfahren auf Bundesebene in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Im März 2002 brachte die rot-grüne Regierung einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Einführung einer dreistufigen Volksgesetzgebung auf Bundesebene in den Bundestag ein. Dieser erhielt eine Mehrheit von 63,38 Prozent und scheiterte damit nur knapp an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit. Für den Antrag stimmten in der namentlichen Abstimmung auch die PDS, 14 Abgeordnete der FDP, darunter der Parteivorsitzende Guido Westerwelle und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Gerhardt, sowie der CDU-Abgeordnete und ehemalige Bundesminister Christian Schwarz-Schilling. Die FDP brachte 2003 und 2004 zwei Anträge zu einem Referendum über die Annahme einer Europäischen Verfassung in den Bundestag ein. 2006 unternahmen die PDS, die FDP und Bündnis 90/Die Grünen mit jeweils getrennten Gesetzentwürfen erneut Vorstöße für einen bundesweiten Volksentscheid, ein weiterer folgte 2010 durch Die Linke. 2012 stellte die CSU einen Entschließungsantrag über Volksentscheide auf Bundesebene bei grundsätzlichen Fragen der Europapolitik im Bundesrat zur Abstimmung. Im Juni 2013 brachte die SPD erneut zwei Gesetzentwürfe zur Volksgesetzgebung in den Bundestag ein. Im März 2014 unternahm die Linke einen weiteren Anlauf mit einem Gesetzentwurf zur Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung, der weitgehend auf den Vorschlägen des Vereins Mehr Demokratie beruhte.
===== Entwicklungen in Ländern und Kommunen seit 1989 =====
Zwei Entwicklungen führten 1989/90 zu einer Periode der Expansion der direkten Demokratie in den Ländern und Kommunen: Zum einen setzten die Umbrüche in der DDR, zum anderen die Verfassungsreform in Schleswig-Holstein nach der Barschel-Affäre eine neue Dynamik in der Entwicklung direktdemokratischer Verfahren in Gang. Mit dem SPD-regierten Schleswig-Holstein führte 1989 erstmals wieder ein Bundesland die Volksgesetzgebung ein und setzte dabei relativ niedrige Hürden. Neu war die Einführung der Volksinitiative als Eingangsstufe eines dreiphasigen Verfahrens. 1997 kam es in Schleswig-Holstein zum ersten auf ein Volksbegehren zurückgehenden Volksentscheid außerhalb Bayerns. Zudem war Schleswig-Holstein nach Baden-Württemberg das zweite Land, das mit dem Bürgerbegehren und dem Bürgerentscheid weitreichende Beteiligungsformen mit niedrigen Hürden schuf.
In allen zwischen 1992 und 1994 jeweils durch ein Verfassungsreferendum beschlossenen neuen Landesverfassungen der ostdeutschen Bundesländer wurden Volksbegehren und Volksentscheide nach dem schleswig-holsteinischen Modell verankert. Diesem Vorbild folgten bis 1996 wiederum Niedersachsen, Berlin und Hamburg, so dass die Volksgesetzgebung seitdem in allen Ländern verankert ist. In Bremen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz wurden die bestehenden Regelungen reformiert.
Eine geplante Zusammenlegung der Bundesländer Berlin und Brandenburg, für die das Grundgesetz als Neugliederung des Bundesgebietes ein obligatorisches Referendum vorschrieb, wurde 1996 von der Bevölkerung abgelehnt. Mehrere Volksentscheide haben besonders in jüngerer Zeit große Aufmerksamkeit erregt. Zu nennen sind hier unter anderem die Volksentscheide Pro Reli in Berlin (2009), zum Nichtraucherschutz in Bayern und zur Schulreform in Hamburg (beide 2010), über die Offenlegung der Teilprivatisierungsverträge bei den Berliner Wasserbetrieben und zu Stuttgart 21 (beide 2011) sowie über die Rekommunalisierung der Hamburger und Berliner Energieversorgung (beide 2013). Trotzdem blieb die Volksgesetzgebung auch in Ländern mit relativ niedrigen Hürden eine Ausnahme mit geringer praktischer Bedeutung und hatte keine grundsätzliche Veränderung des parlamentarischen Systems oder der Parteiendemokratie zur Folge.Die Kommunalverfassung der DDR, in der der Bürgerentscheid noch im Mai 1990 verankert worden war, galt auch nach der Wiederbegründung der neuen Bundesländer und dem Beitritt zur Bundesrepublik zunächst fort. Alle neuen Gemeindeordnungen in den neuen Ländern übernahmen die Bestimmungen der DDR-Kommunalverfassung zu den direktdemokratischen Verfahren. Wie bei der Volksgesetzgebung auf Landesebene folgten bis 1997 alle Flächenländer dieser Entwicklung. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bayern wurden 1995 per Volksentscheid auf Initiative des Vereins Mehr Demokratie in die Gemeindeordnung eingefügt. Bis 2005 hatten auch die Stadtstaaten den Bürgerentscheid in ihren Bezirken eingeführt.
== Die Ausgestaltung der direkten Demokratie in der Bundesrepublik ==
=== Die Stellung von Volksabstimmungen im Grundgesetz ===
Das Grundgesetz kennt kein Initiativrecht für das Volk. Allerdings regelt Art. 20 Abs. 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt.“ Da sich „Wahlen“ stets auf Personen und „Abstimmungen“ stets auf Sachfragen beziehen, ist eine Volksgesetzgebung somit prinzipiell vom Grundgesetz abgedeckt. In Art. 76 GG hingegen wird das Gesetzgebungsverfahren dargelegt, ohne dass „das Volk“ dort erwähnt wird. Das Bundesverfassungsgericht sowie die überwiegende Zahl der Staatsrechtler interpretiert diesen Widerspruch heute derart, dass Plebiszite auf Bundesebene eingeführt werden können, allerdings erst nach Ergänzung des Art. 76 GG um entsprechende Formulierungen.Für zwei Fälle sieht das Grundgesetz ein obligatorisches Referendum vor: erstens bei einer Neugliederung des Bundesgebietes nach Art. 29 GG, bei dem lediglich die wahlberechtigten Bürger in den betroffenen Gebieten stimmberechtigt sind, und zweitens bei der Ablösung des Grundgesetzes durch eine Verfassung (Art. 146 GG). Das obligatorische bundesweite Referendum nach Art. 146 GG über eine neue Verfassung war vom Parlamentarischen Rat für den Fall der deutschen Wiedervereinigung vorgesehen. Da sich die Bundesregierung 1990 entschied, die Wiedervereinigung über den Art. 23 GG a. F. – also über einen Beitritt der neuen Bundesländer zum Bundesgebiet – zu bewirken, kam Art. 146 GG bislang nicht zum Tragen. Unabhängig davon gebietet er aber weiterhin, dass eine umfassende Revision des Grundgesetzes oder die Ausarbeitung einer neuen Verfassung obligatorisch in einem bundesweiten Verfassungsreferendum bestätigt werden müsste.
=== Direkte Demokratie in den Bundesländern ===
==== Volksgesetzgebung ====
In den Verfassungen aller Bundesländer ist die Volksgesetzgebung verankert. Darunter versteht man diejenigen direktdemokratischen Verfahren, bei denen das Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren beim Volk liegt. In den meisten Ländern gibt es eine dreistufige Volksgesetzgebung. Bayern und das Saarland praktizieren dagegen ein zweistufiges Verfahren der Volksgesetzgebung.Die Ausgestaltung der direktdemokratischen Verfahren differiert in den Bundesländern stärker als irgendein anderer Bereich der Länderregierungssysteme und ist dementsprechend unterschiedlich wirksam. Während sie beispielsweise in Bayern, Berlin und Hamburg vergleichsweise bürgerfreundlich ist und dadurch häufiger Volksentscheide stattfinden, sind in Hessen oder im Saarland die Hürden für Initiativen aus dem Volk durch umfängliche Themenausschlüsse über die Pflicht zur Amtseintragung oder kurze Sammlungsfristen bis zu nahezu unüberwindlichen Quoren so hoch, dass es noch nie zu Volksentscheiden gekommen ist. Eingeschränkt wird die Volksgesetzgebung in den Ländern durch Kompetenzübertragungen an den Bund und zunehmend an Institutionen der EU.
Die Volksinitiative ist die erste Stufe im dreistufigen Volksgesetzgebungsverfahren. Mit ihr hat das Volk die Möglichkeit, eine von ihm bestimmte Angelegenheit in der Form einer Unterschriftenaktion in die Beratung des Landtags einzubringen. Dieser muss den Vorschlag im Plenum behandeln, ist aber frei in seiner Entscheidung, ob er die Vorlage beschließt oder verwirft. Nimmt der Landtag die Initiative nicht an, kommt es zum Volksbegehren. Im zweistufigen Verfahren gibt es die Volksinitiative entweder gar nicht, oder sie gleicht lediglich einer unverbindlichen Massenpetition. Stattdessen genügt hier ein Antrag auf ein Volksbegehren, um ein solches in Gang zu setzen.
Die nächste Stufe ist das Volksbegehren. Gegenstand eines Volksbegehrens muss immer ein förmliches Gesetz sein, das in die Gesetzgebungskompetenz des Landes fällt und für das es keinen Themenausschluss gibt. Alle Länderverfassungen nehmen die sogenannte „Finanztrias“ von Haushaltsgesetzen, Abgaben und Besoldungen von der Volksgesetzgebung aus –, wovon in vielen Bundesländern auch mittelbar finanzwirksame Gesetze betroffen sind. Unterschiedlich geregelt ist auch, ob es beim Volksbegehren eine Entschädigung für die aufgewendeten Kosten der Initiatoren analog der Wahlkampfkostenerstattung gibt.Lehnt der Landtag ein erfolgreiches Begehren ab, so kommt es zum Volksentscheid, in dem verbindlich abgestimmt wird. In der Praxis sind dabei die geforderten Zustimmungs- oder Beteiligungsquoren die größte Hürde für die Initiatoren. 6 der 24 Volksentscheide (bis Juli 2018) sind „unecht gescheitert“, das heißt, dass sie trotz zum Teil überwältigender Zustimmung am geforderten Quorum scheiterten. Während diejenigen Volksentscheide, die gemeinsam mit Bundes- oder Landtagswahlen stattfinden, im Schnitt eine Abstimmungsbeteiligung von 61,8 Prozent hatten, lag diese bei denjenigen ohne eine solche Kopplung bei nur 34,1 Prozent der Abstimmungsberechtigten. Wiederholt versuchten Landesregierungen, Volksentscheide zu behindern, indem sie diesen Umstand ausnutzten. So setzte die Hamburger CDU nach zwei empfindlichen Niederlagen in Volksentscheiden 2004 durch, dass Volksentscheide nicht mehr mit Wahlen zusammen stattfinden müssen. Das Hamburger Verfassungsgericht hob diese Änderung jedoch wieder auf, so dass Hamburg weiterhin das einzige Land ist, in dem eine Kopplung von Abstimmungen an Wahlen ausdrücklich vorgesehen ist. Der Berliner Senat legte den Termin für den Volksentscheid über die Rekommunalisierung der Berliner Energieversorgung auf den 3. November 2013, obwohl eine Zusammenlegung mit der Bundestagswahl am 22. September 2013 möglich gewesen wäre und der zusätzliche Termin Kosten in Höhe von 1,4 Millionen Euro verursachte. Der Volksentscheid scheiterte bei einer Zustimmung von 83,0 Prozent knapp am geforderten Quorum.
==== Obligatorische Referenden und Referenden des Parlaments/der Regierung ====
Ein obligatorisches Referendum gibt es nur in Bayern und Hessen zu allen Verfassungsfragen. Hier müssen alle vom Parlament beschlossenen Verfassungsänderungen in Volksabstimmungen bestätigt werden, zuletzt geschehen im Oktober 2018 in Hessen zu 15 Verfassungsänderungen.In Baden-Württemberg, Bremen und Sachsen kann das Parlament, in Nordrhein-Westfalen das Parlament oder die Regierung ein Referendum ansetzen, wenn ein verfassungsänderndes Gesetz im parlamentarischen Verfahren scheitert.Baden-Württemberg, Hamburg und Rheinland-Pfalz kennen Sonderfälle von Referenden, mit dem einfache Gesetze dem Volk vorgelegt werden können. In Baden-Württemberg kann dies durch gemeinsames Handeln einer Parlamentsminderheit (ein Drittel) und der Landesregierung erfolgen. In Hamburg können zwei Drittel des Parlaments und die Regierung gemeinsam eine Volksabstimmung ansetzen. Rheinland-Pfalz kennt eine Kombination aus Parlamentsminderheit (einem Drittel) und den Unterschriften von 5 Prozent der Wahlberechtigten.Ein Korrektur-Volksbegehren, analog dem fakultativen Referendum in der Schweiz, mit dem ein bereits beschlossenes Gesetz auf Antrag des Volkes einer nochmaligen Entscheidung unterworfen werden kann, gibt es für bestimmte politische Gegenstände in Hamburg und Bremen.
Die Neugliederung des Bundesgebietes ist neben einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung der einzige Fall von Volksabstimmungen, der im Grundgesetz geregelt ist. Die dafür nötigen obligatorischen Referenden finden jedoch nur in den betroffenen Gebieten statt.
==== Parlamentsauflösung und Volksklage ====
Die Länderverfassungen von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sehen die Möglichkeit der plebiszitären Parlamentsauflösung vor. Die Quoren für ein erfolgreiches Volksbegehren liegen bei einem Antrag zur Auflösung des Landtags höher als bei Gesetzesinitiativen. In der Geschichte der Bundesrepublik wurde bisher noch kein Volksbegehren mit dem Ziel einer Parlamentsauflösung durchgeführt.
Nur in Hessen gibt es das Instrument der Volksklage. Durch diese kann die Überprüfung eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung auf ihre Verfassungsmäßigkeit beantragt werden. Dafür muss ein Prozent der Stimmberechtigten den Antrag unterstützen. 2007 wurde die Überprüfung des Gesetzes zur Einführung von Studiengebühren durch eine Volksklage verlangt. Eine solche abstrakte Normenkontrollklage ist sonst Verfassungsorganen vorbehalten.
==== Rechtsprechung zur Volksgesetzgebung ====
Der Bayerische Verfassungsgerichtshof führte 1997 erstmals eine Normenkontrolle bei einem Volksgesetz durch, als er das durch einen Volksentscheid zustande gekommene Gesetz zur Einführung des kommunalen Bürgerentscheids von 1995 prüfte. Er erklärte eine Vorschrift für verfassungswidrig und nichtig, zwei weitere Bestimmungen zumindest in ihrer Kombination für nicht mit der Verfassung vereinbar. 1999 entschied der Senat des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, dass aus der Verfassung ein Gebot eines Quorums von 25 Prozent folge. Damit änderte er eine seit 1949 praktizierte Rechtsprechung, der Gesetzgeber dürfe nach der Verfassung kein Quorum aufstellen. Im Jahr 2000 entschied er, der Inhalt des Volksbegehrens „Faire Volksentscheide im Land“ widerspreche dem demokratischen Grundgedanken der Verfassung. Die immer restriktivere Rechtsprechung des bayerischen Verfassungsgerichtshofs sorgte für große Resonanz und kritische Bewertungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur.Eine wichtige rechtliche Grundsatzfrage ist die, ob Volksentscheide auch Fragen entscheiden dürfen, die das Budgetrecht berühren, oder ob dies ein Privileg der Parlamente sei. Eine einhellige Linie der Rechtsprechung der Verfassungsgerichtshöfe von Bremen, Schleswig-Holstein und Brandenburg untersagt solche direktdemokratischen Projekte, die den Landeshaushalt wesentlich beeinflussen. Das Bundesverfassungsgericht stellte in einem Fall fest, dass ein Volksentscheid zurückgewiesen werden müsse, da 0,7 Prozent des Haushalts betroffen waren.
=== Direkte Demokratie auf kommunaler Ebene ===
In allen Bundesländern kann auf kommunaler Ebene mit dem Instrument des Bürgerbegehrens ein Anliegen vor den Gemeinderat gebracht werden. Übernimmt dieser das Begehren nicht, können die Wahlberechtigten in einem Bürgerentscheid direkt über den Antrag abstimmen. Auch der Gemeinderat kann durch ein Ratsbegehren einen Bürgerentscheid herbeiführen.
Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sind in der Kommunalpolitik in manchen Bundesländern die Ausnahme, da etliche Sachgebiete als Gegenstand des Entscheids ausgeschlossen sind und weil das verlangte Quorum häufig schwer zu erreichen ist. Wie hoch die Hürden für einen Bürgerentscheid sind, variiert zwischen den einzelnen Ländern stark, wobei die einschlägigen Regelungen hierzu vom jeweiligen Landesparlament festgelegt werden. So gab es in Bayern bis 2017 1.786 Bürgerentscheide, im Saarland dagegen noch gar keinen. Insgesamt gab es zwischen 1956 und 2017 6.261 Bürgerbegehren und 1.242 von den Gemeinderäten initiierte Ratsreferenden. Mehr als die Hälfte der direktdemokratischen Verfahren auf kommunaler Ebene fand zwischen 2003 und 2017 statt, etwa 300 pro Jahr in den letzten Jahren. Die Abstimmungsbeteiligung bei Bürgerentscheiden betrug durchschnittlich 50,2 Prozent. Dabei sank die Beteiligung mit zunehmender Einwohnerzahl, was das Erreichen des jeweils nötigen Zustimmungsquorums in Großstädten schwierig macht.
Der Einwohner- oder Bürgerantrag liegt im Grenzbereich zwischen Massenpetition und plebiszitärer Beteiligung. Mit ihm können Vorlagen in die kommunale Vertretung eingebracht werden, eine unmittelbare Beschlusswirkung geht von ihm jedoch nicht aus. Noch weniger gehören andere Partizipationsmöglichkeiten wie Bürgerversammlungen, Fragestunden oder informelle runde Tische dem Bereich der direkten Demokratie an, da sie nicht auf verbindliche Entscheidungen abzielen. Die Handlungskompetenz der Beschlussorgane bleibt unberührt.
Parallel zur Durchsetzung direktdemokratischer Verfahren auf kommunaler Ebene hat sich in Deutschland seit den frühen 1990er Jahren die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten durchgesetzt. Ob es sich bei der Direktwahl um direktdemokratische Verfahren handelt, ist umstritten und wird überwiegend verneint, da Personalentscheidungen keinen Eingriff des Wahlvolkes in konkrete politische Sachfragen, sondern nur Eingriffe in das Repräsentativsystem darstellen. Anders werden zum Teil Abwahlen bewertet, da die Beteiligungsrechte hier über das normale Maß der Mitwirkungsmöglichkeiten in der repräsentativen Demokratie hinausgehen. Für Abberufungen direkt gewählter Bürgermeister liegen die Hürden wesentlich höher als für Bürgerentscheide. Ein spektakuläres Beispiel war der Bürgerentscheid über die Abwahl des Oberbürgermeisters der Stadt Duisburg im Februar 2012.
=== Andere direktdemokratische Bereiche ===
==== Ansätze von Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene ====
Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die Europäische Bürgerinitiative beschlossen, mit der Unionsbürger bewirken können, dass sich die Europäische Kommission mit einem bestimmten Thema befasst. Hierfür müssen in zwölf Monaten insgesamt eine Million gültige Unterstützungsbekundungen in einem Viertel aller EU-Mitgliedstaaten gesammelt werden. Erleichtert wird die Europäische Bürgerinitiative durch die Möglichkeit der Online-Sammlung der Unterschriften. Von ihr kann seit dem 1. April 2012 Gebrauch gemacht werden.
Da die Kommission unabhängig von einer Europäischen Bürgerinitiative in ihrer Entscheidung frei ist, ist diese nur ein schwach direktdemokratisches Verfahren, das weitgehend einer Massenpetition gleicht. Verbindliche Abstimmungen, also einen europaweiten Volksentscheid, gibt es nicht. Ebenso gibt es kein Instrument, das ein Thema auf die Agenda des Europäischen Parlaments setzen kann.
==== Urabstimmungen in Parteien und Gewerkschaften ====
Direktdemokratische Verfahren spielen auch innerhalb nichtstaatlicher Organisationen eine Rolle.
Die Streikrichtlinien des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sehen vor einem Streik eine Urabstimmung der vom Arbeitskampf betroffenen Gewerkschaftsmitglieder vor. Nach der Satzung der meisten Gewerkschaften in Deutschland müssen einem Streik mindestens 75 Prozent aller betroffenen stimmberechtigten Mitglieder in geheimer Wahl zustimmen.
In jüngerer Zeit experimentieren besonders die politischen Parteien verstärkt mit Mitgliederentscheiden, um die innerparteiliche Demokratie zu stärken. Eine Vorreiterrolle nahmen Die Grünen ein, für die die Basisdemokratie ein bestimmender Orientierungspunkt war und die bei ihrer Gründung 1980 Mitgliederentscheide in Sachfragen und Fragen der Programmatik in ihre Satzung aufnahmen. In der Berliner Alternativen Liste gab es bis in die frühen 1990er Jahre hinein kein Delegiertensystem, sondern Entscheidungen wurden generell auf Vollversammlungen getroffen. Der hessische Landesverband entschied noch 2013 auf einer Landesvollversammlung über die Annahme des Koalitionsvertrages mit der CDU. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 stimmten die Parteimitglieder von Bündnis 90/Die Grünen in einem Mitgliederentscheid über die Themen ab, denen im Wahlkampf und in möglichen Koalitionsverhandlungen Priorität eingeräumt werden sollte. 2000 gab es bei den Grünen in Baden-Württemberg einen ersten virtuellen Parteitag ohne Delegierte.
Die SPD führte 1993 die Mitgliederbefragung ein, deren Ergebnis bindend ist. Zehn Prozent der Parteimitglieder können einen Mitgliederentscheid fordern. Ein entsprechender Versuch, eine Urabstimmung gegen die Agenda 2010 und damit gegen den damals amtierenden SPD-Parteivorsitzenden und Bundeskanzler Gerhard Schröder durchzuführen, scheiterte. Der spektakulärste Fall einer direktdemokratischen Beteiligung der Parteimitglieder war das Mitgliedervotum der SPD zum Koalitionsvertrag 2013 im Dezember, das darüber entschied, ob Deutschland von einer Großen Koalition regiert werden würde. Die Wahlbeteiligung betrug etwa 78 Prozent.
Bei der FDP führte der Bundesvorstand 1995 und 1997 zwei Urabstimmungen zum Großen Lauschangriff sowie zur allgemeinen Wehrpflicht durch. 2011 gab es in der Partei den ersten von der Basis erzwungenen Mitgliederentscheid. Die sogenannten Euro-Skeptiker wollten gegen die Parteiführung durchsetzen, dass die Partei die Einrichtung eines permanenten Euro-Rettungsschirms verhindert. Sie scheiterten jedoch am Quorum von 33,3 Prozent der Parteimitglieder. Im Gegensatz zu anderen Parteien, bei denen Personalfragen insgesamt häufiger per Urwahl entschieden werden, kennt die FDP nur Mitgliederentscheide über Sachfragen.Das CDU-Statut erlaubt ebenfalls eine Mitgliederbefragung in Personal- und Sachfragen, die jedoch nur von der Parteiführung initiiert werden kann. In der Satzung der CSU ist sie seit 2010 verankert.
Die Piratenpartei beschritt mit der Software LiquidFeedback neue Wege.
== Debatte um die Einführung von Volksabstimmungen auf Bundesebene ==
=== Demokratietheoretische Überlegungen, Interpretationen der „Weimarer Erfahrungen“ und empirische Demokratieforschung ===
Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, erhielt in der Beratung des Parlamentarischen Rates und lange darüber hinaus viel Beifall für die These, Volksentscheide seien eine „Prämie für jeden Demagogen“. Speziell dem deutschen Volk fehle die demokratische Reife. Diese Argumentation verselbständigte sich in der Bonner Republik zu einer Gesellschaftskritik, die ein Negativbild der direkten Demokratie prägte: Das Volk sei als Masse leicht verführbar, ihm gehe grundsätzlich die Kompetenz ab, komplexe Entscheidungen zu überblicken, es sei weniger dem Gemeinwohl als den eigenen Interessen verpflichtet und neige zu Stimmungsschwankungen. Direktdemokratische Verfahren seien kompromissfeindlich, das Mehrheitsprinzip könne bei Volksentscheiden minderheitenfeindliche Gesetze zur Folge haben. Gegner von Volksentscheiden auf Bundesebene gehen davon aus, dass sich das repräsentative System der Bundesrepublik bewährt habe und Änderungen vor allem eine Gefahr für die parlamentarische Demokratie sowie für den Föderalismus darstellen. Besonders einflussreich war der Jurist und Politologe Ernst Fraenkel, der in der Volksgesetzgebung eine grundsätzliche Gefährdung des Parteienstaates sah.Diese Haltung wird häufig mit den „Weimarer Erfahrungen“ begründet. Die These von der Erosion der Demokratie in der Weimarer Republik durch die Volksbegehren wurde nach 1945 zu einem Gemeinplatz mit erheblicher wirkungsgeschichtlicher Relevanz. Die Nachkriegsära sei geradezu von einer „Plebisphobie“ geprägt gewesen. Ernst Fraenkel formulierte 1964: „In ihrer Geburtsstunde hatte sich die Weimarer Republik zu einem plebiszitären Typ der Demokratie bekannt; in ihrer Todesstunde erhielt sie die Quittung.“Die neuere zeithistorische Forschung hat diese These überwiegend zurückgewiesen. Problematisch sei die konkrete Ausgestaltung der direktdemokratischen Verfahren gewesen. Insbesondere das hohe Beteiligungsquorum habe es für die Gegner eines Volksentscheids leicht gemacht, diesen durch Boykott des demokratischen Prozesses zu Fall zu bringen, anstatt um eine Mehrheit bei der Abstimmung zu ringen. Die ohnehin schon schwache Verankerung der Demokratie in der Gesellschaft sei somit noch bestärkt worden. Die bemerkenswert wenigen und zudem erfolglosen Volksbegehren und Volksentscheide seien in der Praxis Nebenschauplätze der politischen Auseinandersetzung geblieben. Die repräsentative Demokratie habe, vor allem bei den Reichstagswahlen, den Extremisten insgesamt größere Agitations- und Mobilisierungsmöglichkeiten geboten.Heute betont die empirische Demokratieforschung eher die strukturkonservierende und integrierende Funktion der Direktdemokratie, statt wie früher rundweg von einer destabilisierenden Wirkung auszugehen. Allerdings gelte dies so nur für funktionierende Demokratien. So wird die außergewöhnliche Stabilität des politischen Systems Bayerns häufig mit der lebendigen direkten Demokratie in Bayern in Zusammenhang gebracht, durch die die jahrzehntelange Dominanz der CSU bei Bedarf korrigiert werden könne. Der gleiche Befund wird mit Blick auf die direkte Demokratie in der Schweiz diagnostiziert, die zu einer stabilen Politik sowie zur Beibehaltung der föderalen Strukturen beigetragen habe und wo in der Summe nicht mehr „Fehlentscheidungen“ getroffen würden als in reinen Repräsentativsystemen.Eine positive Haltung zu direktdemokratischen Verfahren resultiert häufig aus der Diagnose einer in Deutschland weit verbreiteten und seit langem wachsenden Politik- und vor allem Parteienverdrossenheit, die sich von einer Außenseiterposition seit den frühen 1990er Jahren zum Allgemeingut entwickelt habe. Das Repräsentativsystem sei in einer Krise, die demokratische Kontrolle der politischen Klasse funktioniere nicht mehr, parlamentarischen Entscheidungen mangele es an Legitimität, die politische Elite handele selbstbezogen, so dass es zu Reformblockaden komme. Als einer der Hauptgründe wird angeführt, dass auf Bundesebene über die Bundestagswahl alle vier Jahre hinaus keine Teilhabe des Wahlvolkes an politischen Entscheidungen vorgesehen ist. Das Fehlen bundesweiter Volksentscheide und Referenden wird deshalb teilweise als Demokratiedefizit oder Partizipationsdefizit bewertet.
=== Die Frage der Systemverträglichkeit ===
Alle Befürworter direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene zielen auf eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch direktdemokratische Verfahren ab. Diskutiert wird dabei oft, aber nicht ausschließlich, die Übernahme der dreistufigen Volksgesetzgebung, wie sie in den Bundesländern existiert. Die deutliche Präferenz für die Volksgesetzgebung ist keine deutsche Besonderheit, denn in Europa gestehen die Schweiz, Liechtenstein, Litauen, Lettland, Kroatien, Bulgarien, die Slowakei und Ungarn dem Volk ein Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren zu. Auch diskutiert werden Verfahren nach dem Vorbild des Schweizer fakultativen Referendums sowie obligatorische Verfassungsreferenden. Wenngleich keine direktdemokratischen Verfahren im engeren Sinne, werden auch Referenden "von oben", mit denen der Bundestag ein Gesetz zum Volksentscheid vorschlagen kann sowie unverbindliche Volksbefragungen diskutiert.Aus verfassungsrechtlicher Sicht wird von manchen Autoren ein Problem im Bundesstaatsprinzip gesehen, das eine Beteiligung der Länder an der Gesetzgebung vorschreibt. Die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 schützt dieses in Art. 20 Abs. 1 niedergelegte Grundelement der staatlichen Ordnung vor Änderungen des Verfassungsgesetzgebers. Ein Zustimmungsrecht des Bundesrates wäre mit einem Volksentscheid nicht vereinbar, die meisten Staatsrechtler vertreten heute jedoch die Ansicht, dass das Grundgesetz lediglich eine grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung verlange, ohne Aussagen darüber zu treffen, wie diese auszugestalten sei. Eine Lösung könnte die Übernahme des Schweizer Modells sein, das zusätzlich zur absoluten Mehrheit der Abstimmenden (sogenanntes „Volksmehr“) die Annahme der Gesetzesinitiative in der Mehrheit der Kantone (sogenanntes „Ständemehr“) fordert. Die Mehrheit des Landesvolkes entspräche dann der Abgabe der Bundesratsstimmen des jeweiligen Landes. Andere Überlegungen sehen eine Mitwirkung des Bundesrates bei der Annahme oder Ablehnung von Volksbegehren oder bei der Erstellung einer Konkurrenzvorlage des Bundestages vor. Teilweise wird bezweifelt, dass solche Vorschläge das inhaltliche Mitgestaltungsrecht der Länder hinreichend berücksichtigen. Andererseits gibt es Stimmen, die darauf hinweisen, dass eine grundsätzliche Mitwirkung der Länder Ausnahmen zulässt. Sofern Volksentscheide eine seltene Ausnahme bleiben, wäre es nach dieser Lesart zulässig, allein auf das Abstimmungsergebnis im Bund abzustellen. Bei fakultativen Verfassungsreferenden, Referenden, die vom Parlament eingeleitet werden und fakultativen Referenden entfiele diese Problematik völlig, da der Bundesrat schon im Vorfeld in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden wäre.In der Bundesrepublik geht zudem das konstitutionelle Prinzip mit letztverbindlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts besonders weit. Um systemverträglich zu sein, müssten auch durch Volksentscheid entstandene Gesetze dem Primat des Grundgesetzes unterliegen. Diskutiert wird deshalb eine Vorabprüfung der Gesetzesentwürfe durch das Bundesverfassungsgericht.Problematisch kann die konkurrierende Gesetzgebung von Volksentscheid und Parlamentsbeschluss sein. Für Aufsehen sorgte 1999 der schleswig-holsteinische Landtag, als er einen ablehnenden Volksentscheid zur Reform der deutschen Rechtschreibung nach knapp einem Jahr rückgängig machte. Auf kommunaler Ebene wird dieses Problem dadurch gelöst, dass bestimmte Fristen festgelegt sind, in denen Bürgerentscheide durch den Gemeinderat nicht geändert werden können.
=== Die Debatte auf parteipolitischer Ebene ===
Die Politik der Bundesrepublik wurde drei Jahrzehnte lang von einem Dreiparteiensystem aus CDU/CSU, SPD und FDP dominiert, für die eine Einführung bundesweiter Volksentscheide, ja selbst die Diskussion darüber geradezu als Tabu galt. An dieser Haltung änderte auch die unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen!“ angetretene sozialliberale Koalition unter Willy Brandt nichts. Auch Vertreter der Neuen Linken in der außerparlamentarischen Opposition setzten nicht auf Volksabstimmungen, da diese auch konservativen Kräften dienen könnten.Erst in den 1980er Jahren setzte eine breitere Diskussion über die Vereinbarkeit des Grundgesetzes mit direktdemokratischen Verfahren ein. Seit der deutschen Wiedervereinigung hat die Debatte an Dynamik gewonnen und zu einem deutlichen Meinungswandel geführt. Heute befürworten alle etablierten Parteien außer der CDU die Aufnahme direktdemokratischer Verfahren in das politische System Deutschlands auf Bundesebene. Auffallend ist der Widerspruch zwischen dem vor allem durch die vergleichende Politikwissenschaft und die Abstimmungsforschung gewonnenen empirischen Befund, dass Volksentscheide überwiegend konservativ, bremsend und teilweise minderheitenfeindlich wirken, und der Tatsache, dass vor allem linke und linksliberale Politiker die direkte Demokratie befürworten.Vorreiter waren die 1980 gegründeten Grünen, die direktdemokratische Verfahren nach ihrem Einzug in den Bundestag 1983 erstmals wieder im Parlament thematisierten. Eine Gruppierung der Grünen gründete 1983 eine „Aktion Volksentscheid“, deren Forderungen 1985 in das Wahlprogramm der Grünen für die Bundestagswahl 1987 übernommen wurden. Mit Gerald Häfner zog einer der Mitbegründer 1987 in den Bundestag ein. Häfner gründete später auch den Verein Mehr Demokratie mit, wurde dessen Vorstandssprecher und eine treibende Kraft in seiner Fraktion beim Thema direkte Demokratie.
Nachdem die Grünen das Thema in den Bundestag eingebracht hatten, erklärte sich die SPD trotz verfassungsrechtlicher Bedenken zu einer Grundsatzdiskussion über die Einführung direktdemokratischer Elemente in das Grundgesetz bereit. Seit 1986 plädierte auch die SPD, zunächst noch vorsichtig, für Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene und nahm die Forderung schließlich 1989 in ihr Berliner Programm auf. Auf dem Weg dorthin kam es innerhalb der Partei zu teilweise heftigen Kontroversen.Die Linke brachte 2010 und 2014 eigene Gesetzentwürfe über eine Volksgesetzgebung in den Bundestag ein sowie 2012 einen über Referenden bei Änderungen der europäischen Verträge. Die PDS hatte 1999 sowie 2006 Gesetzesvorschläge zur Volksgesetzgebung auf Bundesebene eingebracht.
Auch die FDP sprach sich seit den 1980er Jahren grundsätzlich für eine Stärkung der Beteiligungsrechte der Bürger aus. In der schwarz-gelben Koalition stimmte sie aber mit dem Koalitionspartner gegen alle entsprechenden Gesetzesanträge der Oppositionsparteien. In der Opposition brachte die FDP dagegen 2003 und 2006 eigene Anträge zu einem Referendum über die EU-Verfassung und zur Volksgesetzgebung ein.
Alle Gesetzesinitiativen scheiterten bisher an der kategorischen Ablehnung der CDU, ohne die eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit bisher nie möglich war. Innerhalb der CDU gibt es nur wenige Stimmen, die direktdemokratischen Verfahren auf Bundesebene positiv gegenüberstehen. Der saarländische Landesverband beschloss jedoch im Mai 2003 unter Führung des späteren Bundesverfassungsrichters Peter Müller, die Forderung nach einer dreistufigen Volksgesetzgebung auf Bundesebene in ihr Programm aufzunehmen. Die CSU hat sich in Bayern mit der Volksgesetzgebung arrangiert und tritt für Volksentscheide auf Bundesebene über europapolitische Grundsatzfragen ein. Während der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD nach der Bundestagswahl 2013 formulierten Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Thomas Oppermann, einen weitreichenden Vorschlag für bundesweite Volksentscheide. Der Vorschlag scheiterte an dem Veto der CDU.
Unter den kleineren Parteien hat besonders die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) Volksentscheide vorangetrieben. Dabei spielt eine Rolle, dass die ÖDP ihre Hochburgen in Bayern hat, wo die direkte Demokratie im politischen System fester verankert ist als in anderen Bundesländern. Die ÖDP nutzt direktdemokratische Verfahren als Instrumente der außerparlamentarischen Opposition. So initiierte sie beispielsweise in den Jahren 1996 und 1997 das Volksbegehren „Schlanker Staat ohne Senat“, das 1998 die Auflösung des bayerischen Senats zum Jahreswechsel 1999/2000 bewirkte, und 2010 das erfolgreiche Volksbegehren „Für echten Nichtraucherschutz!“. Einige Klein- und Splitterparteien haben die Einführung direktdemokratischer Elemente zu einem ihrer zentralen Themen gemacht. Dazu zählen die Sarazzistische Partei – für Volksentscheide, die Unabhängigen … für bürgernahe Demokratie, die Aktive Demokratie direkt, die Partei der Vernunft, die rechtspopulistische Partei Die Freiheit, die nationalkonservative Partei Ab jetzt … Demokratie durch Volksabstimmung oder die Wählervereinigung Für Volksentscheide.
=== Entwicklungen in der Politik- und der Rechtswissenschaft ===
Herrschende Meinung in der Rechtswissenschaft war bis in die 1980er Jahre, dass das Grundgesetz direktdemokratische Elemente auf Bundesebene über den Anwendungsbereich von Art. 29, Art. 118 und Art. 146 hinaus verbiete und diese prinzipiell nicht mit dem Grundgesetz und dem Repräsentativsystem der Bundesrepublik vereinbar seien. Ein normativer Gehalt der Bestimmung des Grundgesetzes, dass das Volk die Staatsgewalt „in Wahlen und Abstimmungen“ ausübe, wurde verneint. So kommentierte der führende Staatsrechtler Theodor Maunz mit Blick auf die Verfassungswirklichkeit, die in Art. 20 GG „gewählten Worte [… entsprächen] mehr einer traditionellen Formulierung als der gegenwärtigen Verfassungslage“.In der Politikwissenschaft und der politischen Philosophie setzte in den 1960er Jahren eine zunehmende Parteienkritik ein. Die direkte Demokratie geriet dabei allerdings nur langsam in den Blickpunkt. So stellte Karl Jaspers die Einführung direktdemokratischer Elemente in das Grundgesetz zwar zur Diskussion, blieb in dieser Frage aber reserviert.Mit den Referaten von Thomas Oppermann und Hans Meyer auf der Deutschen Staatsrechtslehrerkonferenz von 1974 erhielt die Diskussion einen neuen Schub. Um die Defizite der Parteiendemokratie auszugleichen, schlugen sie ein Reformpaket vor, zu dem auch der Einbau der Volksgesetzgebung in das Grundgesetz gehörte. Doch auch weiterhin hatten nur wenige Staatsrechtler wie Christian Pestalozza ein positives Verhältnis zur direkten Demokratie.Mit der Verfassungsdiskussion im Zuge der Wiedervereinigung und parallel zum tatsächlichen Bedeutungszuwachs der direkten Demokratie ist seit den frühen 1990er Jahren eine deutlich gesteigerte wissenschaftliche Publikationstätigkeit zu verzeichnen. Gleichzeitig vollzog sich unter den Staatsrechtlern und Politologen ein Sinneswandel. Bereits 1992 sprachen sich in der öffentlichen Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission bis auf einen alle Sachverständigen zumindest für eine vorsichtige plebiszitäre Öffnung des Grundgesetzes aus.
=== Die europäische Integration und die Debatte um bundesweite Volksentscheide ===
Die europäische Ebene trug in Deutschland deshalb zu einer verstärkten Aufmerksamkeit der Bevölkerung für bundesweite Volksentscheide bei, weil weitreichende Integrationsentscheidungen wie die Verträge von Maastricht, Nizza und Lissabon oder der Vertrag über eine Verfassung für Europa in mehreren Staaten Referenden auslösten. In Deutschland setzen sich besonders die CSU, die FDP, die Linke und die AfD für Referenden im Falle einer Abtretung wesentlicher Hoheitsrechte der Bundesrepublik Deutschland an die EU ein. Grundsätzlich wird diese Position von allen etablierten deutschen Parteien, außer der CDU, vertreten. Bis auf die CDU, die NPD und einige Kleinparteien forderten zudem die meisten zur Europawahl 2014 in Deutschland antretenden Parteien die Einführung EU-weiter gemeinsamer Bürgerentscheide.Für die Osterweiterung der EU brachte im September 2000 der zuständige EU-Kommissar, Günter Verheugen, Referenden ins Gespräch. Deutschland dürfe nicht den Fehler wiederholen, den man beim Euro gemacht habe, den man „ja geradezu hinter dem Rücken der Bevölkerung eingeführt“ habe.Obwohl die Europäische Bürgerinitiative lediglich zwischen einer Massenpetition und einer Volksinitiative steht, wurde sie von Verfechtern der direkten Demokratie als wichtiger Schritt in Richtung zu mehr Bürgerbeteiligung und zu einer Reduzierung des Demokratiedefizits der Europäischen Union begrüßt.
=== Organisationen und Kampagnen für direkte Demokratie ===
Für die 1961 gegründete Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union ist die Einführung von mehr direkter Demokratie eines ihrer wichtigsten Ziele. 1971 gründete Joseph Beuys die Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung. 1986 initiierten die Grünen-Politiker Lukas Beckmann und Gerald Häfner die Aktion „Volksabstimmung gegen Atomanlagen“, die mehr als 580.000 Menschen unterschrieben. Seit 1987 fährt der Omnibus für direkte Demokratie durch die Bundesrepublik, um die Debatte um bundesweite Volksabstimmungen nach dem Vorbild der Schweiz zu befördern.
1988 wurde der Interessenverein Mehr Demokratie e. V. gegründet. Von ihm gehen heute fast alle direktdemokratischen Initiativen und Kampagnen sowie die meisten Volksbegehren auf Länderebene aus, die plebiszitäre Instrumente stärken sollen. Der Verein sammelte 1,1 Millionen Unterschriften für bundesweite Volksabstimmungen und übergab sie 1993 an die Gemeinsame Verfassungskommission. Während des Wahlkampfes zur Bundestagswahl 2013 sammelte der Verein mehr als 100.000 Unterschriften für die Einführung des bundesweiten Volksentscheids.Im Juni und Oktober 1990 veranstaltete die Stiftung Mitarbeit in der Evangelischen Akademie Hofgeismar ein Fachgespräch zur direkten Demokratie. Dabei entstand der „Hofgeismarer Entwurf“, in dem die Ergebnisse der Debatte der 1980er Jahre gebündelt wurden und der maßgebliche Bedeutung für die Diskussion in den Ländern hatte und zur Grundlage für spätere Anträge im Bundestag wurde.Nachdem der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches in der DDR keine Rolle im Vereinigungsprozess gespielt hatte, gründeten ost- und westdeutsche Befürworter einer Verfassungsneuschöpfung im Juni 1990 das „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“. Ihr im Juli 1991 in der Frankfurter Paulskirche vorgestellter Verfassungsentwurf enthielt ein dreistufiges Volksgesetzgebungsverfahren. Eine breite Öffentlichkeit konnte nicht für eine Debatte über eine Neukonstituierung der Bundesrepublik durch eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung mobilisiert werden. Der Entwurf spielte aber eine Rolle in den Verfassungsausschüssen der Länder und in den Verhandlungen über eine Grundgesetzreform.Die international ausgerichtete Nichtregierungsorganisation Democracy International mit Sitz in Köln hat es sich zum Ziel gesetzt, direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung weltweit zu stärken.
=== Umfrageergebnisse ===
Bereits in den 1970er Jahren sprach sich in Umfragen etwa die Hälfte der Befragten für die Möglichkeit bundesweiter Volksentscheide aus, seitdem hat die Zustimmung deutlich zugenommen. Diese Entwicklung ist mit einer sinkenden Zustimmung zu anderen Institutionen der politischen Willensbildung verbunden, insbesondere mit einer wachsenden Skepsis gegenüber den Parteien und dem „Parteienstaat“. In Ostdeutschland ging mit zunehmender allgemeiner Unzufriedenheit mit der parlamentarischen Demokratie allerdings auch der Wunsch nach direktdemokratischen Instrumenten bis 2000 zurück, danach stieg er jedoch wieder stark an.
== Siehe auch ==
Liste der Plebiszite in Deutschland
== Literatur ==
Frank Decker: Regieren im Parteienbundesstaat. VS Verlag, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-17681-9, S. 165–216.
Hermann K. Heußner, Otmar Jung (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen. Volksentscheid und Bürgerentscheid: Geschichte – Praxis – Vorschläge. 2. Auflage. Olzog, München 2009, ISBN 3-7892-8252-9.
Otmar Jung: Grundgesetz und Volksentscheid. Gründe und Reichweite der Entscheidungen des Parlamentarischen Rats gegen Formen direkter Demokratie. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, ISBN 3-531-12638-5.
Andreas Kost: Direkte Demokratie. Springer, Wiesbaden 2008, ISBN 3-531-15190-8.
Andreas Kost (Hrsg.): Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung. VS Verlag, Wiesbaden 2005, ISBN 3-531-14251-8.
Frank Rehmet: Volksbegehrensbericht 2019. (PDF; 682 kB) Herausgegeben von Mehr Demokratie e. V., Berlin 2019.
Frank Rehmet u. a.: Bürgerbegehrensbericht 2018. (PDF; 678 kB) Hrsg. von Mehr Demokratie e. V. in Kooperation mit der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung, Universität Wuppertal und der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie, Universität Marburg. Berlin 2018.
Frank Rehmet, Tim Weber: Volksentscheidsranking 2016. (PDF; 2,6 MB); 11 kB Herausgegeben von Mehr Demokratie e. V., Berlin 2016.
Johannes Rux: Direkte Demokratie in Deutschland. Rechtsgrundlagen und Rechtswirklichkeit der unmittelbaren Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland und ihren Ländern. Nomos, Baden-Baden 2008, ISBN 3-8329-3350-6.
Theo Schiller, Volker Mittendorf (Hrsg.): Direkte Demokratie. Forschung und Perspektiven. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002, ISBN 3-531-13852-9.
Christopher Schwieger: Volksgesetzgebung in Deutschland. Der wissenschaftliche Umgang mit plebiszitärer Gesetzgebung auf Reichs- und Bundesebene in Weimarer Republik, Drittem Reich und Bundesrepublik Deutschland (1919–2002). Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 3-428-11518-X (zugleich Dissertation Universität Tübingen).
Hanns-Jürgen Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte. Berliner Wissenschaftlicher Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-8305-1210-4.
== Weblinks ==
Mehr Demokratie e. V.
Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie an der Philipps-Universität Marburg
Forschungsstelle Bürgerbeteiligung an der Bergischen Universität Wuppertal
Deutsches Institut für Sachunmittelbare Demokratie an der Technischen Universität Dresden
Datenbank Bürgerbegehren und Bürgerentscheide
Omnibus für Direkte Demokratie
Wolf Schünemann: Berechtigte Skepsis oder übertriebene Vorsicht? Die direktdemokratische Zurückhaltung des Grundgesetzes auf YouTube, abgerufen am 23. Juni 2019.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Direkte_Demokratie_in_Deutschland
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Ringzug
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= Ringzug =
Der Ringzug, ursprünglich auch 3er-Ringzug genannt, ist ein Schienenpersonennahverkehrssystem im Verkehrsverbund Schwarzwald-Baar-Heuberg im südlichen Baden-Württemberg. Der Ringzug nahm seinen regulären Betrieb am 31. August 2003 auf und wird seit dem 12. Dezember 2004 in seiner heutigen Form betrieben. Konzept des Ringzugs ist es, ein vertaktetes und auf eine Vielzahl anderer Busse und Bahnen abgestimmtes S-Bahn-ähnliches Angebot in einem ländlich strukturierten Raum zu schaffen. Im März 2006 zeichnete der Fahrgastverband Pro Bahn den Ringzug als vorbildliches Nahverkehrssystem mit dem „Fahrgastpreis 2006“ aus. Der Ringzug fand über die Region hinaus weite Beachtung und kann auf stetig steigende Fahrgastzahlen und sinkenden Zuschussbedarf verweisen.
== Bezeichnung ==
Die Bezeichnung „Ringzug“ wurde gewählt, weil seine Streckenführung ursprünglich einen Ring bilden sollte, unterbrochen wird er aber nach wie vor durch die Lücke zwischen Immendingen und Donaueschingen. Vervollständigt wird das Netz durch Strecken, die nicht Teil des Rings sind. Dazu gehören die Trossinger Eisenbahn sowie Teile der Bregtalbahn, der Wutachtalbahn und der Bahnstrecke Tuttlingen–Inzigkofen. Die alternative Bezeichnung „3er-Ringzug“ sollte darauf hinweisen, dass sich drei Landkreise (Tuttlingen, Rottweil und Schwarzwald-Baar) am Projekt beteiligen.
== Geschichte ==
=== Ausgangslage ===
Die Deutsche Bundesbahn gab in den 1970er- und 1980er-Jahren einen Großteil der Bahnhöfe und Haltepunkte im Ringzug-Gebiet infolge des sogenannten Eilzugmäßigen Fahrens auf, die Nahverkehrszüge wurden weitgehend eingespart. Auf dem 28 Kilometer langen Abschnitt Rottweil–Tuttlingen der Bahnstrecke Plochingen–Immendingen war der Bahnhof Spaichingen der einzig verbliebene Zwischenhalt. Selbst in der 7500-Einwohner-Gemeinde Aldingen hielt kein Zug mehr.
Auf der Bahnstrecke Marbach–Bad Dürrheim wurde der Personenverkehr bereits 1953 aufgegeben, die Heubergbahn folgte 1966 und das nördliche Teilstück der Wutachtalbahn von Lauchringen nach Zollhaus-Blumberg war ab 1967 ohne planmäßigen Personenverkehr. Seit 1972 galt dies auch für die Bregtalbahn. Die Trossinger Eisenbahn sollte nach einem 1996 gefassten Beschluss des Trossinger Gemeinderats sogar ganz stillgelegt werden.
Lediglich im Bereich des Naturparks Obere Donau zwischen Tuttlingen und Fridingen wurde mit dem im September 1990 gestarteten „Donautal-Modell“ des Landkreises Tuttlingen eine Rückverlagerung eines Teils des Schülerverkehrs auf die Schiene erreicht. Ansonsten war der Nahverkehr der Region weitgehend auf die Schülerbeförderung per Omnibus ausgerichtet.
Infolge dieses Rückzugs aus der Fläche blieben der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg nur noch überregionale Verbindungen erhalten, davon zwei im Schienenpersonenfernverkehr. Auf der Schwarzwaldbahn verkehrten, neben den Eilzügen, Interregio-Züge im Zwei-Stunden-Takt zwischen Hamburg und Konstanz. Auf der Bahnstrecke Plochingen–Immendingen fuhren außer den Eilzügen D-Züge beziehungsweise EuroCitys von Stuttgart über Zürich nach Italien. Außerdem gab es langlaufende Eilzüge auf den Relationen Ulm–Tuttlingen–Donaueschingen–Neustadt (Schwarzwald) und Rottweil–Villingen–Donaueschingen–Neustadt (Schwarzwald).
=== Politische Entscheidungen auf dem Weg zum Ringzug 1995–2001 ===
Im Januar 1995 präsentierte der Regionalverband Schwarzwald-Baar-Heuberg die vom Tübinger Nahverkehrsberater Gerd Hickmann erarbeitete Studie „Integraler Taktfahrplan Bus und Bahn für die Region Schwarzwald-Baar-Heuberg“. Diese schlug vor, einen integralen Taktfahrplan in der Region einzuführen und Schienen- und Busverkehr miteinander zu verknüpfen. Rückgrat dieses neuen Verkehrskonzepts sollte ein „Ringzug“ sein. Im Anschluss an Hickmanns Studie betreute sein Kollege Ulrich Grosse das Konzept weiter und beriet die politisch Verantwortlichen bis zu dessen Umsetzung. Im Januar 1996 beschlossen bereits die Landräte der Landkreise Tuttlingen und Rottweil sowie des Schwarzwald-Baar-Kreises in der so genannten „Trossinger Vereinbarung“, die erarbeitete Konzeption umzusetzen. Der in der Region wohnende damalige Ministerpräsident Erwin Teufel sicherte als Vertreter des Landes Baden-Württemberg zu, das neu einzuführende Nahverkehrssystem fördern zu wollen.
Nach der Trossinger Vereinbarung befassten sich die drei Kreistage mit dem Konzept und stimmten diesem 1999 zu. Daraufhin begann das Land Baden-Württemberg mittels einer Preisanfrage, nach einem Betreiber für das Ringzug-System zu suchen. Unter mehreren eingegangenen Angeboten von insgesamt vier Eisenbahnverkehrsunternehmen, darunter auch ein Angebot der Deutschen Bahn AG, setzte sich Ende 1999 schließlich die Hohenzollerische Landesbahn mit ihrem Angebot durch. Von 1999 bis 2001 stockte die weitere Planung, da zwischen den Landkreisen ein Streit über die Verteilung der Betriebskosten ausgebrochen war. Dieser Konflikt wurde 2001 beigelegt, im selben Jahr konnte auch der Finanzierungsvertrag mit dem Land Baden-Württemberg abgeschlossen werden. Im Dezember 2001 wurde der Zweckverband Ringzug ins Leben gerufen, dessen erster Vorsitzender der damalige Tuttlinger Landrat Hans Volle wurde.
=== Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur 2001–2003 ===
Die teilweise seit Jahrzehnten stillgelegten Strecken sowie die fehlenden Haltepunkte erforderten massive Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Auch die Sicherungstechnik, die teilweise aus der Frühzeit des 20. Jahrhunderts stammte, musste grundlegend erneuert werden und wurde schließlich durch ein computergesteuertes System ersetzt. Auch wurden elektronische Stellwerke eingeführt, die nun aus Karlsruhe ferngesteuert werden. Insgesamt kosteten alleine die neue Sicherungstechnik, die Haltepunkte und die Ertüchtigung des Streckennetzes circa 67 Millionen Euro. Dazu kamen 33 Millionen Euro für die Anfang 2003 insgesamt 20 ausgelieferten Regio-Shuttles, die das neue Streckennetz befahren. Für diese wurde ein neues Betriebswerk in Immendingen gebaut.
=== Eingeschränkter Ringzug-Betrieb 2003/2004 ===
Ursprünglich war der 15. Dezember 2002 als Ringzug-Start vorgesehen. Erhebliche Verzögerungen bei den Sanierungsarbeiten verschoben aber den Betriebsbeginn bis zum 31. August 2003. Da allerdings auch zu diesem Zeitpunkt die Infrastruktur noch nicht vollständig zur Verfügung stand, startete nur ein eingeschränkter Betrieb. Viele der vorgesehenen neuen Haltepunkte waren noch nicht fertiggestellt, sodass diese monatelang nicht angefahren werden konnten. Außerdem konnte wegen der Umstellung auf elektronische Stellwerke am Wutachtalbahn-Abzweig in Hintschingen diese Strecke zunächst noch nicht mit aufgenommen werden. Der Ringzug startete also mit unvollständigem Streckennetz und zu wenigen Haltepunkten, was dazu führte, dass im ersten Betriebsjahr noch Busse parallel zu den Bahnstrecken fuhren.
== Streckennetz ==
=== Integrierte Strecken ===
Das Ringzug-Streckennetz besteht aus folgenden sieben Eisenbahnstrecken:
der Bregtalbahn von Bräunlingen (früher von Furtwangen) nach Donaueschingen in ihrer gesamten noch vorhandenen Länge,
der Schwarzwaldbahn von Offenburg nach Konstanz in den Abschnitten Villingen–Donaueschingen und Hintschingen–Immendingen,
der Bahnstrecke Rottweil–Villingen in ihrer ganzen Länge,
der Bahnstrecke Plochingen–Immendingen im Abschnitt Rottweil–Immendingen,
der Bahnstrecke Tuttlingen–Inzigkofen im Abschnitt Tuttlingen–Fridingen an der Donau,
der Wutachtalbahn im Abschnitt Hintschingen–Blumberg-Zollhaus,
der Trossinger Eisenbahn von Trossingen Bahnhof nach Trossingen Stadt in ihrer ganzen Länge.Keine der genannten Bahnstrecken gehört zum Stammnetz der Hohenzollerischen Landesbahn. Beim Großteil der Strecken ist die DB Netz AG das zuständige Eisenbahninfrastrukturunternehmen, die Trossinger Eisenbahn gehört den Stadtwerken Trossingen, die Wutachtalbahn den Bahnbetrieben Blumberg und der Abschnitt Hüfingen–Bräunlingen der Südwestdeutschen Verkehrs-AG (SWEG). Letztere beide wurden, nachdem auf ihnen zuvor jahrzehntelang kein regelmäßiger Personenverkehr stattfand, für den Ringzug reaktiviert. Auf den drei Strecken, die nicht zur DB Netz AG gehören, verkehrt heute ausschließlich der Ringzug als ganzjähriges Regelangebot im Personenverkehr. Auf den übrigen Streckenabschnitten verkehren zusätzlich auch Züge der Deutschen Bahn.
==== Lücke zwischen Donaueschingen und Immendingen ====
Zwischen Immendingen und Donaueschingen besteht eine Lücke im System. Ursächlich hierfür ist die Fahrplangestaltung Mitte der 1990er-Jahre, als das Konzept entwickelt wurde. Zu dieser Zeit belegten die Interregio-Züge auf der Schwarzwaldbahn zwischen Donaueschingen und Immendingen genau zu den Zeiten die Fahrplantrassen, zu denen der Ringzug sie benötigt hätte. Darum wurde zunächst davon abgesehen, die betreffende Strecke in das Konzept aufzunehmen. Stattdessen entschied man sich, die Wutachtalbahn im verhältnismäßig dünn besiedelten Abschnitt Immendingen–Blumberg-Zollhaus in den Ringzug einzubeziehen. Dies führte zur ursprünglich nicht geplanten Reaktivierung dieses Abschnitts und zur oben erwähnten Lücke.
Nach dem Ende des Interregio-Verkehrs auf der Schwarzwaldbahn und der Verschiebung der Fahrzeiten auf dieser Strecke wäre es heute möglich, die Lücke zwischen Immendingen und Donaueschingen mit dem Ringzug zu befahren. Damit könnten Geisingen Bahnhof, Geisingen-Gutmadingen, Donaueschingen-Neudingen sowie Donaueschingen-Pfohren angeschlossen werden. Dies ist immer wieder Gegenstand politischer Diskussionen, aktuell aber nicht geplant.
=== Stationen ===
Bis 2004 hat die DB Station&Service für den Ringzug-Betrieb 18 neue Haltepunkte eingerichtet und 16 aufgelassene Stationen reaktiviert. Auch wurden einige vorhandene Stationen näher an die jeweiligen Siedlungen gerückt. Der durchschnittliche Abstand zwischen den Zugangsstellen beträgt 1,9 Kilometer. Es wurden in der Regel alle an der Strecke liegenden Gemeinden und Gemeindeteile angeschlossen, so dass auch kleinere Orte wieder über eine oder sogar mehrere Stationen verfügen. Ein Großteil der Ringzug-Stationen sind Bedarfshalte, die meisten sind barrierefrei.
== Betrieb und Organisation ==
=== Verknüpfung mit anderen Verkehrsmitteln ===
Mit der Betriebsaufnahme wurde der Nahverkehr in der Region grundlegend neu organisiert. Parallele Busverkehre entlang der Bahnstrecken wurden weitgehend eingestellt. Die Buslinien dienen seither als Zubringer zur Schiene und wurden konsequent mit dem Ringzug vertaktet. Wichtige Verknüpfungspunkte zwischen Schiene und Bus sind Bräunlingen Bahnhof, Donaueschingen Bahnhof, Brigachtal-Klengen, Brigachtal-Kirchdorf, Villingen (Schwarzwald), Schwenningen, Rottweil, Aldingen, Tuttlingen, Immendingen, Geisingen-Hausen und Geisingen-Leipferdingen.
In Rottweil sind die aus beiden Richtungen kommenden Ringzüge teilweise mit dem Fernverkehr zwischen Stuttgart und Zürich vertaktet, sodass alle Stationen zwischen Leipferdingen und Rottweil Anschluss an die stündlich verkehrenden Intercitys nach Süden haben. In Immendingen und Villingen besteht regelmäßiger Anschluss zur Schwarzwaldbahn in Richtung Karlsruhe beziehungsweise Konstanz. Im Sommer dient der Ringzug außerdem als Zubringer für die Museumsbahn von Blumberg-Zollhaus nach Weizen.
=== Verkehr und Taktfolge ===
Der Ringzug bedient sowohl werktags als auch am Wochenende die Linie von Bräunlingen nach Rottweil im Stunden- sowie weiter nach Geisingen-Leipferdingen beziehungsweise Blumberg im Zwei-Stunden-Grundtakt. Werktags kommen zu dieser Grundleistung nochmals zahlreiche zusätzliche Verstärker-Leistungen hinzu, die aber meist nicht über die komplette Strecke fahren. Viele Züge haben ihren Anfangs- beziehungsweise Endpunkt in Rottweil oder in Trossingen Stadt und fahren von und nach Leipferdingen. Werktags ergibt sich dadurch zwischen Bräunlingen und Leipferdingen mindestens ein Stundentakt. Dieser Stundentakt wird auf manchen Relationen zu den Hauptverkehrszeiten nochmals verstärkt, so dass sich beispielsweise zwischen Tuttlingen und Spaichingen werktags zwischen 15:00 Uhr und 18:00 Uhr ein annähernder Halbstunden-Takt ergibt.
Einige Züge fallen sowohl aus diesem Taktschema als auch aus der Linienführung heraus. So verkehren die Züge auf der Trossinger Eisenbahn so, dass in Trossingen Bahnhof grundsätzlich alle dort haltenden Züge erreicht werden können. Auf dem Abschnitt Tuttlingen–Fridingen an der Donau hingegen ist der Ringzug-Verkehr nicht vertaktet. Dort verkehren nur einzelne Züge an Werktagen. Am Wochenende gibt es dort keinen Ringzug-Verkehr. Hier wird der Großteil des öffentlichen Verkehrs auch weiterhin über Busse abgedeckt. Auf der Wutachtalbahn enden und beginnen werktags die meisten Ringzüge in Geisingen-Leipferdingen anstatt in Blumberg-Zollhaus, so dass der Wutachtalbahn-Abschnitt Geisingen-Leipferdingen–Blumberg-Zollhaus werktags größtenteils ebenfalls von Bussen befahren wird. Einige wenige Ringzüge verkehren über das eigentliche Streckennetz hinaus bis nach Sigmaringen und nach Singen (Hohentwiel). Einige wenige Zugpaare fahren an Schultagen ebenfalls von Immendingen über Geisingen Bahnhof nach Donaueschingen.
Es werden jährlich 1.258.000 Zugkilometer gefahren.
=== Fahrzeuge ===
Die Fahrzeuge des Ringzugs sind Dieseltriebwagen des Typs Stadler Regio-Shuttle RS1, von welchen insgesamt 20 angeschafft wurden. Von anderen Fahrzeugen gleichen Typs unterscheiden sie sich dadurch, dass an einigen Sitzplätzen Steckdosen für die Laptop-Nutzung zur Verfügung stehen. Alle sind klimatisiert und besitzen eine Toilette.
Teilweise werden in der morgendlichen Hauptverkehrszeit Ringzüge in Kooperation mit der DB Regio AG gefahren und mit einem Elektrotriebwagen der Baureihe 3442 durchgeführt. Ursächlich hierfür war die Tatsache, dass die Ringzug-Regio-Shuttles teilweise auch in Mehrfachtraktion der enorm hohen Nachfrage zu dieser Zeit nicht gewachsen waren. Auch die Baureihen 611 oder 425 verkehrte bereits planmäßig als Ringzug.
Die unerwartet hohen Fahrgastzahlen führten schon früh zu Kapazitätsengpässen, die ab Dezember 2004 unter anderem zur Folge hatten, dass auf der Trossinger Eisenbahn die Altbautriebwagen T3 und T5 der Baujahre 1938 und 1956 wieder zum planmäßigen Einsatz kamen. Die eigentlich für den Verkehr auf der Trossinger Eisenbahn vorgesehenen modernen Regio-Shuttles mussten als Mehrfachtraktionen unerwartet stark ausgelastete Züge auf anderen Strecken verstärken.
=== Fahrgastzahlen und Pünktlichkeit ===
Der Ringzug befördert täglich durchschnittlich 10.000 Fahrgäste. An Schultagen werden Werte zwischen 12.000 und 12.500 Fahrgästen täglich erreicht. Die Fahrgastzahlen sind so seit dem Start im Jahr 2003 deutlich angestiegen.
Besonders stark frequentierte Bahnhöfe sind Villingen, Tuttlingen, Schwenningen und besonders markant Aldingen als reaktivierter Halt mit mehr als 1000 Fahrgästen täglich. Insgesamt fahren 53,7 Prozent der Fahrgäste auf dem Gebiet des Landkreises Tuttlingen, 36,6 Prozent innerhalb des Schwarzwald-Baar-Kreises und nur 9,7 Prozent auf dem Gebiet des Landkreises Rottweil. 20 Prozent der Fahrgäste überschreiten bei ihrer Fahrt eine Kreisgrenze.
Dabei fahren 54,8 Prozent der Fahrgäste die zentralen Orte Villingen-Schwenningen, Tuttlingen, Rottweil und Donaueschingen an. Durchschnittlich legt ein Fahrgast 10,5 Kilometer mit dem Ringzug zurück, wobei 53,4 Prozent der Fahrgäste Haltepunkte benutzen, die mit dem Ringzug reaktiviert oder neu eingerichtet wurden. Der durchschnittlich höchste Besetzungsgrad wird zwischen Villingen und Brigachtal erreicht. Die Pünktlichkeit des Ringzugs liegt bei einem Wert von über 97 Prozent.
=== Organisation und Finanzen ===
Der Betrieb ist auf zwei Organisationen verteilt. Für den technischen Betrieb sowie das Betriebswerk in Immendingen ist die Hohenzollerische Landesbahn zuständig. Diese beschäftigt für den Betrieb zurzeit 50 Mitarbeiter und erhält für ihre Aufgaben fixe Betriebskostenzuschüsse. Der Leiter des SWEG-Standorts Ringzug ist derzeit Mirco Köhler. Aufgebaut wurde der damalige HzL-Verkehrsbetrieb Ringzug durch Frank von Meißner.
Der Verkehrsverbund Schwarzwald-Baar-Heuberg, ursprünglich Zweckverband Ringzug, fungiert hingegen als Dachorganisation der drei beteiligten Kreise. Diesem Verbund, der inzwischen ebenfalls zum Eisenbahnverkehrsunternehmen geworden ist, obliegen die kaufmännische Geschäftsführung, der Vertrieb, das Marketing sowie die Koordination der Tarife. Der Verbund trägt ebenfalls das Erlösrisiko des Betriebs und verteilt das Betriebsdefizit beziehungsweise den Gewinn an die drei beteiligten Landkreise. Alle Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf sowie die Zuschüsse aus der Schülerbeförderung gehen an den Zweckverband und somit an die Landkreise. Der Geschäftsführer des Verbunds ist seit dem 1. Januar 2019 Michael Podolski. Der Verbandsvorsitzende ist der Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises Sven Hinterseh.
Vor dem Ringzug-Start wurde ein jährliches Betriebsdefizit von 2,9 Millionen Euro erwartet, das zur Hälfte vom Land Baden-Württemberg und den drei beteiligten Landkreisen getragen werden sollte. Die Mischfinanzierung und die langfristigen Verträge mit der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg und den Landkreisen waren auch der Grund, weshalb der Ringzug von den Zugstreichungen, die es infolge der gekürzten Regionalisierungsmittel 2007 in Baden-Württemberg gab, ausgenommen war. Die steigenden Fahrgastzahlen und die gestiegenen Einnahmen aus der Schülerbeförderung führten vielmehr dazu, dass der ursprünglich berechnete Zuschussbedarf stark abnahm und die Verteilung der Lasten und Erlöse in eine Schieflage geriet. Während der Anteil des Landes in etwa stabil blieb, verringerte sich der Zuschussbedarf der Landkreise, an die die erhöhten Fahrgeldeinnahmen und die Zuschüsse der Schülerbeförderungen flossen, stark. 2005 und 2006 erwirtschafteten die Landkreise sogar einen Überschuss. Darauf drängte das Land die Landkreise zu einem neuen Finanzierungsvertrag, mit dem diese sich ab 2007 mittels einer jährlichen Sonderzahlung von 750.000 Euro wieder an den Ringzugkosten beteiligen und so das Land finanziell entlasten.Da diese Schieflage über viele Jahre anhielt und auch mit dem neuen Finanzierungsvertrag von 2007 nicht gelöst werden konnte, kündigte das Land Baden-Württemberg im November 2020 an, den Finanzierungsvertrag vollständig fristgerecht zum Jahr 2022 zu kündigen. Außerdem sollte so wie in nahezu allen anderen Regionen des Landes die Bestellung und Finanzierung des Nahverkehrs einheitlich geregelt werden. Das Land schickte mit der Kündigungsmitteilung auch einen Entwurf eines neuen Vertrages an die drei Landkreise, in dem die neu zu verhandelnden Finanzierungsregularien festgeschrieben werden sollen. Grundsätzlich sieht das Land gemäß dem Zielkonzept 2025 einen Taktfahrplan vor, der bei gewünschtem Mehrverkehr von den Landkreisen bezahlt verdichtet wird.
=== Verkehrsverbünde und Tarifsystem ===
Zum Ringzug-Start konnte zunächst kein einheitlicher Verkehrsverbund für das gemeinsame neue Verkehrssystem geschaffen werden. Vielmehr existierten drei Verkehrsverbünde auf Landkreis-Ebene: TUTicket im Landkreis Tuttlingen, der Verkehrsverbund Rottweil im Landkreis Rottweil und der Verkehrsverbund Schwarzwald-Baar im Schwarzwald-Baar-Kreis. Es wurde jedoch mit der Regionalen Tarifkooperation Schwarzwald-Baar-Heuberg, auch 3er-Tarif genannt, ein Dachtarif zwischen den drei Verbünden geschaffen. Dieser ermöglichte auch Fahrten über die Kreisgrenzen hinaus und bot somit einen einheitlichen Tarif im gesamten Ringzug-Gebiet.
Am 1. Januar 2023 wurden die drei Verkehrsverbünde aufgelöst und ihre Aufgaben auf den bisherigen Zweckverband Ringzug übertragen. Dieser bietet seitdem als „Verkehrsverbund Schwarzwald-Baar-Heuberg“ einen einheitlichen Tarif an. Diese Maßnahme wurde vom Land Baden-Württemberg subventioniert, jedoch durch die COVID-19-Pandemie verzögert.
Am 9. Dezember 2018 trat außerdem der Baden-Württemberg-Tarif in Kraft. Seitdem gibt es einen landesweit einheitlichen Tarif für Bus und Bahn. Damit kann man bei verbundüberschreitenden Fahrten auch an seinem Zielort z. B. die Busse und Straßenbahnen nutzen, ohne dass man einen weiteren Fahrschein lösen muss. Der Baden-Württemberg-Tarif erkennt auch die Bahncard an.
== Zukunftspläne ==
Schon seit Beginn des Betriebs besteht die Forderung, die Netzlücke zwischen Immendingen und Donaueschingen zu schließen. Dies würde direkte Ringzug-Verbindungen von Tuttlingen nach Donaueschingen ermöglichen. In der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre war außerdem im Bereich der Stadt Tuttlingen ein kommunales Thema, ob mit zusätzlichen Haltepunkten in der Stadt und einem Taktverkehr zwischen Tuttlingen und Fridingen eine Art Stadtbahn realisiert werden könnte.
Der Verwaltungsausschuss des Landkreises Rottweil beschloss im Juni 2008 außerdem eine Ausweitung des Betriebs auf den Gäubahn-Abschnitt von Rottweil nach Horb am Neckar zu prüfen, gab das Vorhaben jedoch im November 2008 wieder auf.
Seit 2018 wird erneut an der Zukunft des Ringzuges unter dem Namen Ringzug 2.0 geplant. So wurden mehrere Szenarien von den Landkreisen zur Planung beauftragt, welche im Jahr 2019 den Kreisgremien vorgestellt wurden. Im Kern soll der Ringzug weitgehend oder komplett elektrisch verkehren, außerdem sollen weitere Strecken und damit auch Haltestellen für den Ringzug aktiviert oder reaktiviert werden – damit einher geht auch eine Erneuerung der bahnseitigen Infrastruktur. Dies betrifft die Strecke von Villingen nach St. Georgen im Schwarzwald, wo neue Haltepunkte im Bereich Villingen-West oder Peterzell geplant sind, und eine Ausweitung des Verkehrs im Donautal nach Fridingen. Während auf der Strecke zwischen Tuttlingen und Fridingen eine Elektrifizierung zur Debatte steht und sie zwischen Tuttlingen und Immendingen gesetzt ist, soll der Abschnitt von Immendingen nach Blumberg langfristig ohne elektrische Antriebstechnik befahren werden. Auch die Strecke von Hüfingen nach Bräunlingen und von Rottweil nach Villingen soll elektrifiziert werden. Damit soll auch der jetzige Regionalexpress von Stuttgart nach Rottweil bis Villingen weiter fahren. Die Ringzug-Verbindung von Immendingen nach Donaueschingen über Geisingen wurde auch in diesem Projekt erneut überprüft, konnte aber wegen Überschneidungen mit Schwarzwaldbahn-Zügen nicht berücksichtigt werden. Im Bereich Trossingen ist die Art der Elektrifizierung unsicher, da je nach Bauart die historischen Fahrzeuge der Trossinger Eisenbahn nicht mehr fahren könnten. Im Jahr 2020 wurde seitens der Landkreise ein Planungsauftrag an DB Netz erteilt, damit diese die konkrete Kosten- und Zeitplanung in Angriff nehmen kann. Der ursprüngliche Inbetriebnahmetermin 2024 kann nicht gehalten werden. Ab 2024 müssen die dann über 20 Jahre eingesetzten Fahrzeuge erneut zur Hauptuntersuchung und sind bilanziell ab diesem Zeitpunkt nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben. Neuere DB-Angaben sehen die Inbetriebnahme ab 2027 möglich. Ende 2021 beauftragte der Zweckverband die DB mit Grundlagenermittlung und Vorplanung. Diese ersten beiden Planungsphasen sollen nunmehr 2024 abgeschlossen werden. Im Juni 2022 schrieb die DB verschiedene Vermessungsleistungen für das Projekt aus.
== Literatur ==
Frank von Meißner: Eine S-Bahn auf dem Lande: Der 3er-Ringzug auf Erfolgskurs. In: Tagungsband der Horber Schienen-Tage 2005. München 2005
Zweckverband Ringzug Schwarzwald-Baar-Heuberg (Hrsg.): Der 3er Ringzug: Eine Investition für die Zukunft der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg. Villingen-Schwenningen 2006
HzL-Ringzug fährt ab September. In: Eisenbahn-Revue International, Heft 8–9/2003, S. 383.
Frank von Meißner: Ringzug-Konzept erfolgreich gestartet. In: Eisenbahn-Revue International, Heft 11/2003, S. 522 f.
== Weblinks ==
Website des Zweckverband Verkehrsverbund Schwarzwald-Baar-Heuberg
Der 3er-Ringzug: S-Bahn auf dem Land auf der Website der Hohenzollerischen Landesbahn
Der Ringzug auf www.privat-bahn.de
Ringzug durch 3 Landkreise Private Seite mit Bildern und Zeitungsartikeln zum Ringzug
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ringzug
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Rivalität zwischen Köln und Düsseldorf
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= Rivalität zwischen Köln und Düsseldorf =
Als Rivalität zwischen Köln und Düsseldorf oder Rivalität zwischen Düsseldorf und Köln wird das Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Großstädten im Rheinland bezeichnet, die knapp 40 Kilometer voneinander entfernt am Rhein liegen. Diese Rivalität wird zwar auf sportlicher und kultureller Ebene als „Feindschaft“ folkloristisch zelebriert, basiert aber auf historischen und wirtschaftlichen Fakten. Während sich das größere Köln aus einer römischen Kolonie und späteren Freien Reichsstadt entwickelte, ist die aus einer kleinen mittelalterlichen Ansiedlung entstandene, neuzeitliche Residenzstadt Düsseldorf heute die Hauptstadt des Landes Nordrhein-Westfalen.
== Geschichte ==
=== Schlacht von Worringen ===
Als Wurzel der Feindschaft zwischen den beiden Städten wird gemeinhin die Schlacht von Worringen am 5. Juni 1288 angeführt, was jedoch als „Legende“ anzusehen ist.Bei dieser Schlacht standen sich im Limburger Erbfolgestreit Siegfried von Westerburg, der damalige Erzbischof von Köln, und Herzog Johann I. von Brabant nördlich von Köln gegenüber. Auf Seiten des Brabanter Herzogs kämpften unter anderen Graf Adolf von Berg, die Kölner Bürger sowie ein Heer von Bauern aus dem Bergischen. Unter den Letzteren mögen sich auch einige Bewohner des Dorfes im Mündungsgebiet der Düssel befunden haben, was jedoch nicht als sicher gilt. Während Köln zu jener Zeit schon eine mittelalterliche Großstadt mit mehr als 20.000 Einwohnern und als ursprünglich römische Gründung über 1200 Jahre alt war, war Düsseldorf bis dahin eine kleinere Ansiedlung in der Grafschaft Berg mit geschätzten 200 bis 400 Einwohnern. Die Bewohner der beiden ungleichen Ortschaften kämpften demgemäß in dieser Schlacht nicht – wie häufig dargestellt – gegeneinander, sondern Seite an Seite.
Vom Ausgang der Schlacht profitierten beide Orte: Nach der Niederlage des Erzbischofs gehörte Köln nicht mehr zu dessen Erzstift, und der Erzbischof selbst durfte die Stadt nur noch zu religiösen Handlungen betreten. Düsseldorf wiederum erhielt von Herzog Adolf von Berg am 14. August 1288 die Stadtrechte, allerdings nicht aus „Dankbarkeit“, wie kolportiert wird. Der Herrscher hatte die strategisch gute Lage des Dorfes auf einer hochwassergeschützten Landzunge erkannt, und der Rhein bildete eine natürliche Sicherung der westlichen Grenze sowie ein Bollwerk gegen das weiterhin erzbischöfliche und seinerzeit deutlich größere Neuss.
=== Mittelalter und frühe Neuzeit ===
Köln war im 13. Jahrhundert die „unumstrittene Metropole Deutschlands“ mit Handelsbeziehungen in viele europäische Länder, die mit einer Größe „von etwa 20.000–25.000 Einwohnern an der Spitze aller deutschen Städte lag“. Nachdem 1164 die Reliquien der Heiligen Drei Könige in die Stadt gekommen waren, für die ab 1248 ein großartiger Dom gebaut wurde, entwickelte sich Köln zudem zu einer bedeutenden Pilgerstadt. 1475 wurde Köln zur Freien Reichsstadt erhoben. 1499 formulierte Johann Koelhoff der Jüngere in seiner Chronik das damalige Selbstverständnis der Stadt: „Cöllen eÿn Kroÿn - Boven allen steden schoÿn“ („Köln eine Krone – Über allen Städten schön“).Eine maßgebliche Ursache für die starke wirtschaftliche Position der Stadt war das sogenannte Stapelrecht, das den Kölnern 1259 von Erzbischof Konrad von Hochstaden verbrieft wurde. Dieses Recht schrieb vor, dass Waren, die auf dem Rhein verschifft wurden, erst in Köln „gestapelt“ (umgeladen und gelagert) werden mussten und die Kölner ein Vorkaufsrecht hatten. Dieses Stapelrecht wurde über die Jahrhunderte weiter ausgebaut, sowohl territorial als auch in Bezug auf die Anzahl der Waren. Räumlich erreichte das Recht im 18. Jahrhundert eine Ausdehnung von etwa 70 bis 80 Kilometern rheinabwärts und 30 Kilometer rheinaufwärts. Von dieser Situation wurde auch die Düsseldorfer Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen.Allgemein gehörte den Städten am Rhein aber die Zukunft, da im 14. Jahrhundert der Transport von Waren auf dem Fluss zunahm. Herzog Wilhelm von Berg (1348–1408) erkannte die Zeichen der Zeit und begann, Düsseldorf auszubauen und zu vergrößern, so dass die Stadt im 16. Jahrhundert 1500 bis 2000 Einwohner hatte. Er ließ ein neues Gebäude für die Lambertuskirche errichten, stattete das zugehörige Stift mit Reliquien aus, um die Stadt als Wallfahrtsort attraktiv zu machen, vervollständigte die Befestigung als Steinmauer und ließ die Burg als Herrschaftssitz ausbauen. Finanzielles Standbein dabei war das ihm vom König verliehene Recht, den bergischen Rheinzoll zu erheben, ein Privileg, das er gegen Widerstände aus Köln schließlich erfolgreich durchsetzte. Unter den Nachfahren Wilhelms kam die Entwicklung Düsseldorfs allerdings zu einem Stillstand.Im 16. Jahrhundert verlor Köln seine wirtschaftliche Vormachtstellung, da die von einem Festungsring umschlossene Stadt ohne Hinterland an alten Handelsstrukturen festhielt, mit denen sie sich immer weniger gegen die erstarkenden Territorialherrschaften durchsetzen konnte. Köln war „weitgehend auf die Verteidigung des Erreichten und die Verwaltung des Bestehenden bedacht, anstatt auf Innovation und Fortschritt zu setzen“. Als Hemmnis für den Handel erwiesen sich eine in Kriegs- und Krisenzeiten angehäufte Verschuldung sowie die religiöse Intoleranz der Kölner: Das „Heilige Köln“ (et hillije Kölle) war die einzige Reichsstadt, die am katholischen Glauben festhielt. Diese Intoleranz zwang protestantische Bürger – wie etwa im Jahr 1714 neun wohlhabende Kaufmannsfamilien –, über den Rhein in bergisches Territorium zu ziehen, zu dem auch Düsseldorf gehörte, wo sie blühende Manufakturen und Handelshäuser begründeten. Weithin sichtbares Symbol für den wirtschaftlichen Niedergang war der Domkran am unfertigen Kölner Dom, an dem aus Geldmangel seit den 1530er Jahren nicht mehr weitergebaut wurde. Laut Reisebeschreibungen waren zu dieser Zeit die Häuser in Köln in sehr schlechtem Zustand, und der Anteil der Armen an der Bevölkerung vergleichsweise hoch.Düsseldorf, ab 1614 nach Unterbrechungen erneut Residenzstadt der Herzöge von Jülich-Berg, entfaltete sich hingegen in diesen Jahren: „Als politisch, wirtschaftlich, militärisch und gesellschaftlich vom Fürsten abhängige, auf die Hofhaltung und fürstliche Verwaltung hin konzentrierte Stadt bot Düsseldorf ein völlig anderes Bild als Köln.“ Unter Johann Wilhelm II. (Jan Wellem genannt) und seiner Frau Anna Maria aus der italienischen Familie der Medici hatte Düsseldorf eine Glanzzeit, da der Fürst, ab 1690 als Kurfürst im Düsseldorfer Schloss residierend, die Stadt weiter vergrößerte und ausbaute sowie seinen Hofstaat aufstockte, was weitere Adlige in die Stadt zog. Auch entwickelte Jan Wellem die Infrastruktur der Stadt weiter, indem er Straßen pflastern und beleuchten ließ und die Gründung von Post- und Schifffahrtslinien sowie Manufakturen förderte; das Kurfürstenpaar baute eine Gemäldegalerie auf, förderte die Ansiedlung renommierter Künstler und ließ ab 1694 aus eigenen Mitteln – darunter der Mitgift von Anna Maria in Höhe von 400.000 Reichstalern – ein Opernhaus errichten.Nach Jan Wellems Tod im Jahre 1716 gab es einen kurzen wirtschaftlichen Einbruch in Düsseldorf, von dem sich die Stadt unter Fürst Karl Theodor (1724–1799) aber wieder erholte: „Im Gegensatz zu Köln, wo jede Neuerung auf den starken Widerstand der in den Gaffeln [Zünfte der Handwerker] organisierten Bürgerschaft stieß und sich nur wenige fortschrittliche Kaufleute für Reformen einsetzten, förderten in Düsseldorf aufgeklärte Politiker der Regierung eine liberale Wirtschaftsentwicklung.“1786 widersprach der Düsseldorfer Produzent des „Mostert“ (scharfer Senf), Johann Cornelius Bergrath, einer Anzeige im Kölnischen Stadtboten, dass in der Kölner Schildergasse „wahrer Düsseldorfer Mostert […] zu haben seye“, und wies zudem darauf hin, woran „der ächte ohnverfälschte Düsseldorfer Mostardt“ zu erkennen sei. Übrigens befand sich seine Düsseldorfer Senffabrik später im Haus „Stadt Köln“. Eau de Cologne hingegen wurde ohne Protest auch in Düsseldorf hergestellt, und zwar von der Düsseldorfer Linie der Familie Farina.
=== Napoleon und Preußen ===
1794 wurde Köln von den Truppen des revolutionären Frankreich besetzt, im Jahr darauf Düsseldorf. Während Köln wie das gesamte linke Rheinufer Teil Frankreichs wurde, blieb Düsseldorf bis 1801 besetzt. 1806 wurde es Hauptstadt des neuen Großherzogtums Berg unter Napoleons Schwager Joachim Murat.
Je mehr Kölns eigene Wirtschaftskraft nachgelassen hatte, desto wichtiger war der Stadt das mittelalterliche Stapelrecht geworden. Im 18. Jahrhundert war es so essentiell geworden, dass es das wichtigste Element ihres wirtschaftspolitischen Handelns darstellte. Kölns Position erschien jedoch gefährdet, als auf dem Rastatter Kongress die Beschlüsse des Friedens von Campo Formio und die Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich konkretisiert werden sollten und dabei auch ernsthafte Diskussion über die Abschaffung der Zölle und Stapelrechte auf dem Rhein begannen. Wegen des Ausbruchs des Zweiten Koalitionskrieg brach man die Verhandlungen allerdings zunächst ab. Der Frieden von Lunéville, der die tiefste Linie der Rheinsohle 1801 als Staatsgrenze Frankreichs festlegte, sowie die Einführung des französischen Zollsystems an dieser Grenze ab 1798 führten in der Franzosenzeit dazu, dass sich der Umschlag im Düsseldorfer Hafen positiv und Düsseldorf sich trotz formal fortbestehendem Stapelrecht Kölns bis 1806 immerhin zum Endpunkt des Niederlandehandels entwickelte. Durch die Zollgrenze brachen den Produzenten aus dem Rechtsrheinischen allerdings die linksrheinischen Märkte weg, während den Kölnern der gesamte französische Raum für den zollfreien Handel offen stand. Das Kölner Stapelrecht blieb bestehen, um der nun französischen Stadt die Einnahmen daraus zu sichern; die strenge Zunftordnung hingegen, die die Kölner Wirtschaft und Gesellschaft über Jahrhunderte geprägt hatte, wurde aufgehoben.
Ab dem 2. November 1811 hielt sich Kaiser Napoleon drei Tage in Düsseldorf auf. Mit militärischen Ehren und einer Nachbildung des Arc de Triomphe wurde er dort besonders festlich empfangen. Für seinen Staatsbesuch war Schloss Jägerhof als herrscherliche Residenz hergerichtet worden. Napoleons Minister Pierre-Louis Roederer schrieb seiner Frau, dass die Feierlichkeiten in Düsseldorf die glanzvollsten der Staatsreise des Kaisers gewesen seien, und bezeichnete die Stadt als Klein-Paris. Von Düsseldorf reiste Napoleon nach Köln weiter, wo er gesagt haben soll: „Geht nach Düsseldorf und lernt dort, wie man einen Kaiser empfängt.“ Anlass für diesen (nicht verbürgten) Ausspruch soll gewesen sein, dass die Kölner Probleme hatten, genügend Männer für die Ehrengarde zum Empfang zusammenzubekommen. Die Hoffnung der Düsseldorfer, der französische Staat werde nach dieser Visite die Belastungen durch Zoll und Steuern ermäßigen, erfüllte sich jedoch nicht. Zudem fielen 90 Prozent der Düsseldorfer Männer, die für Napoleons Armee rekrutiert worden waren, in den von ihm geführten Kriegen.Napoleons Besuch hatte allerdings positive städtebauliche Auswirkungen auf Düsseldorf. Wenige Tage nach seinem Besuch erließ der Kaiser das sogenannte „Verschönerungsdekret“, auf dessen Grundlage die 1801 begonnene Schleifung der Stadtbefestigung neue Impulse erhielt. Ihre Umgestaltung zu eleganten Promenaden, darunter die heutige Königsallee, sowie die Erweiterung des Hofgartens bis an das Rheinufer wurden durchgeführt. Während in Düsseldorf großzügige Straßen und Gartenanlagen angelegt wurden, blieb Köln im „Würgegriff“ der Befestigungsanlagen, die sogar noch weiter ausgebaut wurden und die Stadtentwicklung nachhaltig behinderten. „Köln ruhte in sich, und hier war aufgrund der Enge […] alles etwas nachbarschaftlicher […]. Düsseldorf bot […] mit seinen Alleen, Parks, Gärten und Luxus den äußeren Anschein einer Residenz- und Gartenstadt.“Nach der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress wurden beide Städte 1815 dem Königreich Preußen zugeschlagen und gehörten ab 1822 zur neu geschaffenen Rheinprovinz. Sitz der staatlichen Provinzialverwaltung wurde Koblenz und die Universität kam nach Bonn. 1819 erfolgte die Neugründung der Kunstakademie Düsseldorf. Als bedeutende Künstlerbewegung des 19. Jahrhunderts entstand dort die Düsseldorfer Malerschule, die das kulturelle Leben der Stadt nachhaltig bereicherte und ihr den Rang eines internationalen Kunstzentrums verlieh. 1820 wurde Prinz Friedrich von Preußen Kommandeur der 20. Division in Düsseldorf und ließ sich mit Familie im Schloss Jägerhof nieder. Garnison und Hofhaltung der folgenden Jahre erinnerten an frühere Zeiten als Residenzstadt, und Prinz Friedrich und seine Frau Luise förderten das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Stadt. 1824 nahm zudem der Provinziallandtag seinen Sitz in Düsseldorf. Das alles, so der Historiker Horst A. Wessel, bedeutete für Köln eine „unerwartete Zurücksetzung“: „Köln erhielt […] keinen Vorrang, nicht einmal eine hervorgehobene Stellung unter den preußischen Städten.“ Diesem Gefühl der Benachteiligung wirkte kaum entgegen, dass der preußische Staat und sein Herrscherhaus – getragen durch eine breit empfundene romantische Besinnung auf geschichtliche Wurzeln und das Mittelalter – den Weiterbau des Kölner Doms finanziell unterstützten. Auch Düsseldorfer Bürger sammelten Spenden für den Dom, dessen Fertigstellung auf der Grundlage wiederentdeckter mittelalterlicher Fassadenrisse als eine nationale Aufgabe empfunden wurde.
Auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rangen Köln und Düsseldorf weiter um die Frage des Schifffahrts- und Stapelrechts auf dem Rhein. Dabei war es der Kölner Handelskammer 1816 gelungen, die preußische Regierung, insbesondere deren Vertreter bei der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt, Wilhelm von Humboldt, davon zu überzeugen, dass das Kölner Stapelrecht ein Faustpfand gegen hohe niederländische Durchgangszölle und eine eventuelle Blockierung der Rheinmündungen sei. Nach einem 16-jährigen Wirtschaftskrieg zwischen den Königreichen Preußen und der Niederlande kam es – wohl unter dem Druck der Belgischen Revolution – schließlich zum Einlenken der Niederlande und zum Abkommen in der Mainzer Akte vom 31. März 1831, das alle mittelalterlichen Rechte einschließlich des Kölner Stapelrechts auf dem Rhein beseitigte und der Stadt Düsseldorf das ihr 1826 genommene Freihafenrecht zurückgab. Bis zur völligen handelsrechtlichen Emanzipation hatte Düsseldorf jedoch noch bis zur letzten Beseitigung von Zollformalitäten am 1. Januar 1842 zu warten.1843, in der Zeit des Vormärz, kam es in Düsseldorf zum sogenannten „Köln-Düsseldorfer Verbrüderungsfest“. Dieses Fest war eine politische Demonstration rheinischer Bürger für die Beibehaltung des von Napoleon eingeführten „Rheinischen Rechts“. Als „Musspreußen“ drückten Kölner und Düsseldorfer somit ihre gemeinsam empfundene Distanz zu Preußen aus. Im August 2001 erinnerte der damalige Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma während der Veranstaltung Köln + Düsseldorf: mehr als eine Utopie... mit einer Anekdote an dieses Fest:
=== Industrialisierung ===
Die eigentliche Rivalität zwischen den beiden Städten Düsseldorf und Köln begann mit der Industrialisierung, da Standortqualitäten eine immer wichtigere Rolle bei der Ansiedlung von Unternehmen und Gewerbe spielten. Den Verlust des Stapelrechts kompensierte Köln, indem es auf das moderne Verkehrsmittel Eisenbahn setzte und sich zu einem zentralen Verkehrsknotenpunkt entwickelte. 1825 gründete der Kölner Kaufmann Peter Heinrich Merkens die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrtsgesellschaft, eine Vorläuferin der heutigen Köln-Düsseldorfer, die ihren juristischen Sitz in Düsseldorf hat, jedoch von Köln aus verwaltet wird und die trotz ihres Namens keinen regelmäßigen Linien-Schiffsverkehr zwischen beiden Städten im Fahrplan hat. In Düsseldorf – „der verschlafenen Kunst- und Gartenstadt“ – erfolgte der Weg in die moderne Wirtschafts- und Verkehrspolitik mit Verzögerung.
Beide Städte entwickelten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu „Industriestädten“, wobei sich Düsseldorf als „Schreibtisch des Ruhrgebiets“ etablierte. Die Erhebung Düsseldorfs zu einem Banken- und Finanzplatz erfolgte erst 1854, ein Jahr zuvor war die Börse Düsseldorf gegründet worden. Köln hingegen blickte bereits auf eine längere Geschichte im Banken- und Versicherungswesen zurück und hatte Ende des 19. Jahrhunderts den höheren Umsatzanteil im Bankwesen, wenngleich sich die Düsseldorfer Wirtschaft dynamischer entwickelte.Ab der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kam es in beiden Städten zu erheblichen Bevölkerungszuwächsen, was zum einen durch die enorme Zuwanderung von Menschen aus dem ländlichen Raum – wie etwa der Eifel oder dem Bergischen Land – begründet war, aber auch durch die Eingemeindung umliegender Ortschaften.In den 1920er Jahren war die Konkurrenz zwischen den beiden Städten auch von der Rivalität zwischen deren Oberbürgermeistern geprägt: In Köln war dies Konrad Adenauer (Zentrum, 1917–1933) und in Düsseldorf Robert Lehr (DNVP, 1924–1933), die beide für ihr großes Selbstbewusstsein bekannt waren: „Dass sie nicht immer einer Meinung waren und auf ihren und ihrer Städte Vorteil bedacht waren, spricht für ihre Tatkraft.“ So setzte sich Adenauer etwa massiv dafür ein, dass sein Düsseldorfer Kollege Lehr nicht in den Planungsausschuss des Provinzialausschusses zur Vorbereitung der Rheinischen Jahrtausendfeier berufen wurde. Durch die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten verloren beide Männer 1933 ihr Amt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Lehr zu den Mitbegründern der CDU und wurde 1950 Minister unter Adenauer.Beide Städte nahmen nach 1945 für sich in Anspruch, als „rheinische, katholische und antipreußische“ Städte gegen den Nationalsozialismus immun gewesen zu sein, was sich jedoch nach neueren Forschungen als „modernes Märchen“ herausgestellt hat – sowohl in Köln wie in Düsseldorf herrschte NS-Terror mit Säuberungen, Gleichschaltung und Ausgrenzung wie in jeder anderen deutschen Stadt auch. Im Krieg selbst wurde die Kölner Innenstadt zu 90, andere Stadtteile zu 80 Prozent zerstört, wohingegen Düsseldorf „nur“ zu 40 Prozent zerstört war und viele repräsentative Gebäude erhalten blieben. Dies und die Nähe zum Ruhrgebiet bewogen das britische Kabinett 1946, Düsseldorf zur Hauptstadt des neugeschaffenen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen zu bestimmen.1988, 700 Jahre nach der Schlacht von Worringen, wurde in einem Vergleich beider Städte aus stadtgeographischer Sicht festgestellt, dass Köln als Verkehrsknotenpunkt auf Wasser, Straße und Schiene sowie bezüglich des Rohrnetzes der Petrochemie seine Stärken habe, während Düsseldorf im Luftverkehr die Nase vorn habe und besser im Dienstleistungsgewerbe positioniert sei. Laut einem Ranking der Wirtschaftskraft deutscher Großstädte des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2011 lag Düsseldorf auf Platz sechs, während Köln Rang 34 belegte.Der Kölner Oberbürgermeister Schramma vertrat die These, dass Köln und Düsseldorf nur dann partnerschaftlich miteinander leben könnten, wenn es um „übergeordnete Dinge“ gehe; als Beispiel nannte er die gemeinsame Bewerbung um die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2012. Sobald es aber um die direkte Konkurrenz ginge, komme es zu „Kontroversen“:
=== Gemeinsame Stadtgrenze ===
Durch die Eingemeindung Monheims nach Düsseldorf am 1. Januar 1975 im Rahmen der Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen bestand zwischen den beiden rivalisierenden Großstädten zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine gemeinsame Stadtgrenze, allerdings nur für 18 Monate, da Monheim diesen Teil der Reform erfolgreich anfocht und am 1. Juli 1976 wieder selbständig wurde. Dabei berührte die Stadt Düsseldorf in der Flussmitte des Rheins den geschichtsträchtigen, bereits 1922 eingemeindeten Kölner Stadtteil Worringen trotz der Abtretung Hitdorfs an Leverkusen über eine Distanz von immerhin knapp 4,2 Kilometern.
== Einwohnerzahlen (1140 bis Gegenwart) ==
Schon zur Römerzeit hatte Köln rund 30.000 Einwohner; diese Zahl sank ab dem 3. Jahrhundert jedoch auf rund die Hälfte. Im 12. Jahrhundert wohnten wieder 20.000 Menschen innerhalb der Stadtmauern. Nach der Überführung der Reliquien der Heiligen Drei Könige nach Köln und der wachsenden Bedeutung als Pilgerstadt stieg die Zahl der Einwohner erneut auf 40.000 an. Diese Zahl blieb bis zum 19. Jahrhundert relativ konstant.
Düsseldorf hatte zum Zeitpunkt der Schlacht bei Worringen im Jahre 1288 und der folgenden Verleihung der Stadtrechte etwa 200 bis 400 Einwohner. In den folgenden Jahrhunderten stieg die Bevölkerungszahl langsam, wenn auch stetig. Mit Beginn der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der in Düsseldorf sesshaften Menschen um mehr als das Vierfache, auf 63.000. In derselben Zeitspanne und aus demselben Grund verdreifachte sich die Zahl der Kölner Bürger auf 125.000, so dass Köln zu dieser Zeit doppelt so viele Einwohner hatte wie Düsseldorf.
Durch Eingemeindungen und wirtschaftliches Wachstum kamen beide Großstädte auf sechsstellige Einwohnerzahlen. Köln war mit schwankenden Zahlen schon mehrfach im siebenstelligen Bereich und versteht sich derzeit wieder als „Millionenstadt“ (Stand 2021).
== Reisebeschreibungen ==
Besonders in den im 18. und 19. Jahrhundert beliebten Reiseberichten standen die beiden rheinischen Metropolen häufig im Fokus. Moritz August von Thümmel, Minister des Herzogs von Sachsen-Coburg-Saalfeld, schrieb am 6. Juni 1772 an den Erbprinzen von Sachsen-Coburg: „In Köln, wo wir uns einen ganzen Tag aufhielten, um auszuruhen, wünschten wir uns zehnmal auf unser Schiff zurück. Ich kann mich nicht erinnern einen so unangenehmen Ort gesehen zu haben und ich möchte nicht Kaiser sein, wenn ich mich daselbst krönen lassen müßte. Stellen sich Ew. Durchlaucht eine schmutzige Stadt dreimal so groß wie Erfurt und dreimal so todt vor; wo in jeder Gasse einige Kirchen und Klöster stehen, wo ein beständiges Läuten der Glocken die Ohren und der Anblick einzelner ausgezehrter und zerlumpter Bettler das Auge zu Tode ermüdet. Wir besuchten daselbst ein Carthäuserkloster und wurden bis zum Jammer über das Elend gerührt, zu welchem sich vernünftige Menschen aus eingebildetem Gottesdienste freiwillig verdammen können. Den Tag darauf hatten wir eine desto angenehmere Reise. Wir gingen über Düsseldorf einer schönen, reizenden Stadt. Das erste was wir daselbst aufsuchten, war die prächtige Bildergalerie, wo die Rubens einen ganzen Saal einnehmen und die meisten Gemälde des unnachahmlichen van der Werff aufbehalten werden.“Der Königl. Preußische Kriegs-, Domänen- und Forstrat Christian Friederich Meyer reiste 1793 durch das Rheinland und schrieb seine Ansichten einer Reise durch das Clevische und einen Theil des Holländischen über Crefeld, Düsseldorff und Elberfeld, mit einigen dabei angestellten ökonomischen Betrachtungen, im Jahre 1794. Nebst einer zweiten ökonomischen Bereisung der Rheingegenden von Wesel bis Coblenz im Juni 1794 nieder (die Jahresangabe ist falsch). Darin berichtete Meyer von den „Scharen von zerlumpten Bettlern“ in Köln und lobte den „Arbeitsamen“ im Bergischen, der „daher viel sittlicher, gesunder und glücklicher“ sei als „der Müßiggänger in Cöln, wo dieser nur ein blindes Thier um so gefährlicher wird, je sistematischer der Müßiggang getrieben wird“.
Die beiden Städte im 17. Jahrhundert
Ein französischer Emigrant, der sich 1792/1793 hauptsächlich in Wuppertal aufhielt, fand Köln „finster und traurig“. Auch der Schriftsteller Georg Forster, der Köln ebenfalls zu dieser Zeit besuchte, benutzte diese Vokabeln, um die Domstadt zu beschreiben, und bemerkte, dass beinahe die Hälfte der Einwohner, d. h. etwa 20.000 Menschen, zum „Pöbel“ gezählt werden müsse. Und er zog den Vergleich: „Welch himmelweiter Unterschied zwischen Köln und diesem netten, reinlichen, wohlhabenden Düsseldorf!“Besonders scharf ging Ernst Moritz Arndt mit der Domstadt ins Gericht. „Köln ist unstreitig die älteste Stadt in Teutschland, und sie hat sich immer auf dieses Alterthum nicht wenig eingebildet, und bis auf die neuesten Zeiten hartnäckig auch in Sitten und Einrichtungen alles zu erhalten gesucht, was billig einmal hätte alten und veralten sollen“ war fast noch das Freundlichste, was er über Köln zu sagen hatte, bezeichnete er die Kölner doch darüber hinaus als „tückisches Volk“ und „kalte Kröten“. Sein Zeitgenosse Johann Kaspar Riesbeck, ein in der Schweiz lebender deutscher Schriftsteller, schrieb an seinen Bruder in Paris: „Köln, Bruder, ist in jedem Betracht die abscheulichste Stadt von Deutschland.“Nicht wenige Reiseschriftsteller führten die Rückständigkeit Kölns auf den dort dominierenden Katholizismus zurück; die Stellung des Protestantismus war ein „Reizthema“, so für den Pastor Joseph Gregor Lang: „Ein dutzend Arbeitshäuser, die man bald, wenn den protestantischen Handelsleuten nicht durch unduldsame Widersetzlichkeit die Hände gebunden wären, errichtet sehen würde, möchten leicht die Straßen reinigen und gewiß dem Übel steuern, das nur einzig Müßiggang und Faulheit geboren hat.“ Zudem mokierte er sich über Klosterkirchen, die „angepfropft mit allerhand Statuen und Bildern“ seien wie „Nürnberger Buden“. Der evangelische Historiker Philipp Wilhelm Gercken hingegen war der Meinung, dass andere Reisebeschreibungen, die die fehlende Sauberkeit in Köln kritisierten, „übertreiben“ würden und „daß ich es lange nicht so schlecht gefunden habe“.Noch in der Zeit des Biedermeiers schrieb der Schriftsteller Karl Julius Weber: „Das heitere Düsseldorf gefällt doppelt, wenn man aus dem finsteren Cöln herkommt.“
== Kultur ==
=== Karneval ===
Ihre ersten Ursprünge hatte die folkloristisch gepflegte Rivalität zwischen Köln und Düsseldorf im Karneval. Über Jahrhunderte feierten die Kölner und Düsseldorfer ganz unabhängig voneinander Karneval. Doch 1823 wurde in Köln vom Festordnenden Comité der erste von den Bürgern „geordnete“ Karneval organisiert. Diesem Vorbild folgte man in Düsseldorf, wie auch in anderen rheinischen Städten: „[…] in Düsseldorf wartete man nicht lange, um nach dem Kölner Vorbild Fastnacht zu feiern. Es dürfte wohl ein wenig Neid zum großen Nachbarn Köln bei dem Bemühen eine Rolle gespielt haben, die Karnevalstage zu beleben.“ Aber nicht allein „Neid“ war Anlass für eigene Karnevalsumzüge und -veranstaltungen in Düsseldorf, Bonn und Aachen, sondern auch wirtschaftliche Interessen: Die Karnevalsfreunde gaben ihr Geld für Festivitäten nicht in ihrer Heimatstadt aus, sondern fuhren „in Scharen“ nach Köln, was diese Städte bewog, eigene Umzüge zu veranstalten.Zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für den Kölner Karneval entwickelte sich der Düsseldorfer erst nach dem Ersten Weltkrieg, da das Fest einen immer wichtiger werdenden Wirtschaftsfaktor darstellte und um die Anteile an dieser entstehenden „Karnevalsindustrie“ gekämpft wurde. 1937 war im Kölner Stadt-Anzeiger allerdings zu lesen, „dass der Kölner Karneval über die Stadt hinaus für das Rheinland immer mehr an Bedeutung gewinne, während die Fastnacht in Aachen, Bonn und Düsseldorf ein lokales Ereignis“ sei.Ein erstes Zeugnis für die Darstellung der Rivalität im Karneval ist der Entwurf eines Umzugswagens aus dem Jahre 1914: Der Künstler Heinrich Recker stellte den Streit um den Bau einer geplanten elektrischen Schnellbahn zwischen Köln und Düsseldorf als Kampf zwischen einer 4711-Flasche (Köln) und einer Senftube (Düsseldorf) dar. Der Bau der Bahn kam nicht zustande, aber nicht, weil die Städte sich gesperrt hätten, sondern weil zunächst der zuständige Minister um das Monopol der Preußischen Staatseisenbahnen fürchtete und die Genehmigung verweigerte und schließlich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs den weiterhin diskutierten Bau endgültig verhinderte. 1935 wurde auf einem Kölner Wagenentwurf Düsseldorf auf Senftöpfchen sitzend unter der Überschrift „Einmal eine große Dame sein“ dargestellt.Die Karnevalsrituale in Düsseldorf und Köln unterscheiden sich: So präsidiert in Köln das Dreigestirn aus drei Männern, von denen einer als „Jungfrau“ eine Frau darstellt. In Düsseldorf hingegen gibt es einen Prinzen mit einer weiblichen „Venetia.“ Hier lautet der Narrenruf „Helau“, in Köln hingegen „Alaaf“. Am Ende der Festivitäten wird in Köln der Nubbel verbrannt, in Düsseldorf ist es der Hoppeditz.Auch musikalisch wird die „Feindschaft“ gepflegt: Die Kölner Gruppe Domstürmer singt „Über Köln lacht die Sonne, über Düsseldorf die Welt“ und prophezeit, Altbier würde krank machen. Die Düsseldorfer Düssel-Disharmoniker freuten sich im Lied „Da schwimmt ’ne Kölner“ über erneutes Hochwasser in der Domstadt. Wer die Webseite des 2011 aufgelösten Trios besuchte und sich als Kölner ausgab, erhielt die Meldung „Zugriff verweigert“.Ein Düsseldorfer Journalist schrieb in der Welt am Sonntag: „Klangliche Ausdünstungen wie die der Höhner, BAP oder der Bläck Fööss sind keine Seltenheit, die in Köln nicht nur zur Karnevalszeit serviert werden, sondern das ganze Jahr jeck machen. Nun ist der Karneval an sich schon eine Strafe, bei der man sich fragt, was die Kölner wohl verbrochen haben mögen, dass der liebe Gott ihnen im Gegenzug solch eine Plage angedeihen lassen musste. Wer je in den Kölner Karnevalstrubel gerät, merkt schnell, dass die Genfer Konvention doch zu kurz greift.“ (Die publizistische Antwort darauf: „Wir Kölner scheinen da fast harmlos, wenn wir sagen, dass die Düsseldorfer reiche, snobistische dumme Schnösel sind, die an ihrem versifften Rheinwasser in ihrem Medienhafen ihr furchtbares Gebräu trinken.“).Über zunächst offensichtliche Unterschiede hinaus ist der Karneval aber auch vom Charakter her verschieden: Prägende Elemente in Köln, so der Leiter des Rosenmontagszuges Christoph Kuckelkorn, seien – anders als in Düsseldorf – die Einbindung weit zurückreichender Traditionen und eine starke Verankerung in der Bevölkerung. Daraus resultiere in Köln ein eher „ausgleichender“ und „volkstümlicher“ Karneval im Gegensatz zu Düsseldorf, wo die Bürger nicht in diesem Maße einbezogen seien. In diesem Sinne sehen die Kölner den Düsseldorfer Karneval als „unnatürliche Erscheinung“, die „künstlich erzeugt“ worden sei. Der Düsseldorfer liebe die „gepfefferte politische Satire ohne Rücksicht auf Verluste“, der Kölner bevorzuge hingegen den „geschmackvollen politischen Witz“ der nicht allzu weh tue, so die Analyse des Düsseldorfer Wagenbauers Jacques Tilly. Michael Euler-Schmidt und Marcus Leifeld beschreiben die karnevalische Beziehung der beiden Städte als „belebendes Konkurrenzverhältnis“, doch bei aller Konkurrenz „gab und gibt es stets auch ein freundschaftliches Miteinander“.Über die gegenseitigen Attacken in den jeweiligen Rosenmontagszügen sagte der Kölner Zugleiter Kuckelkorn: „Der Zug muss nicht allein über die Provokation leben. Das tun Menschen im Norden von Köln. Ich kenne die Stadt nicht genau, aber es muss irgendein Dorf sein.“
=== Benrather Linie ===
In dem Buch Streit am Rhein heißt es: „Die 40 Kilometer zwischen den beiden Städten haben eine Kluft ins Rheinland gegraben, die von Kölnern wie von Düsseldorfern liebevoll gepflegt wird.“ Es gibt tatsächlich eine Grenze zwischen beiden Städten – die Benrather Sprachlinie, die südlich von Düsseldorf verläuft und die Dialekte der beiden Städte anhand von Lautverschiebungen unterscheidet: So lautet zum Beispiel das hochdeutsche Wort „machen“ auf Kölsch „maache“ und in Düsseldorfer Platt „maken“, weshalb man auch von der „maken-machen-Linie“ spricht. Das Düsseldorfer Platt zählt zu den niederfränkischen Dialekten, Kölsch wiederum zu den ripuarischen.
Der Düsseldorfer Heinrich Heine war beiden Dialekten gegenüber kritisch: In Köln klüngele „Kobes“ mit „Marizzebill“ in einer Mundart, „die wie faule Eier klingt, fast riecht“; die Sprache seiner Heimatstadt disqualifizierte er, man könne dieser schon „das Froschgequake der holländischen Sümpfe“ anmerken.
=== Familie Millowitsch ===
1880 wurde in Düsseldorf der Vater des „urkölschen“ Volksschauspielers Willy Millowitsch geboren, eine Tatsache, die dessen Sohn Peter „ganz schön peinlich“ findet, da Düsseldorf doch der „Erzfeind“ sei. Am Geburtshaus von Peter Wilhelm Millowitsch, dem Traditions-Brauhaus Uerige in Düsseldorf, hängt seit ca. 2000/01 eine von Ulrich Grenzheuser als Bronzerelief geschaffene Gedenktafel.
== Folklore ==
1958 spotteten die Kölner in einer Broschüre, dass um 1800, „während Kölns Ruhm und Glanz schon in jedem Winkel der Welt bekannt“ gewesen sei, erst rund 8000 Menschen an der Mündung der Düssel gelebt hätten. In dem Beitrag wurde das Klischee bemüht, dass Düsseldorf – im Gegensatz zum römischen Köln – ein „Parvenü“ und „Emporkömmling“ sei, „versehen mit allen Attributen des kulturlosen Neureichen, der sich jetzt auch noch daran versuche, die alte Kulturmetropole zu überholen“. Der Grund für diese Publikation soll der Neid der Kölner darauf gewesen sein, dass auf dem Flughafen Düsseldorf schon Düsenflugzeuge landen durften – auf dem Flughafen Köln/Bonn hingegen (noch) nicht.Diese Episode illustriert in exemplarischer Weise die Art von Frotzeleien zwischen den beiden Städten, und ebenso die Tatsache, dass diese oft von Kölner Seite ausgehen. Einen möglichen Grund dafür nannte der Kölner Stadt-Anzeiger: „Geschichtlich belegt sind die Kölner immer die Beleidigten.“ Besonders die Entscheidung, Düsseldorf 1946 als Landeshauptstadt zu bestimmen, diagnostizierte der Psychologe Stephan Grünewald als „schwere narzisstische Kränkung“ der auf ihre Vergangenheit so stolzen Kölner.Die Rivalität zwischen den beiden größten Städten des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen wird oftmals plakativ charakterisiert, wie etwa mit Begriffen wie „die beiden Diven am Rhein“ oder „feindliche Schwestern“.
=== Pflege der Rivalität ===
Generell müssen Städte an ihrer Unterscheidung arbeiten, um sich im Wettbewerb untereinander behaupten zu können. In diesem Konkurrenzkampf besteht die Erfahrung und die Angst vor Schrumpfungsprozessen. Es wird deshalb versucht, gezielt die Anwohner an sich zu binden und neue zu gewinnen. Das gelingt nur, wenn man die Gründe aufzeigt, warum man zum Beispiel besser in Köln als in Düsseldorf lebt – oder umgekehrt.
Während die Innenstadt von Düsseldorf rechtsrheinisch liegt, ist das Zentrum von Köln links des Rheins zu finden; in Köln wird das Rechtsrheinische ohnehin als Schäl Sick („scheele Seite“) bezeichnet. Das Bier in Köln heißt „Kölsch“ und ist hell, das in Düsseldorf „Alt“ und ist dunkel. Weitere „Gegenpole“ bilden die Fußballvereine 1. FC Köln und Fortuna Düsseldorf, die Eishockeyclubs Kölner Haie und Düsseldorfer EG sowie die Bands Die Toten Hosen und BAP.
Der Kölner Kabarettist Jürgen Becker meinte zur musikalischen Rivalität, im „Dorf an der Düssel“ habe noch sehr lange „Tote Hose“ geherrscht – weshalb die berühmteste Band aus Düsseldorf denn auch diesen Namen gewählt habe. Bei einem Konzert in Köln spielten Die Toten Hosen den Song von Marius Müller-Westernhagen „Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin“ – allerdings mit dem Text „Ich bin froh, dass ich kein Kölner bin“, was Wolfgang Niedecken von der Kölner Gruppe BAP wiederum mutig fand: „Das muss man erst mal bringen.“ Die Kölner A-cappella-Gruppe Wise Guys konterte mit dem Lied Nein, nein, nein!, in dem die Herkunft der Urlaubsbekanntschaft aus der Stadt, „wo das Bier so schmeckt, wie es heißt“, beklagt wird.Im Mai 2016 wurde die britische Sängerin Adele bei einem Konzert in Köln mit der Rivalität zwischen den beiden Städten konfrontiert: Als sie ein zehnjähriges Mädchen aus Düsseldorf auf die Bühne holte, erschallten Buh-Rufe aus dem Publikum, was Adele mit „Shut up“ beantwortete. Später erkundigte sie sich, warum man Düsseldorf nicht leiden könne: „Can somebody enlighten me?“ Auf die Antwort, das „sei eben so“, empfahl sie: „Get over it!“ („Überwindet das!“)Eine besonders erbitterte „Feindschaft“ herrscht zwischen den beiden Eishockeyvereinen. Seit den späten 1970er Jahren waren die Duelle der beiden Erzrivalen häufig Spiele um die deutsche Meisterschaft; beide Teams konnten bisher jeweils acht Mal den Meistertitel erringen (Stand 2016). Im Rahmen der gegenseitigen Sticheleien ließ die DEG Ende Dezember 2015 vor einem Lokalderby bei eBay zwei Plastik-Haie versteigern: „Nicht mehr alle Zähne vorhanden, daher oftmals nicht mehr richtig bissig.“ Mediale Aufmerksamkeit erreichte eine Aktion von Campino und einigen Düsseldorfern am 19. Oktober 2018, die während des 220. Eishockey-Derbys zwischen der Düsseldorfer EG und den Kölner Haien ein DEG-Logo auf dem Dach des Mannschaftsbusses der Kölner Haie anbrachten. Die Aktion blieb von den Kölnern Haien mehrere Tage unbemerkt und mit dem Bus machten sie so unbeabsichtigt Werbung für die Düsseldorfer EG.Während in Düsseldorf in den Geschäften und Kaufhäusern Fanartikel vom benachbarten, rivalisierenden Fußballverein Borussia Mönchengladbach durchaus angeboten wurden, suchte im Herbst 2017 ein Redakteur der Rheinischen Post vergeblich nach Artikeln des 1. FC Köln. Ein Mitarbeiter des Kaufhofs vermutete dazu: „Die Rivalität zwischen Düsseldorf und Gladbach ist schon groß. Aber wenn wir noch Köln-Trikots führen würden, hätten die wohl schnell Löcher“.2005 publizierte der Kölner Emons Verlag das Buch Alles was man über Düsseldorf wissen muss; es hatte leere Seiten. Auch kann man in Köln eine „Kölsch“-Taste für die Computer-Tastatur erwerben, um sie gegen die Alt-Taste auszutauschen. Studenten der Fachhochschule Köln erstellten hingegen eine Webseite mit dem Titel „Köln liebt Düsseldorf und Düsseldorf liebt Köln“. Ihr Resümee: „Die weit verbreitete Ansicht, zwischen den Bewohnern der rheinischen Metropole und denen der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens bestehe eine Befindlichkeit, die irgendwo zwischen tief empfundener Antipathie und Apartheid angesiedelt sei, ist falsch. Der Irrtum beruht möglicherweise auf mangelndem Einblick ins historische Geschehen, falscher Interpretation von Büttenreden, Propaganda linksrheinischer Separatisten oder völliger Unkenntnis des rheinischen Humors.“Der Journalist Brian Melican beschrieb in seinem Buch Lost in Deutschland die beiden rheinischen Großstädte aus britischer Sicht: „Die selbst ernannte ‚schönste Stadt am Rhein‘ fühlt sich, so behaupte ich, nur sich selbst verpflichtet. Ganz wie der Nachbar. Köln hält sich ebenfalls für einen eigenständigen Planeten.“ Düsseldorf sei, so sein Eindruck, „ungefähr seit dem Urknall“ der „Streitpartner“ der Kölner gewesen, was Melican an die Feindschaft zwischen Frankreich einerseits und den Briten und Deutschland andererseits erinnert. Er sei immer wieder über die Heftigkeit ihrer Rivalität erstaunt: „Vor meinem geistigen Auge sehe ich Köln und Düsseldorf stets als zwei Gangster, die sich in der Nacht am nebelumhüllten Rheinufer treffen und mit Glimmstangen im Mundwinkel Mafioso-Sprüche austauschen wie: ‚Diese Flussebene ist nicht groß genug für uns beide‘ […].“Der Kabarettist Konrad Beikircher berichtete im Kapitel Krieg im Neandertal seines Buches Et kütt wie't kütt. Das rheinische Grundgesetz, wie Taxifahrer aus den jeweils anderen Städten von den Taxizentralen in Düsseldorf und Köln bei Fragen nach dem Weg angeblich in die Irre geschickt werden.
=== „Verbotene Stadt“ ===
Bewohner beider Städte bezeichnen die jeweils andere als „Verbotene Stadt“; in Köln gilt es als Tabu, das Wort „Düsseldorf“ auszusprechen.
Im Kölner Volksmund wird zudem verbreitet, dass Düsseldorfer ein Visum benötigten, um die Domstadt zu besuchen, und über die Rückfahrt existieren Anekdoten:
=== Werbung ===
Die gegenseitigen Vorurteile zwischen Kölnern und Düsseldorfern werden immer wieder einmal in der Werbung thematisiert.
So wirbt die Kölsch-Brauerei Früh seit Jahren mit Mottos, die immer wieder gegen Düsseldorf, sein Altbier und seine Bewohner zielen, wie etwa mit „Jetzt auch in den wichtigsten Dörfern rund um Köln“, „Kein bißchen Alt“ oder „Zur Entlastung der A3 jetzt auch in Düsseldorf“. Ausgedacht hatte sich die Sprüche eine Werbeagentur aus Düsseldorf. Es folgte eine Gegenkampagne: „Früh übt sich, was ein Alt werden will.“Auch McDonald’s bediente sich des Themas und warb 2010 in Düsseldorf etwa für McWraps mit dem Spruch „Probieren Sie ihn, bevor ein Kölner es tut.“ In Köln gab es die gleichen Plakate, nur dass aus dem „Kölner“ jetzt ein „Düsseldorfer“ geworden war. Die Internetseite Expedia rief beide Städte zum Punkteduell (Düsseldorf gewann 5:4).2012 warb der Kölner Zoo selbstironisch um Düsseldorfer Besucher mit dem Motto: „Schaut Euch mal die Kölner Affen an.“ Eine Düsseldorfer Spedition wiederum verspricht „Umzüge weltweit … auch nach Köln“. Ein Online-Bestatter warb am Bahnhof Köln Messe/Deutz auf Plakaten mit der Nachricht: „Jede Stunde stirbt ein Düsseldorfer“, wobei offen bleibt, ob sich die Botschaft an Kölner oder Düsseldorfer richtet.Die DB Regio NRW ließ 2013 einen Zugbegleiter auf Werbeaushängen zu Wort kommen: „Wenn ich als Kölner täglich nach Düsseldorf fahre, tue ich das nur für Sie!“
Das Verkehren von Fahrzeugen mit der Aufschrift „S-Bahn Köln“ zum Bahnhof Düsseldorf Flughafen Terminal soll laut Solinger Tageblatt in der Landeshauptstadt mit Befremden aufgenommen worden sein.Eine Discountkette warb 2017 in Düsseldorf mit großen Plakaten: „Zeit, sich zu versöhnen. Kölle Alaaf.“ Die größte Düsseldorfer Tageszeitung fand folgenden Kommentar dazu passend: „Hallo!?! Geht’s noch, ihr Kreativ-Köppe? Versöhnung gut und schön, aber dafür das Unwort an Düsseldorfs Einfallstraßen groß zu plakatieren, ist ja ein Schlag ins Gesicht für Düsseldorfs tolerante Jecken“.
== Bilanzen ==
In dem Buch Düsseldorf – Köln aus dem Jahr 2012, dem bisher einzigen wissenschaftlichen Werk, das sich dem Thema der Rivalität zwischen den beiden Großstädten widmet, zieht der Historiker und ehemalige Leiter des Düsseldorfer Stadtarchivs, Clemens von Looz-Corswarem, das Fazit:
Horst A. Wessel (ein gebürtiger Bonner, der zunächst in Köln und dann in Düsseldorf arbeitete) wiederum resümiert die Unterschiede und ihre Folgen:
== Literatur ==
Annette Fimpeler (Hrsg.): Düsseldorf Köln. Eine gepflegte Rivalität. Greven Verlag, Köln 2012, ISBN 978-3-7743-0488-8.
Jens Prüss: Düsseldorf vs. Köln. Köln vs. Düsseldorf. Droste Verlag, Düsseldorf 2010, ISBN 978-3-7700-1391-3.
Horst A. Wessel: Kölner Senf und Düsseldorfer Wasser. Wettbewerb der rheinischen Nachbarn. Heft 3 der Schriftenreihe des Schifffahrt-Museums Düsseldorf. Hrsg. von dem Verein der Freunde und Förderer des SchifffahrtMuseums im Schlossturm e. V., Düsseldorf 2013.
== Weblinks ==
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rivalit%C3%A4t_zwischen_K%C3%B6ln_und_D%C3%BCsseldorf
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Robotron Z 1013
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= Robotron Z 1013 =
Der Robotron Z 1013 ist ein auf dem U880-Mikroprozessor basierender Heimcomputer des VEB Robotron aus der Deutschen Demokratischen Republik, der ausschließlich als Bausatz mit vormontierten Baugruppen erhältlich war.
Die Produktion des Computers wurde ab Mitte 1985 unter anderem mit dem Ziel geplant, die bei der aufwendigen Fertigung integrierter Schaltkreise anfallende Ausschussware mit eingeschränkten Leistungsdaten sinnvoll zu verwerten und zugleich staatliche Forderungen nach „neuartigen Konsumgütern“ zu erfüllen. Der Z 1013 sollte ursprünglich – auch wegen der Qualität der verwendeten Bauelemente – ausschließlich in Privathaushalten zu Hobbyzwecken genutzt werden. Für die industrielle Anwendung als Steuerungsrechner bot man jedoch bald eine spezielle Variante mit reduzierter RAM-Ausstattung und Bauteilen regulärer Qualität („typgeprüft“) an. Aufgrund der gewünscht möglichst geringen Herstellungskosten wurde der Z 1013 als gehäuseloser Einplatinencomputer mit Folientastatur entwickelt, dessen einzelne Baugruppen vom Benutzer endzumontieren waren. Nach dem Einschalten steht dem Anwender zunächst nur ein Minimalbetriebssystem namens Monitorprogramm zur Verfügung. Die Programmiersprache BASIC war nur für Bausatzvarianten mit mindestens 16 KB RAM verfügbar. Ein entsprechender Interpreter wurde als Maschinencode-Listing mitgeliefert und sollte vom Anwender vor der Erstverwendung über die Tastatur eingegeben werden. Für die wiederholte Softwarenutzung unterstützt das Monitorprogramm ein Speichern und Laden von Daten auf Tonband oder Kompaktkassette.
Ab Mitte 1987 fertigte Robotron überarbeitete Ausführungen des Computers nur noch mit regulären Schaltkreisen und zusätzlichem Arbeitsspeicher. Weitere vorgenommene Anpassungen gewährleisteten zusammen mit den ab diesem Zeitpunkt ebenfalls ausgelieferten Erweiterungsbaugruppen eine verbesserte Kompatibilität mit den ebenfalls von Robotron produzierten Kleincomputern Z 9001, KC 85/1 und KC 87.
Zwischen Ende 1985 und Mitte 1990 wurden insgesamt etwa 25.000 Bausätze ausgeliefert.
== Geschichte ==
Trotz des Kalten Krieges und des damit verbundenen Hochtechnologie-Embargos CoCom gelang es 1984, mit Z 9001 und HC 900 in der DDR entwickelte Heimcomputer herzustellen. Die Geräte und ihr Zubehör waren wegen der kleinen Produktionsserien für den großen landesweiten Interessentenkreis jedoch nur schwer zu beschaffen und zudem sehr teuer. Demgegenüber fiel in der Mikroelektronikindustrie aufgrund unausgereifter Produktionsprozesse eine große Anzahl qualitativ minderwertiger Bauelemente an, die in aktuellen Computermodellen nicht einsetzbar waren, aber auch nicht völlig unbrauchbar schienen („Anfalltypen“). Die Verantwortlichen der Herstellerbetriebe forcierten daher die Entwicklung einfacher ausfalltoleranter Lern- und Hobbycomputersysteme, deren Konfiguration die Verwendung vieler dieser Produktionsabfälle erlaubte. Dadurch konnten zum einen die vor den Planungskommissionen zu rechtfertigenden Ausschussquoten bei den Schaltkreisproduzenten gesenkt und zum anderen die Versorgungslücke in der Heimcomputerproduktion zumindest teilweise geschlossen werden. Wie bei den günstigen Schaltkreisen sollte auch bei den restlichen Baugruppen nur das am leichtesten zu Beschaffende und Preiswerteste zum Einsatz kommen. Im Ergebnis wurden insgesamt drei Computerprojekte geplant: der LC 80 mit Taschenrechnertastatur und sechsstelliger Siebensegmentanzeige, der Polycomputer 880 mit achtstelliger Siebensegmentanzeige und der etwas komfortablere Z 1013 mit Bildschirmausgabe.Das von den Initiatoren des Z 1013 angedachte Konzept sah einen gehäuselosen Einplatinencomputer mit Folientastatur vor, dessen puristische Aufmachung bei einem veranschlagten Verkaufspreis von weniger als 1000 M für die Zielgruppe der bastelbegeisterten Elektronik-Amateure als adäquat erschien. Die Entwicklung und Produktion wurde Anfang 1984 dem in der DDR-Computerindustrie etablierten Leiterplattenhersteller VEB Robotron in Riesa übertragen.
=== Entwicklung ===
Die staatlichen Planungsvorgaben für die zumeist jungen Ingenieure und Mitarbeiter der entsprechenden Entwicklergruppe („Jugendforscherkollektiv“) des VEB Robotron in Riesa sahen einen erweiterungsfähigen Einplatinencomputer mit möglichst geringen Material- und Herstellungskosten vor. Zur Senkung der Produktionskosten wurde das Gerät als gehäuseloser Bausatz konzipiert, dessen vorgefertigte Baugruppen durch den Benutzer endzumontieren waren. Die üblicherweise in den DDR-Privathaushalten vorhandene Heimelektronik wie Fernseher und Kassettenrekorder musste durch den Rechner verwendet werden können.Bei der Fertigung sollte ausschließlich auf Anfalltypen bewährter integrierter Schaltkreise aus DDR- bzw. RGW-Produktion zurückgegriffen werden. Die zu entwickelnden Geräte hatten zudem kompatibel zu den ebenfalls von Robotron produzierten Kleincomputern Z 9001 und KC 85/1 zu sein. Diese engen Vorgaben waren nur durch eine Systemarchitektur realisierbar, die auf dem preisgünstigen und einsatzerprobten 8-Bit-Mikroprozessor U880 basierte. Vollwertige Grafik und Anschlussmöglichkeiten für spezielle Peripheriegeräte fielen dem Kostendruck zum Opfer. Die Konzeption des Computers als modulares System sah jedoch die Möglichkeit des Ansteuerns zusätzlicher Peripheriegeräte und beispielsweise den Ausbau des Arbeitsspeichers durch ebenfalls bereitzustellende Erweiterungsmodule vor.Die Entwicklungsarbeiten begannen Mitte 1985. Der erste Prototyp mit einem Arbeitsspeicher von 16 Kilobyte (KB) und Folienflachtastatur wurde im Herbst 1985 den Verantwortlichen vorgestellt und nach dessen Abnahme mit den Planungen und Vorbereitungen für die Serienproduktion begonnen, die bis November 1985 andauerten. Aufgrund der zu verwendenden Anfallbauteile wurde der Systemtakt im Sinne einer höheren Zuverlässigkeit von den im Heimcomputerbereich üblichen 2,5 MHz auf nur 1 MHz gesenkt.
=== Z 1013.01 und Z 1013.12 ===
Die erste Serie von 150 Bausätzen ging im November 1985 in Produktion. Für Privatpersonen waren diese Ende des Jahres ausschließlich nach Vorbestellungen im Fachgeschäft für Heimelektronik des VEB Robotron-Vertriebs Erfurt und in einem Ladengeschäft der volkseigenen Handelsorganisation (HO) in Riesa für 650 M erhältlich. Neben dem Bildausgabegerät und einem Kassettenrekorder war vom Benutzer ebenfalls ein entsprechend dimensioniertes Netzteil bereitzustellen und vor der Inbetriebnahme das Verbindungskabel für die Tastatur auf der Computerplatine anzulöten. Einem breiteren Publikum offiziell vorgestellt wurde der fortan Z 1013.01 genannte Computer erstmals auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1986.Trotz mehrstufiger umfangreicher Prüfungen und mehrtägiger Dauertests in der Produktion führten die verbauten Anfalltypen häufig zu Störungen und damit zu Reklamationen seitens der Benutzer. Die wirtschaftlichen Nachteile durch die aufwendigen Prüfverfahren und nachträgliche Reparaturen konnten durch den günstigen Preis der verwendeten mangelhaften Bauteile nicht länger aufgewogen werden und führten zu einem Umdenken bei den Verantwortlichen. Daraufhin wurde die Produktion ab Juli 1987 auf Verwendung von ohnehin im Preis gefallenen regulären Bauteilen („getypte Bauteile“) umgestellt und durch die damit erreichte höhere Ausfallsicherheit einige technische Veränderungen zur Steigerung der Leistungsfähigkeit vorgenommen.Neben der Versorgung des Heimcomputermarktes mit dem Z 1013.01 wurden bis 1987 auch einige wenige Bausatzexemplare mit der Bezeichnung Z 1013.12 für den industriellen Bereich („gesellschaftliche Bedarfsträger“) gefertigt. Dabei fanden getypte Bauelemente, ein Systemtakt von 2 MHz, 1 KB Bildwiederholspeicher und als Arbeitsspeicher ein SRAM mit einer Kapazität von 1 KB Verwendung.
=== Z 1013.16 und Z 1013.64 ===
Da sich die Unterschiede zwischen Anfalltypen und regulären Schaltkreisen lediglich auf deren Belastbarkeit beschränkten, konnte die 1987 beschlossene Umstellung der Bausätze auf ausschließlich reguläre Bauteile ohne größere Änderungen an der Platine und daher kostensparend vorgenommen werden. Neben der erhöhten Verlässlichkeit verfügt die ab 1987 produzierte Variante Z 1013.16 zudem über einen höheren Systemtakt von 2 MHz, was einer Verdoppelung der Rechenleistung gleichkommt. Daneben wurde die Systemsoftware um entsprechende Programmbestandteile zum Gebrauch mit einer wesentlich komfortableren Blocktastatur mit 58 Tasten ergänzt. Benutzer der älteren Bausätze konnten nach Beschaffung der Bauteile und des modifizierten Betriebssystems ihre Systeme unter Zuhilfenahme eines Lötkolbens ebenfalls aufrüsten.Ein wichtiger Aspekt der vorgenommenen Aufwertungen ist – abgesehen von der verbesserten Verlässlichkeit – bei entsprechender Aufrüstung von Arbeitsspeicher die Herstellung der weitestgehenden Kompatibilität des Z 1013.16 mit den Kleincomputern Z 9001, KC 85/1 und KC 87. Neben der damit verbundenen Nutzbarmachung weiterer Software standen zudem deren Erweiterungsmodule, beispielsweise zur Aufrüstung des Arbeitsspeichers, nun auch den Z-1013-Anwendern zur Verfügung.Durch die zwischenzeitliche Lockerung des CoCom-Embargos und damit fallenden Preisen kam Ende 1988 eine weitere modernisierte Variante der Z-1013-Baureihe hinzu. Dieser Z 1013.64 mit 64 KB Arbeitsspeicher wurde bis zum Produktionsende Mitte 1990 hergestellt.Im Gegensatz zu den Rechnern der Robotron-KC-Baureihe war der Z 1013 auch für Privatanwender – allerdings nur nach Vorbestellung, langer Wartezeit und persönlicher Abholung nebst Einweisung in Erfurt oder Riesa – erhältlich. Ursächlich für den eingeschränkten Vertrieb war die Weigerung des staatlichen Handels, den Z-1013-Bausatz zu vertreiben, mit der Begründung, dass ein Bastelgerät bei der Bevölkerung auf wenig Interesse stoßen werde. Zwischen Ende 1985 und Mitte 1990 wurden zusammen insgesamt etwa 25.000 Bausätze aller Ausführungen ausgeliefert.
=== Moderne Nachbauten ===
Die einfache und überschaubare Architektur des Systems, umfangreiche Dokumentationen des Herstellers und nicht zuletzt die freie Verwendbarkeit der Systemsoftware ermöglichen den miniaturisierten Nachbau des Z 1013 mit heutigen technischen Mitteln bei gleichzeitig überschaubarem Aufwand. Eine solche moderne Realisierung erfolgte erstmals 2013 – wie bei anderen Heimcomputersystemen auch – als Implementierung auf einem programmierbaren Logikschaltkreis (FPGA) nebst Einbettungssystem. Die Nachbildung mittels FPGA-Technologie war zunächst lediglich als technische Machbarkeitsstudie gedacht, stellte jedoch im Nachhinein auch ihren praktischen Nutzen unter Beweis: Durch die Miniaturisierung und die Möglichkeit des Batteriebetriebs ist sie eine leicht verstaubare, zuverlässig arbeitende und transportable Alternative zur originalen schonenswerten Technik.
== Technische Details ==
Die von Robotron vollständig bestückte Platine enthält den Hauptprozessor (englisch Central Processing Unit, kurz CPU), den Arbeits- und Festwertspeicher, die Bildschirmansteuerung und mehrere Peripherieanschlüsse. Zum Lieferumfang des Bausatzes gehörten neben der Hauptplatine im Format 215 mm × 230 mm die 80 mm × 160 mm messende Folienflachtastatur nebst Anschlusskabel, diverse Kleinteile und die Dokumentationen. Die zum Gerät erhältliche – separat zu erwerbende – technische Dokumentation des Herstellers umfasste beim Modell Z 1013.01 eine Bedienungsanleitung, drei Handbücher und vier Schaltpläne. Erläutert wurden sowohl grundlegende Schritte zur Inbetriebnahme und Benutzung des Z 1013 als auch Details der Hard- und Software.
=== Hauptprozessor ===
Die Systemarchitektur basiert auf dem U880-Mikroprozessor, der in fast allen zeitgenössischen DDR-Computern eingesetzt wurde. Dieser nicht autorisierte Nachbau des Z80-Mikroprozessors von Zilog kann auf einen Adressraum von 65.536 Byte zugreifen, was auch die theoretisch mögliche Obergrenze des Arbeitsspeichers von 64 Kilobyte (KB) festlegt. Beim erstproduzierten Z 1013.01 kam eine mit nur 1 MHz getaktete Variante des U880 mit eingeschränkten Bauelementedaten („Anfalltyp“) zum Einsatz. Bei den übrigen Modellen war ein vollwertiger und mit 2 MHz getakteter U880-Mikroprozessor verbaut. Aus praktischen Gründen ist es üblich, für Adressen anstelle der dezimalen Notation die hexadezimale zu verwenden. Dieser wird zur besseren Unterscheidbarkeit üblicherweise ein $-Symbol vorangestellt. Den Adressen von 0 bis 65.535 in dezimaler Notation entsprechen im hexadezimalen System die Adressen $0000 bis $FFFF.
=== Speicher und Speicheraufteilung ===
Der von der CPU ansprechbare Adressraum ist segmentiert in Bereiche für die Systemsoftware, frei verwendbaren Arbeitsspeicher, steckbare Erweiterungen und den Grafikspeicher. Die häufig einfach als Maschinensprachemonitor bezeichnete Systemsoftware ist je nach Computerversion auf entweder 2 KB oder 4 KB großen ROM-Bausteinen untergebracht, deren Speicheradressen von $F000 bis $F7FF bzw. $FFFF reichen. Zum Zwischenspeichern nutzt die Systemsoftware nach Einschalten des Computers zusätzlich den Anfangsbereich des Arbeitsspeichers von $0000 bis $0100, so dass dieser für den Benutzer nicht ohne weiteres zur freien Verfügung steht.
Die Adressen des frei verwendbaren Arbeitsspeichers von nahezu 16 KB RAM reichen beim Z 1013.01 und Z 1013.16 von $0100 bis $3FFF. Ist das System um zwei RAM-Module mit je 16 KB RAM erweitert, wird dieser Speicherbereich bis zur Adresse $E000 ausgedehnt. Beim mit 64 KB RAM ausgeliefertem Z 1013.64 reicht er bis zum für die Bilddarstellung benötigten Videospeicher, der sich ab $EC00 anschließt und bis $EFFF erstreckt. Zur Programmierung des Computers sind die gewünschten Sprachen wie zum Beispiel das 3 KB umfassende Tiny BASIC oder das mit 10 KB wesentlich umfangreichere Kleincomputer BASIC des KC 87 zuvor von Kassette in den Arbeitsspeicher zu laden. In der Grundausstattung mit 16 KB RAM stehen damit zum Beispiel nach dem Laden von Tiny BASIC etwa 12 KB RAM zum Erstellen von BASIC-Programmen zur Verfügung, so dass sich für umfangreichere Programmierprojekte eine Speicheraufrüstung empfiehlt. Befindet sich die Programmiersprache dagegen auf einem Steckmodul, so bleibt der verwendbare Arbeitsspeicher beim Z 1013.01 und Z 1013.16 davon unberührt.
=== Grafikerzeugung ===
Zur Ausgabe von Grafik beinhalten die Computer ab Werk lediglich einen Zeichengenerator, der Text beziehungsweise Grafiksymbole („Quasigrafik“) mit 32 × 32 Zeichen à 8 × 8 Bildpunkten darstellen kann. Der dazu benötigte, im Festwertspeicher befindliche feste Zeichensatz enthält 96 alphanumerische und Steuerzeichen sowie 146 grafische Symbole. Ein Pixelgrafikmodus („Vollgrafik“) steht standardmäßig nicht zur Verfügung, kann aber im Selbstbau ergänzt werden. Entsprechende Anleitungen wurden in verschiedensten Zeitschriften und Büchern bis in die frühen 1990er Jahre hinein publiziert. Die Schwarzweiß-Bildausgabe erfolgt über den koaxialen HF-Antennenanschluss an einem handelsüblichen Fernsehgerät; Umrüstungen auf Farbdarstellung sind möglich.
=== Ein- und Ausgabe ===
Zum Anschluss von Peripherie verfügen die Rechner über einen „User-Port“, der vom verbauten Ein- und Ausgabebaustein U855 (englisch Parallel Input Output kurz PIO) angesteuert wird. Der Betrieb der Tastatur und des anzuschließenden Kassettenrekorders erfolgt ebenfalls durch diesen elektronischen Schaltkreis. Im Falle des Z 1013.01 handelt es sich dabei – wie bei dessen CPU auch – um einen Anfalltypen. Für Erweiterungen beispielsweise des Arbeitsspeichers steht der herausgeführte Systembus mit seinem genormten Steckanschluss („Buserweiterung“) bereit.
== Peripherie und Erweiterungen ==
Neben den von Robotron vertriebenen Erweiterungen existieren weitere, die großteils in gedruckten Publikationen vorgestellt wurden. Im Folgenden sollten lediglich die bekanntesten vorgestellt werden.
=== Massenspeicher ===
Bei westlichen Heimcomputern der 1980er-Jahre kamen zur Datensicherung hauptsächlich Kassettenrekorder und Diskettenlaufwerke, im professionellen Umfeld bei den Personalcomputern immer häufiger auch Fest- und Wechselplattenlaufwerke zum Einsatz. Die preisgünstigste Variante der Datenaufzeichnung durch Kompaktkassetten hat den Nachteil geringer Datenübertragungsraten und damit langer Ladezeiten, wohingegen die wesentlich schnelleren und verlässlicheren Disketten- und Plattenlaufwerke sehr viel teurer in der Anschaffung waren oder im Falle der DDR kaum erhältlich waren. Bei Erscheinen des Z 1013 standen zur Datenaufzeichnung lediglich Kassettenrekorder und Tonbandsysteme zur Verfügung. Anschlussmöglichkeiten für Diskettenlaufwerke kamen erst in der Nachwendezeit auf.
==== Kassettenrekorder ====
Die Z-1013-Computer verfügen zur Speicherung von Daten über einen Anschluss für einen handelsüblichen Kassettenrekorder. Häufig zum Einsatz kamen dabei Geräte kleineren Ausmaßes, wie etwa die Typen Geracord, Datacord und später LCR-C DATA des Herstellers VEB Elektronik Gera. Die maximale Datenübertragungsrate beträgt 1.200 Bit/s.
==== Diskettensysteme ====
Ein Diskettensystem war von den Robotron-Entwicklern des Z 1013 aufgrund seiner niedrigen wirtschaftlichen Priorität nicht geplant, zumal entsprechende Ansteuerungselektronik bis 1987 teuer importiert werden musste. Mit dem Erscheinen des DDR-eigenen Schaltkreises U8272, einem Nachbau des von Intel entwickelten Floppy-Disk-Controllers P8272A, wurden zugleich auch Anregungen und grundlegende Vorgehensweisen zum Eigenbau von Diskettensystemen für die DDR-Heimcomputer publiziert. Der in der DDR vorherrschende Mangel insbesondere im Bereich der Laufwerksmechaniken machte deren Beschaffung und damit den Aufbau eines Diskettensystems für den volkswirtschaftlich unbedeutenden Z 1013 nahezu unmöglich, so dass Bauanleitungen erst in der Nachwendezeit veröffentlicht wurden.
In der Zeitschrift Funkamateur wurde Mitte 1992 eine einfache Möglichkeit zum Betrieb der Commodore-1541-II-Floppy mit dem Z 1013 vorgestellt. Pro Diskettenseite können damit 170 KB Daten gespeichert werden. Das Aufzeichnungsformat ist mit dem der Commodore-Rechner kompatibel, so dass die Daten beider Systeme ohne weiteres untereinander austauschbar sind.
=== Baugruppenträger und Stromversorgungsmodul ===
Die Computer sind aufgrund ihrer minimalistischen Hardwareausstattung lediglich für die Bearbeitung einfachster Aufgaben einsetzbar. Weitergehende Projekte und Anwendungen erfordern Aufrüstungen und Erweiterungen. Eine besondere Rolle spielt dabei der Baugruppenträger Z 1013.50, der vier Erweiterungsschächte nebst entsprechender Ansteuerungselektronik zur Verfügung stellt. Einer dieser Schächte wird jedoch permanent vom Stromversorgungsmodul Z 1013.40 belegt, denn das vom Hersteller für den Z 1013 empfohlene Netzteil ist nicht für den Betrieb zusätzlicher Baugruppen ausgelegt. Alle Schächte des Baugruppenträgers sind steckerkompatibel zu den Erweiterungen der Computer Z 9001, KC 85/1 und KC 87, wobei deren Module zur Verwendung häufig geringfügig modifiziert werden müssen. Soll der Baugruppenträger mit dem Computer Z 1013.64 betrieben werden, sind an beiden jeweils Änderungen vorzunehmen.
=== Speichererweiterungen und zusätzliche Schnittstellen ===
Zur Aufrüstung des Arbeitsspeichers empfiehlt der Hersteller den Einsatz von RAM-Modulen der Rechner Z 9001, KC 85/1 und KC 87. Daneben existiert ein frei bestückbares ROM-Modul von Robotron, auf dem bis zu vier EPROMs jeweils mit einer Speicherkapazität von 1, 2 oder 4 KB Platz finden. Bei beiden Erweiterungsmodulen muss der Adressbereich, in dem sie jeweils eingeblendet werden sollen, zuvor per DIP-Schalter eingestellt werden. Die Nachrüstung von zusätzlichen Ansteuerungsmöglichkeiten erfolgt mit dem Modul Z 1013.30, das drei frei verwendbare Eingabe-/Ausgabeports und eine V.24-Schnittstelle zum Betrieb beispielsweise von Druckern bereitstellt.Neben den von Robotron vertriebenen Modulen existieren Lösungen von Dritten, die auch in größerer Stückzahl hergestellt wurden und häufig als Massenspeicherersatz in Form einer RAM-Disk dienten. Die am weitesten verbreitete Version stammt vom VEB Präcitronic und enthält 256 KB Arbeitsspeicher, wovon 64 KB als Hauptspeicher und 192 KB als umschaltbare Speicherbank dienen. Mit entsprechend modifizierter Systemsoftware kamen solche RAM-Disks häufig als Massenspeicherersatz zum Einsatz.
=== Tastatur- und Joystickanschluss ===
Das Flachbandkabel der im Bausatz enthaltenen Folienflachtastatur musste vom Anwender vor dem Ersteinsatz an die Computerplatine gelötet werden. Die Tasten sind in 8-mal-4-Matrix alphabetisch angeordnet, wobei die Folienschalter wenig sensitiv sind und zum Prellen neigen. Ein effizientes Arbeiten ist nahezu unmöglich. Schon bald wurden durch viele Benutzer Alternativen gewünscht und auch entwickelt. Als Standardlösung zum Anbinden komfortablerer Tastaturen mit QWERTZ-Anordnung setzte sich der 1988 in der Zeitschrift MP Mikroprozessortechnik einem breiten Publikum vorgestellte Brosig-Monitor mit Bauanleitung für eine entsprechende Hardwareanbindung durch. Neben zusätzlichen Dienstprogrammen und der Abwärtskompatibilität zur Systemsoftware von Robotron bietet der 4 KB umfassende Brosig-Monitor zudem die Möglichkeit, Joysticks benutzen zu können.Mit Hilfe einer separat erhältlichen Zusatzbaugruppe können beim Z 1013.64 auch Tastaturen mit 58 Tasten, wie sie mit den meisten DDR-Bürocomputern ausgeliefert wurden, betrieben werden.
=== Grafikbaugruppen ===
Der Verbesserung der grafischen Fähigkeiten wurden in Zeitschriften und Broschüren diverse Beiträge gewidmet. Diese enthalten Anleitungen zum Bau verschiedener Erweiterungen unterschiedlichen Umfangs und auch Hinweise zum käuflichen Erwerb bereits vorgefertigter Lösungen. Das Spektrum reicht dabei von verbesserten Zeichensatzlösungen (vom Computerclub Jena entwickelte Grafikkarte GDC mit 80 mal 25 Zeichen) über monochrome hochaufgelöste Pixelgrafik (256-mal-256-Lösung KRT-Grafik in Kleinstrechner-TIPS 11 und 256-mal-192-Karte Spectrum-Grafik in der Zeitschrift Practic) bis zu Vorschlägen von mehrfarbigen hochaufgelösten Varianten (384-mal-288-Karte VIS3 mit 16 Farben von der Akademie der Wissenschaften). Robotron selbst bot keine derartigen Aufrüstungen an.
== Software ==
Bei der existierenden Software handelt es sich überwiegend um Eigenentwicklungen aus der DDR. Maschinennahe Portierungen von Programmen westlicher Z80-basierter Heimcomputersysteme waren aufgrund technischer Unterschiede in der Regel sehr aufwändig. Am einfachsten gestaltete sich der Programmaustausch und die entsprechende Anpassung von Software mit den Rechnern der Reihe Z 9001, KC 85/1 und KC 87.
Die Verbreitung von Software sowie der Austausch von Erfahrungen erfolgten vor allem durch private Kontakte sowie über Zeitungsanzeigen, auf Messen, durch Abdruck von Programmen in Zeitschriften und durch Ausstrahlung im Rundfunk, wie beispielsweise in der Hörfunksendung Rem. Von staatlicher Seite wurde die Erstellung von Software beispielsweise über die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) mit ihrer Sektion Computersport gefördert. Häufig zählte die GST auch zu den Ausrichtern von Treffen und Tagungen.
Beschränkungen der Weitergabe durch Urheberrechtsschutz oder Kopierschutzmechanismen existierten praktisch nicht. Vielmehr wurde die kostenlose Weitergabe von Software („Amateur-Software“) gefördert und auf entsprechenden Tagungen bestätigt. Für den Z 1013 wurden mehr als 500 Programme und Hardware-Erweiterungen erarbeitet und publiziert.
=== Systemprogramme ===
Zur Konfiguration der Computer-Hardware, zum Ansteuern der Kassettenschnittstelle sowie zum Eingeben und Auslesen von Speicheradressen dient das im Festwertspeicher der Geräte enthaltene Betriebssystem Monitorprogramm 2.02 bei Z 1013.01, Z 1013.12 und Z 1013.16 beziehungsweise Monitorprogramm A.2 bei Z 1013.64. Die Systemsoftware des Z 1013.64 ermöglicht den nachträglichen Anschluss einer komfortableren Tastatur mit 58 Tasten, im Gegensatz zu denen früherer Z-1013-Modelle, die maximal 32 Tasten umfassen.Neben Robotrons Monitorprogrammen existiert weitere Systemsoftware von Drittanbietern, die der Benutzer mit Hilfe von EPROMs aufrüsten kann. Hierbei hervorzuheben ist insbesondere der 1987 vorgestellte und nachfolgend weitverbreitete Brosig-Monitor, der zur Systemsoftware von Robotron abwärtskompatibel ist. Neben nützlichen Dienstprogrammen bietet der 4 KB umfassende Brosig-Monitor unter anderem die Möglichkeit, die Computermodelle Z 1013.01 und Z 1013.16 mit komfortableren Tastaturen und mit Joysticks zu betreiben.Bei Computermodellen, die über eine RAM-Disk verfügen, ist der Betrieb mit der CP/M-basierten Systemsoftware SCP möglich. Damit werden einige Programme aus der umfangreichen SCP-Bibliothek auch für die Z-1013-Rechner zugänglich.
=== Programmiersprachen und Anwendungen ===
Aufgrund der eingeschränkten Grafik- und Tonerzeugungsmöglichkeiten wurden die Z-1013-Rechner hauptsächlich zum Programmieren und für Anwendungen wie Textverarbeitung eingesetzt. Daneben existieren einige Spiele, die mit einfarbiger Grafik und ohne Tonuntermalung auskommen, wie beispielsweise die Schachprogramme Chess-Master und Cyrus-Chess.
Zur Programmierung des Z 1013 stehen verschiedene Programmiersprachen und Hilfsmittel zur Verfügung. Neben Assemblern (Assembler 5.3 Scf, Editor / Assembler EDAS) sind höhere Programmiersprachen wie die auf der Programmkassette M 0111 enthaltenen Tiny-BASIC und Kleincomputer BASIC aber auch BASICODE, Forth und Pascal verfügbar.
== Gerätespezifische Literatur ==
Der Bausatz wurde ab Werk mit einer umfangreichen, gedruckten Dokumentation ausgeliefert. Diese beschreibt einerseits detailliert Hardware und Monitorprogramm, enthält andererseits weitere Software in Form von Maschinencode- und Basiclistings.
Spezielle Zeitschriften für den Z 1013 oder DDR-Kleincomputer im Allgemeinen gab es nicht. Viele Zeitschriften wie beispielsweise Funkamateur, Jugend + Technik, MP Mikroprozessortechnik und Practic veröffentlichten regelmäßig Neuigkeiten, Berichte, Bastelanleitungen zum Selbstbau von Zusatzhardware oder die Auf- und Umrüstung der Rechner sowie Programme zum Abtippen. Hannes Gutzer und Gerd Hutterer verfassten eine Broschüre BASIC mit dem Z 1013, die der VEB Robotron-Elektronik Riesa herausgab.
Auch nach der deutschen Wiedervereinigung wurde innerhalb der Anhängerschaft von DDR-Rechentechnik der Interessenaustausch in Publikationen geringer Auflage und ab den späten 1990er-Jahren zudem in Internetforen weiter gepflegt, bis hin zur Erstellung von entsprechenden Emulatoren.
== Emulation ==
Nach dem Ende der Heimcomputerära Anfang der 1990er-Jahre und mit dem Aufkommen leistungsfähiger und erschwinglicher Rechentechnik Mitte der 1990er-Jahre wurden von engagierten Enthusiasten verstärkt Programme zum Emulieren von Heimcomputern und deren Peripherie entwickelt. Zum Spielen alter Klassiker verschiedenster Heimcomputersysteme reicht mit Hilfe der Emulatoren ein einzelnes modernes System mit Datenabbildern („Images“) der entsprechenden Heimcomputerprogramme. Das Aufkommen der Emulatoren setzte damit unter anderem ein verstärktes Transferieren von sonst möglicherweise verlorengegangener Software auf moderne Speichermedien in Gang, womit ein wichtiger Beitrag zur Bewahrung digitaler Kultur geleistet wird.Zur Emulation der DDR-Kleincomputer, insbesondere auch des Z 1013, wurde das unter Windows und Linux lauffähige Emulatorpaket JKCEMU entwickelt.
== Rezeption ==
=== Zeitgenössisch ===
Von den staatlich kontrollierten Zeitschriften wie beispielsweise Radio Fernsehen Elektronik und Funkamateur wurde das Erscheinen des Rechners begrüßt: „Als hardwarenah, preisgünstig und gut dokumentiertes System“ sei er bestens für „experimentelles Aneignen von Fähigkeiten auf dem Gebiet der angewandten Mikrorechnertechnik“ geeignet. Zugleich kritisierte man jedoch das anfänglich zum Z 9001 und KC 85/1 inkompatible BASIC, Inkompatibilitäten der Kassettenrekorderansteuerung bei den unterschiedlich getakteten Varianten und vor allem die für umfangreichere Texteingaben unbrauchbare Folienflachtastatur als „die Schwachstelle des Z 1013“. Insgesamt wurde der Z 1013 als brauchbares Gerät „für Elektronikamateure, Anfänger und Fortgeschrittene, Funkamateure sowie gesellschaftliche Bedarfsträger aus Lehre und Ausbildung“ eingestuft.Die Beliebtheit der Rechner in der Bevölkerung manifestierte sich in einer Vielzahl organisierter Computerclubs mit häufig stattfindenden lokalen Treffen bis hin zu gut frequentierten nationalen Tagungen, die alljährlich abgehalten wurden und beispielsweise zum Tauschen von Software, Erfahrungen und dem Festlegen von Programmierstandards dienten.
=== Retrospektiv ===
In jüngerer Zeit werden die in der DDR entwickelten und produzierten Rechner, darunter insbesondere Kleincomputer und Videospielautomaten, wieder verstärkt in den Medien – allen voran im Internet – wahrgenommen und auch in speziellen Museen ausgestellt. Dabei wird der Z 1013 als an westliche Einplatinencomputer angelehnte Eigenentwicklung charakterisiert, obwohl es sich bei vielen elektronischen Einzelkomponenten wie etwa dem U880-Mikroprozessor um die Kopie des westlichen Z80-Mikroprozessors von Zilog handelt. Im Gegensatz zu den DDR-Kleincomputern aus Dresden und Mühlhausen war der Z 1013 „in offener Bauart in verschiedenen Varianten als Konsumgut über den gesamten Produktionszeitraum erhältlich, ohne jedoch den Bedarf decken zu können.“ Die mit der geschichtlichen Aufarbeitung der Robotron-Rechentechnik befasste Arbeitsgemeinschaft in den Technischen Sammlungen Dresden charakterisiert das Verbreitungsumfeld des Z 1013 wie folgt:
Auch wenn der Bausatz in der DDR sehr beliebt war, betrug der technologische Rückstand der Computer gegenüber den Produkten westlicher Industrieländer zum Zeitpunkt ihres Erscheinens stets etwa drei bis fünf Jahre: als die Produktion des Z 1013 in der DDR aufgenommen wurde, waren im westlichen Ausland bereits wesentlich leistungsfähigere Systeme für Privathaushalte erhältlich. Nach der Wende „entwickelte sich wegen Nachfragerückgangs ein Überangebot, trotz erheblicher Verkaufspreisreduzierung 1989 und 1990. Eine Fortsetzung der Produktion des Z 1013 war 1990 in Anbetracht des erwarteten Angebotes anderer westlicher Konkurrenzprodukte nicht mehr rentabel“, woraufhin die Produktion des Z 1013 Mitte 1990 eingestellt und die sich im Lager befindlichen Restgeräte der Verschrottung zugeführt wurden.
== Literatur ==
Klaus-Dieter Weise: Erzeugnislinie Heimcomputer, Kleincomputer und Bildungscomputer des VEB Kombinat Robotron. UAG Historie Robotron der Arbeitsgruppe Rechentechnik in den Technischen Sammlungen Dresden, Dresden 2005, (PDF; 590 KB).
== Weblinks ==
Volker Pohlers’ Webseite zum Z 1013 mit vielen Fotos, technischen Details und Programmen
Ulrich Zanders Webseite zum Z 1013 mit vielen Informationen, Schaltplänen und modernen Erweiterungen
Literaturverzeichnis zum Z 1013
JKCEMU Ein Emulator für aktuelle Windows- und Linux-Systeme
Webseite des Fördervereins für die Technischen Sammlungen der Stadt Dresden e. V.
== Anmerkungen und Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Robotron_Z_1013
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Auslaufzone
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= Auslaufzone =
Als Auslaufzone wird eine unbebaute Fläche einer Rennstrecke bezeichnet, die neben der eigentlichen Fahrbahn liegt. Sie soll ein passives oder aktives Stoppen eines außer Kontrolle geratenen Rennfahrzeuges ermöglichen, bevor es zu einer schweren Kollision kommt – ähnlich einer Notfallspur im öffentlichen Straßenverkehr. Bei planmäßiger Funktion schützen diese im Regelfall bis zu 100 Meter breiten Zonen die Fahrer, Streckenmitarbeiter und Zuschauer vor Verletzungen und verhindern größere Beschädigungen an den Fahrzeugen. Vor allem bei Motorradrennen wird eine Auslaufzone auch Sturzraum genannt; dafür gibt es auf dem Indianapolis Motor Speedway sogar eine 240 Meter breite Fläche.
== Geschichte ==
Im ursprünglichen Rennstreckenbau waren Auslaufzonen nicht üblich. Häufig standen sogar die Zuschauer unmittelbar an der Fahrbahn, nach heutigen Erkenntnissen und Standards absolut ungenügend nur durch Strohballen, Absperrdrähte oder Holzzäune vom Renngeschehen getrennt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders nach den schweren Unfällen 1952 auf dem Grenzlandring (13 oder 14 Tote) und 1955 beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans (84 Tote) wurden Sicherheitsfragen bei Motorsportbehörden, Rennveranstaltern und Streckenbetreibern allmählich zum Thema. Die Möglichkeiten zur Verringerung des Risikos waren allerdings vor allem bei den damals noch verbreiteten temporären Stadt- und Straßenkursen durch räumliche und finanzielle Einschränkungen begrenzt. Auf Land- und Nationalstraßen, wie sie etwa für die Rennstrecke Rouen-les-Essarts in Frankreich genutzt wurden, gab es kaum Platz zur Einrichtung von Auslaufzonen. Hier führte die Fahrbahn teilweise ohne Sicherung direkt an Bäumen oder Gebäuden vorbei; besonders augenfällig auch bei den ursprünglichen, langen Streckenversionen von Reims-Gueux in Frankreich und Spa-Francorchamps in Belgien. Damit kamen langfristig nur permanente Kurse für größere Sicherheitsumbauten in Frage. Häufig fehlte es den Verantwortlichen aber auch hier anfangs an der Bereitschaft zu Verbesserungen, sodass es noch viele Jahre lang zu zahlreichen Unfällen mit getöteten Fahrern und Zuschauern kam. So starben beim tödlichen Unfall des deutschen Grand-Prix-Fahrers Wolfgang Graf Berghe von Trips im September 1961 in Monza auch 15 Rennbesucher, die nur durch einen niedrigen Wall und einen kleinen Drahtzaun von der Strecke getrennt waren und vom fast ungebremsten Unfallfahrzeug getroffen wurden.
=== Erste Auslaufzonen ===
Das wachsende Sicherheitsbedürfnis von prominenten Rennfahrern wie Jackie Stewart und Jacky Ickx, Veranstaltern und Zuschauern sowie die immer höheren Geschwindigkeiten ab den 1960er-Jahren – vor allem in der Formel 1 – zwangen die Rennstreckenbesitzer jedoch zunehmend zum Bau von Auslaufzonen. Pioniere dieser Entwicklung waren unter anderem die Rennfahrer Henri Pescarolo und Jean-Pierre Beltoise als Planer des Circuit Paul Ricard 1970 in Frankreich und der niederländische Rennstreckendesigner Hans Hugenholtz mit der Anlage von Nivelles-Baulers 1971 in Belgien. Hugenholtz hatte sich schon in den 1960er-Jahren mit den Entwürfen der Formel-1-Rennstrecken von Suzuka (Japan), Zolder (Belgien), Jarama (Spanien) und des Hockenheimring-Motodroms hervorgetan. Außerdem führte er die sogenannten „Fangzäune“ im Motorsport ein, flexible Zaunkonstruktionen, die von der Strecke abgekommene Rennwagen abbremsen konnten. Diese zum Teil in mehreren Reihen hintereinander aufgestellten Drahtzäune reichten aber später nicht mehr aus und wurden im Lauf der Zeit durch breite Auslaufzonen ergänzt oder ersetzt. Anfangs wurden diese Bereiche fast ausschließlich mit Rasen, Sand oder Kies belegt, ab den späten 1990er-Jahren aber zunehmend asphaltiert und zum Teil erheblich verbreitert. Vorreiter war hier bereits 1975 der Circuit de Dijon-Prenois in Frankreich: Beim Umbau mit Verlängerung der Strecke wurden große Teile der Auslaufzonen auf beiden Seiten der Fahrbahn betoniert oder asphaltiert. Allerdings ersetzen noch bis in die heutige Zeit hinein einige Streckenbetreiber die nach älteren Methoden gebauten Zonen durch Asphaltbeläge, so etwa 2007 in Monza.
=== Das Aus für ältere Strecken ===
Die zunehmend akzeptierte Notwendigkeit von Auslaufzonen hatte ab den 1970er-Jahren erheblichen Einfluss auf die Länge und Bauart der älteren Kurse; zum Teil führte sie auch zur völligen Aufgabe von Strecken, wenn ein Umbau nicht möglich oder rentabel erschien. So wurden etwa die Streckenverläufe von Spa-Francorchamps 1979 von über 14 auf rund 7 Kilometer und des Circuit de Charade 1989 von rund 8 auf knapp 4 Kilometer halbiert, weil nur eine derart drastisch verkürzte Strecke ausreichend sicher gestaltet werden konnte. Zu den Kursen, die komplett geschlossen wurden, gehörten unter anderem die Solitude-Rennstrecke bei Stuttgart 1966, Reims-Gueux 1972, der Masaryk-Ring (damals Tschechoslowakei) 1986, Rouen-les-Essarts 1993 und die AVUS in Berlin 1998.Es gibt nur noch wenige permanente Rennstrecken, die nicht oder nur unzureichend über Auslaufzonen verfügen, etwa die Nordschleife des Nürburgrings. Meist gelten diese Pisten inzwischen als zu unsicher für den modernen Rennbetrieb. So erließ das französische Innenministerium im Mai 2006 ein Dekret zur Verbesserung der Sicherheit von Rennstrecken, das bei der Mehrzahl der Kurse in Frankreich umfangreiche Umbauten zur Folge hatte. Auch die Betreiber der zahlreichen kleinen, privaten Teststrecken mussten bis zum Saisonbeginn 2007 teilweise Streckenführungen ändern oder Rodungen vornehmen, um die von neuen gesetzlichen Normen vorgegebenen größeren Auslaufzonen bauen zu können. Die Verwendung von Asphaltstreifen wurde jedoch nicht vorgeschrieben, sodass es meist bei Kiesbetten blieb. Anlagen wie die Strecke von Mas du Clos in der Auvergne, bei der die – mit rund 2 Millionen Euro veranschlagten – erforderlichen Umbauten 2007 noch nicht erfolgt waren, verloren die Betriebsgenehmigung und waren somit akut von der Schließung bedroht.
== Aufbau ==
=== Grundsätzliche Techniken ===
Auslaufzonen werden sinnvollerweise im Bereich der Außenseiten von Kurven und Schikanen eingerichtet und schließen meist direkt an die Curbs am Streckenrand an. Im Idealfall haben sie eine leichte Überhöhung, die den Bremseffekt verstärkt. Moderne Auslaufzonen beginnen mit einem ein bis fünf Meter breiten „Grünstreifen“ aus Gras, Kunstrasen, einem Teppichboden-artigen Belag oder lackiertem Beton. Dieser – offiziell noch nicht als Auslaufzone, sondern sinngemäß als „Bankett“ (englisch: verge) bezeichnete – Streifen soll unter anderem durch seinen geringen Reibungskoeffizienten ein absichtliches Überfahren verhindern, da hier ein Fahrzeug schnell die Bodenhaftung verlieren und außer Kontrolle geraten kann. Daran schließt eine Fläche mit rund vier Zentimeter starker, „heiß eingebauter“ Asphaltbeton-Deckschicht an. Mit der Beimischung von genau berechneten Kalk- und Sandstein-Staub-Anteilen sowie chemischer Zusatzstoffe wird dabei eine feinere Mikrorauigkeit und durch den damit verstärkten Verzahnungseffekt zwischen Reifengummi und Asphalt ein höherer Reibwert als beim normalen Fahrbahnbelag erreicht. Diese Asphaltfläche mündet bei einigen Strecken in ein mindestens vier Meter breites und etwa 25 Zentimeter tiefes Kiesbett. Dies besteht nach den Vorgaben des Internationalen Automobil-Dachverbandes FIA aus kugelförmigen Steinen mit einem Durchmesser zwischen 5 und 16 Millimeter. Am Ende des Kiesbetts wird ein mindestens ein Meter hoher Stapel aus zwei bis sechs Reihen von miteinander verschraubten Autoreifen aufgestellt. Die vorderste Reihe sollte dabei mit einer mindestens 12 Millimeter dicken Gummiplane zur Strecke hin abgedeckt werden, um ein Durchbrechen oder Einhaken des Fahrzeugs in den Reifenstapeln zu verhindern. So präparierte Konstruktionen können bis zu 80 % der Aufprallenergie absorbieren. Dahinter wird die Auslaufzone mit einer Mauer oder einer Leitplanke mit aufgesetztem Schutzzaun begrenzt, um Kollisionen mit Fahrzeugen auf benachbarten Streckenteilen und eine Gefährdung von Zuschauern und Streckenposten – auch durch weggeschleuderte Fahrzeugteile – zu verhindern.
Auf sehr schnellen Strecken oder an Stellen, bei denen keine ausreichend große Auslaufzone gebaut werden kann, wird seit 2006 eine Weiterentwicklung getestet: Die High Speed Barrier (dt.: „Hochgeschwindigkeits-Barriere“), eine dreischichtige Kombination aus Polyethylen-Schaumblöcken, mehrlagigen Reifenstapeln und einer Begrenzungsmauer oder Leitplanke. Diese rund vier Meter breite Konstruktion wurde erstmals beim Großen Preis von Italien in Monza eingesetzt.
==== Unechtes Kiesbett ====
Beim Großen Preis der Niederlande 2022 in Zandvoort testete die FIA, bzw. die Formel 1 erstmalig eine neue Variante der Streckenbegrenzung. Da besonderes beim Rennen 2021 viel Kies durch Verlassen der Strecke auf die Fahrbahn transportiert wurde, testete man 2022 in der Kurve 12 im realen Rennbetrieb ein sogenanntes Unechtes Kiesbett. Hierbei wird ein 1-Meter-breiter Kiesstreifen direkt neben den Curbs mit Kunstharz gebunden. Diese Fläche ist rutschiger und holpriger ausgelegt als die Fahrbahn und soll so das Abkürzen unattraktiv machen und gleichzeitig losen Kies auf der Fahrbahn reduzieren.
=== Asphalt bevorzugt ===
Obwohl es dazu keine ausdrückliche Vorschrift gibt, sondern nur eine Empfehlung der FIA, sind reine Kiesbetten vor allem auf Formel-1-Rennstrecken nur noch an wenigen Stellen vorhanden. Diese können generell durch den hohen Reibwert zwar ein Fahrzeug schnell abbremsen, aber auch zum Eingraben und damit zum Ausscheiden des Rennwagens führen. Allerdings rutschen Rennwagen mit geringer Bodenfreiheit (teilweise unter fünf Zentimeter) und glatten Unterböden unter Umständen auch weitgehend ungebremst über die Kieselsteine hinweg. Bei Kies-Auslaufzonen muss deshalb mehr Platz bis zur nächsten Leitplanke oder Mauer als bei asphaltierten Flächen eingeplant werden. In einigen Fällen gab es durch Kiesbetten auch schon gefährliche Überschläge, weil sich eine Fahrzeugseite im Kies eingegraben hatte und es so zu einem Drehmoment kam, das zum Aufkippen des Fahrzeugs führte. Überrollbügel von Monoposti können bei einem Überschlag in den relativ weichen Untergrund einsinken und so keinen ausreichenden Schutz des Fahrerkopfes mehr gewährleisten.
Reine Gras-Auslaufzonen werden wegen ihres geringen Reibwertes (vor allem bei Nässe) nicht mehr gebaut, ebenso wenig Betonflächen, die noch auf einigen älteren Strecken wie in Dijon-Prenois zu finden sind. Als nicht stabil genug erwies sich bei den Auslaufzonen der 2004 eröffneten Rennstrecke Bahrain International Circuit (BIC) die anfangs verbaute Mischung aus verdichtetem Sand, Zement und Wasser, sodass Teile dieses Belags die Fahrbahn verschmutzten. 2007 wurden diese Zonen durch Asphalt ersetzt, der sandfarben lackiert wurde.
Die modernsten und großflächigsten Auslaufzonen weltweit gab es bis zur Fertigstellung neuer Formel-1-Rennstrecken 2005 auf dem zwischen 1999 und 2002 modernisierten Circuit Paul Ricard. Der neue Besitzer, Bernie Ecclestone, ließ dort ein ausgeklügeltes System von drei aufeinander folgenden Asphaltstreifen mit unterschiedlichen, sehr hohen Reibwerten – unter anderem erreicht durch die Beimischung von Wolfram – bauen, das außer Kontrolle geratene Formel-1-Rennwagen aus hohen Geschwindigkeiten zuverlässig abbremsen kann, ohne dass es zu Beschädigungen am Fahrzeug kommt. Dies sparte den dort testenden Teams (Toyota unterhielt dort ein permanentes Test-Center) Kosten und Zeit, die sie sonst für die Bergung und Reparatur von verunfallten Autos aufbringen müssten. Das FIA-„Institut für Motorsport-Sicherheit“ verlieh dem Circuit Paul Ricard 2006 unter anderem wegen dieser Auslaufzonen-Konzeption als erstem Preisträger den FIA Institute Centre of Excellence Award, die zweite mit diesem Preis ausgezeichnete Strecke war der Bahrain International Circuit 2007.
== Planung ==
Die einstige Rolle des 1995 verstorbenen Hans Hugenholtz für die Planung von Formel-1-Rennstrecken und deren Auslaufzonen hat inzwischen der von den Medien gerne als „Herr der Ringe“ bezeichnete Branchenprimus, der deutsche Bauingenieur Hermann Tilke mit seinem Aachener Ingenieur- und Architekturbüro eingenommen. Beim Neubau von Rennstrecken jeglicher Art oder bei der Modernisierung von bereits bestehenden Kursen berechnet er die Dimension der Auslaufzonen durch ein „Strahlenmodell“ am Computer. Dabei werden die angenommene maximale Geschwindigkeit und die Richtung eines Fahrzeugs beim unkontrollierten Verlassen der Rennstrecke ab dem Bremspunkt für jeden Punkt des Kurvenbereichs und der daraus resultierende benötigte Sturzraum kalkuliert. Nach den FIA-Regeln werden dabei die Geschwindigkeiten und Gewichte von Formel-1-Fahrzeugen zugrunde gelegt. Deren maximale kinetische Energie ist trotz des verhältnismäßig geringen Gewichts durch die Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 350 km/h mit über 36,7 Millionen Joule normalerweise größer als die anderer Rennwagen, wodurch die für sie berechneten Auslaufzonen häufig für alle Fahrzeugklassen ausreichend groß oder gar überdimensioniert sind. Als Richtwerte können dabei die durchschnittlichen, maximalen Verzögerungsleistungen der Formel 1 herangezogen werden: Aus 300 km/h beträgt hier der bestmögliche Bremsweg bis zum Stillstand etwa 90 Meter, aus 200 km/h rund 55 Meter, aus 100 km/h sind es etwa 19 Meter. Im Idealfall sollte die kinetische Energie vor dem Aufprall auf ein festes Hindernis auf Null abgebaut werden, das Fahrzeug also zum Stillstand gekommen sein. Während die Ausdehnung von Auslaufzonen noch in den 1980er-Jahren zum Teil kaum eine Fahrbahnbreite (acht bis 15 Meter) erreichte, werden bei modernen Kursen wie dem 2005 eröffneten Istanbul Park Circuit in der Türkei bis zu 80 Meter breite Bereiche gebaut. Die FIA gibt für neue Rennstrecken 30 bis 100 Meter als Richtwert vor. Für bereits bestehende Strecken stellt sie neuerdings ein Circuit Safety Analysis System (CSAS) (dt.: „Streckensicherheits-Analysesystem“) zur Verfügung, ein Computerprogramm, mit dem aus Sensordaten von Formel-1-Autos bei vorangegangenen Rennen und Unfällen Erkenntnisse über die Dimensionen der benötigten Auslaufzonen und Sicherheitsbarrieren gewonnen werden können.
Bei der Planung von Auslaufzonen mit großen Asphaltflächen muss wegen der Aquaplaning-Gefahr auf ausreichende Entwässerung geachtet werden. Da diese Flächen meist ein leichtes Gefälle zur Strecke hin haben, fließt das Oberflächenwasser in Richtung Fahrbahn. Davor wird deshalb ein schmaler Drainagestreifen – etwa aus gerilltem oder gelochtem Metall – zwischen Asphalt und Curb eingebaut, teilweise genügt auch ein ausreichend wasserdurchlässiger Streifen aus Gras oder Kunstrasen. Bei reinen Kiesbetten ist dieser Streifen unnötig, weil hier das Wasser versickert, bevor es auf die Fahrbahn fließen kann.
== Nachteile ==
Weitläufige Auslaufzonen verursachen neben hohen Kosten für Grundstücksfläche und Bau meist große Distanzen zwischen Rennstrecke und Zuschauerbereichen. Die Fahrzeuge können deshalb bei modernen Strecken wie dem Shanghai International Circuit von den Rennbesuchern nur aus großer Entfernung wahrgenommen werden, was das subjektive Erlebnis der gefahrenen Geschwindigkeiten stark herabsetzt. Großflächig asphaltierte Zonen reduzieren diese Tempowahrnehmung zusätzlich; vor allem bei relativ langsamen Rennwagenklassen wie etwa der Tourenwagen-Weltmeisterschaft. Für die Zuschauer ergibt sich etwa bei Teilen der ehemaligen Formel-1-Rennstrecke in Istanbul mit bis zu 21,5 Meter breiter Fahrbahn und maximal 80 Meter breiter Asphalt-Auslaufzone der optische Eindruck eines über 100 Meter breiten und mehrere 100 Metern langen Parkplatzes. Ein ähnliches Bild bietet sich seit 2003 nach dem Umbau des Complexe du Lycée in Magny-Cours, wo die Strecke nach einem Hochgeschwindigkeits-Teilstück in eine scharfe Rechtskurve abbiegt und durch eine großzügig bemessene Auslaufzone mit kombiniertem Asphalt/Kiesbelag abgesichert wird. Den subjektiven Eindruck von Weitläufigkeit haben dort auch die Rennfahrer, die auf solchen Streckenabschnitten ihr Tempo möglicherweise zu gering einschätzen oder bewusst eine höhere Geschwindigkeit wählen, weil ein eventueller „Abflug“ nicht zwangsläufig zum Ausfall führen würde. Bei einigen Strecken werden Asphalt-Auslaufzonen auch teilweise in die Ideallinie „eingebaut“, also absichtlich mitbenutzt. Nach den FIA-Regeln für Rennstrecken muss der Fahrbahnrand jedoch beidseitig mit einem mindestens zehn Zentimeter breiten, weißen Streifen aus rutschfester Lackierung markiert werden. Ein offensichtlich absichtliches Überfahren dieses Streifens mit der kompletten Fahrzeugbreite wird in der Regel mit Strafen belegt, die von einer Verwarnung bis zur Disqualifikation reichen können. Damit soll der Missbrauch einer Auslaufzone als zusätzliche Fahrbahnbreite verhindert werden.
Formel-1-Promoter Bernie Ecclestone erklärte im Januar 2006 bei einer Veranstaltung: „Ob wir bei den Auslaufzonen bei manchen Strecken etwas über die Stränge geschlagen haben, kann ich nicht beurteilen, aber bei einigen kann einem der Sprit ausgehen, bevor man in die Reifenstapel einschlägt“. Er favorisiert deshalb in jüngster Zeit wieder Stadtkurse ohne Auslaufzonen wie in den Anfangstagen des Rennsports, da hier seiner Meinung nach für die Zuschauer spektakulärer Sport geboten werden könne. So wurden ab 2008 neue Formel-1-Stadtrennstrecken in Valencia, Abu Dhabi, Gwangyang (Südkorea), Neu-Delhi, Singapur und im Disneyland Resort Paris befahren, geplant oder zumindest in Erwägung gezogen.
Als nicht sinnvoll gelten Auslaufzonen bei Streckenteilen, bei denen ein außer Kontrolle geratenes Fahrzeug die Strecke in einem sehr spitzen Winkel verlässt; etwa bei Geraden oder bei sehr langgezogenen Kurven. Hier bevorzugt die FIA nach dem vorgeschriebenen Bankett-Streifen eine glatte, durchgehende Mauer oder Leitplanke, an der die Autos entlang rutschen können und dabei schnell Geschwindigkeit abbauen. Als obere Grenze für diese Bauweise werden etwa 30 Grad Winkelmaß angenommen.
== Auslaufzonen für Motorradrennen ==
Nach Ansicht der obersten Motorradsport-Organisation FIM sind Auslaufzonen beim Straßenrennsport aus verschiedenen Gründen unverzichtbar: Sie fungieren als Begrenzung und Stabilisierung der Grundstruktur der Fahrbahn, sie erhöhen die Sicherheit durch Verbesserung der Sichtverhältnisse und die damit verbundene Möglichkeit, die komplette Streckenbreite auszunutzen, und sie dienen bei ausreichender Dimensionierung als Anhalteweg für von der Fahrbahn abgekommene Motorräder.Bei Strecken, die sowohl von Autos als auch von Motorrädern genutzt werden, führt der Aufbau von Auslaufzonen jedoch zu einem Zielkonflikt. Motorräder werden nach einem Sturz durch Asphaltzonen nur schwach abgebremst, da die Maschinen fast nie mit den Reifen, sondern mit Metall- oder Plastikteilen über die Auslaufzone gleiten. Dadurch entsteht nur eine geringe Gleitreibung, das Motorrad rutscht unter Umständen bis zu den Streckenbegrenzungen und kann dabei stark beschädigt werden. Bei hohen Geschwindigkeiten und entsprechend langen Gleitphasen steigt auch das Verletzungsrisiko für die Fahrer, vor allem wegen des starken Abriebs der Schutzkleidung. Hier kann es zu schweren Verbrennungen und Hautabschürfungen kommen. Weitaus sicherer sind in diesem Fall die bei den meisten Automobilrennsportarten als nicht mehr zeitgemäß geltenden Kiesbetten. Dabei muss jedoch beim Präparieren auf einen „sanften“ Übergang vom vorangehenden Grünstreifen geachtet werden, da sonst durch die abrupte Änderung des Reibwertes ein Drehmoment auftreten kann, das zum Überschlag von Fahrer und Maschine führt. Auch quer zur Sturzrichtung gezogene Furchen im Kiesbett können diesen Effekt auslösen. Das FIM-Regelwerk fordert deshalb eine glatte, ungewellte Oberfläche. Bei „Ausrutschern“ aus niedrigen Geschwindigkeiten haben Asphaltzonen wiederum den Vorteil, dass Fahrer und Motorrad nach kurzer Gleitphase meist weitgehend unbeschadet das Rennen fortsetzen können.
Bei Motorradrennen werden die Streckenbegrenzungen nach den Auslaufzonen durch Airfences (deutsch: „Luftzäune“) – große luftgepolsterte Kunststoffkissen, die beim Aufprall eines Fahrers stark nachgeben und so die kinetische Energie schonend auffangen – abgesichert. Diese Sicherheitseinrichtungen werden meist nur für die Dauer der Rennveranstaltung installiert und müssen durch die Commission de Courses sur Route (CCR) der FIM homologiert werden.Speziell für Motorradrennen geplante oder präparierte Auslaufzonen haben etwa der TT Circuit Assen in den Niederlanden, die neue Version des Misano World Circuit in Italien, der Circuito de Jerez in Spanien, der Circuit Bugatti in Frankreich, der Phillip Island Circuit in Australien oder der Sachsenring in Deutschland. Auf diesen Strecken gastiert unter anderem regelmäßig die MotoGP als höchste Klasse im Motorrad-Straßenrennsport, während Autorennen nur eine untergeordnete Bedeutung haben. Formel-1-Rennen finden dort zurzeit nicht statt.
Die bisher breiteste Auslaufzone weltweit entstand beim Umbau des ehemaligen Formel-1-Infield-Straßenkurses im Indianapolis Motor Speedway zu einer Motorrad-Rennstrecke. Beim Motorrad-Grand-Prix im September 2008 verliefen die ersten vier Kurven nach der Start- und Zielgeraden auf dem 4,186 km langen und entgegen dem Uhrzeigersinn zu befahrenden Kurs unterhalb der ersten beiden Steilkurven des bereits bestehenden Ovals und nutzten diese als zusätzlichen asphaltierten Sturzraum. Die Gesamtbreite dieser Auslaufzone betrug rund 240 Meter.
== Sonderformen ==
Auf der einzigen heute noch gefahrenen traditionellen Formel-1-Stadtrennstrecke, dem Circuit de Monaco, werden seit 1995 an einigen Stellen mit Wasser gefüllte Kunststofftanks als Ersatz für die nicht vorhandenen Auslaufzonen eingesetzt. Außerdem gibt es zum Teil kurze „Notausgänge“ an Kurven und Schikanen, die beispielsweise nach dem Verpassen des Bremspunktes als zusätzlicher Anhalteweg genutzt werden können. Diese können aber nicht als vollwertige Auslaufzonen betrachtet werden.
Ovalkurse haben keine Auslaufzonen, weil die Überhöhung der Steilkurven und die dort gefahrenen hohen Geschwindigkeiten den Bau von ausreichend großen Sturzräumen überflüssig oder unmöglich machen. Stattdessen werden diese Strecken durch hohe Betonmauern und zusätzliche Zaunkonstruktionen begrenzt, die die Zuschauer vor außer Kontrolle geratenen Fahrzeugen und herumfliegenden Teilen schützen sollen. Hier werden zum Teil auch SAFER (Steel and Foam Energy Reduction) Barriers verwendet; Polystyrol-Pressplatten, die an der Betonwand verankert werden und Aufprallenergie gut absorbieren können, ohne dass sich das Fahrzeug wie bei einem Reifenstapel einhaken kann.
Im Rallycross sind als Auslaufzonen noch immer fast ausschließlich Kies- respektive Sandbetten zu finden. Die vorbereiteten Gräben werden aus Kostengründen meist mit den auf dem Gelände zur Verfügung stehenden Materialien gefüllt, wodurch es sich fast immer um grob gesiebte Erde oder Sand statt gewaschenem Kies in definierter Korngröße handelt. Unmittelbar vor den Renntagen, bei starker Verdichtung auch in den Rennpausen, wird diese Bettfüllung durch den Einsatz von geeigneten Maschinen aufgelockert und danach wieder geebnet.
Bei Beschleunigungsrennen, Bergrennen oder dem Automobil-Slalom befinden sich Auslaufzonen meist nicht neben der Fahrbahn, sondern am Ende der Strecke. Hier dienen sie zum kontrollierten Abbremsen aus hohen Geschwindigkeiten und weisen deshalb andere Eigenschaften auf als Auslaufzonen bei Rundstreckenrennen. Die Dimensionen und Oberflächenbeschaffenheit werden aber auch hier von den jeweiligen Motorsportverbänden häufig detailliert geregelt.
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
== Literatur ==
Peter Higham, Bruce Jones (Übersetzung: Walther Wuttke): Rennstrecken der Welt. Heel-Verlag, Königswinter 2000, ISBN 3-89365-890-4
S. S. Collins (Text), Gavin D. Ireland (Fotos), Helmar Winkel (Übersetzung): Vergessene Rennstrecken – Traditionskurse in Europa. Heel-Verlag, Königswinter 2006, ISBN 3-89880-644-8
Tim Hill (Übersetzung: Nils Günter): Das Goldene Zeitalter des Rennsports. Parragon Books, Bath 2006, ISBN 1-40547-902-7
== Weblinks ==
„Sicherheitsfaktor Auslaufzone“ bei credit-suisse.com (14. August 2006)
FIA-Regelwerke für Rennstrecken (undatiert, gefunden am 26. September 2007, englisch)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Auslaufzone
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Saathain
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= Saathain =
Das 516 Einwohner zählende Saathain ist ein Ortsteil der Gemeinde Röderland im südbrandenburgischen Landkreis Elbe-Elster. Er befindet sich rechtsseitig der Mündung der Großen Röder in die Schwarze Elster an der südlichen Grenze zum Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft.
Die erste urkundliche Erwähnung des Dorfes ist für das Jahr 1140 in einem Vertrag des Bischofs Udo von Naumburg mit dem Markgrafen Konrad von Meißen nachgewiesen. Durch die Ansiedlung mehrerer Puppenspielerfamilien im 19. Jahrhundert gilt Saathain als eine Wiege des sächsischen Wandermarionettentheaters. Am 26. Oktober 2003 bildete Saathain mit den umliegenden Dörfern Haida, Prösen, Reichenhain, Stolzenhain, Wainsdorf und Würdenhain die Gemeinde Röderland. Das einstige Saathainer Rittergut ist mit zahlreichen Konzerten und Ausstellungen eines der kulturellen Zentren der Gemeinde und des Landkreises Elbe-Elster. Auf dem Gelände befindet sich unter anderem ein Rosengarten mit etwa 5000 Rosenstöcken, eine aus dem Jahr 1629 stammende Gutskirche sowie ein auf den Grundmauern des 1945 zerstörten Saathainer Schlosses errichtetes Sommer-Café.
== Geographie ==
=== Geografische Lage und Naturraum ===
Saathain liegt im Norden der Gemeinde Röderland, rechtsseitig der Mündung der Großen Röder in die Schwarze Elster an der südlichen Grenze zum Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft, der ein 484 Quadratkilometer großes Gebiet im Landkreis Elbe-Elster und im Landkreis Oberspreewald-Lausitz umfasst. Der Ort ist vom etwa 6011 Hektar großen Landschaftsschutzgebiet Elsteraue umgeben, das in drei ökologische Raumeinheiten aufgeteilt ist, wobei das Teilgebiet Elsteraue II Saathain einschließt. Einer der Schutzzwecke des Landschaftsschutzgebietes ist „die Erhaltung des Gebietes wegen seiner besonderen Bedeutung für die naturnahe Erholung im Bereich des Kurortes Bad Liebenwerda.“Der Verwaltungssitz der Gemeinde Röderland, Prösen, befindet sich etwa fünf Kilometer südöstlich des Dorfes.
=== Geologie ===
Saathain befindet sich im Breslau-Magdeburger Urstromtal, das wenige Kilometer östlich in der Niederung des Schradens zwischen Elsterwerda und Merzdorf mit sieben Kilometer Breite seine engste Stelle erreicht und dann nach Nordwesten schwenkt. Das heutige Landschaftsbild ist maßgeblich von der vorletzten Eiszeit geprägt. Eine mehrere hundert Meter mächtige Schicht Sand und Kies bedeckt das kristalline Grundgebirge, das Teil der Saxothuringischen Zone des variszischen Grundgebirges ist.
=== Klima ===
Saathain liegt mit seinem humiden Klima in der kühl-gemäßigten Klimazone, jedoch ist ein Übergang zum Kontinentalklima spürbar. Die nächsten Wetterstationen befinden sich in Richtung Nordosten in Doberlug-Kirchhain, westlich in Torgau und südlich in Oschatz und Dresden.
Der Monat mit den geringsten Niederschlägen ist der Februar, der niederschlagsreichste der Juli. Die mittlere jährliche Lufttemperatur beträgt an der etwa 20 Kilometer nördlich gelegenen Wetterstation Doberlug-Kirchhain 8,5 °C. Der Unterschied zwischen dem kältesten Monat Januar und dem wärmsten Monat Juli beträgt 18,4 °C.
== Geschichte ==
=== Etymologie und erste urkundliche Erwähnung ===
Die erste urkundliche Erwähnung ist für das Jahr 1140 in einem Vertrag des Bischofs Udo von Naumburg mit dem Markgrafen Konrad von Meißen nachgewiesen. Saathain hieß zu dieser Zeit castrum Sathim (lat. befestigter Ort). Wahrscheinlich war Saathain Grenzfeste des zum Naumburger Besitz gehörenden Burgwards Strehla. Spätere Namensformen waren:
1197 (Uuernherus de) Satem
1199, 1210, 1221/22 (Wernerus de) Satem, Satim
1261 (Thymo de) Sathem
1285 Sathim
1289 Saten
1244, 1328 Satyn
1353 zcu dem Saten
1384 Sathan
1397 Sathen
1419 Sathan
1542 uffm Sattan
1555 Sathaynn, Sathan, Sahann
1575 SathaynMöglich ist, dass das castrum Sathim auf einer slawischen Siedlung oder Befestigungsanlage entstand. Der Name könnte vom slawischen Zatyme (Ort Hinter dem Sumpf) oder aus dem obersorbischen tymjo, tymjenja (Sumpf, Quellsumpf, Quelle) abgeleitet sein. Anhand der Namensformen kann man jedoch auch auf den deutschen Namen Sātheim schließen. Dazu kommen weitere Deutungen in Betracht, so könnte das Grundwort zum Beispiel aus dem Ostfälischen übertragen worden sein und damit die Saat, das Säen, den Samen, das geerntete Getreide, oder auch das mit Getreide bewachsene Land, das Saatfeld oder ein Stück Saatland gemeint sein.
Zu beachten ist, dass die benachbarten Elsterburgen in Wahrenbrück, Würdenhain, Liebenwerda, Mückenberg, und Elsterwerda deutsche Namen tragen. Auch die Form Dorf am Saatland, -feld ist denkbar. Weiterhin ist eine Ableitung vom mittelniederdeutschen Sāt, sate oder mittelhochdeutschen sāze für Stelle der Niederlassung, Sitz, Wohnsitz, friedlicher, ruhiger Ort möglich. Die Namensgebung Saathain erfolgte erst 1843.
=== Vom Spätmittelalter bis zum Kursächsischen Bauernaufstand ===
Saathain hatte eine der ältesten Wehranlagen an der Schwarzen Elster. Die Burg diente der Sicherung des Flussübergangs an der unweit gelegenen Einmündung der Großen Röder, die gleichzeitig die Grenze zum benachbarten Gau Nizizi darstellte sowie wohl auch dem Schutz und der Kontrolle der parallel zur Schwarzen Elster verlaufenden Heer- und Handelsstraßen. Nur etwa einen Kilometer flussabwärts befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Mündung die befestigte Anlage des in der Mitte des 15. Jahrhunderts zerstörten Schlosses von Würdenhain. Zur Herrschaft Saathain zählten neben Saathain auch die Orte Stolzenhain, Schweinfurth, Reppis, Gröditz und das 1935 in Kröbeln eingemeindete Mühldorf. Die Burg gehörte bis Mitte des 14. Jahrhunderts als Reichslehen dem Stift zu Naumburg. 1274 überließ Bischof Meinherr von Naumburg das Schloss Saathain Heinrich dem Erlauchten auf Lebenszeit. Zwei Jahre später wurde die Belehnung auch auf Heinrichs Sohn Friedrich Clem und dessen Nachkommen ausgedehnt.Ab 1348 war in Saathain das Adelsgeschlecht derer von Köckritz ansässig. Die Köckritze blieben bis 1475 in Saathain und es folgten ihnen die Schleinitze. Das meißnische Adelsgeschlecht besaß zu dieser Zeit auch die etwa zwanzig Kilometer östlich gelegene Herrschaft Mückenberg, die über den sogenannten Schleinitzweg mit Saathain verbunden war. Dieses Adelsgeschlecht, deren meißnische Linie mit dem Tod des Hermann Otto von Schleinitz 1891 erlosch, blieb dort bis 1716 ansässig. In jenem Jahr erwarb der kursächsische Oberhofmarschall Freiherr Woldemar von Löwendal, der einst unter Einflussnahme der Gräfin Cosel nach Sachsen gekommen war und der 1708 schon die östlich angrenzende Herrschaft Elsterwerda erworben hatte, die Herrschaften Saathain und Mückenberg. 1777 kam Saathain in den alleinigen Besitz des sächsischen Kabinettsministers Detlev Carl von Einsiedel. Sein Vater Johann George von Einsiedel hatte es 1748 von der Witwe Löwendals erworben.
Ende August 1790 kam es auch im Gräflich Einsiedelschen Saathain zu Auswirkungen des Kursächsischen Bauernaufstandes, der einen Monat zuvor bei Waldheim und Wechselburg seinen Anfang genommen hatte und in der Lommatzscher Pflege bald mit Gewalt losbrach. Dabei forderten die aufrührerischen, meist mit Sensen, Mistgabeln und Beilen bewaffneten Bauern unter anderem die Auflösung der Frondienste und Zinsen. Auch ein Teil der Saathainer Bauern erhob sich und wollte den zu diesem Zeitpunkt in seiner Funktion als Minister in Bautzen weilenden Grafen von Einsiedel vorladen, der die Gerichtsherrschaft über sie ausübte. Die Unruhen wurden allerdings kurze Zeit später durch ein Kommando Dragoner, das vier Saathainer Bauern verhaftete und in Ketten gefesselt nach Dresden brachte, niedergeschlagen. Der Großenhainer Amtmann, der zunächst selbst nach Saathain gekommen war, um die aufrührerischen Bauern zu besänftigen, meldete bereits am 4. September 1790 Ruhe im Amt Großenhain, wo die Unruhen neben der Herrschaft Saathain unter anderem auch in den Herrschaften Frauenhain und Zabeltitz mit ihren dazugehörigen Gemeinden aufgeflammt waren.
=== Vom Wiener Kongress bis zum Zweiten Weltkrieg ===
Die Ablösung der Frondienste in Saathain erfolgte im Jahre 1821, als der Ort zum preußischen Staatsgebiet gehörte; 1815 waren Saathain und weitere Teile des Amtes Großenhain nach den Befreiungskriegen infolge der Bestimmungen des Wiener Kongresses vom Königreich Sachsen an das Königreich Preußen angegliedert worden und gehörten seither zur preußischen Provinz Sachsen. Mit Schweinfurth, Reppis und Gröditz verblieben allerdings einige Teile des einstigen Saathainer Herrschaftsgebietes bei Sachsen. Das 1834 noch 260 Einwohner zählende Gröditz entwickelte sich dank seiner verkehrsgünstigen Lage und des 1779 durch Detlef Carl von Einsiedel gegründeten Stahlwerks zu einer Stadt mit heute etwa 7500 Einwohnern.Im Jahr 1852 begannen im wenige Kilometer flussabwärts gelegenen Zeischa Bauarbeiten zur Regulierung der Schwarzen Elster. Der Fluss, der bis dahin aus zahlreichen Fließen bestand, erhielt bis 1861 sein heutiges Bett und wurde eingedeicht. Die Röder, die vorher einige hundert Meter hinter dem Saathainer Schloss mündete, wurde in das alte Elsterbett geleitet, das als Alte Röder bekannt ist, und mündete am Prieschkaer Gänsewinkel in den neuen Flusslauf der Schwarzen Elster.
Etwa zur gleichen Zeit begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung der Region um Saathain. Den Ort selbst, in dem die Landwirtschaft die Haupterwerbsquelle blieb, betraf diese Entwicklung indirekt. Der Fischfang in den Flüssen Röder und Schwarze Elster wurde durch die zunehmende Verunreinigung, welche die neuentstandenen Industriebetriebe, wie das Zellstoffwerk in Gröditz, verursachten, weitgehend unmöglich gemacht. Viele Bewohner des Dorfes fanden außerhalb Saathains Arbeit, Gewerbetreibende und Politiker bemühten sich deshalb, dieser Entwicklung Rechnung zu tragen. Am 18. Dezember 1908 wurde auf ihre Initiative hin in der Liebenwerdaer Gaststätte Weißes Roß die genossenschaftlich organisierte Elektrische Überlandzentrale Kreis Liebenwerda und Umgebung gegründet. Den Saathainer Gutsbesitzer Otto Bormann wählte man zum Vorsitzenden des Vorstands. Wenige Jahre später erfolgte der Bau der ersten 110-kV-Leitung in Europa, die das Lauchhammerwerk mit den Stahlwerken in Gröditz und Riesa verbinden sollte. Sie nahm am 21. Januar 1912 den Betrieb auf. Am Gröditzer Schalthaus wurde eine 15-kV-Leitung über Prösen nach Stolzenhain abgezweigt, das damit am 25. Juni 1912 als erste Gemeinde im Kreis Liebenwerda elektrischen Strom erhielt. Von dort aus wurden Kabel weiter in die Orte der Umgebung verlegt; damit erhielt auch Saathain noch im gleichen Jahr einen Stromanschluss.Vier Jahre später erfolgte die Regulierung der Großen Röder durch die Röderregulierungsgenossenschaft Saathain. Für die Bauarbeiten wurden größtenteils Kriegsgefangene eingesetzt. Der Fluss mündet seitdem wieder unweit von Saathain und Würdenhain in die Schwarze Elster.
Im Zweiten Weltkrieg blieb der Ort von unmittelbaren Kampfhandlungen verschont. Dennoch gingen die NS-Zeit und der Krieg nicht spurlos an Saathain vorüber. Der im September 1934 neu ins Amt eingeführte Saathainer Pastor Wolfgang Bastian übernahm von seinem Amtsvorgänger einen schon länger währenden Streit mit einem Kantor, der eine Zusatzvergütung verlangte, was der Gemeinde-Kirchen-Rat ablehnte. Die Auseinandersetzung endete damit, dass der Pfarrer bei den Behörden denunziert und von den Kirchenbehörden gemahnt wurde. Nach einer weiteren Denunzierung wurde der Pfarrer im März 1942 verhaftet und kam bei den Verhören durch die Gestapo in Torgau ums Leben.Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Elsterbrücke am 22. April 1945 zerstört, um den Einmarsch der vorrückenden Truppen der Ersten Ukrainischen Front der Roten Armee zu verhindern. In diesen Tagen kam es durch einen vorsätzlich gelegten Brand zur Zerstörung des Saathainer Schlosses, bei dem unter anderem auch das umfangreiche Archiv mit historischen Aufzeichnungen und Akten, die im Schloss eingelagerten Kunstschätze sowie die alten Kirchenbücher der Nachbarorte Würdenhain (mit den Eintragungen von Taufen, Trauungen und Beerdigungen der Jahre 1655 bis 1812) und Stolzenhain den Flammen zum Opfer fielen.
=== Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart ===
Der 587 Hektar umfassende Grundbesitz des zum Schloss gehörenden Rittergutes wurde im Rahmen der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone aufgeteilt. Dabei entfielen 489,91 Hektar auf insgesamt 281 Personen in den umliegenden Gemeinden Haida (72,83 ha), Reichenhain (124,80 ha), Saathain (181,33 ha), Stolzenhain (30,11 ha), Würdenhain (78,80 ha) und Kröbeln (2,04 ha). Die zerstörte Elsterbrücke wurde nach dem Krieg durch einen Neubau ersetzt, der in den Jahren 2003 und 2004 aufgrund erheblicher Schäden erneuert wurde.
In der Deutschen Demokratischen Republik gehörte Saathain bis zu dessen Auflösung im Jahr 1952 zum Land Sachsen-Anhalt, nach der Gründung der Bezirke bis zur Wiedervereinigung im Jahr 1990 zum Bezirk Cottbus.
Geprägt wurde der Ort in dieser Zeit durch das Wirken des Saathainer Bürgermeisters Heinz Dreißig, der dieses Amt 1951 übernommen hatte und es bis 1990 behielt. 1955 wurde zunächst mit dem Ausbau der Friedensstraße begonnen. Weitere Verbesserungen der Infrastruktur folgten später. Es entstand eine Sportplatzanlage mit Kegelbahn und Freilichtbühne. Das 1837 errichtete alte Schulhaus wurde zu einem Gemeindehaus mit Schwesternstation und Arztzimmer umgebaut. Nach der Auflösung der Dorfschule 1975 wurde im Jahr darauf im 1922 erbauten zweiten Schulhaus eine Konsumverkaufsstelle eingerichtet. Die Schlossruine wurde in eine Terrasse, der alte Gutspark in einen Rosengarten umgestaltet. An der Kirche wurden umfangreiche Sanierungsmaßnahmen in Angriff genommen. Das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz verlieh Heinz Dreißig 1991 für seine Verdienste den Deutschen Preis für Denkmalschutz. Dieser seit 1977 verliehene Preis, die höchste Auszeichnung auf diesem Gebiet in Deutschland, „gilt Persönlichkeiten und Personengruppen, die sich ehrenamtlich dem Schutz, der Pflege und der dauerhaften Erhaltung des baukulturellen und archäologischen Erbes widmen. Die Leistungen sollen in der Regel langfristig angelegt sein und in ihrer Bedeutung weit über sonst übliches Bürgerengagement hinausgehen.“Nach der politischen Wende kam es am 15. Januar 1992 zunächst zur Bildung des Amtes Röderland, das aus den Gemeinden Saathain und den umliegenden Dörfern Prösen, Reichenhain, Stolzenhain, Wainsdorf und Haida mit dem Ortsteil Würdenhain bestand. Am 26. Oktober 2003 folgte im Zuge der Gemeindegebietsreform im Land Brandenburg der Zusammenschluss der amtsangehörigen Dörfer zur amtsfreien Gemeinde Röderland. Die Ortsteile der Gemeinde gehörten bis zur Kreisgebietsreform in Brandenburg im Jahr 1993 zum Landkreis Bad Liebenwerda, der am 6. Dezember 1993 mit den Landkreisen Herzberg und Finsterwalde in den Landkreis Elbe-Elster einging.
Im Zuge der Dorferneuerung in den 1990er Jahren wurde die Infrastruktur des Ortes, wie Straßen und Gehwege, die Räumlichkeiten für Kindergarten sowie der Jugendclub weitgehend modernisiert. Außerdem konnte im Juli 2001 die Rekonstruktion des Saathainer Gutes abgeschlossen werden, das noch bis zur Wende durch die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) landwirtschaftlich genutzt wurde.
=== Bevölkerungsentwicklung ===
Im Jahr 1486 wurden in Saathain 14 Gärtner gezählt, 1575 waren es 14 Hüfner und 15 Gärtner. 1835 zählte das Dorf 63 Wohnhäuser mit 412 Einwohnern. An Vieh wurden 27 Pferde, 237 Stück Rindvieh, 600 Schafe, 12 Ziegen und 109 Schweine gezählt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Einwohnerzahl Saathains durch den Zuzug von Vertriebenen im Jahr 1946 bis auf 790. Sie erreichte damit ihren Höchststand. Bis 2010 sank die Zahl auf 535.
== Politik ==
=== Ortsteilvertretung ===
Seit dem Zusammenschluss von Saathain mit den umliegenden Dörfern Haida, Prösen, Reichenhain, Stolzenhain, Wainsdorf und Würdenhain am 26. Oktober 2003 ist der Ort ein Ortsteil der Gemeinde Röderland. Vertreten wird Saathain nach der Hauptsatzung der Gemeinde durch den Ortsvorsteher und einen dreiköpfigen Ortsbeirat.Ortsvorsteher in Saathain ist gegenwärtig (Stand: 2010) Dietmar Gebel (Freie Wählergemeinschaft Saathain); die beiden anderen Mitglieder des Ortsbeirats sind Detlef Scheibe (Freie Wählergemeinschaft Saathain) und Joachim Pfützner (Die Linke).
== Kultur und Sehenswürdigkeiten ==
=== Kulturelle Veranstaltungen ===
Das einstige Saathainer Gut ist mit den zahlreichen Konzerten und Ausstellungen eines der kulturellen Zentren der Gemeinde und des Landkreises Elbe-Elster. Seit Mai 2006 wird angeboten, sich in der historischen Fachwerkkirche standesamtlich trauen zu lassen.
Seit 1953 kommt am Ostersonntag auf dem Sportplatz des Ortes der Osterhase zu Besuch. Meist von weiteren Artgenossen begleitet, verteilt er Süßigkeiten und Ostereier an die zahlreich erscheinenden Kinder.
Ein weiterer Höhepunkt ist das Sportfest im Juli.
=== Vereinsleben ===
Seit 1920 gibt es den Sportverein SG Röder 20. 1949 wurde der Klub in BSG Traktor Saathain umbenannt. Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten erfolgte 1992 die Rückbenennung. Neben der Sparte Fußball, deren erste Mannschaft gegenwärtig (2010) in der 1. Kreisklasse spielt, gibt es die Abteilungen Kegeln, Volleyball und Gymnastik.Ein weiterer aktiver Verein ist der 1996 gegründete Förderverein Gut Saathain e. V. Der zunächst als Kirche, Park und Rosengarten Saathain e. V. gegründete Verein erhielt seinen Namen im Jahre 2008. Die gegenwärtig (2010) etwa 30 Mitglieder bemühen sich um die komplexe Förderung, den Erhalt und die Entwicklung des einstigen Gutes Saathain als Kulturzentrum.Die Freiwillige Feuerwehr des Ortes wurde 1934 gegründet und sorgt seitdem für den Brandschutz und die allgemeine Hilfe. Das von 1957 bis 1959 errichtete Feuerwehrhaus befindet sich gegenüber der einstigen Dorfschule am Abzweig nach Neusaathain. Ausgestattet ist die Feuerwehr gegenwärtig (2010) mit einem Löschgruppenfahrzeug 8 (kurz: LF 8).
=== Sehenswürdigkeiten ===
Der Ort hat einige Baudenkmäler, die in die Denkmalliste des Landes Brandenburg aufgenommen wurden.Der Park des einstigen Saathainer Schlosses wurde ab 1972 in einen Rosengarten mit etwa 5000 Rosenstöcken und mehr als 70 Rosenarten umgewandelt. Die Ruine des Schlosses wurde zu einer Terrasse umgestaltet, auf der sich ein Sommer-Café befindet und von der man das Areal des Gartens überblicken kann.Der aus dem Jahr 1629 stammende Fachwerkbau der ehemaligen Gutskirche des Dorfes war auf dem Standort einer urkundlich 1575 erwähnten Schlosskapelle errichtet worden. Ihre heutige Gestalt erhielt sie durch Umbauarbeiten im Jahr 1816. Seit 1968 steht die Kirche unter Denkmalschutz. Nach umfangreichen Sanierungsmaßnahmen ist sie seit 1990 wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Unmittelbar hinter dem Bauwerk wurde auf einer Wiese im Mai 2004 ein Skulpturenpark eröffnet. Vor der Kirche befindet sich ein Gedenkstein für den Pastor Wolfgang Bastian, der 1942 in Torgau bei Verhören durch die Gestapo ums Leben kam.Im einstigen Schlosspark befindet sich vor den Resten des Schlosses ein am 6. Juli 1958 eingeweihtes Denkmal in Form eines unbehauenen Granitfindlings. Ein Schild im oberen Teil trägt den Ortsnamen sowie einen Eichenbaum und eine Seerose, die an den gewässerreichen Röderwald erinnern soll. Darunter befinden sich einige chronologische Daten über die Entwicklung des Dorfes Saathain.
Auf dem Dorfplatz befindet sich ein denkmalgeschützter Springbrunnen aus dem Jahr 1930, dessen Standort sich ursprünglich vor dem Saathainer Schloss befand. 1953 erfolgte die Umsetzung auf seinem heutigen Standort auf dem Dorfplatz.In der Breiten Straße ist ein Wohnhaus mit Auszugshaus, Scheune und Wirtschaftsgebäude unter Denkmalschutz.Unter Denkmalschutz stand auch die alte Rödermühle im Süden des Ortes. Das historische Bauwerk, das 1974 den Betrieb einstellte, fiel im September 1997 einem Brand zum Opfer. Die Ruine der erstmals im 16. Jahrhundert erwähnten Wassermühle befindet sich am einstigen Flusslauf der Großen Röder in der Siedlung Neusaathain. Auf dem Gelände der Rödermühle befinden sich neben einer Baumschule eine 1998 eröffnete Galerie, ein kleiner Streichelzoo und ein Sommer-Café.
=== Saathain als Wiege des sächsischen Wandermarionettentheaters ===
Saathain gilt wie das Elbe-Elster-Land als eine Wiege des sächsischen Wandermarionettentheaters. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts sind in Saathain ansässige Vertreter dieser Kunst nachgewiesen. Der erste bekannte Marionettenspieler, der sich in der Siedlung Neu-Saathain niederließ, war Johann Georg Bille († 1832). Er erwarb dort 1803 vom Saathainer Rittergutsbesitzer, dem Reichsgrafen von Solms und Tecklenburg, für 200 Taler ein Wohnhaus mit Scheune und Stallung. Bille folgten weitere Puppenspieler; die bekanntesten Saathainer Namen von Puppenspielerfamilien sind Richter (seit 1832), Gassmann, Hähnel und Gierhold. Durch Eheschließungen zwischen den einzelnen Familien erwuchsen Familienbande zwischen fast allen sächsischen Puppenspielerfamilien. Diese waren den größten Teil des Jahres auf Wanderschaft und kamen nur nach Saathain, um dort den Winter bei ihren Verwandten zu verbringen.
Mit dem Aufkommen von Kino und Fernsehen im 20. Jahrhundert kam es weitgehend zur Aufgabe der einzelnen Spielbetriebe. Jedoch haben bis in die Gegenwart einzelne Familien diese Tradition bewahrt, wie die Familie Bille, die im 18. und 19. Jahrhundert allein etwa 12 eigenständige Bühnen besaß und damit eine der wichtigsten Marionettenspielerdynastien Europas war. Eine Dauerausstellung im Bad Liebenwerdaer Kreismuseum unter dem Titel Von der Schusterahle zum Marionettenzwirn beschäftigt sich seit Dezember 1998 mit der Geschichte des Marionettentheaters im Elbe-Elster-Gebiet. Kern der Ausstellung ist eine Marionettentheatersammlung des Dobraer Puppenspielers Karl Gierhold. Einer der vier Abschnitte dieser Ausstellung im Museum ist den Saathainer Marionettenspielern gewidmet.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
=== Wirtschaft und Verkehr ===
Am 18. April 1958 wurde die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Neue Saat vom Typ I in Saathain gegründet. Zunächst bestand sie aus zwei landwirtschaftlichen Betrieben, die mit vier Mitgliedern 20,66 Hektar bewirtschaftete. Bereits am 9. Juni 1959 gehörten der Saathainer LPG fünf Betriebe mit neun Mitgliedern an, und die bewirtschaftete Fläche war auf 47,09 Hektar angewachsen. 1974/75 schloss sie sich mit der LPG Friedrich Engels in Stolzenhain zusammen. Der Sitz der 1991 aufgelösten Genossenschaft befand sich in Stolzenhain.Die Landwirtschaft hat in Saathain ihre einstige Bedeutung weitgehend verloren. Einen großen Teil der landwirtschaftlichen Flächen in der Gemeinde Röderland bewirtschaftet die 1991 aus der LPG Friedrich Engels hervorgegangene Lawi GmbH mit Sitz in Stolzenhain. Im Ort sind einige mittelständische Unternehmen ansässig, wie die Baumschule Saathainer Mühle und die Bäckerei Pförtner. An der Alten Dorfstraße befindet sich das Gasthaus Zur Linde. Die dem Dorf am nächsten gelegenen Gewerbegebiete befinden sich in Elsterwerda, Haida und im ebenfalls zur Gemeinde Röderland gehörenden Prösen.Saathain ist durch Verbindungsstraßen mit der Landesstraße 59 bei Stolzenhain und an die Elsterwerda tangierenden Bundesstraßen B 101 und B 169 angebunden. Die nächstgelegenen Bahnhöfe sind Bahnhof Elsterwerda (Bahnstrecken Berlin–Dresden und Riesa–Elsterwerda) sowie Elsterwerda-Biehla (Bahnstrecke Węgliniec–Falkenberg/Elster).
Mehrere befestigte Radwege entlang der Schwarzen Elster verbinden Saathain mit den Sehenswürdigkeiten des Umlandes, dem Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft und der wenige Kilometer östlich gelegenen Niederung des Schradens. Mit der Tour Brandenburg führt der mit 1111 Kilometern längste Radfernweg Deutschlands am Dorf vorbei. Weitere Radrouten sind der Fürst-Pückler-Radweg, der unter dem Motto 500 Kilometer durch die Zeit in die Projektliste der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land aufgenommen wurde, und der 108 Kilometer lange Schwarze-Elster-Radweg.
=== Bildung ===
Nach der Auflösung der Dorfschule im Jahr 1975 wurden die Kinder des Ortes zunächst in die Polytechnische Oberschule in Elsterwerda-Biehla eingeschult, aus der nach der Wende ein inzwischen wieder aufgelöstes Gymnasium und eine Grundschule hervorgingen. Gegenwärtig werden die Schüler des Ortsteils in die Grundschule Prösen eingeschult, die den Status einer Verlässlichen Halbtagesschule besitzt; Träger ist die Gemeinde Röderland. In Prösen befindet sich außerdem eine private Oberschule. Im unweit gelegenen Elsterwerda besteht eine Oberschule, ein Gymnasium sowie weitere Bildungseinrichtungen. Die nächstgelegenen Bibliotheken sind in Elsterwerda und Prösen.
=== Medien ===
Monatlich erscheinen in Saathain der Gemeindeanzeiger sowie das Amtsblatt für die Gemeinde Röderland. Der Kreisanzeiger des Landkreises Elbe-Elster erscheint nach Bedarf.Die regionale Tageszeitung im Elbe-Elster-Kreis ist die zur Lausitzer Rundschau gehörende Elbe-Elster-Rundschau mit einer Auflage von etwa 99.000 Exemplaren. Die kostenlosen Anzeigenblätter Wochenkurier und SonntagsWochenBlatt kommen wöchentlich heraus.
== Persönlichkeiten ==
Mit Saathain ist das Leben folgender Persönlichkeiten verbunden:
Walther von Köckritz (* in Saathain; † 1411), Domherr von Magdeburg, Merseburg und Meißen, Bischof von Merseburg
Samuel August Wagner (* 1734 in Saathain; † 1788 in Dresden), kursächsischer Mediziner und Lehrer
Karl Benedikt Suttinger (* 1746 in Saathain; † 1830 in Lübben), Dichter und Lehrer
Hans Wolfgang Bastian (* 21. Mai 1906 in Elsterwerda; † 18. März 1942 in Torgau), evangelischer Pfarrer, umgekommen bei Verhören durch die Gestapo
Heinz Dreißig (1925–2022), Saathainer Bürgermeister von 1951 bis 1990, bekam 1991 vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz für seine Verdienste den „Deutschen Preis für Denkmalschutz“ verliehen. Seit dem Jahre 2015 war Dreißig Ehrenbürger von Saathain.
== Literatur ==
Felix Hoffmann: Über 800 Jahre liegt Saathain an der Röder. In: Arbeitsgemeinschaften der Natur- und Heimatfreunde des Deutschen Kulturbundes Kreis Bad Liebenwerda (Hrsg.): Heimatkalender für den Kreis Bad Liebenwerda. Bad Liebenwerda 1957, S. 63–66.
Felix Hoffmann: Die steinerne Chronik von Saathain. In: Arbeitsgemeinschaften der Natur- und Heimatfreunde des Deutschen Kulturbundes Kreis Bad Liebenwerda (Hrsg.): Heimatkalender für den Kreis Bad Liebenwerda. Bad Liebenwerda 1960, S. 198–201.
== Weblinks ==
von Saathain auf der Gemeinde-Homepage von Röderland
Internetauftritt des „Fördervereins Gut Saathain e.V.“
Beitrag in der RBB-Sendung Landschleicher vom 24. November 2013
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Saathain
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Samsonfigur
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= Samsonfigur =
Samsonfiguren sind eine spezielle Form von Umzugsriesen, großen Figuren, die bei verschiedenen Arten von Festumzügen getragen werden. Ein Teil der in mehreren europäischen Ländern populären Umzugsriesen stellt biblische oder mythologische Riesen dar. Vierzehn dieser Figuren sind überlebensgroße Nachbildungen des biblischen Samson mit der Ausrüstung eines römischen Legionärs oder eines Soldaten aus der napoleonischen Zeit. Sie bestehen aus Holz oder Leichtmetall und werden bei traditionellen Straßenumzügen von je einer Person getragen. Es gibt sie in Ath, im Westen der Wallonie (Belgien), und im inneralpinen Österreich. Die mittlerweile 13 Samsonfiguren im Lungau und in der angrenzenden Steiermark (einer abgeschlossenen Kulturlandschaft an der Dreiländerecke zwischen Salzburg, Steiermark und Kärnten) werden auf ihren Umzügen von der Musikkapelle und teilweise von zwei Hilfsfiguren (die Paar-Konstellation ist eine typische in den Faschingsläufen des 16. und 17. Jahrhunderts) in Form je eines männlichen und weiblichen Zwergs, von Schützen und von Volkstanzgruppen begleitet. Die Samsonfigur von Ath ist eine mehrerer Riesen-Figuren des jährlichen Festivals Ducasse d’Ath.
Das Samsontragen im Lungau und Bezirk Murau wurde 2010 in die Liste Immaterielles Kulturerbe in Österreich (nationale UNESCO-Liste) aufgenommen.
== Samsonfiguren als Umzugsriesen ==
=== Einordnung und Verbreitung ===
„In den religiösen und weltlichen Umzugsspielen verschiedener Europäischer Landschaften, die alle eine gegenreformatorische Geschichte im Zusammenhang mit den bedeutenden Restaurationsorden der Jesuiten und Dominikaner und den ihnen nachgereihten Minderorden aufweisen, treten überlebensgroße, menschengestaltige Maskenfiguren auf, die nach ihrer Gestalt und Funktion allgemein Umgangsriesen, speziell Prozessions- oder Umzugsriesen genannt werden. Vom rein morphologischen Gesichtspunkt sind sie als überdimensionierte Plastiken anzusprechen, die in Umgängen zur Schau dargeboten werden. … Werden die Umgangsriesen hingegen von ihrer Funktion gesehen, so sind sie als Spielmasken zu werten. Sie sind ein darstellerisches Mittel zur Vergegenwärtigung einer erzählerischen und letztlich glaubensmäßigen Gestalt“.
Die frühesten Hinweise auf Umzugsriesen finden sich in bronzezeitlichen Steinritzungen in Süd- und Mittelschweden. Drei antike Autoren beschreiben Riesenfiguren aus Flechtwerksgestellen in Gallien. In der Zeitspanne vom späten Mittelalter bis etwa zur napoleonischen Zeit lassen sich Umgangsriesen für Holland, Belgien, Südengland, in verschiedenen Gegenden Frankreichs und Spaniens, in Süddeutschland, Österreich, Kalabrien, Sizilien, Mexiko und Brasilien nachweisen.
Heute konzentrieren sich Umzugsriesen auf das Gebiet von Nordfrankreich über Belgien bis zu den südlichen Niederlanden, Katalonien, Valencia, Sizilien und dem österreichischen Lungau. Gebiete, die, wie Arbeiten u. a. von Karl Amon zeigen, zusammenhängende gegenreformatorische Prozessionslandschaften unter deutlichem Einfluss der Habsburger sind. Manche Traditionen kennen einen festen Kanon von Riesen, oft zusammen mit traditionsreichen und historischen Figuren. Bei anderen sind die Figuren einem steten Wandel unterworfen. Alttestamentliche Riesen sind bei Ersteren häufige Motive. Am prominentesten wird dabei der Riese Goliat dargestellt.
Samsonfiguren, die bei Straßenumzügen als Riesen zum Einsatz kommen, gibt es in zehn Gemeinden im Lungau (identisch mit dem Bezirk Tamsweg im Land Salzburg) – in Tamsweg, Mariapfarr, St. Michael, Muhr, Unternberg, Wölting (einem Ortsteil von Tamsweg), Ramingstein, St. Andrä, St. Margarethen, Mauterndorf –, in zwei Gemeinden in der angrenzenden Steiermark – in Murau und Krakaudorf –, sowie in Ath in Belgien.
Trotz der großen geografischen Distanz zwischen den Samsonfiguren sind diese durch ihre Entstehungsgeschichte miteinander vergleichbar. Beide sind bis in das 17. Jahrhundert durch schriftliche Nachweise belegt. Für einige österreichische Samsonfiguren ist nachweisbar, dass sie früher Teil viel größerer Prozessionen mit anderen alttestamentlichen Figuren waren, wie sie heute noch Bestandteil des Ducasse-Festivals in Belgien sind. Sowohl die österreichischen Figuren wie auch der belgische Samson wurden im Zuge der Aufklärung und der Französischen Revolution verboten, wobei die Verbote bei den österreichischen Samsonfiguren deutlich länger anhielten.
Gemeinsam ist den Riesenfiguren im Lungau und den burgundischen Niederlanden, zu denen Ath gehört, dass sie nur an Kirchweihtagen auftreten (ducasse- beziehungsweise Prangtagen), die in den Monaten Juni bis August liegen, was ein weiterer Hinweis auf ihre Herkunft aus den großen katholischen Prozessionen ist. Eine weitere Parallele besteht im David-und-Goliath-Spiel, das sich mit Unterbrechungen auch in Ramingstein im Lungau als Brauch erhalten hat und ein typisches Fronleichnamsspiel war. Im Gegensatz zu Ath wird es aber nicht durch Riesenfiguren, sondern durch Menschen aufgeführt.
=== Gestalt der Figuren ===
Eine Samsonfigur ist etwa 80 Kilogramm schwer und wird von einem einzigen Mann getragen. Dieser wird von mehreren Assistenten unterstützt. In Österreich sind vier sogenannte Aufhabe (von „aufladen“) üblich, die in Pausen den Samson abstützen und in kritischen Situationen zu Hilfe eilen. In der Steiermark werden sie Haberer genannt.
Die verschiedenen Samsonfiguren unterscheiden sich vor allem durch ihre Größe und die Farbe der Kleidung. Die existierenden Figuren sind zwischen 4,30 und 6,80 Meter hoch. Fast alle tragen eine Tunika, eine breite Schärpe über Schulter und Hüfte und auf dem Kopf einen Kriegerhelm. Bewaffnet sind sie mit einer Lanze und einem Krummsäbel. Lediglich in Ath und Murau tragen die Figuren davon abweichend eine Uniform aus der Zeit der Französischen Revolution. In anderen Orten werden sie von Musik- und Schützengruppen in französischen Uniformen begleitet, ein volkstümlicher Spott auf den Feind, aus der Zeit der Franzosenkriege. In der Hand halten sie einen Eselskinnbacken (Ausnahme Mariapfarr). Mit dem Eselskinnbacken erschlug der biblische Samson die feindlichen Philister. Der Samson aus Ath trägt als weiteres Attribut eine Säule, da er, angekettet daran, die Säule samt dem Tempel niederriss und damit die Philister unter dem Schutt des Tempels begrub. Die Köpfe der Samsonfiguren sind entweder aus Holz geschnitzt, bestehen aus Pappmaché mit einem Holzgestell dahinter oder aus Polyesterguss (Mauterndorf).
Einige Samsonfiguren werden von zwei Zwergen an ihrer Seite (etwas übermannshohe Tragfiguren mit Riesenköpfen) begleitet. In der ersten historischen Abbildung, die aus dem Jahr 1803 in Tamsweg stammt, sind es zwei weibliche Zwerge. Heute ist es stets je ein männlicher und ein weiblicher Zwerg, die möglicherweise Sonne und Mond symbolisieren. Sie lassen den Riesen Samson noch eindrucksvoller erscheinen.Im Folgenden werden die Gemeinsamkeiten der Samsonfiguren in Geschichte und heutiger Verwendung im inneralpinen Österreich näher beschrieben. Die Geschichte der Samsonfigur von Ath ist untrennbar mit der Geschichte der Ducasse d’Ath verbunden.
== Die Samsonfiguren des inneralpinen Österreichs ==
=== Geschichte der Samsonfiguren ===
==== Entstehung ====
Die Lungauer Riesenfiguren sind ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Quellen belegt. Die Samsonfigur war neben anderen biblischen Figuren Teil einer barocken Prozession am Fronleichnams- bzw. Prangtag. Diese Prozessionen sind für Tamsweg für den Zeitraum von 1690 bis 1720 belegt. 1720 wird im Sterbebuch der Tod eines Goliatträgers festgehalten. Belegt sind die Prozessionen auch für St Michael und Murau. Vergleichbare Prozessionen mit Riesenfiguren haben sich in Sizilien – beispielsweise die Riesen Cronos und Mitia in Mistretta – erhalten.Es wurde vermutet, dass der Samsonbrauch einen weit älteren Ursprung haben könnte. So hieß es im Zuge der Verbote von 1802, die Tradition der Samsonfiguren sei sehr alt. Verschiedene naturmythologische und nationale Theorien suchten den Ursprung der Samsonfigur in germanisch wie als slawisch angesehenen „Kornvater-Legenden“. Solche Meinungen völkischer Mythen- und Sagensuche finden heute teilweise noch populäres wie populistisches Wohlwollen. Es ist allerdings nicht erwiesen, ob die frühen Vorstufen der Volkskunde, die Naturmythologen Mitte des 19. Jahrhunderts diese Legenden erst erfunden haben, oder ob es dazu tatsächlich Meinungen in der Bevölkerung gab.
Im Wörterbuch der deutschen Volkskunde in der Ausgabe von 1974, die auf der Ausgabe von 1940 aufbaut, sind die Begriffe Samson und Kornvater nicht mehr enthalten.
Eine andere Erklärung für das Auftauchen der Samsonfiguren liefert eine Sage, wonach den Lungauern, und insbesondere den Einwohnern des Dorfes Wölrinf (heute Wölting), das Samson-Privileg aufgrund besonderer Tapferkeit bei einer erfolgreichen Schlacht gegen die Herzogin Margarete von Tirol (1318–1369) verliehen wurde. Eine ähnliche Sage gibt es auch für Muhr. Solche Sagen führen zwar von der tatsächlichen Geschichte weg, zeigen aber, wie wichtig der Bevölkerung dieser Brauch und seine herausragende Gestalt wurden. Dasselbe könnte man auch als Begründung für das lange Fortdauern heute als unwissenschaftlich erwiesener früherer politischer Meinungen sehen: das Bedürfnis, einen geliebten Brauch durch eine „uralte“, nicht mehr nachvollziehbare Geschichte noch bedeutsamer zu machen.
==== Barocke Prunkprozessionen der Gegenreformation ====
Die ersten Quellen zum Samsonbrauch stehen im Zusammenhang mit den in der Gegenreformation 1643 gegründeten Kapuzinerklöstern in Tamsweg und Murau. Ihre Hauptaufgabe war, die in der Reformationszeit zum großen Teil evangelisch gewordene Bevölkerung des oberen Murtals wieder zum katholischen Glauben zurückzuführen. Diesem Zweck dienten prunkvolle Prozessionen, insbesondere am Gründonnerstag, am Karfreitag, zu Fronleichnam und am Bruderschaftsmontag (eine Oktave nach Fronleichnam). Bei Letzterem wurden sechs auf ochsenbespannte Wagen montierte bewegliche Miniaturbühnen mit Szenen des alten Testaments mitgeführt. An siebter Stelle führt die Prozessionsordnung den Samson. Der Samson war „12 Schuah hoch“ (ca. 360 – 380 cm) und wurde von einem Träger getragen, der von einem Führer unterstützt wurde. Im Gefolge der Samsonfigur fanden sich – vergleichbar mit heute – die Schützen mit Fahne, Fähnrich, Trommelschläger, Pfeifer und Korporal. Neben dem Samson wurden noch weitere alttestamentliche Figuren mitgeführt: David und Goliat, Moses und Aaron, Abraham und Isaak, Judith und noch viele andere. Unter diesen Figurengruppen zählen Moses und Aaron, die das goldene Kalb vernichten, Judith, die den Holofernes im Schlaf ermordet, David, der den Goliat besiegt, und Samson, der tausend Philister erschlägt, zu den typischen Ausstattungen der Fronleichnamsprozession, da sie einen Sieg über die Ungläubigen darstellen und Vorläuferlegenden des siegreichen Christus sind. Dazu gehört immer auch Abraham, der als Beispiel des rechten religiösen Verhaltens bereit ist sogar seinen Sohn zu opfern – ein Opfer, das Gott nicht annimmt.Warum der Samson als wesentliche Prozessionsfigur in die gegenreformatorischen Fronleichnamsprozessionen aufgenommen wird, liegt klar auf der Hand, denn er gilt als einer der Vorläufer, der Praecursoren, Christi im alten Testament. Nach dem Verständnis der Fronleichnamsprozession vom 16. bis ins frühe 19. Jahrhundert als Kampf und Demonstration gegen die Ketzer war der Samson eine ideale Figur religiöser Didaktik.
Auch er ist bereits auf besondere Weise geboren (wie Johannes das heißt durch eine alte Mutter; von einem Engel angekündigt wie Christus). Er ist größer und stärker als alle anderen, seine Stärke ist überirdisch. Er trägt sein Haar ungeschoren, wie die Anhänger Christi. Er vernichtet allein tausende Philister/Ungläubige und opfert sich auf diese Weise auf (stirbt selbst unter der zerbrochenen Säule).Die älteste Erwähnung einer Samsonfigur im Lungau behandelt den am besten dokumentierten Tamsweger Samson: 1720 ist im Sterbebuch der Pfarrei ein Samsonträger angeführt, der 32 Jahre lang diese Tätigkeit ausgeübt hat. Der Murauer Samson wird 1746/47 erstmals im Zusammenhang mit dem Kauf einer Samsonfigur aus Tamsweg erwähnt. Die Samsonfigur aus St. Michael wird erstmals im Zusammenhang mit einer Vergütung seines Trägers 1754 erwähnt. Über alle anderen Samsonfiguren gibt es vor 1802, also vor der Zeit der Samsonverbote, keine schriftlichen Überlieferungen.
==== Samsonverbote zur Zeit der Aufklärung und Wiederbelebung des Brauchtums ====
Die Zeit der Aufklärung und insbesondere die Reformen des Salzburger Erzbischofs und Bischofs von Gurk, Hieronymus von Colloredo, brachten das Ende der Prunkprozessionen und damit auch das vorläufige Ende der Samsonfiguren. 1784 ordnete die Regierung des Erzstifts Salzburg an, dass das Mittragen von Bildnissen und geschnitzten Figuren bei Prozessionen zu unterbleiben habe.Ein halbes Jahr später wurde diese Verordnung an alle Pfleger des Landes weitergeleitet, um den Klerus bei der Durchführung der Verordnung zu unterstützen. Dennoch wurde 1798 in Tamsweg eine neue Samsonfigur angefertigt. Der Umzug mit der Samsonfigur wurde von der Prozession getrennt und auf den Nachmittag der Festtage verlegt. 1802 verfasste der Jurist und Salzburger Staatsrechtler Konrad Hartleben eine Schmähschrift über die Lungauer Samsonfiguren in der Zeitschrift Deutsche Justiz- und Polizey-Fama. Er bezeichnete die Figur als Ungeheuer, das 100 Gulden kostete, kritisierte unter anderem darüber, dass sie bettelte und mit dem mit halbem Zwang erbettelten Geld oder aus der Marktkasse sagenhafte 200 Gulden zusammengekommen wären. Dies rief die Regierung des Erzstifts Salzburg, den so genannten Hochlöblichen Hofrat neuerlich auf den Plan, der von den Pflegern und Amtsrichtern der Orte mit Samson-Umzügen einen Bericht anforderte. Für die Orte Mauterndorf, Kendlbruck und Muhr ist dies die erste schriftliche Erwähnung des dortigen Samsonbrauchs. Auch wenn sich die Amtsrichter und Pfleger in ihren Antworten meist positiv im Sinne der Samsonfiguren äußerten, erließ der Hochlöbliche Hofrat in Salzburg mit Datum vom 23. Mai 1803 das endgültige und letzte Verbot der Lungauer Samsonfiguren.An Prozessionsrequisiten haben im Lungau wie andernorts alle jene überlebt, die rechtzeitig vor der verordneten Ablieferung versteckt werden konnten, bzw. an denen die Bevölkerung besonders hing und sie deshalb versteckte und vor Vernichtung bewahrte. Im Attach Colloredo finden sie die Stufen der Verbote zur Abschaffung von Bräuchen. Da die Bevölkerung immer Sinn für Spektakel hatte, da Rollen in den Prozessionen auch Ehrenrollen und Kraftproben waren, die den Menschen wichtig waren, ist es verständlich, dass der Samson und seine Begleiter versteckt und erhalten blieben.
Der Krakaudorfer Samson hat so die Josephinische Einziehung in einem Heustadel überlebt.Wie die Samsonfiguren in Tamsweg, St. Michael, Mauterndorf und Muhr die Verbotsjahre überlebt haben, warum sie als einzige der Prozessionsfiguren die Verbotsjahre überlebten und wie sich der Samsonbrauch in seiner heutigen Form als weltliches Brauchtum in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte, ist heute nicht mehr restlos nachvollziehbar.
In Tamsweg wird sie 1853 von Ignaz von Kürsinger beschrieben, in St. Michael wurde trotz Verbots 1844 zu Ehren des Kaisers Ferdinand bei dessen Besuch in St. Michael ein Ehrentanz mit der Samsonfigur aufgeführt. Das Jahr 1859 brachte die offizielle Wiederbelebung per Gemeinderatsbeschluss. Eine Samsonfigur aus Mauterndorf von etwa 1900 befindet sich im Salzburger Museum Carolino Augusteum. Im steirischen Krakaudorf blieb der Samsonbrauch im frühen 19. Jahrhundert am Leben oder wurde mit einer Nachbildung einer Lungauer Samsonfigur möglicherweise erst begonnen.
==== Wiederbelebung der Samson-Traditionen ====
Waren um 1900 die vier besonders traditionsreichen Samsonfiguren von Tamsweg, St. Michael, Mauterndorf und Muhr wieder rehabilitiert, so brachte die Folgezeit eine zunächst langsame Vermehrung der Figuren durch Wiederaufnahme eines dokumentierten oder vermuteten Brauchtums:
Unternberg: ab etwa 1900, letztmals 1927 in St. Margareten getragen, mit neuer Figur wieder ab 1954 (oder nach anderer Quelle 1952, siehe unten)
St. Andrä: 1908, anlässlich einer Hochzeit, danach nur einzelne Umzüge nachweisbar. 1983 renoviert – mit altem Kopf und neuem Rumpf. Neueinkleidung und Gründung einer Samsongruppe 2002. Zwei Zwerge seit 2005.
St. Margareten: 1927 kurzes Gastspiel des ehemaligen Unternberger Samsons, danach verschollen – mit neuer Figur ab 2001
Mariapfarr: 1937 Neubau einer Samsonfigur
Ramingstein/Kendlbruck: ab 1948/49 bis 1958. Samsonfigur in Murau erhalten. Neuaufnahme mit neuen Figuren ab 1992. Zwerge seit 1997/98.
Murau: 1966 neue Figur mit Kopf des ehemaligen Ramingsteiner Samsons, 2005 zweite Figur mit Rumpf der ehemaligen Ramingsteiner Samsonsfigur
Wölting: 2000 Neubau einer Samsonfigur und zweier ZwergeWährend der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Samsonfiguren von den Nationalsozialisten als Brauch mit kirchlichem Ursprung abgelehnt und zum Teil beschädigt. Samsonumzüge gab es während dieser Zeit nicht oder nur in Ausnahmefällen.
=== Samsonfiguren in der Gegenwart ===
==== Samsonumzüge, Samsontreffen und andere Auftritte ====
Samsonumzüge finden nach der Fronleichnamsprozession, zum Prangtag (Patroziniumsfest/Patronatsfest), und je nach Ort zu ein bis zwei weiteren Anlässen wie Feuerwehrfesten oder Märkten zwischen Fronleichnam und Almabtrieb statt. Reisen führen die Samsonfiguren zu in mehrjährigem Abstand stattfindenden Samsontreffen im Lungau, in die Landeshauptstädte (Salzburg und Graz) und nach Köln sowie neuerdings auch in Partnerorte aus Gemeindepartnerschaften und zu Riesentreffen nach Katalonien, Nordfrankreich und Belgien.
Ein Samsonumzug dauert im Lungau bis zu drei Stunden und geht über eine Strecke von bis zu drei Kilometern. Über die ganze Strecke wird die Samsonfigur von einer Person von Station zu Station durch den Ort getragen. Sie wird zumeist von zwei bis fünf Helfern, Aufhaber bzw. Haberer genannt, unterstützt. Sie wird begleitet von der Blasmusik und – falls vorhanden – von Figuren eines männlichen und eines weiblichen Zwergs, den Schützen und anderen Gruppen. An jeder Station tanzt die Samsonfigur mindestens einmal zu Ehren einer Person, die diese Ehre eine Anerkennungsspende kostet. An manchen Stationen werden Ansprachen gehalten und – falls vorhanden – treten Schützen und Trachtengruppen auf. Idealerweise liegen die Stationen des Samsonumzugs an Gasthäusern, wobei deren Wirte die Ehre haben, die am Samsonumzug beteiligten Personen mit Getränken zu versorgen. Neben den großen Umzügen rücken manche Samsonfiguren auch im Rahmen von Frühschoppen, Feuerwehrfesten und Zapfenstreichen aus. Die Auftritte sind dann wesentlich kürzer, etwa im Rahmen einer Stunde. Die beiden steirischen Samsonfiguren rücken – abgesehen von Samsontreffen – in ihrem Ort nur einmal im Jahr am jeweiligen Prangtag aus. Dabei steht weniger der Zug durch den Ort im Mittelpunkt, sondern die bis zu 200 Ehrentänze für eine große Anzahl an zu Ehrenden Personen die sich um das Pulvergeld verdient gemacht haben. Die Samsonfigur tanzt dabei zu verschiedenen Melodien, unter anderem auch einer flotten Polka. Die Veranstaltung kann sich dabei über einen Zeitraum von bis zu 5 Stunden erstrecken.
In Krakaudorf, Mauterndorf, Murau, St. Michael und Tamsweg existieren traditionelle Bürgergarden, die mit Ausnahme von Tamsweg fester Bestandteil der Samsonumzüge sind. Im Lungau wird etwa bei jeder Station Salut geschossen, bei kurzen Umzügen an dessen Ende. In der Steiermark wird jeder Ehrentanz mit einem donnernden Salutschuss abgeschlossen.
Nahezu jedes Jahr findet ein Samsontreffen statt, meist aus Anlass eines Jubiläums im Ort der einladenden Samsongruppe. Alle sechs Jahre, z. B. 2011 findet das Große Fest der Lungauer Volkskultur statt. In diesem Zusammenhang findet ein Samsontreffen mit allen 12 Samsonfiguren statt.Seit dem Jahr 2009 existierten Bestrebungen die Lungauer Riesenfigur Samson zusammen mit weiteren vier Salzburger Bräuchen für die UNESCO-Liste der kulturellen Traditionen vorzuschlagen. Ein erster Schritt war die 2010 angestrebte Aufnahme ins Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes Österreichs. Das Samsontragen im Lungau und Bezirk Murau wurde 2010 in die Liste Immaterielles Kulturerbe in Österreich (nationale UNESCO-Liste) aufgenommen. Beim Fest der Lungauer Volkskultur am 4. September 2011 wurden die Urkunden der UNESCO allen Samsongruppen feierlich übergeben.
==== Musik zum Samsonumzug ====
Die Samsonfigur wird bei ihrem Umzug von der Blaskapelle des jeweiligen Ortes begleitet. Diese nennt sich in St. Michael, Tamsweg und Mauterndorf Bürgermusik, in Wölting Dorfmusik, in Murau, Musikverein Stadtkapelle Murau, in den anderen Orten Musikkapelle oder Trachtenmusikkapelle.
Beim Zug durch den Ort geht die Blaskapelle stets voran und spielt Traditionsmärsche österreichischer Komponisten. Es gibt keine festgelegte Abfolge. Beliebte Märsche sind beispielsweise „Mein Heimatland“ von Sepp Neumayer, „Rainer Marsch“ von Hans Schmid oder der „Kitzbühler Standschützen Marsch“ von Georg Kaltschmied.Der Samsonwalzer zu Ehren wichtiger (und auch zahlender Personen) ist eine Ehrenbezeugung – meist wird ein langsamer Walzer intoniert. Meist werden im Laufe eines Umzugs verschiedene Samsonwalzer gespielt. Beliebt sind etwa der erste Teil des „Almrauschwalzers“ vom Komponisten E. Trojan sowie ein Samsonwalzer, den der frühere Ramingsteiner Pfarrer Pater Paul Mitterndorfer komponiert hat. In Wölting wird der vom Gründer der Dorfmusikkapelle Anton Bayer vulgo Lenzen Toni komponierte Samsonwalzer, der sich aus der Melodie des Kirchenliedes Lieb Jesulein komm zu mir entwickelt hat, intoniert. Ein von den Kapellmeistern selbst komponierter Samsonwalzer wird beispielsweise in St. Margarethen gespielt. Manchmal werden im Laufe eines Umzugs verschiedene Samsonwalzer gespielt.
==== Ausrücktermine ====
Die Samsonsaison geht von Ende Mai bis Anfang Oktober. Den Anfang machen traditionell die Umzüge am Nachmittag des Fronleichnamtags, der letzte Umzug ist am ersten Oktobersonntag zusammen mit dem David-und-Goliath-Spiel in Ramingstein. Die Samsonfigur rückt zu den Samsonumzügen an Festtagen aus. Darüber hinaus ist sie an manchen Festen wie dem Ramingsteiner Silbermarkt, dem Tamsweger Waldfest, Einweihungen und Herbstfesten zu sehen. Sie rückt aus, wenn hochrangige Personen den jeweiligen Ort besuchen und kommt auch zur Angelobung (Gelöbnis) der Rekruten von Österreichs Bundesheer. Während der Saison rückt im Lungau und in der angrenzenden Steiermark nahezu an jedem Wochenende mindestens eine Samsonfigur aus, meist am Sonntagnachmittag, manchmal auch am Freitag- oder Samstagabend. Bei der Beschreibung der einzelnen Samsonfiguren weiter unten sind die regelmäßigen Ausrücktermine aufgelistet. Manchmal werden sie aber auch auf den vorherigen Samstag oder auf einen anderen Tag verschoben.
Die Samsonumzüge wie die (meisten) Feste können ohne Eintritt besucht werden. Es gibt keinerlei Absperrungen und alles ist frei zugänglich. Der Polizeieinsatz beschränkt sich auf das Regeln des Verkehrs. Höhepunkte sind die großen Samsonumzüge in Mauterndorf und Tamsweg. Samsonumzüge in kleineren Orten haben sehr stark den Charakter eines Festes von und für Einheimische, bei dem Gäste von auswärts aber stets willkommen sind.
==== Personifizierung ====
Im Lungau wird nicht von Samsonfiguren gesprochen, sondern vom Samson. plural: Samsone. Diese Personifizierung bewirkt im lokalen Sprachgebrauch, dass der Samson marschiert, den Samsonwalzer tanzt und Rekruten des Bundesheers wie hochgestellten Personen seine Aufwartung macht. Diese Personifizierung wird auch in der Schriftsprache beibehalten.
==== Samsonfiguren und Samsonbrauch in Museen ====
Unabhängig von Ausrückungen können folgende Samsonfiguren besichtigt werden:
Ein erheblicher Teil des Dorfmuseum Waltlhaus in Krakaudorf ist dem Samsonbrauchtum gewidmet. Dabei werden auch alle österreichischen Figuren beschrieben.
Die Tamsweger Samsonfigur hat ihr Quartier im Tamsweger Heimatmuseum und kann im Rahmen einer Museumsführung vom 1. Juni bis 15. September und an Tagen mit Sonderführungen besichtigt werden.
Die Samsone von Muhr und St. Andrä, letzterer zusammen mit seinen Zwergen, bewohnen einen Samsonturm in dem sie durch eine große Glasscheibe ganzjährig bewundert werden können.
Die Murauer Samsone haben ihr Quartier in einem eigens erbauten Holzhaus in der Nähe des Friesacher Tors. Sie sind durch mehrere Fenster zu besichtigen.
Die Vorgängerfigur des heutigen Mauterndorfer Samsons von 1912/1949 steht im Lungauer Landschaftsmuseum in der Burg Mauterndorf und kann dort zu den Öffnungszeiten der Burg nahezu ganzjährig besichtigt werden (siehe auch historisches Bild rechts eines Umzugs von 1980).
Der um das Jahr 1920 in das Salzburger Museum Carolino Augusteum heute Salzburg Museum gekommene Samson von circa 1890 ist zusammen mit zwei Zwergen in dessen volkskundlicher Außenstelle, dem Volkskundemuseum Salzburg im Hellbrunner Monatsschlössl von April bis Oktober zu besichtigen. Im Gegensatz zu den derzeit im Gebrauch befindlichen Zwergen ist von den Zwergen nur die vordere Hälfte ausgeführt.
Bilder der Samsonfigur und seiner Zwerge im Salzburg Museum:
== Beschreibung der einzelnen Figuren ==
=== Überblick über die Figuren ===
=== Ath ===
Ath ist bekannt als die Stadt der Riesen. Beim Ducasse-Festival, das jedes Jahr am vierten Wochenende im August stattfindet, wird neben vielen anderen Riesenfiguren eine Samsonfigur mitgetragen. Die Riesen aus Ath gehören zur Liste des mündlichen und immateriellen Kulturerbes der UNESCO.
Der Samson wurde 1679 in das Gefolge der Ducasse d’Ath als Riese der Bruderschaft der Kanoniere eingeführt. Aus diesen Jahren kann man in den Berichten aus ma mansarderie lesen, dass der Magistrat der Stadt eine Summe in Silber „für die Brüder (confrères) Kannoniere von sainte-Marguerite […] um den Samson aufzurichten“ zur Verfügung gestellt hat. Möglicherweise hat schon früher, vielleicht seit dem 15. Jahrhundert, ein Riese Samson an der Prozession teilgenommen, es gibt darüber jedoch keinen schriftlichen Nachweis.
Nachdem er im Jahr 1794 zu Zeiten der Französischen Revolution zusammen mit den anderen Riesen auf Veranlassung der französischen Regierung zerstört worden war, tauchte er seit der Wiederaufnahme der Prozession im Jahr 1806 wieder auf. Seit dem 19. Jahrhundert ist er wie seine Begleiter, die Gruppe der Blauen als französischer Soldat gekleidet. Der biblischen Schilderung entsprechend trägt Samson die Säule des Tempels von Dagon und den Eselskinnbacken. Ihm folgt seit der Zwischenkriegszeit die Fanfare von Moulbaix.
Während bei den anderen Riesen Kopf und Oberkörper aus Lindenholz geschnitzt sind, besteht bei diesem Samson nur der Bereich des Gesichts aus Holz. Die Figur besteht aus einem Lattengerüst und ist mit bemalter Leinwand bespannt. Sie trägt ein blaues Gewand mit roten Ärmelaufschlägen und zwei roten Rockschößen, rote, fransenbesetzte Schulterstücke, Kupferknöpfe, gelbe Weste und schwarze Schärpe, einen schwarzen Zweispitz mit Goldborte, eine Kokarde in den belgischen Nationalfarben, einen mehrfarbiger Federbusch. Die Handschuhe sind hellbraun (früher gelb), der Rock ist blau, die Haare schwarz, und er trägt einen Schnauz- und Kinnbart im Stil von Napoleon III. In Händen hält sie eine Säule aus Marmornachbildung und einen braunen Eselskinnbacken.
=== Krakaudorf ===
An St. Oswald, dem Prangtag (Patroziniumsfest) in Krakaudorf (gefeiert am 1. Sonntag im August) zieht nachmittags die Samsonfigur durch den Ort. Die erste Krakauer Samsonfigur wurde nach 1809 von dem italienischstämmigen Johann Turass geschaffen. Nach 100 Jahren wurde die Figur bei einem Brand im Gasthaus Bale vernichtet. Die zweite Figur, im Volksmund der Grauperte genannt, wurde wegen ihrer Missgestalt viel verspottet und hatte nur eine kurze Lebensdauer. Die jetzige Figur Samson der Dritte wurde 1914 von N. Neumann vulgo Pistrich geschaffen.
Die Samsonfigur wird seit 1975 im „Haus der Volkskultur“ aufbewahrt. Manchmal geht sie auf Reisen: So war sie bei Samsontreffen im Lungau und mehrfach in Graz zu sehen.Im Dorfmuseum im Waltlhaus, einem etwa 400 Jahre alten Bauerngehöft in der Ortsmitte, ist ein großer Raum den Samsonfiguren gewidmet.
=== Mariapfarr ===
Der erste Hinweis auf einen Samson in Mariapfarr stammt aus dem Jahre 1914. Zeugen erinnerten sich an einen Samson, der 1914 mitsamt dem Hof, in dem er eingelagert war, verbrannt sein soll. Die derzeitige Samsontradition geht auf Pfarrer Stöckl, 1928–1936 Kooperator (Kaplan) in Mariapfarr, zurück. Sein Ziel war es, in der Ur-Pfarre des Lungaus den Samsonbrauch wieder aufleben zu lassen. Die 1937 fertiggestellte erste Figur des Samsons wurde maßgeblich vom theaterbegeisterten Burschenverein gefertigt. Der von Professor August Schreilechner, einem Kunsterzieher mit Sommerquartier in Gröbendorf fabrizierte Kopf konnte allerdings nicht überzeugen. Es wird von Zeitzeugen als „wenig schön, um nicht zu sagen grausig“ beschrieben. Die schmächtige Figur hatte jedoch den Vorteil, wenig windempfindlich zu sein.
Den Zweiten Weltkrieg hat die Samsonfigur unbeschadet überstanden, nach einem Sturz im Sommer 1949 war sie jedoch nicht mehr zu retten. Noch im selben Jahr wurde eine neue Riesenfigur gebaut. Diese wog anfangs 105 Kilogramm – 40 mehr als ihr Vorgänger. Auf dem Leib trug sie einen Schuppenpanzer aus Kupfer und Aluminium. Nach Umbaumaßnahmen wurde das Gewicht um 20 Kilogramm reduziert. Die Samsonfigur besitzt als einzige keinen Eselsbackenknochen. Sie wird im Feuerwehrhaus verwahrt und ist durch den oberen Eingang von außen zu sehen.Die Mariapfarrer Samsongruppe war die erste mit größeren internationalen Aktivitäten. Reisten früher Samsonfiguren allenfalls zu Gaufesten in die jeweilige Landeshauptstadt, so folgte die Mariapfarrer Samsongruppe – nach Zögern der traditionsreicheren Samsongruppen – 1982 einer Einladung zu einem Riesentreffen in Matadepera, nordwestlich von Barcelona in Katalonien gelegen. Im Folgejahr kamen einige katalanische Riesen aus Matadepera nach Mariapfarr. Dieses begründete eine Gemeindepartnerschaft, und viele weitere gegenseitige Besuche folgten. 1992 – zum zweiten Trobada Internacional de Gegants – wurde auch der Unternberger Samson samt Trachtenmusikkapelle mitgenommen. 1994 erfolgte. 2007 reiste die Mariapfarrer Samsongruppe nach Matadepera. Weitere Treffen mit Lungauer Samsonen und katalanischen Riesenfiguren fanden in Mariapfarr in den Jahren 1994 und 2002 statt. Am 1. bis 3. Mai 2009 wurde das 25-jährige Jubiläum der Gemeindepartnerschaft in Mariapfarr mit allen Lungauer Samsonfiguren und vielen Riesen aus Matadepera gefeiert. Unmut erregte die Mariapfarrer Samsongruppe, als sie im Januar 1996 – also außerhalb der Samsonsaison – zur Eröffnung der Samson-Sechsersesselbahn im Lungauer Skigebiet Fanningberg, begleitet von der Musikkapelle Göriach, ihre Samsonfigur tanzen ließ.
=== Mauterndorf ===
Das erste schriftliche Zeugnis über die Mauterndorfer Samsonfigur stammt wie bei vielen anderen von 1802 aus der Zeit der Samsonverbote. Wie lange sich die Mauterndorfer an dieses Verbot halten mussten, ist nicht überliefert. Erstes Zeugnis des Mauterndorfer Samsonbrauchtums ist eine Samsonfigur mit zwei Zwergen aus dem späten 19. Jahrhundert im Salzburger Museum Carolino Augusteum. Er kann im Monatsschlössl Hellbrunn, der volkskundlichen Außenstelle des Salzburg Museums, ehemals Salzburg Museum Carolino Augusteum, besichtigt werden.
Im 20. Jahrhundert gab es eine fast durchgehende Samsontradition. Die Samsonfigur wurde mehrfach nach dem Vorbild des in Salzburg befindlichen Belegstücks renoviert. Auf einem Foto von 1902 ist er mit zwei Zwergen zu sehen, die wahrscheinlich mit der Samsonfigur von 1912 verbrannt sind. Nach dem Brand 1912 wurde sie vom Verschönerungsverein mit Unterstützung des damaligen Besitzers der Burg Mauterndorf, des Grafen Eppenstein renoviert. Auf Betreiben des Fremdenverkehrsvereins wurden nach dem Vorbild der Tamsweger Figuren 1936 zwei neue Zwerge (Mandl und Weibl) geschaffen. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie mit ihren beweglichen Augen rollen können. 1949 – nach dem Zweiten Weltkrieg – bemühte sich der Trachtenverein um eine Revitalisierung. Ein Samsonumzug für das Jahr 1960 ist durch eine Zeitungsmeldung belegt. 1979 bekam die Samsonfigur ein neues Kleid, 1990 wurde der aus Pappmaché bestehende Kopf durch einen Polyesterguss ersetzt. 1993 wurde das Gestell erneuert, 2019/2020 wurde die Figur neu eingekleidet. Die Vorgängerfigur der heutigen Samsonfigur kann im Lungauer Landschaftsmuseum im Südturm der Burg Mauterndorf zu den Öffnungszeiten der Burg besichtigt werden. (Stand Juli 2008) Das Video zeigt den großen Samsonumzug im Juli 2007 der Samsongruppe zusammen mit der historischen Bürgergarde Mauterndorf, der Alttrachtengruppe und den Mauterndorfer Schrefelschützen.
=== Muhr ===
Wie bei vielen anderen Samsonfiguren lässt sich die Muhrer Samsontradition archivalisch bis zu den Samsonverboten von 1802 zurückverfolgen. Ob es eine Unterbrechung der Umzüge in der Zeit der Samsonverbote gegeben hat, ist nicht belegt. Während des Zweiten Weltkriegs gab es keine Samsonumzüge. Danach reiste die Samsonfigur auch mehrmals zu Festen nach Salzburg, das erste Mal 1967 auf dem Dach eines Postautobusses. Sie wird seit 1963 von einem Obmann betreut. Von 1991 bis 2014 wurde die Samsonfigur in einem Nebengebäude des Pfarrhofs verwahrt. Am 7. Juni 2014 wurde unterhalb der Kirche ein neuer Samsonturm eingeweiht. Die Samsonfigur ist dort durch eine große Glasscheibe zu sehen.Die Muhrer Samsonfigur ist ein milde lächelnder, nach oben blickender freundlicher Riese, der im Jahr 1991 mit einem neuen Rumpf und einem neuen Mantel ausgestattet wurde. 1990 wurde beim Abriss des Muhrer Schulhauses auf dessen Dachboden ein alter Samsonkopf gefunden. Datiert wurde dieser Fund in das 19. Jahrhundert.
=== Murau ===
Der Samsonbrauch ist in Murau seit 1746 nachweisbar. Damals wurde eine Samson-Figur um 24 Gulden von der Tamsweger Frohnleichnambruderschaft gekauft. Nach der Zeit der Samsonverbote wurde der Samsonbrauch erst 1966 wiederbelebt: Ein Apotheker hatte die desolate Samsonfigur aus Ramingstein von 1948/49 nach Murau gebracht und für den noch brauchbaren Kopf einen neuen Körper anfertigen lassen. 2020/2021 wurde die Figur neu eingekleidet. Der alte Rumpf wurde 2005 wiederentdeckt und mit einem neuen Kopf ergänzt. So besitzt Murau als einziger Ort zwei Samsonfiguren. Bei der älteren Samsonfigur – auch als Gardesamson I bezeichnet – ist es der Kopf, bei der jüngeren Samsonfigur – auch als Gardesamson II bezeichnet – der Rumpf. Die Samsonfiguren sind in Murau ausschließlich am Prangtag, dem 15. August, zu sehen. Beim Umzug kommt in der Regel Samson I zum Einsatz, Samson II wartet am Festplatz. Bei Reisen zu auswärtigen Einsätzen wird hingegen bevorzugt der zerlegbare Samson II mitgenommen (siehe Video).
=== Ramingstein und Kendlbruck ===
Die älteste Quelle über die Samsonfigur des Ramingsteiner Ortsteils Kendlbruck ist eine Verlustmeldung: Im Bericht des Pflegers an den Heiligen Hofrat 1803 wird festgestellt, dass sich der Kendlbrucker Samson nicht mehr zeigt. Er ist aufgrund der Verbote von 1784 oder durch den Bedeutungsverlust des Ortes aufgrund der Einstellung des früher extrem ertragreichen Bergbaus am Anfang des 19. Jahrhunderts verschwunden.
Der erste ernsthafte Versuch einer Wiederbelebung des Samsonbrauchs in Ramingstein erfolgte 1948/49. Johann Aigner fertigte mit Hilfe seines Sohns und seiner Schwiegertochter eine Samsonfigur mit zwei Zwergen an. Am Achatius-Prangtag, zum Patrozinium von Ramingstein, wurde mit dieser Figur ein Umzug durchgeführt. Bis 1958 wurde die Samsonfigur an den Prangtagen durch den Ort getragen. Ein großes Problem war jedoch die Quartierfrage. In einem Ochsenstall aufbewahrt, wurde sie von Mäusen so benagt, dass sie nicht mehr einsatzfähig war. In diesem Zustand wurde die Figur von dem Apotheker Mag. Gasteiger entdeckt mit nach Murau genommen. Auf sie gehen beiden Murauer Samsonfiguren zurück (Näheres siehe dort).
Von der Ramingsteiner Bergrettung kam der Anstoß, den Samsonbrauch wiederzubeleben. Unter Günter Reithofer wurde ein neuer, in seiner Bauweise sehr moderner Samson gebaut. 1991/92 wurde im Zuge des Ladübertragens (Brauch zum Bürgermeisterwechsel) von der Bergrettung eine neue Samsonfigur geschaffen, die 1997/98 durch zwei Zwerge ergänzt wurde. Als Besonderheit haben die zwei Zwerge Samsons die Namen der Patrone der beiden Kirchen in der Gemeinde: Achatz und Marie. Ersterer hat das Aussehen eines Bergmanns, was sich von der Bergbautradition des Ortes ableitet.
=== Sankt Andrä im Lungau ===
Die Samsontradition beginn in St. Andrä im Jahre 1908. Anlässlich der Hochzeit seiner Tochter hatte ein Tischler aus Lessach einen Samsonkopf geschnitzt, der noch für die heutige Samsonfigur verwendet wird. Nach anderen Quellen kam der Kopf zu diesem Anlass von Muhr nach St Andrä. In den Folgejahren wurde die Figur für Samsonumzüge verwendet. Durch Fotos dokumentiert sind Umzüge unter anderem aus den Jahren etwa 1920, etwa 1930, 1970, 1980 und 1981. Die Figur war lange Zeit ein Privatsamson des Andlwirts in St. Andrä. Da in St. Andrä keine Musikkapelle bestand, musste für die Auftritte der Samsonfigur eine solche aus einem Nachbarort engagiert werden.
In den Jahren 1983 und 2002 wurde die Samsonfigur renoviert. 2002 wurde die Samsonfigur neu in blauer Farbe eingekleidet. In diesem Jahr trat die Samsongruppe St. Andrä auch dem Lungauer Gauverband bei.
Im Jahre 2003 wurde die Musikkapelle St. Andrä gegründet. Diese begleitet seither die Samsonfigur bei den Umzügen.
2004 kamen zwei Zwerge (Hammersfrau und Schmied) dazu.
Eine als Verein organisierte Samsongruppe gibt es in St. Andrä seit Frühjahr 2007.
2011 wurde neben dem Gemeindeamt ein neuer Samsonturm errichtet. Die Samsonfigur ist dort zusammen mit ihren Zwergen durch eine große Glasscheibe zu sehen.
=== Sankt Margarethen im Lungau ===
Ende der 1920er-Jahre kam die damalige Samsonfigur der Gemeinde Unternberg nach St. Margarethen und wurde im Moarhaus gelagert. Sie ist vereinzelt in St. Margarethen aufgetreten und danach verschollen.
Seit den 1970er-Jahren gab es Ideen, den Samsonbrauch wieder zum Leben zu erwecken. Konkretisiert wurden diese Aktivitäten erst in der offiziellen Samsonversammlung am 1. Dezember 2000. Unter dem Motto „Groaß muaß a nit sei, oba schea!“ wurde der Bau der Samsonfigur nach einer Zeichnung von Reinfried Schröcker in Angriff genommen. Nachdem einige Teile noch bedeutend leichter gemacht wurden, konnte sie termingerecht am Vorabend des Prangtages (Patronatsfest) am 14. Juli 2001 der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Der erste Umzug fand am Nachmittag des folgenden Prangtags statt. Sie wurde im Winter 2006/07 nochmals umgebaut und durch den Einbau eines Gestells aus Leichtmetall im Gewicht erheblich reduziert.
=== Sankt Michael im Lungau ===
Die St. Michaeler Samsonfigur ist mit 4,5 Meter Größe und einem Gewicht von 64 Kilogramm zwar eine der kleinsten aber auch eine der traditionsreichsten Samsonfiguren. Ihr besonderes Kennzeichen ist der geschwungener Leib mit barockem Rankenmuster. Sie ist 1754 erstmals mit einer Rechnung des Samsonträgers nachgewiesen. Im Jahr danach wurde die alte Samsonfigur verkauft und eine neue vom Tischlermeister Josef Merl erstellt. Gemeindeaufzeichnungen belegen ihre weitere Nutzung in den Folgejahren.
Wie weit der Brauch in den Jahren der Samsonverbote lebendig blieb, ist nicht sicher nachprüfbar. Auch wenn offiziell noch immer verboten, hat die Samsonfigur im Jahr 1844 vor Kaiser Ferdinand bei dessen Besuch in St. Michael getanzt. Erst 1859 wurde der Samsonbrauch per Gemeinderatsbeschluss in das offizielle Brauchtum zurückgeholt. Das älteste Bild einer Samsonfigur überhaupt zeigt den St. Michaeler Samsonumzug von 1870. Ab dem späten 19. Jahrhundert existieren viele Fotos. Heute gibt es mehrmals im Jahr Samsonumzüge und andere Auftritte der Samsonfigur. Mitte August findet der Samsonumzug anlässlich des Prangtags im Ortsteil Katschberg statt. Manchmal nimmt die Samsongruppe an Samsontreffen teil. Die Figur ist Namensgeber der Sportveranstaltung Samsonman.
=== Tamsweg ===
Der Tamsweger Samsonfigur ist die am besten dokumentierte Samsonfigur. Als Ursprung des Tamsweger Samsonbrauchs gilt das ehemalige Tamsweger Kapuzinerkloster und dessen barocke Prozessionen zu Fronleichnam und am Prangtag. Die Samsonfigur war Teil einer barocken Prozession mit vielen anderen biblischen Figuren. Diese Prozessionen sind für Tamsweg für den Zeitraum von 1690 bis 1720 belegt. 1720 wird im Sterbebuch der Tod eines Samsonträgers erwähnt, der 32 Jahre lang diese Tätigkeit ausgeübt hat.Aus der Zeit der Samsonverbote ist zu erwähnen, dass sich die oben erwähnte Schmähschrift des Professors Hartleben zuvorderst auf den Tamsweger Samson bezog. Ein Verteidigungsschreiben des Marktrichters Peter Prandstätter wurde vom Pfleger Ferdinand von Piehl mit abschätzigen Bemerkungen an den Heiligen Hofrat weitergeleitet, was wie oben dargestellt, letztendlich zum Verbot des Samsonbrauchs führte. Erstaunlicherweise werden die zwei ursprünglich weiblichen Zwerge erstmals 1802/03, also in der Zeit der Samsonverbote, erwähnt. Möglicherweise waren die Samsonverbote in politisch sehr unruhigen Zeiten und bei dem mehrfachen Besitzerwechsel des Lungaus (Erzbistum Salzburg, Erzherzogtum Toskana, Bayern, Österreich) nicht durchsetzbar.
Den Brand von 1893, der einen großen Teil des Ortes vernichtete, überlebte der Kopf, nicht jedoch der in einem anderen Haus untergebrachte Rumpf. In den folgenden Notjahren geriet der Samsonbrauch in Vergessenheit. Nach der Jahrhundertwende wurde von einem in Stranach-Pichl arbeitendem Knecht mit Namen Sepp Sauschneider ein neuer Körper gefertigt. Dieser wurde mit der eben eingeweihten Murtalbahn nach Tamsweg gefahren und mit einem Fest begrüßt. Der Erbauer machte sich auch als Samsonträger einen Namen, weil er den Samson auf der Murbrücke immer schräg über das Wasser hinausschwenkte. Nach der ersten Elektrifizierung Tamswegs mit Freileitungen musste die Samsonfigur um einen Meter verkürzt werden.
Für die Zeit des Nationalsozialismus ist überliefert, dass die Samsonfigur vor dem Feldmarschall Hermann Göring, dem damaligen Besitzer der Burg Mauterndorf mit einer Hakenkreuzfahne als Mantel tanzte. Dennoch kam der Brauch zum Erliegen, da von den Nationalsozialisten Samsonfiguren als biblische Erscheinung betrachtet wurden. Die Figur wurde später von neben ihr auf dem Dachboden einquartierten Jungen der Hitlerjugend demoliert.
1945 wäre der Kopf beinahe als Kriegstrophäe weggeführt worden. Bereits auf einen englischen Militärjeep verladen, konnte er in letzter Minute in Sicherheit gebracht werden. Im Jahr 1950 wurde die Samsonfigur zum Jubiläum 700 Jahre Tamsweg zu der hoch über dem Markt Tamsweg gelegenen Wallfahrtskirche St. Leonhard hinaufgetragen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es zwei Unfälle: 1972 kam die Figur durch einen Windstoß am Jakobi-Prangtag zu Sturz. Der Träger kam mit dem Schrecken davon, der Kopf wurde aufgefangen und damit gerettet. Der Körper wurde beschädigt und musste restauriert werden. 1996 gab es einen weiteren Unfall: Der Samsonträger stolperte auf dem aufgefrästen Asphalt. Die Aufhaber konnten den Samson zwar auffangen, aber der Samsonträger hatte sich einen Bänderriss zugezogen.Von allen Samsonfiguren rückt die Tamsweger am häufigsten aus: Fronleichnam, Prangtag, Waldfest, vor dem traditionellen großen Zapfenstreich im Juli, Herbstfest zum Almabtrieb etc. Samsonfigur und Zwerge sind zu den Öffnungszeiten im Tamsweger Heimatmuseum zu besichtigen. Auch in der Tamsweger Partnerstadt Iseo ist sie zu besonderen Anlässen zu sehen. Als Besonderheit kann die Samsonfigur den Kopf drehen.
=== Unternberg ===
Die Ursprünge der Unternberger Samsonfigur gehen auf eine Geschichte aus dem Jahr 1900 zurück. In diesem Jahr bauten sich zwei Buben unter dem Eindruck des Tamsweger Samsonumzugs einen Kinder-Samson und bestellten nach einem Umzug mit ihm im heimischen Garten beim „Bethmacher“ in Tamsweg, einem Handwerker, der Attrappen, Larven und Ähnliches herstellte, einen Kopf für einen Samson von etwa vier Meter Höhe. Die Rechnung von 20 Kronen und 50 Heller löste zu Hause zuerst eine Katastrophe aus, veranlasste die Väter jedoch, die Initiative zum Samsonbau zu ergreifen und Unternberg erlebte noch 1900 den Einzug der ersten Samsonfigur (Samson I). Diese war 14 Jahre in Gebrauch und kam nach dem Ersten Weltkrieg durch Erbschaft nach St. Margareten, wo sie 1927 letztmals getragen wurde.
Auslöser für die Entstehung der zweiten Samsonfigur (Samson II) im Jahre 1952 (nach anderer Quelle 1954) waren die Erinnerung von Franz Gfrerer, einem der Buben von Samson I bei einem Besuch in seinem Elternhaus. Er lebte damals in Wien und versprach, dort einen Kopf für einen neuen Samson zu besorgen.
Die heutige Samsonfigur hat eine Größe von fünf Metern und ein Gewicht von 75 Kilogramm. Sie tritt jedes Jahr zu Ehren des Heiligen Ulrich im Juli, bei einem abendlichen Umzug im August und beim Bauernherbstfest im September auf. Eine Besonderheit der Unternberger Samsonfigur ist, dass sie mit der rechten Hand salutieren kann. Die Unterberger Samsonfigur begleitete die Samsonfigur aus Mariapfarr zum zweiten Riesentreffen in Matadepera/Katalonien.Seit August 2013 begleiten den Unternberger Samson die neu gestalteten Zwerge „Rosl“ und „Toni“.
=== Wölting ===
Wölting ist heute ein zwischen zwei Gemeinden aufgeteiltes Dorf. Der weitaus größere Teil ist ein Ortsteil von Tamsweg, der kleinere Ortsteil westlich der Lessach ist Teil von Sankt Andrä im Lungau. Der Sage nach ist es dort der älteste Samsonbrauch. Danach ist den Wöltingern von einem Erzbischof das Samson-Privileg aufgrund besonderer Tapferkeit bei einer erfolgreichen Schlacht gegen die Herzogin Margarete von Tirol verliehen worden.
Die derzeitige Samsontradition geht auf das Jahr 2000 zurück. Die Samsonfigur und die beiden Zwerge wurden anlässlich des 50-jährigen Bestandsjubiläums der Dorfgemeinschaft innerhalb nur zweier Monate ausschließlich von Wöltingern in Eigenregie erbaut und am 29. und 20. August 2000 vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt wog sie 101 Kilogramm. Durch einen Umbau im folgenden Winter wurde sie „erleichtert“. Von Alois Tartner wurde ein neuer Kopf angefertigt.
Zwei- bis dreimal im Jahr rückt die Wöltinger Samsongruppe aus, um die Riesenfigur durch das Dorf zu tragen und sie den Samsonwalzer tanzen zu lassen.
== Siehe auch ==
Gigantes y Cabezudos
Hemdglonker-Umzüge
== Literatur ==
Österreich:
K. Beitl: Die Umgangsriesen. Verlag Notring der wissenschaftlichen Verbände Österreichs, Wien 1961, DNB 450336530.
Roland Flomair, Lucia Luidold (Hrsg.): Riesen, Sondernummer in Form eines Buches der Zeitschrift Salzburger Volkskultur. Anton Pustet, Salzburg 1996, ISBN 3-7025-0346-3. Lungauer Volkskultur: Die Lungauer Samsone. (Übersicht über alle Lungauer Samsonse). Salzburger Volkskultur: Zwei neue Riesen im Lungau. Ergänzungsband zum oben genannten Buch Riesen. Anton Pustet, Salzburg (etwa 2004).
Ernestine Hutter: Volkskundliche Sammlungen, Salzburger Museum Carolino Augusteum. Hofstetter-Dia, Ried im Innkreis 1986, DNB 890661340.
Ignaz von Kürsinger: Lungau. Historisch, ethnographisch und statistisch aus bisher unbenützten urkundlichen Quellen. Oberersche Buchhandlung, Salzburg 1853 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche – Nachdruck: Österreichischer Kunst- und Kulturverlag, 1981, ISBN 3-85437-002-4).
Peter Rottensteiner, Gerald Lerchner: Chronik Samson St. Andrä. St. Andrä im Lungau 2006.
Fremdenverkehrsvereins Lungau: Bergeweise Urlaubsglück, Sommerjournal. 2008 (Enthält die vollständigste Übersicht über die Ausrücktermine der Lungauer Samsonse). Belgien:
Ministère de la Communauté française.: Les géants processionnels en Europe. Ouvrage collectif, catalogue de l’exposition du 500e anniversaire du Goliath d’Ath. 1981.
René Meurant: Géants processionnels et de cortège en Europe, en Belgique, en Wallonie. Commission royale Belge de Folklore (section wallonne), Collection Folklore et Art populaire, VI, Brüssel 1979.
René Meurant: Géants de Wallonie. Duculot, Wallonie et Histoire, Gembloux 1975.
== Medien ==
Der Murauer Samsonumzug am 15. August, 30er Jahre (zeigt möglicherweise nicht den Murauer Samson, sondern den Samson von Krakaudorf im Bezirk Murau)
Prangtag und Samsonumzug in Unternberg 1968
== Weblinks ==
Termine, Übersicht:
Website der Ferienregion Lungau mit aktuellen Samsonterminen – ausschließlich im Lungau direkt zum Terminkalender
Website der Lungauer Volkskultur mit aktuellen Samsonterminen direkt zum TerminkalenderWebseiten der Orte mit Samsontradition (Geschichte, Termine):
Der Krakauer Samson (Memento vom 7. Dezember 2011 im Internet Archive)
Der Mariapfarrer Samson
Der Murauer Samson
Der Ramingsteiner Samson
Der Tamsweger Samson
Der Samson aus Wölting
Site der belgischen Samsonfigur (französisch)Sonstiges:
Schulprojekt zum Muhrer Samson (Memento vom 7. Mai 2004 im Internet Archive) (PDF; 8,9 MB)
Site des porteurs du géant Samson d’Ath
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Samsonfigur
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Kursächsische Postmeilensäule
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= Kursächsische Postmeilensäule =
Eine kursächsische Postmeilensäule, umgangssprachlich auch sächsische Postmeilensäule oder nur Postsäule genannt, ist ein Meilenstein, der Entfernungen und Gehzeiten bis auf eine Achtelstunde genau angibt. Die Gestaltung der Steine variiert je nach der Distanz, für die sie stehen, sie können die Form eines Obelisken, einer antiken Herme oder einer Stele haben. Vorbild waren römische Meilensäulen, von denen auch die nicht zutreffende Bezeichnung als Säule hergeleitet wurde. Der sächsische Oberpostdirektor Paul Vermehren veranlasste ihre Aufstellung nach amtlichen Entfernungsermittlungen, deren Ergebnisse als Angabe in Wegstunden auf den aus behauenem Naturstein gefertigten Postmeilensäulen verzeichnet sind.
Die kursächsischen Postmeilensäulen wurden während der Regierungszeit Augusts des Starken und seines Nachfolgers an allen wichtigen Post- und Handelsstraßen und in fast allen Städten des Kurfürstentums Sachsen zur Angabe der amtlichen Entfernungen aufgestellt. Dies sollte die Grundlage für eine einheitliche Berechnung der Postgebühren schaffen. Da das Kurfürstentum Sachsen damals wesentlich größer als das heutige Bundesland Sachsen war, findet man derartige Säulen auch in Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und in Polen.
Standorte und Abbildungen der noch erhaltenen oder wiederaufgestellten kursächsischen Meilensteine sind in der Galerie der kursächsischen Postmeilensäulen aufgeführt. In Sachsen stehen die Kursächsischen Postmeilensäulen als Sachgesamtheit unter Denkmalschutz, was auch originalgetreue Nachbildungen und Reststücke dieser Technischen Denkmale einschließt.
== Vorläufer ==
Eine systematische Vermessung mit in regelmäßigen Abständen aufgestellten hölzernen Wegsäulen schlug 1695 der sächsische Oberpostmeister Ludwig Wilhelm für die Straße von Leipzig nach Dresden vor. Kurfürst August der Starke befahl daraufhin am 18. Juni 1695, „daß gewiße Meilenseulen gesetzet werden“. Er ließ den Kondukteur Heinrich Niedhart damit beauftragen. Die kursächsischen Forstmeister sollten das Holz für die Meilensäulen anweisen und die Verwalter der kursächsischen Ämter für die Aufrichtung der Säulen sorgen.
Weiterhin waren in Sachsen vor 1700 so genannte Arm- oder Armensäulen als Wegweiser an Straßen verbreitet. Diese Säulen bestanden aus einem hölzernen Pfahl, der am oberen Ende Richtungsanzeiger in Form von menschlichen Armen mit Händen hatte. Da das Holz durch permanente Nässeeinwirkung schnell faulte, stürzten zahlreiche Säulen wenige Jahre nach ihrer Aufstellung um und waren unbrauchbar.
Die Errichtung der Postmeilensäulen im Kurfürstentum Sachsen war keine singuläre Erscheinung. Aus der Geschichte ist eine Reihe von Ländern bekannt, in denen derartige Säulen oder Steine mit Entfernungsangaben an Straßen errichtet wurden.
== Landesvermessung durch Zürner ==
Grundlage für die Einführung der sächsischen Postmeilensäulen bildeten die kartografischen Arbeiten des Pfarrers Adam Friedrich Zürner aus Skassa. Zürner hatte eine Karte von Großenhain angefertigt, durch die August der Starke auf ihn aufmerksam wurde. Nach weiteren kartografischen Arbeiten erteilte ihm der Kurfürst am 12. April 1713 den Auftrag: „Aemter samt denen darinnen befindlichen Herrschaften, Rittergütern, Städten, Dörfern und dergleichen mehr in mappas geographicas bringen“. Dies bedeutete die topografische Erfassung der kursächsischen Gebiete. Sie umfassten neben dem Kernland die kursächsischen Anteile der Grafschaften Henneberg und Mansfeld, die Schönburger Lande, die Gebiete der albertinischen Nebenlinien Sachsen-Merseburg, Sachsen-Weißenfels und Sachsen-Zeitz sowie die beiden Lausitzen.
Das entstandene Kartenmaterial blieb aus militärischen Gründen mehrere Jahrzehnte weitestgehend geheim. Nur das Ergebnis der wenige Wochen später erfolgten Erweiterung des Vermessungsauftrags – die Erstellung einer verbesserten Post-Landkarte – ließ der Kurfürst veröffentlichen. Die erstmals 1718 publizierte „Chur-Sächsische Post-Charte“ blieb mit Nachauflagen bis ins 19. Jahrhundert in Gebrauch.
Da die Entfernungsangaben zur damaligen Zeit häufig auf ungenauen Schätzungen beruhten, musste Zürner die Entfernungen neu ermitteln oder die vorhandenen Daten überprüfen. Dazu konstruierte er einen Messwagen in Form eines kursächsischen Reisegepäckwagens. Das Hinterrad des Wagens mit dem Umfang einer Dresdner Rute (4,531 m) gab jede Umdrehung mittels einer Kette an ein Zählwerk im Wagen weiter. Zürners Gehilfen nutzten eine Messkarre für nicht kutschentaugliche Wege, die ebenfalls über die Umdrehung des Rades die Entfernung maß und als so genanntes fünftes Rad am Wagen in einem Futteral auf dem Messwagen mitgeführt wurde. Beide Methoden ermöglichten eine sehr genaue Vermessung der Straßen.
Ein weiteres Problem waren die unterschiedlichen Maßeinheiten. Im Kurfürstentum gab es damals verschiedene Meilenmaße. Zur Vereinheitlichung wurde daher am 17. März 1722 die Kursächsische Postmeile (1 Meile = 2 Wegstunden = 2000 Dresdner Ruten = 9,062 Kilometer) eingeführt. Als Entfernungsangabe auf den Distanzsäulen benutzte Zürner die Wegstunde, die einer halben Meile entsprach.
Die Messfahrten begannen in der Regel in Leipzig oder in Dresden, wobei das Zählwerk am jeweiligen Posthaus auf Null gestellt wurde. Deshalb wurde auch von einer Leipziger oder einer Dresdner Distanz gesprochen. Bei einer solchen Fahrt musste der Gehilfe des Vermessers jeweils nach einer Viertelmeile einen nummerierten hölzernen Distanzpflock einschlagen und daneben ein Loch graben. Das Aushubmaterial wurde dann zur Befestigung des Holzpfahls benutzt. Für den Schutz des Vermessungspfahles hatte der Besitzer des Grundstücks zu sorgen.
In einigen Fällen wurden die Vermessungen auch außerhalb des Kurfürstentums fortgesetzt. Überall dort, wo sächsisches Territorium von anderen Herrschaftsbereichen unterbrochen war, wurde auf Straßen, auf denen die sächsische Post verkehrte, mit Erlaubnis des Eigentümers ebenfalls vermessen.
Insbesondere in der Oberlausitz gestaltete sich die Landesvermessung schwierig, da dort die Stände die Tätigkeit Zürners zu verhindern suchten. Erst ab dem 29. Juni 1723 konnte Zürner mit der Vermessung der Ober- und Niederlausitz beginnen. Die Vermessungsarbeiten an den wesentlichen Straßen des Landes waren 1733 abgeschlossen.
== Errichtung der Säulen ==
Am 19. September 1721 erging der kurfürstliche Befehl an die Ämter der Städte Dresden, Meißen und Großenhain, steinerne Postmeilensäulen zu errichten. Am 1. November 1721 wurde der Befehl auf das gesamte Land ausgedehnt. Noch am selben Tag erließ die zuständige staatliche Behörde die Generalverordnung zur „Setzung der steinernen Post-Säulen“ und den Befehl, dass die Kostenübernahme durch die Grundeigentümer der für die Aufstellung vorgesehenen Orte zu übernehmen sei. Für die Oberlausitz erfolgte am 24. November 1721 eine separate Anweisung.
Welche Säulen im Einzelnen gesetzt werden sollten, arbeitete Zürner, den August der Starke damit am 14. Dezember 1721 per Dekret beauftragte, selbst aus. Zürner legte fest, dass direkt vor den Toren der Stadt eine große Distanzsäule, alle Viertelmeilen eine Viertelmeilensäule, alle halben Meilen eine Halbmeilensäule und alle Meilen eine Ganzmeilensäule errichtet werden musste. Während im kursächsischen Anteil der Grafschaft Henneberg anstelle der Steinsäulen gusseiserne Säulen errichtet werden sollten, wurde im kursächsischen Anteil der Grafschaft Mansfeld keine einzige Säule aufgestellt.
Ursprünglich wurden im Zeitraum von 1722 bis 1823, einschließlich Ersatzsäulen, etwa 300 Distanzsäulen und etwa 1200 Straßensäulen gesetzt. Davon sind bis heute etwa 200 zumindest zum Teil noch erhalten oder wurden originalgetreu rekonstruiert, nach 1990 in größerer Zahl auch nachgebildet.
Heute gilt die Alte Dresden-Teplitzer Poststraße in ihrem sächsischen Abschnitt als die am vollständigsten mit erhaltenen Postmeilensäulen besetzte historische Verkehrsverbindung.
Das für die Säulen in Sachsen jeweilig verwendete Material ist vielzahlig und repräsentiert die maßgeblichen Baugesteine des Landes, die sich auch als architekturprägende Baumaterialien in der sächsischen Architekturlandschaft widerspiegeln. Für die meisten Objekte verwendete man den Elbsandstein aus mehreren Gewinnungsstellen in der Sächsischen Schweiz und im Areal des Tharandter Waldes. Häufige Anwendungen sind auch mit dem Rochlitzer Porphyr in Mittelsachsen oder dem Lausitzer Granit in Ostsachsen belegt. Im Raum Chemnitz tritt der Hilbersdorfer Porphyrtuff als Säulenmaterial hinzu, der bei Hilbersdorf und Flöha gewonnen wurde. Im oberen Erzgebirge und im Vogtland sind Säulen aus Graniten dieser Gebiete errichtet worden, beispielsweise aus Wiesaer Granit, Granit des Greifensteingebietes, Schwarzenberger Granit, Kirchberger Granit oder der Bad Brambacher Granit vom „Fichtelgebirgstyp“. Die mit dieser Vielfalt an Gesteinen verbundene Problematik des differenzierten Verwitterungsverhaltens erweist sich in manchen Fällen als denkmalpflegerische Herausforderung. Auch aus diesem Grund sind zahlreiche Säulen nicht mehr existent.
== Widerstände ==
Sowohl die Kosten als auch die Verantwortung für die Setzung der Säulen musste die jeweilige Obrigkeit des Ortes übernehmen, deshalb stießen die Maßnahmen nicht auf ungeteilte Zustimmung im Lande. Weil die Leistungsfähigkeit der Städte je nach Gewerbestruktur und Größe sehr verschieden war, trafen die finanziellen Belastungen die Orte sehr unterschiedlich. Unabhängig von ihrer Größe hatten sie oft eine ähnliche Anzahl an Stadttoren und deshalb eine vergleichbare Zahl von Säulen aufzustellen. Häufig existierten drei bis fünf Tore. Der Sächsische Landtag bat 1722 den Kurfürsten, auf das kostspielige Projekt zu verzichten, das im gesamten Land den Widerstand vieler Stadträte und Grundbesitzer hervorrief. Zahlreiche Städte versuchten den Erlass zu ignorieren oder zu verschleppen.Für die Umsetzung der Anweisungen musste der Kurfürst zu harten Maßnahmen greifen und drohte mit einem „Befehl“ vom 24. Juli 1722 für Nachlässigkeiten, Säumigkeiten oder Beschädigungen der Säulen Disziplinarmaßnahmen und am 7. September 1724 nochmals jedem Beamten bei Terminüberschreitungen und jeder einzelnen Nachlässigkeit Strafen in Höhe von 20 Talern an. Besonders auf den Straßen Mittelsachsens, im Bereich der Orte Colditz, Grimma, Oschatz, Rochlitz und Waldheim, sowie den Routen von diesen Städten nach Leipzig und von dort nach Zeitz erschienen die Lücken besonders auffällig und waren im Dekret vom 7. September Gegenstand einer öffentlichen Maßregelung durch den Kurfürsten.Viele Orte strebten im Verlauf dieses Konfliktes an, nur eine Säule aufstellen zu müssen. Zürner kannte die Lage vieler kleiner Gemeinden sehr genau. Er ging im Zuge der Umsetzung des Projektes dazu über, die Städte in ihrem Bestreben zu unterstützen und setzte sich beim Kurfürsten für dessen Zustimmung ein. Dieser erteilte sie in vielen Fällen entsprechend den Gesuchen der Städte. An den überregionalen Verbindungsstraßen stellte man nun hölzerne Armsäulen auf oder reparierte bestehende Objekte. Nach 1727 hatte sich die Praxis einer Säule pro Stadt in vielen Fällen durchgesetzt.Da bereits dem Befehl vom 19. September 1721 eine 24 Punkte umfassende Denkschrift mit einer Auflistung von Vorteilen der Verordnung beigefügt war, scheint man von Anfang an mit Problemen gerechnet zu haben. Als Vorteile der Landesvermessung nannte die Denkschrift beispielsweise, dass die Bezahlung von „Bothen, Stafetten, Posten und anderen Fuhren“ überprüfbar werde und die Preise nicht mehr willkürlich festgesetzt werden könnten, dass es weniger Klagen der Reisenden über zu hohe Entgelte geben werde, die zu dieser Zeit im hohen Maß Gerichte und Oberbehörden beschäftigten, und dass Wege- und Beförderungszeit durch die Vermessung erstmals exakt festgelegt wären. Als weiteres Argument wurde angeführt, dass Straßen im Winter und in der Nacht besser erkennbar seien.Besonders stark war der Widerstand gegen die Postmeilensäulen in der Oberlausitz. Die Stadträte von Bautzen und Görlitz weigerten sich 1723, Zürner in dieser Angelegenheit überhaupt zu empfangen. Erst am 31. März 1724 erklärten sich die Stände der Oberlausitz bereit, den Anweisungen Folge zu leisten.Da vereinzelt Säulen beschädigt oder sogar umgeworfen wurden, setzte ein Befehl von 1724 für solche Taten Festungshaft und andere „harte und exemplarische Strafen“ fest.Aufgrund des anhaltenden Widerstandes konnte sich schließlich am 12. April 1728 der Sächsische Landtag mit dem Beschluss, die Säulen nur auf Haupt- und Poststraßen zu errichten, gegen den Kurfürsten durchsetzen.
== Erscheinungsbild ==
Inwieweit August der Starke selbst an der Entwicklung der Entwürfe für die Säulen beteiligt war, ist unklar. Das letztlich barocke, antiken Vorbildern folgende Erscheinungsbild der Säulen wird mit dem damaligen Oberlandesbaumeister Matthäus Daniel Pöppelmann in Verbindung gebracht.
=== Distanzsäule ===
Die große Distanzsäule besteht aus sieben Teilen. Den Unterbau bilden Sockel, Postament und Postamentbekrönung. Der Oberbau besteht aus Zwischenplatte (Schaftfuß), Schaft, Wappenstück und Aufsatz (Spitze). Die Säulen haben eine durchschnittliche Höhe von 8 Ellen (4,53 Meter) und ruhen auf einem eine halbe Elle hohen Fundament. Die einzelnen Teile der Säule werden mittels in Blei vergossenen Eisenstiften zusammengehalten. Auf dem Schaft der Säule befindet sich die Zielrichtung, auf Anweisung Zürners in Fraktur gehalten und erstellt anhand von Distanztabellen, die für jede Stadt ausgearbeitet wurden. Einige durch Grenzen unterbrochene Strecken sind durch gr oder eine waagerechte Linie gekennzeichnet. Teil der Inschrift ist auf allen Säulen ein auf allen vier Seiten angebrachtes Posthorn, das als Zeichen für die staatliche Posthoheit stand. Am Oberbau sind über Eck das Wappen des Kurfürstentums Sachsen mit vergoldeter Krone und die polnische Königskrone mit dem königlich-polnisch-litauischen Wappen angebracht.
Die ursprünglich vor dem Stadttor errichteten Säulen trugen meist auf zwei Seiten die Entfernungsangaben und auf den übrigen zwei die Stadtnamen des Zielortes. Später direkt auf dem Marktplatz errichtete Säulen enthielten dagegen auf allen vier Seiten die Entfernungsangaben.
=== Ganzmeilensäule ===
Die Ganzmeilensäule wurde zur Markierung jeder vollen Meile an der Poststraße errichtet. Sie ist ungefähr 3,75 Meter hoch und ähnelt in ihrer Form der großen Distanzsäule. Sie ist jedoch schlanker und hat kein Wappenteil. Die Beschriftung ist auf zwei Seiten angebracht, so dass der Reisende diese in Fahrtrichtung lesen konnte. Auf der Straßenseite befindet sich die so genannte Reihennummer, mit der alle Straßensäulen und -steine durchnummeriert sind. Da je Viertelmeile eine Nummer vergeben ist, besitzt jede Ganzmeilensäule eine durch vier teilbare Reihennummer.
=== Halbmeilensäule ===
Die Halbmeilensäule, auch als Stundensäule bezeichnet, da die Stunde als Wegemaß einer halben Meile entsprach, hat einen niedrigen Sockel und einen darüberliegenden, sich von oben nach unten verjüngenden Schaft. Eine dachförmig abgeschrägte Platte bildet den oberen Abschluss. Die Gesamthöhe beträgt etwa 3 Meter. Sie trägt die gleichen Inschriften wie die Ganzmeilensäule. Die hermenähnliche Bauform der Posthalbmeilensäule führte dazu, dass heute nur noch wenige dieser Art erhalten sind. Die Reihennummer ist stets gerade, aber nicht durch vier teilbar.
=== Viertelmeilenstein ===
Der Viertelmeilenstein ruht auf einem niedrigen Sockel und besteht aus einer rechteckigen Platte oder Stele. Die Gesamthöhe beträgt etwa 1,7 Meter. Inschriften waren für diese Säulen nicht vorgesehen, sie tragen lediglich das Monogramm „AR“, ein Posthorn, das Jahr der Anfertigung sowie, auf der der Straße zugewandten Schmalseite, die stets ungerade Reihennummer.
== Nachfolger ==
Im Königreich Sachsen wurden im Zusammenhang mit der Arbeit der Normalaichungscommission und den diesbezüglichen federführenden Arbeiten durch Albert Christian Weinlig und Julius Ambrosius Hülße die Vorbereitungen zur Einführung des metrischen Systems vollzogen. Diese sahen auch eine Übergangsphase für alte Maßeinheiten vor. Fast gleichzeitig liefen diese Bemühungen auf der Ebene des Deutschen Bundes. Nach einer Neuvermessung 1858 wurde zwischen 1859 und 1865 ein neues System von Meilensteinen – die Königlich-sächsischen Meilensteine in Form von Stations-, Ganzmeilen-, Halbmeilen-, Abzweig- und Grenzübergangssteinen – geschaffen (ab 1840: 1 Meile = 7,5 km). Diese wurden nach der Einführung des metrischen Systems um 1900 zum Teil in Kilometer-, Chaussee-, Flurgrenz- bzw. Straßenwärtersteine umgestaltet. In Sachsen stehen die Königlich-sächsischen Meilensteine als Sachgesamtheit unter Denkmalschutz, was auch originalgetreue Nachbildungen und Reststücke dieser Technischen Denkmale einschließt.
== Siehe auch ==
Galerie der kursächsischen Postmeilensäulen
Postmeilensäulen an der Alten Dresden-Teplitzer Poststraße
== Literatur ==
Autorenkollektiv: Lexikon Kursächsische Postmeilensäulen. Herausgegeben von der Forschungsgruppe Kursächsische Postmeilensäulen e. V. transpress Verlag für Verkehrswesen, Berlin 1989, ISBN 3-344-00264-3.
Forschungsgruppe Kursächsische Postmeilensäulen e. V. (Hg.): Postsäulen und Meilensteine. 4. Auflage, Schütze-Engler-Weber Verlags GbR, Dresden 2020, ISBN 978-3-936203-42-4
Katrin Körner: Die Ära der königlich sächsischen Meilensteine von 1858 bis 1873, 1. Auflage, Eigenverlag, Chemnitz 2017.
Gustav Adolf Kuhfahl: Die kursächsischen Postmeilensäulen Augusts des Starken…. Verlag des Landesvereines Sächsischer Heimatschutz, Dresden 1930.
Carl Christian Schramm: Saxonia Monumentis Viarum Illustrata. – Wege-Weisern, Armen- und Meilen-Säulen. Wittenberg 1727.
Eberhard Stimmel: Kursächsische Postmeilensäulen – Bibliographie. Herausgegeben von der Forschungsgruppe Kursächsische Postmeilensäulen e. V. Verlag für Bauwesen, Berlin 1988.
Hans-Heinrich Stölzel: Vorhandene kursächsische Postmeilensäulen und Reststücke. In: Sächsische Heimatblätter. Heft 6, 1971, S. 261–271.
== Wikilinks ==
== Weblinks ==
Forschungsgruppe Kursächsische Postmeilensäulen e. V.
Kursächsische Postmeilensäulen
Kursächsische Postmeilensäulen in der Oberlausitz
Karte der Ämter Wurzen, Eilenburg & Düben (Schenck, Amsterdam 18. Jahrhundert, ohne Erwähnung Zürners) Diese Karte zeigt zwei der durch Zürner erstellten Kursächsischen Postmeilensäulen: eine Halbmeilensäule (umgefallen, mit Monogramm „AR“) und einen stehenden Viertelmeilenstein.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kurs%C3%A4chsische_Postmeilens%C3%A4ule
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Schildhorn
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= Schildhorn =
Schildhorn ist eine Landzunge im Landschaftsschutzgebiet Grunewald im gleichnamigen Berliner Ortsteil Grunewald des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf. Die rund 110 Meter breite Halbinsel ragt rund 400 Meter in die Havel hinein und bildet eine kleine Bucht, die Jürgenlanke.
Das Schildhorn, die Jürgenlanke und das denkmalgeschützte Ensemble Wirtshaus Schildhorn galten in den 1880er Jahren als Lieblingsziel der Berliner Sonntagsausflügler. Der Rückgang der Ausflugsgastronomie nach dem Zweiten Weltkrieg führte zu einem Funktions- und Attraktivitätsverlust des Gebietes, den der Berliner Senat trotz gezielter Gegenmaßnahmen nur zum Teil auffangen konnte.
Anziehungspunkt der Besucher ist neben der Havellandschaft und der Gastronomie das Schildhorndenkmal, das Friedrich August Stüler nach Bleistiftskizzen Friedrich Wilhelms IV. von Preußen 1845 entworfen hatte. Das Denkmal gehörte zu einer bildhauerischen Dreiergruppe, mit denen der König in den „oft todten uninteressanten Gegenden“ der Mark Brandenburg Wendepunkte der Landesgeschichte markieren wollte. Es besteht noch, ist aber weitgehend in Vergessenheit geraten. Die auch „Schildhornkreuz“ genannte Säule symbolisiert die Schildhornsage aus dem 19. Jahrhundert um den Slawenfürsten Jacza von Köpenick, der hier 1157 im Gründungsjahr der Mark Brandenburg vor Albrecht dem Bären durch die Havel geflohen sein soll. Aus Dankbarkeit für seine Rettung habe sich Jacza zum Christentum bekannt und seinen Schild und sein Horn an einen Baum gehängt. Seither heiße die Landzunge Schildhorn.
== Geografie und Geologie ==
=== Lage und Verkehrsanbindung ===
Schildhorn und Jürgenlanke liegen im Berliner Grunewald am östlichen Havelufer zwischen dem südlichen Kuhhorn und der nördlichen DLRG-Wasserrettungsstation Postfenn. Die Halbinsel ragt in nördlicher Richtung in die Havel, die sich hier zu einer Seenkette erweitert, hinein und läuft auf die rund 800 Meter entfernte Halbinsel Pichelswerder zu. Das gegenüberliegende westliche Havelufer mit den Spandauer Ortsteilen Gatow und Wilhelmstadt (Ortslage Weinmeisterhöhe) ist rund 600 Meter entfernt. Landeinwärts in östlicher Richtung befindet sich die Revierförsterei Saubucht und nach weiteren rund 400 Metern folgt am Schildhornweg der Friedhof der Namenlosen, der Friedhof Grunewald-Forst. Nach weiteren rund 1,5 Kilometern schließt sich das Naturschutzgebiet Teufelsfenn mit dem Teufelssee an. Mehrere Wanderwege, darunter der Schildhornweg, führen aus dem Grunewald zur Landzunge.
An das Straßennetz sind die Halbinsel und die Bucht ausschließlich über die Havelchaussee angebunden, die etwas oberhalb am Hang verläuft. Von der Chaussee führen zwei Stichstraßen hinunter. Eine führt zum Yachtclub Schildhorn und die zweite, die Straße Am Schildhorn, an dem kleinen Restaurantbetrieb Schildhornbaude vorbei zu einem öffentlichen Parkplatz, der kurz vor der Halbinsel am historischen Wirtshaus Schildhorn liegt. Dessen hauseigene Anlegestelle steuern nur gelegentlich kleinere Schiffe im Ausflugsverkehr an.
=== Teil des Teltow ===
Geologisch und auch kulturräumlich gehört Schildhorn zum Teltow, der nach Westen in der Havelniederung ausläuft. Die Havel trennt die weichseleiszeitliche Teltowhochfläche von der nordwestlich gelegenen Nauener Platte mit Gatow und Teilen von Wilhelmstadt. Während die Grundmoränenplatte des Teltow in weiten Teilen flachwellig ausgebildet und von Geschiebemergel bestimmt ist, dominieren im Grunewald außergewöhnlich mächtige (20 Meter und mehr) Schmelzwassersande aus der Vorstoßphase des Inlandeises. Im Bereich um Schildhorn hat das vorstoßende Eis die Sande zudem kräftig gestaucht (gestört), sodass hier ein bewegtes Relief einer Stauch-/Endmoräne das Landschaftsbild bestimmt.
Insbesondere der Nordrand des – der Schildhorn-Halbinsel benachbarten – 61 Meter hohen Dachsberges weist eine mächtige Stauchung auf. Schildhorn folgt unmittelbar auf die westlichen Ausläufer des Dachsbergs, getrennt lediglich durch eine schmale Senke am Fuß der Landzunge. Gleich nach dem dort gelegenen Spielplatz steigen die Sande wieder an und bilden den für Schildhorn bestimmenden Höhenzug, der rund zehn Meter über der Wasseroberfläche der Havel liegt. Umgeben ist der Höhenzug der Halbinsel von einem flachen, zumeist nur wenige Meter breiten, Uferstreifen. Noch zum Ende des 19. Jahrhunderts überflutete Hochwasser gelegentlich die kleine vorgelagerte Senke und trennte Schildhorn vollständig vom Festland ab.
=== Hydrologie und Klima ===
Die Jürgenlanke hat eine Wasseroberfläche von rund sechs Hektar, das Volumen liegt bei rund 120.000 m³. Die geringe Wassertiefe von durchschnittlich zwei Metern und die Funktion der Bucht als Natürlicher Vorfluter der Havel bedingt eine starke Eutrophierung. Aufgrund des fehlenden Durchflusses findet ein stark eingeschränkter Wasseraustausch statt, der bis zur Stagnation des Wassers führen kann. Den Gewässergrund bildet eine im Vergleich zu anderen Havelbereichen mächtige (zwei bis sechs Meter) Faulschlammschicht. Aufgrund ihrer geringen Tiefe, mangelnder Strömung und Sonneneinstrahlung friert die Jürgenlanke im Winter schnell zu.
Das Schildhorn und die Jürgenlanke liegen in einer gemäßigten Klimazone im Übergangsbereich vom atlantisch geprägten Klima Nord-/Westeuropas zum kontinentalen Klima Osteuropas. Das Klima entspricht dem der Berliner Stadtrandlagen. Dabei gehört das Schildhorn als Bestandteil des Grunewalds zu einer der innerstädtischen „Kälteinseln“.
Siehe Abschnitt Klima im Hauptartikel: Berlin
== Schutzgebiete, Flora und Fauna, Freizeit ==
=== Landschafts- und Wasserschutzgebiet ===
Der erste amtliche Naturschützer Berlins, Max Hilzheimer, beantragte in den 1920er Jahren Schutzverordnungen für verschiedene Gebiete in der 1920 gegründeten Stadt Groß-Berlin, darunter das Naturschutzgebiet Schildhorn. Den Antrag für das Schildhorn setzte die Stadt nicht um. Seit 1963 ist die Halbinsel Bestandteil des 3063 Hektar umfassenden Landschaftsschutzgebietes Grunewald, das mit Verordnung vom 12. Juni 1963 gebildet wurde. Mit dem Flächennutzungsplan von 1978 ordnete die Stadt Berlin dem Gesamtbereich Schildhorn/Jürgenlanke den Status Öffentliche Grünfläche zu, mit der Folge, dass mit Ausnahme gastronomischer Einrichtungen Neubauten grundsätzlich nicht mehr möglich sind. Zu den seit den 1990er-Jahren innerhalb des LSG Grunewald ausgewiesenen Natura-2000-Gebieten (FFH und SPA) zählt das Schildhorn nicht. Die Landzunge liegt im Wasserschutzgebiet des Wasserwerks Tiefwerder. Der engere Kreis um die Brunnengalerie Schildhorn ist als Wasserschutzzone I unzugänglich.
=== Flora und Fauna ===
Ein dichter und geschützter Röhrichtgürtel umgibt den Uferstreifen der Landzunge. Die Böschungen und den Höhenzug prägt zu großen Teilen ein Mischwald, dessen Baumbestand vor allem aus Waldkiefern, Eichen und, nach den Kahlschlägen im Mittelalter und nach dem Zweiten Weltkrieg, aus Pioniergehölzen wie Sandbirken, Ebereschen und Robinien besteht. In den Strauchbereichen und Ufergebüschen wachsen Wildrosen und vereinzelte Späte Traubenkirschen. Ruderalpflanzen wie Große Brennnessel, die Nachtkerzenart Oenothera speciosa oder Kahles Bruchkraut dominiert in der Krautschicht. Die Trittrasenflächen haben hohe Anteile an Weidelgras und einjährigem Rispengras. Zahlreich vertreten ist stehendes und liegendes Totholz, das einer Vielzahl von Organismen Lebensraum bietet und große Bedeutung für den Artenschutz der zahlreichen Käfer hat. Einige abgestorbene und absterbende Bäume sind von Hopfen bewachsen. Unmittelbar nördlich schließt sich an das Schildhorn eine Auenlandschaft an, in der sich Restbestände des einst ausgedehnten Fahlweiden-Schwarzerlen-Auenwaldes und dichte Uferweidengebüsche finden. Die Jürgenlanke weist vereinzelte See- und Teichrosenbestände auf. Aufgrund der starken Eutrophierung der oft faulig riechenden Bucht treten gelegentlich Algenblüten auf.
In den Röhrichten brüten zahlreiche Entenvögel und Rohrsänger, darunter der gefährdete Drosselrohrsänger. Das relativ feine, meist sandige Substrat bietet einen idealen Lebensraum für die Larven der Gemeinen Keiljungfer, einer Libelle aus der Familie der Flussjungfern. Im Wald dominieren Singvögel und gelegentlich ist das Klopfen eines Buntspechts zu hören. Aus der Klasse der Reptilien sind die Blindschleiche und die Zauneidechse vertreten. Kleinsäuger sind auf dem Schildhorn heimisch, während die im Grunewald zahlreichen Wildschweine sowie Rehe und Dachse selten auf die Halbinsel gelangen.
=== Strand und Wege ===
An der Spitze der Landzunge weitet sich der ansonsten schmale Uferstreifen und Schildhorn läuft mit einem rund 100 Meter langen Strandabschnitt aus. Der vielbesuchte Strand verfügt über die historische Wasserrettungsstation Schildhorn, die von der DLRG betrieben wird und deren Steg weit in die Havel hineinführt. Die Station ist nach dem Rettungsdienst aus dem Jahr 1908, der unterhalb des Grunewaldturms rund 1,6 Kilometer südlich liegt, die zweitälteste Berliner Wasserrettungsstation. Schildhorn ist als Abstecher und „Wissenspunkt 07“ Bestandteil des gut ausgeschilderten und mit Informationstafeln versehenen Havelhöhenwegs (Abschnitt 1). Der Wanderweg führt oberhalb der Jürgenlanke vorbei und dann hinunter in die schmale Senke am Fuß von Schildhorn. Vor dem in der Senke gelegenen Spielplatz teilt sich der Weg und umrundet die Halbinsel auf dem schmalen Uferstreifen in beide Richtungen. In der Mitte des hinteren Spielplatzbereichs führt eine Steintreppe auf den Höhenrückenweg, an dessen Ende das Schildhorndenkmal steht.
Die Spielgeräte auf dem weitläufigen Waldspielplatz sind weitgehend aus Holz geformt. Neben einigen der üblichen Spielgeräte wie Schaukel, Rutsche oder Kletternetz gibt es Holzfiguren wie ein kleines Pferd mit Pferdewagen. Mit dem Konzept des Platzes und einer kindgerechten Informationstafel unter dem Titel „Spielplatz Schildhorn – Fürst Jaczo auf der Spur“ will die Berliner Senatsverwaltung die Kinder animieren, „in die Welt des Jaczo ein[zu]tauchen“. Allerdings enthält die Tafel die verbreitete Fehlinformation zur Namensgebung: „Fürst Jaczo hängte hier sein Schild und sein Horn an einen Baum, und gab so dem Schildhorn seinen heutigen Namen“.
== Geschichte ==
=== Etymologie ===
Die Schildhornsage legt zwar nahe, dass der Name Schildhorn auf sie zurückgeht, und einige Darstellungen und Gedichte betonen diese Namensgebung ausdrücklich (siehe unten). Dennoch ist die Ableitung nicht belegt. Vielmehr beruht der Name etymologisch sehr wahrscheinlich auf der Übersetzung eines slawischen Wortes als Schild und auf dem mittelniederdeutschen geografischen Begriff Horn für Landzunge, Landvorsprung; fast alle Namen größerer Ufervorsprünge an den Havelseen enden auf –horn, beispielsweise Kuhhorn, Breitehorn oder Weinmeisterhorn. Nach Gerhard Schlimpert leitet sich möglicherweise auch das Bestimmungswort Schild aus der Form der Landzunge ab, deren Höhenzug von der Havel aus gesehen der Form eines Schildes ähnelt. Wahrscheinlicher sei jedoch, dass Schild die Übersetzung des slawischen Gewässerflurnamens Styte sei, deren polabische Grundform Ščit dem urslawischen ščitž = Schild zugrunde liege. Die Styte habe in unmittelbarer Nähe des Schildhorns gelegen und ist 1590 und 1704 im Erbregister Spandau als Die Styte belegt. Im Slawischen sei der Flurname noch in den 1930er-Jahren lebendig gewesen.
=== Siedlungsgeschichte bis 1860 ===
Mit einiger Sicherheit gab es seit dem 12. Jahrhundert eine jungslawische Siedlung am Schildhorn, die bis in die frühdeutsche Zeit hinein Bestand hatte. Die erste schriftliche Erwähnung der Halbinsel unter dem Namen „Schildhorn“ findet sich im Spandauer Erbregister 1590 („[…] wo ein Garnzug der Havelfischer ‚der Schildhorn‘ heißt.“). Eine Urkunde von 1608 im Staatsarchiv Potsdam enthält die Schreibweise „Schilthorn“ und 1704 heißt es, wieder im Erbregister, „Schildthorn“. Als erste Landkarte verzeichnet die Oesfeldsche Karte der Gegend um Berlin aus dem Jahr 1786 die Halbinsel unter dem Namen Schildhorn. Die Statistisch-topographische Beschreibung der gesammten Mark Brandenburg aus dem Jahr 1805 von Friedrich Wilhelm August Bratring hat im Band 2 die Angabe „Schildhorn, Etablissement einiger Büdner, nahe bei Spandau“. 1845 ließ Friedrich Wilhelm IV. auf der Spitze der Landzunge das Schildhorndenkmal errichten. Daneben bestanden Schildhorn und Jürgenlanke bis zum Ende der 1850er-Jahre „[…] nur aus einigen wenigen strohgedeckten Fischerhäusern und einer Holzwärterbude der Königlichen Forst-Ablage, von der das im Grunewald geschlagene Holz über die Havel geflößt wurde.“ Eine Statistik von Richard Boeckh verzeichnet das Schildhorn 1861 erstmals mit zwei Wohnhäusern und ein Verzeichnis von 1897 nennt erstmals ein Gasthaus. Dabei liegen sämtliche, auch später entstandenen Gebäude und Einrichtungen nicht auf dem Schildhorn selbst, sondern kurz vor der Halbinsel im Uferbereich der Jürgenlanke.
=== Lieblingsziel der Berliner in den 1880er Jahren ===
Der Bau der Havelchaussee zwischen 1879 und 1885 verband Schildhorn, das rund dreizehn Kilometer Luftlinie von der damaligen Berliner Stadtgrenze entfernt lag, mit dem Berliner Wegenetz. Nach der Eröffnung der Wannseebahn im Jahr 1874 und insbesondere nach der Eröffnung des Bahnhofs Grunewald 1879, der eigens für den Ausflugsverkehr gebaut wurde, entwickelte sich Schildhorn zum Lieblingsziel der Berliner Sonntagsausflügler. Mehrere zehntausend Sonntagsausflügler sollen in den 1880er-Jahren am Bahnhof Grunewald angekommen und den Forst und insbesondere das Schildhorn besucht haben. Der Bau der ersten Restauranthalle des Wirtshauses am Schildhorn im Jahr 1881 trug dem Besucherandrang Rechnung. Da zu dieser Zeit das Picknick besonders beliebt war, durften die Gäste – bis in die 1950er-Jahre – auch im Wirtshaus ihre mitgebrachte Verpflegung verzehren.
=== Das denkmalgeschützte Ensemble Wirtshaus Schildhorn ===
Die Gebäude des Wirtshauses stehen seit 1985 als „ortsgeschichtlich wichtiges und seltenes Ensemble, […] das ein interessantes Kapitel der historistischen Wohnhaus- und Gastronomiearchitektur widerspiegelt“, als Baudenkmal unter Schutz. Das Gesamtensemble entstand ab 1865 in mehreren Baustufen auf einem halben Büdnergut an der Jürgenlanke.
Die ersten Gebäude der 1860er und 1870er Jahre waren drei spätklassizistische Wohnhäuser zur Straßenseite. Das Haus Am Schildhorn Nr. 3 ließ 1870 ein Wegewärter errichten und mit vier Reliefmedaillons mit symbolischen Darstellungen der Jahreszeiten ausstatten.
Nach Entwürfen von C. Jacob folgte 1881 ein hallenartiger eingeschossiger Restaurantsaal aus einer leichten Fachwerkkonstruktion mit getünchten Backsteinen im Gefache, der als Veranstaltungs- und Tagungsraum für bis zu 250 Personen diente. Den Bau schließt ein flaches Satteldach, dessen offener Dachstuhl zu den signifikanten Merkmalen des Innern gehört.
Eine zweite Halle mit verglasten Arkaden aus dem Jahr 1894 geht wahrscheinlich auf Entwürfe von A. Merker zurück. Der im Stil der Neorenaissance gehaltene Putzbau weist in der Fassade große Rundbogenfenster mit zwischenliegenden Pilastern und einem breiten dominierenden Gesims mit hoher Attika auf. Der Veranstaltungsraum für 80 bis 100 Personen verfügt über eine Galerie-Bar. Angeschlossen ist ein Wintergarten mit einer Terrasse zum Wasser, der von hoch ragenden Gummibäumen gesäumt ist. Ein flaches Satteldach schließt auch diese Halle nach oben ab.Diese Bauwerke sind im Äußeren weitgehend erhalten.
=== Rückgang der Ausflugsgastronomie und weitere Einrichtungen ===
Bis 1900 hatten sich drei große Ausflugslokale etabliert: Schröder, Richter und Ritzhaupt. Mit dem Rückgang der Ausflugsgastronomie nach dem Zweiten Weltkrieg verloren Schildhorn und Jürgenlanke an Attraktivität. 1965 baute die IG Bau für ihr Gemeinnütziges Erholungswerk (GEW) auf dem südlich gelegenen Gelände des ehemaligen und abgerissenen Hauses Ritzhaupt das Hotel Haus Schildhorn, dessen Grundstück kurz vor der Halbinsel endet. Das Gartenlokal ist öffentlich zugänglich. Das nördliche Lokal brannte zum Teil ab, sodass als historische Gaststätte lediglich das mittlere Gelände des ehemaligen Hauses Richter verblieb. Zahlreiche Pächterwechsel begleiteten die weitere Geschichte des letzten Wirtshauses. In den 1970er-Jahren bestand hier eine Wienerwaldfiliale. Als auch diese Filiale aufgegeben hatte, verhinderte ein städtebaulich-landschaftsplanerisches Gutachten aus dem Jahr 1980 den geplanten Abriss der historischen Hallen. Unter einem neuen Pächter erfolgte 2003 nach vorübergehender Schließung eine Zwangsversteigerung, nachdem die Besucherzahlen im Grunewald infolge der Deutschen Wiedervereinigung und Öffnung der Berliner Mauer erneut zurückgegangen waren.
Im Jahr 2008 verfügt das Ausflugslokal neben den beschriebenen Gebäuden über einen großen Sommergarten für bis zu 1000 Gäste direkt an der Havel/Jürgenlanke, eine 50 Meter lange Bootsanlegestelle, Beachbar und Strandkörbe. Während sich an das Wirtshausgelände nach Süden das Gewerkschaftshotel anschließt, folgt im Norden der Yachthafen Schildhorn mit einer langen Steganlage aus rund 65 Liegeplatzboxen und einem Restaurant.
=== Funktions- und Attraktivitätsverlust ===
Das im Auftrag des Berliner Senats erstellte Gutachten zu einer städtebaulich-landschaftsplanerischen Gesamtkonzeption Schildhorn/Jürgenlanke aus dem Jahr 1980 stellte einen Funktions- und Attraktivitätsverlust des Bereichs fest mit der Folge, dass das Schildhorn „mehr und mehr sein Gesicht zu verlieren drohte und den Eindruck des Ungeordneten aufkommen ließ.“ Die vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen ließen sich aufgrund von Interessenkonflikten zwischen Landschaftsschutz, Wasserschutz, Denkmalschutz, Ausflugsgastronomie, Wassersport (Yachthafen) sowie Wander- und Badetourismus nur zum Teil umsetzen. Insbesondere der Ausbau zum neuen Erholungsschwerpunkt und zum Schwerpunkt für Wassersport ließ sich nicht realisieren. Mit Teilmaßnahmen wie der Anlage neuer Wege, dem Aufstellen von Informationstafeln und dem Abbau eines wilden, nicht genehmigten Campingplatzes trug der Berliner Senat dem Gutachten Rechnung.
=== Kommunale Zugehörigkeit ===
Schildhorn gehörte lange zum Einflussbereich der bis 1920 selbstständigen Stadt Spandau, die deutlich älter als die Berliner Gründungsteile Cölln und Berlin ist. Bereits die jungslawische Siedlung am Schildhorn war Bestandteil der Siedelkammer im Einzugsbereich der slawischen Burg Spandau. Auch unter deutscher Herrschaft war die Teltower Heide, der spätere Forst Grunewald, laut Landbuch Karls IV. von 1375 der Burg Spandau abgabe- und dienstpflichtig. Die Teltower Heide erhielt später die Namen Spandower Heide und ab 1792 Spandauer Forst, nicht zu verwechseln mit dem heutigen Spandauer Forst. Zu dieser Zeit war Schildhorn Teil des Amtes Spandau. Gemäß einer Karte des Teltowischen Creises gehörten dann 1788 sämtliche Gebiete außerhalb Berlins südlich der heutigen Heerstraße und damit auch die südliche Spandower Heide mit Schildhorn zum Landkreis Teltow. Das nördlich angrenzende Pichelswerder blieb im Landkreis Osthavelland. Schildhorn wurde Teil des Gutsbezirks Grunewald-Forst. Erst mit der Gründung Groß-Berlins im Jahr 1920 kamen der Gutsbezirk und Schildhorn im neugegründeten 9. Bezirk Wilmersdorf zu Berlin.
Postalisch und telefonisch blieb Schildhorn Spandau noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden. So findet sich als Ortsangabe aus dieser Zeit in der Regel Schildhorn bei Spandau und die Telefon-Nummern waren dem Teleph.-Amt Spandau zugeordnet. Seit 2001 gehört Schildhorn zum durch die Fusion der bisherigen Bezirke Charlottenburg und Wilmersdorf gegründeten Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf.
== Die Schildhornsage ==
Die Schildhornsage, oft auch als Schildhorn-Legende bezeichnet, bildet den Hintergrund für das Schildhorndenkmal und wurde in zahlreichen Erzählungen, Gedichten und Gemälden dargestellt. Historischer Hintergrund der Volkssage sind die letzten Kämpfe zwischen Slawen und Deutschen, nach denen der Askanier Albrecht der Bär 1157 die Mark Brandenburg gegründet hatte. Die Sage ging auf mündliche Überlieferungen zurück und existierte in den verschiedensten Ausschmückungen und Variationen hinsichtlich Zeit, Ort und Person. Nach Wilhelm Schwartz soll die Sage insbesondere in Pichelsdorf und weiteren Dörfern entlang der Havel sowie in Lietzow als „sich zum Theil widersprechende Volkstradition“ erzählt worden sein. Die älteste, noch sehr kurze Niederschrift stammt von Jacob Paul von Gundling aus dem Jahr 1730. Gundling stellte statt Jacza von Köpenick noch den Slawenfürsten Pribislaw in den Mittelpunkt des Geschehens, der 1157 bereits verstorben war. Als bekannteste Variante setzte sich seit den 1830er-Jahren schrittweise die Schildhorn- oder Jacza-Version durch, die sehr wahrscheinlich auf Forschungen des Archivars und Historikers Adolph Friedrich Johann Riedel beruht, der 1831 Pribislaw durch Jacza ersetzte. Kurz zusammengefasst hat die bekannteste Version der Sage folgenden Inhalt:
Auf seiner Flucht vor Albrecht dem Bären soll Jacza auf seinem Pferd die Havel durchschwommen haben. Als er zu ertrinken drohte und der Slawengott Triglaw sein Flehen um Rettung nicht erhörte, habe er in seiner Not den bislang verhassten Christengott angerufen. Mit Hilfe des Christengottes habe er das rettende Ufer bei Schildhorn erreicht, sich aus Dankbarkeit zum Christentum bekehrt und seinen Schild und sein Horn an einem Baum zurückgelassen. Daher trage die Halbinsel den Namen Schildhorn.
== Das Schildhorndenkmal ==
Die bedeutendste künstlerische Darstellung der Jacza-Sage bildet das Schildhorndenkmal, das der Architekt Friedrich August Stüler nach Bleistiftskizzen Friedrich Wilhelms IV. von Preußen 1845 entwarf.
=== Hintergrund und Entwürfe ===
==== Drei Monumente für die „todten uninteressanten“ Sandschellen der Mark ====
Im Zuge der Romantik setzte um 1830 im Vormärz eine märkische Historienmalerei ein, die sich beispielsweise in den Werken des Landschaftsmalers Carl Blechen ausdrückte. Die „vaterländischen Romane“ von Willibald Alexis gelten als ihre populärste Spielart in der märkischen Literatur. Inspiriert durch seine Reisen durch Italien und Süddeutschland fasste der musisch begabte „Romantiker auf dem Thron“, Friedrich Wilhelm IV., den Entschluss, „mit der Errichtung von […] sinnvollen Monumenten die oft todten uninteressanten Gegenden“ der Mark zu beleben. Drei Wendepunkte der Landesgeschichte sollten den abgelegenen „Sandschellen“ Geschichte einhauchen und den Reisenden Anreize bieten; für alle drei Wendepunkte fertigte Friedrich Wilhelm IV. eigenhändig Bleistiftskizzen an:
Denkmal (Grabkapelle) für Joachim Friedrich im Grünauer Forst, zum Gedenken an den dort 1608 verstorbenen Kurfürsten (nicht erhalten, wich wahrscheinlich 1942 der Erweiterung des Bahngeländes am Bahnhof Grünau).
Kreuz am Kremmer Damm, zur Erinnerung an die Schlachten von 1332 und 1412. Erneuerung des bereits vorhandenen Kreuzes, darunter eine Sockelinschrift zum Gedenken an den Grafen von Hohenlohe, der an dieser Stelle gefallen war.
Kreuz zu Schildhorn (Schildhorndenkmal), zur Gründung und Christianisierung der Mark 1157.
==== Königliche Schildhornskizze für Stüler ====
Das Lieblingsobjekt des Königs war das Schildhornkreuz, dessen Sage „die königliche Phantasie in ihrem urchristlichen Gehalt am stärksten angeregt und zur eigenwilligsten Denkmallösung der Dreiergruppe geführt“ hat. Schildhorn kannte Friedrich Wilhelm IV. wahrscheinlich gut. Die Landzunge lag am Havelufer des alten Jagdreviers der Hohenzollern. Gemeinsam mit seinen Brüdern, insbesondere mit Prinz Carl, hatte der König die Jagdtradition im Grunewald, beziehungsweise im damaligen Spandauer Forst, und im Jagdschloss Grunewald wiederbelebt.1841 bestellte der König beim Schinkel-Schüler Stüler Entwurfszeichnungen für ein zu errichtendes Monument auf dem Schildhorn bei Spandau. Der preußische Hofbaurat Stüler überreichte seine Entwürfe 1843 und im April 1844 dem königlichen Kabinettsrat Karl Albrecht Alexander von Uhden. Die Entwürfe fanden nicht den Beifall des Königs. Stüler sah für die Spitze des Denkmals einen Greifen, das Pommersche Wappentier, vor, während sich der König nach Mitteilung Uhdens „auf der Säule nicht den Greif […], sondern entweder ein einfaches Kreuz oder gar nichts“ wünschte. Seine Vorstellungen skizzierte Friedrich Wilhelm IV. 1844 wie nebenstehend abgebildet eigenhändig. Mit der Kabinettsorder vom 26. Juni 1844 beauftragte er dann den zwei Jahre zuvor zum Architekten des Königs ernannten Stüler offiziell mit der Ausführung. Die Vorgaben des Königs variierte Stüler nur noch leicht und entwarf ein gleicharmiges Kreuz für die Spitze.
=== Baugeschichte ===
==== Errichtung 1845 und Inschrift 1893 ====
Im Sommer 1845 stellte der Baurat Christian Gottlieb Cantian die aus Sandstein geformte Gedenksäule auf der Spitze des Höhenrückens von Schildhorn fertig. Die strenge achteckige Säule stilisiert einen Baumstumpf mit angedeuteten Ästen und ähnelt nach Feststellung der Kunsthistorikerin Eva Börsch-Supan einer romanischen Säule mit Astansätzen an der sächsischen Stiftskirche Wechselburg. Auf halber Höhe ist ein Rundschild aus Metall befestigt. Das krönende gleicharmige Kreuz symbolisiert Jaczas Hinwendung zum Christentum. Seine Kreisform geht auf das Trierer Marktkreuz von 958 zurück, das Erzbischof Heinrich I. als Hoheitszeichen gestiftet hatte. Es knüpft zudem an Schinkels zweiten Entwurf zum Ottobrunnen in Pyritz an. Das Denkmal fiel höher als zunächst geplant aus, statt 16 lag die Gesamthöhe bei 24 Fuß (knapp neun Meter). Die Säule ruhte ursprünglich auf einer achtkantigen Plinthe, die auf einem viereckigen Sockel eingezogen war. Um dem Sockel in dem weichen Teltowboden Halt zu geben, ließ Cantian ihn auf einem weiteren, flacheren und quadratischen Sockel verankern, der aus Feldsteinen gemauert war. Der vom König bereitgestellte Etat in Höhe von 420 Reichstalern wurde aufgrund der höheren Ausführung überschritten. 1893 wurde an dem wuchtigen Denkmalsockel folgende Inschrift in märkisch-plattdeutscher Mundart angebracht:
Die Inschrift war mit F.v.B. gezeichnet, wurde 1910 erneuert und war spätestens 1935 nicht mehr vorhanden.
==== Wiederaufbau 1954 und Denkmalpflege ====
Nach seiner Zerstörung im Jahr 1945 rekonstruierten Lehrlinge der senatseigenen Dahlemer Steinmetzwerkstatt unter der Leitung von Karl Wenk das Denkmal 1954 mit Hilfe von Fotografien und vier Trümmerstücken. Der Wiederaufbau erfolgte auf einem im Vergleich zum Original erhöhten Sockel, der das Denkmal auf der inzwischen mit Bäumen bewachsenen Schildhornkuppe besser zur Geltung bringen sollte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht das Denkmal versteckt hinter Bäumen, während es zu seiner Bauzeit von allen Seiten und auch von der Havel sehr gut sichtbar war.
Mit dem im Gutachten des Berliner Senats aus dem Jahr 1980 für den Bereich Schildhorn/Jürgenlanke festgestellten Funktions- und Attraktivitätsverlust geriet auch das Denkmal, hinter hohen Bäumen und Sträuchern verborgen, zunehmend in Vergessenheit. Ein gartendenkmalpflegerisches Gutachten aus dem Jahr 1989 stufte das vernachlässigte Denkmal aufgrund seiner Geschichte und seines Symbolgehalts als erhaltenswert ein. Die vorgeschlagenen Maßnahmen, wie eine bessere Einbindung in die Landschaft, das Aufstellen von Bänken und die Installation von Informationstafeln, die Reinigung des Denkmals und die Ausbesserung von Rissen und Abbrüchen, setzte die Verwaltung kaum um. Lediglich am Spielplatz und am Fuß der Halbinsel weisen neuere Informationstafeln des Havelhöhenwegs auf das Denkmal und seine Geschichte hin. Das Denkmalumfeld und das Denkmal selbst, dessen Sockel bröckelt, erscheinen auch im Jahr 2008 ungepflegt.
=== Das Denkmal in der Malerei ===
Zahlreiche Fotografien und Gemälde hielten das Schildhorndenkmal im Bild fest. Die bekannteste Darstellung ist das oben als Eingangsbild wiedergegebene Gemälde von Eduard Gaertner aus dem Jahr 1848. Das Bild zeigt die Säule drei Jahre nach ihrer Fertigstellung, als sie auf der damals unbewaldeten Landzunge wie eine Landmarke noch aus allen Richtungen weithin sichtbar war. Gaertner, dessen Stil sich nach dem Tod seines Förderers Friedrich Wilhelms III. von der klassizistischen Architekturmalerei zum eher romantischen Blick auf Natur und Geschichte gewandelt hatte, hielt auch die beiden anderen Monumente der Dreiergruppe für die „todten uninteressanten“ Sandschellen der Mark im Bild fest. Der Zyklus war für die königliche Aquarellsammlung bestimmt.
=== Rezeption ===
Kunstkritik
Die Ausführung des Denkmals wurde heftig kritisiert. Der Schauspieler, Theaterdichter und Publizist Louis Schneider, Mitglied im Tunnel über der Spree und dem 1861 verstorbenen Friedrich Wilhelm IV. als offizieller Vorleser treu ergeben, monierte 1869 unter anderem die Form des Kreuzes. Der Architekt und Redakteur K.E.O. Fritsch führte das Schildhorndenkmal auf seiner Gedenkrede vom 29. Januar 1900 zum hundertsten Geburtstag Stülers als Beispiel für die weniger gelungenen Arbeiten des Baumeisters an. Namentlich unter den von Friedrich Wilhelm IV. errichteten Denkmälern fänden sich bezeichnende Beispiele einer kleinlichen und künstlerisch unreifen Lösung: „Es sei nur an das Denkmal auf dem Schildhorn erinnert.“
Theodor Fontane hatte bereits 1860 geschrieben:
Gregor Geismeier hingegen kritisierte 1999 wiederum Fontanes Ausführungen, da dem Schriftsteller der Mark unter anderem die historischen Bezüge zum Trierer Marktkreuz und zur Stiftskirche Wechselburg entgangen seien. Verglichen mit der späteren Monumentalbildhauerei, die ihren Höhepunkt in der Siegesallee Kaiser Wilhelms II. erreichte, sei das Schildhorndenkmal von eigenwilliger und schöpferischer Phantasie geprägt und „ein originelles Seitenstück zur regen Diskussion um die vaterländische Frühgeschichte“ in der damaligen Zeit. Die Kunstkritikerin Eva Börsch-Supan wiederum vermisst die Geschmeidigkeit und den Trotz Stülers, dem „geistreichen königlichen Dilettanten“ entschieden entgegenzutreten. Dann wäre manches königliche Monument ein Projekt geblieben.
=== In der Zeit des Nationalsozialismus ===
Während das Dritte Reich den Gründer der Mark und Gegenspieler Jaczas, Albrecht den Bären, zumindest gelegentlich für seine Ideologie vereinnahmt hatte, liegen für eine Instrumentalisierung Schildhorns durch nationalsozialistische Propaganda keine Belege vor. Zwar markierte Schildhorn Friedrich Wilhelms IV. „Wendepunkt der Landesgeschichte“, doch stand im Schildhornkreuz die Christianisierung der Mark im Vordergrund. Der Beitrag Pappenheims in der Spandauer Zeitung vom 13. Juli 1935 zum 90-jährigen Denkmaljubiläum enthält keine nationalistischen Inhalte und auch keine vaterländischen Glorifizierungen, während Loblieder auf den Deutschen Frauenarbeitsdienst oder die Jugend im neuen Reich das redaktionelle Umfeld des Artikels füllen. Eberhard Faden wies 1937 in der Festschrift zur 700-Jahrfeier Berlins darauf hin, dass polnische Chroniken zum Zug Jaczas nach Brandenburg schweigen, und dass die Schildhornsage von der Taufe Jaczas, die Friedrich Wilhelm IV. den Anlass gab, die Schildhornsäule zu errichten, erst im 19. Jahrhundert aufkam.Um Schildhorn blieb es in dieser Zeit so ruhig, dass sich hier noch 1943 Juden verstecken konnten. Die Autorin Inge Deutschkron beschrieb 2007 in einem Festvortrag der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, wie sie sich in das Bootshaus in Schildhorn rettete. Das Bootshaus hatten Freunde der Autorin 1933 erworben, um „in ihrem Ruderboot auf der Havel zu fahren, ohne dass ihre politischen Gespräche belauscht werden konnten.“
== Literatur ==
Ausführliche Literaturangaben zur Sage im Hauptartikel Schildhornsage
Natur, Etymologie, Geschichte, Architektur
Eberhard Bohm: Die letzten 150 Jahre des hevellischen Alt-Spandau. In: Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Slawenburg, Landesfestung, Industriezentrum. Untersuchungen zur Geschichte von Stadt und Bezirk Spandau. Colloquium-Verlag, Berlin 1983, ISBN 3-7678-0593-6, S. 36–55.
Karl Ludwig, Falk Trillitzsch u. a.: Schildhorn / Jürgenlanke. Städtebaulich-landschaftsplanerisches Gutachten zur Erlangung von Nutzungskonzeptionen für den Bereich Schildhorn / Jürgenlanke in Berlin (West). Auftraggeber: Der Senator für Bau- und Wohnungswesen, Berlin 1980
Kurt Pomplun: Schildhorn – „Lieblingsziel der Berliner Sonntagsausflügler“. In: Kurt Pomplun: Von Häusern und Menschen. Berliner Geschichten. 2. Auflage. Verlag Bruno Hessling, Berlin 1976, S. 55–59
Carola Sailer: Gartendenkmalpflegerisches Gutachten Schildhorndenkmal, Berlin-Wilmersdorf. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III – Gartendenkmalpflege. Auftragnehmer: HORTEC – Garten- und Landschaftsplanung GbR, Berlin 1989.
Gerhard Schlimpert: Brandenburgisches Namenbuch, Teil 3, Die Ortsnamen des Teltow . Hermann Böhlaus Nachf., Weimar 1972, S. 244f.Denkmal
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Teil 1. Die Grafschaft Ruppin, Anhang Das Schildhorn bei Spandau. Zahlreiche Ausgaben.
Gregor Geismeier: Stülers „sinnvolle Monumente“ in der Mark. In: Die Mark Brandenburg. Marika Großer Verlag, Berlin 1999, Heft 35 (Der Architekt des Königs Friedrich August Stüler), S. 8–14
Harry Nehls: Was wird aus dem Jaczoturm? In: Berlinische Monatsschrift (Luisenstädtischer Bildungsverein). Heft 5, 1999, ISSN 0944-5560, S. 46–54 (luise-berlin.de).
Hainer Weißpflug: Wirtshaus Schildhorn. In: Hans-Jürgen Mende, Kurt Wernicke (Hrsg.): Berliner Bezirkslexikon, Charlottenburg-Wilmersdorf. Luisenstädtischer Bildungsverein. Haude und Spener / Edition Luisenstadt, Berlin 2005, ISBN 3-7759-0479-4 (luise-berlin.de – Stand 7. Oktober 2009).
Hans Eugen Pappenheim: 90 Jahre Säule auf dem Schildhorn. In: Spandauer Zeitung, 13. Juli 1935. 1. Beilage
Louis Schneider: Das Schildhorn-Denkmal. In: Louis Schneider (Hrsg.): Mittheilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams 4 (IV. Theil). Gropius’sche Buch- und Kunsthandlung (A. Krausnick), Potsdam 1869, S. 275–281
Felix Adalbert K. Kuhn: Jaczo von Köpenick. (literaturport.de) In: Märkische Sagen und Märchen, Berlin 1843; Darstellung der Sage
== Weblinks ==
Halbinsel Schildhorn bei Berlin.de
Schildhorn – der vergessene Ort. Schildhorn-Initiative
Schildhorndenkmal bei Stadt- und Kulturführer Berlin
Schildhorn und Schildhorndenkmal. Der Grunewald im Spiegel der Zeit
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schildhorn
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Lustschloss Favorite (Mainz)
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= Lustschloss Favorite (Mainz) =
Das Lustschloss Favorite (oft auch kurz nur die Favorite genannt) am Mainzer Rheinufer war eine bedeutende barocke Anlage im kurfürstlichen Mainz mit aufwändigen Gartenanlagen und Wasserspielen. Erbaut wurde die Favorite in mehreren Abschnitten, beginnend mit dem Jahr 1700. Fertiggestellt wurde sie im Wesentlichen um das Jahr 1722. Ihr Bauherr, Lothar Franz von Schönborn Kurfürst von Mainz, entstammte einer der bedeutendsten fränkisch-mittelrheinischen Adelsfamilien der damaligen Zeit und war Bauherr vieler barocker Gärten und Paläste. Das Lustschloss Favorite wurde während der Belagerung von Mainz 1793 in den Koalitionskriegen vollständig zerstört.
Vorbild der Anlage war das französische Lustschloss Marly-le-Roi von Ludwig XIV. Das Lustschloss Favorite gilt mit seiner Weiterentwicklung der formalistisch-frühbarocken Gartengestaltung im Stile von Versailles als Vorbild für viele weitere, später entstandene Gartenanlagen der nachfolgenden spätbarocken Epoche der Gartenkunst.
== Vorgeschichte ==
Das Gelände der Favorite liegt direkt am Rheinufer gegenüber der Mainmündung und südlich des mittelalterlichen Festungsrings vor den Toren von Mainz. Bereits im Mittelalter wurde es für Gartenanlagen genutzt. Dort befand sich der ältere Abts- sowie der Stiftsgarten des späteren Stiftes St. Alban vor Mainz. St. Alban wurde am Abend des 28. August 1552 im Zweiten Markgrafenkrieg durch die Truppen des Markgrafs Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach ausgeplündert und vollständig zerstört. 1672 erwarb Christoph Rudolf Reichsfreiherr von Stadion den Stiftsgarten. Nachdem er 1692 den angrenzenden Abtsgarten erwerben konnte, vereinigte er beide Gärten. Stadion war Ende des 17. Jahrhunderts eine bedeutende Persönlichkeit im kurfürstlichen Mainz: Er war Hofratspräsident, Dompropst, Propst von St. Alban und selbst mehrfacher Kandidat für das Kurfürstenamt. Auch er wollte sich im Rahmen der damals aufkommenden Mode einen standesgemäßen barocken Lustgarten bauen. Aus den zusammengelegten älteren Gartenanlagen entstand ein fünf Hektar großer Nutz- und Lustgarten im Stil des Hochbarocks mit eingeschossigem Rheinschlösschen, Wirtschaftsgebäuden, Weinbergen sowie Obst- und Zierbäumen, der so genannte Stadionsche Garten. Nach dem Tod Stadions im Jahr 1700 erwarb der erst sechs Jahre zuvor gewählte Kurfürst von Mainz, Lothar Franz von Schönborn, das Anwesen von den Erben für 16.500 Reichstaler. Die ca. 400 m lange und 140 m breite Gartenanlage sollte das Kernstück des von ihm geplanten Lustschlosses Favorite werden.
== Baugeschichte ==
Als 1694 Lothar Franz von Schönborn zum Kurfürsten von Mainz gewählt wurde, begann für die Stadt Mainz nicht nur in städtebaulicher Hinsicht eine barocke Blütezeit. Schönborn, aus bedeutendem mittelrheinisch-fränkischem Adelsgeschlecht, entsprach dem Idealtypus eines absolutistisch regierenden und Prunk liebenden Barockfürsten. Zugleich war er, wie er in gewisser Selbsterkenntnis feststellte, wie viele andere Mitglieder der Schönborn-Familie „vom Bauwurmb“ besessen. In seiner in größerem Umfang erhalten gebliebenen Privatkorrespondenz ist dazu folgender Ausspruch von ihm überliefert: „Das Bauen ist eine Lust und kost viel Geld, einem jeden Narren seine eigene Kapp gefällt.“ Als Kurfürst von Mainz plante er für seine Residenzstadt einen repräsentativen barocken Lustgarten. Vorbild für die Namensgebung war die habsburgische Favorita bei Wien, eine Reverenz des Kurfürsten und Erzkanzlers an das ihm politisch nahestehende Herrscherhaus der Habsburger. Aus baulicher Sicht diente das 1680 bis 1686 erbaute Marly-le-Roi als Vorbild, so nannte Schönborn sein Lustschloss Favorite gerne le petit Marly (das kleine Marly). Aufgrund seiner umfangreichen Bautätigkeit und den oft parallel laufenden großen Bauprojekten in seinen geistlichen Fürstentümern konnte Schönborn beim Bau der Favorite auf eine Vielzahl von fähigen Baumeistern zurückgreifen. Diese nannte er scherzhaft-respektvoll „meine klugen Bau-Dirigierungsgötter.“
Die Architekten und Festungsbauer Nikolaus Person und Maximilian von Welsch standen ihm zur Verfügung. Diese überließen die gärtnerischen Arbeiten dem leitenden Obergärtner Johann Kaspar Dietmann, dessen gärtnerische Sachkenntnis auch der Kurfürst sehr schätzte und auch anderen Ortes einsetzte. In künstlerisch-gestalterischen Fragen arbeiteten sie eng mit dem „Hofkavalier-Architekten“ Philipp Christoph von und zu Erthal, dem Erbauer des gleichnamigen Erthaler Hofes, zusammen. Ein vierter beteiligter Architekt war Freiherr von Rotenhan, als Obrist-Stallmeister ebenfalls in kurfürstlichen Diensten. In der späteren Bau- und Umbauphase (ab 1725) kamen bei der Ausgestaltung der Favorite noch Einflüsse des als „Kavaliersarchitekt“ bezeichneten Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn und – durch dessen Vermittlung – des Pariser Hofarchitekten Germain Boffrand hinzu. Für die komplizierten Wasserarbeiten gewann Schönborn 1724 den bekannten Baumeister Abraham Huber aus Salzburg, den er respekt- wie humorvoll „neptunum abrahamum“ nannte.
=== Erste Bauphase (1700 bis 1722) ===
Nach dem Erwerb des Stadionschen Gartens im Jahr 1700 begann Schönborn sofort mit dem Ausbau der Anlage. Seine Architekten folgten zuerst der Ausrichtung der Vorgängeranlage und orientierten sich längs des Rheins in Richtung Mainz. Die erste Anlage bestand aus einem Hauptgebäude, einem zweiflügeligen eingeschossigen Rheinschlösschen. Dieses lag mit seiner Schmalseite, wo sich auch der Haupteingang befand, direkt am Rhein, nur durch einen Fahrweg von ihm getrennt. Genutzt wurde dieses Gebäude als Konzert- und Speisesaal.
Daran schloss sich eine schmale Gartenanlage mit Skulpturenschmuck des Vorgängergartens an, deren Hauptachse ebenfalls in Richtung Mainz wies. Die Anlage, die im Wesentlichen Form und Umfang des Stadionschen Gartens übernahm, bestand in dieser Form bis etwa 1705. Ab ca. 1708 (sicher nachgewiesen ab 1710) wurde der Kurfürstliche Festungsbaumeister Maximilian von Welsch dauerhaft zu dem Bauprojekt hinzugezogen.
Bis 1714 gingen die weiteren Bauarbeiten nur schleppend voran. Der Spanische Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714 sorgte, wenn auch indirekt, für eine Bedrohung des kurfürstlichen Mainz durch die Franzosen, zumal die Anlage außerhalb des Festungsgürtels lag. Andererseits belastete diese Auseinandersetzung auch in nicht unwesentlichem Maße die Ressourcen des Kurfürstentums, so dass Lothar Franz von Schönborn sein wichtigstes Mainzer Bauprojekt teilweise zurückstellen musste. Allerdings ist aus noch vorhandenen Rechnungen auch bekannt, dass die Arbeiten an der Favorite Schönborn bis 1710 bereits 93.641 Gulden und 58 Kreuzer gekostet haben. Für die ersten Jahre wird auch von größeren Pflanzeneinkäufen berichtet. So weist die Jahresabrechnung von 1702 6000 Hainbuchen aus dem Spessart, Taxusbüsche und Kastanienbäume auf. Diese wurden für die Gestaltung des Boulingrin im nördlichsten Gartenteil verwendet, der damit zu den ältesten, unter Schönborn entstandenen Gartenteilen zählt.Trotzdem konnten 1711/1712 die großen Wasserterrassen des unteren Parterres sowie des darüber liegenden Hauptparterres fertiggestellt werden. Ab 1717 folgte der Bau der eigentlichen Schlossanlage am oberen Ende des Hauptparterres, vom Rheinufer aus gesehen. Ursprünglich als zentrales Bauobjekt in der Anlage geplant, übernahm die Schlossanlage nun die Funktion einer prunkvollen Orangerie. Ebenfalls 1717/1718 baute Welsch das Hauptparterre mit seinen sechs halbkreisförmig angeordneten Kavaliershäusern aus. Mit der figürlichen Ausgestaltung der einzelnen Anlagen beauftragte der Kurfürst seinen Hofbildhauer Franz Matthias Hiernle. Die sich rechts des Hauptparterres anschließenden beiden großen Gartenanlagen wurden bis 1722 angelegt.
Um 1722 war das Lustschloss Favorite mit seinen Gebäuden, Wasserspielen und verschiedenen Gärten als zusammenhängende Anlage vorläufig fertiggestellt. Kurfürst Lothar Franz von Schönborn und seine Nachfolger nutzten die Favorite von da an für Repräsentationszwecke und für Feste des kurfürstlichen Hofstaates. Eine von 1723 bis 1726 von Salomon Kleiner, einem kurfürstlichen Hofingenieur und begabten Kupferstecher, angefertigte Serie von 14 Kupferstichen der Favorite (heute teilweise im Besitz des Landesmuseums Mainz) zeigt detailreich aber auch häufig perspektivisch übertreibend die Anlage mit ihren verschiedenen Aspekten nach ihrer Fertigstellung. Ein anonymer zeitgenössischer Bericht beschreibt die beeindruckende Wirkung der festlichen Anlage auf den Betrachter:
=== Zweite Bauphase (1722 bis 1735) ===
In der Regierungszeit des Kurfürsten Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg (1729–1732) kam es zum letzten größeren Ausbau der Favorite. Der Nordteil, das so genannte Boulingrin mit seinen ausgedehnten Rosskastanien-Promenaden, wurde umgestaltet. Es entstand dort ein zum Rhein ausgerichtetes Gartenhaus, das so genannte Porzellanhaus. Da zum Kurfürstentum Mainz ab 1746 auch die Porzellanmanufaktur in Höchst bei Frankfurt am Main gehörte, wurden das Porzellanhaus und andere Gebäude der Favorite in der Spätzeit der Anlage mit Erzeugnissen der Manufaktur ausgestattet. Auch sollen die Innenräume des Gebäudes selbst weiß-blau gekachelt gewesen sein. Der Baumeister war der in Paris ausgebildete Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn (auch: zu Gruenstein). Höchstwahrscheinlich hatte aber bereits Lothar Franz von Schönborn diese Erweiterung geplant und vor seinem Tod 1729 bereits mit dem Bau beginnen lassen.
=== Weitere Aus- und Umbauten bis 1790 ===
Nach der Umgestaltung des Nordteils der Favorite kam es zu keinen größeren bzw. bedeutenden Bauprojekten mehr. Aus praktischen Gründen wurden im westlichen rheinabgewandten Teil der Anlage weitere Stallungen und Wirtschaftsgebäude angebaut, die aber den künstlerischen Aspekt der Anlage nicht beeinflussten. Von größerer Bedeutung für die Außendarstellung der Favorite war allerdings der Ersatz zahlreicher Wasserbecken und -anlagen durch rein gärtnerische Anlagen. Wahrscheinlich waren die für die Wasseranlagen der Favorite angelegten Brunnen auf Dauer nicht in der Lage, die erforderliche Wassermenge zu liefern.
1746 arbeitete Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn nochmals an der Orangerie. Die letzten gartengestalterischen Arbeiten an der Favorite nahm etwa 1788–1790 der bekannte Gartenarchitekt Friedrich Ludwig von Sckell mit Änderungen der nun erweiterten Anlage im neuen „englischen Stil“ vor. Sckell erhielt ursprünglich den Auftrag, „die Umgebung der Mainzer Favorite im natürlichen Geschmack auszugestalten.“ Sckell respektierte aber weitgehend den alten Gartenbestand. Nach seinen Veränderungen, die de facto zu zwei stilistisch unterschiedlich geprägten, beieinanderliegenden Gartenanlagen führten, zog er ein Resümee: „…so dass nun beide in der folge sich ihre Verdienste nicht werden streitig machen; ein jeder wird für sich alleine bestehen und bewundert werden ohne des anderen zuthun.“ Die Arbeiten an den Gartenanlagen der Favorite kamen aber über ein frühes Anfangsstadium nicht hinaus. Sckells Pläne zur Umgestaltung beeinflussten allerdings in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts die Planungen der Neuen Anlage.
Weiterreichende Pläne nach 1790, wie zum Beispiel der Ausbau des Rheinschlösschens oder die Erweiterung der Favorite nach dem Ankauf des Geländes der benachbarten Kartause (dort plante man einen 70 m langen Gartensaal), wurden begonnen, aber aufgrund der politischen Lage nicht mehr beendet.
== Gestaltung der Anlage ==
=== Parkanlagen ===
In den Gartenanlagen des Lustschlosses Favorite fanden sich viele der zur damaligen Zeit verwendeten gartenarchitektonischen Gestaltungsmittel wieder. Bereits der Vorgängergarten wurde Ende des 17. Jahrhunderts in dem zu dieser Zeit vorherrschenden formalen Stil eines französischen Barockgartens gestaltet. So stammt das durch ein vertieftes Wasserbecken unterteilte Broderieparterre vor dem Rheinschlösschen wahrscheinlich aus dem Vorgängergarten der Favorite. Das parterre de broderie ahmte mit der Verwendung von Buchs als Gestaltungspflanze sowie verschiedenfarbigen Kies- und Steinmaterialien eine Stickerei (französisch broderie) nach. Ihre Längsausrichtung hin zum Gebäude ließ noch die Sichtachsenplanung des Vorgängergartens erkennen. Laubengänge zwischen den Kavalierpavillons und an der Orangerie rundeten die pflanzliche Gestaltung im oberen Gebäudebereich ab.
In der mittleren Anlage befanden sich kunstvoll geformte Heckenwände, die für eine Unterteilung der Parkelemente sorgten. Wiederum durch ein rheinseitiges Wasserbecken getrennt, wurden zwei Boulingrins im unteren Parterrebereich angeordnet. Dem schlossen sich nach oben, rheinabgewandt, zwei Bosquets mit Cabinets (dichte, durch Schnitt geformte Hecken oder Wäldchen mit freigelassenen Zwischenräumen) an, die ein Rasenparterre mit Kübelbäumchen umrahmten.
Die dritte und nördlichste Gartenanlage lag der Stadt Mainz am nächsten. Kleinere Springbrunnen und zahlreiche Teppichbeete lockerten den gesamten dritten Gartenteil auf. Dort wurden vornehmlich Rosskastanien als Gestaltungselemente eingesetzt, eine zur damaligen Zeit neuartige Pflanzenentdeckung, die als „Maronirn“ bezeichnet, gerne und oft verwendet wurde. Großflächige Bosquets aus Rosskastanienbäumen und Hecken aus Hainbuchen umgaben wiederum ein eingetieftes Boulingrin mit Wasserbecken, eine so genannte Salle de verdure. Dort befand sich auch der Haupteingang der Anlage. Gepflegte Rasenwege, von Kleiner als „Communications-Stiegen“ bezeichnet, führten nach oben zu weiteren Bosqueträumen und anschließend zu einem der markantesten Parkelemente der gesamten Anlage, der „Großen Promenade“. Diese bestand aus einer Rosskastanienallee, die ihr Vorbild in der von Ludwig XIV. in Versailles angelegten Salle aux Marronniers hatte. Sie stellte einen lang gezogenen, auf der Höhe der Favorite parallel zum Rhein verlaufenden, Wandelgang dar. Aufwändiger Figurenschmuck und Brunnenschalen, sowie wiederum kleinere Hainbuchenbosquets mit kleinen intimen Cabinets, vervollständigten die große Promenade.
=== Wasserspiele und Grotten ===
In den drei parallel angeordneten Gartenanlagen waren gleichmäßig Wasserspiele und -becken sowie Themengrotten verteilt. Schönborn scheint großen Wert auf die Wasserspiele gelegt zu haben, die in großer Zahl als gestalterisches Element eingesetzt wurden. Für ihren Betrieb gab es aufwändige Brunnenbohrungen und -anlagen am Hechtsheimer Berg.
In der südlichen Gartenanlage befand sich in dem unteren Broderieparterre ein großes vertieftes Wasserbecken mit verschiedenen Wasserspielen und Fontänen. Daran schloss sich, am Übergang zum Hauptparterre, die so genannte Thetis-Grotte an. Hinter einem Becken mit besonders hohen Fontänen war in einer Stützmauer eine halbkreisförmige Grotte eingebaut, deren Hauptbestandteil eine Statue der Thetis war, die auf einer Muschel sitzend von Delphinen gezogen wurde. Zwei Atlanten flankierten die Figurengruppe.
Im Hauptparterre der ersten Anlage, flankiert von den sechs Pavillons, befand sich wiederum ein dreistufiges Wasserbecken mit reichem Figurenschmuck, Fontänen und kaskadierenden Wasserspielen. Laut Kleiner stellte diese als „große und Wasserreiche Cascade“ bezeichnete Anlage eine Allegorie von „beyde Fluß, den Rhein und Mayn vorstellend“ dar. Dahinter erhob sich, durch einen schmalen Vorplatz getrennt, die Orangerie als abschließendes Element der Gestaltung. In diesem ersten Teilstück der Anlage bildete der Rhein bewusst den querliegenden natürlichen Abschluss der aus den Wasserelementen gebildeten Hauptsichtachse.
In der mittleren Gartenanlage, die als prächtigste der gesamten Favorite galt, waren über die gesamte Länge Wasserspiele und Grotten als zentrale Mittelachse angeordnet. Am rheinnahen Gartenende begann der „perspektivische Auffzug unterschiedlicher Cascaden und Fontainen“ mit einer vom Rhein abgewandten Grotte, ausgestattet mit vielfältigem Figurenschmuck und Wasserfällen. Die Grotte war von den oberen Terrassen als Abschluss der durch die Wasserspiele gebildeten Sichtachse einsehbar. Es schloss sich ein großes Wasserbecken an, das von der – eine Terrassenstufe weiter oben gelegenen – so genannten Neptunskaskade gespeist wurde. Diese korrespondierte mit einer – wiederum weiter oben liegenden – Ringkaskade. Im Mittelparterre dieser Anlage befand sich erneut ein Wasserbecken mit Fontäne, weiter ansteigend folgten wieder über Stufen kaskadierende Wasserfälle. Den prunkvollen Abschluss der mittleren Gartenanlage bildete die halbkreisförmige Fontäne des Pluto und der Proserpina mit der so genannten Proserpina-Grotte, oft auch als chateau d’eau (Schloss des Wassers) bezeichnet. In einer antikisierenden Nische mit Stutzgiebeln stand die Figurengruppe auf einem inselartigen Podest im Wasserbassin, das auf beiden Seiten wasserführende Treppen flankierten.
In der nördlichsten und letzten Gartenanlage wurden die Wasserspiele zugunsten der pflanzlichen Gestaltungselemente reduziert. So schloss am unteren Ende eine Hecke am Rhein ein Boulingrin ab. Dort befand sich ein vertiefter, mit Rosskastanien bestandener Platz mit einem Wasserbassin als zentralem Gestaltungselement. Bei der am oberen Ende gelegenen großen Promenade aus querlaufenden Rosskastanienalleen kamen ebenfalls wieder Wasserspiele zum Einsatz.
=== Figurenschmuck ===
Bereits im Stadionschen Garten befand sich ein umfangreiches Figuren- und Skulpturenprogramm. Auf der erhalten gebliebenen, akribisch geführten Inventarliste bei der Übergabe des Gartens an Schönborn sind folgende Posten aufgelistet:
Der erwähnte „Frölicher“ war der Schweizer Architekt und Bildhauer Johann Wolfgang Fröhlicher, der ab 1692, aus Frankfurt kommend (dort schuf er unter anderem zwischen 1680 und 1686 den Hochaltar der Katharinenkirche), für Stadion arbeitete. Ihm wird auch die in der Favorite verwendete Figurengruppe der Neptunskaskade mit der großen Zentralfigur des Meeresgottes Neptun inmitten von drei Seepferden zugeschrieben. Die weiter unten erwähnte, erhalten gebliebene Statue eines Flussgottes wird in älteren Literaturquellen als Flussgott „Rhenus“ (Rhein) und ebenfalls von Fröhlicher stammend bezeichnet, der sie vor 1700 geschaffen haben müsste.
Weitaus größeren Anteil an der figürlichen Ausgestaltung der Favorite hatte aber Franz Matthias Hiernle. Ursprünglich aus Landshut in Bayern kommend, war er seit 1705 in kurfürstlichen Diensten und bekleidete das Hofamt des Hofbildhauers. Ihm werden die Statuen des Bacchus, des Faunus, des Jupiter, der Juno, der Ceres und der Flora sowie aller Nymphen und Genien aus der griechisch-römischen Mythologie zugeschrieben. Eine besonders aufwändige Arbeit von Hiernle war die Figurengruppe der Themenfontäne Plutos Raub der Proserpina, welche die mittlere Gartenanlage krönte. Wie bei allen großen Wasseranlagen arbeitete Hiernle auch hier nach den Entwürfen Welschs und setzte diese entsprechend den bautechnischen Vorgaben künstlerisch um. Auch Hiernles Söhne, Sebastian und Kaspar Hiernle, haben wahrscheinlich als Bildhauer bei der Figurengestaltung der Favorite mitgearbeitet. Ebenfalls als Bildhauer mit der Favorite in Verbindung gebracht werden der kurfürstliche Bildhauer Burkhard Zamels, Paul Curé, der zu seiner Zeit als „Meister der Gartenplastik“ gerühmt wurde, sowie Paul von Strudel. Die beiden Letztgenannten standen ebenfalls in Diensten von Schönborn.
=== Gebäude ===
==== Das Rheinschlösschen ====
Das zuerst errichtete Gebäude der Favorite war ein bereits im Stadionschen Lustgarten vorhandenes, direkt am Rheinufer stehendes Rheinschlösschen. Schönborn nutzte dieses weiter, ließ es aber später (wahrscheinlich nach 1705) aufwändig umgestalten. Auch ein weiteres Stockwerk wurde aufgesetzt. Architekt und Baumeister dieses Umbaus war sehr wahrscheinlich der Bamberger Hofbaumeister Johann Leonhard Dientzenhofer, auf dessen Dienste Schönborn als Fürstbischof des Bistums Bamberg ebenfalls zurückgreifen konnte.
Das Gebäude wies durch seine rechtwinklige Bauweise eine Rheinfront mit großem Einfahrtstor sowie eine Gartenfront mit Freitreppe auf. Die Gartenfront, als abschließender Teil der Längsachse der ersten Gartenanlage, war reich dekoriert. Zahlreiche, teils überlebensgroße Figuren schmückten Aufgang und Eingangsportal. Die Treppenfront zeigte das Schönbornsche Wappen, flankiert von Musikemblemen. Zwei tanzende weibliche Figuren, ein immer wiederkehrendes Motiv auch an anderen Gebäuden der Anlage, bekrönten abschließend das Frontpodest. An den Ecken beider Gebäudefronten befanden sich vorspringende Risalite. An der Westseite schloss sich ein kleinerer Flügel an. Im Plan von 1779 befinden sich dort eine schlichte Kapelle sowie offensichtlich Wohnräume.
Für die erst spät (gegen 1721) angebrachte Fassadenverzierung in Form gemalter Scheinarchitektur in Freskotechnik wurden Entwürfe des Italieners Giovanni Francesco Marchini verwendet. Marchini, aus Como in Italien stammend, wohnte damals in der Favorite und wurde später, am 16. Juni 1727, Mainzer Bürger. Zentraler und in der Gesamtanlage größter Innenraum des Gebäudes war ein prunkvoller, reich stuckierter Gartensaal oder eine Galerie, ebenfalls mit gemalter Scheinarchitektur von Marchini im Stil des Frühbarock geschmückt. Wahrscheinlich wurde deshalb das Schlösschen bereits bei Kleiners Stichen 1726 als „Garten-Gebäude“ bezeichnet. Die Wandflächen des Gartensaals waren durch gemalte Säulen untergliedert. Nur eine Seite des Gartensaals wies Fenster auf, die gegenüberliegende Seite wurde von den Künstlern Marchini, Luca Antonio Colomba und möglicherweise auch Johann Rudolf Byss mit Scheinfenstern bemalt. Alle Wände trugen eine reiche Scheinbossierung, das heißt, Wandelemente waren durch visuelle Effekte der Malerei scheinbar plastisch hervorgehoben. Die bereits vorher bemalte Freskodecke hatte in der Hallenmitte eine von Säulen getragene Kuppel und wurde von Melchior Seidl gestaltet. Zentrales Motiv war der Artemistempel in Ephesus als eines der sieben Weltwunder. Die Darstellung der anderen Weltwunder schloss sich rechts und links an. Ein weiteres, in der damaligen Zeit beliebtes Motiv für Gartengebäude scheint auf Kleiners Stichen die Toilette der Diana gewesen zu sein. Zur Beleuchtung befanden sich schwere Kronleuchter an der Galeriedecke.
==== Die Orangerie ====
Die ab 1717 von Maximilian von Welsch erbaute Orangerie war das zentrale Gebäude der Anlage. Das Hauptgebäude, ursprünglich wie das französische Vorbild als kleines aber dennoch prunkvolles Lustschloss geplant, wurde in dieser Form nie baulich verwirklicht, sondern in eine Orangerie mit Festsaal umgewandelt. Es ist anzunehmen, dass die Orangerie gemäß der in der Barockzeit üblichen Nutzung die Sammlung exotischer Kübelpflanzen, insbesondere Zitruspflanzen, des Kurfürsten aufnahm. Diese dürften dem Festsaal ein exotisches und repräsentatives Ambiente gegeben haben. Der Vorplatz der Orangerie vor der oberen Wasserkaskade, das so genannte Orangerie-Parterre, diente dazu, die Kübelpflanzen im Sommer im Freien aufzustellen. Bei der Übernahme der Anlage im Jahr 1700 durch Schönborn wurden in der Inventarliste einige dieser Orangeriepflanzen aufgelistet:
Die Orangerie war ein zweigeschossiges Bauwerk mit Souterrain, Hochparterre, Mezzanin und Mansardwalmdach, das Rundfenster hatte. Die Fassade war mit Scheinarchitektur reich bemalt. Obwohl sie auch zentraler Blickpunkt einer der am aufwändigsten gestalteten Sichtachsen der gesamten Anlage war, hebt sich das Gebäude auf den zeitgenössischen Ansichten baulich nur wenig von den sie umgebenden sechs gestuften Pavillons ab. Die Gründe für die vergleichsweise bescheidene Ausführung des zentralen Gebäudes sind nicht bekannt. Schönborn ließ sich, wie beispielsweise bei der Anlage der Wasserspiele, auch bei der Orangerie während der Bauphasen über alle Details unterrichten. In einem Brief des Dompropstes Johann Philipp Franz an Schönborn vom 27. August 1718, berichtete dieser seinem kurfürstlichen Herrn: „Sonsten kann E. chfl. Gn. ich nicht verhalten, daß bei Besichtigung der neuen Orangerie in der Favorite mir die Haupttür allzu klein erschienen, allermaßen ich versichern kann, daß kaum meine größte bäume ohn Verletzung der cron dadurch würden gebracht werden können…“
Die Orangerie stand am westlichen Ende auf dem oberen Hauptparterre und oberhalb der zweistufigen großen Wasseranlage, deren oberer Teil von Kleiner als „Prospect der großen und Wasserreichen Cascade, beyde Fluß, den Rhein und Mayn vorstellend“ bezeichnet wird. Darunter befand sich die so genannte Thetis-Grotte.
==== Die Kavaliershäuser (Pavillons) ====
1717/1718 baute Welsch auf dem Hauptparterre sechs halbkreisförmig und terrassiert angeordnete Pavillons, die so genannten Kavaliershäuser. Bei diesem Gestaltungselement hielt sich der Baumeister streng an das Lieblingsvorbild des Kurfürsten, Marly-le-Roi. Anscheinend legte der Kurfürst mehr Wert auf das künstlerische Gesamtensemble der Parkanlage als auf den Luxus der Baulichkeiten. Eines der Kavaliershäuser ließ er sich nach Fertigstellung kurzerhand als Schlafgemach umbauen und berichtete darüber auch seinem Neffen, dem Reichsvizekanzler Friedrich Carl von Schönborn nach Wien. Ansonsten wurden die Gebäude für die Unterbringung von Gästen genutzt. Die sechs Pavillons wurden in Holz und nicht in Stein ausgeführt und hatten jeweils vier Zimmer. Wie bei dem Vorbild Marly, der Orangerie und dem Rheinschlösschen der Favorite, waren auch hier die Fassaden mit einer Scheinarchitektur bemalt.
==== Das Porzellanhaus ====
Das so genannte Porzellanhaus war der letzte größere Neubau in der Favorite, gleichzeitig die erste der in den nächsten Jahrzehnten folgenden Umbaumaßnahmen. Begonnen wurde der Bau höchstwahrscheinlich noch zu Zeiten Schönborns, dessen Wappen das dem Bau vorgelagerte Wasserbecken zierte. Die Fertigstellung des Porzellanhauses fiel in die kurze Regierungszeit des auf Schönborn folgenden Kurfürsten Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg.
Für die Planung und Ausführung war Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn zuständig. Er folgte Welsch als führender Architekt nach und wurde 1730 zum kurfürstlichen Oberbaudirektor ernannt. Groenesteyn, der die Pariser Architektenschule durchlaufen hatte, löste im Mainz des Hochbarock mit dem französisch geprägten klassizistischen Stil den aus den Zeiten Welschs vorherrschenden italienisch-österreichisch sowie mainfränkisch-mittelrheinisch geprägten Barockstil ab. Eines der ersten Bauwerke in diesem neuen Stil wurde das Porzellanhaus.
Das Porzellanhaus orientierte sich wieder an dem Vorbild Marly, diesmal an dem Trianon de Porcelaine de Marly. Es lag im dritten und nördlichsten Gartenteil, am Übergang vom unteren, rheinnahen, zum oberen Alleen-Parterre. Dem rechteckigen Gebäude mit konvex geformter Dachzone an den Frontseiten wurden Anbauten auf ovalem Grundriss mit Walmdach angegliedert. Eine Laterne mit halb konvex, halb konkav geschwungenem Mansardwalmdach bekrönte die Mitte der Dachfläche. Zum Rhein und zur großen Rosskastanienallee öffneten sich je drei Fenstertüren, die durch paarweise angeordnete Pilaster voneinander getrennt waren. Die mittlere Tür wurde durch ein Tympanon betont. Zu einer Terrasse führte rheinwärts eine doppelläufige Freitreppe mit schmiedeeisernem Gitter oder Säulenbaluster (erhaltene Pläne zeigen beide Varianten), die ein ovales figurengeschmücktes Wasserbassin mit Wasserspielen umschloss. Putten und Vasen zierten das Gesims über den Fenstertüren und die Laterne. Im Inneren dominierte ein rechteckiger Saal entlang der Längsachse mit einem zentralen Wasserbassin. Das Gebäudeinnere war möglicherweise mit einer dekorativen Porzellantäfelung und Porzellanfiguren geschmückt. Detailangaben zur Innenausstattung sind nicht erhalten geblieben.
==== Wirtschaftsgebäude ====
Diese dürften naturgemäß eher zweckmäßiger Natur gewesen sein und gehörten nicht zum repräsentativen Teil der Anlage. In der Inventurliste des Stadionschen Gartens werden Stallungen und Scheunen für acht Pferde und zwanzig Stück Rindvieh erwähnt. Auch die Gebäude für das Dienstpersonal befanden sich im oberen Gartenteil. In Kleiners Plan von 1726 sind keinerlei Wirtschaftsgebäude wie Stallungen, Gerätehäuser, Treibhäuser, Anzuchtflächen, Wohnhäuser der Dienerschaft usw. dargestellt, wohl aus künstlerischen Gründen. In einem Stich von Le Rouge von 1779 sind diese Gebäude allerdings aufgeführt. Sie befanden sich hinter der Orangerie und nahmen einen relativ großen Raum ein.
== Die Favorite und die Politik: Der Fürstentag im Juli 1792 ==
Am 14. Juli 1792 fand in Frankfurt am Main die Kaiserkrönung von Franz Joseph Karl von Habsburg, Erzherzog von Österreich als Franz II. statt. Der neue Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation reiste kurz nach seiner Krönung nach Mainz weiter. Dort wurde im Lustschloss Favorite vom 19. bis 21. Juli 1792 ein prunkvoller Fürstentag abgehalten, zu dem neben den politischen Hauptakteuren Franz II. und König Friedrich Wilhelm II. von Preußen zahlreiche weitere deutsche Fürsten und Diplomaten gehörten. Gastgeber war der Kurfürst von Mainz, Friedrich Karl Joseph von Erthal.
In politischer Hinsicht wurde bei diesem Fürstentag, bei dem es um die Absprache der weiteren Vorgehensweise der anwesenden Fürsten gegen das revolutionäre Frankreich ging, Zeitgeschichte geschrieben. Der ebenfalls anwesende Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig hatte zu diesem Anlass ein gegenrevolutionäres Manifest ausgearbeitet, das in der kurfürstlichen Buchdruckerei in Mainz gedruckt wurde. In diesem Manifest wurde zur Wiederherstellung der alten (monarchischen) Ordnung in Frankreich aufgerufen und andernfalls direkte militärische Maßnahmen angedroht. Wie sich zeigen sollte, führte der Fürstentag in der Favorite zu Mainz tatsächlich direkt zum ersten Koalitionskrieg und letztendlich zum Untergang des Kurfürstentums Mainz.
Der dreitägige Fürstentag war die letzte und prachtvollste Inszenierung, die im kurfürstlichen Lustschloss Favorite stattfand. Bereits vorher gab der Kurfürst Immigranten des französischen Hochadels, unter anderem dem Grafen von Artois (dem späteren Karl X. von Frankreich) und dem Prinzen Condé, Feste und Hofbälle. Für den Fürstentag jedoch betrieb der Gastgeber, entsprechend den hochrangigen Gästen, einen wesentlich höheren Aufwand. Die Favorite und auf dem Rhein kreuzende Schiffe wurden illuminiert und Feuerwerke abgebrannt. Während Franz II. im Kurfürstlichen Schloss logierte, brachte man Friedrich Wilhelm II. und sein Gefolge in den Gebäuden der Favorite unter. Die anwesenden Gäste wurden an einer festlichen Tafel im Freien bewirtet. Zu dem Fürstentag 1792 gibt es verschiedene Augenzeugenberichte, unter anderem von Georg Forster, Naturforscher und kurfürstlicher Oberbibliothekar der Universität Mainz. Genauer schildern allerdings zwei Beiträge dieses Ereignis: die entsprechende Passage aus den Lebenserinnerungen des Weimarer Bibliotheksdieners Christoph Sachse von 1822 und der Brief eines anonymen Zeitzeugen der Festlichkeiten.Anonymer Bericht über den Fürstentag, Brief vom 8. August 1792:
Georg Forster in: Darstellung der Revolution in Mainz, 1793 in Paris:
== Die Zerstörung ==
Fast genau ein Jahr nach dem Fürstentag im Juli 1792 waren das Lustschloss Favorite – Orangerie und Pavillons, die Rabatten mit ihrem reichhaltigen Figurenschmuck, die Wasserspiele, das Gartenhaus sowie die Rosskastanienalleen – völlig zerstört. Ironischerweise war dieser Fürstentag die Ursache für die Zerstörung der Favorite. Die in Mainz zwischen Kaiser Franz II. und König Friedrich Wilhelm II. abgesprochene Vorgehensweise der Koalitionstruppen, denen auch der letzte Mainzer Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal angehörte, führte zum Ersten Koalitionskrieg. Nach dem Vordringen der preußischen und österreichischen Truppen unter Führung des Herzogs von Braunschweig kam es am 20. September 1792 zu der Kanonade von Valmy. Diese endete mit einer Niederlage der Koalitionstruppen. Die französische Revolutionsarmee ging zum Gegenangriff über, drang unter General Custine Ende September in die Pfalz ein und besetzte am 21. Oktober 1792 Mainz.
Mitte April 1793 wurde die mittlerweile französische Stadt und Festung Mainz bei dem Gegenvorstoß der preußischen und österreichischen Koalitionstruppen eingeschlossen. Durch die kriegsbedingte Planierung des Vorfeldes der Festungsmauern kam es zu ersten Zerstörungen der Favorite; so wurden unter anderem die hölzernen Kavalierpavillons abgerissen und Bäume gefällt. Nach gescheiterten Übergabeverhandlungen begann in der Nacht zum 17. Juni 1793 das Bombardement auf die belagerte Stadt, die der Augenzeuge Johann Wolfgang von Goethe in seinem Werk Die Belagerung von Mainz literarisch festhielt. Bei der knapp vierwöchigen Dauer des Bombardements wurde die gesamte Anlage, die direkt in der Frontlinie lag, vollständig zerstört. Aber nicht nur die Favorite, sondern auch die Mainzer Liebfrauen- und die Jesuitenkirche, die Dompropstei und viele Bürgerhäuser und Adelspaläste gingen für immer verloren. Bereits am 25. Juni 1793 schrieb der Mainzer Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal in einem Brief:
Goethe besuchte nach der Einnahme von Mainz am 23. Juli 1793 die zerstörte Favorite und schrieb über seine Eindrücke:
== Nach der Favorite: „Wüstenei“, Richtplatz und die „Neue Anlage“ ==
Das Gelände des Lustschlosses Favorite war für die nächsten 26 Jahre verwüstet. Nach dem Frieden von Campo Formio 1797 gehörte Mainz-Mayence wieder zu Frankreich. Baumaterial, welches von der verwüsteten Favorite wieder verwendet werden konnte, wurde für den von den Franzosen betriebenen Festungsbau in Kastel benutzt. 1797 bezeichnete ein lokaler Geschichtsschreiber die Gegend als „Wüstenei“, es bot sich dort „ein Bild fürchterlicher Verwüstung“. 1798 feierte die französische Administration ein „Fest des Ackerbaus“ auf dem Gelände der zerstörten Favorite; ein Ort, der mit ziemlicher Sicherheit auch politisch-ideologisch motiviert ausgewählt wurde. Dieses Fest war ein Teil der verschiedenen „Nationalfeste“, die im französischen Mayence der nachrevolutionären Zeit zelebriert wurden. Außerdem wurde das Gelände von der französischen Justiz als Richtplatz verwendet. Prominentester Delinquent war 1803 Johannes Bückler alias Schinderhannes, der dort mit seinen Bandenmitgliedern auf dem Gelände der ehemaligen Favorite mit der Guillotine hingerichtet wurde.
Erst nach dem Ende der französischen Herrschaft 1814 und dem Anschluss von Mainz an das Großherzogtum Hessen-Darmstadt am 30. Juni 1816 wurde dem Gelände der ehemaligen kurfürstlichen Favorite wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. 1816 wurde es der Stadt Mainz übergeben mit der Auflage, dort einen „Volksgarten“ einzurichten. Der in Versailles ausgebildete Mainzer Landschaftsarchitekt Peter Wolf entwarf für das Gelände eine so genannte Neue Anlage im Stil eines englischen Landschaftsparks. Diese wurde zwischen 1820 und 1825 gebaut. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verwilderte allerdings die Anlage. Die Gebrüder Siesmayer, bekannte Frankfurter Gartenarchitekten, wurden deshalb 1888 mit der Neugestaltung beauftragt. Der heutige Stadtpark trägt im Wesentlichen ihre gestalterische Handschrift.
== Heute sichtbare Überreste ==
Von der ganzen Anlage des Lustschlosses Favorite sind lediglich zwei Statuen erhalten. Die gut erhaltene rote Sandsteinfigur eines Herkules wurde 1861 bei Bauarbeiten zur Hessischen Ludwigsbahn gefunden und von den Gebrüdern Siesmayer im späteren Stadtpark aufgestellt. Dort befindet sich auch der unter gleichen Umständen gefundene Torso eines Flussgottes (Rhenus?), der vielleicht figürlicher Bestandteil der großen Wasserkaskade vor der Orangerie war.
Bei Grabungsarbeiten Ende 2009 am Winterhafen wurden Reste der Einfriedungs- und Stützmauer des Rheinschlösschens sowie des mit Kieseln gepflasterten Promenadenwegs, der entlang des Rheins verlief, entdeckt.Sprachliche Anklänge an das ehemalige Lustschloss sind die Straßenbezeichnung An der Favorite und ein gleichnamiges Hotel im Stadtpark. Am stadtnahen nördlichen Eingang des Stadtparks weist eine großformatige Hinweistafel der Stadt Mainz auf die ehemalige Anlage hin.
== Lustschloss oder Barockgarten? ==
In der Literatur wird in der Regel der Begriff Lustschloss Favorite als Bezeichnung für die Gesamtanlage verwendet. Lustschlösser entstanden aus der mittelalterlichen Hofhaltung heraus und sollten den Fürsten des Barock und Rokoko als intime und luxuriöse Rückzugsrefugien abseits des aufwändigen Hofzeremoniells dienen. Ein wichtiges Merkmal der Lustschlösser war insbesondere der das Schloss umgebende Gartenpark.
Vergleicht man die Gewichtung von Gebäude und Parkanlagen bei der Anlage des Lustschlosses Favorite, so fällt die im Gegensatz zur prachtvollen Gartengestaltung vergleichsweise bescheidene Gebäudegröße und -ausführung auf. Das kleine Rheinschlösschen bestand im Wesentlichen bereits vor dem Baubeginn der Favorite, das als eigentliches Lustschlösschen geplante zentrale Gebäude wurde in eine Orangerie umgewidmet, die kaum dem eigentlichen Bauziel entsprochen haben dürfte. Die Gebäudedekoration mittels Scheinarchitektur und Freskenmalerei steht ebenfalls im Gegensatz zu Schönborns Bauverständnis. Diese Diskrepanz fiel auch immer wieder Besuchern der Favorite auf, die, wie beispielsweise 1705 der englische Reisende Blainville, von eher „mittelmäßigen Gebäuden“ sprachen, die Gartenanlagen allerdings sehr lobten. Deshalb müsste man bei den fehlenden beziehungsweise eher unzulänglichen Baulichkeiten eigentlich von einem Barockgarten Favorite sprechen, dessen Gebäude eher nachgeordnet und weniger bedeutend waren.
Für die Beibehaltung der Einordnung der Anlage als Lustschloss mit dem Schwerpunkt der umgebenden Gartenanlagen sprechen allerdings zwei Fakten:
Lothar Franz von Schönborn konnte während seiner Zeit als Kurfürst auf das Kurfürstliche Schloss als Hauptresidenz und als repräsentativen Ort für Hofzeremonielle und Staatsgeschäfte zurückgreifen. Dies war ein Bauwerk im Stil der Deutschen Renaissance, an dem seit 1627 immer wieder gebaut wurde und das auch zu Schönborns Zeit nicht komplett fertiggestellt war. Es ist zwar bekannt, dass Schönborn das Kurfürstliche Schloss als zu altmodisch für sein Kunstempfinden ablehnte, benutzt haben dürfte er es jedoch auf jeden Fall. Somit kam dem Lustschloss Favorite vor den Toren der Stadt die klassische Rolle des intimen Rückzugsortes und der Sommerresidenz mit deutlichem Schwerpunkt der Gartenanlagen und Wasserspiele zu.
Nach Hennebo und Hoffmann ist die Stellung des dominierenden Hauptgebäudes in den Anlagen des Hochbarocks gerade in Deutschland höchst uneinheitlich. Unter anderem wird die Unterordnung des Hauptgebäudes im Gesamtplan, die Delegierung gewisser Funktionen an Orangerie-, Fest- oder Gartengebäude genannt; etwas, was in genau dieser Form bei der Favorite ebenfalls zu finden war. Auch in der Residenz Ansbach übernahm eine (dort allerdings schlossähnlich ausgebaute) Orangerie die Funktion des zentralen Gebäudes. Auch ein „Ersatz“ von aufwändigen Gebäudemassen durch zierlichere Heckenbosquets aufgrund beengter Platzverhältnisse wird genannt und ist neben Mainz auch zum Beispiel im Großen Garten in Hannover-Herrenhausen oder im Belvederegarten in Wien zu finden.
== Einordnung der Favorite in die zeitgenössische Gartenarchitektur ==
Das Lustschloss Favorite gilt neben seinem Vorbild Marly-le-Roi als erstes und richtungweisendes Beispiel für den Übergang vom formalen, französisch geprägten Barockgarten zu aufgelockerten Gestaltungsstrukturen mit parallel angelegten Einzelgartenanlagen. Ihre Weiterentwicklung und Vollendung fand diese Entwicklungsrichtung der Gartenarchitektur im Sanssouci Friedrichs des Großen. Somit war die Favorite, welche die aus Frankreich, Wien und Italien kommenden Impulse der neuen Gartengestaltung aufgenommen und mit deutschen Gestaltungselementen des Barock belebt hatte, Vorbild für weitere, später einzuordnende Barock- und Rokokogärten.
Obwohl man sich bei der Planung des Lustschlosses samt Anlagen an dem französischen Vorbild orientierte, zeichneten die Favorite doch einige Besonderheiten aus, die teilweise die zukünftige Gestaltungsmode in der Gartenarchitektur prägten. So war die Einteilung der Gesamtanlage in drei parallel nebeneinander und zum Rhein hin ausgerichteten Gartenanlagen fast revolutionär in der damaligen Gartenarchitektur. Jede der Anlagen wies andere gestalterische Schwerpunkte auf, die trotzdem mit der Gesamtanlage harmonierten. Hennebo und Hoffmann sprechen folgerichtig von einer „…zunehmend stärkeren Tendenz nach Auflösung der zwingenden, einheitlichen Achsenstruktur des Barockgartens, nach Durchbrechung seines Subordinations- und Einheitsgedankens …“.Auch die Sichtachsenführung, teils parallel zum Rhein, teils zum Rhein hinweisend, war zu damaliger Zeit neu. Marie Luise Gothein nennt dies eine dreifache Achsenentfaltung und bezeichnet die Favorite als den bedeutendsten der zahlreichen Gärten von Lothar Franz von Schönborn.Ebenfalls außergewöhnlich war die Einbindung der Flüsse Rhein und Main (und somit der umgebenden Natur) in das gestalterische Gesamtkonzept. Oben wurde ja schon von der Vorliebe Schönborns für aufwändige Wasserspiele berichtet. Seine Architekten konzipierten die erste und zweite Gartenanlage deshalb so, dass die Sichtachsen, geführt von kaskadierenden Wasserspielen hin zum Rhein und zu der direkt gegenüberliegenden Mainmündung wiesen. Dem Rhein kam somit die Funktion eines abschließenden natürlichen Wasserkanals direkt am unteren Ende der Parterres zu während der Main eine, wenn auch indirekte, Weiterführung der durch die Wasserläufe in der Anlage gebildeten Achse bedeutete.
Die gelungene Inszenierung des Lustschlosses Favorite in Kombination mit der es umgebenden Naturlandschaft, vor allem mit den beiden Flüssen und den typischen Weinbergsanlagen an den Hängen, wurde von vielen namhaften Besuchern gewürdigt, so z. B. auch von den Dichtern Goethe und Schiller. Man sieht hier bereits die ersten Anzeichen der am Ende des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts aufkommenden Rheinromantik, die sich erstmals in Beschreibungen der Favorite nachweisen lassen. So schrieb bereits 1785 Hirschfeld in seiner Theorie der Gartenkunst: „Die herrliche Lage der Favorite bei Mayntz erhält diesen vormals so berühmten Garten noch in einigem Ruf. Fast unter den Fenstern des Schlosses verbindet sich der Mayn mit dem Rhein, und beyde strömen in dem Gesichte des Gartens dahin, hinter welchem sich anmutige Weinberge erheben.“
== Literatur ==
Hedwig Brüchert (Hrsg.): Vom kurfürstlichen Barockgarten zum Stadtpark. Die Mainzer Favorite im Wandel der Zeit. Förderverein Stadthistorisches Museum Mainz e. V., Mainz 2009. ISSN 1868-3177
Rudolf Busch: Das Kurmainzer Lustschloss Favorite. Sonderdruck: Rheinisches Kulturinstitut, 1951. Aus: Mainzer Zeitschrift, 44/45, 1949/50.
Eduard Coudenhove-Erthal: Die Kunst am Hofe des letzten Kurfürsten von Mainz: Friedrich Carl Joseph Freiherr v. Erthal, 1774–1802. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Band 10. Rohrer, Baden bei Wien, 1935, S. 57–86.
Paul-Georg Custodis (Bearb.): Das kurfürstliche Mainzer Lustschloss Favorite: Sonderausstellung Stadthistorisches Museum Mainz, 1. August bis 12. September 2004. Mainz, 2004
Franz Dumont, Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz (Hrsg.): Mainz – Die Geschichte der Stadt. von Zabern, Mainz 1999 (2. Aufl.). ISBN 3-8053-2000-0.
Marie Luise Gothein: Geschichte der Gartenkunst, Zweiter Band Von der Renaissance in Frankreich bis zur Gegenwart. Verlag Eugen Diederichs, Jena 1926; Nachdruck Verlag Georg Olms Hildesheim 1988, ISBN 3-487-09091-0.
Uta Hasekamp: Die Schlösser und Gärten des Lothar Franz von Schönborn: das Stichwerk nach Salomon Kleiner (Grüne Reihe, 24). Wernersche Verlagsanstalt, Worms 2005, ISBN 3-88462-192-0.
Ulrich Hellmann: Der Hofgarten in Mainz und die Gärtner am kurfürstlichen Hof. Wernersche Verlagsgesellschaft, Mainz 2017, ISBN 978-3-88462-378-7.
Dieter Hennebo, Alfred Hoffmann: Geschichte der deutschen Gartenkunst, Band II: Der architektonische Garten – Renaissance und Barock. Broschek Verlag, Hamburg 1965
Karl Lohmeyer: Südwestdeutsche Gärten des Barock und der Romantik im ihren in- und ausländischen Vorbildern: Nach dem Arbeitsmaterial der saarländischen und pfälzischen Hofgärtnerfamilie der Koellner. Saarbrücker Abhandlungen zur südwestdeutschen Kunst und Kultur, Band 1. Saarbrücken: Buchgewerbehaus Aktiengesellschaft, 1937.
Norbert Schindler: Die Favorite zu Mainz und die neue Anlage. In: Das Gartenamt. 9/1962, S. 240–245.
Werner Wentzel: Die Gärten des Lothar Franz von Schönborn, 1655–1729. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1970, ISBN 3-7861-4033-2.
Heinrich Wohte (Hrsg.): Mainz – Ein Heimatbuch. Verlag Johann Falk III. Söhne, Mainz 1928
== Weblinks ==
regionalgeschichte.net – Die Favorite in Mainz
Festung Mainz – Das kurfürstliche Mainzer Lustschloss Favorite
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lustschloss_Favorite_(Mainz)
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Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektkelch
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= Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektkelch =
Das Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektkelch, im Werkverzeichnis als Selbstporträt mit seiner Frau und Sektglas (BC 234) benannt, ist ein Gemälde des deutschen Malers Lovis Corinth. Das Doppelporträt zeigt ihn selbst und seine Malereischülerin und spätere Frau Charlotte Berend, die mit unbekleidetem Oberkörper auf seinem Schoß sitzt und von ihm umarmt wird, während er ein Glas erhebt. Es entstand als „Verlobungsgemälde“ in Corinths Atelier in Berlin im Oktober 1902, wenige Monate vor der Hochzeit der beiden Dargestellten. Das in Öl auf Leinwand gemalte Bild mit den Maßen 98,5 × 108,5 Zentimeter befindet sich in Privatbesitz.
== Bildbeschreibung ==
Das Gemälde zeigt den Künstler Lovis Corinth und seine spätere Frau Charlotte Berend in Form eines Paarporträts in Umarmung in der Frontalen. Corinth sitzt auf einem für den Betrachter nicht sichtbaren Stuhl und hält eine Sektschale mit einem roten Sekt in der zum Betrachter erhobenen linken Hand. Berend sitzt auf dem rechten Oberschenkel Corinths und umfasst mit ihrem Arm die Schultern Corinths, die Hand liegt entsprechend auf der linken Schulter des Mannes. Sie hält den Stängel einer Blume mit weißer Blüte, die nach unten hängt. Corinth trägt eine grüne Jacke und darunter ein weißes Hemd, das über der Brust geöffnet ist. Der Oberkörper von Charlotte Berend ist vollständig entblößt, und der rechte Arm hängt herab, wobei die Hand auf dem Stoff des um die Hüften liegenden, wallenden Kleides abgelegt ist. Mit seinem rechten Arm umfasst Corinth den unbekleideten Oberkörper von Charlotte Berend. Seine unter der Achsel zwischen Oberarm und Brustkorb durchgeführte Hand presst die Brust, wobei die Brustwarze zwischen Zeige- und Mittelfinger zu sehen ist. Seine Wange lehnt er an die nackte Schulter der Frau, beide Personen blicken den Betrachter mit einem Lächeln an. Das Licht fällt auf den Oberkörper von Charlotte Berend, sodass die Schulter und die rechte Körperhälfte hell erscheinen, das Gesicht von Corinth liegt dagegen im Schatten hinter ihrem Körper und ist entsprechend dunkler. Nach Beat Wyss „kuschelt sich“ der „verliebte Corinth“ „im Schatten seiner halbnackten Geliebten, die auf seinem Schoß sitzt“.Den Hintergrund bildet die Wand eines Raumes, die am linken Rand mit der angrenzenden Wand eine Zimmerecke bildet. In der Ecke steht ein runder und mit einer weißen Tischdecke abgedeckter Tisch. Auf diesem befinden sich eine Flasche mit rotem Sekt, zwei leere Sektschalen sowie in einer hohen Vase einige Blumen und am vorderen Rand ein mit Äpfeln und Trauben gefüllter Obstteller.
Das Bild ist im linken oberen Bildfeld signiert und am rechten oberen Bildrand datiert mit Oktober 1902.
== Hintergrund und Einordnung ==
=== Zeitliche Einordnung ===
Die Begegnung mit Charlotte Berend und ihre Beziehung fällt in die Zeit, in der Corinth sich in Berlin einrichtete. Er hatte sein Studium in München in den 1890er Jahren beendet. Seine 1900 gemalte Version der Salome, ein Aktgemälde in einer historischen Szenerie, das auf die literarische Vorlage von Oscar Wilde aufbaut und das Salome, Tochter der Herodias, mit dem abgeschlagenen Kopf Johannes des Täufers zeigt, sollte nicht in der Münchener Secession ausgestellt werden. Corinth gab das Bild daraufhin an Walter Leistikow in Berlin, der das Bild für die Ausstellung der Berliner Secession annahm. Aufgrund des großen Erfolges des Werkes wechselte Corinth kurz darauf seinen Wohnsitz und zog nach Berlin.Bei dem Bild Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektglas handelt es sich um eines der frühesten Gemälde von Lovis Corinth, auf denen er seine spätere Frau Charlotte Berend (1880–1967) porträtierte. Corinth lernte die damals 21 Jahre alte Frau 1901 kennen, nachdem er in Berlin eine Malschule für junge Frauen eröffnet hatte. Charlotte Berend, die Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie, war seine erste Schülerin, und sie stand ihm in der Folgezeit regelmäßig Modell.
1902 verreiste er mit ihr an die Ostsee, wo sie gemeinsam in Horst in Pommern, dem heutigen Niechorze, Urlaub machten. Corinth porträtierte sie in dem Jahr mehrmals. Während des Badeurlaubs entstand das Bild Petermannchen ebenso wie das Bild Paddel-Petermannchen. Während des Aufenthaltes in Horst vertiefte sich die Beziehung von Lovis Corinth und Charlotte Berend, und sie wurden ein Liebespaar. Berend beschrieb später in ihren Lebenserinnerungen Mein Leben mit Lovis Corinth, wie sie beide engumschlungen auf einem Steg saßen und sie ihm die Geschichte ihres ersten Heiratsantrags erzählte. Das Bild Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektkelch entstand nach einem Kurzurlaub in Tutzing am Starnberger See, einem „vorgezogenen Honigmond“, und wurde von Corinth als Verlobungsbild betrachtet. Nach ihren Erinnerungen schilderte Charlotte Berend-Corinth die Entstehung wie folgt:
Laut eigenen Angaben heirateten Lovis Corinth und Charlotte Berend, die sich für den Doppelnamen Berend-Corinth entschied, im Folgejahr am 26. März 1903. Laut Charlottenburger Standesamt fand die Trauung erst im März 1904 statt – diese persönliche „Vorverlegung“ wird damit erklärt, dass der gemeinsame Sohn Thomas Corinth am 13. Oktober 1904 auf die Welt kam, die Braut also bei der Hochzeit schon schwanger war.
=== Einordnung in das künstlerische Werk ===
Das Bild Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektkelch lässt sich auf vielfältige Weise in das Werk Lovis Corinths einordnen, wobei vor allem seine Funktion als Doppelporträt und zugleich als Selbstbildnis und Bildnis von Charlotte Berend, später Charlotte Berend-Corinth, im Vordergrund steht. Corinth hat zahlreiche Selbstporträts geschaffen, in der Regel malte er eines bei jedem seiner Geburtstage. Laut Carl Georg Heise hinterließ er 42 Gemälde mit Selbstbildnissen, dazu kommen zahlreiche Skizzen, Zeichnungen und graphische Blätter mit seinem Porträt. Von seiner Frau malte er etwa 80 Gemälde, bei denen er sie explizit darstellte – hinzu kommen zahlreiche weitere Bilder, bei denen sie ihm Modell stand, ohne dass dieses besonders herausgestellt wurde. Er stellte fest, dass Corinths Porträts besonders leidenschaftlich ausfielen, umso persönlicher sie für ihn wurden, und demnach sei es leicht verständlich nachzuvollziehen, „bei welchen Bildnis-Modellen Corinths künstlerisches Ingenium sich am leidenschaftlichsten entzündete: bei seiner eigenen Erscheinung und bei der seiner Nächsten.“Corinth war, als er 1901 Charlotte Berend als seine Schülerin kennenlernte, bereits ein etablierter und gut ausgebildeter Maler, der durch seine Werke bereits Anerkennung vor allem in der Berliner Kunstszene um die Berliner Secession bekommen hatte. Er war zudem bereits vorher durch Selbstporträts und Aktdarstellungen aufgefallen, sodass diese Sujets für ihn kein Neuland waren. Andererseits stellte die Liaison mit Charlotte Berend einen Wendepunkt in seinem Leben dar, da er sich bis dahin nicht an eine Frau gebunden hatte. 1902 begann diese Beziehung, sodass Charlotte Berend ab diesem Jahr von ihm als Motiv und Modell in sein Werk aufgenommen wurde. Nach der Erinnerung von Charlotte Berend-Corinth fragte er sie 1901 zum Ende des Semesters zum ersten Mal, ob er ein Porträt von ihr malen dürfe. Er plante mit ihr das Porträt Charlotte Berend im weißen Kleid, das er später signierte und ihr schenkte. Vorher malte er jedoch das Bild Maske im weißen Kleid, da Berend mit ihrem Kleid auch einen schwarzen Seidenschal und eine schwarze Maske mitgebracht hatte.Nach der Charakterisierung des Kunsthistorikers Alfred Kuhn, der seine Biografie 1925 nach dem Tod Corinths veröffentlichte, begann mit der Beziehung zu Charlotte Corinth „eine neue Epoche in des Malers Schaffen“ und „der schwere Mann, der ungeschlachte Riese ward zum Kinde, der Stier ging zahm und willig an der Leine, die ein junges Mädchen führte.“ Er bezog sich damit auf das Porträt Mädchen mit Stier, das wie das Petermannchen auf ihrer ersten gemeinsamen Reise gemalt wurde. Dieses Bild, an dem Charlotte Berend einen kräftigen Stier am Nasenring führt und streichelt, fand aufgrund der darin enthaltenen Bedeutung besondere Aufmerksamkeit in der Berliner Sezession: Symbolisch zeigte es die aktuelle Beziehung des Paares auf, in der sich Corinth als gezähmten Bullen von der Frau an einem rosa Band am Nasenring herumführen ließ.
== Deutung und Rezeption ==
=== Bezugnahme auf Rembrandt ===
Für das Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektkelch wählte Lovis Corinth ein Gemälde Rembrandts als Vorbild, was nach Beat Wyss „überdeutlich erkennbar“ ist. Sabine Fehlemann, ehemalige Direktorin des Von der Heydt-Museums in Wuppertal, erkennt zudem auch Peter Paul Rubens als Vorbild. Auf Rembrandts Selbstbildnis Rembrandt und Saskia im Gleichnis vom verlorenen Sohn, das etwa 1635 entstand, porträtierte sich Rembrandt mit seiner Frau Saskia van Uylenburgh in einer Szene, bei der sie auf seinem Schoß sitzt und er dem Betrachter mit einem erhobenen Glas zuprostet, während seine Hand auf der Hüfte der Frau ruht. Rembrandt setzte das Bild in den Kontext einer Darstellung des biblischen Gleichnisses vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium (15,11–32 ). Er stellt dabei den verlorenen Sohn dar, der sein Geld im Wirtshaus verprasst, Saskia wird in der Rolle einer Hure dargestellt. Corinth nutzt die Komposition und Farbgebung von Rembrandts Gemälde, anders als dieser stellte er sich und Charlotte Berend allerdings nicht in einem biblischen oder historisierenden Kontext dar, sondern als erotische und sehr intime Szene. Nach Gerhard Leistner entsprechen sich die beiden Bilder jedoch auch inhaltlich: „In beiden Bildern geht es um das Gleichnis vom verlorenen Sohn im Bordell“ mit dem Corinth „das öffentliche Wagnis [eingehe], im reaktionären Kaiserreich so schonungslos offen die sinnlich erfüllte Beziehung zwischen Mann und Frau vorzuführen“. Nach Wyss vertauscht Corinth allerdings die Rollen im Bild: „Drängt sich Rembrandt, als fröhlicher Haudegen verkleidet, in den Vordergrund, scheint Corinth ganz im Liebesglück, Wein- und Malergenuss versunken. Die schimmernde Haut Charlottes steht im Mittelpunkt: Die führt uns der Maler vor als wäre er König Kandaules, der seinen Freund Gyges hinter einem Vorhang sich zu verstecken hieß, von wo er dieses sein prächtiges Weib bewundern sollte.“Nach Wyss hatte allerdings auch Rembrandt in seiner ersten Version des Bildes vom verlorenen Sohn eine unbekleidete Frau auf seinem Schoß dargestellt: „Neuere Untersuchungen haben festgestellt, dass das Gemälde stark beschnitten ist. Übermalt wurde eine nackte Mandolinenspielerin.“ Seine bekleidete Frau Saskia, die er erst kurz zuvor geheiratet hatte, hatte er erst danach auf seinem Schoß platziert und damit „die unverblümte erste Fassung wohl aus familiären Gründen zurückgenommen.“ Dabei geht es vor allem darum, die Vermischung des biblischen Motivs vom Tiefpunkt des verlorenen Sohns im Bordell und der häuslichen Verhältnisse bei den Rembrandts zu vermeiden. Er wollte also mit seiner Korrektur im Rollenporträt als Verlorener Sohn gerade vermeiden, was Corinth in einem Akt der Selbstentblößung provoziert. Während sich Rembrandt in einer Rolle verstand, in der er seine Person porträtierte und sich damit das Selbst zur „persona der Historie“ macht, wird für „Corinth die Historie zur persona selbst“. Durch die malerischen Details werden zudem die persönlichen Befindlichkeiten und Probleme Corinths offenbart: Das Weinglas in der linken Hand symbolisiert die lebenslang vorhandene Versuchung des Alkohols für „Corinth, den Trinker“ und die Brust in der Malerhand wirke, „als wäre der Liebhaber wieder zum fordernden Säugling geworden.“Nach Leistner bot Berlin zur Zeit Corinths „als reiche und genusssüchtige Bühne“ das „richtige Ambiente für Corinths vitale Malerei“. Er schaffte es, seine „spektakulären Werke zwischen fleischigen Frauenleibern und blutigen Schlachthausszenen“ als Antwort auf die „laszive Doppeldeutigkeit der Salonerotik der prüden Wilhelminischen Zeit, die in Berlin eher angloamerikanisch, puritanisch asexuell eingestellt ist,“ zu formulieren.
=== Rollenverständnis und Besitznahme ===
Wie bei anderen Selbstbildnissen Corinths ging es bei dem Bild Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektkelch vor allem um die Darstellung eines Lebensabschnitts, in diesem Fall um den Beginn eines gemeinsamen Lebensabschnittes mit seiner späteren Frau Charlotte Berend. Obwohl das Bild und weitere dieser Art Corinth „den Ruf eines der Sinnenfreude hemmungslos hingegebenen Lebensgenießers eingetragen“ hätten, betrachtete Heise 1958 diesen Ruf zumindest bezogen auf dieses Bild als falsch. Auch er bezieht es auf Rembrandts Doppelporträt und schreibt, dass hier „nichts von dem bramarbasierenden Hochgefühl des Holländers zu finden ist, vielmehr eine Innigkeit des Gefühls, die durch die Nacktheit der Frau nicht geschmälert, sondern nur noch erhöht wird.“ Er sieht hier eine Lebensfreude im Bereich „häuslicher Glückseligkeit“, unterstrichen von dem „funkelnden Stilleben“ des Tisches mit den Früchten und dem aufgelockerten Hintergrund. „Das Gewagte des Motivs mag zur Zeit seiner Entstehung als aufreizend modern empfunden worden sein, für den Betrachter von heute wird im Fluidum der leuchtenden Pinselschrift ein Ewigkeitszug offenbar.“ Michael F. Zimmermann stellte das Bild entsprechend in den Kontext anderer Bildnisse im Familienkreis. Er schreibt, dass Corinth in allen Porträts mit seiner Frau und seiner Familie stets „mehr als ein stummer Augenzeuge“ ist.Gerhard Leistner beschrieb es als „Entwurf eines Verlobungsbildes aus der Sicht des Mannes: der Künstler in seiner Beziehung zu und auch Abhängigkeit von der Frau als Lebensgefährtin, Muse und Modell.“ Nach seiner Betrachtung ist Charlotte Berend „das Objekt der Betrachtung, des Studiums und der Begierde“ und Corinth legt „in besitzergreifender Pose […] seinen rechten Arm um die junge Frau, umfasst ihre rechte Brust und stellt zwischen zwei Fingern bewusst ihre Brustwarze zur Schau.“ Dabei hält der Maler in seiner linken Hand statt eines Pinsels ein Sektglas, und „prostet uns zu“. In der zeitgenössischen Monografie zu Corinth von 1913 bezeichnete Georg Biermann das Bild als ein „Denkmal“ einer „neuen beruhigten Stimmung, die das Schaffen des Künstlers in jenen Augenblicken häuslichen Glückes überkommt.“ Er betonte die „frohe Sinnlichkeit“ und die „auf Lebensbejahung und Daseinsfreude eingestellte Note der Szene“. Nach seinem Verständnis sind „Künstlernaturen wie Corinth“ „in jeder Beziehung Vollblutmenschen, und es wäre völlig verkehrt, gegenüber einer solchen Schöpfung, die aus einem starken Glücksgefühl herausgewachsen ist, irgendwie Bedenken sensibler Art zu äußern.“
Gert von der Osten setzte das Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektkelch in Kontrast zu Corinths berühmtem Selbstporträt mit Skelett von 1896 und stellte es als Teil einer Serie von Selbstbildnissen mit weiblichen Modellen dar. Nach seiner Darstellung ist das Bild „die volle Antwort auf [Corinths] Einsamkeit mit dem Skelett“: „Hier ist nicht der Arbeitskäfig geschildert, nicht die Industrie- und Stadtlandschaft des Fensterausblicks, sondern das Sekt- und Weintraubenstilleben eines behaglichen Interieurs, die sinnenfrohe Begegnung mit der Geliebten vor dem Spiegel, dessen Widerschein er in ein Gemälde verwandelt.“ Er stellt es zudem in eine Reihe mit der Allegorie des Avalos von Tizian, einer Darstellung des Alfonso d’Avalos, der seiner Frau an die Brust greift. Dazu schrieb er: „Was etwa in Tizians Allegorie des Avalos als denkwürdige Gebärde der Besitznahme erscheint, wird bei Corinth zum Griff an die unverhüllte weibliche Brust. Ein Bekenntnis zum leiblichen Begehren und Innehaben der Geliebten.“ Er beschrieb zudem den Gesichtsausdruck Corinths als „jovial“ und „heidnisch“, „dumpf glühend“ und „beschattet“, stellt jedoch auch klar, dass „diese äußerste, manchmal mißverstandene Sprache Corinths dennoch von einer natürlich Reinheit“ sei. Fehlemann konzentriert sich auf Charlotte Berend, die nach ihrer Wahrnehmung noch kritisch und ungewiss ihrem Schicksal entgegenschaut, „während er schon siegesgewiß den Sektkelch an ihrer Seite hochhält“. Sie spielt zudem auf das Obststillleben im Hintergrund „als die Andeutung eines vielversprechenden, reich gedeckten Tisches“ an und reflektiert diese auf die unbekleidete Frau. Zimmermann bezeichnet ihn in ähnlichem Duktus als „wissend Lächelnden“, der seinen Kopf an die Schulter seiner Geliebten schmiegt während er sehr demonstrativ ihre Brust liebkost. Auch er bezieht das Stillleben im Hintergrund in diese Szene ein, indem er schreibt: „Umschmeichelt wird das Paar von goldwarmem Licht, als hätte das Stillleben im Hintergrund mit Wein, Obst und Blumen seine Düfte in den Raum entlassen.“Peter Kroppmanns schrieb 2008 in seiner Corinth-Biografie hierzu, Lovis Corinth stelle sich Charlotte Berend „mit seiner rechten umfassend und mit seiner Hand ihre Brust in Besitz nehmend“ dar. Alfred Kuhn charakterisierte die Beziehung zwischen Corinth und Berend bereits 1925 als „Besitz“ und schrieb: „Das Glück des ersten Besitzes hat der Maler in einer Reihe von beziehungsreichen Bildern verewigt.“ Diese „Besitzergreifung“ von Charlotte Berend durch Corinth steht auch im Mittelpunkt einer Charakterisierung des Bildes und der Porträts seiner Frau durch Simone Streck. Für sie wird in dem Bild ebenso wie in späteren Porträts die Rollenverteilung beider Personen deutlich. Charlotte ist für Corinth Ehefrau und Muse und wird von ihm in dieser Rolle verankert, ohne noch zusätzlich in ihrer eigenen künstlerischen Entwicklung und Karriere gefördert zu werden. Nach ihrer Ansicht ist die demonstrative Zurschaustellung Charlottes auffällig, gepaart mit der deutlichen Aussage, er habe sie „sozusagen fest im Griff“:
Durch den Blick der beiden Personen würde zudem die Beziehung zwischen ihnen deutlich. Ihr zurückhaltender und schüchterner Blick steht im Kontrast zu seiner ernsten und bestimmenden Miene und der Geste, das Sektglas hochzuhalten, das die „Eindeutigkeit dieser Verbindung“ zusätzlich unterstreiche.Charlotte Berend ergibt sich in diese Rollenverteilung und geht in ihr auf. Nach Sabine Fehlemann verändert sich ihr Ausdruck in den zukünftigen Gemälden von neckisch unsicher bis verantwortungsbewusst und voller Liebe. Laut Zimmermann wird dies bereits im 1903 gemalten Selbstporträt mit Rückenakt deutlich, bei dem Charlotte dargestellt wird, „wie sie sich rücklings nackt an den Malenden schmiegt“ und sich damit „vollends in die Rolle der schützenden Muse [begibt], die sie trotz ihrer hohen Begabung als Künstlerin zeitlebens für Corinth gespielt hat.“
== Ausstellungen und Provenienz ==
Die Provenienz des Bildes ist nur unvollständig dokumentiert. Laut Werkverzeichnis war es zuerst in Besitz des Kunsthändlers Oskar Moll in Breslau und später bei Werner Rolfes in Frankfurt am Main. Gert von der Osten schrieb in seiner Corinth-Biografie im Jahr 1955, dass der Verbleib des Bildes unklar sei und gab Rolfes als letzten bekannten Besitzer für 1926 an. Im Juli 1979 tauchte das Bild in einem Auktionskatalog von Christie’s in London auf. 2008 wurde im Ausstellungskatalog der Ausstellung Lovis Corinth und die Geburt der Moderne die Kunstgalerie Nathan Fine Arts als Besitzer angegeben.1908 wurde das Bild mit dem Titel Selbstporträt mit Akt in der Zeitschrift Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe gemeinsam mit zahlreichen weiteren Bildern Corinths zum ersten Mal abgebildet. In ihrem Werkverzeichnis listete Charlotte Berend-Corinth nur wenige Ausstellungen, bei denen das Bild gezeigt wurde. So war es 1913 bei einer Jahresausstellung der Berliner Sezession zu sehen, zudem 1926 jeweils in einer Retrospektive auf den im Vorjahr gestorbenen Künstler in der Nationalgalerie in Berlin und bei einer Ausstellung des Kunstvereins Frankfurt. In neueren Ausstellungsverzeichnissen kommt das Bild relativ regelmäßig vor, so wurde es etwa bei der Ausstellung im Von der Heydt-Museum in Wuppertal 1999 und der gemeinsamen Retrospektive Lovis Corinth und die Geburt der Moderne im Musée d’Orsay in Paris, dem Museum der bildenden Künste in Leipzig und dem Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg 2008 bis 2009 gezeigt.
== Belege ==
== Literatur ==
Selbstporträt mit seiner Frau und Sektglas. In: Charlotte Berend-Corinth: Lovis Corinth. Werkverzeichnis. Neu bearbeitet von Béatrice Hernad. Bruckmann Verlag, München 1992, ISBN 3-7654-2566-4, S. 88.
Gerhard Leistner: Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektkelch. In: Ulrike Lorenz, Marie-Amelie Prinzessin zu Salm-Salm, Hans-Werner Schmidt (Hrsg.): Lovis Corinth und die Geburt der Moderne. Kerber, Bielefeld/Leipzig 2008, ISBN 978-3-86678-177-1, S. 58–59.
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https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstportr%C3%A4t_mit_Charlotte_Berend_und_Sektkelch
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Schweizerische Nationalbahn
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= Schweizerische Nationalbahn =
Die Schweizerische Nationalbahn (SNB) war eine von 1875 bis 1880 bestehende Schweizer Eisenbahngesellschaft mit Sitz in Winterthur. Hervorgegangen aus den Vorgängergesellschaften «Winterthur–Singen–Kreuzlingen» und «Winterthur–Zofingen», strebte sie den Bau einer von Städten und Gemeinden finanzierten Hauptbahn vom Bodensee durch das Mittelland zum Genfersee an. Mit ihr sollte die marktbeherrschende Stellung der etablierten Privatbahnen gebrochen werden. Zuletzt reichte das 159 km lange normalspurige SNB-Streckennetz von Winterthur aus nordostwärts nach Kreuzlingen und Singen (Hohentwiel) sowie westwärts nach Aarau und Zofingen.
Die SNB war von politischer Einflussnahme durch die in Winterthur dominierende Demokratische Partei geprägt. Sie wollte den propagandistisch als «Herrenbahnen» bezeichneten privaten Gesellschaften eine «Volksbahn» entgegenstellen, die dem Gemeinwohl dient. Häufig führten die Strecken nicht den Tälern entlang, sondern schnitten sie an, was zu hohen Baukosten führte. Insbesondere die Schweizerische Nordostbahn und die Schweizerische Centralbahn behinderten die SNB massiv durch Konzessionierung und Bau paralleler oder abkürzender Strecken sowie mit übertrieben hohen Preisforderungen für die Nutzung bestehender Anlagen. So konnte beispielsweise gezielt die Anbindung des Stadtzentrums von Zürich verhindert werden.
Von Anfang an hatte die SNB mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Der Bau des Streckennetzes fiel in die ersten Jahre der Grossen Depression, die durch den Gründerkrach ausgelöst worden war. Die Erträge aus dem Personen- und Güterverkehr blieben weit unter den Erwartungen. 1878 musste die SNB zwangsliquidiert werden, zwei Jahre später übernahm die Nordostbahn die Konkursmasse für etwa 14 % der ursprünglichen Investitionssumme. Städte und Gemeinden entlang den Strecken mussten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die von der SNB verursachten Schulden abzahlen.
== Ausgangslage ==
Bei der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 war das Schweizer Bahnnetz nur 25 km lang. Der weitere Ausbau kam erst mit dem Inkrafttreten des Eisenbahngesetzes von 1852 in Schwung. Während der Beratungen neigte die Bundesversammlung anfänglich zu einer staatlichen Eisenbahn, die ein von Robert Stephenson entwickeltes Streckenkonzept umsetzen sollte. Es berücksichtigte nur wenige Regionen, weshalb die Bundesversammlung unter dem Einfluss von Alfred Escher entschied, das Eisenbahnwesen privaten Investoren zu überlassen. Die Kantone erhielten das Recht zur Erteilung von Konzessionen, während der Bund lediglich für die Regelung technischer Belange zuständig war. In der Folge vervielfachte sich das Schweizer Bahnnetz auf weitgehend unkoordinierte Weise und erreichte 1870 bereits eine Länge von 1335 km.In der Nord- und Ostschweiz entstanden drei grosse Gesellschaften mit regionalen Monopolen: Die Schweizerische Nordostbahn (NOB), die unter der Kontrolle Eschers und der von ihm gegründeten Schweizerischen Kreditanstalt stand, die Schweizerische Centralbahn (SCB) im Besitz von Basler und Elsässer Banken sowie die Vereinigten Schweizerbahnen (VSB), die weitgehend mit französischem Kapital finanziert worden waren. Alfred Escher, ab 1871 auch Präsident der Gotthardbahn-Gesellschaft, war die unbestrittene Führungsfigur der radikal-liberalen Freisinnigen, der damals dominierenden politischen Strömung der Schweiz. Durch seine zahlreichen wirtschaftlichen und politischen Ämter besass der «Eisenbahnkönig» eine beispiellose Machtfülle, mit der er die Monopolstellung der drei grossen Gesellschaften verteidigte. Ersten Widerstand gegen dieses «System Escher» gab es 1857 mit der von Bundesrat Jakob Stämpfli, einem vehementen Befürworter der Staatsbahnidee, initiierten Gründung der Schweizerischen Ostwestbahn, die aber bereits vier Jahre später in Konkurs ging.Im Kanton Zürich begünstigte die von Escher und seinen Verbündeten betriebene Wirtschaftspolitik einseitig die Kantonshauptstadt Zürich, während sich die Landgemeinden benachteiligt fühlten. Als Reaktion darauf entstand in den 1860er Jahren die demokratische Bewegung, die Staatsinterventionen, direkte Demokratie und soziale Reformen forderte. Ihre politischen Impulse gingen vor allem von der Stadt Winterthur aus. Der 1867 gegründeten linksliberalen Demokratischen Partei gelang es zwei Jahre später, die Kantonsverfassung in ihrem Sinne zu ändern. Sie stellte auch die Mehrheit im Kantonsrat und alle Sitze im Regierungsrat. Damit war es gelungen, Eschers politische Macht einzuschränken. 1872 verabschiedeten die Demokraten ein Gesetz, das es dem Kanton erlaubte, den Eisenbahnbau in bisher unberücksichtigt gebliebenen Gegenden finanziell zu unterstützen. Auf Bundesebene trugen sie im selben Jahr dazu bei, das Eisenbahngesetz zu revidieren. Es schaffte die Vorrechte der Privatbahngesellschaften zum Bau von «Prioritätslinien» ab, übertrug die Erteilung von Konzessionen an den Bund und führte einheitliche Beförderungs- und Tarifbedingungen ein, die der jeweils kürzesten Verbindung zwischen zwei Bestimmungsorten den Vorrang gaben.
== Winterthurer Ambitionen ==
Winterthur wurde in den 1860er Jahren von NOB-Strecken nach Zürich, Romanshorn und Schaffhausen erschlossen; hinzu kam eine VSB-Strecke in Richtung St. Gallen. Einflussreiche Winterthurer Demokraten empfanden dies als Bevorzugung Zürichs. Ständerat und Stadtpräsident Johann Jakob Sulzer, ein grosser Rivale Eschers, skizzierte 1863 ein «Winterthurer Eisenbahnprogramm». Demnach sollte die Stadt der Mittelpunkt einer möglichst direkten «Weltbahn» von Paris nach Konstantinopel werden; über Rapperswil war auch die Anbindung an eine alpenquerende Splügenbahn nach Italien vorgesehen. Daraus wurde jedoch nichts: 1871 strich der Stadtrat einerseits die Finanzierung der geplanten Strecke Winterthur–Wetzikon angesichts der zu erwartenden Konflikte mit den VSB im Zürcher Oberland und in der Linthebene. Andererseits beanspruchte die NOB die Konzession der Bahnstrecke Winterthur–Koblenz für sich und machte dabei das im Eisenbahngesetz von 1852 verankerte «Anschlussprivileg» geltend, obwohl sie die Strecke eigentlich für unrentabel hielt. Die Wege in die Alpen und nach Basel waren somit für eine Winterthurer Bahngesellschaft versperrt.Sulzer entwickelte zu Beginn des Jahres 1872 die Vision einer durchgehenden Nationalbahn von Kreuzlingen am Bodensee bis nach Vevey am Genfersee, wiederum mit Winterthur als betrieblichem Mittelpunkt. Sie sollte von den zu erschliessenden Städten und Gemeinden finanziert werden, als «Volksbahn» dem Gemeinwohl dienen, den privaten «Herrenbahnen» Konkurrenz machen und diese langfristig in die Knie zwingen. Salomon Bleuler, Nationalrat und Verleger der einflussreichen Winterthurer Zeitung Der Landbote, begleitete das Vorhaben propagandistisch. In aggressiven, oft auch überschwänglichen und bombastischen Artikeln warf er den Privatbahnen vor, mit ihren Monopolen die Unabhängigkeit der Staatsgewalt zu gefährden. Nicht länger dürfe an ausländischen Börsen über die Schweizer Eisenbahnpolitik bestimmt werden. Ausserdem versprach er tiefe Preise und hohe Renditen. Theodor Ziegler, der Winterthurer Stadtschreiber, sollte Sulzers Vision in die Tat umsetzen. Am 12. Juli 1872 konstituierte sich die «Eisenbahngesellschaft Winterthur–Singen–Kreuzlingen» (WSK) mit Sulzer als Präsident des Verwaltungsrates und Ziegler als Direktionspräsident.
Die WSK plante die Bahnstrecken Winterthur–Etzwilen, Etzwilen–Singen (Hohentwiel) und Etzwilen–Kreuzlingen/Konstanz mit einer Länge von zusammen 74 km. Politische Verbündete Eschers versuchten das Vorhaben zu behindern. So verbot der Kanton Schaffhausen zunächst der Stadt Stein am Rhein, die für das Projekt bewilligten Mittel einzuzahlen, während der Kanton Thurgau überhaupt keinen Beitrag leistete. Dennoch gelang die Finanzierung der auf 11 Millionen Franken veranschlagten «Ostsektion». Der Kanton Zürich und interessierte Gemeinden brachten rund 5 Millionen Franken an Aktienkapital auf, Privatpersonen eine weitere Million. Die Bank in Winterthur, die Eidgenössische Bank und die Rheinische Creditbank übernahmen zusammen drei Viertel einer Obligationenanleihe von 5 Millionen. Später kam eine zweite Obligation hinzu, die 1,34 Millionen einbrachte. Mit etwas mehr als einem Drittel den grössten Anteil am Gesamtkapital hielt die Stadt Winterthur. Dort war das Eisenbahnprojekt nicht unumstritten: Am 14. März 1873 lehnte die Gemeindeversammlung einen Antrag, die WSK-Beteiligung an die NOB zu verkaufen, mit 58 Prozent der Stimmen ab. Alle drei Strecken der Ostsektion gingen am 17. Juli 1875, von Volksfesten begleitet, in Betrieb. In Zeitungskommentaren war die Rede davon, dass eine patriotische Tat vollbracht worden sei, die dazu beitrage, die Schweiz «aus den Klauen der Eisenbahnbarone» zu befreien.
== Fusion zur Nationalbahn ==
Obwohl der Kanton Aargau bereits früh ein relativ gut ausgebautes Schienennetz besass, fühlten sich mehrere Regionen von der NOB und der SCB hintergangen. Als der Regierungsrat die Konzession für die Verbindung Baden–Aarau erteilte, hatte er die Bedingung gestellt, dass die Strecke über Lenzburg führen müsse. Die NOB bevorzugte die direkte Streckenführung entlang der Aare über Wildegg und stellte ein entsprechendes Änderungsgesuch, das der aargauische Grosse Rat 1855 mit grosser Mehrheit ablehnte. Daraufhin schürte die NOB eine Pressekampagne gegen die Lenzburger Linie, bis der Grosse Rat im Februar 1857 seine Meinung änderte und der Wildegger Linie zustimmte – ein Vorgang, der als «Verrat von Lenzburg» in die Geschichte einging. Zofingen musste ebenfalls eine Enttäuschung hinnehmen: Die Stadt hatte gehofft, Kreuzungspunkt der wichtigsten Nord-Süd- und Ost-West-Verbindungen der Schweiz zu werden, doch die SCB entschied sich stattdessen für Olten. Baden war ähnlich wie Winterthur eine Hochburg der Demokraten. Besonders Josef Zehnder, der streitbare Verleger des Badener Tagblatts und Stadtammann, engagierte sich vehement für die Nationalbahn und griff ihre Gegner in zahlreichen Zeitungsartikeln scharf an.
Am 3. August 1872 fand in Winterthur eine Konferenz statt, um über den Weiterbau in Richtung Westen zu beraten. Ende September reichten 26 aargauische Gemeinden beim Grossen Rat eine Petition ein, im November folgte eine gut besuchte Volksversammlung in Mellingen. Ebenfalls im November 1872, kurz vor Inkrafttreten des neuen Eisenbahngesetzes, erteilte der Grosse Rat die Konzession nur für einen Teil der gewünschten Route (Baden–Lenzburg–Aarau). Damit beugte er sich zum Teil dem Druck der NOB, die aber gleichzeitig mit dem sogenannten Westbahnvertrag dazu verpflichtet werden sollte, Zweigstrecken ins Suhrental, ins Wynental und ins Seetal zu bauen (letztlich vergeblich). Schliesslich sprach die neu zuständige Bundesversammlung im Oktober 1873 die Konzession der «Eisenbahngesellschaft Winterthur–Zofingen» (WZ) zu, die sich am 27. August 1873 konstituiert hatte. Ihr Verwaltungsratspräsident war Samuel Offenhäuser, Präsident der Bank in Zofingen.Für den Bau der 85 km langen «Westsektion» von Winterthur nach Zofingen (mitsamt Abzweig von Suhr nach Aarau) rechnete die WZ mit Kosten von 17 Millionen Franken. Bei der Aktienzeichnung kamen jedoch nur etwas mehr als 8,4 Millionen zusammen. Die grössten Aktionäre waren der Kanton Zürich (1,74 Millionen) sowie die Städte Zofingen (1,62 Millionen) und Winterthur (1,15 Millionen). Der Kanton Aargau, der gesetzlich nicht zu einer Beteiligung verpflichtet war, zeichnete lediglich symbolische 1000 Franken in Aktien; der Anteil privater Aktionäre lag unter 5 Prozent. Um den Fehlbetrag zu decken, beschloss die WZ zusätzlich die Ausgabe einer Obligation von 9 Millionen. Die Städte Winterthur, Zofingen, Baden und Lenzburg sicherten eine Haftungsgarantie für Kapital und allfällige Zinsen zu (im Verhältnis 7:5:3:3). Nachdem auf Betreiben Winterthurs und Zofingens seit Herbst 1874 Verhandlungen zum Zusammenschluss von WSK und WZ liefen, fusionierten die Gesellschaften am 5. April 1875 zur Schweizerischen Nationalbahn (SNB), mit Unternehmenssitz Winterthur und dem früheren Nationalrat Friedrich Joseph Bürli als Direktionspräsident.Die vier Städte dehnten ihre Haftungsgarantie auf die SNB aus, während die Eidgenössische Bank und die Bank in Winterthur die Obligation auflegten. Allerdings brachte die erste Serie nur etwa 3,8 anstatt der erhofften 5 Millionen ein, woraufhin Zofingen 350'000 und Winterthur 800'000 Franken einschossen. Die zweite, im Jahr 1876 aufgelegte Serie von 4 Millionen stiess aufgrund der sich verschlechternden Wirtschaftslage auf noch weniger Interesse. Winterthur und Zofingen sprangen im April 1877 erneut in die Bresche und übernahmen weitere 1,9 bzw. 1,3 Millionen. Inzwischen lagen die Kosten für den Bau der Ostsektion 2,5 Millionen Franken über dem Budget. Die SNB deckte den Fehlbetrag, indem sie auf das Aktienkapital zugriff, das eigentlich für die Westsektion vorgesehen gewesen war, was zu Protesten in den Aargauer Gemeinden führte.
== Konkurrenzkampf ==
Schon früh begann die NOB ihre Winterthurer Konkurrentin mit allen möglichen Mitteln zu behindern. Sie betrachtete es als ihr alleiniges Recht, zwischen Winterthur und Zürich eine Eisenbahn zu betreiben. Dabei stützte sie sich auf die am 1. Januar 1853 vom Zürcher Regierungsrat erteilte Konzession, die ihr für die Dauer von 30 Jahren Monopolvorrechte gewährte. Im August 1872 forderte die NOB in einem Brief die Regierung auf, der SNB keine Konzession zu bewilligen. Noch bevor eine Antwort eintraf, wurde das neue Eisenbahngesetz in Kraft gesetzt, das die Kompetenz zur Konzessionserteilung an den Bund übertrug.
Zwischen Winterthur und Effretikon (ungefähr auf halbem Weg nach Zürich) bestand ein rund zehn Kilometer langer doppelspuriger Abschnitt der NOB. Eine andere Route war aus topografischen Gründen nicht möglich, weshalb die SNB eine Kooperation anstrebte. Obwohl dort nicht viele Züge verkehrten und die NOB gesetzlich dazu verpflichtet gewesen wäre, verwehrte sie der Konkurrentin eine Mitbenutzung – wegen angeblicher «Überlastung». Die SNB erstritt vor dem Bundesgericht eine Freigabe. Daraufhin verlangte die NOB einen derart hohen, an Wucher grenzenden Mietpreis, dass die SNB doch lieber ein drittes Gleis verlegen wollte. Nun aber forderte die NOB einen «Sicherheitsabstand» von sechs Metern zu ihren eigenen Gleisen, was die SNB dazu gezwungen hätte, an der engsten Stelle bei der Mannenberger Mühle einen Tunnel zu graben. Erneut musste sie vor das Bundesgericht ziehen und erwirkte, dass das dritte Gleis ohne den willkürlichen Abstand gebaut werden durfte.Die geplante Westsektion der SNB zwischen Winterthur und Wettingen war acht Kilometer kürzer als die bestehende NOB-Strecke über Zürich. Da der Güterverkehr gemäss neuem Eisenbahngesetz zwingend über die kürzeste Route geführt werden musste, fürchtete die NOB den Verlust des beträchtlichen Frachtvolumens zwischen der Ostschweiz und dem Aargau. Aus diesem Grund plante sie eine Route, die noch kürzer sein sollte als jene der Nationalbahn. Zu diesem Zweck baute sie den ersten Abschnitt der Bahnstrecke Winterthur–Koblenz von Winterthur nach Bülach. Daran schloss die Bülach-Baden-Bahn an, eine Querverbindung vom Glatttal nach Otelfingen im Furttal. Sie wurde am 1. Oktober 1877 eröffnet und schuf eine Verbindung, die nochmals 2,7 km kürzer war.Auf Druck des Bundesrates schlossen NOB und SNB am 9. Januar 1875 einen Vertrag, der den Betrieb auf dem gemeinsamen Abschnitt Otelfingen–Wettingen regelte. Während die Bahnhöfe gemeinsames Eigentum waren, gehörte das nördliche Gleis der SNB und das südliche Gleis der NOB. Der Betrieb erfolgte nach den Vorschriften und Reglementen der NOB. Der Historiker Arnold Gubler, der 1922 eine umfassende Arbeit über die Nationalbahn veröffentlichte, bezeichnete diesen Vertrag als einzige vernünftige Vereinbarung zwischen beiden Gesellschaften. Ansonsten versuchte die NOB wo immer möglich die Konkurrenz zu behindern. Beispielsweise wehrte sie sich zunächst gegen die gemeinsame Nutzung des Bahnhofs Winterthur. Nachdem ein Kompromiss gefunden werden konnte, verweigerte sie den Rangierdienst. Anstatt der SNB Güter nach Konstanz zu übergeben, nahm sie lieber einen langen Umweg in Kauf und transportierte sie im Verbund mit den VSB über Sargans und Rorschach. An SNB-Bahnhöfen gekaufte Fahrscheine akzeptierte sie nicht.
== Durchgehender Betrieb ==
Da die Nationalbahnstrecke westlich von Wettingen mehrere Täler querte, waren zahlreiche aufwändige Kunstbauten erforderlich, beispielsweise die Eisenbahnbrücke Wettingen–Baden über die Limmat und die Eisenbahnbrücke Mellingen über die Reuss. Zwischen Baden und Dättwil war eine Steigung zu überwinden, die den Ausbruch einer grösseren Felsmenge erforderte. Ursprünglich war die Eröffnung der Westsektion für den 1. August 1877 vorgesehen, die sich aber wegen der verspäteten Endmontage der Limmatbrücke verzögerte. Schliesslich erfolgte die Betriebsaufnahme in zwei Etappen: Wettingen–Zofingen inkl. Abzweig nach Aarau am 6. September 1877 und Wettingen–Winterthur am 15. Oktober 1877. Jeweils zwei Tage zuvor fanden offizielle Feiern mit Sonderfahrten und Banketten statt.
1875 erwirtschaftete die Ostsektion noch einen Reinertrag von 316 Franken/km, doch dann geriet die SNB rasch in finanzielle Schieflage. 1876 betrug das Defizit 576 Franken/km, 1877 stieg es auf 3435 Franken/km an. Im Vergleich zur NOB beförderte die SNB trotz Dumpingpreisen nur etwa die Hälfte der Personen und einen Drittel der Güter pro Kilometer. Der als führungsschwach und überfordert geltende Direktor Theodor Ziegler beantragte bereits im Januar 1876 die Einstellung der Arbeiten an der Westsektion, Gläubigerschutz und die Liquidation. Doch der Verwaltungsrat lehnte die Anträge ab, ebenso den von Ziegler angebotenen Rücktritt. Diese Vorgänge blieben zunächst geheim, und die Öffentlichkeit erfuhr erst davon, als es zu spät war.Der Winterthurer Unternehmer Jakob Sulzer-Hirzel, ein Gegner der Nationalbahn, schrieb über die ersten Tage der Westsektion:
== Liquidation und Konkursverfahren ==
Im Januar 1878 war die SNB nicht mehr in der Lage, die Obligationszinsen zu bezahlen, worauf 40 Gläubiger ein Betreibungsverfahren einleiteten. Nach dem Scheitern eines Vergleichs verfügte das Bundesgericht am 20. Februar 1878 die Zwangsliquidation. Die Fahrten wurden zwar nicht eingestellt (es trat stattdessen ein reduzierter Fahrplan in Kraft), doch mussten die beteiligten Gemeinden die Betriebsdefizite übernehmen. Als Liquidatoren amtierten der St. Galler Kantonsrichter Albert Bärlocher und der Schaffhauser Ständerat Eduard Russenberger. Zum Zeitpunkt des Konkurses beschäftigte die SNB 437 Personen (davon 24 in der Verwaltung, 215 im Bahnunterhalt, 155 im Fahrdienst und 43 im Zugkraftdienst).Die Nationalbahngemeinden bildeten ein interkantonales Komitee, das die Bahn entweder sanieren oder zu möglichst guten Bedingungen weiterverkaufen sollte. Am 30. August 1879 ersteigerte es die Anlagen für 4,41 Millionen Franken, konnte aber die Kaufoption wegen fehlender finanzieller Zusicherungen nicht ausüben. Bei der zweiten Versteigerung am 15. März 1880 ging die Westsektion für 750'000 Franken an die NOB und die Ostsektion für 3,15 Millionen Franken an die Eidgenössische Bank. Letztere gab ihren Teil wenig später mit einem Verlust von 40'000 Franken an die NOB ab. Somit erwarb die NOB die gesamte Konkursmasse ihrer Konkurrentin für knapp 14 % des ursprünglichen Werts. Die neue Besitzerin entfernte 1880 das dritte Gleis zwischen Winterthur und Effretikon, zwei Jahre später auch das zweite Gleis zwischen Otelfingen und Wettingen.Alle am Aktienkapital beteiligten Gemeinden erlitten einen Totalverlust. Besonders hart traf es die Aargauer Kleinstadt Mellingen, die den aussergewöhnlich hohen Betrag von 420'000 Franken investiert hatte. Zur Finanzierung hatte sie einen Bankkredit aufgenommen, konnte aber die halbjährlich anfallenden Zinsen von 12'000 Franken nicht bezahlen. Um den drohenden Konkurs zu vermeiden, übernahm der Kanton Aargau die mittlerweile auf 550'000 Franken aufgelaufene Schuld, während die Gemeinde im Gegenzug Wald, Kulturland und öffentliche Gebäude verpfänden musste. Mellingen kaufte seinen Waldbesitz nie zurück, sodass der gesamte Waldbestand bis heute im Besitz des Kantons ist. Andere Gemeinden rodeten beträchtliche Teile ihrer Wälder, um mit dem Holzverkauf ihre Schulden zu begleichen. Überliefert ist eine Aussage des Posthalters Suter aus Kölliken: «Mit jedem Pfiff der Natzibahn-Loki fällt in unserem Wald eine Tanne um.»
Zusätzliche Lasten mussten die vier Garantiestädte tragen, da sie auch für die Obligationen belangt wurden. Von den ursprünglich 9 Millionen Franken verblieben nach Abzug von 3,5 Millionen, die Winterthur als Teil seiner Garantie übernommen hatte, und nach Abzug einer kleinen Konkursdividende noch 5,03 Millionen ungedeckt. Baden, Lenzburg und Zofingen weigerten sich, die fälligen Zinsen zu bezahlen: Gemäss Aargauer Konkursrecht durften die Zinszahlungen während eines laufenden Verfahrens eingestellt werden, während dies gemäss Zürcher Konkursrecht nicht möglich war. Winterthur war deshalb gezwungen, die Zinsen auch für die Mitgaranten auszurichten und strengte 1881, nach Beendigung des Liquidationsverfahrens, eine Betreibung der drei Aargauer Städte für diese Zinszahlungen an. Diese machten den Vorschlag, zur Schuldentilgung verzinsbare Obligationen in der Höhe von 3,32 Millionen Franken auszugeben (wobei Winterthur die aufgelaufenen Schuldzinsen verrechnet werden sollten). Zusätzlich hätte der Kanton Aargau einen jährlichen Amortisationsbeitrag von 25'000 Franken leisten sollen. Der Vorschlag scheiterte 1882 am Widerstand der Gläubiger.Mehrere private Gläubiger, die sich in ihren Interessen benachteiligt fühlten, forderten ultimativ den Konkurs der Stadt Winterthur und die Versteigerung städtischer Vermögenswerte. Am 20. Januar 1883 ersuchte der Zürcher Regierungsrat den Bundesrat um Hilfe, der daraufhin eine Expertenkommission einberief. Sie setzte sich aus dem Nationalrat Josef Zemp sowie den Ständeräten Alphonse Bory und Alfred Scheurer zusammen. Während diese nach einer Lösung suchten, drohte die Situation zu eskalieren. Der Winterthurer Stadtrat warnte im August einen Betreibungsbeamten aus Zürich, die Stimmung in der Bevölkerung sei derart angespannt, dass man seine persönliche Sicherheit nicht garantieren könne, sollte er Pfänder wegführen lassen. Am 2. Oktober 1883 verabschiedete eine von 2000 Personen besuchte Gemeindeversammlung eine Resolution: Weitere Zahlungen für die Garantieschuld wurden bis zu einem allfälligen Entscheid der Bundesversammlung verweigert, und der Bundesrat wurde aufgefordert, Druck auf die Gläubiger auszuüben.Die Expertenkommission veröffentlichte ihren Bericht am 15. Oktober 1883 und bezifferte die Gesamtschuld auf 6'058'800 Franken (ungedeckte Obligationen, Winterthurer Regressforderungen und nicht eingelöste Coupons). Darauf basierend bewilligte die Bundesversammlung am 21. Dezember einen Betrag von 2,4 Millionen Franken, wovon die Kantone Aargau und Zürich 1,6 Millionen bzw. 800'000 Franken erhielten. Dieses Geld floss in Form langfristiger Darlehen an die vier Garantiestädte, um beim Abtragen des Schuldenbergs zu helfen. Winterthur wiederum verzichtete auf die Regressforderungen in der Höhe von 560'703 Franken gegenüber den aargauischen Städten. Den Rest mussten die Städte mittels Verpfändung von Sachwerten und Steuererhöhungen selbst aufbringen. Nachdem sich die Städte nicht über ihren Anteil einig werden konnten, legte der Bundesrat eine verbindliche Aufteilung fest (ein Drittel Winterthur, zwei Drittel die aargauischen Städte).
== Langfristige Folgen ==
In den 1870er Jahren erlebte die Schweiz eine zweite Blütezeit des Eisenbahnbaus, während der sich das Streckennetz um mehr als 1000 km ausdehnte. Die Hochkonjunktur während und nach dem Deutsch-Französischen Krieg führte dazu, dass auf dem Kapitalmarkt grosse Summen für Eisenbahnprojekte verfügbar waren. Als sich die Nationalbahn zu etablieren versuchte, setzten sich die privaten Bahngesellschaften zur Wehr, indem sie zahlreiche Verpflichtungen zum Bau von Strecken eingingen. Dabei schien es mitunter sogar vorteilhafter zu sein, aus strategischen Überlegungen Strecken mit ungenügender Rentabilität zu bauen, als das Risiko einer Konkurrenz einzugehen. Die durch den Gründerkrach von 1873 ausgelöste Grosse Depression begann sich in der Schweiz ab 1875 auszuwirken. Das Verkehrsaufkommen und die damit verbundenen Einnahmen gingen markant zurück. Wegen des forcierten Ausbaus ihrer Streckennetze hatten die privaten Bahngesellschaften viel Fremdkapital aufgenommen und mussten auf dem nun ausgetrockneten Kapitalmarkt hohe Zinsen in Kauf nehmen; zusätzlich sanken die Aktienkurse innerhalb von vier Jahren teilweise um mehr als 90 Prozent. Abgesehen von der Gotthardbahn, die mit namhaften staatlichen Beiträgen des Deutschen Reichs und Italiens finanziert worden war, wurden in den 1880er Jahren lediglich 42 km Bahnstrecken eröffnet.Zwar konnte die Nordostbahn die untergegangene Nationalbahn zu einem Schnäppchenpreis erwerben, doch war ihre finanzielle Situation durch den ruinösen Konkurrenzkampf äusserst angespannt. Die NOB ersuchte im März 1877 den Bundesrat, sie von den eingegangenen Bauverpflichtungen zu entbinden (die Konzessionen waren an verbindliche Vollendungstermine geknüpft). Im Februar 1878 bestätigte die Bundesversammlung eine Vereinbarung, wonach die Bauverpflichtungen zwar bestehen blieben, aber bis zur Sanierung der NOB sistiert werden konnten. Erst 1887 vermochte die NOB wieder eine bescheidene Dividende auszurichten, die früheren Renditen blieben unerreicht. Der Streckenbau ruhte über ein Jahrzehnt lang, und erst ab 1892 wurden die «Moratoriumslinien» dem Betrieb übergeben. Die schwere Krise der Bahngesellschaften führte dazu, dass die Anhänger der Verstaatlichung immer mehr an Einfluss gewannen. Karl Bürkli rechnete aus, dass die durch die Sanierungen verursachten Verluste für die Schweizer Wirtschaft pro Kopf die Reparationsleistungen Frankreichs an das Deutsche Reich weit übertrafen. Die Teilverstaatlichung der ebenfalls angeschlagenen Centralbahn scheiterte 1891 in einem fakultativen Referendum. Erfolgreich verlief hingegen 1898 eine weitere Volksabstimmung, die den Rückkauf der grössten Bahngesellschaften ermöglichte. Die Gründung der staatlichen Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) erfolgte 1902, womit nach fast vier Jahrzehnten eines der Hauptanliegen der Demokratischen Partei in anderer Form erfüllt war. Die SBB legten die Bülach-Baden-Bahn, die von der NOB als Konkurrenzstrecke zur Nationalbahn erbaut worden war und auch nach deren Konkurs nie einem echten Bedürfnis entsprach, bereits im Jahr 1937 still.Ein Jahr vor der SBB-Gründung versuchten Aargauer Politiker unter der Führung von Nationalrat Rudolf Suter-Geiser einen Erlass der Restschuld auf den Darlehen zu erwirken. Der Bund lehnte die Forderung ab, war aber schliesslich bereit, den Zinssatz zu senken. Somit blieb den Garantiestädten nichts anders übrig, als weiterhin Jahr für Jahr die Nationalbahnschulden abzustottern. Baden, Lenzburg und Zofingen zahlten 1935 die letzte Rate des Bundesdarlehens zurück. Zofingen hatte 1883 ein weiteres Darlehen von einer Million Franken aufgenommen; die letzten Obligationen wurden am 2. Februar 1943 feierlich und unter notarieller Aufsicht im städtischen Gaswerk verbrannt. Winterthur zahlte ebenfalls 1935 die letzte Tranche des Bundesdarlehens zurück. Hinzu kam noch eine Hypothekaranleihe von 11,55 Millionen Franken, die 1880 aufgenommen worden war. Dafür war der gesamte städtische Grundbesitz verpfändet worden. Der Tilgungsplan sah eine Rückerstattung bis 1960 vor. Trotz der Belastungen der beiden Weltkriege gelang es der Stadt, die letzte Rate bereits acht Jahre früher zu begleichen.
== Nicht verwirklichte Projekte ==
=== Dritte Sektion Zofingen–Lyss ===
Ein im Mai 1870 gegründetes Komitee plante den Bau der Gäubahn von Olten über Oensingen nach Solothurn. Dazu sollte eine 1852 erteilte, aber bisher ungenutzte Konzession reaktiviert werden. Der Kanton Bern erneuerte die Konzession im November 1872 – mit der Absicht, die Gäubahn mittels einer eigenständigen Gesellschaft zu betreiben, die mit der späteren Nationalbahn kooperieren würde. Züge der Nationalbahn sollten von Solothurn aus weiter über Lyss, Kerzers und Payerne bis nach Vevey verkehren. Das Gäubahn-Komitee durchkreuzte die Pläne der Berner Kantonsregierung und trat die Konzession am 16. Februar 1873 an die Schweizerische Centralbahn ab.Der Nationalbahn war der optimale Weg in den Westen nun versperrt. Versammlungen in Utzenstorf und Langenthal beschlossen die Planung einer neuen Streckenführung. Eine 62 km lange Strecke sollte von Zofingen über Vordemwald, Langenthal, Herzogenbuchsee, Utzenstorf und das Limpachertal nach Lyss führen, wofür Kosten von 2,5 Millionen Franken veranschlagt wurden. Es bildete sich ein 14-köpfiges «Initiativcomite der schweiz. Nationalbahn, Sektion Zofingen–Lyss», dem unter anderem die Nationalräte Albert Friedrich Born, Johann Bützberger und Jakob Stämpfli angehörten. Dieses wandte sich am 15. August 1873 mit der Bitte um Zeichnung von Gründungsaktien an interessierte Gemeinden.Langenthal knüpfte seine Finanzierungszusage an die Bedingung, dass die Nationalbahnstrecke nicht den bestehenden Bahnhof der Centralbahn berühren dürfe, sondern südlich des Stadtzentrums ein eigener Bahnhof errichtet werden müsse. Zwei von der Kantonsregierung beauftragte Ingenieure kamen im Juli 1874 in einem Expertenbericht zum Schluss, dass ein zweiter Bahnhof mit etlichen Nachteilen verbunden wäre. So sei es beispielsweise nur mit unverhältnismässigem Aufwand möglich, diesen an weitere geplante Strecken wie der Langenthal-Wauwil-Bahn oder der Jura-Gotthard-Bahn anzubinden. Der Grosse Rat des Kantons Bern genehmigte am 3. Dezember 1874 einen vom Initiativkomitee beantragten Subventionsbeitrag von 2 Millionen Franken. Die darauf folgende kantonale Volksabstimmung am 28. Februar 1875 fiel mit 60,7 % der Stimmen ebenfalls positiv aus.Auf Antrag der Kantonsregierung hatte die Bundesversammlung bereits am 22. September 1873 dem Initiativkomitee die Konzession für die Strecke Zofingen–Herzogenbuchsee–Lyss erteilt. Da die Vorbereitungen nur schleppend vorankamen und der Baubeginn aufgrund der schlechter werdenden Wirtschaftslage sich laufend verzögerte, genehmigte die Bundesversammlung dreimal eine Fristverlängerung um je ein Jahr. Zu einer vierten Fristverlängerung im Jahr 1877 kam es nicht mehr. Der Geschäftsbericht des Bundesrates bemerkte dazu, dass die Konzession «wegen Unterlassung des Finanzausweises und Arbeitsbeginnes erloschen» sei. Nach der Zwangsliquidation der Nationalbahn im Februar 1878 war der Bau der dritten Sektion illusorisch geworden.
=== Zweigstrecke ins Zürcher Stadtzentrum ===
In der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts war die These weit verbreitet, dass die Nationalbahn bewusst Zürich umfahren wollte, um der mächtigen Kantonshauptstadt wirtschaftlich zu schaden. Tatsächlich bestanden von Anfang an Pläne zum Bau einer Zweigstrecke ins Zürcher Stadtzentrum, die angesichts der Auseinandersetzungen mit der Konkurrenz kaum Beachtung in der Öffentlichkeit fanden. Am 20. August 1872 erteilte der Kantonsrat der Bahngesellschaft Winterthur–Singen–Kreuzlingen die Konzession zum Bau und Betrieb einer Strecke Kloten–Zürich, die das Stadtzentrum mit einem Tunnel unter dem Zürichberg erreicht hätte und deren Endbahnhof entweder im Bereich des heutigen Sechseläutenplatzes oder im damals noch eigenständigen Vorort Riesbach liegen würde – in beiden Fällen bedeutend näher beim Stadtzentrum als der Bahnhof der Nordostbahn. Obwohl die Bundesversammlung die Konzession 1873 und 1874 um je ein Jahr verlängerte, geschah nichts Konkretes. Die Nationalbahn machte dafür starken Widerstand der Stadtbehörden und der Nordostbahn verantwortlich.Die NOB gewährte ausschliesslich den Vereinigten Schweizerbahnen ein Mitbenutzungsrecht an ihrer Strecke nach Zürich hinein, während sie die SNB weiterhin kategorisch ausschloss. Im Januar 1876 beschloss die SNB-Generalversammlung die Planung einer eigenen Zufahrtsstrecke. Die Bundesversammlung erteilte am 4. Juli 1876 eine auf drei Jahre befristete Konzession für eine 4,5 km lange Strecke von Seebach über Unterstrass zum Hirschengraben. Dort war unterhalb des Polytechnikums und in unmittelbarer Zentrumsnähe ein Kopfbahnhof vorgesehen, der wegen der beengten Platzverhältnisse auf zwei Ebenen ausgeführt werden sollte. SNB-Vertreter unternahmen sogar eine Studienreise nach England, um ähnliche Anlagen zu erkunden.Das auf 2,5 Millionen Franken veranschlagte Projekt hätte die in Finanznöten steckende SNB überfordert, weshalb ein «Komitee der Konzessionsinhaber für eine Eisenbahn Seebach–Zürich» eine scheinbar eigenständige Aktiengesellschaft zur Beschaffung des Anlagekapitals gründete. Die SNB sollte die Zweigstrecke gegen einen jährlichen Pachtzins von 5 Prozent betreiben. Allerdings waren die Verflechtungen derart eng, dass kaum von zwei unterschiedlichen Unternehmen gesprochen werden konnte. Die Bemühungen bei der Kapitalbeschaffung waren weitgehend erfolglos. Gründe dafür waren anhaltender politischer Druck der etablierten Bahngesellschaften und der mit ihnen verbündeten Kreditinstitute, die zunehmend schlechter werdende Wirtschaftslage in Europa und insbesondere die weiterhin ablehnende Haltung der Stadt Zürich. 1877 beschloss das SNB-Direktorium, zunächst nur den Abschnitt bis Unterstrass mit einem Bahnhof unmittelbar an der (damaligen) Stadtgrenze Zürichs zu errichten. Angesichts der sich überstürzenden Ereignisse rund um die Zwangsliquidation kam es nicht mehr dazu.
== Fahrzeuge ==
Obschon die SNB in wirtschaftlicher Hinsicht ein Fiasko war, so setzte sie im Bereich des Rollmaterials neue Massstäbe und besass die damals modernsten Fahrzeuge aller Schweizer Bahngesellschaften. Sie erhielt zwischen 1874 und 1877 insgesamt 18 Dampflokomotiven der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM) in Winterthur, die zu drei Baureihen gehörten. Die SNB besass keine eigene Bahnwerkstätte, weshalb die SLM alle grösseren Unterhaltsarbeiten, Reparaturen und Nachrüstungen in ihrem Werk selbst ausführte.Zur Serie «A» (gemäss den nachträglich eingeführten einheitlichen Schweizer Bauartbezeichnungen als SNB Eb 3/4 bezeichnet) gehörten zwölf Schnellzug-Tenderlokomotiven mit einer Länge von 10,59 m, einem Dienstgewicht von 43,5 t und einer Höchstgeschwindigkeit von 75 km/h. Sie waren die ersten, die in der Schweiz als «Mogul»-Typ mit der Achsfolge 1’C konstruiert wurden, also mit einer Laufachse und drei Treibachsen. Unter dem Druck der Konkurrenz zweifelte das Eisenbahndepartement die Sicherheit an, woraufhin die SLM bei den Laufachsen radial verschiebbare Achsbüchsen montierte.Die Serie «B» (SNB Ed 3/4) umfasste vier Tenderlokomotiven für den Güterverkehr. Sie waren praktisch baugleich mit der Serie «A», hatten aber kleinere Treibräder (1300 statt 1600 mm Durchmesser) und eine reduzierte Höchstgeschwindigkeit von 55 km/h. Serie «C» (SNB Ed /3/3) bestand aus zwei leistungsfähigen Tenderlokomotiven für den Mischverkehr, ein Nachfolgemodell der im Jahr 1870 von Krauss an die Vereinigten Schweizerbahnen (VSB) ausgelieferten TB E 3/3. Für das SLM-Modell konstruierte Charles Brown eine neuartige Steuerung: Die Kulisse für die Umsteuerung von vor- auf rückwärts und die Dampffüllung der Zylinder befanden sich direkt unter dem Führerhaus.Nach dem Konkurs übernahm die Nordostbahn alle zwölf Lokomotiven der Serie «A» und nutzte sie bis 1901 weiter. Die sechs übrigen Lokomotiven der Serien «B» und «C» gelangten – teilweise über Zwischenhändler – nach Frankreich. Die 1902 gegründeten Schweizerischen Bundesbahnen übernahmen keine der ehemaligen SNB-Lokomotiven. Eine Lokomotive der Serie «C», die 1881 von der Emmentalbahn nachbestellt worden war, stand bis 1933 im Einsatz. Sie blieb erhalten und wurde 1960 dem Verkehrshaus der Schweiz in Luzern geschenkt.Innovativ war die SNB auch im Bereich der Eisenbahnräder. Bisher (und noch weit ins 20. Jahrhundert) wurden Wagen eingesetzt, deren Räder aus schmiedeeisernen Speichen und Radreifen bestanden. Der nach Ungarn ausgewanderte Schweizer Giesser Abraham Ganz entwickelte in den 1860er Jahren ein Verfahren zur rationellen Herstellung von Eisenbahnrädern aus einem einzigen Schalenguss. In der Schweiz war die SNB die erste Bahngesellschaft, die solche Räder nutzte. Die NOB schikanierte die SNB, indem sie auf ihren Gleisen Wagen mit Schalengussrädern «aus Sicherheitsgründen» verbieten wollte, da die neue Technik noch zu wenig erprobt sei. Das hinderte die NOB jedoch nicht daran, von den VSB und den österreichischen k.k. Staatsbahnen Schalengussräderwagen zu übernehmen und auf dem eigenen Netz einzusetzen.
== Heutige Nutzung ==
Von wenigen Ausnahmen abgesehen bestehen die von der Nationalbahn betriebenen Strecken bis heute.
Die Bahnstrecke Etzwilen–Kreuzlingen Hafen dient hauptsächlich dem Regionalverkehr und wird von der Linie S1 der S-Bahn St. Gallen (Schaffhausen–Romanshorn–St. Gallen–Wil) befahren. Auf dem Abschnitt Konstanz–Kreuzlingen verkehren der InterRegio Konstanz–Weinfelden–Zürich, der RegioExpress St. Gallen–Kreuzlingen Hafen–Konstanz–Kreuzlingen und die Linie S14 (Konstanz–Kreuzlingen–Weinfelden). Das Teilstück zwischen Etzwilen und Stein am Rhein wird zudem von der S29 (Winterthur–Stein am Rhein) der S-Bahn Zürich mitbenutzt. Die Thurbrücke Ossingen ist die bedeutendste in der Schweiz noch erhaltene Gitterträgerbrücke mit eisernen Pfeilern und ist als Kulturgut von nationaler Bedeutung eingestuft.Auf der Bahnstrecke Etzwilen–Singen stellten die SBB den Personenverkehr am 31. Mai 1969 ein. Die Strecke wurde nie elektrifiziert, sondern bis 12. Dezember 2004 von Zügen der rollenden Landstrasse genutzt, die mit Diesellokomotiven bespannt waren. Seit dem 1. August 2007 verkehren die Dampfzüge der Museumsbahn Etzwilen-Singen auf der ehemaligen Nationalbahnstrecke. Das markanteste Bauwerk ist die Rheinbrücke bei Hemishofen. Die Bahnstrecke Winterthur–Etzwilen wird von der Linie S29 der S-Bahn Zürich befahren, der Abschnitt zwischen Winterthur und Seuzach zusätzlich von der Linie S11.Die Bahnstrecke Wettingen–Effretikon wird ebenfalls von Zügen der S-Bahn Zürich befahren. Die Linie S6 (Baden–Zürich HB–Uetikon) nutzt den Abschnitt zwischen Wettingen und Seebach, die Linie S7 (Winterthur–Zürich HB–Meilen–Rapperswil) jenen zwischen Opfikon und Effretikon. Die «Konkurskurve» zwischen Opfikon und Seebach wurde am 26. Mai 1909 wegen Nichtgebrauch ausser Betrieb genommen und abgebaut. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges bauten die SBB diese Verbindung eilends wieder auf und übergaben sie am 15. November 1939 dem Betrieb, damit der West-Ost-Verkehr bei einer allfälligen Zerstörung der Bahnanlagen in Zürich-Oerlikon hätte aufrechterhalten werden können. Güterzüge können Zürich mit der Bahnstrecke Wettingen–Effretikon nördlich umfahren; über eine 1980 erbaute Verbindung zwischen Würenlos und Killwangen-Spreitenbach gelangen die Güterzüge aus der Ostschweiz direkt in den Rangierbahnhof Limmattal. Von 1905 bis 1909 nutzte die Maschinenfabrik Oerlikon das Teilstück Seebach–Wettingen zur Erprobung der elektrischen Zugförderung mit Einphasenwechselstrom.
Auf der Bahnstrecke Zofingen–Wettingen wird der Abschnitt zwischen Lenzburg und Zofingen von der Linie S28 der S-Bahn Aargau befahren. Dieser Streckenteil wird im Volksmund – abgeleitet von Nationalbahn – als «Nazeli» bezeichnet. Der Abschnitt zwischen Lenzburg und der Abzweigung Gruemet bei Mellingen ist in die am 22. Mai 1975 eröffnete Heitersbergstrecke integriert und bildet einen Teil der wichtigsten West-Ost-Eisenbahnverbindung der Schweiz. Der Personenverkehr zwischen der Abzweigung Gruemet und Wettingen wurde am 12. Dezember 2004 eingestellt. Der Güterverkehr nutzt weiterhin diesen Abschnitt zur Bedienung des Tanklagers Mellingen und der Anschlussgleise in Baden.Die Bahnstrecke Aarau–Suhr wurde am 12. Dezember 2004 für den Personen- und Güterverkehr stillgelegt, vier Jahre später begann die Umspurung auf Meterspur. Seit dem 22. November 2010 wird die Strecke von der Wynental- und Suhrentalbahn zwischen Aarau und Menziken befahren. Dadurch konnte ein strassenbahnähnlicher Abschnitt in Aarau und Suhr ersetzt werden.
== Literatur ==
Hans-Peter Bärtschi, Sylvia Bärtschi-Baumann, Peter Güller, Christian Jossi, Bruno Meyer, Peter Niederhäuser, Jörg Thalmann: Die Nationalbahn: Vision einer Volksbahn. Hrsg.: Hans Peter Bärtschi. Profile Publishing, Wetzikon 2009, ISBN 978-3-907659-65-6.
Hans-Peter Bärtschi: Auf den Spuren der Nationalbahn. In: Schweizerischer Verband Eisenbahn-Amateur (Hrsg.): Eisenbahn Amateur. Jg. 63, Nr. 5, 2009, ISSN 0013-2764, S. 230–233.
Peter Strupler: Winterthur und die Eisenbahn zur Zeit der Dampflokomotiven 1848 bis 1968. Birkenhalde Verlag, Winterthur 2008, ISBN 978-3-908050-28-5.
Paul F. Schneeberger: Das Projekt einer normalspurigen Eisenbahn Lyss–Herzogenbuchsee–Langenthal–Zofingen. In: Jahrbuch des Oberaargaus. Band 48. Jahrbuch-Vereinigung Oberaargau, Langenthal 2005, S. 196–214 (unibe.ch [PDF]).
Fritz Ruprecht: Die Geschichte der Schweizerischen Nationalbahn, dokumentiert an bisher teilweise unbekannten Zertifikaten. Hrsg.: HP-Magazin. Nr. 7, 1996, S. 18–21.
== Weblinks ==
Hans-Peter Bärtschi: Schweizerische Nationalbahn (SNB). In: Historisches Lexikon der Schweiz.
Eintrag auf bahndaten.ch
== Einzelnachweise ==
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizerische_Nationalbahn
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Tell el-Maschuta
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= Tell el-Maschuta =
Tell el-Maschuta (arabisch تل المسخوطة Tell el-Maschūta, DMG Tall al-Masḫūṭa) – das altägyptische Per Tem/Pi-Tem – liegt in der Region des Wadi Tumilat im östlichen Nildelta etwa 16 Kilometer westlich von Ismailia sowie etwa 18 Kilometer östlich von Tell er-Retaba entfernt.
Die Nutzung des Ortes unterlag ständigen Wandlungen. Ursprünglich im 16. Jahrhundert v. Chr. als etwa zwei bis drei Hektar große Siedlung gegründet, war Tell el-Maschuta ab Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. als Handelsort und Kultstätte der Gottheit Atum (Tem) eine Neugründung, mit der unter dem altägyptischen Pharao Necho II. die Namensgebung Per Tem (Atum) in Tjeku verbunden war. Herodot erwähnte im Zusammenhang des von Necho II. begonnenen Kanalausbaues die in dieser Region gelegene „arabische Stadt Patumos“. Im Hellenismus trug Per Tem wahrscheinlich den Namen Heroonpolis; dies ist allerdings nicht gesichert. Die aus römischer Zeit stammende Bezeichnung Ero ist die Kurzform von Heroonpolis.
Frühere Ergebnisse der archäologischen Forschungen ließen zunächst die Vermutung aufkommen, dass es sich bei Tell el-Maschuta um das biblische Pitom handele. So wurde beispielsweise auf der geborgenen Statue des Anch-chered-nefer ebenfalls Per Tem erwähnt, woraus zahlreiche Historiker eine Verbindung zum Kult der Gottheit Atum in Heliopolis, dem biblischen On, schlossen. Der aus ptolemäischer Zeit stammenden Pitom-Stele ist zu entnehmen, dass noch einige Jahrhunderte nach Necho II. die alte Bezeichnung Per Tem als Ortsbezeichnung für Tell el-Maschuta in Gebrauch war.Mit Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. änderte sich erneut die Funktion von Tell el-Maschuta, das nun als römischer Friedhof diente. Seit Anfang des 5. Jahrhunderts n. Chr. ist Tell el-Maschuta nur noch ein Ruinenhügel. Ab 1977 wurde er mehrmals bei Grabungskampagnen archäologisch untersucht.
== Etymologie und Forschungsgeschichte ==
In früheren Zeiten hieß der Ort Ahou Kachah oder Abou Keycheyd. Dort wurde
ein Monolith gefunden, auf dem Ramses II. zwischen zwei Sonnengottheiten abgebildet ist. Die Archäologen vermuteten deshalb am Fundort eine altägyptische Stadt mit dem versandeten Monolithen als typisches Erkennungsmerkmal.Archäologische Teams identifizierten den Ort aufgrund des Ramses-Monolithen als Pi-Ramesse, den „Ort der Israeliten während ihrer Unterdrückung“. Die vermeintliche Entdeckung veranlasste um 1860 zahlreiche Archäologen zur Intensivierung der Forschungen und Ausgrabungen in „Pi-Ramesse“. Weitere Untersuchungen führten jedoch zu dem Ergebnis, dass es sich nicht um Pi-Ramesse handelte.Etwa zeitgleich wurden die Arbeiten am Bubastis-Kanal beendet. Nach dem Abzug der Arbeiter und Archäologen erlahmte zunächst das Interesse am Hügel des Denkmals, für den auch die moderne Übersetzung Hügel der Verdammten/Helden verwendet wird.
1883 unternahm Édouard Naville im Auftrag der Egypt Exploration Society eine erneute Kampagne in dieser Region und entdeckte die Ruinen von Tell el-Maschuta. Er untersuchte die vorhandenen Denkmäler, Statuen, Inschriften und Gebäudereste und fertigte einen Grundriss des antiken Tell el-Maschuta. Die zahlreichen Keramikscherben und andere Kleinstfunde in den Straten (horizontalen Grabungsschichten) begutachtete Naville jedoch nicht. In seinem Abschlussbericht kam er zu dem Ergebnis, dass es sich um das biblische Pithom handeln müsse, da sich unter den ausgegrabenen Gegenständen auch mehrere Denkmäler aus der Zeit von Ramses II. befanden.Der französische Ägyptologe Jean Cledat führte zwischen 1900 und 1910 weitere Untersuchungen in der Region des Wadi Tumilat durch und konnte zusätzliche Funde bergen. John S. Holladay veranlasste mit seinem Team im Rahmen des von der kanadischen University of Toronto ins Leben gerufenen Wadi-Tumilat-Projektes umfangreiche Ausgrabungen. Von 1978 bis 1985 fanden fünf Grabungskampagnen statt. Die von der ägyptischen Altertümerverwaltung beauftragten Forschungen brachten in jüngerer Zeit weitere Aufschlüsse über Tell el-Maschuta.
== Archäologische Studien ==
=== Erste Besiedlungsphase ===
Die Ausgrabungen belegen, dass Tell el-Maschuta im 16. Jahrhundert v. Chr. am Ende der Zweiten Zwischenzeit (1600 bis 1550 v. Chr.) von den Hyksos (Einwanderern aus Vorderasien) gegründet wurde. Der damalige Ortsname konnte bislang nicht ermittelt werden. Die kleine Ortschaft hatte den Charakter eines Außenpostens, da keine speziellen Befestigungsanlagen vorhanden waren. Charakteristisch ist die in dieser Zeit verwendete Form von geschwungenen Stadtmauern. Während der Aufbauphase von Tell el-Maschuta ist eine kontinuierliche Zunahme von Bestattungen und die Errichtung von oberirdischen Rundsilos zu erkennen. Die Gräber wiesen markante Unterschiede hinsichtlich des Standes der beerdigten Personen auf. Kriegerbestattungen enthielten die für diese Zeit typischen Waffenbeigaben asiatischen Stils wie beispielsweise Dolche und meißelförmige Äxte. Die übrigen Lehmziegelgräber enthielten zahlreiche wertvolle Grabbeigaben wie Stirnbänder aus Gold oder Silber sowie silberverzierte Armbänder, Ohr- und Haarringe, goldene und silberne Skarabäen, Werkzeuge und Halbedelsteine, dazu Amulette und Speisen. Kindergräber und Bestattungen in den stillgelegten Rundsilos enthielten dagegen nur vereinzelt Grabbeigaben.
Aufgrund der paläobotanischen Fundauswertungen zog das Archäologenteam des Wadi-Tumilat-Projektes den Schluss, dass Tell el-Maschuta zwar alle Kriterien einer urbanen Siedlung erfüllte, jedoch nur saisonal vom Beginn der Aussaat im Herbst bis zum Ende der Sommerweizenernte im Frühjahr bewohnt war. Tell el-Maschuta hatte aufgrund dieser Merkmale den Charakter einer Karawanenstation, die für den Fernhandel eingerichtet war. Während der heißen Sommermonate blieb Tell el-Maschuta unbewohnt. Die Einwohner siedelten in dieser Zeit vermutlich in der Nähe von Tell er-Retaba, wo in der Mittleren Bronzezeit Wohnlager existierten. Die für den Bau von Tell el-Maschuta verwendeten Materialien weisen Parallelen zu den Funden in den Straten E1 bis D3 von Auaris auf. Wohnhäuser wurden in immer engeren Abständen zueinander gebaut. Der Umfang der Landwirtschaft, vornehmlich Weizen- und Gersteanbau zur Versorgung der Bewohner nahm stark zu. Daneben wurden Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine gehalten. Auch die Pferdezucht war schon bekannt. Weitere Aktivitäten der Bewohner bestanden in der Jagd auf verschiedene Vogelarten, Kuhantilopen und Gazellen.Die in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeiter wurden zusätzlich für andere Tätigkeiten herangezogen, beispielsweise im Handwerk mit der Töpferei und zur Herstellung von Bronzewerkzeugen. Daneben wurden Webstühle benutzt, Kleidung hergestellt und Sicheln mit vorgefertigten Klingen verwendet. Der genaue Verwendungszweck der bei den Grabungen gefundenen Hochtemperaturöfen ist unklar. In einem industrieähnlichen Verfahren waren ockerfarbene Pfähle in den Boden getrieben worden. Möglicherweise wurden die Öfen für die Herstellung von Leder mit Metallbeschlägen sowie Ambossen oder Schleifgeräten benötigt. Die abschließende Untersuchung der gefundenen Keramik ergab, dass nach Vertreibung der Hyksos durch Kamose und Ahmose I. die Siedlung verfiel und mindestens für den Zeitraum vom Neuen Reich bis zum Ende der Dritten Zwischenzeit (1550 bis 652 v. Chr.) unbewohnt blieb.
=== Zweite Besiedlungsphase ===
==== Saiten-Dynastie ab Necho II. (610–525 v. Chr.) ====
Tell el-Maschuta wurde erst wieder im ausgehenden 7. Jahrhundert v. Chr. unweit von Tell er-Retaba neu gegründet. In dieser Zeit ließ Necho II. zwischen 610 und 605 v. Chr. den Bubastis-Kanal anlegen, um den pelusischen Nilarm mit dem Roten Meer zu verbinden. Der neue Kanal führte durch das Wadi Tumilat und Ägypten versprach sich von ihm strategische und landwirtschaftliche Vorteile.
Der dabei neu angelegte Ort Tell el-Maschuta diente zunächst als Lager für die am Kanalausbau beschäftigten Arbeiter. Kurze Zeit später wurden dort Apis-Stiere geopfert und Einrichtungen für den späteren Tempel Haus des Atum gebaut. Nördlich des Tempels wurden Häuser, Scheunen und Backöfen errichtet. Inmitten dieser Aufbauphase sind plötzliche Veränderungen erkennbar, die wahrscheinlich auf Nechos’ Karkemisch-Niederlage 605 v. Chr. und den Verlust seiner Hoheitsgebiete in Retjenu zurückzuführen sind. Um Tell el-Maschuta wurde kurz danach eine etwa neun Meter breite Befestigungsmauer errichtet, die eine Fläche von 200 m × 200 m umschloss. Die Besiedlung kam dennoch ins Stocken, da die geschützte Fläche während der saitischen Dynastie nicht zum weiteren Bau von Häusern genutzt wurde.Das Gemeinwesen auf einer vier Hektar großen Fläche wurde 601 v. Chr. und 15 Jahre später das zweite Mal zerstört. Zuvor war der Versuch des ägyptischen Pharaos Apries im Verbund mit Zedekia gescheitert, die Einnahme Jerusalems durch Nebukadnezar II. zu verhindern. Die Verwüstungen können somit dem babylonischen König zugeschrieben werden. In Tell el-Maschuta wurden zwei jüdische Keramikstücke aus dem Jahr 568 v. Chr. gefunden, die eine Anwesenheit von jüdischen Flüchtlingen um 582 v. Chr. in Tell el-Maschuta bezeugen. Größere Mengen ähnlicher Keramikware tauchten in Tahpanhes, das etwa 22 km entfernt von der Mündung des pelusischen Nilarms liegt, und an einem Ort im westlichen Sinaigebiet, der vorläufig als Migdol identifiziert wurde, auf.
Nach den Zerstörungen und dem Wiederaufbau entwickelte sich Tell el-Maschuta während der Saiten-Dynastie unter den Pharaonen Apries, Amasis und Psammetich III. zu einem stark frequentierten Handelsort. Der Grund dafür dürften die zentrale Lage zwischen dem Mittel- und dem Roten Meer sowie die Handelsverbindung zum Indischen Ozean gewesen sein, zumal Tell-el Maschuta auch etwa auf halber Wegstrecke zwischen Sues und Bubastis lag. Die archäologisch nachgewiesene großen Mengen phönizischer Handelsware decken sich mit der Angabe von Herodot, dass in der Regierungszeit von Apries zahlreiche Phönizier in einem „phönizischen Lager bei Memphis“ siedelten:
Der phönizische Handel, der durch die Nutzung des Bubastis-Kanals immer größere Ausmaße annahm, ist durch zahlreiche Funde von phönizischen Amphoren in Tell el-Maschuta belegt. Die Amphoren dienten als Vorratsbehältnisse für die Handelsware. Als weiterer Beleg gilt eine in den Ruinen eines Kalkstein-Schreins geborgene Terrakotta-Statue, die als sitzende Göttin wahrscheinlich Tanit oder Aschera verkörpert. In geringerer Anzahl waren griechische Amphoren vertreten, zumeist aus Thasos oder Chios. Daneben fanden sich auch importierte dickwandige Mörser sowie die dazugehörenden Stößel, die wahrscheinlich anatolischen Ursprungs sind.
==== Erste persische Dynastie ab Kambyses (525–404 v. Chr.) ====
Mit der Eroberung Ägyptens 525 v. Chr. durch Kambyses II. ging bei der Schlacht bei Pelusion eine erneute Zerstörung von Tell el-Maschuta einher. In der Folgezeit sind die Aufbauarbeiten des Ortes gut bezeugt. Der schon während der Saiten-Dynastie erweiterte Siedlungsraum wurde während der persischen Zeit mit einer Ausweitung im südwestlichen Bereich für Neubauten genutzt. Im nördlichen Teil von Tell el-Maschuta wurde ein Bereich freigelegt, der in der persischen Zeit vom Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. bis etwa 404 v. Chr. am Bubastis-Kanal als Nekropole südlich des Tempelbezirkes diente.Darius I. erweiterte nach seinem Herrschaftsantritt den Bubastis-Kanal auf eine Gesamtlänge von 84 Kilometer. Auf vier großen Stelen, von denen sich die erste in Tell el-Maschuta befand, ließ Darius I. in den Sprachen Ägyptisch, Altpersisch, Elamisch und Akkadisch seine Leistungen niederschreiben. Im Zuge der 487 v. Chr. begonnenen ägyptischen Rebellion gegen die Perser wurde außerhalb der Stadtmauer von Tell el-Maschuta ein weiterer Steinwall angelegt, der mit Schutt, Keramik und anderen Materialien gefüllt war. Der archäologische Befund belegt die mit der Rebellion verbundenen Kämpfe um Tell el-Maschuta. In der Folgezeit wurden im gesamten Ortsbereich erneut Lagerhäuser errichtet. Nachdem 404 v. Chr. die Perser aus Ägypten vertrieben worden waren, waren die Straten bis etwa 379 v. Chr. unbewohnt.
==== Die letzte eigenständige altägyptische Dynastie (379–341 v. Chr.) ====
Bruchstücke von Denkmälern der 30. Dynastie bezeugen das gewaltige Bauprogramm der Pharaonen Nektanebos I. und Nektanebos II., die ergänzend durch Förderung der altägyptischen Religion eine kurzfristige „Renaissance“ auch für Tell el-Maschuta bewirkten. Mit der wiedereinsetzenden Besiedlung stieg der Handel und die Einfuhr von Waren während der 30. Dynastie sprunghaft an, obwohl der Bubastis-Kanal langsam versandete.Der durch die Phönizier wiederbelebte Handel konzentrierte sich hauptsächlich auf Wein, Olivenöl, Fischsoßen und andere haltbare Nahrungsmittel. Auch weiter entfernte Regionen wie Thasos sowie Chios und Anatolien beteiligten sich am Güteraustausch ebenso wie insbesondere Arabien und Athen. Der Tempelkult des ägyptischen Gottes Atum erlebte eine erneute Blütezeit, wie die angefertigten quaderförmigen Altäre mit südarabischem Einfluss beweisen. Die vorhandenen Tinteninschriften auf Glasbruchstücken waren zumeist in demotischer Schrift verfasst. Im Rahmen der Opferhandlungen für den Atum-Tempel ist die Verwendung von Weihrauch belegt, der ebenfalls aus dem südlichen Arabien importiert wurde.Besonderes Aufsehen verursachte die zufällige Entdeckung eines Lagers, in welchem sich Tausende von Athener Tetradrachmen befanden. Die außergewöhnlich hohe Summe verweist auf Zuwendungen als Geschenkgaben an den Atum-Tempel. Ergänzend wurden vier Schalen entdeckt, deren Stil und Ausführung einen persischen Ursprung nahelegen und wohl über das südliche Arabien nach Tell el-Maschuta gelangten. Alle vier Schalen trugen ähnliche Inschriften, wobei auf einer der Schalen der aramäische Eintrag „Das, was Qaynu, Sohn des Gaschmu, König von Qedar, für Han-’Ilat darbrachte“ zu lesen ist. Möglicherweise ist dieser Gaschmu. identisch mit der gleichnamigen Figur im Buch Nehemia des Alten Testaments. Die Inschriften auf den Schalen und zusätzlich gefundene Silbermünzen, die auf ihrer Rückseite die Eule der Athene zeigen, werden auf den Übergang vom fünften zum 4. Jahrhundert v. Chr. datiert. Das Ende der 31. Dynastie, die durch Alexanders Ägypteneroberung abgelöst wurde, bewirkte eine Abwanderung der Einwohner von Tell el-Maschuta, der ein Zeitraum ohne Besiedlung bis etwa 285 v. Chr. folgte.
==== Neuaufbau des Atum-Tempels und Bau von Handelshäusern (285 v. Chr. bis 1. Jahrhundert v. Chr.) ====
Pharao Ptolemaios II. (285 bis 246 v. Chr.) begann nach Antritt seiner Herrschaft mit der Entsandung und Erneuerung des Bubastis-Kanals, womit ein Modernisierungsprogramm für Tell el-Maschuta verbunden war. Der Ort entwickelte sich durch die umfangreiche Baumaßnahmen im Verlauf erneut zu einer wichtigen Handelsstation. Auf einer Stele, die Ptolemaios II. in Tell el-Maschuta errichtete, ließ der Pharao sein Projekt einschreiben und feiern.Für den Neuaufbau des Atum-Tempels wurden zahlreiche größere Kalksteinblöcke aus anderen Orten Ägyptens nach Tell el-Maschuta transportiert. Ein aus der persischen Periode bereits zerfallenes zweiräumiges Gebäude diente nach Wiederaufbau als Töpferei. Hinzu kamen wahrscheinlich gegen Ende der Regentschaft von Ptolemaios II. bis zu sechsräumige Getreidespeicher beziehungsweise mehrräumige Lagerhäuser an den Ufern des Bubastis-Kanals, an die mehrere Schmelzöfen zur Herstellung von Bronzewaren für den Atum-Tempel und den Export angeschlossen waren.Die von Édouard Naville entdeckten und den „Kindern von Israel“ zugeordneten Handels- und Lagerhäuser stammen wahrscheinlich aus der Anfangszeit des Aufbauprogramms unter Ptolemaios II., da sich nur diese in direkter Nähe zu den Schmelzöfen am Ufer des Bubastis-Kanals befanden. Ptolemaios III. (246 bis 222 v. Chr.) und seine Nachfolger müssen weitere umfangreiche Baumaßnahmen von Handelshäusern und Werkstätten veranlasst haben, da das Wadi-Tumilat-Projekt in seinen Kampagnen nur eine kleine Anzahl der zahlreichen und teilweise bis zu 75 m langen Handelshäuser ausgraben konnte. Die bislang erforschten Handelshäuser konnten auf den Zeitraum zwischen der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. bis etwa 125 v. Chr. datiert werden. Nach dem Ende der Ptolemäer-Herrschaft erfuhr Tell el-Maschuta einen Niedergang, so dass der Ort Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr. seine tragende Funktion als Handelsstation verlor und daher erneut von den Bewohnern verlassen wurde.
=== Tell el-Maschuta als römische Nekropole ===
Nachdem die Bewohner Tell el-Maschuta Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr. verlassen hatten, verfielen die Anlagen. Der Ort blieb bis zum Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. ungenutzt. Als Trajan nach seinem Regierungsantritt den Bubastis-Kanal erneut ausbaute, fungierte die Region von Tell el-Maschuta als römische Nekropole und erfuhr flächenmäßig die größte Ausdehnung seit der Gründung unter den Hyksos. Eine Neubesiedlung fand dagegen nicht statt, da auf den Ruinen des früheren Handelsortes zahlreiche Grabanlagen errichtet wurden. Frühere kleinere Ausgrabungskampagnen hatten den römischen Friedhof teilweise bereits freigelegt, weshalb das Archäologen-Team aus Toronto keine weiteren intensiven Untersuchungen an dieser Stelle durchführte, jedoch die großen Mengen von Keramikfunden in der obersten Strate bestätigen konnte.Der Befund ergab, dass die Nekropole mehrheitlich zumeist für „privilegierte römische Bürger“ aus quadratischen unterirdischen Gräbern angelegt wurde und mit gewölbten Überbauungen versehen war. Diese aus Lehmziegeln errichteten Grabanlagen besaßen ergänzend jeweils einen Zugangsweg oder ummauerten Dromos, der auf östlicher Seite der Gräber das Betreten der Grabräume ermöglichte. Die gewölbten Grabeingänge, die nur einen einfachen Zugangsweg besaßen, wurden nach jeder erfolgten Bestattung zugemauert. Dagegen füllten die Angehörigen des Grabinhabers den mit einem Dromos versehenen Grabgang mit Sand auf. Als Grabbeigaben dienten goldbeschichtete Götterfiguren, Ohrringe, Glasgefäße und aus Knochen gefertigte Haarnadeln. Bereits während der aktiven Nutzung als Nekropole wurden die wertvollen Beigaben in den Gräbern teilweise geplündert.Daneben gab es auch einfache Begräbnisse, die ohne besondere Beigaben von Götterstatuetten in den freien Raum zwischen den Lehmziegel-Gräbern eingebettet waren. Die Mehrzahl der Bestattungen wies die charakteristischen Formen römischen Stils auf, der auch an der symbolischen Ausrichtung der Gräber sichtbar ist. Die Nekropole verfügte zudem über einen Bestattungsbereich für Kinder. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein christliches Kinderbegräbnis. Im oberen Bereich einer aus Gaza stammenden Amphore befand sich eine koptische Inschrift, die mit zwei „Chi-Rho-Symbolen“ als Christusmonogramm versehen war, das seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. die Christen verwendeten, um ihren Glauben darzustellen und um sich untereinander zu erkennen. Diese Bestattungsform war jedoch nur bei sehr wenigen Grabbeigaben festzustellen.Im frühen 4. Jahrhundert n. Chr. wurde Tell el-Maschuta als römische Nekropole aufgegeben, was durch das Fehlen der verzierten Grabbeleuchtungen belegt ist. Um 381 n. Chr. ist die Existenz einer in der Region von Tell el-Maschuta stationierten römischen „Garnison der Helden“ bezeugt, die sich jedoch zu diesem Zeitpunkt aufgrund einer Verlegung im nur etwa zwei Kilometer entfernten Abu Suwerr befand, die ihre militärische Funktion bewahrte und so heute einen Militärflugplatz beherbergt.
== Identifikationen mit dem biblischen Pitom oder Sukkot ==
Seit längerer Zeit werden kontroverse Diskussionen über die Frage geführt, ob Tell el-Maschuta mit dem alttestamentlichen Pitom oder Sukkot zu identifizieren sei. Édouard Naville sah durch seine Ausgrabungsbefunde seine Vermutung bestätigt, dass es die „Kinder Israels“ waren, die in Tell el-Maschuta die „Handelshäuser“ errichteten. Kenneth Anderson Kitchen hält dagegen Tell el-Maschuta für das biblische Sukkot, an welchem die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten lagerten. Kitchen steht nach wie vor zu seiner Hypothese, dass sowohl Tell er-Retaba als auch Tell el-Maschuta im Neuen Reich zeitgleich als Siedlungen nebeneinander existierten, ohne jedoch die Keramikbefunde des Archäologenteams von John S. Holladay zu berücksichtigen. Donald B. Redford schloss sich dagegen Holladays Ergebnissen an und sieht Tell el-Maschuta als das biblische Pitom, das jedoch erst 600 Jahre nach dem Auszug aus Ägypten aufgebaut wurde.Die Hinweise auf Sukkot im Pentateuch (Ex 12,37 , Num 33,5–6 ) bleiben unklar und lassen offen, ob es sich dabei um eine Stadt, ein Dorf, ein Fort oder eine Region handelt. Auch der in Ex 1,11 erwähnte „Bau der Stadt Pitom“ lässt sich nur schwerlich mit der Vergangenheit von Tell el-Maschuta vereinbaren. Vor dem Hintergrund der Ausgrabungen sahen sich deshalb jene Historiker bestärkt, die die Geschichte des Auszugs aus Ägypten als Fiktion bewerteten oder als anachronistischen Zusatzbericht sahen, der erst um das 6. Jahrhundert v. Chr. in die Schriften aufgenommen wurde.
== Literatur ==
Hans Bonnet: Pithom. In: Lexikon der ägyptischen Religionsgeschichte. Nikol, Hamburg 2000, ISBN 3-937872-08-6, S. 596.
William J. Dumbrell: The Tell-el-Maskhuta Bowls and the „Kingdom“ of Qedar in the Persian Period. In: Bulletin of the American Schools of Oriental Research (BASOR). Nr. 203. American Schools of Oriental Research, Baltimore 1971, S. 33–44.
James K. Hoffmeier: Ancient Israel in Sinai. The Evidence for the Authenticity of the Wilderness Tradition. Oxford University Press, New York 2005, ISBN 0-19-515546-7.
John S. Holladay: Pithom. In: Donald B. Redford: The Oxford encyclopedia of ancient Egypt. Band 3: P–Z. Oxford University Press, Oxford 2001, ISBN 0-19-513823-6, S. 50–53.
John S. Holladay: Tell el-Maskhuta. In: Kathryn A. Bard, Steven Blake Shubert: Encyclopedia of the archaeology of ancient Egypt. Routledge, London 1999, ISBN 0-415-18589-0, S. 786–789.
John S. Holladay: Tell el-Maskhuta: Preliminary report on the Wadi Tumilat Project 1978–1979. Undena Publications, Malibu 1982, ISBN 0-89003-084-7.
Édouard Naville: The store-city of Pithom and The route of the Exodus. Trübner, London 1903, online (Erstveröffentlichung 1888).
Eliezer Oren: Migdol: A new fortress on the edge of Eastern Nile Delta. In: Bulletin of the American Schools of Oriental Research (BASOR). Nr. 256. American Schools of Oriental Research, Baltimore 1984, S. 7–44.
Patricia Paice: A preliminary Analysis of some Elements of the Saite and Persian period pottery at Tell el-Maskhuta. In: Bulletin of the Egyptological Seminar (BES). Nr. 8. Seminar, New York 1987, S. 95–107.
John van Seters: The Geography of the Exodus. In: John Andrew Dearman: The land that I will show you: Essays on the History and Archaeology of the Ancient near East in Honour of J. Maxwell Miller. Sheffield Academic Press, Sheffield 2001, ISBN 1-84127-257-4, S. 255–276.
== Weblinks ==
Granit-Statue des Anch-chered-nefer aus Tell el-Maschuta
wibilex: Fachartikel „Pitom“ von Karl Jansen-Winkeln
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tell_el-Maschuta
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The Kraken
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= The Kraken =
The Kraken, deutsch Der Krake, ist ein Gedicht von Alfred Tennyson (1809–1892). Es erschien zuerst 1830 in seinen Poems, Chiefly Lyrical.
Das nur 15 Verse zählende, formal einem Sonett ähnelnde Werk hat ausweislich seines Titels ein Seeungeheuer zum Thema, den sagenumwobenen „Kraken“ des Nordmeeres. Die eigentümliche Wortwahl des Dichters und mehr oder minder explizite intertextuelle Anspielungen auf die Offenbarung des Johannes und Percy Bysshe Shelleys Versdrama Prometheus Unbound weisen jedoch über dieses märchenhaft-folkloristische (also typisch romantische) Sujet hinaus und haben zu vielfältigen Spekulationen über die religiösen oder weltanschaulichen Hintergedanken des Dichters Anlass gegeben.
== Text ==
Im Folgenden der Text des Gedichts in der Fassung letzter Hand (1872) und eine von Werner von Koppenfels besorgte Übertragung ins Deutsche (2000):
Bis auf zwei geringfügige Änderungen ist der Text identisch mit dem des Erstabdrucks von 1830: die altertümliche Schreibweise ‚antient‘ ersetzte Tennyson durch ‚ancient‘, das Wort ‚fins‘ („Flossen“) durch ‚arms‘ („Arme,“ bei Koppenfels „Hände“).
== Form ==
Das Gedicht lässt sich als ein aus den Fugen geratenes Sonett beschreiben; es zählt 15 statt der 14 üblichen Verse und folgt in seinem Verlauf einem zunehmend eigenwilligen Reimschema:
[abab cddc efe aaf e]Auffällig ist vor allem der überzählige Schlussvers, zumal er als einziger kein iambischer Fünfheber, sondern ein Sechsheber ist, genauer gesagt ein Alexandriner. Doch auch wenn man von dieser ungewöhnlichen Zugabe absieht, lässt sich der Aufbau des Gedichts weder mit den Vorgaben des Shakespeare-Sonetts noch des Petrarca-Sonetts vereinbaren. An ersteres lassen zunächst die beiden ersten, noch halbwegs regelkonformen Quartette denken, die zu einer Terzine gefassten Folgeverse dagegen an das italienische Vorbild, wobei jedoch die inhaltliche Zäsur oder Klimax – hier also der Übergang von der Beschreibung der Tiefsee zur Endzeitprophetie – noch nicht wie gewöhnlich nach dem achten, sondern erst nach dem zehnten Vers eintritt.Ein mehr oder minder liederlicher Umgang mit formalen Vorgaben zeichnet mehrere frühe Werke Tennysons aus und brachte ihm 1833 einen Rüffel von keinem Geringeren als Samuel Taylor Coleridge ein, der ihm eine unbefriedigende Note in Metrik ausstellte und ihm empfahl, sich einstweilen auf eine, höchstens zwei der klassischen lyrischen Formen zu beschränken, bis er zumindest diese gemeistert habe. Hinter Tennysons vermeintlichen Handwerksfehlern darf man indes durchaus Vorsatz vermuten, eine vorsichtige Rebellion gegen ebendie Formstrenge, die Coleridge einforderte. So finden sich gerade in den Poems, Chiefly Lyrical von 1830 zwar auch einige vorschriftsgemäß ausgeführte Sonette, doch 50 Jahre später gab Tennyson, nunmehr der berühmteste Dichter des Landes, zu erkennen, was er tatsächlich von dieser Gedichtform hielt: „I hate the perfect sonnet with a perfect hatred“ (zu Deutsch in etwa: „Ich hasse das vollkommene Sonett mit vollkommenem Hass“). Zumindest im Falle von The Kraken lassen sich die Verstöße gegen die dichterische Konvention auch inhaltlich-funktional rechtfertigen, häufen sich doch die Merkwürdigkeiten gerade in den Zeilen, die die Apokalypse zum Gegenstand haben, also den Anbruch eines neuen göttlichen Zeitalters, in dem mutmaßlich auch die Gesetze der Verslehre neu geschrieben werden.Um eine der biblischen Thematik dieser letzten Verse entsprechende Bedeutungsschwere schon von Beginn an zu suggerieren, setzt Tennyson eine Satzfigur mit einer besonders altehrwürdigen Tradition ein: die beiden ersten, fast sinngleichen Verse stellen einen synonymen Parallelismus dar, wie er vor allem aus den poetischen Texten des Alten Testaments (und deren Übersetzung in der King-James-Bibel) bekannt ist. Sie etablieren zudem ein auffälliges syntaktisches Muster. Ortsbestimmungen, also Adverbien oder Präpositionalphrasen (‚From many a wondrous grot‘), gehen den Aussagesätzen zumeist voran und verleihen der geschilderten Szene eine statische Qualität, ganz als würde ein Gemälde beschrieben. Die Monotonie der Unterwasserwelt unterstreichen Assonanzen wie in see / flee / green / seen und light / height / lie / polypi, Tautologien wie His […] sleep / The Kraken sleepeth, und am sinnfälligsten die Wiederholung ausgerechnet des ersten Reimpaars deep / sleep in den Versen 12–13.
== Quellen, Themen und Motive ==
=== Seemannsgarn ===
The Kraken ist trotz seiner Kürze ein ausgesprochen vieldeutiges Werk, in dem mythische, christliche und naturwissenschaftliche Motive und Begrifflichkeiten nebeneinander bestehen. In der deutschen Übersetzung tritt diese grundlegende Ambivalenz schon im Titel zutage, da „Krake“ im Deutschen heute zwei Bedeutungen hat. Der heute dominante Wortsinn „Achtarmiger Tintenfisch, Oktopus“ ist erst seit den Arbeiten des Naturforschers Lorenz Oken (1779–1851) geläufig, im Englischen ist er unbekannt. Hier wird das Wort nur in seiner ursprünglichen Bedeutung gebraucht, nämlich als Bezeichnung eines sagenhaften Seeungeheuers, das im Nordmeer sein Unwesen treiben soll.
Mit Kraken ist bei Tennyson mithin zunächst ausschließlich das Fabelwesen gemeint. In einer knappen Anmerkung zum Gedicht verwies er 1872 auf die Beschreibung, die der norwegische Bischof Erik Pontoppidan der Jüngere (1698–1764) davon lieferte. Pontoppidan zufolge erreicht der Kraken eine Länge von mehr als einer Meile, so dass mancher Kapitän ihn schon für eine Insel gehalten und so verhängnisvollerweise versucht habe, an ihm zu ankern. Taucht er ab, verursacht er gewaltige Meeresstrudel, in denen schon so manches Schiff versunken ist, andere wurden von seinen riesigen Armen umklammert und in die Tiefe gezogen. Pontoppidans Darstellung war Tennyson wohl aus knappen Zusammenfassungen in der Biographie Universelle und der English Encyclopaedia bekannt. Weitere wahrscheinliche Quellen sind die Beschreibungen des Kraken in Thomas Crofton Crokers Fairy Legends and Traditions of the South of Ireland (1825–1827) und in Walter Scotts Roman The Pirate (1821). Isobel Armstrong verweist außerdem auf die Beschreibung einer dem Kraken entsprechenden Seeschlange in Olaus Magnus’ Historia de gentibus septentrionalibus (1555), die Scott in einer Fußnote seiner Minstrelsy of the Scottish Border (1803) zitiert und in der dieses Seeungeheuer wenn nicht mit dem Weltuntergang, so doch mit einer Erschütterung der weltlichen Ordnung in Verbindung gebracht wird, denn sein Erscheinen kündet vom Nahen „eines wunderbaren Wandels im Königreich; nämlich, dass alle Fürsten sterben oder verbannt werden; oder dass furchtbare Kriege toben werden.“Wie Scott, Croker sowie dessen deutsche Übersetzer, die Brüder Grimm, schätzte Tennyson Seemannsgarn, Märchen und andere Sagenstoffe ob ihres ästhetischen Werts als „Volksdichtung“, und wie Scott griff er in seiner Kunstdichtung selbst häufig volkstümliche Sagenstoffe auf; so finden sich etwa in den Poems, Chiefly Lyrical Bearbeitungen der Artussage (The Lady of Shalott) und von Dornröschen (Sleeping Beauty). Thematisch steht The Kraken in diesem Band scheinbar den märchenhaften Gedichten The Sea-Fairies, The Merman und The Mermaid am nächsten, die Meermänner und Meerjungfrauen behandeln. Mit diesen ebenfalls aquatisch lebenden Fabelwesen hat Tennysons träger und bewusstlos vor sich hin dämmernder Krake letztlich aber ebenso wenig gemein wie mit dem bei Pontoppidan oder auch Scott beschriebenen Seeungeheuer. Zwar stimmen die ersten Zeilen, insbesondere die Worte ‚Far far beneath‘, die an die Eröffnungsformel ‚Once upon a time, in a land far, far away‘ (entspricht deutsch „Es war einmal …“) denken lassen, auf ein Märchen ein, doch wird diese Erwartung letztlich nicht erfüllt.
=== Wissenschaft ===
Im weiteren Verlauf des Gedichts ist die Sprache zunehmend mit ganz und gar nicht volkstümlichen Gräzismen und Latinismen (‚abysmal‘, ‚millennial‘) durchsetzt und hebt mit dem reichlich unpoetischen Wort ‚polypi‘ zwischenzeitlich in ein explizit wissenschaftliches Register ab. Alles andere als märchenhaft sind auch die „Bewohner“ der Unterwasserwelt; neben Polypen sind hier nur Seegras, Schwämme und Würmer zu beobachten, aber keine andersweltlichen Wesen wie Meerjungfrauen oder dergleichen. Die Beschränkung auf natürliche Phänomene ist eine folgerichtige Konsequenz der wissenschaftlichen Weltsicht und der „Entzauberung der Welt“, wirft aber die Frage auf, um was für ein Wesen es sich bei Tennysons Kraken handelt, wenn nicht um ein Seeungeheuer. Auffälligerweise beschreibt das Gedicht ausschließlich die Umgebung des Kraken, kaum aber dessen eigene Gestalt; die wenigen Sonnenstrahlen, die die Tiefe erreichen, erhellen ihn nicht, sondern „fliehen“ geradezu von ihm fort (faintest sunlights flee / About his shadowy sides).
Nicht nur angesichts der naturalistischen Schilderungen der Meeresfauna ringsum liegt es nahe, den Kraken ebenfalls als ein gewöhnliches Tier zu deuten, namentlich als Tintenfisch. Seit dem 18. Jahrhundert wurde unter Naturwissenschaftlern vielfach die Theorie diskutiert, dass der Aberglaube vom Kraken einen wahren Kern berge und es sich bei diesem vermeintlichen Fabeltier um riesenhafte Kopffüßer (wie den 1857 erstbeschriebenen Riesenkalmar) handeln könnte, zumal Seeleute, insbesondere Walfänger, immer wieder Sichtungen oder gar Angriffe solcher Tiere behaupteten. Tennyson könnte insbesondere die beiden ausführlichen Artikel gekannt haben, die der Zoologe James Wilson 1818 im Blackwood’s Edinburgh Magazine zu dieser Frage veröffentlichte. Suggestiv erscheint in diesem Kontext Tennysons Verweis auf die den Kraken umschwärmenden ‚polypi‘, da mit diesem Namen erst seit dem 18. Jahrhundert Nesseltiere wie die Seeanemonen bezeichnet werden. Bei antiken Autoren wie Aristoteles und bei einigen Zoologen noch bis ins 19. Jahrhundert wurden unter diesem Namen hingegen die Kopffüßer subsumiert – möglicherweise bezeichnen die „ungezählten und ungeheuer großen“ Polypen mit ihren „gigantischen Armen“ also keine Zoophyten, sondern eine Vielzahl von Tintenfischen, mithin nicht einen einzigen „Kraken“, sondern deren viele. Deutet man polypi hingegen im heutigen Wortsinn, bietet sich ein anderer Erklärungsansatz an: 1828 mutmaßte Humphry Davy in seinen auch von Scott wohlwollend rezensierten Salmonia, dass die Sichtungen von Seeungeheuern wie dem Kraken auf das gelegentlich zu beobachtende massenhafte Auftreten von Quallen oder Zooplankton zurückzuführen seien; von ferne könnten derartige Schwärme wie ein einziger, riesiger Organismus erscheinen.Tennysons Faszination für Zoophyten, Mollusken und andere „niedere“ Lebensformen war ein Resultat seiner Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Werken und insbesondere mit biologischen Evolutionstheorien, die die althergebrachten Vorstellungen von der göttlichen Schöpfung und der Rolle des Menschen darin schon vor Charles Darwin radikal in Frage stellten. In England wurde diese Entwicklung in Tennysons Jugendjahren besonders durch die geologischen Arbeiten Charles Lyells und die Entdeckung von Iguanodon-Knochen in Sussex im Jahr 1822 befeuert. Sein In Memoriam A. H. H. (entstanden zwischen 1833 und 1849) ist in der englischen Literatur neben Edmund Gosses Father and Son (1907) die wohl bedeutendste Auseinandersetzung mit der so ausgelösten Glaubenskrise, doch auch schon ein frühes Werk wie The Kraken lässt sich vor diesem Hintergrund deuten; Tennysons Krake ist ein Geschöpf aus grauer Vorzeit, er liegt seit vielen Äonen (‚ages‘) auf dem Meeresgrund, umgeben von Jahrtausende alten Schwämmen (‚sponges of millennial growth‘). Einer von seinem Sohn kolportierten Anekdote zufolge fiel Tennyson schon zu seiner Studienzeit mit Äußerungen zur Rekapitulationstheorie auf und mutmaßte damals, dass die Entwicklungsstadien des menschlichen Körpers sich in den Formen der wirbellosen Tiere nachvollziehen ließen. So stellt sich der Krake zwar einerseits als eine dem Menschen denkbar weit entrückte und fremdartige Lebensform dar, zugleich aber als sein stammesgeschichtlicher Verwandter, und lädt somit zu biologistischen Überlegungen zur animalischen Natur des Menschen ein.
=== Apokalypse ===
In der Schlusspassage weicht das aquaristische Stillleben unvermittelt der Schilderung des Weltuntergangs, des „letzten Feuers“. In der Begriffswahl wird klar, dass es sich hier nicht um einen bloß erd- oder stammesgeschichtlich bedeutsamen Kataklysmus handelt, sondern um den Fortgang eines göttlichen Heilsgeschehens, denn in den letzten drei Zeilen verbergen sich einige Bilder aus den Endzeitvisionen der Johannesoffenbarung. Plausibel anschließen lassen sich insbesondere Offb 8,8-9 :
sowie Offb 13,1 :
Richard Maxwell verweist zudem auf Offb 17,8 :
Julia Courtney mutmaßt, dass Tennyson in diesen Zeilen den Endzeitglauben seiner strenggläubig calvinistischen Tante Mary Bourne in Verse fasste, W. D. Paden deutet sie hingegen vor dem Hintergrund der mythologischen Typologie des anglikanischen Theologen G. S. Faber (1773–1854), der zufolge sämtliche heidnische Mythen der Welt korrumpierte Versionen des biblischen Gottesworts darstellen. So sah Faber im Typhon und im Python der griechischen und in der Midgardschlange der germanischen Mythologie Verkörperungen des „bösen Prinzips“ bzw. des Teufels, vergleichbar der Schlange im Garten Eden, Seeungeheuer wie Seeschlangen im Besonderen als heidnisch überformte Repräsentation der biblischen Sintflut.Andere Deutungen vermuten einen politischen Subtext, insbesondere aufgrund der nur scheinbar unverfänglichen Zeile ‚Battening upon huge seaworms in his sleep‘, die einen Verweis auf Percy Bysshe Shelleys Versdrama Prometheus Unbound (1818, dt. Der entfesselte Prometheus) darstellt, eine mythisch verbrämte Parabel auf die erneuernde, aber auch die zerstörerische Kraft politischer Revolutionen (im historischen Kontext besonders der Französischen Revolution). Bei Shelley beschwört der aufrührerische „Demogorgon“ die „Genii“ aus ihren über das „Oblivion“ verstreuten Wohnstätten herauf, vom Himmelszelt bis hinab in die Meerestiefen – ‚to the dull weed some sea-worm battens on‘, wie Shelley schreibt – und stößt schließlich seinen Vater Jupiter vom Thron.
Schwer zu entscheiden ist indes in einer politischen Lesart, wie sie insbesondere Isobel Armstrong vertritt, ob der Kraken selbst als Verkörperung des einst unterdrückten und sich jetzt Bahn brechenden revolutionären Impulses zu verstehen ist oder im Gegenteil als Inbegriff der alten, trägen, reaktionären Stasis, nicht zuletzt, da sein Auftauchen zugleich seinen Tod bedeutet. Jane Stabler weist hingegen darauf hin, dass er sich anders als Shelleys „Elementengeister“ eben gerade nicht aus seinem Dämmerschlaf erwecken und zu umstürzlerischen Umtrieben hinreißen lässt, und deutet dies als Ausdruck der unpolitischen, ja resignierten Weltsicht des Dichters; The Kraken stelle eher eine eskapistische Fantasie dar, einen Rückzug aus jedweder politischen oder sozialen Teilhabe in eine schummrige Scheinwelt.
=== Psychologische Deutungen ===
In einem allgemeineren Sinne ist Tennysons Krake auch tiefenpsychologisch bzw. psychoanalytisch als Sinnbild des Un- oder Unterbewussten interpretiert worden, in dem sich unterdrückte bzw. verdrängte Triebe stauen, bis sie sich schließlich in einer heftigen, vielleicht fatalen Abreaktion entladen. The Kraken steht dabei in einer Reihe von Gedichten, in denen Tennyson ein Sein abbildet, das kaum ein solches ist, sondern vielmehr ein bewusstloses Dahinexistieren, so etwa im Falle der in einem apathischen Rausch vor sich hin dämmernden Lotosesser in The Lotos-Eaters. Auch Tennysons Dornröschen (Sleeping Beauty) schläft wie der Krake einen traumlosen, todesähnlichen, aber hübsch anzusehenden Schlaf:
Eine gewisse thematische Ähnlichkeit besteht auch mit der wunderschönen Lady of Shalott, die durch einen Zauberfluch allein in einem Turm auf einer Insel gefangen ist und stirbt, sobald sie sich auf einem Boot nach Camelot begibt und von Menschen erblickt wird; Einsamkeit, Isolation und Tod prägen noch viele weitere frühe Gedichte wie The Dying Swan und Mariana – berühmt ist der Ausspruch von T. S. Eliot, Tennyson sei der traurigste aller englischen Dichter.
== Rezeption ==
The Kraken zählt heute zu den bekanntesten und am häufigsten anthologisierten Gedichten Tennysons. Zu seinen Lebzeiten nahm er es indes im Gegensatz zu einigen anderen Frühwerken lange nicht in die zahlreichen Gedichtbände auf, mit denen er gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zum gefeiertsten englischen Dichter des viktorianischen Zeitalters avancierte (von 1850 bis zu seinem Tod 1892 war er als Poet Laureate beamteter Lobsänger des Vereinigten Königreichs), erst 1872 veröffentlichte er es erneut im ersten, Juvenilia betitelten Band einer sechsbändigen Bibliotheksausgabe seiner Werke.
Dennoch scheint The Kraken schon früh zur Popularisierung des Kraken-Stoffes besonders in der fantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts beigetragen zu haben, auch wenn sich ein direkter Einfluss nur selten nachweisen lässt. Eine Parodie verfasste bereits 1853 Dante Gabriel Rossetti, gemünzt auf Francis MacCracken, einen frühen Mäzen der Präraffaeliten:
Albert J. Frank vermutet, dass Edgar Allan Poe das Gedicht 1832 aus einer Rezension der Poems, Chiefly Lyrical im Maiheft Blackwood’s Edinburgh Magazine kannte, wo es in voller Länge abgedruckt war, und sein Lektüreerlebnis in seine Kurzgeschichte MS. Found in a Bottle (dt. Das Manuskript in der Flasche) einfließen ließ, wo es an einer Stelle heißt: „Bald warf es uns in atemberaubende Höhen empor, die nicht einmal der Albatros erfliegt, bald schwindelte uns bei dem rasenden Sturz in irgendeine Wasserhölle, wo die Luft erstickend war und kein Laut den Schlummer des Kraken störte.“ Die bei Tennyson angedeuteten Versuche, den mythischen Kraken wissenschaftlich zu deuten, haben sich in zwei der bekanntesten literarischen Werke des 19. Jahrhunderts niedergeschlagen, zum einen in Herman Melvilles Moby-Dick (1851) und vor allem in Jules Vernes Vingt mille lieues sous les mers (1869–1870, dt. „20.000 Meilen unter dem Meer“); Tennysons Gedicht dürfte sowohl Melville als auch Verne bekannt gewesen sein. Im 59. Kapitel von Moby-Dick (The Squid) sichtet die Mannschaft der Pequod einen riesigen Tintenfisch; dass Melville bei seiner Schilderung wie Tennyson aber auch die mythischen, wenn nicht sogar eschatologischen Qualitäten des Kraken im Sinn hatte, bezeugt ein auf den November 1851 datierter Brief an Nathaniel Hawthorne, in dem er raunt: Leviathan is not the biggest fish; – I have heard of Krakens.
In Vernes Roman tauschen sich Nemo (der Kapitän des ebenfalls nach einem Kopffüßer benannten Unterseeboots Nautilus) und sein unfreiwilliger Gast, der französische Professor Aronnax, mehrfach über derartige Theorien aus und werden vor den Lucayischen Inseln schließlich selbst von einem Riesenkalmar oder -kraken angegriffen. In der Beschreibung der Tangwälder, die dem Angriff vorausgeht, meint Richard Maxwell explizite Anleihen an Tennysons Gedicht zu erkennen:
Verschiedentlich ist ein direkter Einfluss Tennysons auf William Butler Yeats’ The Second Coming behauptet worden, ein Gedicht, das 1919 unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges entstand und in ganz ähnlichen Bildern eine Vision des (hier begrifflich mit der Wiederkehr Christi verknüpften) Weltuntergangs entwirft, wobei das apokalyptische „Tier“ hier, aus seinem langen Schlaf erweckt, nicht zugrunde geht, sondern erst „geboren“ wird.Sehr wahrscheinlich ist die Annahme, dass Tennysons Gedicht ein unmittelbares Vorbild für den „Cthulhu“-Mythos darstellt, der grundlegend für mehrere der bekanntesten Horrorgeschichten des amerikanischen Schriftstellers H. P. Lovecraft ist, insbesondere für die Erzählung Call of Cthulhu (1928, dt.: Cthulhus Ruf). Demnach ist Cthulhu ein vor mehreren hundert Millionen Jahren auf die Erde gekommenes, mit riesigen Tentakeln bewehrtes Wesen, das im Pazifischen Ozean in einem todesähnlichen Schlaf gefangengehalten wird und einem obskuren Mythos zufolge eines Tages, wenn die Sterne richtig stehen, auferstehen, die Weltherrschaft an sich reißen und schließlich alles Leben auf der Erde töten wird; in der Zwischenzeit „ruft“ er die immergleiche Botschaft aus seinem Gefängnis in den Tiefen in die Welt hinaus: Ph’nglui mglw’nafh Cthulhu R’lyeh wgah’nagl fhtagn, „In seinem Haus in R’lyeh wartet träumend der tote Cthulhu“. Ähnlich wie bei Lovecraft wird Tennysons Krake in John Wyndhams Roman The Kraken Wakes (1953, dt. Wenn der Krake erwacht) zu einem riesenhaften außerirdischen Wesen umgedeutet, das die Vernichtung der Menschheit im Schilde führt; Tennysons Gedicht wird hier in voller Länge zitiert. Zwei Jahre später gab auch Jorge Luis Borges The Kraken in seinem Libro de los seres imaginarios (1957, dt. „Einhorn, Sphinx und Salamander“), eine Art postmodernes Bestiarium, in Gänze wieder.
Benjamin Britten vertonte The Kraken 1958 in seinem Liederzyklus Nocturne op. 60 für einen Tenor, obligates Fagott und Streicher.
== Literatur ==
=== Ausgaben ===
Erstmals veröffentlicht wurde The Kraken in Tennysons Poems, Chiefly Lyrical, Effingham Wilson, Royal Exchange, London 1830. Die geringfügig revidierte Fassung letzter Hand mitsamt der Anmerkung zu Pontoppidan erschien 1872 im ersten Band (Juvenilia) der Library Edition of Tennyson' s Works, 6 Bände, Strahan & Co., London 1872–73. Die moderne Standardausgabe der Werke Tennysons ist:
Christopher Ricks (Hrsg.): The Poems of Tennyson. 2., verbesserte Ausgabe. 3 Bände. Longman, Harlow 1987.The Kraken findet sich mit den vollständigen Erläuterungen der dreibändigen Ausgabe auch in der einbändigen Auswahlausgabe:
Christopher Ricks (Hrsg.): Tennyson: Selected Edition. 2., revidierte Ausgabe. Hrsg. von Christopher Ricks. Pearson Longmen, Harlow und New York 2007.
=== Übertragungen ins Deutsche ===
Der Krake. Deutsch von Ulla de Herrera, nach der spanischen Übersetzung von Jorge Luis Borges. In: Jorge Luis Borges: Einhorn, Sphinx und Salamander: Ein Handbuch der phantastischen Zoologie. Hanser, München 1964.
Der Krake. Deutsch von Werner von Koppenfels. In: Werner von Koppenfels, Manfred Pfister (Hrsg.): Englische und amerikanische Dichtung. Band 2: Von Dryden bis Tennyson. C.H. Beck, München 2000, ISBN 3-406-46458-0, S. 392.
Der Krake. Deutsch von Joseph Felix Ernst. In: Joseph Felix Ernst, Philip Krömer (Hrsg.): Seitenstechen #1 | Seefahren macht besser. homunculus verlag, Erlangen 2015, ISBN 978-3-946120-00-1, S. 185.
=== Sekundärliteratur ===
Isobel Armstrong: Victorian Poetry: Poetry, Poets and Politics. Routledge, London/ New York 1993, ISBN 0-203-19328-8, S. 50f.
Julia Courtney: “The Kraken”, Aunt Bourne, and the End of the World. In: The Tennyson Research Bulletin. 9, 2010, S. 348–355.
Richard Maxwell: Unnumbered Polypi. In: Victorian Poetry. 47, 1, 2009, S. 7–23.
James Donald Welch: Tennyson’s Landscapes of Time and a Reading of “The Kraken”. In: Victorian Poetry. 14, 3, 1976, S. 197–204.
== Weblinks ==
"The Kraken" (1830) - Alfred Lord Tennyson im Victorian Web, mit Annotationen von Philip V. Allingham.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/The_Kraken
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Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar
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= Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar =
Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar ist ein unvollendetes Werk des deutschen Schriftstellers Bertolt Brecht, das ursprünglich aus sechs Büchern bestehen sollte. Brecht arbeitete daran von 1938 bis 1939 im dänischen Exil. 1949 erschien zuerst das zweite Buch der Reihe „Unser Herr C.“ in der Zeitschrift Sinn und Form (Berlin). 1957 wurden postum das dritte Buch „Klassische Verwaltung einer Provinz“, ebenfalls in Sinn und Form, sowie das gesamte Fragment (Bücher 1–4) im Gebrüder Weiss Verlag (Berlin/West) und im Aufbau-Verlag (Berlin/DDR) veröffentlicht.
Der Roman gehört zu den weniger bekannten Werken Brechts. Dennoch ist die Bedeutung des Fragments allgemein und innerhalb des brechtschen Gesamtwerkes nicht zu unterschätzen: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar bildet einerseits ein Beispiel für die Gattung des historischen Romans der Zwischenkriegszeit, andererseits aber stellt das Werk die Übertragung des Verfremdungseffekts aus dem Bereich des epischen Theaters auf den Roman dar und offenbart besonders Brechts Verständnis der Geschichte als „Perspektive der anderen Seite“.
Die Haupthandlung des Romans beschreibt die Zeit von Caesars Beteiligung an der Catilinarischen Verschwörung (691 röm. Zeitrechnung bzw. 63 v. Chr.) bis zu seiner Statthalterschaft in Spanien und seiner daran anschließenden Bewerbung um das Konsulat (694 röm. Zeitrechnung bzw. 60 v. Chr.). Eingebettet ist die Haupthandlung in eine Rahmenerzählung, die das Vorhaben eines jungen Anwalts wiedergibt, eine Biografie über den zwanzig Jahre zuvor ermordeten Caesar zu verfassen.
N. B. Den nachfolgenden Ausführungen liegt folgende Textausgabe zugrunde: Werner Hecht, Jan Knopf u. a. (Hrsg.): Bertolt Brecht. Prosa 2. Romanfragmente und Romanentwürfe (= Bertolt Brecht. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 17). Frankfurt am Main.
== Inhaltsübersicht ==
=== Aufbau (Erzähl- und Zeitebenen) ===
Der Roman gliedert sich in sechs Bücher, wobei Brecht lediglich die ersten drei Bücher und den Anfang des vierten Buches vollständig ausgeführt hat. Die erzählten und erlebten Geschehnisse lassen sich drei Erzählebenen zuordnen: Die ersten beiden sind in der Rahmenhandlung anzusiedeln; es handelt sich dabei um die Ebene des jungen Anwalts, der aus der Ich-Perspektive die Rahmenhandlung darlegt, und die Ebene Mummlius Spicers. Letzterer erinnert sich in seinen Gesprächen mit dem Ich-Erzähler an seinen Umgang mit Caesar. Da der Ich-Erzähler (der junge Anwalt) seinerseits diese Erinnerungen in der Rahmenerzählung wiedergibt, ist die Erzählebene Spicers innerhalb der des Ich-Erzählers festzusetzen. Die dritte Erzählebene bilden die Tagebuchaufzeichnungen des Sekretärs Caesars namens Rarus, die die eigentliche Haupthandlung darstellen. Die Erzählebene des Rarus steht somit losgelöst von den beiden anderen Erzählebenen.
Die Einteilung der Erzählebenen deckt sich dabei in etwa mit derjenigen der Zeitebenen: Die ersten beiden Zeitebenen bestehen in den Berichten des Erzählers und der übrigen Figuren der Rahmenhandlung (Mummlius Spicer, Afranius Carbo, Vastius Alder, ein Legionär Caesars). Der Erzähler berichtet aus der Rückschau über seine Erlebnisse bei Spicer, die über drei Tage verlaufen und etwa im Jahr 730 anzusiedeln sind. Während die Figuren der Rahmenerzählung in einem nennenswerten Abstand zu den bei Rarus beschriebenen Ereignissen befinden, schreibt Rarus selbst seine Erlebnisse unmittelbar nach deren Geschehen nieder. So stellen die Figuren der Rahmenerzählung und Rarus zwar dieselben Jahre der römischen Geschichte dar, ihre Perspektive ist aber eine andere. Nach Herbert Claas ermöglicht der geringe, aber vorhandene Zeitabstand der Rahmenhandlung zu den Geschehnissen der Verschwörung Catilinas einerseits eine abgeschlossene Legendenbildung; der Caesarmythos ist also bereits gewachsen. Andererseits, so Claas, könnten die Gesprächspartner des Ich-Erzählers als Zeitzeugen gelten, was ihren Berichten eine gewisse „fiktive Authentizität“ verleihe. Die römische Zeitrechnung selbst, die Brecht den gesamten Roman hindurch verwendet, erscheint abschließend als Teil jener fiktiven Authentizität.
=== Buch 1: „Karriere eines vornehmen jungen Mannes“ ===
Das erste Buch des Fragments „Karriere eines vornehmen jungen Mannes“ umfasst die Rahmenhandlung des Romans: Ein junger Anwalt, der Ich-Erzähler, beschließt eine Biografie über den vor 20 Jahren ermordeten Caesar zu schreiben. Dazu besucht er Mummlius Spicer, Caesars ehemaligen Bankier, der elf Tagesreisen von Rom entfernt in einer Villa auf einem wohlhabenden, von Sklaven bewirtschafteten Landgut lebt. Er bittet Spicer um die Herausgabe der Tagebücher des Sklaven Rarus, eines Sekretärs Caesars, von denen er glaubt, dass sie sich in Spicers Besitz befänden.
Spicer treibt zunächst ein Spiel mit dem Ich-Erzähler, indem er anfangs behauptet, er habe die Tagebücher weggeworfen, dann erklärt, der Anwalt könne damit überhaupt nichts anfangen, und schließlich die exorbitante Summe von 12000 Sesterzen für die Leihgabe der Tagebücher verlangt, unter der Bedingung, dass der Ich-Erzähler dazu die „Erläuterungen“ Spicers zu den Tagebüchern berücksichtige. Verärgert willigt der junge Anwalt ein. Im weiteren Verlauf der Handlung, die einen Zeitraum von einigen Tagen einnimmt, erhält der Ich-Erzähler von Spicer sowohl erste Berichte über die Situation im Rom zur Zeit, als Caesar die politische Bühne betrat, als auch zu Caesar selbst. Spicer erzählt ihm in einer Weise, die der Anwalt als „gleichgültig“ (S. 178, Z. 32) und „schamlos“ (S. 187, Z. 9) bezeichnet, von Caesars Verhältnis zur sog. „City“ (Oberschicht der Kaufleute in Rom), von Caesars ersten scheiternden Versuchen als Anwalt und seinem Zusammentreffen mit den kleinasiatischen Piraten (der berühmten „Seeräuberanekdote“). Später trifft der Ich-Erzähler weitere Personen, die ihm über Caesar berichten, unter anderem einen ehemaligen Legionär aus Caesars Heer und den Anwalt Afranius Carbo, der von den wirtschaftlichen Konflikten in Rom zu Caesars Zeiten erzählt. Das erste Buch schließt mit einem von Spicer gegebenen Überblick über Caesars gesamte Karriere, der gleichfalls als grobe Gliederung der nachfolgenden Bücher zu verstehen ist.
=== Buch 2: „Unser Herr C.“ ===
Das zweite Buch „Unser Herr C.“ gibt den ersten Teil der Tagebuchaufzeichnungen von Caesars Sekretär Rarus wieder. Die Aufzeichnungen beinhalten die Ereignisse der Monate August bis Dezember des Jahres 691 (d. h. 63 v. Chr.). Rarus legt den Schwerpunkt auf die Beschreibung der finanziellen und zwischenmenschlichen Schwierigkeiten Caesars. Im Vordergrund steht hier die Verschwörung Catilinas und Caesars Rolle innerhalb dieser Verschwörung. Daneben werden die Privatgeschäfte Caesars und Crassus’ geschildert.
Die römische Republik befindet sich in Unruhe, die Fraktionskämpfe zwischen City und Senat (bestehend aus der Schicht der reichen Großgrundbesitzer) bilden den Rahmen der Catilinarischen Verschwörung. Caesar und Crassus stehen offiziell auf Seiten der City, nutzen die Unruhen aber für ominösen Getreidehandel und Grundstücksspekulationen. Die City, die sich mit dem Senat im Streit um die Eroberung Kleinasiens befindet, versucht, eine Diktatur des Gnaeus Pompeius Magnus zu erzwingen. Zweck dieser Diktatur, über deren Einzelheiten sich City und Pompeius im Voraus verständigt haben, soll es sein, die (ökonomische) Macht des Senats zu brechen. Dazu soll Pompeius Catilina an seinem Aufstand hindern. Um Antrag und Ausrufung der Diktatur zu rechtfertigen, augmentiert die City künstlich die wirtschaftliche Not Roms und fördert die Verschwörung Catilinas. Schließlich zieht sich die City aber von ihrem Handel mit Pompeius aus Angst vor Catilina zurück. Die Niederwerfung Catilinas übernimmt nach dessen gescheiterter Konsulatsbewerbung somit der Senat, der als Sieger aus den Fraktionskämpfen hervorgeht. Da Caesar (ebenso wie bedingt auch Crassus) auf den Sieg der City spekuliert hatte, sieht er sich nun mit einer hohen Verschuldung konfrontiert. Gleichzeitig drohen ihm wegen seiner Unterstützung Catilinas politische und juristische Repressalien.
Die Stimmung im Volk hat sich mittlerweile gegen Catilina gewandt und man spricht nur noch von der „Abwehrung der Diktatur“ (S. 280, Z. 28). Die sog. „Sturmrotten“ und „Straßenklubs“, in denen sich die Anhänger Catilinas aus den unteren Schichten zusammengeschlossen hatten, werden aufgelöst und ihre Mitglieder verhaftet. In den Unruhen kommt es zum Börsensturz, über die Gründe dieses ökonomischen Zusammenbruchs herrschen unterschiedliche Spekulationen. Caesar entwindet sich seiner politischen Ächtung, indem er nach erfolgreicher Kandidatur um das Praetorenamt selbst die Prozesse gegen die Catilinarier führt. So kann er zugleich alle Verdachtsmomente gegen sich außer Kraft setzen. Das gesamte zweite Buch zeugt von inhaltlicher Komplexität, was sich darin begründet, dass es Rarus selbst an Überblick und tiefergreifendem Verständnis der Geschehnisse mangelt. Die Auflösung und die Hintergründe der Ereignisse erfährt Rarus (und somit auch der Leser) erst am Schluss des zweiten Buches von Caesar selbst.
=== Buch 3: „Klassische Verwaltung einer Provinz“ ===
Das dritte Buch „Klassische Verwaltung einer Provinz“ behandelt intensiver Caesars Umtriebe bei und nach dem Ende der Catilinarischen Verschwörung. Es ist geteilt in die diesmal knappen Aufzeichnungen des Rarus und die daran anschließenden mündlichen Ergänzungen Spicers. Caesar, der auf die Rückkehr des Pompeius mitsamt seinem Heer hofft und demzufolge auf ein neues Siedlungsprogramm setzt (daher die Grundstücksspekulationen), beseitigt als Praetor die Beweise seiner Beteiligung an der Verschwörung Catilinas. Da Catilinas Heer jedoch vorzeitig vernichtet wird, ist eine Diktatur des Pompeius oder dessen Eingreifen mit seinem eigenen Heer unnötig. Pompeius kehrt daher ohne Heer in Rom ein, was seine Popularität im Volk immens sinken lässt: Eine Lösung der Bodenfrage und der ökonomischen Probleme durch eine eventuelle Machtergreifung des Pompeius ist ausgeschlossen. Caesar sieht sich nun mit massiven Schulden konfrontiert, die aus seinen Grundstücksspekulationen herrühren. Da er nach dem Ablauf seiner Amtszeit seinen Amtsschutz nicht mehr genießt, setzt er sich zur Statthalterschaft nach Spanien ab.
Einen zweiten, parallel verlaufenden Handlungsstrang bildet Rarus’ Reise zum Schlachtfeld von Pistoria, dem Ort der Niederlage Catilinas, wo er sich auf die vergebliche Suche nach seinem Geliebten Caebio begibt. Seine Trauer um Caebio bildet die Ursache dafür, dass der zweite Teil der Aufzeichnungen des Rarus verhältnismäßig kurz ausfällt, weshalb die Erzählung von Spicer ergänzt wird. Dazu tritt in der Rahmenhandlung die Begegnung des Ich-Erzählers mit dem Dichter Vastius Alder, der sich über die historische Bedeutung Caesars und sein Verhältnis zu Senat und City verbreitet. Spicer berichtet abschließend über die finanziellen Folgen der Verschwörung Catilinas und die Flucht Caesars in die Statthalterschaft nach Spanien.
=== Buch 4: „Das dreiköpfige Ungeheuer“ ===
Das vierte, nicht vollständig ausgeführte Buch enthält die Aufzeichnungen des Rarus über Caesars Rückkehr aus Spanien und dessen anschließende Bewerbung um das Konsulat. Caesar hat in Spanien beachtliche Erfolge erzielt, vor allem finanzieller Natur. Um seiner Wahl zum Konsul möglichst große Erfolgschancen zu garantieren, plant er einen Triumphzug als Wahlwerbung. Da sich aber die hohen finanziellen Kosten des Triumphzuges nicht aus den spanischen Einkünften begleichen lassen, wird Caesar folglich durch Verwicklungen mit den römischen Bankiers (auf deren Geld Caesar für die Ausführung des Triumphzuges angewiesen ist) in Spanien aufgehalten. Er kann so nicht mehr vor der Zeit zur Konsulatsbewerbung nach Rom kommen, in der er die Stadt noch vor dem Triumphzug betreten darf. Deshalb entschließt er sich, auf den Triumphzug zu verzichten, was für ihn wiederum hohe finanzielle Verluste zur Folge hat (da er bereits große Geldsummen auf die Vorbereitung des Triumphes verwandt hat). Geschickt und opportunistisch kalkulierend nutzt er aber die mittlerweile aufgekommene Stimmung des Volkes gegen Kriege und Eroberungen und stellt sich, im Gegensatz zu seinem ursprünglichen Plan (für den der Triumphzug erforderlich gewesen wäre), statt als Feldherr, als Friedensbringer dar. Hier endet das vierte Buch.
=== Die inhaltliche Konzeption der letzten drei Bücher ===
Das eigentliche Thema des vierten Buches sollte in dem 1. Triumvirat bestehen, daher auch der Titel „Das dreiköpfige Ungeheuer“. Aus Brechts Aufzeichnungen geht hervor, dass der Schwerpunkt in der inhaltlichen Konzeption auch weiterhin auf Caesars „finanziellen“ Motivationen begründet liegt (S. 349, Z. 11–12): Die Lösung der Bodenfrage durch die Lex Julia wird „entlarvt“ als „eine gigantische Grundstücksspekulation des historischen Triumvirats“ (S. 349, Z. 17–18), wobei Caesar sich trotz „Amtsmissbrauch“ wachsenden Schulden gegenübersieht. Weiterhin soll der „wahre Wert“ politischer Legalität innerhalb des römischen Staates dadurch entlarvt werden, dass Caesars Handlungen weitgehend als legal anerkannt werden (S. 349, Z. 37–38).
Die weitere Handlung beschreibt die Gründung der „Gallischen Handelsgesellschaft“ und die Flucht Caesars vor Anklagen (nach dem Ende des Konsulats) in die gallische Provinz. Die privaten Liebschaften des Rarus werden ebenfalls weitergesponnen, wobei die Schicksale seiner beiden neuen Geliebten stellvertretend für das römische Volk konzipiert sind (S. 350, Z. 31–33). Der Gallische Krieg bildet den Inhalt des fünften Buches, das nach Brecht als das „idyllischste“ der sechs Bücher konzipiert ist (S. 351, Z. 26–27). Näher behandelt werden auch hier Caesars ökonomische Umtriebe: So versucht er bewusst, das Ende des Krieges hinauszuzögern, um größtmöglichen Profit aus seiner Statthalterschaft in Gallien zu ziehen. Die Aufzeichnungen Brechts zum Inhalt enden mit der Beschreibung von Caesars Überschreitung des Rubikons und seiner Rückkehr nach Rom sowie einem Ausblick auf die düstere Zukunft des römischen Staates.
== Figuren des Romans ==
=== Figuren der Rahmenhandlung ===
Bei den Figuren der Rahmenhandlung handelt es sich in allen Teilen um von Brecht erdachte, nicht reale Charaktere, die jeweils unterschiedlichen Zwecken innerhalb der Romankonzeption dienen. Sie lassen sich auf keine historischen Personen zurückführen.
==== Der Ich-Erzähler ====
Der junge, namenlose Anwalt, der es sich zur Aufgabe erkoren hat, eine Biografie über den großen Politiker Gaius Iulius Caesar zu schreiben, stellt für die Rahmenerzählung die zentrale Vermittlungsinstanz zwischen den Ereignissen und dem Leser dar. Bereits ganz zu Beginn des Romans deutet sich die Absicht an, die der Ich-Erzähler mit seiner Biografie verfolgt, nämlich die Entschleierung der Caesarlegende und die Aufdeckung der wahren Beweggründe der Handlungen des Staatsmannes Caesar („Da war die Legende, die alles vernebelte. Er hatte sogar Bücher geschrieben, um uns zu täuschen. […] Vor die Erkenntnis der wahren Beweggründe ihrer Taten haben die großen Männer den Schweiß gesetzt.“, S. 167, Z. 19–23). Der Ich-Erzähler ist sich eines bedenklichen Wahrheitsgehalts der Berichte von und über Caesar bewusst. Dennoch ist er zunächst von der ruhmvollen Vergangenheit des Politikers überzeugt, den er als sein Idol betrachtet (S. 171, Z. 32). Besondere Empörung ruft bei ihm deshalb die gleichgültige und schamlose Darstellung Caesars von Seiten Spicers hervor (S. 178, Z. 31–35). Später zeigt der Ich-Erzähler neben Ärger auch Gleichgültigkeit gegenüber den aus seiner Sicht pejorativen Äußerungen Spicers (S. 187, Z. 17–19). Die Einstellung des Ich-Erzählers zu Caesars Person bzw. zu den Ausführungen Spicers ist allerdings einem Sinneswandel unterworfen. Vollständig ausgeführt allerdings ist lediglich der wachsende Zweifel des Ich-Erzählers an der Caesargestalt sowie seinem eigenen biografischen Vorhaben (S. 320, Z. 23). Durch die Perspektive des Ich-Erzählers und die Subjektivität seiner Darstellung ist dem Leser die Identifikation mit dem jungen Anwalt unvermeidbar. Der besagte langsame Sinneswandel des Ich-Erzählers ist von Brecht so konzipiert, dass er sich eins zu eins auf den Leser übertragen lässt und zur „Entschleierung“ der Caesarlegende beiträgt.
==== Mummlius Spicer ====
Ebenso wie auch die übrigen Charaktere der Rahmenhandlung wird Mummlius Spicer durch die Eindrücke und Vermutungen des Ich-Erzählers charakterisiert. Spicer, ehemals Gläubiger und Bankier Caesars, hat offensichtlich von Caesars Geschäften profitiert: Er besitzt ein reiches, von Sklaven bewirtschaftetes Landgut mit Oliven- und Weinanbau sowie eine schlichte, ländliche Villa mit einer Bibliothek (S. 167–168). Äußerlich wird Spicer als groß, knochig und mit vornüber gebeugtem Körper beschrieben; die Handhabung der Empfehlungsschreiben, die der Ich-Erzähler ihm vorweist, verweisen auf Spicers Beruf (er geht die Empfehlungspapiere des Anwalts sehr genau durch, S. 167, Z. 35–38).
Der Erzähler spricht darüber hinaus oft von Spicer als „dem Alten“. Dieses Attribut verleiht Spicer eine gewisse Autorität in Hinblick auf seine Lebenserfahrung; der Ich-Erzähler betont außerdem die Bescheidenheit Spicers (S. 167 Z. 25–29). Dagegen sind die Berichte Spicers wiederum von einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Allwissenheit geprägt: Der Ich-Erzähler berichtet von der scheinbaren Trägheit des Bankiers, die dieser beim Erzählen an den Tag legt (S. 180, Z. 3–14). Dennoch durchschaut Spicer zugleich die Beweggründe der Taten Caesars und der City auf bemerkenswerte Weise (z. B. S. 186, Z. 38 bis S. 187, Z. 7).
Die Bedeutung Spicers für und innerhalb der Konzeption des Romans wird bei näherer Betrachtung seiner Einstellung zur Geschichtsschreibung deutlich: Spicer selbst äußert sich an mehreren Stellen abwertend über die römischen Historiker (S. 169, Z. 25–26, S. 172, Z. 15–17). Spicer wird für Brecht somit zum „Sprachrohr“, durch das er eine grundlegende Kritik an der bisherigen Geschichtsschreibung (bzgl. Caesars) äußern kann.
==== Übrige Personen ====
Innerhalb der Rahmenerzählung begegnen dem Ich-Erzähler drei weitere, knapp umrissene Personen, die alle ihrerseits eigene Meinungen zu Caesar vorbringen. Zunächst trifft er einen alten Legionär, der in einer Hütte zusammen mit einem Sklaven lebt; seinen Lebensunterhalt verdient er mit einem kleinen Olivenbetrieb und gelegentlichem Fischen. Viel erfährt der Anwalt nicht von dem Veteranen (S. 189, Z. 10, Z. 26–27). Auch für seine Meinung bzgl. der Beliebtheit Caesars bei den einfachen Soldaten erhält der Erzähler keine befriedigende Antwort (S. 189, Z. 30–36). Die weiteren Ausführungen des Legionärs bzgl. seines Schicksals als Soldat im Bürgerkrieg lassen ihn als einen typischen Vertreter der unteren Volksschichten erscheinen, denen nur die Alternative zwischen einem Leben als Soldat oder dem Leben als Bauer auf einem Stück Land offensteht, das für Ackerbau prinzipiell zu klein erscheint. In Brechts Konzeption personifiziert der Legionär somit das vom Kapitalismus „ausgebeutete“ einfache Volk.
Die beiden anderen Personen, die dem Ich-Erzähler im weiteren Verlauf der Rahmenhandlung begegnen, sind der Anwalt Afranius Carbo und der Dichter Vastius Alder, beides wohlhabende und erfolgreiche Männer des römischen Staates. Carbo erfreut den Ich-Erzähler zunächst mit Schmeicheleien und Lob bezüglich seines Plans, eine Caesarbiografie zu verfassen (S. 192, Z. 8–14). Diese Freude wandelt sich aber bald in Enttäuschung über die offenbar „oberflächliche“ und „anfechtbare“ Darstellungsweise der Person Caesars durch Carbo (S. 193, Z. 3–4). Bald aber offenbart sich dann die heuchlerische Art Carbos (S. 195, Z. 37 bis S. 196, Z. 3).
Ganz ähnlich verhält es sich bei Alder: Sein Äußeres beschreibt der Erzähler wie das einer Mumie (S. 303, Z. 11–14) und seinen militärischen Ruhm relativiert er ebenso wie seine dichterischen Leistungen (S. 303, Z. 14–23). Die abschätzigen Bemerkungen Spicers bezüglich des Dichters tun ihr Übriges (S. 306, Z. 31–35; S. 307, Z. 14–20). Insgesamt ergänzen die übrigen Figuren der Rahmenerzählung die Funktion Spicers: Obwohl der Ich-Erzähler ihren eigenen Äußerungen abwertend gegenübersteht, sind sie doch Stellvertreter bestimmter Personengruppen, die jede auf ihre Art die negativen Seiten der Geschichte Caesars verdeutlichen, der Legionär als „Ausgebeuteter“, Carbo und Alder als „Ausbeuter“.
=== Figuren der Haupthandlung ===
Im Gegensatz zur Rahmenhandlung basieren die Charaktere der Haupthandlung auf real existierenden, historischen Persönlichkeiten, abgesehen von Alexander, Crassus’ Bibliothekar, und Rarus sowie seinen Geliebten Caebio und Glaucos. Die tatsächlichen Eigenschaften der historischen Figuren sind allerdings im Sinne des brechtschen Geltungsanspruch mehr oder minder stark modifiziert. Daher bietet ihre Darstellung keine „Dokumentation“ der realen historischen Akteure.
==== Rarus ====
Die Figur des Rarus, Caesars Sklave und Sekretär, bildet die Erzählinstanz der Haupthandlung: Seine Tagebuchaufzeichnungen entsprechen dem Text des zweiten und in Teilen des dritten und vierten Buches des Romans; neben Spicer übernimmt folglich Rarus im Wesentlichen die Charakterisierung Caesars. Innerhalb der ausgearbeiteten Teile des Romans wird Rarus selbst einerseits durch Spicer charakterisiert, dessen Äußerungen ohne Kommentar oder Bewertung vom Erzähler wiedergegeben werden. Andererseits erfährt der Leser einiges über Rarus durch dessen eigene Äußerungen in seinen Tagebuchaufzeichnungen.
Rarus wird unter anderem durch Spicers Äußerungen gegenüber dem Ich-Erzähler charakterisiert: Spicer gibt zu verstehen, dass Rarus hauptsächlich die „geschäftliche Seite“ der Biografie Caesars dokumentiere und die Berichte nicht ohne Erläuterungen zu gebrauchen seien (S. 169, Z. 19–20, Z. 24–25). Diese Äußerungen Spicers über Rarus verdeutlichen bereits in der Rahmenhandlung (und erfahren Bestätigung in Rarus’ Aufzeichnungen), dass Rarus die Handlungsweisen Caesars, der City und des Senats erst versteht, als Caesar ihm sie selbst erklärt (S. 284, Z. 11–13). Die zweite Charaktereigenschaft, auf die in den Ausführungen Spicers angespielt wird, ist Rarus Sinn für private Angelegenheiten: Neben Caesars „Frauengeschichten“ räumt er vor allem seiner Beziehung mit Caebio großen Raum in seinen Aufzeichnungen ein, was zugleich Rarus’ Sensibilität als auch eine gewisse Naivität seinerseits offenbart (besonders bei der Suche nach Caebio auf dem Schlachtfeld von Pistoria). Rarus’ fehlender Realitätssinn ergänzt sich mit seinem ausbleibenden Verständnis für Caesars Strategien und Geschäfte. Rarus selbst scheint sich dieser seiner Charaktereigenschaften nicht bewusst zu sein, glaubt er sich doch anderen Sklaven und vor allem den Klienten Caesars überlegen (S. 202, Z. 25–30).
Gerade das Zusammenwirken dieser drei zentralen Eigenschaften des Rarus erklärt dessen Bedeutung für den Roman: Nicht nur wird der Leser durch die inhaltliche Komplexität der Tagebuchaufzeichnungen zum konzentrierten Verfolgen der Handlung gezwungen; auch mit der naiven und teils gar ignoranten, wirklichkeitsfremden Haltung des Rarus gelingt es Brecht, eine Gruppe der Gesellschaft darzustellen, die die Not der unteren Bevölkerungsschichten nicht nachvollziehen kann.
==== Gaius Julius Caesar ====
Die Hauptfigur in Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar, Gaius Iulius Caesar selbst, tritt nie persönlich innerhalb des Romans in Erscheinung: Stets wird er indirekt charakterisiert, entweder durch die Gesprächspartner des Ich-Erzählers in der Rahmenhandlung oder durch Rarus’ Tagebuchaufzeichnungen (Beschreibungen der Geschäfte Caesars, Wiedergabe von Dialogen, Reden etc.). Caesar wird also zum Objekt der Darstellungen mehrerer Erzähler, die ihren Berichten jeweils unterschiedliche subjektive Prägungen geben.
Der Schwerpunkt der Romanhandlung wird von vornherein durch die Wahl der Erzähler auf Caesars finanziellen Geschäfte festgelegt, Rarus als Sekretär Caesars, Spicer als Bankier des Politikers. So nehmen auch Caesars Finanzen und seine geschäftlichen Kalkulationen einen zentralen Raum innerhalb der Charakterisierung seiner Person ein. Caesars chronische Schuldenlast ist ein immer wiederkehrendes Motiv des Romans. Der anfänglich beschriebene „sorglose Umgang“ mit Geld wird fast zur Verschwendungssucht gesteigert (S. 201, Z. 11–23, S. 252, Z. 4–5). Allerdings handelt Caesar bei allen geschäftlichen Unternehmungen, ungeachtet ihres jeweiligen Erfolges, berechnend und gelassen (S. 286, Z. 1–4). Besonders beispielhaft erweist sich in dieser Hinsicht auch Caesars „Komödie“ im Senat (S. 289, Z. 7 bis S. 299, Z. 3). Die Politik ist für Caesar folglich insgesamt nur Mittel zum Zweck, um seine Schulden und seinen aufwändigen Lebensstil zu finanzieren.
Caesars Verhältnis zu Crassus beruht wiederum unmittelbar auf Caesars geschäftlichen und politischen Kalkulationen, wobei Crassus von Caesar instrumentalisiert wird. In der engen Verknüpfung von Finanzen und politischem Kalkül erscheinen die chronischen Schulden Caesars als bewusste Strategie (S. 307, Z. 35–38, S. 308, Z. 4–14). Für Caesar also die Schulden Mittel zum Zweck, das heißt Instrument des politischen Aufstiegs. Diese Schuldenstrategie erscheint als ein Element von Caesars Opportunismus, der ebenfalls seiner politischen Kalkulation entspringt: Solange ihm der politische Erfolg garantiert bleibt, verhält er sich der politischen Richtung gegenüber gleichgültig. Er ändert seine Haltung stets nach der Seite des (vermeintlichen) Siegers, mal unterstützt er die City, mal Catilina, mal das Volk, letztlich agiert er aber immer zugunsten seiner eigenen Ziele, in denen die Politik als „Objekt“ finanzieller Interessen erscheint.
Weiterhin bedeutsam für eine Charakterisierung Caesars erscheint sein Verhältnis zur City und zum Volk (S. 173, Z. 7, S. 343, Z. 10–11, S. 342, Z. 21–35). Die Einstellung des Volkes zu Caesar ist insofern interessant, als sie teils als Glorifizierung, teils als Verunglimpfung Caesars in gewissem Kontrast zu Rarus’ Caesarbild steht; somit bildet sie eine wichtige weitere Ebene der Caesardarstellung im Roman. Durch Unmut und Wankelmut bleibt das Volk demnach ein unförmiger Mob, der sich leicht durch geschickte Demagogie verführen lässt. Caesar selbst bemüht sich schließlich besonders vor den Konsulatswahlen um die Gunst des Volkes, macht Zugeständnisse (S. 293, Z. 3–9) und veranstaltet Spiele, ohne allerdings wirkliches Interesse für die Nöte des Volkes zu hegen. Ähnlich ambivalent gibt sich Caesars Verhältnis zur City: Caesar blieb zunächst lediglich ein „Handlanger“ der City (S. 177–178), später hingegen löst er sich aus seinen Bindungen und macht auch die City in Teilen zu einem Machtinstrument. Es erweist sich für den Leser im fortschreitenden Romanverlauf kaum noch als differenzierbar, wer wen instrumentalisiert und wer wessen „Spielball“ bleibt. Erst bei der allgemeinen Aufklärung der Geschehnisse durch Rarus am Ende des zweiten Buches verdeutlicht sich die Überlegenheit Caesars (S. 284–287).
Immer dann, wenn Caesar sich in eine Lage gebracht sieht, die es nötig macht, sich eine Weile aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, begibt er sich auf eine ausgiebigere Reise: Nach seinem Scheitern als Anwalt in seinen jüngeren Jahren begibt er sich bekanntlich nach Rhodos; als Caesar wegen der Umtriebe Catilinas und seiner Beteiligungen daran in politische und auch finanzielle Bedrängnis gerät, zieht er sich in seine Statthalterschaft nach Spanien zurück (S. 310–313). So hängen auch diese „Fluchten“ Caesars unmittelbar mit seinen politischen und finanziellen Planungen und Berechnungen zusammen.
Das Fazit, welches Rarus zwischenzeitlich über Caesars politische Fähigkeiten zieht (S. 286, Z. 35 bis S. 287, Z. 4), ist nach Ansicht Spicers zu pessimistisch (S. 307, Z. 25–28). Hans Dahlke ordnet Caesar in einer Reihe mit den „Brecht-Gestalten“ Mackie Messer und Arturo Ui ein und belegt den thematischen Zusammenhang des Caesarromans mit der Dreigroschenoper. Die Darstellung der Caesarfigur beschreibe, so Dahlke, bei Brecht ein „beispielhaftes Gangstertum“. Aus der Darstellung Caesars als „Verbrecherfigur“ (u. a. S. 342, Z. 4–5), ergibt sich notwendig die Vielschichtigkeit der Caesarfigur. Das „Gangstertum“ Caesars ist verbunden mit seiner Gerissenheit, die dadurch verstärkt wird, dass Rarus nicht immer die Vorhaben des Politikers durchschaut und auch dem Leser erst spät die ganze Raffinesse der mit Demagogie und finanziellem Kalkül verbundenen politischen Agitation Caesars offenbar wird.
==== City und Senat ====
Der Machtkampf zwischen City und Senat, der vornehmlich in ökonomischen Interessenkonflikten begründet liegt, bildet eine zentrale Thematik des brechtschen Caesarromans. Die sogenannte „City“ setzt sich aus den reichen Bankiers und Kaufleuten Roms zusammen und wird als „demokratisch“ charakterisiert. Die „City“ repräsentiert eine Rolle innerhalb des Romans, die die Unfähigkeit der reichen Handwerksschicht, selber gegen die Bedrohung der Republik einzuschreiten, verdeutlicht: Hier wechseln sich Unentschiedenheit mit Profitgier und Feigheit ab. Die City ist sich zwar eher der Gefahr durch Catilina bewusst als beispielsweise das römische Volk, erweist sich aber in den entscheidenden Situationen als handlungsunfähig. Die fehlende Führung innerhalb der City lässt sie letztlich in ihrer inneren Zersplitterung den Machtkampf mit dem Senat verlieren (soweit es aus dem von Brecht ausgeführten Teil des Romans entnehmbar ist).
Der ökonomische und auch politische Konkurrent der City personifiziert sich in den Großgrundbesitzern, die auf dreihundert patrizische Familien verbreitet seit den Anfängen der Republik die politische Macht unter sich aufteilen, vornehmlich in Form von Magistraturen und Sitzen im Senat. Obwohl der Senat Teil einer (scheinbar) demokratischen Republik ist, interessiert er sich nur für die Erhaltung seiner eigenen Macht, die mit dem Erhalt der Republik einhergeht. So ist auch die Niederschlagung und Vernichtung Catilinas durch den Senat Produkt dieser übergeordneten wirtschafts- und machtpolitischen Interessen. Dem Senat ist aber offenbar genau so wenig wie der Bevölkerung die Gefährdung der Republik und seiner eigenen Machtposition bewusst. Für Brecht bietet sich also schließlich über die Charakterisierung des Senats die Möglichkeit, die tatsächliche brüchige Struktur einer Republik darzustellen, die nur mehr oder minder von einem Tag zum nächsten am Leben erhalten wird, ohne dass dem Gros der Bevölkerung und auch den Machthabern bewusst zu sein scheint, wie nahe der „Untergang“ des republikanischen Systems bevorsteht.
==== Übrige Personen ====
In der Haupthandlung des Romans werden noch einige weitere historische Personen beschrieben, so etwa Gnaeus Pompeius Magnus, Marcus Licinius Crassus, Marcus Tullius Cicero und Lucius Sergius Catilina. Allen diesen Figuren ist gemein, dass sie auf ihre Weise im politischen Prozess scheitern und Objekte des Machtkampfes innerhalb der Republik werden. Dabei stilisiert Brecht sie teilweise auch zu bloßen Machtinstrumenten Caesars, des Senats oder der City herab. Pompeius erscheint von vornherein als unpopulär und vor allem unentschieden und wie bei Caesar sind auch bei Pompeius die Beweggründe seiner politischen Handlungen immer wieder finanzieller Natur. Allerdings gibt sich Pompeius nicht so geschickt wie Caesar, weshalb er schließlich politisch scheitern muss. Pompeius ist nach dem Konzept Brechts letztlich nur ein Wegbereiter für Caesar; er beginnt schließlich den Ruin Roms und Italiens mit dem Krieg in Kleinasien, Caesar vollendet ihn mit dem Gallischen Krieg (S. 352, Z. 6–10).
Der in Rarus’ Aufzeichnungen erwähnte Crassus repräsentiert den historischen Marcus Licinius Crassus, der unter seinen Zeitgenossen für großen Reichtum bekannt war und sich am ersten Triumvirat beteiligte. Bei Rarus wird Crassus vornehmlich als Partner und Geldgeber Caesars beschrieben. Crassus repräsentiert beinahe stereotyp den Charakter des reichen Immobilienbesitzers und Geschäftsmannes, der schwitzend vor Hitze und barocker Leibesfülle frei von Menschlichkeit und Verständnis den Kopf schüttelt über die Klagen der Armen und der den eigenen Intellekt an seine Grenzen führt bei dem Versuch, neue und schnelle Methoden der Geldanhäufung zu erdenken. Ähnlich wie Rarus stellt auch Crassus demnach einen Vertreter jener Gesellschaftsgruppe dar, der das Einfühlungsvermögen für die Nöte unterer sozialer Schichten fern liegt.
Catilina personifiziert die Diktatur und den Umsturz der republikanischen Ordnung. Catilina gibt sich gleich zu Beginn in Rarus’ Aufzeichnungen als Mann des Volkes. Allerdings ist er weder der Popular, der er zu sein vorgibt, noch versteht er es wie Caesar mit geschickten Kalkulationen nicht nur die Volksunruhen, sondern auch und vor allem die Differenzen zwischen City und Senat auszunutzen. Catilina plant im Gegensatz zu Caesar sein Vorhaben weniger pragmatisch und zukunftsbezogen, weshalb seine Umsturzbestrebungen abschließend scheitern. Dass Catilina zwar scheitert, die von ihm ausgegangene Gefahr jedoch nach seinem Tod von vielen Seiten falsch eingeschätzt wird, verdeutlicht die unsichere Position der Republik. Das Bewusstsein für diese Unsicherheit ist offenbar nur bei Cicero vorhanden, der ständig und teils hysterisch vor Catilina warnt. Man verlässt sich größtenteils auf den Konsul, das Volk wählt demokratisch und nach dem Sturz Catilinas wähnt man die Republik in Sicherheit. Von einer Diktatur Caesars wird zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht gesprochen.
In Rarus’ Aufzeichnungen erscheint der Konsul Cicero für das römische Volk als die Inkarnation der Republik und der Demokratie: Man versteht ihn als Gegenpol zu Catilina, in der Überzeugung, dass es keine Diktatur geben könne, „weder von rechts noch von links“, solange Ciceros Macht in Rom ungeschmälert bleibe (S. 213, Z. 25–29). Ciceros Vorgehen gegen Catilina bestärkt seine Charakterisierung als eines Politikers, der über alles bestrebt ist, einen möglichen Untergang der Republik durch die Umtriebe Catilinas zu verhindern. Zum einen ist Cicero der „Schutzherr“ der republikanisch-demokratischen Ordnung Roms; unantastbar und zielstrebig sorgt er für das Wohl der Republik. Zum anderen aber zeigt sich in Rarus’ Aufzeichnungen der „wahre“ Charakter Ciceros. Er mag zwar die Republik verteidigen; dass sein nervöser „Aktionismus“ gegen Catilina in Brechts Darstellung lediglich Auswuchs seiner Feigheit und damit vermutlich politischer Versagensängste zu sein scheint, gibt Ciceros Figur aber letztlich der Lächerlichkeit preis. Cicero gelingt es zwar, mit hohem Kraftaufwand seinerseits den Umsturz Catilinas zu verhindern; Caesar aber, den Brecht seinen Aufzeichnungen zufolge als den eigentlichen Ruin der Republik Roms konzipiert hatte, entwindet sich geschickt einer möglichen Strafverfolgung, womit die Rettung der Republik auf lange Sicht gescheitert ist.
== Die Sprache des Romans ==
Der Sprachduktus des Romans ist in seiner Gesamtheit situationsgebunden. Zunächst einmal unterscheidet sich vor allem die Wortwahl je nach Geschehen und Romanfigur. Die Sprache des Erzählers gestaltet sich sehr wortreich und präzise. Seine Berichte enthalten häufig Landschaftsbeschreibungen, insbesondere der Güter Spicers. Das von Seiten des Erzählers benutzte Vokabular ist weitgehend frei von umgangssprachlichen Ausdrücken und darüber hinaus geprägt von zahlreichen termini technici, die den jungen Anwalt gebildet erscheinen lassen (S. 191, Z. 35–40).
Rarus’ Sprache hingegen ist geprägt von einigen umgangssprachlichen Ausdrücken und unterscheidet sich auch ansonsten vom Niveau des Ich-Erzählers: Parataxe wechselt sich mit hypotaktischen Satzkonstruktionen (häufig Aneinanderreihungen) ab, die von Fachtermini geprägt sind, welche sich aber auf den ökonomischen Bereich beschränken. Allerdings ist die Satzstruktur in den Tagebuchaufzeichnungen bei hypotaktischen Sätzen insofern verhältnismäßig einfach gehalten, als Rarus auch diese Sätze stets direkt und häufig ohne Konjunktionen mit dem Subjekt des Hauptsatzes einleitet. (S. 339, Z. 12–16). Dass die von Rarus benutzten Fremdwörter sich vornehmlich auf den ökonomischen Bereich beschränken, unterstreicht seine Charakterisierung als Caesars Sekretär, der zwar mit den finanziellen Unternehmungen des späteren Diktators vertraut ist, darüber hinaus aber kein Verständnis für die Hintergründe jener Geschäfte zeigt.
Typisch für Rarus’ Artikulation sind auch die Bezeichnungen führender Politiker und Geschäftsleute nach deren Charakter: Von Crassus wird beispielsweise des Öfteren als dem „Schwamm“ gesprochen (S. 209, Z. 11), der ehemalige Konsul Lentulus wird als die „Wade“ bezeichnet (S. 239, Z. 25–33). Daneben legt Rarus in seiner Darstellung auch besonderen Wert auf die Beschreibung sowohl der äußeren Erscheinung einzelner Personen als auch deren Gewohnheiten und privater Beziehungen. Für den Roman ist die hierdurch erzeugte Subjektivität der Darstellung entscheidend: Einerseits wird eine besondere Anteilnahme des Lesers am Geschehen durch die lebendige Erzählweise ermöglicht und somit auch die Glaubhaftigkeit der Tagebuchaufzeichnungen gesteigert. Daneben bedingt der Tagebuchcharakter bei Rarus eine besondere Schamlosigkeit der Darstellung, die wiederum ihrerseits letztlich Rarus’ Glaubwürdigkeit zuträglich ist.Insgesamt ist der Roman schließlich geprägt von allgemeinen Begrifflichkeiten aus der modernen Sprache wie „Trust“, „City“, „demokratisch“ oder „Sturmrotten“. Die Funktion dieser Anachronismen erweist sich als nicht ganz eindeutig. Brecht wollte zwar keine Analogie zu den Entwicklungen der Weimarer Republik schreiben, der Roman beinhaltet aber bewusste oder unbewusste zeitgeschichtliche Anspielungen (S. 515). Da die Entlarvung der Caesarlegende und damit des Diktatorenbildes allgemein (S. 171, Z. 26–28) mit dem Anspruch verknüpft ist, die zeitgeschichtlichen Geschehnisse zu erklären, ist man trotz der Einschränkung von Brechts Seite gezwungen, ihm eine gewisse Analogiebildung zu unterstellen; ein anderer Erklärungsansatz für die sprachlichen Anachronismen lässt sich in der Sekundärliteratur nicht finden.
== Interpretation ==
=== Leitmotive ===
Der gesamte Roman Brechts beinhaltet mehrere spezifische Leitmotive, die in ihrer Gesamtheit von zentraler Bedeutung für den Geltungsanspruch des Werkes sind. Diese Leitmotive besitzen ihre Basis einerseits in der sozialistischen Haltung Brechts, andererseits in den in seinen Schriften allgemein vorhandenen literarischen Grundkonzeptionen; erstere ist vornehmlich auf der inhaltlichen Ebene ausgeprägt, letztere auf der strukturell-kompositorischen.
==== Die „Herrschaft des Monopolkapitals“ ====
Die Herrschaft des Monopolkapitals stellt den zentralen Zankapfel in der Auseinandersetzung zwischen City und Senat dar. Der Inhalt dieser Auseinandersetzung ist der Kampf „zweier Fraktionen der herrschenden Klasse über die beste Methode der Ausbeutung“ des Ostens, das heißt der dortigen neuen römischen Provinzen; die Motive des Senats und der City unterscheiden sich dabei nach ihren jeweiligen ökonomischen Interessen. Der Senat besitzt seit der Vertreibung des letzten römischen Königs eine beinahe unangefochtene Macht in Rom, befindet sich also im Kampf mit der City in einer verteidigenden Position, während die City den Angreifer jener Macht darstellt. Das einfache Volk bleibt von den Auseinandersetzungen ausgeschlossen: Obwohl die City so tut, als unterstütze sie das Volk und wolle ihm zu seinem Recht verhelfen, handelt sie dennoch nur im eigenen (hauptsächlich finanziellen) Interesse und ist bereit, dafür das Volk zu verraten. Die „herrschenden Klassen“ sind also in der Romankonzeption Brechts die City und der Senat, die beide als rivalisierende Gruppen der Bourgeoisie zu bezeichnen sind.
==== Verbrechen und Macht ====
An der Figur Caesars, verdeutlicht sich die Verbindung von Verbrechen und Macht. Die Ambivalenz Caesars und sein Opportunismus bedeuten die zentralen Elemente des „Gangstertums“ in Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. Die Gerissenheit, die Caesar hierbei an den Tag legt, stellt dabei die Basis seines Verbrechertums dar, das in der systematischen Instrumentalisierung des römischen Volkes besteht: Brecht zeigt, wie „die herrschende Klasse sich bei ihrem Bestreben, die Macht auszuüben, der vielfältigsten kriminellen Delikte schuldig“ macht; diese Verbrechen bestehen neben Verrat am Volk und Krieg gegen andere Völker auch in Erpressung, Mord und Hochverrat. Die „Enthüllung des Verbrechens“ als zentrales Motiv in Brechts Roman ist ein wesentliches Element der satirischen Wirkung des Werkes. Das Verbrechen ist letztlich eine „von der Hochfinanz angestiftete und bezahlte politische Unternehmung“.Verbrechen und Macht bedingen sich so letztlich gegenseitig: Das Verbrechen wird ausgeübt von Inhabern der Macht, die Macht aber erhält und vermehrt sich durch Verbrechen; das Verbrechen wird dabei von der herrschenden Klasse auf dem Rücken der beherrschten Klasse ausgetragen.
==== Geld und Ökonomie ====
Der ökonomische Aspekt spielt eine zentrale Rolle im brechtschen Roman; die Charakterisierung Caesars und die Entlarvung seiner Gestalt erfolgt hauptsächlich über Caesars „Geschäfte“. Gleichzeitig bildet der stetig fortschreitende wirtschaftliche Ruin Roms die Basis für Caesars politischen Aufstieg; Geld und wirtschaftliche Kalkulation bleiben dabei vorausgesetzt. Die Wirtschaft der Republik erscheint aus mehreren Gründen desolat: Zunächst basiert der ökonomische Erfolg in der Landwirtschaft auf einer breit ausgebauten Sklavenwirtschaft; wer sich keine Sklaven leisten kann, bleibt in der Landwirtschaft auf Kleinanbau beschränkt. Die Sklavenwirtschaft steht aber gleichzeitig in Konkurrenz zu der ärmeren Handwerksschicht in der Stadt, die ihre Existenz durch die Sklaven als billige Arbeitskräften gefährdet sieht. So bedeutet gerade der Krieg in Kleinasien eine Belastung, da der Markt durch die Eroberungsstrategie des Senats mit neuen Sklaven überschwemmt wird (S. 185–186).
Durch den Bevölkerungsanstieg und die hohe Arbeitslosigkeit herrscht ein großer Mangel an Getreide, was zu einer Steigerung der Kornpreise und der Armut im Volk führt. Ein weiteres Problem liegt dabei in der Lösung der Bodenfrage, die eine Neuverteilung von Land als Ackerboden an die ärmeren, vom Krieg geschädigten Bauern und auch Veteranen garantieren soll; der Senat (als Repräsentant der Großgrundbesitzer) widersetzt sich hier den Forderungen des Volkes. Die zunehmende Verelendung und der ökonomische Ruin setzen sich fort in einer sich stetig steigernden Inflation, deren Auswirkungen sich in dem Sturm auf die Wechselstuben widerspiegeln (S. 242, Z. 33). Schließlich kommt es zu Aktienstürzen und zum Börsenkrach, der Ruin der römischen Wirtschaft befindet sich auf einem ersten Höhepunkt (S. 283, S. 286). Caesars politischer Aufstieg beruht schließlich auf der direkten Verbindung von Geld und Ökonomie: Caesar selbst nämlich bleibt stets Teil der „verbrecherischen herrschenden Klasse“, auch wenn seinen Geschäften nicht immer Erfolg beschieden scheint und sich seine Schulden vermehren. Die stete Ignoranz des Senats und der City in Bezug auf das zunehmende Elend der römischen Unterschicht sowie die Profitgier der herrschenden Klassen erhebt sich so zu einem zentralen Motiv in Brechts Roman. Die „Herrschaft des Monopolkapitals“ (das heißt der Großgrundbesitzer im Senat sowie der City, siehe oben) in Verbindung mit der „Ausbeutung“ der armen Bevölkerungsgruppen lässt sich als Analogiebildung zur Unterdrückung der Arbeiterklasse im Kapitalismus betrachten; die Sklaverei ist dabei für die Großgrundbesitzer Mittel zum Zweck, das heißt neben einer rücksichtslosen Eroberungsstrategie im Krieg Garantie für größtmöglichen Profit. Caesar letztlich stellt sich so in den Dienst der ökonomischen Profitgier von City und Senat, die ihn mit ihrem „ergaunerten“ Geld dafür bezahlen.
==== „Demokratie“ – Herrschaft des Volkes? ====
Die „Demokratie“ der römischen Republik ist einer eindeutigen Relativität unterworfen: Durch die Intrigen und die verbrecherische Ausbeutung des Volkes durch Senat und City wird die reale Machtposition der Plebs allgemein infrage gestellt. Darüber hinaus ist die Machtverteilung im Senat durch die „Vetternwirtschaft“ der Adelsfamilien ebenfalls ein Zeichen für die „Aushöhlung“ der Demokratie, was durch die Machtposition des Senats verstärkt wird. Demgegenüber herrscht im Volk offensichtlich keine besondere Hochschätzung der Demokratie: Die Interessen des Volkes beständen in Arbeit, Lebensunterhalt, Wohnung und Familie (S. 232, Z. 25–27). Das Elend des Volkes erscheint als so groß, dass es sich die (wenn auch geringe) Macht abkaufen lässt. Die Demokratie Roms erscheint bei Brecht folglich als ausgehöhlte Scheindemokratie, die sich wie ein (käufliches) Mittel zum Zweck darbietet.
In Zusammenhang mit der Gattung des historischen Romans der 1930er Jahre kann vom Zweck der Bloßlegung der „vermeintlichen Antriebe der Hitler und ihrer Gefolgsleute und ebenfalls“ der „Reaktionen der von ihnen irregeleiteten Volksschichten“ gesprochen werden. Die „Demokratie“ wird letztlich ebenfalls Instrument der ökonomischen Interessen der herrschenden Klasse; sie hat in den Kämpfen zwischen City und Senat „die Funktion, den kleinen Mann für die Geschäfte einer Fraktion einzuspannen“. Brecht übt hiermit eine indirekte Kritik an der (seiner Meinung nach) kapitalistischen („Schein-“) Demokratie der Weimarer Republik, die für ihn neben der Machtausübung im Faschismus eine Form der „Diktatur der Bourgeoisie“ darstellten.
==== Die „Perspektive der anderen Seite“ ====
Brechts „Perspektive der anderen Seite“, die eine zentrale Rolle in Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar spielt, äußert sich in seinem Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ in komprimierter Form.
Die bereits von Karl Marx entwickelte und von Brecht aufgegriffene „Perspektive der anderen Seite“ beschreibt ein Prinzip der historischen Betrachtung, nach dem die Geschichte nicht als Geschichte der „Großen“, das heißt der „Herrschenden“, sondern als Geschichte der „Beherrschten“ verstanden wird. Inwiefern dies für Brechts Roman ein weiteres zentrales Darstellungsmotiv bildet, zeigt sich zum einen in der Konzentration auf die Beschreibung der „Unterdrückung der Beherrschten“ (sowohl Volk als auch Sklaven, Spicers Landgut u. Ä.). Andererseits verdeutlicht es sich aber auch in der Wahl des Rarus als Erzähler der Rahmenhandlung: Rarus besitzt zwar als Caesars Sekretär eine herausgehobene Stellung, steht aber dennoch in stetem Kontakt zu den niederen Bevölkerungsschichten (über seine Liebschaft mit Caebio, über das Klientelwesen Caesars sowie über seine Meinungsumfragen vor den Konsulatswahlen 694). Die „Perspektive der anderen Seite“ und die damit verbundene historische Sichtweise erweisen sich damit letztlich insofern als wesentlich für Brechts Geltungsanspruch, als sie eine Entschleierung der Caesarlegende aus Sicht des einfachen Volkes ermöglichen. Letztere sieht ihre Notwendigkeit in der Ablösung von dem falschen, konstruierten Geschichtsbild der Bourgeoisie.
==== Der „V-Effekt“ ====
Ein weiteres Mittel der Entschleierung der Caesarlegende ist der vor allem aus Brechts epischem Theater bekannte „Verfremdungseffekt“, durch den laut Hans Dahlke die Figur Caesars „der Lächerlichkeit preisgegeben und die Caesar-Legende entlarvt wird“. Dieser Entlarvung entspricht auch die merkliche Entwicklung des Ich-Erzählers der Rahmenhandlung. Zunächst ärgert sich der junge Anwalt über die schamlose Behandlung Caesars durch Spicer. Nach der Lektüre der ersten Schriftrolle des Rarus beginnt er allerdings, skeptisch zu werden gegenüber dem Heroentum der Caesargestalt. Die Entwicklung des Erzählers kann mit der Entwicklung des Lesers gleichgesetzt werden.
==== Die Rolle der antiken Geschichtsschreibung ====
Aus dem Zusammenwirken von „V-Effekt“ und der „Perspektive der anderen Seite“ lässt sich die Rolle der antiken Geschichtsschreibung innerhalb des Romans erschließen. An mehreren Stellen des Romans ist von den römischen Historikern die Rede (S. 169, Z. 25–26, S. 172, Z. 15–17). Die antiken Geschichtsschreiber hatten wesentlich zur Glorifizierung Caesars beigetragen; ihre Widerlegung musste also für Brecht ein zentrales Interesse darstellen, um die Entlarvung der Caesarlegende zu gewährleisten und sämtliche zeitgeschichtliche Berufungen auf die „ruhmreiche“ Diktatur Caesars zunichtezumachen. Im Sinne des brechtschen Geltungsanspruchs hat Brecht letztlich eine „Richtigstellung“ der (in seinem Sinne zu positiven „bürgerlichen“) antiken Geschichtsschreibung beabsichtigt; dieser Korrektur hat er mit gewissen Modifikationen und Ergänzungen Ausdruck verliehen.
=== Brechts Geltungsanspruch: Der Caesar-Roman als Analogie zur Zeitgeschichte? ===
Ein typisches Merkmal der historischen Romane der Zwischenkriegszeit besteht aus dem Versuch, gegenwärtige politische Ereignisse wie den Aufstieg des Nationalsozialismus und das Scheitern der Weimarer Demokratie zu erklären. Die „Korrektur“ des Caesarbildes hin zum Negativen verbindet sich mit der Entschleierung der verklärten Sicht auf die sich stetig etablierende Diktatur in Deutschland (und auch Italien); schließlich erklärt der Ich-Erzähler Caesar bereits zu Beginn des Romans zum Urbild des Diktators. Die Not des Volkes und der wirtschaftliche „Ruin“ der Republik gehen schließlich einher mit dem Aufstieg der Diktatur.
Von dem Versuch der Erklärung zeitgeschichtlicher Geschehnisse ausgehend liegt dem Caesar-Roman ein Darstellungsmuster zugrunde, das allgemein die Entstehung einer Diktatur aus dem wirtschaftlichen Zusammenbruch eines Staates beschreibt. Letzterer wird dabei nach der Theorie des Klassenkampfes verursacht durch die „Herrschaft des Monopolkapitals“ (siehe oben) und die Unterdrückung der Arbeiterklasse. Caesar selbst bildet mit seinem „Gangstertum“ ein Element jenes Prozesses. Das Thema des Romans ist offensichtlich nicht im Eigentlichen nur die Person Caesars, sondern vielmehr die Klassensituation und der ökonomische Zusammenhang.
== Entstehungsgeschichte ==
=== Vorgeschichte des Romans ===
Bereits einige Zeit vor dem Beginn der eigentlichen Arbeit am Caesar-Roman 1938 beschäftigte sich Brecht mit der Caesarfigur: In einem Brief Brechts an Karl Korsch (1937/38) ist von Brechts Plänen zu einem Caesar-Theaterstück in Paris die Rede. Die Beschäftigung mit Shakespeares Julius Caesar bildet dabei die Grundlage für dieses Vorhaben, das Brecht wahrscheinlich bereits vor 1929 in den Sinn kam. 1932 diskutierte er mit Fritz Sternberg den Plan zu einem Stück, in dessen Mittelpunkt die „Tragödie des Brutus“ stehen sollte. Diese hätte darin bestanden, dass mit dem Mord an Caesar die Diktatur nicht beseitigt worden wäre, sondern „Rom tauscht[e] für den ermordeten großen Diktator nur einen schlechteren kleinen ein“. Brecht war an einer „soziologischen“ Modifikation der Tragödie gelegen, die sich allerdings als schwierig erwiesen hat. Es mochte nur schwerlich möglich gewesen sein, aus dem dramatischen Stoff Shakespeares eine gesellschaftliche Begründung für Aufstieg und Fall des Diktators herauszuarbeiten. Um die eigentliche Ausgestaltung des Stücks zu erleichtern, entschließt sich Brecht zu gewissen Vorarbeiten: Neben dem unvollendeten Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar verfasst er darüber hinaus die kurze Erzählung Caesar und sein Legionär (1942). Da der Roman in kompletter Form vermutlich nahe achthundert Seiten umfasst hätte, wäre vermutlich auch ein Theaterstück entsprechend umfangreich ausgefallen. Letztlich liegen die Anfänge von Brechts Auseinandersetzung mit dem Caesarstoff im eigentlichen Sinn bereits in seiner Schulzeit, als er im Lateinunterricht erste Erfahrungen mit Caesar und Sallust sammelte (S. 509–510). Diese können als die Basis seiner intensiven Beschäftigung mit dem Diktator betrachtet werden, während die schriftstellerischen Anfänge des Romans in seiner Idee zur Neubearbeitung Shakespeares liegen.
=== Die Quellen und Vorlagen Brechts ===
Eine ausführliche Auflistung sämtlicher von Brecht verwendeten antiken und geschichtswissenschaftlichen Quellen findet sich im Kommentar der verwendeten Textausgabe, S. 518–522 (diese Auflistung basiert auf eigenen Aufzeichnungen Brechts); nachfolgend sind nur die wichtigsten kurz erläutert.
==== Antike Autoren ====
Neben Caesar selbst, dessen Schriften Brecht gleich zu Beginn der Rahmenhandlung schmäht (S. 167), lassen sich aus den antiken Geschichtsschreibern vor allem Sueton, Plutarch, Cassius Dio und Sallust als Quellen Brechts anführen. Brecht übernimmt Passagen teilweise wörtlich aus De coniuratione Catilinae von Sallust, beispielsweise Rarus’ Beschreibung seiner Reise auf das Schlachtfeld von Pistoria. Allerdings fehlten bei Sallust für Brechts Empfinden einige wesentliche Dinge in seiner Beschreibung, nämlich die menschlichen Umstände, das heißt das Elend des Schlachtgeschehens ob der kalten Jahreszeit und ähnliches. Darüber hinaus hat Brecht wegen gewisser Fragwürdigkeiten bzgl. des Wahrheitsgehalts bei Sallust vermutlich zunächst einen expliziten Bezug auf Sallust vermieden und dann später nachträgliche Ergänzungen vorgenommen.Bei Cassius Dio entnimmt Brecht neben kleineren Details besonders die Schilderung von Caesars Spanienaufenthalt, die bei Plutarch und Sueton nur in einigen Sätzen berücksichtigt wurde.
Bei Plutarch und Sueton hat sich Brecht offenbar größere und genauere Anleihen gestattet: Zwar war auch gerade Plutarch nur in Maßen verwendungsfähig; sein hoher künstlerischer Anspruch ging des Öfteren zu Lasten des Realitätsgehaltes. Dennoch diente Plutarch gerade ob seiner umfangreichen Darstellungen solcher (Neben-)Figuren wie Cicero, Catilina u. Ä. neben Sueton als zentrale Quelle Brechts. Bei Sueton erweist sich wiederum dessen stoffliche Konzeption als interessant für Brecht: Es sind, so Dahlke, gerade die zahlreichen (teils auch pikanten) Einzelheiten, die Suetons Darstellung im Sinne von Brechts Geltungsanspruch wertvoll machen; schließlich tragen gerade sie zu einer verstärkten „Perspektive von unten“ bei. Letztlich allerdings macht die Seeräuberanekdote deutlich, wie Brecht einerseits die antiken Autoren zwar verwendet, andererseits aber im Sinne der Zielsetzung seines Romans eigene Modifikationen und Ergänzungen vornimmt. Diese Änderungen des historischen Stoffes begründen sich wiederum in dem allgemeinen literarisch-schöpferischen Anspruch Brechts.
==== Monografien bürgerlicher Geschichtswissenschaftler ====
Neben den historischen Quellen nutzte Brecht auch die Monografien in seinem Sinne „bürgerlicher“ Historiker wie Mommsen und Guglielmo Ferrero zur Ausgestaltung der historischen Basis des Romans: Brecht muss wohl die Anmerkung Mommsens, die Umstände der Catilinaverschwörung lägen im Dunkeln, als Herausforderung verstanden haben. Es stellte sich also für Brecht besonders reizvoll dar, diese These Mommsens zu widerlegen, indem er ökonomische Interessen als zentrale Hintergründe der Verschwörung hinstellt. Bemerkenswerterweise dient Mommsen Brecht aber gerade auch bei den Einzelheiten der Catilinarischen Verschwörung neben den antiken Autoren als Quelle seiner Beschreibungen, zum einen, da Mommsen einen umfassenden Epochenüberblick liefert, und zum anderen, weil er ausführlich die Ereignisse der Verschwörung beschreibt.Wesentliche Details in Hinblick auf die Sklavenwirtschaft sowie einige Einzelheiten hat Brecht von Guglielmo Ferrero übernommen. Die Charakterisierungen der Frauen Caesars finden ihre Basis offenbar bei Georg Brandes. Darüber hinaus diente Max Webers Römische Agrargeschichte zur Quelle Brechts; der soziologische Ansatz Webers zog offenbar Brechts Interesse auf sich. Brecht verwendete die bürgerliche Geschichtswissenschaft vornehmlich, um sich notwendige historische Kenntnisse anzueignen, und nicht, um sie positiv oder negativ zu bewerten. In der bürgerlichen Geschichtsschreibung (ebenso wie in den antiken Schriftstellern, siehe oben) fand Brecht einerseits eine wesentliche Materialbasis und Inspirationsquelle, andererseits fügte er aber prägende eigene Elemente und benutzte damit letztlich auch in diesem Punkt Historie als Mittel zum Zweck.
==== Literarische Einflüsse – Der historische Roman in der Exilliteratur ====
Bei der Konzipierung seines Werkes Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar als historischem Roman nahm Brecht gewisse Anleihen, aber auch bewusste Abgrenzungen zu anderen historischen Romanen der Exilliteratur vor. Als maßgebliche Beispiele sind Lion Feuchtwangers Josephus-Trilogie, Alfred Döblins Das Land ohne Tod sowie Heinrich Manns Henri-Quatre-Romane anzuführen. Diesen ist das Ziel gemein, vergleichbare historische Begebenheiten und Personen oder Gegenbeispiele zur Hitlerdiktatur historisch zu verarbeiten; dabei liegt ihnen eine personalistische Geschichtsauffassung sowie eine moralisch-psychologische Sichtweise zugrunde. Brecht übernahm die moralische Kritik, die sich auf die Hintergründe der Hitlerdiktatur übertragen ließ, kehrte sich aber gleichsam vom personalistischen Geschichtsbild der übrigen Exilliteratur ab: Sein Schwerpunkt liegt letztlich auf der Klassensituation und nicht auf Caesar als Einzelfigur.
==== Philosophische und literaturtheoretische Einflüsse: Hegel und Feuchtwanger ====
Der Lektüre von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte und die Auseinandersetzung und schließliche Abwendung von Feuchtwanger kommt in Brechts Roman eine zentrale Bedeutung zu; aus Hegels Abhandlung ergaben sich für Brecht „die Entwicklungslinien der römischen Geschichte im Übergang zum Kaisertum“. Hegel, dessen Werk Brecht selbst als „unheimlich“ bezeichnete (S. 515), erregte Brechts Interesse offenbar durch sein Verständnis der großen Personen der Weltgeschichte, deren subjektiver Wille zum Objekt eines „Weltgesetzes“ gemacht werde. Brecht übernahm von Hegel daher die These, dass sich die Geschichte als „Interpretation ihrer [einzelner Individuen] zufälligen Interessen im Bezugsrahmen objektiv-gesellschaftlicher Systemzwänge“ vollziehe. Die Widersprüchlichkeit des objektiven Geschichtsprozesses, die sich in der hegelschen Dialektik offenbart, diente Brecht daher als indirekte konzeptionelle Inspiration für seinen Roman. Weiterhin gelegen kam Brecht Hegels Darstellung Roms als „Räuberstaat“, die ihm die Analogie zur „legalen“ Machtergreifung der Nationalsozialisten ermöglichte. Auch die Reflexionen Hegels über die Ästhetik scheinen Brecht beeinflusst zu haben; seine Randbemerkungen an seinen Hegel-Ausgaben bestätigen eine umfassende Beschäftigung auch mit Hegels kunsttheoretischen Ausführungen.
Anders verhält es sich in Bezug auf Feuchtwanger: Brecht lag mit Feuchtwanger über die „Omnipotenz der Geschichtsschreiber“ im Oktober 1941 im Streit (S. 516). Diese Auseinandersetzung bildet einen Punkt in einer langen Kontroverse zwischen Brecht und Feuchtwanger über den Charakter von Geschichtsdichtung. Zwar blieb Brecht und Feuchtwanger offenbar das Interesse an der römischen Geschichte gemein. Feuchtwanger beschäftigte jedoch eher das Schicksal der Juden und die Gegnerschaft zum deutschen Faschismus, während Brecht seinen Schwerpunkt auf die ökonomischen Verhältnisse legte: So kritisierte Brecht am Josephus-Roman Feuchtwangers, dass die wirtschaftliche Seite und die Geschäfte der herrschenden Klasse außer Acht gelassen worden seien, die ja die zentrale Ursache für die Zerstörung Jerusalems gebildet hätten. Feuchtwanger spezialisierte sich, so Dahlke, auf die „individualpsychologische Durchleuchtung“; Brecht hingegen hasste Feuchtwangers eigenen Äußerungen zufolge „alles Psychologisieren“, es sei ihm auf eine „gleichnishafte Situation“ und auf die „Echtheit des Wortes“ angekommen. Die gegensätzlichen Auffassungen Brechts und Feuchtwangers werden dann abschließend noch einmal in ihrem jeweiligen Verständnis von der Funktion des Schriftstellers deutlich: Der Schriftsteller hebt bei Feuchtwanger „nicht nur die Flüchtigkeit der Geschehnisse auf, sondern auch ihre Vieldeutigkeit“, indem er „den Ereignissen Wirklichkeitscharakter“ verleiht. Dem Schriftsteller kommt also bei Feuchtwanger ein absoluter Wahrheitsanspruch zu. Brecht hingegen hat sich eine Darstellungsweise geschaffen, die zur Entlarvung der Caesarfigur möglichst viele unterschiedliche unkommentierte Individualurteile zu Wort kommen lässt. Damit gewährleistet Brecht eine Mischung aus subjektiven, falschen Aussagen zu Caesar und objektiven, wahren. Mit dieser Methode ist Brecht der historischen Wirklichkeit näher gekommen als Feuchtwanger.
== Rezeptionsgeschichte ==
Die Rezeptionsgeschichte des Caesar-Romans beschränkt sich auf einige vereinzelte Aufsätze zum Vorabdruck von Buch 2 Unser Herr C. in Sinn und Form. Zu den wesentlichen drei Besprechungen des Romans zählt zunächst Ernst Niekischs Schrift „Heldendämmerung. Bemerkungen zu Brechts Roman ‚Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar‘“, der zusammen mit dem zweiten Buch in Sinn und Form (siehe oben) erschien. Niekisch versucht eine allgemeine Definition des Begriffs „Heldentum“ und bezeichnet den Roman als „Entlarvungsliteratur“, ähnlich wie Sartres Die Fliegen. Als zweites ist Max von Brücks Aufsatz Zweimal Caesar zu nennen. Dieser zieht einen Vergleich mit Thornton Wilders The Ides of March und stellt den Versuch Brechts zur Entlarvung der Caesarfigur als gescheitert dar. Den letzten Essay bildet Wolfgang Grözingers Besprechung Bert Brecht zwischen Ost und West, die sich auf das gesamte Sonderheft von „Sinn und Form“ bezieht und den Roman als „Fleißaufgabe“ bezeichnet. Einen wesentlichen Teil des Aufsatzes macht letzthin auch nicht mehr eine eigentliche Betrachtung des Caesar-Romans, sondern vielmehr von Niekischs Anmerkungen aus.
Allen genannten Autoren waren problematischerweise nur das zweite Buch und weder die übrigen Buchteile noch Brechts Aufzeichnungen dazu zugänglich (S. 528). Eine nennenswerte Wirkung der Veröffentlichung des zweiten Romanbuches hat es insgesamt nicht gegeben (S. 528). Der „hauptsächlich als Autor der Dreigroschenoper bekannte“ Brecht ist in Sinn und Form gleichermaßen als Dramatiker, Lyriker und Romancier vorgestellt worden (S. 528). Gerade wegen Brechts großen Bekanntheitsgrads lässt sich weitgehend ausschließen, dass die geringe Rezeption in einem ebenfalls geringen Bekanntheitsgrad des Romanfragments begründet gewesen ist. Unter Umständen bleiben zwei Aspekte für die geringe Wirkung des Romans zu nennen, nämlich zum einen, dass Brecht gerade als Dramatiker Bedeutung erlangt hatte und man deshalb seinen Roman mehr als einen Versuch abtat. Zum anderen lässt sich in Verbindung damit der fragmentarische Charakter des Romans anführen, der den Versuchscharakter des Werkes zu betonen scheint, aber auch eine vollständige Kenntnis der Gesamtschrift verwehrt: Schließlich erlaubt eine unvollständige Lektüre kein umfassendes Urteil über den Roman.
Unter der Regie von Jean-Marie Straub und Danielle Huillet entstand 1972 als deutsch-italienische Co-Produktion der Film „Geschichtsunterricht“, der die bisher einzige Verarbeitung des brechtschen Romans darstellt. Der Film handelt von einem jungen Mann aus der Gegenwart, der mehrere römische Bürger aus antiker Zeit über den Aufstieg Caesars interviewt. Der Film ist von künstlerischen und dokumentarischen Elementen geprägt; das Drehbuch basiert auf Brechts Roman.
== Kritik ==
=== Inhaltliche Ungenauigkeiten ===
Bei genauerer Lektüre insbesondere der Rahmenhandlung von Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar offenbaren sich gewisse größere und kleinere inhaltliche und historische Ungenauigkeiten. Es stellt sich die Frage, warum der Ich-Erzähler anscheinend keine eigenen Erfahrungen bzgl. Caesars politischer Agitation vorweisen kann. Außerdem sind offensichtliche Widersprüche in der Festlegung des Zeitpunktes der Rahmenerzählung vorhanden: Die Bemerkung des Erzählers, dass Caesar gerade zwanzig Jahre tot sei (S. 171, Z. 15), veranlasst ihn zunächst, die Rahmenhandlung im Jahr 24 v. Chr. anzusetzen. Allerdings deutet der Erzähler an anderer Stelle an, dass dreißig Jahre seit dem Aufstandsversuch Catilinas vergangen seien, woraus sich das Jahr 33 v. Chr. als Zeitpunkt des Berichtes festlegen ließe. Daraus ergibt sich wiederum ein weiteres Logikproblem des Textes: In den anfänglichen, allgemeinen Bemerkungen des jungen Anwalts zu Caesars Person erklärt er, die Monarchen hätten seinen (also Caesars) „erlauchten Namen“ den ihrigen hinzugefügt (S. 171, Z. 24–25). Im Jahr 33 v. Chr. allerdings liegt das Ergebnis des Bürgerkrieges nach Caesars Tod noch offen, wie Dahlke anmerkt. Folglich gibt es also noch gar keine Monarchie und vor allem auch nicht mehrere Monarchen, die sich den Namen Caesars aneignen könnten. Der Erzähler greift also an dieser Stelle in eine Zukunft voraus, die er unter Umständen gar nicht kennt. Selbst wenn man annimmt, dass er die Niederschrift seiner Erlebnisse unternommen hat, als Augustus bereits als Monarch an der Macht war, kann er nicht so alt geworden sein, um die allgemeine Etablierung von Caesars Namen als Fürstentitel zu erleben.
Für diese inhaltlichen und logischen Ungereimtheiten lassen sich auf den ersten Blick zwei Begründungen finden: Zum einen wäre es möglich, dass Brecht den Roman noch einmal überarbeiten wollte und dann auch diese zeitlichen und historischen Fehler korrigiert hätte; demnach könnte man letztere dem fragmentarischen Charakter des Romans zuweisen. Zwar ließ Brecht lediglich das zweite Buch seines Romans (losgelöst von der Rahmenhandlung) zu seinen Lebzeiten veröffentlichen. Dennoch gibt es keine Hinweise darauf, dass Brecht eine Überarbeitung des ersten und dritten Buches geplant hatte. Demnach kann der fragmentarische Charakter des Romans nur zum Teil als Erklärung für die logischen Probleme der Rahmenhandlung gelten.
Eine weitaus schlüssigere Erklärung geben einige Texte aus Brechts Nachlass, die seine Arbeit am Roman reflektieren. Hier zeigt sich deutlich, wie genau und sorgfältig Brecht historische Fakten verwendet, sie gleichfalls aber auch modifiziert. So schreibt er an einer Stelle, die Bodenspekulationen seien bei Caesar „nirgends bezeugt“, Ferrero jedoch weise „auf die aktien der asiatischen steuergesellschaften hin, die caesar (nach cicero) für die herabsetzung der pachtbeträge erhalten“ habe. Brecht war weniger an historisch korrekter Darstellung der Ereignisse gelegen, denn der Anspruch nach Entlarvung der Caesarlegende übersteigt vielmehr den Anspruch nach geschichtlicher Neutralität. Die Rahmenhandlung selbst bleibt mehr Mittel zum Zweck.
=== Die Seeräuberanekdote als Modifikation historischer Ereignisse ===
Die sogenannte „Seeräuberanekdote“ erweist sich als besonders beispielhaft für Brechts Modifikation geschichtlicher Ereignisse. In der historischen Realität der „Seeräuberanekdote“ begibt sich Caesar nach seinem Scheitern als Anwalt in einem Prozess auf eine Reise von Rom nach Rhodos. Auf dieser Reise wird Caesars Schiff von Piraten gekapert und er selbst als Geisel genommen. Caesar schickt einige seiner Männer aus, die das Lösegeld zusammentragen sollten. Bis das Lösegeld eintrifft, bringt Caesar seine Zeit mit den Piraten zu und verfasst Gedichte und Reden, die er seinen Entführern vorliest. Als sie ihm keine Bewunderung entgegenbringen, schimpft er sie als Barbaren und droht ihnen lachend, er werde sie aufknüpfen lassen. Nach Auszahlung des Lösegeldes wird Caesar an Land gebracht. In Freiheit rüstet Caesar sofort nach eigenem Ermessen Schiffe und setzt den Piraten nach. In einer Seeschlacht versenkt oder kapert er ihre Schiffe und nimmt die Überlebenden als Gefangene. Letztere bringt er zum Propraetor der Provinz Asia, auf dass dieser die Piraten angemessen bestrafe. Der Propraetor sieht davon allerdings ab und will die Piraten lieber als Sklaven verkaufen. Daraufhin ließ Caesar seine Gefangenen eigenmächtig kreuzigen. Diese Passage wird bei Plutarch und Sueton caesarfreundlich beschrieben. Der hieraus folgenden „Glorifizierung“ Caesars musste Brecht entsprechend seinem Geltungsanspruch Abhilfe schaffen. Brecht ergänzt also die Anekdote um einige gewichtige Einzelheiten: So lässt er Spicer erklären, dass Caesar an Bord seines Schiffes eine Ladung Sklaven geschmuggelt hätte. Dies verstieß gegen die Verträge der kleinasiatischen Sklavenhändler mit den römischen, griechischen und syrischen Häfen. Deshalb, so Spicer, habe der kleinasiatische Exporttrust Caesars Schiff kapern und die Ladung beschlagnahmen lassen. Das Lösegeld sei demzufolge eine Art Schadensersatzsumme gewesen. Nachdem Caesar wieder auf freiem Fuß gewesen sei, habe er in einem räuberischen Überfall die kleinasiatische Firma angegriffen und die gefangenen Kaufleute mit gefälschten Papieren kreuzigen lassen (S. 182, Z. 30 bis S. 184, Z. 27). Bemerkenswert hierbei erscheint, dass es für diese Ausführungen Spicers keine historischen Beweise gibt, sie also Brechts eigene Erfindung sind. Daraus geht hervor, dass Brecht hier schließlich seinem Anspruch nach Entlarvung Caesars als „Verbrecherfigur“ nachhelfen muss, indem er gewisse Modifikationen vornimmt.
=== Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar: Ein Fall von Geschichtsklitterung? ===
Die inhaltlichen Ungenauigkeiten und die bewussten Änderungen historischer Begebenheiten zugunsten der Entschleierung der Caesar-Legende (Seeräuberanekdote) bedingen die Frage, inwiefern Brechts Roman sich als Geschichtsklitterung bezeichnen ließe. Natürlich handelt es sich bei Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar nicht um eine sachliche Biografie des antiken Politikers; man darf Brecht also gewisse Modifikationen des historischen Stoffes erlauben. Dennoch liegt dem Werk ein geschichtlicher Anspruch zugrunde. Um dieses Ziel zu erreichen und Caesars historischen Ruhm zunichtezumachen, konnte Brecht die Geschichte nicht neu erfinden, sondern musste gewisse reale Tatsachen berücksichtigen und in seine eigene Darstellung der Ereignisse einfließen lassen. Die Schwierigkeit, mit der Brecht sich also bei seinen Arbeiten am Roman konfrontiert sah, lag in dem Spagat zwischen Geltungsanspruch und Glaubwürdigkeit: Der Zweck der Faschismusdeutung und der satirische Charakter des Werkes erschwerten die Bemühungen, sich nicht zu weit von der historischen Realität zu entfernen und den Roman damit der Unglaubwürdigkeit anheimfallen zu lassen. Darüber hinaus ging es Brecht um eine aus der Sicht „von unten“ erfolgende Darstellung der gesellschaftlichen Zusammenhänge. Es kam ihm darauf an, seiner Darstellung einen symbolhaften Charakter zu verleihen und seinen Roman quasi als Parabel auf den Leser wirken zu lassen. Der Roman sei zudem einerseits konzipiert als eine „Gegenrede“ gegen die „Geschichtslügen der Hitlerideologen“, so Dahlke. Zum anderen allerdings richte sich das Werk gegen die „personalistischen Geschichtsauffassungen der historischen Romane des Exils“. Diese konzentrierten sich zumeist auf die Humanisierung bestimmter historischer Personen und beschrieben deren individuelle Existenz. Bei Brecht hingegen wird das Individuelle an Caesar den gesellschaftlichen Aspekten untergeordnet.
Gleichzeitig besitzt Brechts Roman einen gewissen satirischen Charakter, der mit einer „moralischen Empörung“ verknüpft sei, heißt es bei Dahlke. Letztere wiederum sei das „Ergebnis einer echten Geschichtserkenntnis“. Diese Geschichtserkenntnis beruhe auf einer zentralen Betrachtung der „analogen gesellschaftlichen Verhältnisse, die dem Diktator die Macht zuspielten“. Offenbar knüpft Brecht ergänzend dazu seinen „Realismus“ (vor allem innerhalb seiner Werke) stets an die Betrachtung der sozialen Umstände und des Klassenkampfes. Mit welchen Problemen Brecht allerdings diesbezüglich bei der Lektüre der antiken Quellen und der geschichtswissenschaftlichen Literatur zu kämpfen hatte, geht aus seinem Nachlass hervor; dort schreibt er, wie spät es ihm erst aufgegangen sei, „was es mit der aktion des pompeius, dieser regulierung der brotversorgung, auf sich gehabt haben musste: er hatte die hungernden niederzuwerfen. und ich las diese bücher nur [!], weil ich die geschäfte der herrschenden klassen zur zeit der ersten grossen diktatur enthüllen wollte, also mit bösen augen! so schwierig ist es, die geschichtsbücher zu entziffern“. Die Quellen, die Brecht zur Verfügung standen, bedurften also einerseits noch gewisser „Auslegungen“, andererseits erwiesen sie sich wohl auch nicht immer als so ausführlich, wie es Brecht lieb gewesen wäre. Demnach sah er sich offenbar gezwungen, eigene Ergänzungen (und damit Modifikationen) zur ökonomischen Geschichte hinzuzufügen, denn wie er Spicer bemerken lässt, „Sie wissen, daß diese Seite unsere Historiker wenig interessiert“ (S. 169, Z. 25–26).
Brecht war sich andererseits der Problematik bewusst, dass sein Geltungsanspruch zwangsweise eine historische Basis erforderte; außerdem hat er nachweislich große Sorgfalt auf die Quellenarbeit verwandt. Daher lässt sich ausschließen, dass Brecht plante, eine bewusste Manipulation der Geschichte in Form von Geschichtsklitterung vorzunehmen; letztere hätte ihn außerdem lediglich auf eine Stufe mit den von ihm kritisierten „Hitlerideologen“ gestellt. Brecht hat „die Analogie für ein legitimes künstlerisches Mittel“ gehalten, „vorausgesetzt, die historischen Besonderheiten, die geschichtliche Einmaligkeit des behandelten Falls“ sind gewahrt geblieben und er (also Brecht) hat damit recht gehabt. Es bleibt schließlich streitbar, ob Brecht die Caesarfigur wie auch die historischen Ereignisse zur Unglaubwürdigkeit herabstilisiert hat oder ob ihm die Trias von Entschleierung, Perspektive von unten sowie zeitgeschichtlichem Bezug gelungen ist.
== Literatur ==
=== Textausgaben ===
Werner Hecht, Jan Knopf u. a. (Hrsg.): Bertolt Brecht. Prosa 2. Romanfragmente und Romanentwürfe (= Bertolt Brecht. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 17). Frankfurt am Main 1989.
Bertolt Brecht: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. Romanfragment. Berlin-Schöneberg 1957.
=== Sekundärliteratur ===
==== Literatur zu Brechts Roman „Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar“ ====
Klaus Baumgärtner: Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar, Kindlers Literaturlexikon, dtv, Band 9, 1974, S. 3876–3877
Heinz Brüggemann: Literarische Technik und soziale Revolution. Versuche über das Verhältnis von Kunstproduktion, Marxismus und literarischer Tradition in den theoretischen Schriften Bertolt Brechts. Reinbek 1973.
Herbert Claas: Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Caesar. Frankfurt am Main 1977.
Hans Dahlke: Cäsar bei Brecht. Eine vergleichende Betrachtung. Berlin/Weimar 1968.
Carsten Jakobi: Die epische Form als Kritik der Geschichtsschreibung. Bertolt Brechts Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. In: Carsten Jakobi (Hrsg.): Antike-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. (= Sonderheft literatur für leser 28/2005, H. 4), S. 295–311.
Ulrich Küntzel: Nervus rerum: die Geschäfte berühmter Männer. Frankfurt a. M. 1991.
Klaus-Detlef Müller: Die Funktion der Geschichte im Werk Bertolt Brechts. Studien zum Verhältnis von Marxismus und Ästhetik. Tübingen 1967.
Peter Witzmann: Antike Tradition im Werk Bertolt Brechts. Berlin 1964.
Olaf Brühl: Kein kaltes Werk für eine kalte Welt. Berlin 2007.
==== Literatur zur römischen Geschichte und Caesar als historischer Figur ====
===== Forschungsliteratur =====
Ernst Baltrusch: Caesar und Pompeius. Darmstadt 2004.
Ursula Blank-Sangmeister: Gaius Julius Caesar. Ein Lebensbild. Göttingen 2006.
Jochen Bleicken: Die Verfassung der Römischen Republik. Grundlagen und Entwicklung. 6. Auflage, unveränderter Nachdruck der 5., verbesserten Auflage. Paderborn 1993.
Luciano Canfora: Caesar. Der demokratische Diktator. Eine Biographie. München 2001.
Karl Christ: Caesar. Annäherungen an einen Diktator. München 1994.
Werner Dahlheim: Julius Caesar: die Ehre des Kriegers und die Not des Staates. Paderborn 2005.
Karl Loewenstein: The governance of Rome. Den Haag 1973.
Martin Jehne: Der Staat des Dictators Caesar. Böhlau, Köln – Wien 1987, (Passauer historische Forschungen 3) ISBN 3-412-06786-5.
Wolfgang Will: Julius Caesar. Eine Bilanz. Stuttgart 1992.
Maria Wyke: Julius Caesar in Western Culture. Malden, Mass. 2006.
Horst Zander: Julius Caesar. New critical essays. New York 2005.
===== Von Brecht verwendete Literatur (Auszug) =====
Georg Brandes: Caius Julius Caesar. Berlin 1924.
Guglielmo Ferrero: Größe und Niedergang Roms. Stuttgart 1908–1910.
Theodor Mommsen: Römische Geschichte. Karlsruhe 1832–1841.
Max Weber: Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. Stuttgart 1891.
== Weblinks ==
Bertolt Brecht. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und HdG)
Geschichtsunterricht (1972) in der Internet Movie Database (englisch)
Olaf Brühl: Kein kaltes Werk für eine kalte Welt.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Gesch%C3%A4fte_des_Herrn_Julius_Caesar
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Waldviertler Schmalspurbahnen
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= Waldviertler Schmalspurbahnen =
Die Waldviertler Schmalspurbahnen sind ein Netz von drei zusammenhängenden Eisenbahnstrecken mit einer Spurweite von 760 mm, die von Gmünd in Niederösterreich aus das nordwestliche Waldviertel auf Strecken nach Litschau, Heidenreichstein und Groß Gerungs erschließen. Alle Streckenäste werden ausschließlich touristisch genutzt und von der NÖVOG bzw. dem WSV betrieben.
== Geschichte ==
=== Planung und Bau ===
Bereits in den 1870er Jahren erhielt das niederösterreichische Waldviertel mit der Kaiser-Franz-Josefs-Bahn von Prag nach Wien einen ersten Anschluss an das europäische Eisenbahnnetz. Der daraus resultierende wirtschaftliche Aufschwung der von der Bahn bedienten Orte ließ in den abseits gelegenen Regionen rasch den Wunsch nach weiteren Bahnanschlüssen entstehen, die zum Teil als normalspurige Lokalbahnen verwirklicht wurden.
Mit Erlass des Niederösterreichischen Landeseisenbahngesetzes im Jahr 1895 wurde die staatlich geförderte Errichtung von Lokalbahnen wesentlich erleichtert. Auf Bestreben der ansässigen Glasindustrie wurde ein erstes Vorprojekt für eine Schmalspurbahn von Erdweis über Altnagelberg nach Litschau eingereicht, welches 1896 auf Gmünd als Ausgangspunkt abgeändert wurde. 1897 wurde das Projekt schließlich um die Abzweigung nach Heidenreichstein erweitert.
Im Juli 1899 wurde die „Niederösterreichische Waldviertelbahn AG“ gegründet, zu den Proponenten der Gesellschaft zählten die Glasindustriellenfamilie Stölzle. Mit der Betriebsführung der zu bauenden Bahnlinien wurden die Niederösterreichischen Landesbahnen beauftragt. Im April 1899 wurde mit dem Bau der nördlichen Strecken nach Litschau und Heidenreichstein begonnen. Bereits im Juni 1900 konnten die ersten Probefahrten stattfinden und am 4. Juli 1900 wurde der planmäßige Verkehr aufgenommen, als Triebfahrzeuge wurden Loks der Reihe U gewählt, die sich bereits auf der Pielachtalbahn der NÖLB bewährt hatten. Ein Jahr später wurde mit dem Bau der längsten und aufwändiger zu trassierenden Strecke südlich von Gmünd begonnen. Am 9. August 1902 fuhr der Eröffnungszug auf dem ersten Teilstück zwischen Gmünd und Bad Großpertholz. Die Fortsetzung nach Groß Gerungs, die abschnittsweise Gebirgsbahncharakter aufweist, ging im März 1903 in Betrieb. Hier kamen vorzugsweise die 1902 angeschafften Loks der Reihe Uv zum Einsatz, eine leistungsstärkere Weiterentwicklung der Reihe U mit Verbunddampfmaschine.
Damit erreichte das Schmalspurnetz im Waldviertel seine größte Ausdehnung, in der es auch heute noch vollständig befahrbar erhalten ist. Eine im Detail ausgearbeitete Verbindung von Litschau über Hörmanns und Griesbach nach Neubistritz (Nová Bystřice) zur Schmalspurbahn Neuhaus–Neubistritz, verzögerte sich aus finanziellen Gründen immer länger und kam nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr zustande. Aus denselben Gründen blieben auch Pläne, die Südstrecke von Groß Gerungs über Ottenschlag nach Krems oder über Arbesbach und Königswiesen nach Grein an der Donau zu verlängern, sowie eine Verbindung ab Langschlag mit dem Mühlviertel nach Freistadt erfolglos.
=== Die Landesbahnzeit ===
Die Waldviertler Schmalspurbahnen präsentierten sich von Anfang an als innovatives und effizient geführtes Verkehrsunternehmen. Der Güterverkehr wurde schon ab der Eröffnung mit Normalspur-Güterwagen auf Rollböcken abgewickelt, womit auch einem Wunsch der Glasindustrie nachgekommen wurde.Im Personenverkehr kamen ab 1904 Dampftriebwagen zum Einsatz. Der Verkehr entwickelte sich den Erwartungen entsprechend und brachte der Region den erhofften Anschluss an die wirtschaftliche Entwicklung dieser Zeit. Neben dem Holzreichtum der Region, der für stetiges Frachtaufkommen sorgte, konnte sich auch die lokale Textil- und Glasindustrie dank des neuen Transportmittels wieder als konkurrenzfähig behaupten.
Während des Ersten Weltkrieges wurden einzelne Fahrzeuge zum Einsatz auf den Schmalspurbahnen des Balkans eingezogen, die langfristigen politischen Folgen des Krieges bescherten dem Bahnbetrieb jedoch weitaus größere Probleme: Nach der im Vertrag von Saint-Germain festgelegten Grenzziehung wurde Gmünd geteilt, sämtliche Bahnanlagen und die ersten Kilometer der Nordstrecke befanden sich nun in der Tschechoslowakei, der tschechische Teil von Gmünd wurde in České Velenice umbenannt. Die Nutzung der Bahnanlagen wurde in einem Vertragswerk geregelt, bis 1922 wurde im Bereich der ehemaligen Haltestelle Gmünd Stadt ein neuer Bahnhof für Normal- und Schmalspurbahn errichtet, Heizhaus und Werkstätte verblieben noch jenseits der Grenze, auch fuhren die Züge nach Litschau und Heidenreichstein als Korridorzüge über tschechoslowakisches Territorium bis zur Station Gmünd Böhmzeil.
=== Übernahme in die Staatsbahn und Zweiter Weltkrieg ===
Am 1. Jänner 1921 wurden die Niederösterreichischen Landesbahnen aufgelöst, deren Strecken bzw. die Betriebsführung jener Strecken, die die NÖLB im Auftrag durchgeführt hatte, übernahmen die Österreichischen Bundesbahnen BBÖ. Nach dem „Anschluss“ 1938 erfolgte die Eingliederung der BBÖ in die Deutsche Reichsbahn, 1940 wurde die N.Ö. Waldviertelbahn AG aufgelöst. Während des Zweiten Weltkrieges gelangten einige Lokomotiven deutscher und tschechischer Herkunft nach Gmünd.
=== Entwicklung ab 1945 ===
Im Juli 1945 mussten die Bahnanlagen in České Velenice rasch geräumt werden, die Errichtung eines neuen Bahnhofes mit Heizhaus und Werkstätte in Gmünd hatte daher erste Priorität. 1946 wurde die bisherige Haltestelle „Gmünd Stadt“ in „Gmünd N.Ö.“ umbenannt. In den Jahren darauf war die Tschechoslowakei bestrebt, den Korridorverkehr zwischen Gmünd und Böhmzeil zu unterbinden, und finanzierte daher die Errichtung einer neuen, ausschließlich in Österreich gelegenen Trasse östlich der Lainsitz, die im Dezember 1950 dem Verkehr übergeben wurde.
Während die Schmalspurbahnen in der unmittelbaren Nachkriegszeit in ihrer Funktion als unverzichtbares Verkehrsmittel im Personen- und Güterverkehr nicht in Frage gestellt waren, war später ein mit der allgemeinen Motorisierung einsetzender Rückgang im Personenverkehr zu verzeichnen. Investitionen wurden, dem einsetzenden Trend zu Streckenstilllegungen folgend, nur in bescheidenem Maße getätigt. Bis 1964 wurde der Güterverkehr komplett auf Rollwagen umgestellt, der Personenverkehr zum Teil mit Diesellokomotiven der Reihen 2091 und 2190 geführt. Die Fahrzeiten zwischen Gmünd NÖ und dem Endpunkt betrugen dabei etwa 100 Minuten bis fast 2 Stunden. Des Weiteren wurde ein Exemplar der Reihe 2095 in Gmünd stationiert, damit konnte die Dampftraktion aber nicht wie auf den anderen ÖBB-Schmalspurbahnen ersetzt werden. Die ab den 1970er Jahren mit sechs Stück vollzählig im Waldviertel beheimateten Stütztenderlokomotiven der Reihe 399 waren bis Mitte der 1980er Jahre im schweren Güterverkehr unentbehrlich. Nach der Einstellung der Bregenzerwaldbahn zwischen 1980 und 1985 wurden einige 2095 nach Gmünd umstationiert, Dampflokomotiven waren dennoch weiterhin regelmäßig im Einsatz.
=== Entwicklung ab 1986 ===
Am 1. Juni 1986 wurde auf mehreren Nebenbahnen im Waldviertel der Personenverkehr eingestellt, so auch auf den Nordästen der Schmalspurbahn. Sinkendes Fahrgastpotenzial bedingt durch die Orientierung des Pendler- und Schülerverkehrs von Litschau und Heidenreichstein zur Bezirkshauptstadt Waidhofen a.d. Thaya ließ diese Entscheidung schon seit längerem erwarten, der Güterverkehr blieb vorerst in vollem Umfang erhalten.
Auf der Südstrecke hingegen wurde erstmals eine grundlegende Modernisierung des Betriebes vorgenommen. Zwei neu beschaffte Dieseltriebwagen der Reihe 5090 befuhren die Strecke fortan im sparsamen Einmannbetrieb, die Errichtung und Verlegung von Haltestellen sollte den Menschen in der Region Anreiz bieten, wieder verstärkt die Bahn als Verkehrsmittel in Betracht zu ziehen.
Nach Einstellung der Steyrtalbahn 1982 waren die Waldviertler Schmalspurbahnen der letzte Bahnbetrieb Österreichs, auf dem fahrplanmäßig Dampflokomotiven im alltäglichen Einsatz standen (ausgenommen der touristischen Zahnradbahnen). Auch nach der Modernisierung des Betriebes wurden an Samstagen, Sonn- und Feiertagen je zwei Zugpaare planmäßig mit Dampflokomotiven bespannt.
Diese Züge waren kein Nostalgie- oder Tourismusangebot, sondern reguläre Leistungen, die für jedermann zu den normalen Bahntarifen benutzbar waren und der Bahn auch außerhalb der Eisenbahnfreunde-Szene Bekanntheit verschafften. Ab 1996 wurden diese Züge als planmäßige Leistungen aufgegeben und in das Nostalgieprogramm der ÖBB zu einem Sondertarif aufgenommen, was sie aber für reguläre Fahrgäste praktisch unbrauchbar machte. In der Folge wurde das Programm auf ein Zugpaar mit einem langen Aufenthalt zu einem Stadtrundgang in Weitra gekürzt.
Auf den Nordästen fanden ab 1986 Sonderfahrten des Waldviertler Schmalspurbahnvereins (WSV) statt. Die Züge wurden bei den ÖBB bestellt, ebenso Lokführer, das restliche Personal kam vom Verein. Anfang Juni 1992 wurde der Güterverkehr auf der Strecke Alt-Nagelberg–Heidenreichstein eingestellt und die Strecke vom Verein übernommen, der nach Aufkündigung der Zusammenarbeit durch die ÖBB hier einen Museumsbahn-Betrieb mit eigenen Fahrzeugen etabliert hat.
=== Situation seit 2000 ===
Am 10. Jänner 2001 wurde der Gesamtverkehr zwischen Litschau und Gmünd eingestellt, nachdem am Tag zuvor die letzten Güterzüge Holzfracht aus Litschau abgeholt hatten. Die Einstellung des verbleibenden Personenverkehrs nach Groß Gerungs war zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossene Sache. Der Personenverkehr auf der Bergstrecke südlich von Steinbach-Groß Pertholz war trotz Modernisierung nicht zu einem wirtschaftlich befriedigenden Ergebnis zu bringen. Auch hier war längst eine Umorientierung der Verkehrsströme erfolgt, die größten Orte, Langschlag und Groß Gerungs, sind fast ausschließlich nach Zwettl orientiert. An einer Beibehaltung des Personenverkehrs zwischen Gmünd und Steinbach-Groß Pertholz bestand auch kein Interesse, vielmehr war man bestrebt, die beiden Triebwagen möglichst rasch zur Mariazellerbahn zu überstellen, um dort aufgetretene Triebfahrzeugengpässe zu beheben. Somit fuhr zum Sommer-Fahrplanwechsel 2001 auch der letzte reguläre Personenzug zwischen Gmünd und Groß Gerungs.
Die Einstellung des Planpersonenverkehrs nach Weitra und Groß Gerungs mit dem Fahrplanwechsel am 9. Juni 2001 stellte das Ende des regelmäßigen Schmalspurverkehrs dar. Beginnend ab dem 7. Juli 2001 stellte das Land Niederösterreich, vertreten durch die Landesverkehrsorganisationsgesellschaft NÖVOG, Geld für einen Tourismusverkehr auf der „Schmalen“ zur Verfügung. In weiterer Folge konnte durch die NÖVOG ein bis 2008 gültiges Übereinkommen mit dem Bundesministerium für Verkehr betreffend die Finanzierung der Gleisinfrastruktur der Schmalspurbahnen im Land Niederösterreich abgeschlossen werden.
Ab der Sommersaison 2002 wurden durch das Land NÖ auch einzelne Fahrten Gmünd–Litschau (mit Diesellok Rh. 2095) finanziert, bis 2004 größere Umgestaltungen eintraten: (1.) regelmäßige Züge Gmünd–Litschau–Groß Gerungs (mit Anschlussfahrten des WSV von Heidenreichstein nach Alt-Nagelberg und zurück) jeden Mittwoch in den Monaten Juni bis Anfang September und (2.) Verlängerung der Vereinsfahrten in den Bahnhof Alt-Nagelberg (bis Mitte Juni 2004 endeten WSV-Fahrten bei der Haltestelle „Herrenhaus“ ca. 400 Meter vom Bf. Alt-Nagelberg entfernt). Steigende Fahrgastzahlen in den Folgejahren rechtfertigten die Durchführung von Gleisbaumaßnahmen zwischen Lainsitzviadukt und Gopprechts.Im Winter werden Züge zum Advent nach Weitra, Nikolaus-, Christkindl- und Silvesterzüge (von Heidenreichstein) geführt. Als Triebfahrzeuge kommen seitens der ÖBB-Personenverkehr AG abwechselnd eine Dampflokomotive der Reihe 399 und Diesellokomotiven der Reihe 2095, seitens des WSV die Dampfloks 170.1 oder 100.13 bzw. die Dieselloks 2091.07 oder JW100.4 zum Einsatz. Zur Eröffnung der Saison 2006 wurde die 399.03 nach erfolgter Hauptuntersuchung in Meiningen nach Gmünd überstellt, 2007 wurde sie gegen die 399.01 der Pinzgauer Lokalbahn ausgetauscht.
Der Vorstand des WSV schloss 2001 ein Kooperationsabkommen mit den Jindřichohradecké místní dráhy (JHMD), mit dem eine grenzüberschreitende Verbindung zwischen den österreichischen und den tschechischen Schmalspurstrecken (Nová Bystřice–Jindřichův Hradec–Obrataň) über den Grenzübergang Grametten/Nová Bystřice ab 2002 vereinbart wurde. Zum Einsatz kam ein Oldtimer-Bus (Škoda 706 RTO, Bj. 1960) in den Monaten Juli und August an Samstagen. Die Aufwärtsentwicklung der Zahl der beförderten Personen wurde durch Kürzung der Fahrtmöglichkeiten aus Kostengründen unterbrochen. Seit der Saison 2006 finden daher keine grenzüberschreitenden Verbindungsfahrten mehr statt.
2008 wurde eine Verlängerung der Betriebsvereinbarung zwischen den ÖBB und dem Land Niederösterreich auf weitere fünf Jahre beschlossen.2010 wurde ein Grundsatzvereinbarung zwischen Land und Bund beschlossen, in der festgelegt wurde, dass unter anderem auch die Waldviertler Schmalspurbahnen im Dezember 2010 vom Land Niederösterreich übernommen werden. Nach Umsetzung des Vorhabens wurde die Bahn von der NÖVOG vorerst mit geleasten ÖBB-Mitarbeitern weiter betrieben und ausschließlich touristisch genutzt.Seit dem 1. Jänner 2012 wird die „Waldviertelbahn“, wie die Waldviertler Schmalspurbahnen von der NÖVOG nun bezeichnet werden, auf den Strecken Gmünd – Litschau und Gmünd – Groß Gerungs ausschließlich mit eigenem Personal betrieben. Die Strecke Alt Nagelberg – Heidenreichstein wird weiterhin vom Waldviertler Schmalspurbahnverein erhalten und betrieben.
Im Mai wurde der Dieseltriebwagen 5090.013 im neuen goldenen Farbdesign in Litschau der Öffentlichkeit präsentiert. Ende Juli 2012 wurde auch der goldene 5090.008 nach Gmünd überstellt. Somit stehen für die nunmehr täglichen Fahrten im Sommer neben den Diesellokomotiven 2095.05 und 2095.12 nach längerer Zeit wieder Dieseltriebwagen im Einsatz. Die reparaturbedürftige 399.01 wurde Anfang August 2012 nach Meiningen zur Revision überstellt und steht seit Mai 2013 gemeinsam mit ihrer Schwesterlok Mh.4 regelmäßig auf der Waldviertelbahn im Einsatz.
Der Neubau des separaten Schmalspur-Bahnhofes wurde im Mai 2014 eröffnet. Der 120 Meter lange Bahnhof umfasst eine Remise sowie ein Kundenzentrum und eine Werkstätte. Die Kosten sollen bei 8½ Millionen Euro gelegen haben.Entlang der Strecke verläuft der Waldviertlerbahn-Radweg.
== Streckenbeschreibung ==
=== Gmünd – Litschau (Nordast) ===
Beide Streckenäste verlassen den Bahnhof Gmünd zunächst in westlicher Richtung parallel verlaufend und wenden sich in starkem Gefälle der Lainsitz zu. Die Nordstrecke biegt in einem Rechtsbogen nach Norden ab und folgt zunächst auf der 1950 gebauten Trasse dem Gewässer und trifft unmittelbar am Grenzübergang Gmünd-Böhmzeil wieder auf den ursprünglichen Streckenverlauf. Der Bahnhof Gmünd-Böhmzeil war nach dem Bau der Bahn die dem Stadtzentrum nächstgelegene Eisenbahnstation. Zuerst durch offenes Ackerland, dann nach Querung der Lainsitz auf einer in Monier-Bauweise errichteten Brücke weiter bis zur ehemaligen Haltestelle Breitensee und durch ein Waldstück wird der Bahnhof Neu-Nagelberg erreicht. Dieser liegt wieder direkt an der Grenze in unmittelbarer Nachbarschaft zum gleichnamigen Grenzübergang der Bundesstraße. Weiter hinter dem Ort entlang und dem Gamsbach folgend, der hier zu einer Kette von Teichen aufgestaut ist, wird nach weiteren drei Kilometern der Bahnhof Alt-Nagelberg erreicht. In dieser größten Station an den Nordästen zweigt die Strecke nach Heidenreichstein ab, auch bestand hier bis in die 1980er Jahre ein Anschlussgleis zur heute geschlossenen Glashütte von Stölzle-Oberglas, die der größte Kunde im Güterverkehr der Schmalspurbahnen war.
Auf ca. zwei Kilometern verlaufen nun beide Streckenäste parallel westlich des Ortes. Diese Besonderheit wurde zu Zeiten des Planbetriebes von den Lokpersonalen gleichzeitig abfahrender Züge gerne und zur Freude der Fahrgäste zu einer Wettfahrt genutzt. Diese „Parallelausfahrt von Alt-Nagelberg“ wurde zu einer Art „Markenzeichen“ der Nordstrecken und nach Einstellung des Planverkehrs immer wieder bei Sonderfahrten inszeniert, auch die aktuellen Fahrpläne der Touristikzüge sind entsprechend abgestimmt. Nach der Verzweigung der Streckenäste kommt die Litschauer Linie in offenes Gelände, das bei einem Waldbrand im 17. Jahrhundert entstand. Die Haltestelle Brand des danach gegründeten Ortes hinter sich lassend, quert die Bahn einen flachen Höhenrücken, taucht in ein Waldstück ein und folgt zunächst dem Eichbach und ab der Haltestelle Gopprechts dem Reißbach. Auf den folgenden Kilometern stets zwischen Bach und Straße durch weitgehend unbewohnte Gegend führend, wechselt die Bahntrasse bei der ehemaligen Haltestelle Schönau bei Litschau auf die rechte Seite der Straße und wendet sich nach einem weiteren Kilometer in einem scharfen Rechtsbogen dem Bahnhof Litschau zu. Damit ist nach 25,3 km die nördlichste Stadt Österreichs und die Endstation dieser Strecke erreicht.
Bei der Anlage des Bahnhofes am südlichen Rand des Ortes wurde bereits die geplante Verlängerung ins tschechische Neubistritz berücksichtigt. Das Bahnhofsgebäude wird heute als Kulturzentrum genutzt (Kulturbahnhof Litschau), im Lokschuppen sind Fahrzeuge des Waldviertler Schmalspurbahnvereins hinterstellt.
=== Alt-Nagelberg – Heidenreichstein ===
Vom Bahnhof Alt-Nagelberg führt eine Abzweigung nach Heidenreichstein (rechtes Parallelgleis Richtung Norden). Ungefähr 400 m nach dem Bahnhof befand sich bis zum Umbau der Gleisanlagen im Bahnhof Alt Nagelberg die Haltestelle Herrenhaus, wo mittels eines kurzen Nebengleises die Züge der Museumsbahn umsetzen konnten, ohne in den Bahnhof einfahren zu müssen. An der Verzweigung biegt die Strecke in einem Rechtsbogen nach Osten ab und durchfährt auf den nächsten vier Kilometern dichten Wald, danach führt sie durch offenes, hügeliges Gelände. Hier befanden sich zur Zeit des Bundesbahnbetriebes mit den Haltestellen Langegg und Aalfang die einzigen Stationen an diesem Ast. Nach knapp 13 Kilometern Fahrt ist mit dem Bahnhof Heidenreichstein die Endstation erreicht. Dieser etwas oberhalb des Ortszentrums gelegene Bahnhof ist heute das betriebliche Zentrum der Museumsbahn, von wo aus Züge des Waldviertler Schmalspurbahnvereins (WSV) unterwegs sind. Der in den Jahren 2011 und 2012 baustellenbedingt eingeschränkte Zugsverkehr bis zum Bahnhof Aalfang wurde ab der Saison 2013 wieder bis nach Alt Nagelberg ausgedehnt, wo unter anderem mit den NÖVOG-Zügen regelmäßige Doppelausfahrten stattfinden. Als Besonderheit kommen auf dieser Zweigstrecke die historischen Diesellokomotiven 2091.09 (im optischen Zustand der 1970er Jahre) und 2041.02/s (originalgetreu im Auslieferungszustand) regelmäßig zum Einsatz.
=== Gmünd – Groß Gerungs (Südast) ===
Die zunächst parallel verlaufende Nordstrecke in einem Linksbogen hinter sich lassend, unterquert die Südstrecke in unmittelbarer Nähe eines Fußgänger- und Fahrrad-Grenzüberganges, der heute über die Lainsitzbrücke der ehemaligen Bahntrasse führt, den Bahndamm der Franz-Josefs-Bahn, rechts der Strecke sind die Reste der alten Streckenführung noch als Gleisdreieck zum sporadischen Wenden von Schmalspurfahrzeugen erhalten.
Die Strecke führt auf den ersten Kilometern durch offenes Ackerland in südwestlicher Richtung ins Tal der Lainsitz, mit der Haltestelle Ehrendorf noch einen Teil von Gmünd II und mit Dietmanns und Eichberg Katastralgemeinden der Gemeinde Großdietmanns erschließend. Nach einem scharfen Bogen nach Süden folgt der Bahnhof Alt Weitra der Gemeinde Unserfrau-Altweitra, einem lokalen Wallfahrtsort, der folgende Anstieg von ca. 50 Höhenmetern hinauf zum Bahnhof Weitra wird mittels einer Kehrschleife überwunden. Nach Weitra führt die Strecke über den Veitsgrabenviadukt, das größte Brückenbauwerk der Waldviertler Schmalspurbahnen, und kurz darauf über einen zweiten, kürzeren Viadukt, die Trasse verbleibt dabei am Hang oberhalb des Lainsitztales. Es folgen die Haltestellen Langfeld und Schöllbüchl, letztere erst 1986 eröffnet, und der Bahnhof St. Martin. Die Bahn verläuft nun auf dem Talgrund, direkt neben dem Bach, der in diesem Abschnitt mehrmals Überschwemmungen der Bahntrasse verursachte. Nach 24 Kilometern ist der Bahnhof Steinbach-Groß Pertholz erreicht.
Dampflokomotiven ergänzen hier ihre Wasservorräte, die Ausfahrt des Bahnhofes liegt bereits in der Steilrampe der Bergstrecke, die ob ihres Gebirgsbahncharakters und Steigungen bis zu 26 ‰ auch als „Waldviertler Semmering“ oder „Kleiner Semmering“ bezeichnet wird. Nach zwei Kilometern befindet sich die Haltestelle Abschlag, die Touristikzüge legen hier einen „Erlebnishalt“ zum Besuch des Fassldorfes, einer lokalen Touristenattraktion, ein. Die Strecke führt dann weiter durch dicht bewaldetes Gebiet in kurvenreicher Linienführung hinauf zum Scheitelpunkt der Bahn, der auf 806 m Seehöhe bei der alten Haltestelle Bruderndorf liegt. Die Haltestelle, zwischen den beiden Bruderndorfer Tunnel (den einzigen Tunnel des Waldviertels) weit abseits des gleichnamigen Dorfes gelegen, wurde an dieser Stelle vor allem wegen einer Quelle, die zur Ergänzung der Wasservorräte der Dampfloks genutzt wird, errichtet. Seit Filmaufnahmen („Schloß Gripsholm“) im Jahr 2000 trägt das Wartehäuschen den Namen „Mariefred“, was vor allem bei schwedischen Fahrgästen eine gewisse Begeisterung auslöst. Nach Fahrt durch den Tunnel und weiteren Kilometern mit Höchstneigung durch Wald, kommt die Bahn allmählich in offeneres Gelände, wo sich auch die 1986 neu errichtete, näher zum Ort gelegene Haltestelle Bruderndorf befand. Bei Streckenkilometer 33,7 quert die Bahn die Europäische Hauptwasserscheide und wendet sich dem Tal der Zwettl zu, kurz darauf ist der Bahnhof Langschlag erreicht.
Auf dem Ladegleis des Bahnhofes ist heute die Dampflok 298.206 als Denkmal aufgestellt, nachdem diese zuvor für viele Jahre neben der Kirche im Ort aufgestellt war. In einem Güterwaggon ist ein kleines Museum eingerichtet. Die Strecke führt ab hier neben der Zwettl durch den am Bach gelegenen Ortsteil und verläuft dann annähernd parallel zur Bundesstraße, jedoch kurvenreicher als diese, nach Osten. In diesem Abschnitt liegt die Haltestelle Harruck. Knapp einen Kilometer vor Groß Gerungs wurde 1986 die Haltestelle Heinreichs errichtet, die mangels Inanspruchnahme jedoch schon nach wenigen Jahren, noch zu Zeiten des Planbetriebes, aufgegeben wurde. Nach 43 Kilometern ist mit dem Kurort Groß Gerungs die Endstation dieses Streckenastes erreicht. So wie in Litschau wurde auch hier beim Bau des Bahnhofes bereits eine allfällige Verlängerung der Strecke berücksichtigt.
== Triebfahrzeuge ==
=== Dampflokomotiven ===
NOeLB U (ÖBB 298)
NOeLB Uv (ÖBB 298.2) Stand 2013: 298.206 Denkmallok Langschlag
NOeLB Mh bzw. Mv (ÖBB 399/299) Stand 2013: Mh.1, 399.02 (abgestellt) und 399.04 (abgestellt), Gmünd, NÖVOG
BBÖ P (ÖBB 199)
ÖBB 699
=== Diesellokomotiven ===
2091 Stand 2014: 2091.07, blutorange, Heidenreichstein, WSV, untauglich; 2091.09, blutorange, geänderter Vorbau, Heidenreichstein, WSV; 2041.02/s, tannengrün, Auslieferungszustand, Heidenreichstein, WSV
2092
2190 Stand 2013: 2190.02, rot/elfenbein, ohne Antrieb, Litschau, WSV in Aufarbeitung
2095 Stand 2013: 2095.05, rot/elfenbein, Flügelrad, Gmünd, NÖVOG; 2095.12, blutorange, Flügelrad, Gmünd, NÖVOG
=== Triebwagen ===
Komarek-Dampftriebwagen NÖLB 1–3 und NÖLB 40–44
5090 Stand 2014: 5090.08, gold, Gmünd, NÖVOG; 5090.13, gold, Gmünd, NÖVOG; 5090.11, rot/grau, Gmünd, NÖVOG
== Literatur ==
Markus Holzweber: Der Langschläger Eisenbahnpfarrer Dominik Eckl. In: Waldviertler Biographien 4, Horn 2015, S. 255–276 digital
Wolfdieter Hufnagl: Die Niederösterreichischen Landesbahnen. Verlag Transpress, ISBN 3-613-71214-8.
S. Langenecker: 75 Jahre Waldviertler Schmalspurbahnen. Gmünd – Litschau. Gmünd – Heidenreichstein. Festschrift anlässlich des Jubiläums 22. Juni 1975, Festkomitee, Gmünd 1975.
Werner Schiendl: Die Waldviertler Schmalspurbahn. Edition Bahn im Film, 2010, ISBN 978-3-9502250-9-9.
Walter Krobot, Josef Otto Slezak, Hans Sternhart: Schmalspurig durch Österreich. 4. Auflage, Verlag Slezak, 1991, ISBN 3-85416-095-X.
J(osef) A(nton) Spitzer: Anwendung der Betoneisenbauweise beim Baue von Eisenbahnbrücken. In: Der Bautechniker, Jahrgang 1901, Nr. 3/1901, 18. Jänner 1901 (XXI. Jahrgang), S. 43 und 45. (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/bau
Josef Otto Slezak, Hans Sternhart: Renaissance der Schmalspurbahn in Österreich. Verlag Slezak, 1986, ISBN 3-85416-097-6.
Markus Strässle: Schmalspurbahn-Aktivitäten in Österreich. Verlag Slezak, 1997, ISBN 3-85416-184-0.
== Weblinks ==
Waldviertelbahn
Waldviertler Schmalspurbahnen
Homepage des Waldviertler Schmalspurbahnvereins (Memento vom 1. Februar 2020 im Internet Archive)
Private Bilddokumentation der beiden Streckenäste
Homepage über die Waldviertler Schmalspurbahn
Sonderfahrt an den Waldviertler Schmalspurbahnen (Memento vom 9. Februar 2019 im Internet Archive)
Aktueller Fahrplan der ÖBB (Südast)
Aktueller Fahrplan der ÖBB (Nordast)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Waldviertler_Schmalspurbahnen
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Weltbühne-Prozess
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= Weltbühne-Prozess =
Der Weltbühne-Prozess (häufig auch Weltbühnenprozess) war eines der spektakulärsten Strafverfahren gegen militärkritische Presseorgane und Journalisten in der Weimarer Republik. In dem Prozess wurden der Herausgeber der Wochenzeitschrift Die Weltbühne, Carl von Ossietzky, sowie der Journalist Walter Kreiser wegen Landesverrats und Verrats militärischer Geheimnisse angeklagt und im November 1931 vom IV. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig zu je 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.
Wegen des brisanten Themas des heimlichen Aufbaus einer deutschen Luftwaffe und des mit Anklage und Urteil intendierten Angriffs auf die Pressefreiheit erregte der Prozess im In- und Ausland großes Aufsehen. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens vor bundesdeutschen Gerichten scheiterte 1992. Der Prozess gilt als Musterbeispiel politischer Justiz in der Weimarer Republik.
== Vorgeschichte ==
=== Vertrag von Versailles ===
Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte das Deutsche Reich mit dem Vertrag von Versailles in eine starke Beschränkung seiner militärischen Kräfte einwilligen müssen. Trotz der geleisteten Unterschrift versuchten Reichsregierung und Reichswehr systematisch, die Bestimmungen des Vertrages zu unterlaufen. Vor allem die in Artikel 163 festgelegte Begrenzung des deutschen Heeres auf eine Höchststärke von 100.000 Mann versuchten sie von Anfang an zu umgehen. So unterstützten einflussreiche Kreise der Reichsregierung und der Reichswehr insgeheim den Aufbau paramilitärischer Verbände und legten illegale Waffenlager an.
Diese paramilitärischen Verbände, die aus den Freikorps der unmittelbaren Nachkriegszeit hervorgegangen waren und auch als Schwarze Reichswehr bezeichnet wurden, bildeten einen ständigen Unsicherheitsfaktor der deutschen Innenpolitik. Sie formten zum Teil rechtsfreie Räume, in denen Gewaltdelikte gegen Andersdenkende und abtrünnige Mitglieder toleriert und begangen wurden.
Pazifistische und antimilitaristische Kreise in der Weimarer Republik sahen daher im Verhalten der Reichswehr eine Gefahr für den inneren Frieden sowie für die außenpolitische Konsolidierung des Deutschen Reiches. Verschiedene Publikationsorgane machten auf die Missstände aufmerksam. So führte eine Veröffentlichung der Weltbühne über die Fememorde in der Schwarzen Reichswehr schließlich zu mehreren Strafverfahren gegen die Täter. Die juristische Aufarbeitung dieser Delikte war aber von Beginn der Weimarer Republik an von einer extremen Parteinahme für die Täter erschwert. So räumte das Reichsgericht zu Gunsten der Fememörder ein, „daß es auch ein Notwehrrecht des einzelnen Staatsbürgers gegenüber rechtswidrigen Angriffen auf die Lebensinteressen des Staates gibt“ (Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 63, 215 (220)). Im Gegenzug wurden Pazifisten, die die illegalen Waffenlager verraten hatten, wegen Landesverrats zu 10 bis 15 Jahren Haft verurteilt.
=== Militärkritische Presse ===
Auch die Medien, die auf die Missstände aufmerksam machten, waren starken Repressionen ausgesetzt. Die Journalisten Berthold Jacob und Fritz Küster wurden beispielsweise 1928 wegen „publizistischen Landesverrats“ im „Ponton-Prozess“ verurteilt, weil sie das System der Zeitfreiwilligen aufgedeckt hatten. Diese Soldaten wurden kurzfristig zu militärischen Übungen herangezogen und tauchten in keiner Statistik auf. Das Reichsgericht kam in seinem Urteil gegen Jacob und Küster zu folgender Ansicht: Der Gedanke sei abzulehnen, „dass die Aufdeckung und Bekanntgabe gesetzwidriger Zustände dem Reichswohle niemals abträglich, nur förderlich sein könne, weil das Wohl des Staates in seiner Rechtsordnung festgelegt sei und sich in deren Durchführung verwirkliche“ (RGSt 62, 65 (67)). Darüber hinaus verlangte das Reichsgericht: „Dem eigenen Staat hat jeder Staatsbürger die Treue zu halten. Das Wohl des eigenen Staates wahrzunehmen, ist für ihn höchstes Gebot“. Aus dieser Perspektive verwundert es nicht, dass allein in den Jahren 1924 bis 1927 mehr als 1000 Personen wegen Landesverrats, Beleidigung der Reichswehr und ähnlicher Delikte verurteilt wurden. Wie sehr sich die Rechtslehre in dieser Frage mit der Politik identifizierte, zeigt eine Passage aus einer Abhandlung zum Landesverrat im deutschen Strafrecht:
Die Bestimmungen des Versailler Vertrages beschränkten jedoch nicht nur die Stärke des Heeres. Sie verboten in Artikel 198 auch ausdrücklich den Aufbau eigener Luftstreitkräfte. In pazifistischen Kreisen war jedoch bekannt, dass auch diese Bestimmung umgangen wurde. So monierte Berthold Jacob an der Rangliste des deutschen Reichsheeres eine fehlende Transparenz,
Zu den Journalisten, die sich besonders intensiv mit dem heimlichen Aufbau der deutschen Luftwaffe befassten, gehörte der Flugzeugkonstrukteur Walter Kreiser. In einem Brief vom August 1925 bezeichnete sich Kreiser als „einzige[n] in pazifistischen Kreisen, der genauen Einblick in die Fliegerei hat“. Daher hatte er bereits unter dem Pseudonym Konrad Widerhold sieben Beiträge zum Thema Luftfahrt in der Weltbühne veröffentlicht. Wegen der Mitarbeit an dem Werk Die deutsche Militärpolitik seit 1918 war bereits 1926 gegen ihn ein Verfahren wegen Landesverrats und Verrats militärischer Geheimnisse eingeleitet worden, das 1928 jedoch eingestellt wurde. Anfang 1929 bot Kreiser schließlich der Weltbühne einen neuen Artikel an, von dessen Veröffentlichung er sich eine große Resonanz versprach. Dies geht auch aus einem Brief Kreisers vom 4. März 1929 an Ossietzky hervor, der später vom Gericht belastend gegen die Angeklagten gewertet wurde. Darin hieß es:
=== Der inkriminierte Artikel ===
Vor dem geschilderten Hintergrund wundert es nicht, dass der unter dem Pseudonym Heinz Jäger am 12. März 1929 in der Weltbühne erschienene Artikel „Windiges aus der deutschen Luftfahrt“ das Missfallen der Reichswehr erregte. In dem umfangreichen, fünfeinhalbseitigen Artikel befasste sich Kreiser zunächst mit allgemeinen Fragen zur Situation der deutschen Luftfahrt, bevor er sich auf den letzten anderthalb Seiten schließlich den Verbindungen zwischen Reichswehr und Luftfahrtindustrie widmete. Aus diesem Abschnitt ging hervor, dass die Reichswehr offensichtlich unter Umgehung des Versailler Vertrages den heimlichen Aufbau einer Luftwaffe betrieb. Unter der Überschrift „Abteilung M“ schrieb Kreiser:
Im Manuskript soll außerdem gestanden haben, dass sich die Flugzeuge zeitweise in Russland befänden. Diese Passagen hatte Ossietzky vorsichtshalber gestrichen und sich auf die Andeutung beschränkt. Kreiser bezog sich mit seinen Äußerungen zum Teil auf das Protokoll der 312. Sitzung des Ausschusses für den Reichshaushalt vom 3. Februar 1928. Obwohl dieses Protokoll als Drucksache vorlag, startete der Oberreichsanwalt ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen den Landesverratsparagrafen des Reichsstrafgesetzbuches und gegen Paragraf 1, Absatz 2 des Gesetzes gegen den Verrat militärischer Geheimnisse (das sog. Spionagegesetz vom 3. Juni 1914, Reichsgesetzblatt, 195).
== Verfahren ==
Am 1. August 1929 wurde schließlich ein Strafantrag gestellt. In einem Schreiben vom 8. August 1929 teilte der Oberreichsanwalt dem preußischen Innenminister mit, dass eine Voruntersuchung wegen des inkriminierten Artikels eingeleitet worden sei. Zur Begründung hieß es, dass Ossietzky und Kreiser,
Im Zuge der Ermittlungen wurden die Redaktionsräume der Weltbühne sowie die Wohnung Ossietzkys durchsucht. Im August 1929 wurde Ossietzky außerdem zu dem Fall vernommen. Dass es anschließend nicht zur Verhandlung kam, wird den im Folgenden geschilderten politischen Implikationen zugeschrieben.
=== Politische Implikationen ===
Die Reichsregierung befand sich nach der Veröffentlichung des Artikels in einem Dilemma. Hätte sie den Artikel ignoriert oder lediglich dementiert, wäre sie Gefahr gelaufen, dass weitere Details aus den heimlichen Aufrüstungsbemühungen an die Öffentlichkeit gedrungen wären. Ein scharfes Vorgehen gegen Autor und Herausgeber kam jedoch dem Eingeständnis gleich, dass das Deutsche Reich tatsächlich die Bestimmungen von Versailles verletzte und heimlich eine Luftwaffe aufbaute. Die Interessen von Reichswehrministerium und Auswärtigem Amt kollidierten daher sehr stark.
Wie sich im weiteren Prozessverlauf zeigte, wurden die militärischen Interessen wichtiger eingeschätzt als der außenpolitische Schaden, der sich durch eine Verurteilung der Journalisten ergeben müsste. Die Auswertung von sowjetischen Archiven ergab, dass die Veröffentlichung des Artikels auch in Moskau wahrgenommen worden war.
Dem Reichswehrministerium musste sehr daran gelegen sein, die wichtige Militärkooperation mit der Sowjetunion nicht zu gefährden. Das Auswärtige Amt musste dagegen durch eine öffentliche Gerichtsverhandlung die Verhandlungsposition des Reiches bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen als bedroht betrachten. Wie wichtig das Amt den Prozess nahm, zeigt auch die Tatsache, dass die gesammelten Unterlagen mehrere Aktenbände in der Rechtsabteilung füllten. Dass sich der Prozessbeginn so lange verzögerte, wird dem Widerstand des Außenministeriums zugeschrieben, das bis Oktober 1929 noch von Gustav Stresemann geführt worden war. Dort sei mit Blick auf das erwähnte Reichstagsprotokoll die Frage aufgeworfen worden, ob die Angaben aus dem Artikel tatsächlich geheim gewesen seien.
Dennoch wurde das Verfahren nicht beendet. Im Frühjahr 1931 einigten sich die drei beteiligten Ministerien schließlich auf einen Kompromiss, um ein Gerichtsverfahren eröffnen zu können. Mehr als zwei Jahre nach Erscheinen des Artikels, am 30. März 1931, wurde Anklage erhoben.
=== Juristische Akteure ===
Aufseiten der Staatsanwaltschaft und des Reichsgerichts hatte es die Weltbühne mit Juristen zu tun, die bereits einschlägig Bekanntheit erlangt hatten. Reichsanwalt Paul Jorns, unter dessen Leitung die Anklage gegen Ossietzky erarbeitet wurde, war an den Ermittlungen zu den Morden an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg beteiligt und hatte dort Spuren verwischt. Der Vorsitzende des IV. Strafsenats, Alexander Baumgarten, hatte im Herbst 1930 den Ulmer Reichswehrprozess geleitet, bei dem Adolf Hitler seine „Legalitätserklärung“ abgegeben, aber auch angekündigt hatte, dass nach seinem Regierungsantritt „Köpfe rollen“ würden.Die Verteidigung der Angeklagten übernahmen die renommierten Anwälte Max Alsberg, Kurt Rosenfeld, Alfred Apfel und Rudolf Olden. Da die Verteidigung von einem erfolgreichen Ausgang des Prozesses überzeugt war, hatte von Ossietzky auch darauf verzichtet, einen Ablehnungsantrag gegen den IV. Strafsenat zu stellen. „Jahrelang hatte ich geschrieben, daß der IV. Strafsenat nicht das Recht der Deutschen Republik spricht, sondern durchaus die Gepflogenheiten eines Standgerichts angenommen hat“, begründete von Ossietzky sein Misstrauen gegen das Gericht.
=== Verhandlung ===
Die gesetzlichen Bestimmungen gemäß § 174Abs. 2 GVG verboten es der Weltbühne, detailliert über den Prozess zu berichten (und würden es selbst heute noch verbieten). Aus Gründen der Staatssicherheit war die Öffentlichkeit ohnehin von den Verhandlungen ausgeschlossen. Die Prozessbeteiligten waren außerdem zur Verschwiegenheit verpflichtet, was später auch die Urteilsbegründung betraf. Am 5. Mai 1931 erfuhren die Leser der Zeitschrift schließlich von dem Verfahren, das bereits seit zwei Jahren schwebte. Am 8. Mai 1931 sollte schließlich der Prozess beginnen.
Die Verhandlungen wurden sogleich wieder vertagt, weil kein Vertreter des Außenministeriums erschienen war. Die Verteidigung hatte darauf beharrt, dass neben dem Reichswehrministerium auch das Auswärtige Amt einen Sachverständigen entsenden sollte. Dieser sollte die Frage beantworten, ob der Artikel tatsächlich Angaben enthalten habe, die dem Ausland unbekannt gewesen seien. Das Außenministerium ließ den Gerichtstermin jedoch platzen und trug weiter schwere Bedenken, was die außenpolitische Wirkung des Verfahrens betraf. Daher weigerte es sich auch einen Monat später ein weiteres Mal, einen Gutachter nach Leipzig zu schicken. Am 9. Juli 1931 wandte sich der General und spätere Reichskanzler Kurt von Schleicher daher in einem Brief an Bernhard Wilhelm von Bülow, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, und rügte dessen Verzögerungstaktik. Schleicher sah in dem Prozess einen Präzedenzfall, um die „wirksamste Abwehr und die beste Vorbeugung gegen das Verrätertum“ durchzusetzen. Aus diesem Grund solle das Auswärtige Amt seine politischen Bedenken „zurücktreten lassen“ und ein Gutachten verfassen. Bülow antwortete wenige Tage später, dass sein Ministerium den „Kampf gegen das Verrätertum“ so gestalten wolle, „wie es die Interessen des Reiches, insbesondere […] der Landesverteidigung“ erfordern. Schließlich erstellte das Amt am 24. August 1931 ein schriftliches Gutachten, das während der Verhandlung verlesen wurde.
Die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit fand schließlich am 17. und 19. November 1931 statt. Als Zeugen der Anklage fungierten Major Himer vom Reichswehrministerium und Ministerialrat Wegerdt vom Verkehrsministerium. Sie bestätigten, dass die Angaben aus dem Artikel der Wahrheit entsprächen und im Interesse der Landesverteidigung hätten geheim gehalten werden müssen. Major Himer war der Überzeugung, dass der Artikel auch von ausländischen Nachrichtenstellen ausgewertet worden sei. Einen Beweis dafür konnte er jedoch nicht erbringen.
Das Gericht lehnte sämtliche 19 Zeugen der Verteidigung ab. Auch der zentrale Beweisantrag fand nicht das Gehör der Richter. Darin hatte die Verteidigung nachweisen wollen, dass die berichteten Aktivitäten dem Ausland schon lange bekannt waren. Ossietzky selbst argumentierte in eigener Sache, dass in dem Artikel nur Etatkritik hätte geübt werden sollen. Die Formulierungen in dem beanstandeten Abschnitt seien größtenteils auf ihn zurückzuführen und für das uninformierte Publikum auch kaum verständlich gewesen. Er habe damit den Zweck verfolgt, das Reichswehrministerium zu warnen, bevor aus der Angelegenheit ein öffentlicher Skandal würde.
=== Urteil ===
Der Prozess endete am 23. November mit der Verurteilung der beiden Angeklagten wegen „Verbrechen gegen den § 1 Absatz 2 des Gesetzes über Verrat militärischer Geheimnisse vom 3. Juni 1914“ zu der von der Staatsanwaltschaft geforderten Gefängnisstrafe in Höhe von 18 Monaten. Auch waren die betreffende Ausgabe der Weltbühne vom März 1929 „ebenso wie die zu ihrer Herstellung notwendigen Platten und Formen“ unbrauchbar zu machen. Die Urteilsbegründung wurde ebenfalls unter Ausschluss der Öffentlichkeit verlesen, „da die tatsächliche und rechtliche Würdigung des inkriminierten Artikels durch das Gericht naturgemäß nicht erfolgen konnte, ohne die in Rede stehenden geheimen Nachrichten zu erwägen und zu beleuchten“.
In seiner Begründung argumentierte das Gericht, dass die Angeklagten nach Angabe der Sachverständigen tatsächlich geheimzuhaltende Nachrichten verbreitet hätten. Der Begriff des Geheimseins sei in diesem Falle nur ein relativer. Es sei irrelevant, ob die genannten Aktivitäten innerhalb bestimmter Kreise bereits bekannt gewesen seien. Wie in dem Prozess gegen Küster und Jacob hob das Gericht darauf ab, dass der Staatsbürger seinem Land die Treue zu halten habe und nicht eigenmächtig die Verletzung internationaler Verträge anprangern dürfe. Dies sei nur möglich, indem innerstaatliche Organe in Anspruch genommen würden. Den erforderlichen Vorsatz begründete das Gericht damit, dass die Angeklagten Pazifisten gewesen seien. Dies rechtfertige den Schluss, dass sie antimilitärisch hätten wirken wollen. Woraus sich „zwanglos“ deren Wille ergäbe, etwas von der Militärverwaltung Geheimgehaltenes aufzudecken.
Dass die Verurteilung nicht aufgrund des Landesverratsparagrafen erfolgte, bedeutete nach Ansicht des Gerichts jedoch nicht, dass die Angeklagten nicht die entsprechenden Straftatbestände erfüllt hätten. Das Reichsgericht war vielmehr der Ansicht, dass der speziellere Straftatbestand des Spionagegesetzes den ebenfalls einschlägigen Landesverratsparagrafen des Strafgesetzbuches im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdränge. In der Urteilsbegründung hieß es dazu:
== Folgen des Urteils ==
=== Politische Reaktionen ===
Auf die Verurteilung reagierte von Ossietzky mit Sarkasmus. „Anderthalb Jahre Freiheitsstrafe? Es ist nicht so schlimm, denn es ist mit der Freiheit in Deutschland nicht weit her. Mählich verblassen die Unterschiede zwischen Eingesperrten und Nichteingesperrten.“ Das Urteil habe ihn nicht überrascht, auch wenn er den Ausgang des Prozesses nicht für denkbar gehalten habe:
Damit spielte Ossietzky darauf an, dass er nicht, wie von der Staatsanwaltschaft beantragt, auch wegen Landesverrats verurteilt wurde. In späteren Artikeln verzichtete Ossietzky darauf, diesen Unterschied zu betonen, sondern wählte eine Formulierung, die den Ausführungen des Reichsgerichts eher gerecht wurde:
Das Urteil erregte im In- und Ausland aus mehreren Gründen großes Aufsehen. Die Weltbühne veröffentlichte in den Ausgaben vom 1. Dezember und 15. Dezember 1931 zahlreiche ausländische Pressestimmen zu dem Prozess, deren Tenor in der folgenden Passage zum Ausdruck kommt:
Auch in Deutschland zeigten sich viele demokratische Politiker entsetzt. Reichstagspräsident Paul Löbe schrieb: „Ich habe selten ein Urteil als einen solchen Fehlschlag nicht nur in juristischer, sondern auch in politischer Hinsicht empfunden als dieses […] Meiner Kenntnis nach ist auch nichts geschrieben worden, was dem Ausland verborgen sein oder nützen konnte, so daß mir das Urteil vollkommen unverständlich erscheint.“
Verschiedene Organisationen versuchten nach dem Urteilsspruch zu verhindern, dass Ossietzky tatsächlich die Haftstrafe antreten musste. So sandte die SPD-Reichstagsfraktion eine Interpellation an die Reichsregierung und fragte an, ob diese nicht bereit sei, „alle Schritte zu tun, um die Vollstreckung dieses Urteil des Reichsgerichtes zu verhindern.“ Es gab Protestveranstaltungen und Unterschriftenaktionen der Deutschen Liga für Menschenrechte. Viele prominente Schriftsteller und Wissenschaftler wie Thomas Mann, Heinrich Mann, Arnold Zweig und Albert Einstein unterstützten ein Gnadengesuch an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, das in letzter Minute die Umsetzung des Urteils verhindern sollte. Doch das Justizministerium reichte das Gesuch erst gar nicht an Hindenburg weiter. So trat von Ossietzky schließlich am 10. Mai 1932 seine Haftstrafe im Gefängnis Berlin-Tegel an. Walter Kreiser hatte sich dagegen unmittelbar nach dem Urteil nach Frankreich abgesetzt und entzog sich damit der Haft. Ossietzky argumentierte stattdessen:
Aufgrund einer Weihnachtsamnestie für politische Häftlinge wurde Ossietzky am 22. Dezember 1932 nach 227 Tagen Haft vorzeitig entlassen.
=== Juristische Einschätzung ===
Der Prozess bedeutete sicherlich einen der schärfsten Angriffe von Reichswehr und Justiz gegen die kritische Presse in der Weimarer Republik. Außerdem war auf diese Weise dem Ausland deutlich geworden, dass Deutschland offensichtlich wichtige Punkte des Versailler Vertrages nicht mehr zu beachten beabsichtigte. Auch während seiner KZ-Haft sollte Ossietzky noch die Folgen der Verurteilung spüren. So wurde in der Auseinandersetzung um die Verleihung des Friedensnobelpreises häufig als Argument gegen den KZ-Häftling angeführt, dass er schließlich ein verurteilter Landesverräter sei.
Das Urteil wird von heutigen Juristen als wichtiger Schritt auf dem Weg zur NS-Justiz gesehen. Das Reichsgericht habe mit den Landesverratsprozessen eine eigene Rechtsordnung errichtet, die sich nicht an Gesetzen und Verfassung orientierte, sondern an unklaren Begriffen („Vaterlandsverrat“, „Treuepflicht des Bürgers“, „Staatswohl“).
Ossietzky räumte nach seiner Verurteilung ein, dass die Republik zumindest „das Dekorum des Rechtsverfahrens“ gewahrt habe. „Wenn im Dritten Reich erst einmal nach der Plattform von Boxheim regiert werden wird, dann werden Verräter wie Kreiser und ich ohne Aufhebens füsiliert“, schrieb er am 1. Dezember 1931 in der Weltbühne.
Während der so genannten Spiegel-Affäre wurden von der Presse Parallelen zum Weltbühne-Prozess gezogen. So veröffentlichte BGH-Senatspräsident Heinrich Jagusch unter dem Pseudonym „Judex“ den vielbeachteten Artikel „Droht ein neuer Ossietzky-Fall?“. Gegen Jagusch wurde daraufhin ein Disziplinarverfahren eröffnet, das erst im August 1967 auf Betreiben des damaligen Bundesjustizministers eingestellt wurde. Die Erinnerung an den Weltbühne-Prozess trug sicherlich dazu bei, dass die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik in diesem Fall einen ähnlich gelagerten Eingriff in die Pressefreiheit nicht hinnehmen wollte. Inzwischen wäre eine Veröffentlichung wie im Falle des Weltbühne-Textes ohnehin nicht mehr strafbar. Denn im Paragraf 93, Absatz 2 des StGB ist zum Begriff des Staatsgeheimnisses ergänzt:
Allerdings bleibt der Verrat solcher illegaler Staatsgeheimnisse „einer fremden Macht oder einem ihrer Mittelsmänner“ nach § 97a StGB strafbar. Kritikern zufolge besteht die Gefahr, dass dies auch auf Presseveröffentlichungen ausgedehnt werden könnte.
=== Wiederaufnahmeverfahren ===
In den 1980er Jahren versuchten deutsche Juristen, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Damit sollte das Urteil von 1931 revidiert werden. Rosalinde von Ossietzky-Palm, einziges Kind Carl von Ossietzkys, leitete als Antragsberechtigte am 1. März 1990 beim Berliner Kammergericht das Verfahren in die Wege. Als neue Beweismittel wurden die Gutachten zweier Sachverständiger vorgelegt, die zeigen sollten, dass die französische Armee bereits vor der Veröffentlichung des Textes über die Aktivitäten der Reichswehr informiert war. Außerdem hätten einige der beanstandeten „Geheimnisse“ nicht den Tatsachen entsprochen. Das Kammergericht erklärte eine Wiederaufnahme des Verfahrens für unzulässig. Die neuen Gutachten seien nicht als Tatsachen oder Beweismittel ausreichend, um von Ossietzky nach damaligem Recht freizusprechen. In der Begründung vom 11. Juli 1991 hieß es:
Der Bundesgerichtshof lehnte anschließend eine Beschwerde gegen die Entscheidung des Kammergerichtes ab. Er begründete dies in seinem Beschluss vom 3. Dezember 1992:
Der Bundesgerichtshof hat somit das Urteil das Reichsgerichts nicht im eigentlichen Sinne „bestätigt“, sondern lediglich entschieden, dass keine „neuen Tatsachen und Beweismittel“ im Sinne des § 359 StPO vorgelegt wurden, die einen Freispruch des Verstorbenen gemäß § 371 Abs. 1 StPO ermöglicht hätten.
Die Entscheidungen der beiden Gerichte wurden von Kritikern als Indiz dafür gewertet, dass sich die bundesdeutsche Justiz noch immer mit der Aufarbeitung der deutschen Rechtsgeschichte schwer tue. Die vom BGH bestätigte Auffassung des Kammergerichts, wonach „ein weiterer Sachverständiger als solcher grundsätzlich kein neues Beweismittel ist“, verstoße außerdem gegen die „einhellige Kommentarmeinung“ (Ivo Heiliger). Die Kritik am BGH geht damit in die Richtung, dass die neuen Gutachten schon in der Entscheidung über die Zulassung des Wiederaufnahmeverfahrens inhaltlich zu stark bewertet worden seien, anstatt diese Einschätzung dem Wiederaufnahmeverfahren selbst zu überlassen.
Nachdem Rosalinde von Ossietzky-Palm im Jahr 2000 verstorben ist, ist die Staatsanwaltschaft noch antragsberechtigt für ein erneutes Wiederaufnahmeverfahren. Daher fordern die Juristen Gerhard Jungfer und Ingo Müller:
== Literatur ==
=== Quellen ===
Die Weltbühne. Vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1918–1933. Athenäum Verlag, Königstein/Ts. 1978, ISBN 3-7610-9301-2.
Walter Bußmann u. a. (Hrsg.): Akten zur deutschen auswärtigen Politik. 1918–1945. Serie B. 1925–1933. Bd. 19. 16. Oktober 1931 bis 29. Februar 1932. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1983.
Auswärtiges Amt: Geheimakten der Alten Rechtsabteilung, Rechtssache: Strafverfahren wegen Landesverrat gegen Schriftleiter Carl von Ossietzky, Bände 1 und 2 (unveröffentlicht)
Auswärtiges Amt: Akten der Rechtsabteilung, Rechtssachen geheim, spec. Kreiser und Ossietzky, Bände 1–3 (unveröffentlicht)
Kammergericht Berlin 1. Strafsenat, Beschluss vom 11. Juli 1991, Az.: (1) 1 AR 356/90 (4/90), veröffentlicht in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW). Beck, München/ Frankfurt M 1991, S. 2505–2507. ISSN 0341-1915
BGH 3. Strafsenat, Beschluss vom 3. Dezember 1992, Az.: StB 6/92, veröffentlicht in: Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 39, S. 75–87.
Carl von Ossietzky: Sämtliche Schriften. Herausgegeben von Bärbel Boldt u. a. Band VII: Briefe und Lebensdokumente. Reinbek 1994.
=== Sekundärliteratur ===
==== Monographien ====
Bruno Frei: Carl von Ossietzky – eine politische Biographie. Das Arsenal, Berlin 1978, ISBN 3-921810-15-9.
Heinrich Hannover: Die Republik vor Gericht 1975–1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts. Aufbau-Taschenbuch-Verl., Berlin 2003, ISBN 3-7466-7032-2.
Ursula Madrasch-Groschopp: Die Weltbühne. Porträt einer Zeitschrift. Buchverlag Der Morgen, Berlin 1983, Bechtermünz im Weltbild Verlag, Augsburg 1999 (Nachdr.), ISBN 3-7610-8269-X.
Dieter Lang: Staat, Recht und Justiz im Kommentar der Zeitschrift „Die Weltbühne“. P. Lang, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-631-30376-9.
Elke Suhr: Carl von Ossietzky. Eine Biographie. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1988, ISBN 3-462-01885-X.
Hermann Vinke: Carl von Ossietzky. Dressler, Hamburg 1978, ISBN 3-7915-5007-1.
==== Aufsätze ====
Gerhard Jungfer, Ingo Müller: 70 Jahre Weltbühnen-Urteil. In: Neue Juristische Wochenschrift (NJW). Beck, München/Frankfurt M 2001, S. 3461–3465. ISSN 0341-1915
Ivo Heiliger (Pseudonym von Ingo Müller): Ein zweites Fehlurteil gegen Ossietzky. In: Kritische Justiz (KJ). Nomos, Baden-Baden 1991, S. 498–500. ISSN 0023-4834
Ivo Heiliger (Pseudonym von Ingo Müller): Windiges aus der deutschen Rechtsprechung. In: Kritische Justiz (KJ). Nomos, Baden-Baden 1993, S. 194–198. ISSN 0023-4834
Ingo Müller: Der berühmte Fall Ossietzky vom Jahr 1930 könnte sich jederzeit wiederholen … In: Recht Justiz Kritik, Festschrift für Richard Schmid, hrsg. von Hans-Ernst Bötcher. Nomos, Baden-Baden 1985, ISBN 3-7890-1092-8, S. 297–326.
Elke Suhr: „Zu den Hintergründen des ’Weltbühnen'-Prozesses.“ In: Allein mit dem Wort. Erich Mühsam, Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky. Schriftstellerprozesse in der Weimarer Republik. Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft. Heft 14, Lübeck 1997, ISBN 3-931079-17-1, S. 54–69.
Alfred Kantorowicz: Die Geächteten der Republik. in: Porträts. Deutsche Schicksale. Chronos, Berlin, 1947, S. 5–24.
== Einzelnachweise ==
== Weblinks ==
Gerd Kaiser: Windiges aus der deutschen Luftfahrt (II)
Die Bestimmungen des Versailler Vertrages zur Luftwaffe
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https://de.wikipedia.org/wiki/Weltb%C3%BChne-Prozess
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Weiße Rose Hamburg
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= Weiße Rose Hamburg =
Weiße Rose Hamburg ist die nach 1945 von der Forschung verwendete Bezeichnung für eine Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus in Hamburg. Die Beteiligten selbst haben sich nicht so genannt, zum größten Teil sahen sie sich auch nicht als Widerstandskämpfer. Unter dem Begriff werden mehrere Freundes- und Familienkreise zusammengefasst, die teilweise seit 1936 in Opposition zum Nationalsozialismus standen und ab 1942 in Anlehnung an die Aktionen der Weißen Rose in München und deren Fortsetzung gegen das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg agierten. Auch wenn viele der Mitglieder zur Elterngeneration gehörten, wird die Gruppe als Jugend- und Studentenopposition eingeordnet. Es gab vereinzelte persönliche Kontakte zu anderen Hamburger Widerstandsgruppen, ein Zusammenwirken kam nicht zustande. Zwischen 1943 und 1944 verhaftete die Gestapo mehr als 30 Personen aus diesem Umfeld und überstellte sie in Gefängnisse und Konzentrationslager. Acht Angehörige dieser Widerstandsgruppe wurden bis Kriegsende ermordet oder starben nach Misshandlungen.
== Überblick ==
Die Weiße Rose Hamburg bestand zum großen Teil aus Studenten und Intellektuellen, die aus einer humanistisch gebildeten Grundhaltung heraus das nationalsozialistische Regime ablehnten. Insbesondere 1943, nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst, übernahmen Angehörige der Weißen Rose Hamburg die Flugblätter der Münchner Gruppe, vervielfältigten sie und verbreiteten sie unter der Hand. Zentrale Persönlichkeiten waren die Medizinstudenten Margaretha Rothe und Albert Suhr, die Philosophiestudenten Heinz Kucharski, Reinhold Meyer und Karl Ludwig Schneider sowie die Buchhändlerin Hannelore Willbrandt. Besondere Rollen kamen der Medizinstudentin Traute Lafrenz und dem Chemiestudenten Hans Leipelt zu, die zunächst an der Universität Hamburg und später an der Universität München studierten, und von dort Informationen über den studentischen Widerstand in die Hamburger Gruppen einbrachten. Insgesamt handelte es sich um ungefähr 50 beteiligte Personen, zwischen denen ein Geflecht aus persönlichen und familiären Beziehungen in verschiedenen Generationen bestand. Es kannten einander jedoch nicht alle Beteiligten. Vom Sommer 1943 bis zum Januar 1944 wurden über dreißig der Gruppe zugerechnete Mitglieder verhaftet, neben den aktiven Widerständlern waren, vor allem in der älteren Generation, die Eltern und Freunde der jungen Menschen betroffen. Die Vorwürfe lauteten unter anderem Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung.
Während der Haft in Gefängnissen oder Konzentrationslagern wurden acht von ihnen ermordet oder starben an Misshandlungen. Im Dezember 1943 kamen die Chemikerin Katharina Leipelt und Januar 1944 die Hausfrau Elisabeth Lange unter ungeklärten Umständen im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel zu Tode, der Philologiestudent und Buchhändler Reinhold Meyer starb im November 1944 ebenfalls in Fuhlsbüttel, offiziell an den Folgen einer nicht behandelten Diphtherie. Der Chemiestudent Hans Leipelt wurde am 13. Oktober 1944 in München zum Tode verurteilt und am 29. Januar 1945 in München-Stadelheim hingerichtet. Die Medizinstudentin Margaretha Rothe starb am 15. April 1945 in einem Leipziger Krankenhaus an den Folgen einer TBC. Der Assistenzarzt Frederick Geussenhainer (manchmal auch Friedrich Geussenhainer genannt) verstarb im April oder Mai 1945 im KZ Mauthausen. Die Todesumstände sind nicht geklärt. Der Landgerichtsrat Kurt Ledien und die Hausfrau Margarete Mrosek wurden im April 1945 bei einem sogenannten Verbrechen der Endphase im KZ Neuengamme ohne Gerichtsurteil gehängt.
Ein Ermittlungsverfahren gegen die Gruppe führte im Januar 1945 zur Anklage von 24 Mitgliedern durch den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof. Die Prozesse fanden zwischen dem 17. und 20. April 1945 vor dem in Hamburg tagenden Volksgerichtshof statt, allerdings konnten nur sechs der Angeklagten vorgeführt werden, die anderen waren bereits aus dem Landgerichtsgefängnis Stendal beziehungsweise dem Zuchthaus St. Georgen in Bayreuth von alliierten Truppen befreit worden.
== Begriff ==
Die Mitglieder der Hamburger Widerstandskreise nannten sich selbst nicht Weiße Rose oder Weiße Rose Hamburg, der Name wurde erstmals 1948 in einem Bericht der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Hamburg verwendet. Die Historikerin Ursel Hochmuth übernahm in dem 1969 erschienenen Standardwerk Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand 1933–1945 die Bezeichnung Weiße Rose Hamburg. Im Zusammenhang mit der Münchner Gruppe wurden die Hamburger teilweise als Hamburger Zweig der Weißen Rose (Weiße Rose Stiftung), Hamburger Ableger der Weißen Rose (Günther Weisenborn) oder Der letzte Zweig der Weißen Rose (Heinrich Hamm) bezeichnet. Ursel Hochmuth führt dazu aus, dass das Bild vom Ableger teilweise zutrifft, „wenn man davon ausgeht, daß die Scholl-Gruppe […] starke Impulse in die norddeutsche Gruppe ausstrahlte; es läßt dagegen unberücksichtigt, daß der Hamburger Kreis älteren Ursprungs war und auch sein ganz eigenes Gesicht hatte.“
== Freundes- und Familienkreise ==
Die Jahreswende 1942/1943 gilt als Datum des aktiven Zusammenschlusses einiger Personen zu der später so genannten Widerstandsgruppe der Weißen Rose in Hamburg, um nach dem Vorbild der Münchner Studenten aktiv zu werden und in Norddeutschland Informationen sowie Flugblätter gegen das NS-Regime und den Krieg zu verbreiten. Es handelte sich dabei nicht um eine homogene Gruppe: Vielmehr kamen Verbindungen zwischen verschiedenen (Widerstands-)Kreisen zustande, die aus persönlichen und familiären Verflechtungen bestanden, teilweise schon seit längerer Zeit unabhängig voneinander gegen die nationalsozialistische Herrschaft opponierten, sich in einigen Fällen personell überschnitten und deren Beteiligte sich oftmals untereinander nicht kannten.
=== Lesekreis der Lichtwarkschüler ===
Viele Mitglieder der Weißen Rose Hamburg waren ehemalige Schüler der 1914 nach den Grundsätzen der Reformpädagogik gegründeten Lichtwarkschule in Winterhude, die sich als Kulturschule verstanden hatte und großen Wert auf die Erziehung der Schüler zur selbstbestimmten und verantwortlichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben legte. Ab 1933 wurde diese den nationalsozialistischen Ideen konträr gegenüberstehende Institution „gleichgeschaltet“, der Schulleiter entlassen und die Schule 1937 endgültig aufgelöst. Auch in den letzten Jahren ihres Bestehens vermittelte die Lichtwarkschule ihren Schülern eine humanistische Grundbildung, zu ihnen gehörten:
Margaretha Rothe, die die Lichtwarkschule vom November 1936 bis zu ihrer Schließung im März 1937 besuchte. Sie studierte ab 1939 Medizin und wurde zu einer zentralen Persönlichkeit in der Widerstandsgruppe.
Traute Lafrenz war ebenfalls bis 1937 Schülerin dieser Schule, gemeinsam mit Margaretha Rothe nahm sie das Medizinstudium auf, 1941 wechselte sie nach München und wurde zum Bindeglied zwischen den Hamburger und den Münchener Kreisen.
Heinz Kucharski gehörte dem gleichen Jahrgang an, er studierte ab 1939 Ethnologie und Orientalistik. Zwischen ihm und Margaretha Rothe entwickelte sich eine Liebesbeziehung, auch er übernahm eine zentrale Rolle in der Gruppe der Weißen Rose Hamburg.
Lotte Canepa war Mitschülerin von Rothe, Lafrenz und Kucharski und an den Treffen und Diskussionen der Widerstandsgruppe beteiligt.
Karl Ludwig Schneider besuchte die Lichtwarkschule ab 1935, ab dem Sommer 1940 studierte er Philosophie und wurde zu einem wichtigen Bindeglied zwischen den verschiedenen Widerstandskreisen.
Howard Beinhoff war ein weiterer Lichtwarkschüler, der sich später der Widerstandsgruppe anschloss.Die Studienrätin Erna Stahl war ab 1930 Lehrerin für Deutsch und Geschichte an der Lichtwarkschule. Sie begeisterte ihre Schüler für Literatur und Kunstgeschichte, vermittelte ein freiheitliches Denken insbesondere in kulturellen Fragen, und richtete Lese- und Musikkreise auch außerhalb der Schulzeiten ein. Im Frühjahr 1935 wurde Stahl strafversetzt, setzte jedoch über die Schulzeit hinaus die Gesprächsrunden mit ihren ehemaligen Schülern und deren interessierten Freunden fort. Nach dem Krieg berichteten die Beteiligten von dem prägenden Eindruck und dem „Geschenk für das Leben“, das Erna Stahl ihnen mit dieser Ausbildung gemacht hatte:
Einige der 1936 um die 17 Jahre alten Schüler, insbesondere Heinz Kucharski, Margaretha Rothe und Traute Lafrenz, trafen sich über den Lesekreis hinaus, diskutierten theoretische sowie tagespolitische Fragen und versuchten, an nicht von den Nationalsozialisten zensierte Informationen zu gelangen. So hörten sie zum Beispiel Radio Moskau oder den Deutschen Freiheitssender. Nach dem Abitur und dem abzuleistenden Reichsarbeitsdienst nahmen sie 1938/1939 ihr Studium an der Universität Hamburg auf. Dort trafen sie auf weitere, dem NS-Regime ebenfalls oppositionell gegenüberstehende Studenten, mit denen sie sich anfreundeten und später ihre Gesprächskreise fortsetzten. Traute Lafrenz lernte bereits während des Reichsarbeitsdienstes beim Erntehilfsdienst in Ostpommern den Münchener Studenten Alexander Schmorell kennen. Sie traf Schmorell zunächst an der Hamburger Universität wieder, wo er im Sommersemester 1939 für das Medizinstudium eingeschrieben war, später in München. Über ihn lernte sie Hans Scholl kennen.
=== Freundeskreis der Familie Leipelt ===
Der Diplom-Ingenieur Konrad Leipelt, die promovierte Chemikerin Katharina Leipelt und deren Kinder Hans und Maria Leipelt siedelten Mitte der 1920er Jahre von Wien nach Harburg-Rönneburg über, nachdem Konrad Leipelt die Stelle als Hüttendirektor der Zinnwerke Wilhelmsburg angenommen hatte. Durch die jüdische Herkunft Katharina Leipelts unterlag die Familie ab 1935 den Repressionen der Nürnberger Rassegesetze. Sie verließ die ländliche Gegend und zog 1936 in das Wilhelmsburger Reiherstiegviertel um. Mit dem „Anschluss Österreichs“ an das Deutsche Reich im März 1938 wurde der in Wien lebende jüdische Teil der Familie Opfer nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen. Katharina Leipelts Bruder nahm sich am 12. März 1938 das Leben, ihre Eltern flüchteten nach Brünn, wo auch der Vater starb. Konrad Leipelt reiste nach Österreich und holte seine Schwiegermutter Hermine Baron in das Haus der Familie nach Wilhelmsburg.
Hans Leipelt machte im Frühjahr 1938 sein Abitur. Nach seiner Teilnahme am Reichsarbeitsdienst wurde er zur Wehrmacht einberufen und war zunächst im Frontdienst in Polen und 1940 in Frankreich eingesetzt. Trotz mehrfacher Auszeichnungen wurde Hans Leipelt im August 1940 als „Halbjude“ aus der Wehrmacht entlassen. Durch die Vermittlung seines Vaters konnte er sich zunächst an der Universität Hamburg im Fachbereich Chemie immatrikulieren, obwohl auch hier die Zulassung für so genannte „Jüdische Mischlinge“ seit dem 5. Januar 1940 verboten war. Maria Leipelt besuchte bis 1940 die Elise-Averdieck-Hochschule, wurde dann als „Halbjüdin“ der Schule verwiesen. Sie kam anschließend an der Höheren Handelsschule unter.
Im Hause Leipelt in der Kirchenallee in Wilhelmsburg, heute Mannesallee, verkehrte ein generations- und religionsübergreifender Freundeskreis, der insbesondere Menschen umfasste, die aus persönlicher Betroffenheit in Opposition zum NS-Regime standen. Man traf sich sowohl zu Geselligkeiten wie zu politischen Gesprächen oder zum Informationsaustausch. Zu dem Kreis gehörten:
Rosa Harter, eine langjährige Freundin von Katharina Leipelt aus Rönneburger Zeiten, ihre beiden Brüder waren als Widerstandskämpfer in Konzentrationslagern inhaftiert.
Das Ehepaar Elisabeth Lange und Alexander Lange, auch diese Bekanntschaft bestand seit den 1920er Jahren.
Hanna Marquardt war eine weitere Freundin des Hauses. Ihr Mann, Otto Marquardt, gehörte der KPD an und organisierte sich in der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe, 1944 wurde er verhaftet und im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet.
Heinz Marquardt war der Sohn von Hanna und Otto Marquardt, er war eng befreundet mit Hans Leipelt und wurde mit ihm zusammen 1939 zum Frontdienst eingezogen. Er fiel im September 1939 in Polen.
Dorothea (Dorle) Zill war Musikstudentin und ebenfalls mit Hans Leipelt befreundet. Über diese Freundschaft kam der Kontakt zwischen den Eltern Emmy und Johannes Zill und den Eltern Leipelt zustande.
Margarete Mrosek wiederum war eine Freundin der Familie Zill und wie Katharina Leipelt jüdischer Abstammung. Über die gemeinsamen Probleme kam es zu einer engeren Beziehung zwischen den beiden Frauen.
Ilse Ledien war eine Freundin Maria Leipelts, sie lernten sich an der Höheren Handelsschule kennen und teilten das Schicksal als sogenannte „Halbjüdinnen“.
Kurt Ledien, der Vater von Ilse Ledien, befreundete sich ebenfalls über den Kontakt zwischen den Kindern mit der Familie Leipelt, auch er lebte in sogenannter privilegierter Mischehe.
Adolf Wriggers, Maler und als Mitglied der KPD mehrfach verhaftet, war ein weiterer Freund der Familie Leipelt.Am 19. Juli 1942 wurde die Großmutter von Hans Leipelt, Hermine Baron, mit einem der ersten Transporte aus Hamburg in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Sie starb dort am 22. Januar 1943. Konrad Leipelt erlitt im September 1942 überraschend einen tödlichen Herzinfarkt. Damit war die als jüdisch geltende Familie ihres letzten Schutzes beraubt.
=== Candidates of humanity ===
Auch um die Familie von Rudolf Degkwitz, Ordinarius für Kinderheilkunde an der Universität Hamburg und Chefarzt der Kinderklinik im Universitäts-Krankenhaus Eppendorf (UKE), bildete sich bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ein Kreis, der in zunehmender Opposition gegenüber dem NS-Regime stand. Degkwitz lehnte öffentlich die Reglementierung der Wissenschaft und die Kulturfeindlichkeit der NS-Machthaber ab, engagierte sich gegen Antisemitismus und Judenverfolgung und wandte sich gegen die Kindereuthanasie. Seine Söhne Hermann, Richard und Rudolf jun. bestärkte er in ihrer Ablehnung des Nationalsozialismus, alle drei standen spätestens ab 1943 in Kontakt zur Weißen Rose. An der Universität unterstützte Rudolf Degkwitz die Haltung der widerständigen Studenten. Im UKE schützte er oppositionell eingestellte Ärzte, wie die Gruppe junger Assistenzärzte und Medizinstudenten aus verschiedenen Abteilungen, die sich ab 1941 als candidates of humanity zusammentaten. Den Namen gaben sie sich als Ausdruck des Protestes und in bewusster Abgrenzung zur Deutschtümelei. Man sprach Englisch, unter anderem, um sich vor Denunzianten zu schützen. Zu ihnen gehörten:
Ursula de Boor, Assistenzärztin und Mitarbeiterin von Rudolf Degkwitz sen. an der Kinderklinik im UKE;
Rudolf Degkwitz (junior), Medizinstudent, zugleich Gründer des Musenkabinetts;
Eva von Dumreicher-Heiligtag, Assistenzärztin;
John Gluck, Assistenzarzt in der Chirurgie;
Heinz Lord, ebenfalls Assistenzarzt in der Chirurgie, er stand im Weiteren der Hamburger Swingjugend nahe;
Frederick Geussenhainer, Medizinstudent, überzeugter Katholik und Anhänger des Bischofs von Galen, schloss sich 1942 dem Kreis an;
Albert Suhr, Medizinstudent und eine zentrale Persönlichkeit in den verschiedenen Kreisen, die die Weiße Rose Hamburg bildeten.Rudolf Degkwitz senior wurde am 22. September 1943 verhaftet und am 24. Februar 1944 von dem Volksgerichtshof in Berlin wegen Wehrkraftzersetzung zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Sein Verfahren wurde nicht in den Zusammenhang mit den Aktivitäten der verschiedenen Widerstandskreise der Weißen Rose in Hamburg gestellt. Das verhältnismäßig milde Urteil durch den berüchtigten Strafrichter Roland Freisler begründete dieser mit Degkwitz Verdiensten in der Forschung: „Nur weil er allein durch seine Masernprophylaxe 40 000 deutschen Kindern das Leben gerettet hat, […] wird er nicht mit dem Tod bestraft.“
=== Musenkabinett ===
Im Juni 1940 gründeten die Studenten Hermann Degkwitz und Willi Renner das sogenannte Musenkabinett, einen generationsübergreifenden Gesprächskreis, der den Teilnehmern eine Zuflucht aus der amusischen Wirklichkeit des „Dritten Reichs“ bot. Der Gesprächskreis setzte sich aus Intellektuellen, Schauspielern, Schriftstellern, Künstlern und Studenten zusammen, die sich insbesondere über moderne Malerei, Musik und Literatur austauschten. Als Mentoren galten der Universitätsprofessor Albrecht Renner, der Baudirektor Jackstein, der Reformpädagoge Wilhelm Flitner und der Schriftsteller Egon Vietta. Zu den regelmäßigen Teilnehmern der jüngeren Generation zählten die Schauspielschüler Harald Benesch, Isot Kilian, Günther Mackenthum, Angelika Krogmann und Wolfgang Borchert sowie die Studenten Regine Renner, Jürgen Bierich und Andreas Flitner.
Der Kreis war eine öffentlich bekannte Gesprächsrunde, auch wenn auf manchen Treffen über verbotene Kunst, Musik oder Literatur debattiert wurde. Er gab sich einen offiziellen Anstrich durch die Organisation von Veranstaltungen in Streits Hotel am Jungfernstieg in Hamburg. Die Gründer planten zunächst, den Kreis als Verein eintragen zu lassen, doch wurde dieses Vorhaben verworfen, da man sich dann der Hitlerjugend (HJ) hätte anschließen müssen. Die Treffen fanden meist in Privathäusern statt; bevorzugte Orte waren die Häuser Degkwitz oder Flitner, aber auch das Haus der NSDAP nahestehenden Familie Reemtsma. Ein literarisches Treffen mit einer Lesung von Texten von Thomas Wolfe fand sogar bei dem nationalsozialistischen Hamburger Bürgermeister Vincent Krogmann am Harvestehuder Weg statt.Innerhalb des Musenkabinettes entwickelte sich ein Flügel, der einen konkreten Widerstand gegen das NS-Regime anstrebte und der später der Gruppe der Weißen Rose Hamburg zugerechnet wurde. Dazu gehörten:
Hermann Degkwitz, Kunststudent, Sohn von Rudolf Degkwitz senior und Gründer des Musenkabinetts;
Willi Renner, Medizinstudent und Gründer des Musenkabinetts;
Rudolf Degkwitz junior, Medizinstudent, der sich auch in der Gruppe der candidate of humanity engagierte, ebenfalls Sohn von Rudolf Degkwitz senior;
Richard Degkwitz, ein weiterer Sohn von Rudolf Degkwitz, ebenfalls Medizinstudent und Mitglied der candidates of humanity;
Apelles Sobeczko, Maler;
Reinhold Meyer, Philosophiestudent und Buchhändler, der 1942 Juniorchef der Agentur des Rauhen Hauses wurde und eine zentrale Rolle innerhalb der Widerstandsgruppe einnahm;
Albert Suhr war ein Freund Reinhold Meyers, mit dem er gemeinsam die Schule besucht und Abitur gemacht hatte. Als Medizinstudent war Suhr zudem bei den candidates of humanity engagiert;
Hannelore Willbrandt, Buchhändlerin in der Buchhandlung Kloss, sie führte die Gruppen um Heinz Kucharski und Albert Suhr zusammen;
Felix Jud, Eigentümer der Hamburger Bücherstube Felix Jud & Co. an den Colonnaden und erklärter Gegner des NS-Staates; seine Buchhandlung war ein beliebter Treffpunkt verschiedener Widerstandskreise, neben der Weißen Rose trafen sich dort auch insbesondere Mitglieder der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe.
=== Swingjugend ===
Einige der jüngeren Mitglieder, insbesondere der candidates of humanity wie Heinz Lord, kamen über ihre Vorliebe für Jazz in Kontakt mit der Hamburger Swingjugend. Diese verstand sich nicht als widerständig, die Jugendlichen waren weder organisiert noch standen sie in politischer Opposition zum Nationalsozialismus. Doch durch ihre Unangepasstheit, die sich vor allem in der Kleidung und im Auftreten darstellte, wurden sie von der Gestapo als politisch gefährlich eingestuft und waren ab 1941 zunehmend der Verfolgung ausgesetzt.
Die Einbeziehung in den Widerstand der Weißen Rose einiger weniger dieser Jugendlichen entstand über die persönliche Verbindung zwischen Hans Leipelt und seinen ehemaligen Nachhilfeschüler Bruno Himpkamp, der den Swingboys angehörte, sowie dessen Freunde Thorsten Müller und Gerd Spitzbarth.
== Entwicklung des Widerstands ==
Die Motivation zum Widerstand gegen das NS-Regime entstand bei allen Beteiligten der Weißen Rose Hamburg weitgehend aus ihren kulturellen Interessen, die den herrschenden Reglementierungen entgegenstanden, sowie einer humanistischen Grundeinstellung. Einige Beteiligte, wie Katharina Leipelt, Kurt Ledien und Margarethe Mrosek, wurden wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt. Frederick Geussenhainer, Reinhold Meyer und andere waren gläubige Christen. Margaretha Rothe, Heinz Kucharski und Hans Leipelt setzten sich mit sozialistischen Theorien auseinander. Sie trafen sich in verschiedenen Konstellationen und Zusammenhängen, um Informationen auszutauschen und zu diskutieren. Insbesondere die jüngere Generation suchte nach Möglichkeiten, den Faschismus aktiv zu bekämpfen.
=== Vernetzung der einzelnen Kreise ===
Hans Leipelt und der ehemalige Lichtwarkschüler Karl Ludwig Schneider lernten sich im Juni 1940 während des Westfeldzuges in Frankreich kennen, als Schneider durch einen Granatsplitter leicht verletzt wurde und Leipelt ihm zu Hilfe kam. Zwischen den jungen Männern entstand eine enge Freundschaft, während der beide weiter ihre Gegnerschaft zum Nationalsozialismus entwickelten. Zurückgekehrt nach Hamburg – Leipelt war im August 1940 als „Halbjude“ aus der Wehrmacht entlassen worden, Schneider wurde vom Wehrdienst beurlaubt – nahmen sie ihr Studium auf, Leipelt im Fachbereich Chemie, Schneider in Philosophie.
An der Universität lernte Hans Leipelt im Verlauf des Jahres 1940 die ehemaligen Klassenkameraden Schneiders, Heinz Kucharski und Margaretha Rothe kennen. Es entwickelte sich ein Zirkel, in dem vor allem marxistische Schriften ausgetauscht und diskutiert sowie Nachrichten aus dem Ausland weitergegeben wurden. Neben ihren theoretischen Debatten, zum Beispiel um Thomas Manns Rede zur Aberkennung seiner Doktorwürde, deren Text ihnen Erna Stahl hatte zukommen lassen, wurden sie auch praktisch aktiv. So stellten sie mit den Typen eines Kinderdruckkastens Streuzettel und Stempelaufdrucke mit der Angabe von Sendezeiten und Wellenlängen sogenannter Feindsender her. Ab 1940 kam es zu regelmäßigen Kontakten mit den Schriftstellern Louis Satow und Theo Hambroer, beide Anhänger der freireligiösen Bewegung. Ein beliebter Treffpunkt in dieser Zeit war die Hamburger Bücherstube Felix Jud & Co. an den Colonnaden, dessen Inhaber Felix Jud „verbotene Bücher zu normalen Ladenpreisen an vertrauenswürdige Personen“ verkaufte.Ab dem Sommer 1940 war Karl Ludwig Schneider zudem gern gesehener Gast bei den Leipelts, er lernte die Familie seines Freundes kennen und schätzen. Er hatte teil an den zahlreichen Problemen und Schicksalsschlägen, denen die Familie durch die nationalsozialistische Verfolgung ausgesetzt war. Diese Erfahrungen steigerten seine ablehnende Haltung gegenüber dem Regime, so dass er sich im Freundeskreis für einen verstärkten Widerstand einsetzte. Auch sein Schulfreund Howard Beinhoff verkehrte seit 1940 im Hause Leipelt, zudem schloss er Bekanntschaft mit der Musikstudentin Dorothea Zill, einer Freundin von Hans Leipelt. Zeitweise trafen sich die jungen Leute auch in der elterlichen Wohnung von Dorothea Zill im Stadtteil Eilbek in der Conventstraße 6.
Da sich die Studienbedingungen für Hans Leipelt in Hamburg weiterhin verschlechterten, wechselte er mit Beginn des Wintersemesters 1940/41 an die Universität München in das Institut von Professor Heinrich Wieland, der aufgrund seiner Position „Halbjuden“ das Studium ermöglichte. Auch in München fand Leipelt Freunde, die sich im Widerstand gegen das NS-Regime organisierten; so lernte er unter anderem Marie Luise Jahn kennen, mit der ihn bald eine Liebesbeziehung verband. Einen direkten Kontakt zu der Weißen Rose um die Geschwister Scholl hatte Hans Leipelt nicht.Auch Traute Lafrenz wechselte 1941 an die Universität München, setzte dort ihr Medizinstudium fort und lernte über den ihr schon bekannten Alexander Schmorell Hans Scholl und dessen Familie kennen. Sie war in den folgenden zwei Jahren vor allem mit inhaltlichen Diskussionsbeiträgen an der Entwicklung der Weißen Rose beteiligt.Im Sommer 1942 lernte die Buchhändlerin Hannelore Willbrandt in der Buchhandlung Conrad Kloss die Studenten Margaretha Rothe und Heinz Kucharski kennen. Nachdem sie im Februar 1943 auch den Medizinstudenten Albert Suhr – ebenfalls als Kunden – kennengelernt hatte, machte sie die drei miteinander bekannt. Suhr war wiederum seit seiner Schulzeit mit Reinhold Meyer befreundet, der in diesem Sommer in der Buchhandlung seines Vaters, der Agentur des Rauhen Hauses, die Position des Juniorchefs übernommen hatte. Diese drei nahmen seit 1940 an den Veranstaltungen des Musenkabinetts teil und suchten nach Wegen der aktiven Bekämpfung des Nationalsozialismus. Suhr war zudem Mitglied der candidates of humanity an der Eppendorfer Universitätsklinik und mit dem jungen Assistenzarzt Frederick Geussenhainer befreundet. So entwickelten sich über Albert Suhr vielfältige Kontakte einzelner Mitglieder der verschiedenen Gruppen.
=== „Ihr Geist lebt trotzdem weiter“ ===
Im Herbst 1942 brachte Traute Lafrenz ihren Freunden nach Hamburg das dritte Flugblatt der Weißen Rose aus München. Der Aufruf zum passiven Widerstand wurde diskutiert und fand weitgehend Anklang. Insbesondere Margaretha Rothe, Heinz Kucharski, Hannelore Willbrandt, Albert Suhr und Reinhold Meyer kamen überein, sich fortan regelmäßig zu treffen und nach Möglichkeiten zu suchen, gegen das NS-Regime Widerstand zu leisten. Sie schrieben das Flugblatt mehrfach ab, ergänzten es mit dem Gedicht Erich Kästners Ihr und die Dummheit zieht in Viererreihen und gaben es an Freunde und Bekannte weiter. Weitere Treffen fanden im Hause Leipelt statt, besonders erwähnt wird die dortige Silvesterfeier 1942/1943, während der satirische Vorträge und polemische Aufführungen improvisiert wurden. Vermutlich gelangten sowohl über Hans Leipelt als auch über Traute Lafrenz weitere Flugblätter nach Hamburg.
Nach der Verhaftung und Hinrichtung von Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst im Februar 1943 sowie weiteren Festnahmen wurde auch Traute Lafrenz im März 1943 verhaftet und im zweiten Prozess gegen die Weiße Rose in München zu einem Jahr Haft verurteilt. Hans Leipelt und Marie Luise Jahn verstärkten daraufhin ihre Widerstandsaktivitäten. Im April 1943 brachten sie zu einem längeren Aufenthalt in Hamburg sowohl Informationen über die Ereignisse in München wie auch das sechste und letzte Flugblatt der Weißen Rose mit. Dieses Flugblatt wurde mit der Aufschrift Ihr Geist lebt trotzdem weiter versehen und zunächst von Hans Leipelt, Marie Luise Jahn, Karl Ludwig Schneider, Dorothea Zill sowie Maria Leipelt vervielfältigt und weitergereicht. Auch Albert Suhr und Hannelore Willbrandt beteiligten sich an der Vervielfältigung und Weiterverbreitung des Flugblatts. Zudem stellten sie Flugschriften mit dem Aufruf von Thomas Mann Nachruf auf einen Henker Deutsche Hörer! und Gedichten von Bertolt Brecht (u. a. Der Witwenschleier) her. Schließlich verfasste Hans Leipelt ein eigenes Flugblatt im satirischen Stil, das mit Fragebogen im IV. Reich überschrieben war. Hans Leipelt und Marie Luise Jahn engagierten sich darüber hinaus mit einer Geldsammlung für die in finanzielle Not geratene Witwe des in München hingerichteten Professors Kurt Huber.
Die Kreise intensivierten ihre Aktivitäten und die Kellerräume der Agentur zum Rauhen Haus am Jungfernstieg wurden zum festen Treffpunkt. Doch auch andere Räumlichkeiten, wie zum Beispiel das ebenfalls am Jungfernstieg gelegene Atelier des Malers Adolf Wriggers, nutzten die Mitglieder der Widerstandsbewegung für Zusammenkünfte und Feiern. Themen waren der Widerstand der Scholl-Gruppe, das Bild eines idealen Staates, Probleme des Marxismus, der Philosophie, Kunst und Literatur. Im Sommersemester 1943 hielt Professor Flitner an der Universität Hamburg ein Anthropologisches Colloquium ab, in dem kaum verdeckt Kritik am NS-Staat geübt wurde. Das Oberseminar besuchten unter anderem Reinhold Meyer, Heinz Kucharski, Karl Ludwig Schneider, Margaretha Rothe und Albert Suhr.
=== Inhaltliche Diskussionen und Ziele ===
Da keine eigenen schriftlichen Zeugnisse überliefert sind, ist die konkrete politische Zielsetzung der Weißen Rose Hamburg schwer fassbar. Die Forschung bezieht sich daher sowohl auf Berichte von Beteiligten nach 1945 als auch auf die Aufzeichnungen der nationalsozialistischen Justiz in den Ermittlungsakten und Anklageschriften. Diskussionsgrundlagen innerhalb der Gruppen waren u. a. Thomas Manns Rede zur Aberkennung seiner Doktorwürde und verbotene, nach Deutschland illegal eingeschleuste Bücher wie Ernest Hemingways: Wem die Stunde schlägt, Hermann Rauschnings: Revolution des Nihilismus und Magnus Hirschfelds: Sittengeschichte des Weltkrieges.Gemeinsam war allen Beteiligten eine humanistische Grundhaltung und die Ablehnung des NS-Regimes sowie des Kriegs, die meisten hielten eine militärische Niederlage für notwendig, um politische Änderungen herbeizuführen. Sie traten vor allem für die Freiheit der Meinung, der Presse, von Forschung und Lehre, der Kunst und der Kultur ein und waren gegen die Militarisierung, den Antikommunismus und den Antisemitismus und die „Herrenvolk-Ideologie“.
Hermann Degkwitz berichtete von der Position im Musenkabinett, dass deutsche Antifaschisten keine neue Dolchstoßlegende schaffen und darum nicht selbst zum Sturz des Hitler-Regimes beitragen dürften, die bedingungslose Kapitulation sei der einzige Ausweg. Kucharski, Leipelt und insbesondere die Jüngeren vertraten hingegen die Ansicht, dass die Deutschen selbst alles zur schnellen Beendigung des Krieges und der NS-Gräuel unternehmen müssten. Die Flugblätter aus München fanden breite Zustimmung, riefen aber auch ausgiebige Diskussionen hervor. Alle waren von der Moral und den Handlungen der Weißen Rose beeindruckt, doch gab es Meinungsverschiedenheiten über die praktischen Konsequenzen, von der Herausgabe von Flugblättern bis zu Sabotageaktionen.
Als Ziel nach der Zerschlagung des NS-Regimes sah die Mehrheit eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie. Kucharski, Leipelt und Rothe, von denen bekannt ist, dass sie mit dem Kommunismus sympathisierten und Werke von Lenin und Marx aus der Buchhandlung Felix Jud erstanden, setzten sich für eine sozialistische Volksrepublik ein.
=== Radikalisierung ===
Im April/Mai 1943 kam über die Verbreitung von Flugblättern hinaus die Idee auf, aktiven Widerstand zu leisten. Bei einem Treffen zwischen Hans Leipelt und Bruno Himpkamp berichtete Letzterer von den Ideen der Swingboys, eine aufsehenerregende Protestaktion durchzuführen. So überlegte man, einen Demonstrationsmarsch über den Jungfernstieg zu veranstalten oder gar die Hamburger Gestapo-Zentrale im Stadthaus zu sprengen. Auch Kucharski, Rothe und Leipelt führten Diskussionen über Widerstandsaktivitäten. So wurde die Lahmlegung einer kriegswichtigen Anlage erörtert, wie zum Beispiel die Zerstörung der Lombardsbrücke und der benachbarten Bahnverbindung, die den militärischen Nachschub erheblich beeinträchtigt hätte. Die Überlegungen sollen so weit gegangen sein, dass Hans Leipelt vorschlug, über einen Münchner Chemiestudenten Nitroglyzerin zu besorgen. Reinhold Meyer lehnte dieses Vorhaben aufgrund seines Glaubens ab, da er die Anwendung revolutionärer Gewalt nicht mit seinem christlichen Glauben vereinbaren konnte. Karl Ludwig Schneider war eher aus pragmatischen Gründen gegen das „Unternehmen Lombardsbrückensprengung“. Schneider ging davon aus, dass ein aktiver Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime nur in Kooperation mit antifaschistischen Offizieren Erfolg haben konnte; zudem stünde der mögliche Effekt in keinem Verhältnis zur Gefahr für die Ausführenden. Die Idee kam deshalb über die Planung nicht hinaus.
== Gestapo-Spitzel Maurice Sachs ==
Im Sommer 1943 nahm der in Hamburg lebende französische Schriftsteller Maurice Sachs, geboren unter dem Namen Maurice Ettinghausen, Kontakt mit der Gruppe in der Agentur des Rauhen Hauses auf. Sachs war ehemaliger Sekretär von André Gide und ein Freund Jean Cocteaus. Er galt als Randerscheinung des literarischen, künstlerischen und gesellschaftlichen Pariser Lebens der 1930er Jahre. Nach der Besetzung Frankreichs meldete er sich freiwillig als „Fremdarbeiter“ nach Deutschland, arbeitete bis April 1943 als Kranführer auf der Deutschen Werft und wurde dann als Agent „G 117“ für eine Entlohnung von 80 Reichsmark wöchentlich von der Hamburger Gestapo in Dienst genommen. Er stellte sich den jungen Menschen als Zwangsarbeiter, Jude und Schriftsteller vor und konnte so ihr Vertrauen gewinnen, da sie ihm einerseits behilflich sein wollten und andererseits hofften, über ihn in Kontakt zur französischen Résistance zu gelangen.Auch nach der Verhaftung der Mitglieder der Weißen Rose war Sachs weiterhin als Spitzel tätig. Er wurde am 16. November 1943 in das Polizeigefängnis Fuhlsbüttel eingeliefert und dort mit mehreren Gefangenen zusammengebracht. Da ihnen seine Spitzeltätigkeit nicht bekannt war, gingen sie davon aus, dass er wie sie inhaftiert war. So gelangten Informationen aus Gesprächen zwischen ihm und Heinz Kucharski und Albert Suhr, mit dem er sich sechs Wochen in einer Zelle befand, an die Gestapo und in die Gerichtsakten. Bei John Gluck handelte er als Agent Provocateur, indem er ihn angeblich bei einem Fluchtversuch aus dem KZ Fuhlsbüttel unterstützte und zugleich an die Gestapo verriet. Nach der Evakuierung von Fuhlsbüttel wurde Maurice Sachs während des sogenannten Todesmarsches nach Hassee erschossen.
== Zerschlagung der Widerstandsgruppe ==
Im Mai und Juli 1943 setzten in Hamburg die ersten Verhaftungswellen gegen die Widerstandsgruppen der Weißen Rose ein, bis Januar 1944 wurden von den etwa fünfzig Mitgliedern über dreißig festgenommen.
=== Festnahmen ===
Bereits seit 1942 kam es zu wiederholten Massenverhaftungen von Swingboys, die durch ihre Unangepasstheit zunehmend staatlichen Repressionen ausgesetzt waren. In diesem Zusammenhang wurden im Mai 1943 auch Bruno Himpkamp, Gert Spitzbarth und Thorsten Müller verhaftet und zunächst in Schutzhaft genommen. Ihre Zugehörigkeit zur Widerstandsgruppe um die Weiße Rose wurde im Verlauf des Ermittlungsverfahrens festgestellt.Ab Sommer 1943 wurde die Organisation der candidates of humanity am Universitätskrankenhaus Eppendorf zerschlagen. Auch in diese Gruppe war mit der Gestapo-Agentin Yvonne Glass-Dufour ein Spitzel eingeschleust worden. Sie trat als „Widerstandskämpferin pazifistischer Gesinnung“ auf und hatte sich ab dem Frühjahr 1943 bei den jungen Medizinern Vertrauen erworben. Im Juli 1943 wurden Frederick Geussenhainer, John Gluck und Heinz Lord inhaftiert; Albert Suhr wurde am 13. September 1943 verhaftet.
Hans Leipelts Festnahme erfolgte am 8. Oktober 1943 in München, wenige Tage später kamen auch Marie Luise Jahn und weitere Studenten sowie Bekannte aus ihrem süddeutschen Umfeld in Haft. Der Fall wurde als Anschlusssache im Hochverratsverfahren gegen Scholl, Huber und andere dem Volksgerichtshof übergeben. Die Ermittlungsbehörden stellten die Verbindung von Hans Leipelt nach Hamburg fest. Nach einem Amtshilfeersuchen der Münchner Gestapo-Leitstelle folgten Verhaftungen von Mitgliedern der Hamburger Widerstandsgruppe. Am 9. November 1943 wurden Heinz Kucharski, Margaretha Rothe und Maria Leipelt, die Schwester Hans Leipelts, festgenommen. Karl Ludwig Schneider hatte sich ab dem 1. Oktober 1943 an der Universität Freiburg eingeschrieben, wurde am 12. November 1943 dort verhaftet und am 20. November 1943 nach Hamburg überführt.
Im Dezember 1943 erfolgte eine Verhaftungswelle gegen Familienangehörige und Nahestehende, so kamen am 3. Dezember 1943 Hildegard Heinrichs, die Mutter Heinz Kucharskis, am 4. Dezember die ehemalige Lehrerin von Erna Stahl sowie der mit Kucharski befreundete Wilhelm Stoldt und am 7. Dezember Katharina Leipelt, die Mutter Hans Leipelts, in Haft. In den folgenden Dezembertagen wurde auch der weitere Freundeskreis der Familie Leipelt inhaftiert: Rosa Harter, Alexander Lange, Elisabeth Lange, Margarete Mrosek, Emmy und Johannes Zill und Ilse Ledien.
Ihr Vater, Kurt Ledien, hatte sich im September 1943 aufgrund antijüdischer Verordnungen zu einem Zwangsarbeitseinsatz beim Bunkerbau in Berlin einfinden müssen; er wurde dort Ende November festgenommen, zunächst in der Polizeistation des Jüdischen Krankenhauses in Berlin untergebracht und am 29. Februar 1944 nach Fuhlsbüttel verlegt.
Am 18. Dezember 1943 spürte die Gestapo Rudolf Degkwitz junior, Felix Jud und Hannelore Willbrandt, am 19. Dezember Reinhold Meyer und am 20. Dezember Ursula de Boor, auf. Als Letzte dieser Gruppe wurde Dorothea Zill am 8. Januar 1944 festgenommen.
Traute Lafrenz war bereits am 15. März 1943 in München verhaftet und im Prozess Schmorell, Huber, Graf u. a. zu einem Jahr Haft verurteilt worden. Durch ihre Verbindung zu der Hamburger Gruppe erfolgte kurz nach ihrer Entlassung am 14. März 1944 die erneute Festnahme Ende März 1944 in München. Auch sie wurde nach Hamburg in das Polizeigefängnis Fuhlsbüttel überführt.Rosa Harter und Alexander Lange wurden Ende 1944 aus der Haft entlassen. Kurzzeitig in Haft waren auch die Assistenzärztin Eva Heiligtag von Oktober bis Dezember 1943 und Bertha Schmitz, die Großmutter Heinz Kucharskis, im Dezember 1943.
=== Tod in der Haft ===
Die Verhafteten waren zunächst im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel inhaftiert, wegen dessen Überbelegung zwischen Dezember 1943 und Januar 1944 teilweise auch in der Jugendarrestanstalt in Hamburg-Bergedorf. Die polizeilichen Voruntersuchungen führten der Kriminalsekretär Hans Reinhard und der Kriminalrat Paul Stawitzki. Überlebende berichteten übereinstimmend, dass sie nicht nur einem enormen psychischen Druck ausgesetzt waren, sondern „eine Reihe der Verhafteten, besonders die jüngeren Männer, auch geschlagen, ausgepeitscht und auf andere Weise mißhandelt wurden.“Kaethe Leipelt starb am 9. Dezember 1943, zwei Tage nach ihrer Verhaftung, im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel. Ältere Quellen besagen, sie habe sich in der Nacht vom 8. zum 9. Januar 1944 in ihrer Zelle erhängt, um dem angekündigten Transport in das KZ Auschwitz zu entgehen. Elisabeth Lange wurde am 29. Januar 1944 tot in ihrer Zelle aufgefunden, auch sie soll Suizid verübt haben.
Am 6. Juni 1944 wurde eine Reihe von Gefangenen wegen der Überfüllung des Polizeigefängnisses und anstehender Umbauarbeiten als Polizeihäftlinge in das KZ Neuengamme überstellt. Darunter befanden sich Reinhold Meyer, Felix Jud, Karl Ludwig Schneider, Wilhelm Stoldt, Albert Suhr, Bruno Himpkamp, Frederick Geussenhainer, John Gluck und Heinz Lord. Am 16. Oktober 1944 erfolgte die Rückführung nach Fuhlsbüttel, doch Geussenhainer, Gluck und Lord verblieben als Schutzhäftlinge in Neuengamme. Zehn Tage später wurden Jud, Schneider, Stoldt, Suhr und Himpkamp in das Untersuchungsgefängnis gebracht, da sie nach dem Abschluss der Ermittlungen der Reichsjustiz übergeben werden sollten. Nur Reinhold Meyer blieb aus dieser Gruppe im Polizeigefängnis zurück, gegen ihn war keine Anklage erhoben worden und er machte sich Hoffnungen auf seine baldige Entlassung. Doch am 12. November 1944 starb er in Fuhlsbüttel, als Todesursache wurde Diphtherie angegeben. Die Familie Meyers bezweifelte die Darstellung, Mitgefangene berichteten, Reinhold Meyer sei nach einem Verhör in seiner Zelle gestorben.
=== Verfahren, Anklagen und Prozesse ===
Gegen 24 Mitglieder der Gruppe wurde nach der Voruntersuchung, die im Sommer 1944 im Wesentlichen abgeschlossen war, das Verfahren eröffnet. Am 6. November 1944 erfolgte die Abgabe der Akten an den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof, der im Januar 1945 Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat und weiterer Vergehen erhob. Als Haupttäter waren Heinz Kucharski, Karl Ludwig Schneider, Gerd Spitzbarth, Bruno Himpkamp, Margaretha Rothe und die Studienrätin Erna Stahl angeklagt. Weitere Angeklagte waren Albert Suhr, Hannelore Willbrandt und Traute Lafrenz, Rudolf Degkwitz und Ursula de Boor von den candidates of humanity, der Buchhändler Felix Jud, der Glaser Wilhelm Stoldt, Maria Leipelt und ihre Freundin Ilse Ledien, Dorothea Zill und deren Eltern Johannes und Emmy Zill, Hildegard Heinrichs, die Mutter, und Bertha Schmitz, die Großmutter von Heinz Kucharski. Die 78-jährige Bertha Schmitz befand sich nicht in Haft, ebenso waren die weiteren Mitangeklagten Riko Graepel, ein Freund von Hans Leipelt, Wolrad Metterhausen und Alexander Lange nach ihrer Verhaftung wieder entlassen worden. Die 24. Person auf der Anklageschrift war Elisabeth Lange, die Ehefrau von Alexander Lange, die bereits im Januar 1944 im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel zu Tode gekommen war. Thorsten Müller von den Swingboys wurde später nachträglich in die Anklage aufgenommen.Die Häftlinge, die vor Gericht gestellt werden sollten, wurden der Justiz übergeben und am 26. Oktober 1944 zunächst in das Untersuchungsgefängnis Holstenglacis gebracht. Im November 1944 wurden sechs der angeklagten Männer in das Landgerichtsgefängnis Stendal und neun der Frauen in das Gefängnis Cottbus überstellt. Ab Februar 1945, nachdem die Rote Armee die deutsche Grenze überschritten hatte, wurden aus Cottbus 340 Gefangene in das Frauengefängnis Leipzig-Meusdorf transportiert. Die Bedingungen des Transports wurden als unmenschlich bezeichnet, da die Gefangenen bei großer Kälte unzureichend verpflegt und bekleidet waren. Margaretha Rothe, die in Cottbus leicht erkrankt war, kam am 10. Februar 1945 völlig entkräftet in Leipzig an, sie wurde am 18. Februar wegen einer Lungen- und Rippenfellentzündung in das Gefängnis-Lazarett eingeliefert und am 16. März in das Städtische Krankenhaus St. Jakob in Leipzig-Dösen mit der Diagnose einer Lungentuberkulose verlegt. Sie starb dort am 15. April 1945.Die anderen Frauen wurden am 19. Februar weiter in das Zuchthaus St. Georgen in Bayreuth transportiert, von der Hamburger Widerstandsgruppe befanden sich unter ihnen Erna Stahl, Hannelore Willbrandt, Traute Lafrenz, Ursula de Boor, Maria Leipelt, Dorothea Zill, Emmy Zill und Hildegard Heinrichs. Am 14. April 1945 wurden sie von amerikanischen Truppen befreit. Albert Suhr, Bruno Himpkamp, Gerd Spitzbarth, Karl Ludwig Schneider, Wilhelm Stoldt und Johannes Zill waren am 12. April 1945 in Stendal befreit worden.
==== Prozess und Todesurteil gegen Hans Leipelt ====
Der Prozess gegen Hans Leipelt fand im Oktober 1944 vor dem II. Senat des Volksgerichtshofs in Donauwörth statt, er wurde am 13. Oktober 1944 wegen bolschewistischer Propaganda, Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung erfolgte am 29. Januar 1945 in München-Stadelheim. Hans Leipelt wurde auf dem Friedhof am Perlacher Forst beigesetzt.
==== Volksgerichtshof in Hamburg im April 1945 ====
Die Verfahren gegen die Weiße Rose in Hamburg wurden im Februar 1945 eröffnet und in vier Prozessen vom 17. bis 20. April 1945 vor dem in Hamburg tagenden Volksgerichtshof durchgeführt, obwohl die meisten Angeklagten bereits in Stendal und Bayreuth von alliierten Truppen befreit worden waren.
Der erste Prozess gegen Heinz Kucharski, Margaretha Rothe, Erna Stahl, Rudolf Degkwitz jun. und Hildegard Heinrichs fand am 17. April 1945 statt. Vorgeführt wurden Heinz Kucharski, gegen den ein Todesurteil erging, und Rudolf Degkwitz, dessen Urteil auf ein Jahr Gefängnis lautete. Margaretha Rothe war bereits seit zwei Tagen tot, Erna Stahl und Hildegard Heinrichs waren am 14. April 1945 von amerikanischen Truppen aus dem Zuchthaus St. Georgen Bayreuth befreit worden. Heinz Kucharski wurde nach der Urteilsverkündung zunächst zurück in das Untersuchungsgefängnis gebracht und in der Nacht vom 20. auf den 21. April zur Exekution zum Zuchthaus Bützow-Dreibergen transportiert. Bei Grevesmühlen wurde der Zug von englischen Tieffliegern angegriffen, Kucharski konnte in der allgemeinen Panik entkommen und sich zur Roten Armee flüchten.
Im zweiten Prozess wurde am 19. April 1945 gegen Albert Suhr, Hannelore Wilbrandt, Ursula de Boor, Wilhelm Stoldt und Felix Jud verhandelt. Nur Felix Jud wurde vorgeführt und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Albert Suhr und Wilhelm Stoldt waren am 12. April 1945 durch die US-Armee aus dem Landgerichtsgefängnis Stendal, Ursula de Boor und Hannelore Wilbrandt am 14. April 1945 von amerikanischen Truppen aus dem Zuchthaus St. Georgen Bayreuth befreit worden.
Im dritten Prozess, ebenfalls am 19. April 1945, gegen Bruno Himpkamp, Gerd Spitzbarth und Thorsten Müller, bei dem nur Thorsten Müller anwesend war, wurde die Hauptverhandlung ausgesetzt. Bruno Himpkamp und Gerd Spitzbarth waren bereits am 12. April 1945 durch amerikanische Truppen aus dem Landgerichtsgefängnis Stendal befreit worden.
Der vierte und letzte Prozess gegen Karl Schneider, Maria Leipelt, Dorothea Zill, Emmy Zill, Ilse Ledien und Riko Graepel fand am 20. April 1945 statt. Die beiden anwesenden Angeklagten, Ilse Ledien und Riko Graepel, wurden freigesprochen. Karl Schneider war am 12. April 1945 durch amerikanische Truppen in Stendal, Maria Leipelt, Dorothea und Emmy Zill am 14. April 1945 von amerikanischen Truppen in Bayreuth befreit worden.
Die Verfahren gegen die letzten fünf Angeklagten, Johannes Zill, Traute Lafrenz, Alexander Lange, Wolrad Metterhausen und Bertha Schmitz kamen nicht mehr zur Verhandlung.
=== Schutzhaft ohne Gerichtsverfahren ===
Nicht zur Anklage führten die Ermittlungsverfahren gegen Frederick Geussenhainer, Heinz Lord und John Gluck, die dennoch nicht aus der Haft entlassen, sondern im Sommer 1944 im KZ Neuengamme als Schutzhäftlinge der SS übergeben wurden, sowie gegen Margarete Mrosek und Kurt Ledien, die zunächst im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel verblieben. Geussenhainer und Gluck wurden am 7. November 1944 mit einem von Neuengamme abgehenden Transport in das KZ Mauthausen gebracht. Von Frederick Geussenhainer ist bekannt, dass er ab dem 13. Dezember 1944 dem Kommando Gusen, einem Außenlager des KZs und ab dem 3. April 1945 dem Kommando Amstetten, einem weiteren Außenkommando, unterstellt war. Er starb vermutlich im April 1945 oder aber nach der Befreiung im KZ Mauthausen, also nach dem 5. Mai 1945. John Gluck erlebte schwer krank die Befreiung des KZ Mauthausen und starb am 6. Juli 1952 in Johannesburg (Südafrika) an den Haftfolgen.Margarete Mrosek und Kurt Ledien, beide von den Nationalsozialisten als „Halbjuden“ bezeichnet, blieben weiterhin in Schutzhaft. Anfang 1945 wurden ihre Namen von dem mit den Ermittlungen gegen die Weiße Rose betrauten Gestapobeamten Paul Stawitzki auf eine sogenannte „Liquidationskartei“ gesetzt, die insgesamt 71 Gefangene hauptsächlich aus dem Hamburger Widerstand enthielt. Dabei handelte es sich um Personen, gegen die keine Verfahren eröffnet worden waren, die aber dennoch von der Gestapo als gefährlich eingestuft und als „nicht tragbare Elemente“ bezeichnet wurden. Diese 71, unter ihnen Margarete Mrosek und Kurt Ledien, wurden im April 1945 von Fuhlsbüttel in das KZ Neuengamme gebracht und im dortigen Arrestbunker zwischen dem 21. und 23. April 1945 erhängt. Diese Gräueltat wird auch als Verbrechen der Endphase im KZ Neuengamme bezeichnet.
Heinz Lord überlebte sowohl die Schutzhaft als auch die Cap-Arcona-Katastrophe nach der Evakuierung des KZ Neuengamme im April 1945. Er wanderte in den 1950er Jahren mit seiner Familie in die USA aus. Er erholte sich gesundheitlich nicht mehr von den Haftfolgen und litt an einer chronischen Herzerkrankung. Er starb 43-jährig am 4. Februar 1961, nachdem er 1960 zum Generaldirektor des Weltärztebundes (World Medical Association) gewählt worden war.
== Forschungsstand und Einordnung ==
Die Forschungen der Historikerin Ursel Hochmuth, 1969 in dem Werk Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand 1933–1945 veröffentlicht, gelten als erste geschichtliche Aufarbeitung der Weißen Rose Hamburg. Seit Mitte der 1980er Jahre wurden mehrere biografische Studien über einzelne Personen aus den Widerstandskreisen veröffentlicht. Ein Schwerpunkt der Ausstellung Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität im Jahr 1991 war die Darstellung einiger Persönlichkeiten der Gruppe. Eine umfassende historische Forschung, die über Ursel Hochmuths Arbeit hinausgeht, steht noch aus.Im Schrifttum zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird die Gruppe, wenn überhaupt, im Zusammenhang mit der Weißen Rose in München genannt und als Jugend- und Studentenopposition eingeordnet. Wenig beachtet werden dabei die generationsübergreifenden Zusammenhänge. Eine zahlenmäßige Auswertung ergibt, dass von den 36 bekannten Festgenommenen 21 Personen der jüngeren Generation angehörten und Schüler, Studenten oder Assistenzärzte waren. 15 der Inhaftierten waren deutlich älter, zumeist Familienangehörige und Freunde oder galten als Mentoren.
Deutlich ist, dass die Hamburger Gruppe keine festgefügte Widerstandsgruppe mit einem politischen Programm oder einer formulierten Zielsetzung war. Ursel Hochmuth beschreibt sie als eine „lockere Gruppierung Gleichgesinnter mit einem revolutionären Kern“, der aus Heinz Kucharski, Albert Suhr, Hans Leipelt und Margaretha Rothe bestand. Diese bemühten sich, „aus einer unverbindlichen, sich passiv resistent verhaltenden Gemeinschaft eine Widerstandsgruppe […] werden zu lassen.“ In dieser Struktur ist angelegt, dass es, bis auf einige persönliche Kontakte, kein Zusammenwirken mit anderen Widerstandsgruppen gab. So bestand eine persönliche Verbindung zur Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe zum einen über die Buchhandlung von Felix Jud und zum anderen über den Freundeskreis von Katharina Leipelt, insbesondere über Hanna Marquard, der Ehefrau des 1944 hingerichteten Widerstandskämpfers Otto Marquard. Bekannt wurde zudem John Glucks Unterstützung der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit über seine Beziehung zu der Politikerin Magda Hoppstock-Huth.Aus den Berichten und Veröffentlichungen der Nachkriegszeit geht hervor, dass sich die meisten der Hamburger Weißen Rose zugerechneten Mitglieder selbst nicht als Widerstandskämpfer sahen. So beschreibt Anneliese Tuchel, die Schwester Reinhold Meyers, die Aktivitäten der Gruppe als Auflehnung:
== Gedenken ==
Die Geschichte der Hamburger Kreise fand in der ersten Nachkriegszeit wenig Beachtung. Mit einer Bronzeplatte in der Hamburger Universität wurden 1971 erstmals einige Mitglieder der Gruppe in das öffentliche Gedenken einbezogen. In den folgenden Jahrzehnten entstanden acht weitere Orte der Erinnerung an die Weiße Rose Hamburg. In München wurde Hans Leipelt als Mitglied der Weißen Rose angesehen und in die Aufarbeitung und das Gedenken dort einbezogen. Das Chemische Institut der Ludwig-Maximilians-Universität richtete 1997 einen Denkraum unter seinem Namen ein.
=== Denkmale ===
Ab 1968 gab es an der Hamburger Universität auf Anregung von Professor Wilhelm Flitner Planungen zur Verlegung einer Gedenkplatte für die studentischen Mitglieder des Widerstands. Am 28. September 1971 konnte diese Idee umgesetzt und im Foyer des Audimax eine von dem Künstler Fritz Fleer gestaltete Bronzeplatte eingeweiht werden. Es handelt sich um eine in den Fußboden eingelassene Tafel mit einem kurzen Erinnerungstext und den Namen von Hans Conrad Leipelt, Frederick Geussenhainer, Reinhold Meyer und Margaretha Rothe.Im Hamburger Stadtteil Volksdorf wurde 1977 auf Initiative des damaligen Ortsausschussvorsitzenden ein Einkaufszentrum und ein anliegender Platz nach der Weißen Rose benannt und zugleich die Errichtung eines Kunstwerks für diesen Platz in Auftrag gegeben. Die daraus entstandene, über zwei Meter hohe Skulptur bzw. Freiplastik aus Muschelkalk des Künstlers Franz Reckert konnte am 1. Juni 1978 eingeweiht werden. Da sich die Bedeutung öffentlich nur wenig erschloss, erweiterte der Ortsausschuss das Denkmal 1981 mit einer Tafel, auf der die Namen der Hingerichteten der Münchner Gruppe genannt wurden. Ergänzend fügte man erst 1993 die acht Namen der ermordeten Mitglieder der Hamburger Widerstandsgruppe hinzu.Im Rahmen des sogenannten Hamburger Tafelprogramms des Referats Wissenschaftliche Inventarisation, das mit schwarzen Gedenktafeln Stätten der Verfolgung und des Widerstandes 1933–1945 kennzeichnet, wurde 1984 am Gebäude der ehemaligen Agentur zum Rauhen Haus am Jungfernstieg 50, eine solche schwarze Emailletafel als Hinweis auf den Treffpunkt der Gruppe angebracht. Ein weiteres Schild dieses Programms befindet sich am Gebäude Vogteistraße 23 in Rönneburg und erinnert an die Familie Leipelt, die dort bis 1937 wohnte.
In Hamburg-Niendorf errichtete der Künstler Thomas Schütte 1987 das Mahnmal Tisch mit zwölf Stühlen, an dem stellvertretend für verschiedene Gruppen des Hamburger Widerstands die Namen von dreizehn Widerstandskämpfer auf kleinen Messingschildern angebracht sind. Dabei ist jeweils ein Stuhl für Reinhold Meyer und für Margaretha Rothe gekennzeichnet.Auf dem Gelände des Universitätsklinikums Eppendorf wurde im Dezember 1987 ein Studiengebäude Rothe-Geussenhainer-Haus benannt.
Auf die Privatinitiative des Künstlers Gerd Stange geht das am 2. November 1990 eingeweihte Denkmal Verhörzelle – ein Mahnmal für die Geschwister Scholl, in Hamburg-Eppendorf zurück. Es handelt sich um eine im Boden versenkte Installation, in der die Situation eines Verhörraums dargestellt ist. Mit einer in der Nähe angebrachten Tafel wird darauf hingewiesen, dass sie den Opfern von Verhaftung und Folter während des Nationalsozialismus über die Weiße Rose hinaus gilt.
2005 wurde das Gartenareal um die Verhörzelle neu gestaltet. Während die in die Erde versenkte Verhörzelle Klaustrophobie auslösen kann und an das kaum ausgesprochene und schon vollstreckte Todesurteil erinnert, steht die Neugestaltung des Gartenstücks als Literarischer Garten für die Bildung und den Humanismus der Weißen Rose.
Innerhalb des 2001 angelegten Garten der Frauen auf dem Friedhof Ohlsdorf wird mit einer „Erinnerungsspirale“ aus verschieden gestalteten Sandsteinen bedeutender Hamburger Frauen gedacht. Innerhalb dieser Skulptur befindet sich auch ein Erinnerungsstein für Margaretha Rothe und Erna Stahl mit einer ein Zellenfenster symbolisierenden Öffnung und einem zu einer Metallschwalbe geformten Flugblatt der Weißen Rose.Das Margaretha-Rothe-Gymnasium in Barmbek-Nord hat sich 1988 den Namen der Widerstandskämpferin gegeben. Dort konzipierten Schüler 2002 eine ständige Ausstellung mit Bildtafeln im Stil einer Graphic Novel, die Szenen aus dem Leben von Margaretha Rothe zeigen. Die Arbeit wurde im gleichen Jahr mit dem Bertini-Preis ausgezeichnet.
=== Straßenbenennungen ===
Im Hamburger Stadtgebiet wurden folgende Straßen nach Mitgliedern der Weißen Rose in Hamburg benannt:
Leipeltstraße (1960) in Hamburg-Wilhelmsburg
Kurt-Ledien-Weg (1982) Hamburg-Niendorf
Margaretha-Rothe-Weg (1982) Hamburg-Niendorf
Reinhold-Meyer-Straße (1982) Hamburg-Niendorf
Elisabeth-Lange-Weg (1988) Hamburg-Langenbek
Felix-Jud-Ring (1995) in Hamburg-Allermöhe
Margarete-Mrosek-Bogen (1995) in Hamburg-Allermöhe
Erna-Stahl-Ring (2008) in Hamburg-OhlsdorfBereits 1947 wurde auf Antrag von Edgar Engelhard die Niendorfer Straße in Hamburg-Eppendorf in Geschwister-Scholl-Straße umbenannt. Im Jahr 2002 wurde in deren unmittelbarer Nähe der Christoph-Probst-Weg eingeweiht.
=== Stolpersteine ===
Inzwischen wurden für alle ermordeten Mitglieder der Weißen Rose Hamburg Stolpersteine an ihren letzten Wohnorten und teilweise zusätzlich an ihren Wirkungsstätten verlegt:
für Fredrick Geußenhainer in der Johnsallee 64, Rotherbaum, und vor dem Universitätshauptgebäude an der Edmund-Siemers-Allee 1, Rotherbaum (hier: Friedrich Geussenhainer);
für Elisabeth Lange, Hoppenstedtstraße 76 in Harburg-Eißendorf;
für Kurt Ledien sowohl im Hohenzollernring 34 in Altona wie vor dem Ziviljustizgebäude am Sievekingplatz 1 in Hamburg-Neustadt;
für Hans Leipelt an der Mannesallee 20, Wilhelmsburg, an der Vogteistraße 23 in Harburg-Rönneburg und vor dem Universitätshauptgebäude;
für Katharina Leipelt an der Mannesallee 20, Wilhelmsburg und an der Vogteistraße 23 in Harburg-Rönneburg;
für Reinhold Meyer am Hallerplatz 15 in Eimsbüttel sowie vor dem Universitätshauptgebäude;
für Margarete Mrosek, Up de Schanz 24 in Nienstedten;
für Margaretha Rothe am Heidberg 64 in Winterhude, vor dem Universitätshauptgebäude, vor der Klosterschule in St. Georg und vor der Heinrich-Hertz-Schule in Winterhude.
== Literatur ==
Sibylle Bassler: Die Weiße Rose. Zeitzeugen erinnern sich, Reinbek 2006, ISBN 3-498-00648-7.
Angela Bottin: Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Audimax der Universität Hamburg vom 22. Februar bis 17. Mai 1991. Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte Band 11, Hamburg 1992, ISBN 3-496-00419-3.
Maike Bruhns: Kunst in der Krise. Band 1: Hamburger Kunst im „Dritten Reich“, Band 2: Künstlerlexikon Hamburg 1933–1945, Hamburg 2001, ISBN 3-933374-93-6.
Rudolf Degkwitz: Das alte und das neue Deutschland, Hamburg 1946
Herbert Diercks: Die Freiheit lebt. Widerstand und Verfolgung in Hamburg 1933–1945. Texte, Fotos und Dokumente. Herausgegeben von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Hamburger Rathaus vom 22. Januar bis 14. Februar 2010
Peter Fischer-Appelt: Weiße Rose Hamburg. Drei Reden zum Widerstand im Nationalsozialismus. Mit einem Beitrag von Eckart Krause für die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung herausgegeben von Ekkehard Nümann, Göttingen, Hamburg 2021, ISBN 978-3-8353-5118-9.
Eckart Krause, Ludwig Huber und Holger Fischer: Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945. 3 Teile (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 3). Berlin/Hamburg 1991, ISBN 9783496008675
Birgit Gewehr: Stolpersteine in Hamburg-Altona. Biographische Spurensuche; herausgegeben von der Landeszentrale für Politische Bildung Hamburg 2008, ISBN 978-3-929728-05-7.
Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich. Schöningh, Paderborn 1995, ISBN 3-506-77492-1, S. 464–468.
Ursel Hochmuth: Candidates of Humanity. Dokumentation zur Hamburger Weißen Rose anläßlich des 50. Geburtstages von Hans Leipelt; Herausgeber: Vereinigung der Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes Hamburg e.V., Hamburg 1971
Ursel Hochmuth, Gertrud Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand. 1933–1945, Zweite Auflage, Frankfurt 1980, ISBN 3-87682-036-7.
Gertrud Meyer: Nacht über Hamburg. Berichte und Dokumente, Hamburg 1971 (Ergänzungsband zu Hochmuth/Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand 1933–1945)
Hans-Harald Müller, Joachim Schöberl: Karl Ludwig Schneider und die Hamburger „Weiße Rose“. Ein Beitrag zum Widerstand von Studenten im „Dritten Reich“. In: Eckart Krause, Ludwig Huber, Holger Fischer (Hrsg.): Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945. Teil I. Berlin und Hamburg 1991, S. 423–437.
Christian Petry: Studenten aufs Schafott. Die Weiße Rose und ihr Scheitern. R. Piper, München 1968, S. 77–82.
Helmut Scaruppe: Mein Inseltraum. Kindheit und Jugend im Hitlerreich, Eigenverlag 2003, ISBN 3-8330-0732-X; auch als google-book, abgerufen am 15. Februar 2010.
Inge Scholl: Die Weiße Rose. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M. 1993, ISBN 3-596-11802-6.
Ulrike Sparr: Stolpersteine in Hamburg-Winterhude. Biographische Spurensuche; herausgegeben von der Landeszentrale für Politische Bildung Hamburg 2008, ISBN 978-3-929728-16-3.
Marie-Luise Schultze-Jahn: „… und ihr Geist lebt trotzdem weiter!“ Widerstand im Zeichen der Weißen Rose, Berlin 2003, ISBN 3-936411-25-5.
Gerd Stange: Verhörzelle und andere antifaschistische Mahnmale in Hamburg, Herausgegeben von Thomas Sello und Gunnar F. Gerlach, Museumspädagogischer Dienst Hamburg, Hintergründe und Materialien, Verlag Dölling & Galitz, Hamburg 1994, ISBN 3-926174-32-3.
Peter Normann Waage: Es lebe die Freiheit! – Traute Lafrenz und die Weiße Rose. Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8251-7809-3.
Günther Weisenborn: Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933–1945, Reinbek 1962
Hinrich C. G. Westphal: Ein Gespräch mit Anneliese Tuchel über ihren Bruder Reinhold Meyer, in: Der braucht keine Blumen. In Erinnerung an Reinhold Meyer, Buchhandlung am Jungfernstieg, Hamburg 1994
== Weblinks ==
Die Widerständigen. Zeugen der Weißen Rose (PDF; 4,1 MB) – Dokumentarfilm von Katrin Seybold, abgerufen am 26. Dezember 2010
Ausstellung Traute Lafrenz, Weiße Rose Stiftung e.V. abgerufen am 26. Dezember 2010@1@2Vorlage:Toter Link/www.weisse-rose-stiftung.de (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im April 2018. Suche in Webarchiven.)
Politisch Verfolgte in Hamburg 1933–1945 (Memento vom 18. Oktober 2010 im Internet Archive)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wei%C3%9Fe_Rose_Hamburg
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Würdenhain
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= Würdenhain =
Würdenhain ist mit 114 Einwohnern der kleinste Ortsteil der Gemeinde Röderland im südbrandenburgischen Landkreis Elbe-Elster. Er befindet sich westlich der Mündung der Großen Röder in die Schwarze Elster im Süden des Naturparks Niederlausitzer Heidelandschaft.
In Würdenhain gab es nachweislich eine befestigte Anlage in Form einer Burg oder eines Schlosses, die vermutlich im ersten Viertel des 11. Jahrhunderts entstand. Der Ort selbst wurde 1346 erstmals urkundlich erwähnt. Im Jahr 1370 war die Herrschaft Würdenhain im Besitz von Kaiser Karl IV. Das Schloss wurde 1442 auf Befehl des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Sanftmütigen zerstört, da sich der dortige kursächsische Vasall des Landfriedensbruches schuldig gemacht hatte. Das Herrschaftsgebiet wurde der benachbarten Herrschaft Mühlberg zugeteilt. Als das Gebiet durch Tausch- und Kaufgeschäfte an den böhmischen Adligen Hinko Birke von der Duba kam, wurde in der Kaufurkunde vermerkt: „Das Waell zcu Werdenhein sol zcu ewigen Zeiten nicht bebauwet noch betzimmert werden.“
Nach der politischen Wende in Deutschland bildete am 26. Oktober 2003 Würdenhain mit den umliegenden Dörfern Haida, Prösen, Reichenhain, Saathain, Stolzenhain und Wainsdorf die Gemeinde Röderland.
== Geografie ==
=== Geografische Lage und Naturraum ===
Würdenhain liegt im Norden der Gemeinde Röderland linksseitig der Mündung der Großen Röder in die Schwarze Elster. Der Verwaltungssitz der Gemeinde Röderland, Prösen, befindet sich etwa zehn Kilometer südöstlich des Dorfes.
Der Ort liegt etwa sechs Kilometer westlich der Stadt Elsterwerda und acht Kilometer östlich der Kurstadt Bad Liebenwerda im Süden des Naturparks Niederlausitzer Heidelandschaft, der ein 484 Quadratkilometer großes Gebiet im Landkreis Elbe-Elster und im Landkreis Oberspreewald-Lausitz umfasst. Sein Kernstück, das Naturschutzgebiet Forsthaus Prösa mit einem der größten zusammenhängenden Traubeneichenwälder Mitteleuropas liegt nur wenige Kilometer nördlich Würdenhains in der einstigen Liebenwerdaer Heide.Der Ort ist vom etwa 6011 Hektar großen Landschaftsschutzgebiet Elsteraue umgeben, das in drei ökologische Raumeinheiten aufgeteilt ist, wobei das Teilgebiet Elsteraue II Würdenhain einschließt. Einer der Schutzzwecke des Landschaftsschutzgebietes ist „die Erhaltung des Gebietes wegen seiner besonderen Bedeutung für die naturnahe Erholung im Bereich des Kurortes Bad Liebenwerda.“Nordwestlich des Ortes erstreckt sich entlang des Flusslaufs der alten Röder bis Prieschka das etwa 80 Hektar große Naturschutzgebiet Alte Röder. Sein Schutzzweck besteht unter anderem in der Erhaltung und Entwicklung dieses Gebietes als Lebensraum des Elbebibers und anderer existenzbedrohter Tierarten. Die bereits 1981 unter Naturschutz gestellte Röderniederung beherbergt eines der beständigsten Vorkommen des vom Aussterben bedrohten Elbebibers.
=== Geologie ===
Würdenhain befindet sich im Breslau-Magdeburger Urstromtal, das wenige Kilometer östlich in der Niederung des Schradens zwischen Elsterwerda und Merzdorf mit sieben Kilometer Breite seine engste Stelle erreicht und dann nach Nordwesten schwenkt. Das heutige Landschaftsbild ist maßgeblich von der vorletzten Eiszeit geprägt. Eine mehrere hundert Meter mächtige Schicht Sand und Kies bedeckt das kristalline Grundgebirge, das Teil der Saxothuringischen Zone des variszischen Grundgebirges ist. Die höchste Erhebung im Ort hat eine Höhe von etwa 90 m ü. NN.
=== Klima ===
Würdenhain liegt mit seinem humiden Klima in der kühl-gemäßigten Klimazone, jedoch ist ein Übergang zum Kontinentalklima spürbar. Die nächsten Wetterstationen befinden sich in Richtung Nordosten in Doberlug-Kirchhain, westlich in Torgau und südlich in Oschatz und Dresden.
Der Monat mit den geringsten Niederschlägen ist der Februar, der niederschlagsreichste der Juli. Die mittlere jährliche Lufttemperatur beträgt an der etwa 20 Kilometer nordöstlich gelegenen Wetterstation Doberlug-Kirchhain 8,5 °C. Der Unterschied zwischen dem kältesten Monat Januar und dem wärmsten Monat Juli beträgt 18,4 °C.
== Geschichte ==
=== Ortsname ===
Der Name Würdenhain leitet sich von Werder (Insel) und Hain (Wald) ab und bedeutet bewaldete Insel.Frühere Schreibweisen waren 1346 Werdenhayn, 1405 Werdinhain, Wirdenhain, 1410 Werdenhain, 1486 Wirdenhain, 1529 Werdenhayn, 1577 Wirdenhan, 1617 Wirdenhain und Werdenhain. Seit 1675 hieß der Ort Würdenhain.
=== Ortsgeschichte ===
==== Frühgeschichte und erste urkundliche Erwähnung Würdenhains ====
Bodenfunde beweisen, dass auf Würdenhainer Gebiet bereits steinzeitliche Jäger und Sammler ihre Feuersteinwaffen und Werkzeuge bearbeitet haben. So machte der Prieschkaer Ernst Voegler, bis zum Ersten Weltkrieg Lehrer in Würdenhain, auf der Gemarkung von Würdenhain mehrere Funde aus der jüngeren und mittleren Steinzeit. Außerdem wurden bronzezeitliche Scherben gefunden. Im Jahr 1947 fand man eine 25 Zentimeter hohe Urne sowie Reste von zwei Schalen aus der frühen Eisenzeit (Billendorfer Kultur).Der Ort Würdenhain wurde urkundlich zum ersten Mal 1346 erwähnt.
==== Die Herrschaft Würdenhain ====
In Würdenhain gab es eine befestigte Anlage in Form einer Burg oder eines Schlosses, die vermutlich im ersten Viertel des 11. Jahrhunderts entstand. Würdenhain war Eckpunkt des Gaues Nizizi beziehungsweise der Ostmark und dürfte vom Ort Belgern aus angelegt worden sein. Die Vasallen lebten von der Arbeit ihrer Bauern, die um 1200 die Dörfer Würdenhain, Reichenhain und Haida gründeten und die alten Wendendörfer Prieschka, Oschätzchen, Kröbeln und Kosilenzien ausbauten. Zur Herrschaft Würdenhain gehörten die Gemeinden Prieschka, Haida, Würdenhain, Reichenhain und Oschätzchen und ursprünglich wohl auch Kosilenzien und Kröbeln, wie aus den alten Kirchspielgrenzen geschlossen werden kann. Das Kernstück der Herrschaft bildete der Oppach, ein etwa 1700 Morgen großer Eichenwald. Weiterhin gehörten die Wälder Ziegram und Kliebing zur Herrschaft Würdenhain.
Im Jahr 1370 kam der römisch-deutsche Kaiser Karl IV., der bereits 1367 die Niederlausitz und die Herrschaft Strehla an der Elbe erworben hatte, in den Besitz der Herrschaft Würdenhain sowie der angrenzenden Herrschaften Mühlberg, Elsterwerda, Mückenberg und Ortrand. Er schlug das Gebiet seinem Stammbesitz, den böhmischen Kronländern, zu. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts kam die Herrschaft Würdenhain wie auch Mühlberg, das 1397 verpfändet wurde, an die Mark Meißen.
1405 wurde das Schloss Würdenhain, das sich südöstlich des heutigen Ortes befand, in einer Verpfändungsurkunde bezeugt, als der seit 1398 auf Mückenberg sitzende Heinrich von Waldow, mit dem Schloss Werdinhain für 1000 Gulden vom Meißner Markgrafen Wilhelm I. belehnt wurde.
Letzter bekannter Besitzer des Würdenhainer Schlosses war Hans Marschalk. Man warf dem kursächsischen Vasallen 1442 Untreue vor, da er es offenbar mit dem Landvogt der Niederlausitz Nickel von Polenz auf Senftenberg hielt. Dieser hatte sich zum Missfallen der Sachsen am 3. Januar 1441 vom brandenburgischen Kurfürsten Friedrich dem Zweiten gegen Zahlung von jährlich 500 Gulden für drei Jahre unter Schutz stellen lassen. Zuvor hatte der Liebenwerdaer Amtsvogt einen heimlichen Boten ausgeschickt, „daß er zur Lußitz ging, Erfahrung zu haben, ob nymant Hans Marschalk wolde zu Hülffe kommen.“
Hans Marschalk wurde ins Gefängnis geworfen, sein Lehen eingezogen und das Schloss geschleift. Das in der Liebenwerdaer Chronik von 1837 aufgeführte Vergehen, Marschalk habe sich gegen eine Hofdame der zu Liebenwerda residierenden Kurfürstin ungebührlich gezeigt, diente wohl nur als Vorwand. Kurfürst Friedrich der Sanftmütige ließ das Würdenhainer Herrschaftsgebiet an die Herrschaft Mühlberg übertragen. Im Jahr 1443 kam das Gebiet durch Tausch- und Kaufgeschäfte an den böhmischen Adligen Hinko Birke von der Duba. In der Kaufurkunde wurde vermerkt: „Das Waell zcu Werdenhein sol zcu ewigen Zeiten nicht bebauwet noch betzimmert werden.“
Die „Wahlstedt“ Würdenhain erschien in einem Lehnsbrief letztmals im Jahre 1480.
==== Würdenhain als Mühlberger Amtsgemeinde ====
Das Herrschaftsgebiet Würdenhain gehörte ab 1520 zum Amt Mühlberg, an das fortan Steuern und Frondienste geleistet werden mussten. In Würdenhain gab es einen Dingestuhl, dem außer dem Dorf auch Haida, Reichenhain und Oschätzchen angehörten. Am Dingetag mussten alle Bauern dieser Dörfer erscheinen und der Dorfrichter nahm nach Entrichtung einer Gebühr Klagen an, um sie dann beim Amt einzurügen.Im Jahr 1564 war der Würdenhainer Kretzschmann (Schankwirt) Hans Bräunig Wortführer eines Aufruhrs der Bauern von Würdenhain und der Nachbardörfer Haida, Reichenhain und Prieschka gegen den Mühlberger Amtsvogt Fuchs. Sie legten ihre Beschwerden in einem Schriftstück mit der Überschrift „Die 10 Klageartikel der Dorfschaften Werdenhayn und Heide“ nieder und leiteten es über den Amtmann nach Dresden. Da sie aber dem Dienstweg nicht trauten, schickten sie eine zweite Ausfertigung direkt an den Kurfürsten „zu seinen selbstigen Händen“. Sie beschwerten sich unter anderem über die Beeinträchtigung der Fischerei und der Forstnutzungsrechte sowie über geschmälerten Lohn beim Schlossbau in Mühlberg.
Dresden ordnete daraufhin zunächst Nachforschungen nach den „Rehdelsführern“ an, da man das Vorgehen der Bauern als gefährlich und strafwürdig ansah. Hans Breunig, der zunächst verhaftet wurde, und einige andere Bauern wurden später mit Gerichtsbußen belegt.
Während des Dreißigjährigen Krieges erlitt Würdenhain schwere Verwüstungen. Besonders hart traf es das Dorf 1637, als schwedische Truppen des Generals Johan Banér im Januar das nicht weit entfernte Torgau einnahmen und dort bis in den Frühsommer lagerten. Sie durchstreiften das angrenzende Elbe-Elster-Gebiet, plünderten die Orte und setzten sie in Brand. Mehrere Höfe wurden auch in Würdenhain niedergebrannt; noch bis etwa 1700 waren die Spuren des Krieges sichtbar. Neben den Folgen des Krieges litten die Bewohner des Dorfes auch unter der Pest. Besonders schwer traf es den Ort 1680, als etwa 40 der 100 Einwohner der Seuche zum Opfer fielen, die der Bruder des Würdenhainer Pastors aus Dresden mitgebracht haben soll. Die alte Burgstätte wurde als Pestfriedhof genutzt, aber auch im Oppach und im Dorf selbst wurden die Opfer beerdigt.Etwa um 1700 ließ sich der Besitzer des Freigutes Prieschka, Obrist-Wachtmeister Andreas Gottfried von Kirchbach, in der Kirche zu Würdenhain einen Herrschaftsstuhl einrichten. Zum eigenen Schankgut erwarb er noch das Schankgut Würdenhain. Das Gut Prieschka hatte damals eigene Winzer in Prieschka und Haida. Die Prieschkaer Weinberge befanden sich in Haida. Von Kirchbach wurde 1724 in einer Gruft in der Würdenhainer Kirche beigesetzt.Der 1756 begonnene Siebenjährige Krieg hatte auch Auswirkungen auf das im preußisch-sächsischen Grenzgebiet liegende Würdenhain. Durchziehende Truppen suchten die Gegend immer wieder heim und die Preußen versuchten mit Zwangsrekrutierungen junge Männer aus den besetzten Gebieten in ihre Armee zu pressen. Im Oktober 1757 rückten fünfhundert Kroaten im Dorf ein. Die Truppen, deren Generalmajor in der Pfarre eingemietet war, blieben drei Tage. Dabei waren sie „überaus bescheiden und zechten nur von ihrem eigenen Geld“.
==== Vom Wiener Kongress bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ====
Nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses 1815 gelangte Würdenhain vom Königreich Sachsen zum Regierungsbezirk Merseburg der preußischen Provinz Sachsen und es entstand 1816 der Kreis Liebenwerda, in dem ein großer Teil des Amtes Mühlberg, das Amt Liebenwerda sowie Teile des Amtes Großenhain aufgingen.
1833 wurde der Oppach zwecks Separation vermessen. Die Rechte der anliegenden Dörfer (mit Ausnahme von Saathain) zur Nutzung dieses Gebietes wie Hutung, Graserei, Fischerei, Entnahme von Raff- und Leseholz, Lehm, Sand oder Kies wurden durch Übertragung großer Flächen abgefunden. Dabei entstanden auch die neuen Gemeindegrenzen, die zum Teil schnurgerade verliefen. Der Oppach ist jetzt nahezu vollständig entwaldet.
Im Jahr 1852 begannen im wenige Kilometer flussabwärts gelegenen Zeischa Bauarbeiten zur Regulierung der Schwarzen Elster. Der Fluss, der bis dahin aus zahlreichen Fließen bestand, erhielt bis 1861 sein heutiges Bett und wurde mit Dämmen eingedeicht. Die Röder, die vorher hinter dem alten Würdenhainer Schenkgut mündete, wurde in das alte Elsterbett geleitet, das als Alte Röder bekannt ist, und mündete am Prieschkaer Gänsewinkel in den neuen Flusslauf der Schwarzen Elster. Kurz nach der Jahrhundertwende wurde im Zuge von Straßenbauarbeiten von 1906 bis 1907 eine dreibogige Betonbrücke mit zwei Pfeilern über die Schwarze Elster nach Haida errichtet. Vorher konnten die Röder und die Schwarze Elster nur an Furten sowie zu Fuß über Stege passiert werden. Bei Hochwasser verkehrte ein sogenanntes „Schulschiff“, das die Haidaer Kinder zur Würdenhainer Schule übersetzte. Die Regulierung der Röder erfolgte 1916 im Ersten Weltkrieg. Für die Bauarbeiten wurden größtenteils Kriegsgefangene eingesetzt. Der Fluss mündet seitdem wieder unweit des Dorfes in die Schwarze Elster. Auch nach der Regulierung der Flüsse kam es zu weiteren Hochwassern, so unter anderem in den Jahren 1895, 1923, 1926, 1930 und 1946. Ein Röderdammbruch am 18. Juni 1926 überflutete den gesamten Ort. Das Hochwasser betraf mit Röder, Pulsnitz, Schwarzer Elster und Kleiner Elster nahezu alle Flüsse der Umgebung und verursachte riesige Schäden. Im Überschwemmungsgebiet des damaligen Kreises Bad Liebenwerda wurden zwei Drittel der Ernte vernichtet. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Elsterbrücke am 22. April 1945 zerstört, um den Einmarsch der vorrückenden Truppen der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee zu verhindern. In diesen Tagen kam es auch zur Zerstörung der wenige Kilometer flussaufwärts gelegenen Saathainer Brücke und des benachbarten Schlosses. Beim Brand des Saathainer Schlosses, von dem nur die Grundmauern stehen blieben, verbrannte auch das alte Würdenhainer Kirchenbuch mit den Eintragungen von Taufen, Trauungen und Beerdigungen der Jahre 1655 bis 1812. Der 587 Hektar umfassende Grundbesitz des zum Schloss gehörenden Rittergutes wurde später im Rahmen der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone aufgeteilt, wobei 78,8 Hektar der auf Würdenhainer Flur liegenden Flächen an einen Neubauern, neunundzwanzig Kleinbauern und vier Arbeiter aufgeteilt wurden.
==== Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart ====
In der Folgezeit konnte die Schwarze Elster nur über Holzbrücken überquert werden, wobei ein als Hängebrücke konstruiertes Bauwerk unter der Last eines LKWs zusammenbrach. Die 1950 gebaute Holzbrücke wurde 1959 durch die noch bestehende Betonbrücke ersetzt. Die Bauarbeiten führte der VEB Bau Elsterwerda aus. Für den mit 210.000 DM veranschlagten Bau wurden 50 Tonnen Stahl, 150 Tonnen Zement und 500 Kubikmeter Kies verarbeitet. Später wurde diese Brücke auch von Militärfahrzeugen benutzt, die zum Truppenübungsplatz Bad Liebenwerda nördlich von Haida fuhren. Dafür wurde eine Panzerstraße gebaut, die nördlich an Würdenhain vorbeiführte. Von 1971 bis 1972 wurden die Dämme der Röder nach außen gerückt, verbreitert und erhöht.Kurz nachdem Würdenhain am 1. April 1974 in die benachbarte Gemeinde Haida eingemeindet worden war, wurde die Dorfstraße ausgebaut. Nach der politischen Wende kam es am 15. Januar 1992 zunächst zur Bildung des Amtes Röderland, das aus den Gemeinden Haida mit dem Ortsteil Würdenhain und den umliegenden Dörfern Prösen, Reichenhain, Saathain, Stolzenhain und Wainsdorf bestand. Am 26. Oktober 2003 folgte im Zuge der Gemeindegebietsreform im Land Brandenburg der Zusammenschluss der amtsangehörigen Dörfer zur amtsfreien Gemeinde Röderland.Würdenhain gehörte bis zur Kreisgebietsreform in Brandenburg im Jahre 1993 zum Landkreis Bad Liebenwerda, der am 6. Dezember 1993 mit den Landkreisen Herzberg und Finsterwalde in den Landkreis Elbe-Elster einging.
Im Sommer 2009 wurde eine über die Mündung der Großen Röder führende Brücke auf Grund akuter Einsturzgefahr abgerissen. Das 1918 errichtete Bauwerk war für den an der Schwarzen Elster entlangführenden Radweg und damit auch für die touristische Anbindung Würdenhains sehr wichtig, da es die kürzeste Verbindung zum benachbarten Saathain darstellte. Eine Ersatzlösung wurde bisher nicht gefunden; die Radtouristen werden nördlich über Haida umgeleitet.
=== Bevölkerungsentwicklung ===
Obwohl es in Würdenhain bereits frühzeitig einen Herrschaftssitz gab, ist es eines der kleinsten Dörfer im Landkreis Elbe-Elster. Um 1550 gab es 17 Bauerngüter und etwa 100 Einwohner. Auch 1835 waren es mit 174 Einwohnern sowie 28 Wohnhäusern, 19 Pferden, 157 Stück Rindvieh, 6 Ziegen und 17 Schweinen nur wenig mehr. 1946 stieg die Einwohnerzahl nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Zuzug von Vertriebenen auf 237. Bis 2009 sank die Zahl mit 122 auf nahezu die Hälfte davon.
== Politik ==
=== Ortsteilvertretung ===
Seit dem Zusammenschluss von Würdenhain mit den umliegenden Dörfern Haida, Prösen, Reichenhain, Saathain, Stolzenhain und Wainsdorf am 26. Oktober 2003 ist der Ort ein Ortsteil der Gemeinde Röderland. Vertreten wird Würdenhain nach der Hauptsatzung der Gemeinde durch den Ortsvorsteher und einen dreiköpfigen Ortsbeirat.Ortsvorsteher in Würdenhain ist gegenwärtig Frank Heelemann.
=== Wappen und Siegel ===
Beschreibung des ehemaligen Wappens von Würdenhain: Unter goldenem Schildhaupt mit dem Namen „Würdenhain“ in schwarzer Frakturschrift in Silber auf einem grünen Grasstreifen ein rotbewehrter grauer Hahn. In einem ersten ovalen Dorfsiegel aus dem Jahre 1810 war der Hahn nach links gewendet. Nachdem der Ort nach dem Wiener Kongress zum 1816 neu entstandenen preußischen Kreis Liebenwerda gekommen war, erschien ein Dorfsiegel mit einem nach rechts gewendeten Hahn. Die Buchstaben KL standen für den Kreis Liebenwerda. Die Umschrift des Siegels lautete: „GEMEINDE WUIRDENHAYN“. Ein Hahn befand sich auch auf einer 1825 für fünf Taler in Haida gefertigten Windfahne auf dem 1972 durch einen Sturm zerstörten Turm der Würdenhainer Kirche.Der heutige Ortsteil Würdenhain führt laut Satzung der Gemeinde Röderland kein eigenes Wappen.
== Kultur und Sehenswürdigkeiten ==
=== Freizeit und Tourismus ===
In der Würdenhainer Dorfstraße befindet sich in der Nähe des Friedhofs das Gemeindehaus. Es wurde 1964 als Gemeindeamt mit Nutzungsmöglichkeiten für die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft im Nationalen Aufbauwerk (NAW) errichtet. Das vorherige Gemeindeamt befand sich im Auszugshaus des einstigen Hofes Kühn im Zentrum des Dorfes. Nach der Eingemeindung Würdenhains nach Haida im Jahre 1974 wurde im Gemeindehaus eine Poststelle eingerichtet. Nach der deutschen Wiedervereinigung hatte es längere Zeit keine Funktion, bis es 1995 durch freiwillige unbezahlte Arbeit der Freiwilligen Feuerwehr Würdenhain und der Frauengruppe umgebaut wurde und für verschiedene Veranstaltungen genutzt wird. Mitprägend für das kulturelle Leben sind der Dorfverein Würdenhain sowie die Freiwillige Feuerwehr des Dorfes. Einige hundert Meter flussaufwärts der Mündung in die Schwarze Elster befindet sich linksseitig der Großen Röder das Vereinsgelände des Haidaer Angelsportvereins Hecht 90 e. V., auf dem sich neben einem Vereinsheim auch ein 0,37 Hektar großer Angelteich befindet.Ein Reiterhof gehört zum Dorf und im benachbarten Haida befindet sich mit dem neu erschaffenen Bürgerhaus, ein weiteres Gebäude, das bei gesellschaftlichen und sportlichen Anlässen genutzt werden kann. Sportplätze gibt es in Haida und in den Nachbarorten.
Mehrere befestigte Radwege entlang der Schwarzen Elster verbinden Würdenhain mit den Sehenswürdigkeiten des Umlandes, dem Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft und der etwa acht Kilometer östlich gelegenen Niederung des Schradens. Mit der Tour Brandenburg führt der mit 1111 Kilometern längste Radfernweg Deutschlands am Dorf vorbei. Weitere Radrouten sind der Fürst-Pückler-Radweg, der unter dem Motto 500 Kilometer durch die Zeit in die Projektliste der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land aufgenommen wurde und der 108 Kilometer lange Schwarze-Elster-Radweg.
=== Bauwerke und Denkmäler ===
Das älteste Gebäude ist die Würdenhainer Dorfkirche, die im Mittelalter der Heiligen Katharina geweiht wurde. Sie ist etwa um 1450 aus den Steinen des zerstörten Schlosses entstanden. Dies geht aus der Beschwerdeschrift der Bauern von 1564 und aus einer Mühlberger Amtsrechnung mit einer Würdenhainer Kirchenrechnung von 1570 hervor. Zum Bau des Kirchturms, der 1577 vollendet war, wurden Steine herbeigeschafft, so für 36 Groschen Backsteine aus Glaubitz bei Riesa im Jahre 1570. Achtundzwanzig Groschen erhielten die Bauern der vier Dörfer für „Steine uffn Wahl aus der Erde schieben“ und als Trinkgeld „von der Steinen vom Wahl uffn Kirchhof fahren“. Im Jahre 1680 diente die alte Burgstätte als Pestfriedhof. Der Kirchturm wurde im Herbst 1972 durch einen Sturm stark beschädigt. Deshalb wurde das Turmoberteil mit der Turmzwiebel vom 9. bis 10. Dezember 1972 abgerissen.In der Dorfstraße steht ein Wohnstallhaus aus dem 18. Jahrhundert mit Giebelgebinde unter Denkmalschutz. Das einzige erhaltene Umgebindehaus im Landkreis Elbe-Elster ist das älteste Bauernhaus des Dorfes und seit 2009 im Besitz der Gemeinde Röderland. Der Würdenhainer Bauer Jost soll es um 1780 nach einem Brand auf seinem Hof errichtet haben. Der Sage nach träumte er bei der nächtlichen Hirsewache vom Brand und eilte nach Hause um Frau und Kind zu retten. Der einstige Ortschronist Rudolf Matthies berichtete, Jost habe aus Dankbarkeit die nicht mehr erkennbaren Worte „Ein Traum steht auch in Gottes Hand, sonst wären mir Weib und Kind verbrannt“ in die Giebelbalken des Hauses hauen lassen.Unweit der Würdenhainer Dorfkirche befindet sich ein Kriegerdenkmal in Form einer Stele zu Ehren der in den beiden Weltkriegen gefallenen Dorfbewohner. Das Gebäude der einstigen Dorfschule befindet sich ebenfalls in unmittelbarer Nähe der Kirche.
=== Sagen ===
Die Niederung der Schwarzen Elster ist sehr sagenreich. Der Fluss, der einst mit zahlreichen gewundenen Fließen durch das Tal floss, so dass die Region dem Spreewald ähnelte, bot der Phantasie der Menschen reichlich Stoff. Wassermänner, Nixen, Kobolde und Irrlichter tummelten sich dort.
Sagenumwoben ist immer noch das einstige Würdenhainer Schloss, das bereits im 15. Jahrhundert auf Befehl des sächsischen Kurfürsten zerstört wurde. Die Sage Der Nix von Würdenhain berichtet von einem Nix, der nahe der wüsten Schlossstätte im Schilf gehaust haben soll. Ängstliche Eltern warnten ihre Kinder in früheren Zeiten davor, der Stätte zu nahe zu treten, damit sie vom Nix nicht ins Wasser gezogen wurden. Weitere Sagen handeln von unterirdischen Gängen, durch die die Würdenhainer Dorfkirche mit den Schlössern in Saathain und Elsterwerda verbunden sein soll.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
=== Wirtschaft und Verkehr ===
Erwerbsquellen für die Würdenhainer waren von jeher die Landwirtschaft und der Fischfang in den Flüssen, der allerdings mit deren Verunreinigung durch die am Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Betriebe, wie das Zellstoffwerk in Gröditz, ein jähes Ende fand. Mit der Industrialisierung fanden viele Würdenhainer außerhalb des Ortes Arbeit.Die einstige Dorfschenke und ein seit 1935 bestehender kleiner Dorfladen am Abzweig Reichenhain/Prieschka schlossen nach der Wende. Das dem Dorf am nächsten gelegene Gewerbegebiet mit einer Größe von 27 Hektar befindet sich im benachbarten Haida. Schwerpunkt ist die Kies- und Sandgewinnung. Weitere Gewerbegebiete sind in Elsterwerda und im ebenfalls zur Gemeinde Röderland gehörenden Prösen zu finden.Der Ort ist durch Verbindungsstraßen mit den Landesstraßen 59 bei Reichenhain und 593 in Prieschka verbunden und durch Busverbindungen an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen. Die nächstgelegenen Bahnhöfe befinden sich in Elsterwerda (Bahnstrecken Berlin–Dresden und Riesa–Elsterwerda) sowie in Biehla (Bahnstrecke Węgliniec–Falkenberg/Elster).
=== Bildung ===
Der rote Backsteinbau der alten Würdenhainer Schule stammt aus dem Jahr 1871. Zuvor befand sich an dieser Stelle gegenüber der Würdenhainer Kirche ein mit Stroh gedecktes Schulgebäude, dessen Giebel zur Straße ausgerichtet war.Begünstigt durch die Reformation war erstmals im 16. Jahrhundert die Rede von einer Schule in Würdenhain. Um 1590 wurden die Kinder vom Schneider Martinus Thiemig im Katechismus und ein wenig im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet. Die Schule wurde zunächst von den Kindern des gesamten Kirchspiels besucht, das neben Würdenhain auch die Dörfer Reichenhain, Oschätzchen, Prieschka und Haida umfasste. Im Lauf der Zeit beschäftigten die Ortschaften eigene Lehrer und errichteten Schulen. Zunächst wurde 1675 in Oschätzchen ein eigener Kinderlehrer eingestellt, 1829 folgte Reichenhain und 1898 Prieschka. Zuletzt baute Haida 1912 ein eigenes Schulhaus, bildete allerdings mit Würdenhain einen gemeinsamen Schulverband, der zunächst auch noch zu DDR-Zeiten als Schulkombinat bestand hatte. Das Schulkombinat wurde später aufgelöst und die Kinder in die Polytechnische Oberschule in Elsterwerda-Biehla eingeschult, die bis zur Wende bestand und dann in eine Realschule umgewandelt wurde.Die Schüler des Ortsteils werden gegenwärtig in die Grundschule Prösen eingeschult, die den Status einer Verlässlichen Halbtagesschule besitzt und deren Träger die Gemeinde Röderland ist. In Prösen befindet sich eine Oberschule in privater Trägerschaft. In der wenige Kilometer östlich gelegenen Stadt Elsterwerda gibt es eine Oberschule, ein Gymnasium sowie weitere Bildungseinrichtungen.
Die nächsten Kindertagesstätten sind in den benachbarten Ortsteilen Haida und Saathain zu finden. Bibliotheken befinden sich in Prösen, Elsterwerda und Bad Liebenwerda.
=== Medien ===
Monatlich erscheinen in Würdenhain der Gemeindeanzeiger sowie das Amtsblatt für die Gemeinde Röderland. Der Kreisanzeiger des Landkreises Elbe-Elster erscheint nach Bedarf.Als regionale Tageszeitung erscheint im Elbe-Elster-Kreis die zur Lausitzer Rundschau gehörende Elbe-Elster-Rundschau mit einer Auflage von etwa 99.000 Exemplaren. Die kostenlosen Anzeigenblätter Wochenkurier und SonntagsWochenBlatt kommen wöchentlich heraus.
== Persönlichkeiten ==
Würdenhain ist eng mit dem Ortschronisten Rudolf Matthies (* 1909; † 1996) verbunden, der dort bis zu seinem Tod lebte. Der Heimatforscher war seit 1939 Lehrer an der Würdenhainer Dorfschule und seit 1961 Leiter der Schule Haida-Würdenhain. Im Jahr 1953 verfasste er die Geschichte des Dorfes Würdenhain. In seiner Freizeit widmete sich Matthies, der unter anderem auch Mitarbeiter des Museums für Ur- und Frühgeschichte Potsdam war, der Heimatforschung des Altkreises Bad Liebenwerda und verfasste zahlreiche Artikel. Außerdem sammelte er regionale Sagen, die im Heimatkalender für den Kreis Bad Liebenwerda veröffentlicht wurden.
== Literatur (Auswahl) ==
M. Karl Fitzkow: Die Verschwörung des Kretzschmann von Würdenhain. In: Heimatkalender für den Kreis Bad Liebenwerda. Bad Liebenwerda 1955, S. 47 bis 58 (Erzählung). Periodika
Heimatkalender für den Kreis Bad Liebenwerda. (für den Altkreis Bad Liebenwerda, das Mückenberger Ländchen, Ortrand am Schraden und Uebigau-Falkenberg)-Erscheinungsweise: jährlich
Die Schwarze Elster. (heimatkundliche Schriftenreihe für den Altkreis Bad Liebenwerda)
== Weblinks ==
Ortsteilseite auf der Gemeinde-Homepage (Memento vom 14. April 2014 im Internet Archive)
Ausführliche Chronik des Dorfes Würdenhain von Rudolf Matthies aus dem Jahr 1953 mit Ergänzungen von Ursula, Heinz und Matthias Lohse
== Fußnoten und Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%BCrdenhain
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Zeischa
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= Zeischa =
Zeischa ist ein Ortsteil des Kurortes Bad Liebenwerda im südbrandenburgischen Landkreis Elbe-Elster. Das etwa drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernte und im Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft gelegene Dorf liegt an der Schwarzen Elster.
Nahe dem im Jahre 1391 erstmals urkundlich erwähnten Ort soll sich der Überlieferung nach mit der Harigsburg einst eine Schutzanlage der slawischen Ritterschaft befunden haben, die hier den Übergang über die Schwarze Elster sicherte. Die Erwerbsgrundlagen der Einwohner waren seit alters Ackerbau und Viehzucht sowie die Fischerei. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Forstbaumschulen, deren Anbauflächen die Flur des Ortes in der Elsterniederung bis in die Gegenwart prägen. Etwa zur selben Zeit wurde nördlich der Ortslage mit dem Kiesabbau begonnen, wodurch ein etwa 80 Hektar umfassender Baggerteich entstand, der seit den 1960er Jahren zum Teil als Erholungsgebiet genutzt wird.
Das vor der Eingemeindung im Jahr 1993 zum Landkreis Bad Liebenwerda gehörende Zeischa hat gegenwärtig 472 Einwohner.In der Denkmalliste des Landes Brandenburg eingetragene Baudenkmäler des Dorfes sind die im Jahre 1904 errichtete einstige Dorfschule sowie das Grab des im Dreißigjährigen Krieg von schwedischen Söldnern bei Zeischa zu Tode geschleiften Liebenwerdaer Bürgermeisters Elias Borßdorff.
== Geografie ==
=== Geografie und Naturraum ===
Das im Elbe-Elster-Gebiet gelegene Zeischa ist ein Ortsteil der südbrandenburgischen Kurstadt Bad Liebenwerda. Der Ort schließt sich unmittelbar östlich der Stadt an und erstreckt sich von dort bis zur Landesstraße 593. Er liegt rechts der Schwarzen Elster an der Mündung der Kleinen Röder im Breslau-Magdeburger Urstromtal, das etwa zehn Kilometer östlich in der Niederung des Schradens mit sieben Kilometer Breite seine engste Stelle erreicht und dann nach Nordwesten schwenkt. Nordöstlich des Ortes erhebt sich die Hohenleipisch-Plessaer Endmoräne. Die landschaftsprägenden Oberflächenformen dieses Gebietes entstanden vor allem vor 230.000 bis 130.000 Jahren in der Saalekaltzeit. Im südlich vorgelagerten Sander der Hohenleipisch-Plessaer Endmoräne sind saalekaltzeitliche Sande, kiesige Sande und Kiese zu finden, die sich durch Reinheit und hohe Homogenität auszeichnen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts werden sie in Zeischa industriell abgebaut. Die entstandene Kiesgrube, die sich nördlich der Zeischaer Ortslage befindet, hat inzwischen eine Größe von etwa 80 Hektar erreicht.Teile des Dorfes sind Bestandteil des 6011 Hektar großen Landschaftsschutzgebietes Elsteraue, das in drei ökologische Raumeinheiten aufgeteilt ist. Das Teilgebiet Elsteraue II befindet sich im Bereich von Zeischa. Eine der Aufgaben des Landschaftsschutzgebietes ist „die Erhaltung des Gebietes wegen seiner besonderen Bedeutung für die naturnahe Erholung im Bereich des Kurortes Bad Liebenwerda“. Außerdem ist Zeischa vom Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft umgeben, der ein 484 Quadratkilometer großes Gebiet im Landkreis Elbe-Elster und im Landkreis Oberspreewald-Lausitz umfasst. Sein Kernstück, das Naturschutzgebiet Forsthaus Prösa mit einem der größten zusammenhängenden Traubeneichenwälder Mitteleuropas, befindet sich nordöstlich der Bundesstraße 101 in der einstigen Liebenwerdaer Heide.
=== Klima ===
Zeischa liegt im sogenannten Schwarze-Elster-Bezirk des Binnenlandklimas, jedoch ist ein Übergang zum Kontinentalklima spürbar. Die regionalen Klimaelemente sind gering ausgeprägt und werden im Wesentlichen durch die Besonderheiten des nach Ost-West orientierten Reliefs des Breslau-Magdeburger Urstromtals und die es im Norden und Süden begrenzenden Höhenzüge der Endmoränen bestimmt.Der Monat mit den geringsten Niederschlägen ist der Februar, der niederschlagsreichste der Juli. Die mittlere jährliche Lufttemperatur beträgt an der 20 Kilometer nördlich gelegenen Wetterstation Doberlug-Kirchhain 8,5 °C. Dabei beträgt die Jahresschwankung zwischen dem kältesten Monat Januar und dem wärmsten Monat Juli 18,4 °C.
== Geschichte ==
=== Ursprung und Gründung des Ortes ===
Die Gründung Zeischas, dessen Rundweilergestalt des alten Ortskernes mit dem Freiplatz heute noch erkennbar ist, erfolgte vermutlich im Zuge des mittelalterlichen deutschen Landesausbaus. Der Ort wurde zunächst durch slawische Sorben besiedelt. Die Bewohner des Ortes betrieben von alters her Ackerbau, Viehzucht und Fischerei.Nahe der heutigen Elsterbrücke befand sich einst die sogenannte Harigsburg, welche den Flussübergang sicherte. Der Überlieferung nach war sie um das Jahr 1000 eine Schutzanlage der slawischen Ritterschaft unter dem Ritter Aribo. In der 1837 erschienenen Chronik der Stadt Liebenwerda beschrieb der Autor Carl von Lichtenberg eine Fehde aus den Jahren zwischen 1058 und 1072. Im Verlauf des wegen der Abtwahl im Kloster Dobrilugk zwischen den Brehnaer Grafen und den nicht näher bezeichneten Heyderittern ausgebrochenen Konfliktes sollen das Dorf Grabo (eine zwischen Wahrenbrück und Uebigau gelegene Wüstung), die Warte Lausitz und die Harigsburg zerstört worden sein. Die unterlegenen Heyderitter wurden letztlich bestraft und ihrer Besitzungen beraubt. Außerdem wurde der gefangen genommene Ritter Aribo zum Hungertod verurteilt.Da unter anderem die Zisterzienserabtei Dobrilugk erst zwischen 1165 und 1184 gegründet wurde und auch andere Jahreszahlen des Werkes später widerlegt werden konnten, werden Lichtenbergs ohne eindeutige Quellen erwähnte Angaben aus heutiger Sicht als unsicher angesehen.Urkundlich wurde die Veste Harig erstmals im Jahre 1235 erwähnt. Markgraf Heinrich von Meißen belehnte in jenem Jahr den Zeidelmeister Ulrich von Rummelshain mit dem „Land an der Premnitz“, einem Gebiet, welches unter anderem die Dörfer Thalberg und Knissen sowie die Veste Harig an der Schwarzen Elster einschloss. Ein eindeutig greifbarer Beleg für die Existenz der Veste fehlt allerdings bis heute. Der Liebenwerdaer Heimatforscher M. Karl Fitzkow vermutete im 1955 erschienenen Liebenwerdaer Heimatkalender, dass die Harigsburg in der Folgezeit wieder aufgebaut wurde. Wann sie tatsächlich verschwunden ist, ist allerdings nicht bekannt, da sie später an keiner Stelle mehr erwähnt wurde. Erst im Juni 2011 konnten zwei einheimische Heimatforscher mittels historischer Messtischblätter und Luftbilder den genauen Standort ausmachen, wo sie 700 Jahre alte Scherben hartgebrannter Grauware fanden und die Burg somit archäologisch nachwiesen.
=== Erste urkundliche Erwähnung und Entwicklung des Ortsnamens ===
Urkundlich zum ersten Mal erwähnt wurde der Ort im Jahr 1391 im Zusammenhang mit der Zahlung von Abgaben an die Liebenwerdaer Stadtkirche und Burgkapelle. In der Urkunde wird das Dorf mit dem Namen Czscheisaw erwähnt. In der Folgezeit erschien der Ort unter verschiedenen Ortsnamen. So wurde Zeischa um 1422 auch als Cziso erwähnt, das dem heutigen polnischen Wort Cisza ähnelt und auf Deutsch etwa Ruhe oder auch Stille bedeutet.
Weitere Schreibweisen des Ortsnamens waren: 1457 Cziszaw, Czysow, 1460 Zcysow, 1489 Cscheyscha, 1490 Tscheischa, 1500 Zcscheissow, 1504 Zschopsau, 1529 Czischa, 1550 Zeischa, Zceyschaw, 1555 Zscheischaw, Tschissa, 1608 Zeise, Zscheischa, Zeischa sowie 1752 ZscheischaDas Dorf war Bestandteil des kursächsischen Amtes Liebenwerda. Zur Rechtsprechung mussten die Einwohner zum Dingstuhl im nördlich gelegenen Nachbardorf Dobra, welchem neben Zeischa auch Dobra selbst, Liebenwerda (außer dem Burgbezirk), Maasdorf und Zobersdorf angehörten.
=== Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Befreiungskriegen ===
Wie viele umliegende Gemeinden hatte auch Zeischa unter dem Dreißigjährigen Krieg zu leiden. Allerdings zerstörte bereits 1612 ein Brand große Teile des Dorfes, als fünf Gehöfte abbrannten. Ein Ereignis des bald folgenden Krieges, der für die gesamte Region viel Elend und Plünderungen von durchziehenden Truppen brachte, traf den Ort am 26. Mai 1634 und blieb bis in die Gegenwart in Erinnerung: Der Liebenwerdaer Bürgermeister Elias Borßdorff wurde an diesem Tag in der Nähe des Ortes von schwedischen Truppen an Pferden zu Tode geschleift, nachdem er die Herausgabe der Stadtkasse und 25.000 Taler Kontribution sowie sonstige Forderungen abgelehnt hatte. Knapp drei Jahre später (1637) lagerten Truppen des schwedischen Generals Johan Banér von Januar bis in den Frühsommer im etwa dreißig Kilometer westlich gelegenen Torgau. Dabei durchstreiften sie das angrenzende Elbe-Elster-Gebiet, plünderten seine Orte und setzten sie in Brand. Auch Zeischa wurde in dieser Zeit nicht verschont. Noch im Jahre 1659 gab es hier infolge des Krieges nur noch fünf von einstmals vierzehn Familien.Während der Befreiungskriege wurde im Frühjahr 1813 das Gebiet zwischen dem Liebenwerdaer Haidchensberg und Zeischa von preußischen Truppen bedrängt. Bis in das etwa einen Kilometer südlich gelegene Zobersdorf vollzog sich der Truppenaufmarsch, um die Soldaten Napoleons in die Zange zu nehmen. Auch im Herbst erlebte man im Vorfeld der Leipziger Völkerschlacht gewaltige Truppenbewegungen französischer und preußischer Kriegsverbände. So nahmen Ende September 1813 die Korps der preußischen Generäle Dobschütz und Tauentzien mit 30.000 Mann in Liebenwerda für zehn Tage Quartier.
=== Vom Wiener Kongress bis zur Bodenreform ===
Nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses 1815 musste das Königreich Sachsen, zu dem Zeischa gehörte, große Teile seines Staatsgebietes abtreten, wodurch der Ort nun zum Regierungsbezirk Merseburg der preußischen Provinz Sachsen gehörte. Bei der anschließenden Verwaltungsneuordnung entstand 1816 der Kreis Liebenwerda, in dem ein großer Teil des Amtes Mühlberg, das Amt Liebenwerda sowie Teile des Amtes Großenhain aufgingen.
Wie nahezu alle an der Schwarzen Elster gelegenen Orte wurde auch Zeischa von ständig wiederkehrenden Hochwassern des mit zahlreichen Nebenarmen durch die Niederung fließenden Flusses bedroht. So wurde in der Zeit des Siebenjährigen Krieges aus dem Jahr 1763 berichtet, dass sich in Zeischa elf Hufner vergeblich bemühten, den Feldern Erträge abzuringen, weil das ständige Hochwasser der Schwarzen Elster die Frucht verderbe. Deshalb versuchte man seit dem 16. Jahrhundert seitens der sächsischen Regierung mit den unterschiedlichsten Maßnahmen, dieser Naturgewalten Herr zu werden und die Auswirkungen einzudämmen. Nachdem die preußische Provinzialregierung schon seit 1817 Pläne für eine Regulierung entwickelt hatte, begann schließlich im Jahr 1852 das groß angelegte Elsterregulierungswerk ab Zeischa in Richtung Würdenhain. Bis zum Jahre 1863 erhielt der Fluss unter Einsatz von zeitweise bis zu 1200 Arbeitern auf einer Länge von etwa neunzig Kilometern sein heutiges Bett und wurde eingedeicht. Er wurde damit zu einem der am meisten eingeengten Flüsse Mitteleuropas.Mit der Regulierung der Schwarzen Elster wurden die meisten Fließe zugeschüttet, und die dem Fluss nahe gelegenen Fluren konnten allmählich bewirtschaftet werden. Nachdem 1875 im benachbarten Haida die erste Forstbaumschule gegründet worden war, etablierte sich auch bald in Zeischa das Baumschulenwesen. Im Jahre 1883 begann der Zeischaer Baumschulenbesitzer Gottfried Reichenbach mit dem Anbau von Holzpflanzen. Ihm folgten 1888 die Brüder Eduard und August Andrack. Die Anbauflächen der Zeischaer Baumschulen ziehen sich bis in die Gegenwart nahe der Zeischaer Ortslage durch die Niederung. Zur selben Zeit gewann die nun beginnende Industrialisierung der Zeischaer Umgebung mehr und mehr Einfluss auf den Ort. Im Juni des Jahres 1874 wurde die Oberlausitzer Eisenbahn von Kohlfurt über Biehla bis Falkenberg/Elster (Bahnstrecke Węgliniec–Roßlau) übergeben. Auch Zeischa bekam hier eine eigene Station.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich im Ort allmählich eine weitere ihn prägende Tradition. 1888 begann nordöstlich von Zeischa der Liebenwerdaer Kaufmann und Fabrikant Carl Weiland mit dem Kiesabbau, durch dessen Auswirkungen der heutige die Landschaft bestimmende Baggersee entstand. Weiland belieferte zunächst vor allem den Straßenbau, und auch der fortschreitende Eisenbahnbau brachte steigenden Absatz. Es entstand in der östlichen Flur ein eigenes Hartsteinwerk. Der Zeischaer Kies erwies sich auch ohne umfangreiche Aufbereitung als sehr guter Betonkies. Der Betrieb erhielt ein Anschlussgleis zur benachbarten Bahnstrecke, das auch Flächen in der Haidaer Flur nutzte und zeitweise von den dortigen Kieswerken ebenfalls bedient wurde. Um etwa 1900 teilte sich der Besitz in zwei Linien: zum einen Teil die sogenannte Liebenwerdaer Kieslinie mit der Kiesgrube in Zeischa und zum anderen die Linie des Rittergutes in Maasdorf mit Steinbrüchen in Schwarzkollm und Kamenz.Der Besitz des Maasdorfer Rittergutes wurde schließlich 1945 im Zuge der Bodenreform aufgeteilt, und auch der Zeischaer Familienbesitz wurde Volkseigentum. Er konnte von den Erben erst mit der deutschen Wiedervereinigung zurückerworben werden.
=== DDR ===
Nach Gründung der Deutschen Demokratischen Republik im Oktober 1949 erfolgte im darauffolgenden Jahr der Bau des heutigen Zeischaer Sportplatzes und 1955 errichtete man auf dem Friedhof eine Trauerhalle. Der nah gelegene Kiessee, der von der Bevölkerung schon lange zuvor als Badegewässer entdeckt worden war, weckte nun verstärkt das Interesse von Erholungssuchenden. 1964 wurde hier die erste Bungalowsiedlung gebaut und im Jahre 1970 schließlich das Waldbad eröffnet. Ein von 1956 bis 1957 entstandener Holzbrückenbau über die Schwarze Elster in Richtung des Nachbardorfes Zobersdorf wurde 1966/67 durch eine Betonbrücke ersetzt.Weitere Verbesserungen der Zeischaer Infrastruktur waren die Errichtung einer Konsumverkaufsstelle in der Bahnhofstraße (1967/68), der Bau eines Feuerwehrhauses (1970), der Ausbau einer Scheune zur Mehrzweckhalle (1973) und eine Kegelbahn (1976/77). Außerdem entstand von 1983 bis 1985 als Initiativbau des Baumschulbetriebes in Zeischa eine Kinderkombination, die am 5. März 1986 eingeweiht wurde. Weiterhin entstanden in dieser Zeit am Waldbad ein Kinderferienlager sowie eine Außenstelle der Liebenwerdaer „Station Junger Naturforscher“. Noch kurz vor der Wende errichtete man in den Jahren 1988 und 1989 in der Waldbadstraße ein Ärztehaus.
=== Jüngere Vergangenheit ===
Infolge der deutschen Wiedervereinigung gingen die Zeischaer Kieswerke zeitweise wieder in den Besitz der Familie Weiland über. Durch die mit der Wendezeit zunehmende Bautätigkeit in den neuen Bundesländern nahm auch der Bedarf an Baustoffen aus Zeischa zu. Die Kiesgrube, deren Ufer im Westen etwa bis zur Ortsverbindungsstraße Zeischa – Dobra reichte und wo man die Rohstoffe seit 1970 mittels Schwimmbagger gewann, vergrößerte sich rasch, so dass auch bald die Ortsverbindung nach Dobra durchbrochen wurde.Kurze Zeit später entstand in den Jahren 1991 und 1992 im Ort die Trink- und Abwasserleitung, der die Neugestaltung des Zeischaer Dorfangers folgte. Außerdem entsteht seit 1995 im Südosten des Ortes an der Kreisstraße 6210 die Siedlung „Am Holzplan“.Administrativ gehörte Zeischa bis zur Kreisgebietsreform in Brandenburg im Jahre 1993 zum Landkreis Bad Liebenwerda, der am 6. Dezember 1993 mit den Landkreisen Herzberg und Finsterwalde im Landkreis Elbe-Elster aufging. Am selben Tag wurde die Gemeinde zusammen mit den Orten Dobra, Kosilenzien, Kröbeln, Lausitz, Maasdorf, Möglenz, Neuburxdorf, Oschätzchen, Prieschka, Thalberg, Theisa und Zobersdorf in die Stadt Bad Liebenwerda eingemeindet.
Als im Herbst 2010 eine sogenannte Vb-Wetterlage mit flächendeckenden Niederschlägen in der Region zu einem Jahrhunderthochwasser der Schwarzen Elster führte, kam es zwischen Zeischa und Liebenwerda zu einer besonders prekären Situation. Der Deich war aufgrund der Wassermassen so stark aufgeweicht, dass selbst die zu Hilfe eilenden Einsatzkräfte den Abschnitt nicht mehr betreten konnten und er zu brechen drohte. Nachdem bereits zuvor bei Zobersdorf der Deich der am gefährdeten Abschnitt mündenden Kleinen Röder zur Entlastung geschlitzt worden war, sah man sich nun gezwungen, in kürzester Zeit einen etwa einen Kilometer langen Ersatzdamm zu errichten, um das Wasser bei einem Deichbruch aufzuhalten.Zeischa überstand das Hochwasser letztlich, ohne überflutet zu werden, und der gefährdete Deichabschnitt, nachweislich einer der ältesten Abschnitte am ganzen Fluss, wurde schließlich in den Jahren 2011 und 2012 auf einer Länge von 1,5 Kilometern komplett erneuert.
=== Bevölkerungsentwicklung ===
Zur Zeit der Koalitionskriege um das Jahr 1800 umfasste der Ort 16 Grundbesitzer, 22 Gebäude und sechs Häuserwohnungen. Im Jahre 1818 werden die überlieferten Zahlen genauer. Demnach lebten zu diesem Zeitpunkt 105 Einwohner in Zeischa. 1835 waren es dann 99 Einwohner und das Dorf bestand aus 20 Häusern.Erst mit der beginnenden Industrialisierung der Region gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Einwohnerzahlen zu steigen. So hatte Zeischa um 1875 150 und im Jahr 1910 bereits 250 Einwohner. Nachdem die Einwohnerzahl bis zum Jahr 1946 auf 493 Einwohner stieg – auch durch den Zuzug von Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg –, fiel sie in den Folgejahren wieder ab. 1999 erreichte Zeischa mit 512 Einwohnern seinen bisherigen Höchststand. Im Jahr 2011 lebten in diesem Ortsteil 432 Einwohner.
== Politik ==
Seit der Eingemeindung des Dorfes nach Bad Liebenwerda 1993 ist Zeischa ein Ortsteil der Kurstadt. Vertreten wird Zeischa nach der Hauptsatzung der Stadt durch den Ortsvorsteher und einen Ortsbeirat.
Ortsvorsteher ist gegenwärtig Helmut Andrack, der Ortsbeirat besteht aus Bernd Richter und Steffi Schuster.
== Kultur und Sehenswürdigkeiten ==
=== Bauwerke und Denkmäler ===
Die markantesten Bauwerke in Zeischa sind die ehemalige Dorfschule und ein dazugehöriger Glockenturm aus rotem Backstein am westlichen Ende des historischen Dorfangers. Sie befinden sich in der Denkmalliste des Landes Brandenburg. Die Schule folgte einem aus dem Jahre 1829 stammenden Schulgebäude. Da die Gemeinde einer von der königlichen Regierung geforderten Aufstockung des jährlichen Lehrergehaltes von 84 Talern und 20 Groschen auf 120 Talern nicht nachkommen konnte, wurde sie ab 1851 zunächst vom benachbarten Zobersdorf aus einige Jahre mitverwaltet und schließlich 1861 ganz geschlossen. Die Kinder des Dorfes besuchten deshalb seither die Schule in Zobersdorf. Dabei mussten sie die beide Orte voneinander trennende Schwarze Elster überqueren, was bei auftretendem Hochwasser zu erheblichen Schwierigkeiten und Gefahren führte. Die Zobersdorfer Schule gelangte schließlich wegen steigender Schülerzahlen in beiden Ortschaften an die Grenze ihrer Kapazität. Bereits aufgenommene Verhandlungen über den Bau einer neuen Schule in Zeischa wurden aber mangels finanzieller Mittel im Jahre 1897 wieder abgebrochen. Drei Jahre später wurden sie allerdings wieder aufgenommen, nachdem am 6. Dezember 1900 die sechsjährige Tochter des Baumschulenbesitzers Reichenbach auf dem Schulweg nach einem Sturz ins Wasser im Fluss ertrunken war. Der Zeischaer Unternehmer Carl Weiland sicherte finanzielle Unterstützung für den Bau zu, indem er die veranschlagte Bausumme der Gemeinde lieh, 2000 Mark zum Bau beisteuerte und sich außerdem zur Zahlung von jährlich 10 Mark Schulgeld für die Kinder seiner Angestellten verpflichtete. Mit dem In-Aussicht-Stellen von 9550 Mark Baubeihilfe durch die königliche Regierung konnte die Schule schließlich errichtet werden. Sie wurde kurz nach dem Bezug durch den neuen Dorflehrer am 27. November 1904 eingeweiht. Fast drei Jahre später folgte am 14. Juli 1907 die Weihung einer ebenfalls von Weiland gespendeten Glocke. Ihm wurde nach seinem Tod nahe dem Bahnübergang an der Landesstraße 593 ein bis in die Gegenwart erhalten gebliebener Gedenkstein errichtet.
Auf dem Friedhof von Zeischa befindet sich das unter Denkmalschutz stehende Grab des im Dreißigjährigen Krieg von schwedischen Truppen bei Zeischa zu Tode geschleiften Liebenwerdaer Bürgermeisters Elias Borßdorff. Der das Grab abdeckende, mit einer Inschrift versehene Gedenkstein stammt aus dem Jahre 1878. Ursprünglich bedeckte dieses Grab ein „einfacher Leichenstein“, der 1834 auf Initiative einiger Liebenwerdaer Bürger gehoben, erneuert und mit einer Inschrift versehen wurde. Zwei Jahre später gab ein Lehrer der Liebenwerdaer Töchterschule, K.G. Kretzschmar, die Denkschrift „Denkworte zur Erinnerung des Borsdorffschen Denksteins“ heraus. Als die Verwitterung die Inschrift des Steins im Laufe der Jahrzehnte nahezu unleserlich gemacht hatte, wurde im Jahre 1878 das Grab unter Mitwirkung des Maurermeisters Jost, des Bildhauers Lauschke und des Schlossermeisters Franke erneuert und von einem kleinen eisernen Gitter umgeben.Außerdem wird auf dem Friedhof mit einem Denkmal der gefallenen Einwohner des Ersten Weltkriegs gedacht. Am Eingang der Trauerhalle befinden sich ferner zwei Plaketten mit den Namen der Gefallenen des Zweiten Weltkriegs.
=== Touristische Anbindung ===
Mehrere befestigte Radwege entlang der Schwarzen Elster verbinden Zeischa mit Bad Liebenwerda, dem umliegenden Elbe-Elster-Gebiet, der nördlich angrenzenden Liebenwerdaer Heide und weiteren Sehenswürdigkeiten des Umlandes. Mit der Tour Brandenburg führt unter anderem der mit 1111 Kilometern längste Radfernweg Deutschlands am Dorf vorbei. Weitere Radrouten sind der Fürst-Pückler-Radweg, der unter dem Motto „500 Kilometer durch die Zeit“ in die Projektliste der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land aufgenommen wurde, und der 108 Kilometer lange Schwarze-Elster-Radweg.Die nächsten Bootsanlegestellen für den in jüngerer Zeit auf der Schwarzen Elster aufgekommenen Gewässertourismus befinden sich in Höhe des Zeischaer Ortskerns sowie etwa zwei Kilometer flussaufwärts am Flusskilometer 64,5 im Bereich der Elsterbrücke an der Landesstraße 593. In Bad Liebenwerda gibt es außerdem Ausleihstationen für Kanus und Schlauchboote.In Zeischa selbst gibt es mehrere Übernachtungsmöglichkeiten. Neben der Gaststätte „Zum Elstertal“ im Ortszentrum bieten mehrere privatbetriebene Pensionen Unterkunft. Ein weiterer Betrieb des Gastgewerbes ist das „Waldcafe“ am Sportplatz.Nördlich des Ortes befindet sich außerdem das Naherholungsgebiet „Waldbad Zeischa“, wo mit der Gaststätte „Am Waldbad“ ein weiterer gastronomischer Betrieb ansässig ist. Neben dem etwa drei Hektar umfassenden Waldbad ist ein inzwischen sieben Hektar großer Campingplatz mit 137 Stellplätzen und Mietbungalows entstanden. Das Areal gehörte ursprünglich zur Zeischaer Kiesgrube, wo gegenwärtig noch Kies gewonnen wird und die eine Wasserfläche von etwa achtzig Hektar hat. Für das Gebiet, das noch unter Bergbaurecht steht und das im Kurortentwicklungsplan von Bad Liebenwerda als künftiges Erholungs- und Wassersportzentrum angedacht ist, wird im Auftrag der Stadtverwaltung zurzeit ein Konzept für die touristische und naturschonende Nachnutzung erarbeitet.
=== Regelmäßige Veranstaltungen ===
Jährlicher Höhepunkt im Ort ist am zweiten Wochenende im August eines jeden Jahres das Waldbadfest.Weitere regelmäßige Veranstaltungen im Ort sind das alljährliche Osterfeuer auf dem Gelände der Freiwilligen Feuerwehr, das Dorf- und Kinderfest im Juni, die Zeischaer Kneipennacht, die im Jahr 2012 bereits zum zehnten Mal stattfand, sowie der Martinsumzug am 11. November und die weihnachtliche Blasmusik auf dem Dorfanger an Heiligabend.
=== Vereine ===
Eng verbunden ist der Ort mit der seit den 1960er Jahren bestehenden und in der Region durch ihre Auftritte bei Volksfesten sowie anderen Veranstaltungen bekannten Musikformation „Elstertaler Blasmusikanten“. Nach der Wende schloss sich diese Gruppe schließlich mit weiteren Zeischaer Musikern zum „Musikverein Zeischa 1993 e.V.“ zusammen, der seitdem einer der aktivsten Vereine im Ort ist und von 1994 bis 2009 alljährlich den inzwischen aus wirtschaftlichen Gründen eingestellten „Zeischaer Musikantenstad’l“ organisierte.Weitere aktive Vereine im Ort sind unter anderem die seit 1875 bestehende Freiwillige Feuerwehr, der Zeischaer Heimatverein, der Jugendclub, der Sportverein sowie der Deutsche Amateur-Radio-Club, dessen Ortsverband „Elbe-Elster“ sich regelmäßig im Zeischaer Gasthof „Zum Elstertal“ trifft. Die Funkamateure organisierten im Dorf bereits vor der Wiedervereinigung mehrfach Ausbildungslager und in der Gegenwart Fielddays, sogenannte Fuchsjagden sowie andere Veranstaltungen.
=== Literatur ===
Vereinzelte Beiträge über Zeischa sind vor allem in älteren Ausgaben der „Schwarzen Elster“, einer heimatkundlichen Schriftenreihe, sowie im seit 1912 erscheinenden „Liebenwerdaer Heimatkalender“ zu finden. Gegenstand der Aufsätze sind hier meist die Sagen um den im Dreißigjährigen Krieg zu Tode gekommenen Liebenwerdaer Bürgermeister Elias Borsdorff und die Zeischaer Harigsburg. Letztere machte die Schriftstellerin Nora Günther in ihrem 2009 erschienenen historischen Roman „Aribo: Ritter der Harigfeste“ zum Mittelpunkt der Geschichte, die sich an historischen Tatsachen, regionalen Orten und Überlieferungen orientiert. Ein Jahr zuvor war außerdem das Buch „Von wem habe ich das bloß. Auf den Spuren der Ahnen. Eine Gebrauchsanweisung.“ von Manuel Andrack erschienen, in welchem der Autor auf humorvolle Art beschreibt, wie er bei den Nachforschungen zu seiner Familiengeschichte letztlich auch in Zeischa landete.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
=== Wirtschaft und Verkehr ===
Zeischa liegt südlich der Bundesstraße 101 an der Bahnstrecke Węgliniec–Roßlau. Durch den Ort führt die Kreisstraße 6210, wodurch er an die Städte Bad Liebenwerda und Elsterwerda angebunden ist. Mit der Kreisstraße 6212 gibt es eine nach Süden führende Verbindung zur Landesstraße 59 (Bad Liebenwerda – Ortrand) und an der östlichen Ortsgrenze tangiert die L 593 (Oschätzchen – B 101).
Geprägt wird der Ort seit Ende des 19. Jahrhunderts vor allem durch die hier einst zahlreich ansässigen Baumschulbetriebe sowie den Kiesabbau im Norden des Ortsteils.
Derzeit sind hier einige mittelständische Unternehmen der Landwirtschaft, aus dem Handwerk sowie des Dienstleistungsgewerbes ansässig. Während der Zeischaer Kiesabbau allmählich endet und der dadurch entstandene Baggerteich künftig nur noch touristisch genutzt werden soll, wird die Zeischaer Flur weiterhin durch die Anbauflächen der Baumschulen geprägt. Ansässig ist hier unter anderem die Forstbaumschule Fürst Pückler GmbH, die 1991 aus der 1959 gegründeten Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft „3. Forstkonferenz“ Zeischa hervorging. Ein weiteres örtliches Unternehmen der Branche ist die Baumschule Graeff. Aus ihrer Rosenzucht ging unter anderem im Jahre 2007 die „Joe-Polowsky-Friedensrose“ zu Ehren des amerikanischen Friedensaktivisten hervor. Außerdem befindet sich auf dem Gelände der einstigen GPG ein Bau- und Gartencenter.
=== Bildung ===
Die Zeischaer Kindertagesstätte „Pfiffikus“ in der Bahnhofstraße, die aus der einstigen Kinderkombination hervorging, befindet sich in der Trägerschaft der Stadt Bad Liebenwerda und bietet gegenwärtig 70 Betreuungsplätze an. Sie arbeitet seit dem Jahr 2004 nach dem Kneipp-Konzept und wurde deshalb mehrmals als einer von bundesweit etwa dreihundert Kindergärten vom Kneipp-Bund, dem Dachverband von etwa 600 Kneipp-Vereinen, zertifiziert und mit dem „Gütesiegel Kneipp“ ausgezeichnet.Eingeschult werden die Kinder des Ortsteils gegenwärtig im Grundschulzentrum Robert Reiss in Bad Liebenwerda. Die Einrichtung besitzt den Status einer Ganztagsschule. Sie entstand im August 2006 durch den Zusammenschluss der Grundschulen in Bad Liebenwerda, Neuburxdorf und Zobersdorf, wo bis zu diesem Zeitpunkt auch die Zeischaer Kinder eingeschult wurden.Des Weiteren gibt es in Bad Liebenwerda eine Oberschule. Die Kreisvolkshochschule „Elbe-Elster“ bietet in der Stadt Kurse und andere Weiterbildungsmöglichkeiten an. Die Kreismusikschule Gebrüder Graun hat in der Stadt eine Außenstelle. Außerdem gibt es dort eine Stadtbibliothek, die neben den üblichen Ausleihmöglichkeiten von gegenwärtig etwa 21.000 Medien Bibliotheksführungen, literarische Veranstaltungen und Schriftstellerlesungen anbietet.
=== Medien ===
Monatlich erscheint in Zeischa als Amtsblatt der Stadt Bad Liebenwerda „Der Stadtschreiber“. Der Kreisanzeiger des Landkreises Elbe-Elster erscheint nach Bedarf. Die regionale Tageszeitung im Elbe-Elster-Kreis ist die Lausitzer Rundschau mit einer Auflage von etwa 88.000. Die kostenlosen Anzeigenblätter Wochenkurier und SonntagsWochenBlatt erscheinen wöchentlich.
== Dokumentationen (Film) ==
Verein für Stadtmarketing und Wirtschaft Bad Liebenwerda e.V. (Hrsg.): Das Weiße Gold von Zeischa. Produktion: Elbe-Elster-Fernsehen, Sprecher Klaus Feldmann, 2011
== Literatur ==
Korinna Tischer: Ortsteil Zeischa. In: Verein für Stadtmarketing und Wirtschaft Bad Liebenwerda e.V. (Hrsg.): Chronik der Stadt Liebenwerda. Winklerdruck Gräfenhainichen, Bad Liebenwerda 2007, OCLC 830969843, S. 272/273.
M. Karl Fitzkow: Zur älteren Geschichte der Stadt Liebenwerda und ihres Kreisgebietes (= Beiträge zur Heimatgeschichte des Kreises Bad Liebenwerda. Heft 2). Bad Liebenwerda 1961, DNB 451289838.
== Weblinks ==
Privater Internetauftritt des Ortsteils
== Fußnoten und Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Zeischa
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Kreuzbandriss
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= Kreuzbandriss =
Von einem Kreuzbandriss, auch Kreuzbandruptur genannt, spricht man bei einem unvollständigen (partiellen) oder vollständigen (kompletten) Riss (Ruptur) eines oder beider Kreuzbänder. In den meisten Fällen ist das vordere Kreuzband (Ligamentum cruciatum anterius) betroffen. Die Ursache für einen Kreuzbandriss ist das Überschreiten der Reißfestigkeit des Bandes.
Kreuzbandrisse entstehen meist ohne Fremdeinwirkung durch plötzliche Richtungswechsel beim Laufen oder Springen. Sie sind die häufigsten klinisch relevanten Verletzungen im Bereich des Kniegelenks. Kreuzbandrisse können anhand ihrer Symptome, der Beschreibung des Verletzungsvorgangs und mit Hilfe einfacher tastender (palpatorischer) Untersuchungen relativ sicher diagnostiziert werden. Magnetresonanztomographie und Arthroskopie können die Diagnosestellung weiter absichern. Unbehandelte Kreuzbandrupturen können zu schweren degenerativen Schäden im Knie führen. Die Therapie kann sowohl konservativ als auch chirurgisch (minimalinvasiv mittels Arthroskopie) erfolgen. Welche Therapie wann und in welcher Variante ausgeführt wird, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen. Unbestritten ist dagegen, dass derzeit keine Therapieform qualitativ den ursprünglichen Zustand eines unverletzten Kreuzbandes wiederherstellen kann. Eine Langzeitfolge eines Kreuzbandrisses ist die deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit der Ausbildung einer Kniegelenksarthrose – unabhängig von der Art der Behandlung.
Eine Vielzahl von Studien kommt zu dem Ergebnis, dass durch spezielle präventive Übungen das Risiko für einen Kreuzbandriss deutlich gesenkt werden kann.
In der anglo-amerikanischen Fachliteratur wird für Verletzungen des vorderen Kreuzbandes der Begriff anterior cruciate ligament injury verwendet. Kreuzbandriss wird korrekterweise mit cruciate ligament rupture übersetzt. Verletzungen des hinteren Kreuzbandes (Ligamentum cruciatum posterius) werden im Englischen als posterior cruciate ligament injury bezeichnet.
== Arten ==
In den wenigsten Fällen sind Kreuzbandrisse isolierte Verletzungen. Die Rupturen werden meist von anderen Läsionen weiterer Bänder und der Menisken begleitet. Es können zwei Arten von Kreuzbandrissen unterschieden werden:
Vorderer oder hinterer Kreuzbandriss mit sagittaler, das heißt von vorne nach hinten verlaufender, Instabilität und positivem Schubladenphänomen
Kombinationsverletzung mit Schubladenphänomen in Drehstellung des Fußes nach innen oder außen:Anteromediale Rotationsinstabilität (AMRI, vorne-mittige Drehbewegungsinstabilität): vorderer Kreuzbandriss, Riss des Innenmeniskus und der mediodorsalen Kapsel, oft zusätzlich (meist zur Mitte zeigender) Riss des Innenbandes (sogenannte Unhappy Triad).
Anterolaterale Rotationsinstabilität (ALRI, vorne-seitliche Drehbewegungsinstabilität): Riss des hinteren Kreuzbandes, des Außenbandes und der dorsolateralen Kapsel.
Posterolaterale Rotationsinstabilität (PLRI, hintere-seitliche Drehbewegungsinstabilität): Riss des Außenbandes und des hinteren Kreuzbandes bei hinterer-mittiger, beziehungsweise hinterer-seitlicher Drehbewegungsinstabilität.
== Verletzungsmechanismen ==
=== Vorderes Kreuzband ===
Die Verletzung des vorderen Kreuzbands entsteht typischerweise durch einen Richtungswechsel. Häufig liegt eine Drehbewegungsstellung des Unterschenkels nach außen mit Valgusbeugungsstress oder eine Drehbewegungsstellung nach innen mit Varusbeugungsstress vor. Auch zu starke Streck- oder Beugebewegungen (Hyperextension beziehungsweise Hyperflexion) können ein Auslöser sein. In den überwiegenden Fällen handelt es sich um Sportverletzungen. Besonders häufig treten solche Verletzungen (Traumata) unter sogenannten „Stop-and-Go“-Sportarten (z. B. Tennis oder Squash) und bei Mannschaftssportarten (z. B. Fußball, Football, Handball, Hockey oder Basketball) – oft auch unter Fremdeinwirkung – auf. Auch beim Skifahren – vor allem wenn der Tal-Ski nach außen dreht, der Körper aber über dem Berg-Ski fixiert bleibt – sind Rupturen des vorderen Kreuzbandes eine häufige Art der Verletzung. Der über die Valgus- und Innenrotationsstellung laufende Verletzungsmechanismus beim Skifahren wird auch als „Phantomfuß-Mechanismus“ bezeichnet. Ein Riss kann auch durch eine Auskugelung der Kniescheibe (Patellaluxation) mit plötzlichem Stabilitätsverlust des Kniegelenks bedingt sein.
Durch den Ausfall (Insuffizienz) des vorderen Kreuzbandes ist die Funktion eines der beiden zentralen passiven Führungselemente (primäre Stabilisatoren) des Kniegelenks gestört. Daraus resultiert eine pathologische Bewegungsfreiheit des Schienbeinkopfes nach vorne (ventral), der sogenannte „Tibiavorschub“. Gelenkkapsel, Seitenbänder, hinteres Kreuzband und Menisken werden vermehrt beansprucht, um den Schienbeinvorschub zu bremsen. Es kommt zu einer Überdehnung der Bandstrukturen. Bei Zunahme des Schienbeinvorschubs kommt es zu Knorpelschäden. Diese sind unter anderem dadurch bedingt, dass der Knorpel einer deutlich höheren Belastung ausgesetzt ist. Eine höhere Belastung bedeutet in so einem Fall eine frühzeitige Abnutzung mit Ausbildung einer Arthrose. Den vorderen Kreuzbandriss begleitende Verletzungen der Menisken und des Knorpels potenzieren das Risiko einer Arthrose.
=== Hinteres Kreuzband ===
Risse des hinteren Kreuzbands sind seltener. Sie entstehen aufgrund des Überschreitens der maximalen Dehnungsmöglichkeit des hinteren Kreuzbands, in der Regel durch äußere Gewalteinwirkung. Von einem hinteren Kreuzbandriss ist in den meisten Fällen nicht nur das hintere Kreuzband betroffen. Die Verletzungen sind daher meist weitaus komplexer und betreffen in der Regel das gesamte Kniegelenk. Hauptursache für einen Riss des hinteren Kreuzbandes sind Verkehrsunfälle oder allgemeiner sogenannte Rasanztraumata. Dies ist darauf zurückzuführen, dass durch das Sitzen im PKW das Knie gebeugt ist. Durch ein Aufprallen des Unterschenkels an das Armaturenbrett reißt das hintere Kreuzband. Dieser Mechanismus wird deshalb auch dashboard injury (wörtlich aus dem engl. übersetzt: Armaturenbrett-Verletzung) genannt. Diese Form der Verletzung ist allerdings relativ selten, und ihre Häufigkeit hat im Laufe der Jahre mehr und mehr abgenommen. So fanden sich in einer in Deutschland durchgeführten Studie mit über 20.000 Unfallopfern bei Pkw-Unfällen lediglich 5 Fälle von dashboard injury.Bei körperkontaktbetonten Sportarten, wie beispielsweise American Football, kann eine von vorne-mittig einwirkende Gewalt durch eine zu starke Streckung zu einer Verletzung des hinteren Kreuzbandes führen. Häufig kommt es hierbei zu Mitverletzungen des vorderen Kreuzbandes sowie der hinteren Gelenkkapsel.
== Häufigkeit ==
Der Anteil an Verletzungen der Bänder im Knie an allen klinisch relevanten Knieverletzungen liegt bei etwa 40 %. Von diesen 40 % wiederum gehen etwa zwei Drittel der Verletzungen auf das Konto von Kreuzbandrissen – zu 46 % nur das vordere Kreuzband und zu 4 % nur das hintere. Mischverletzungen, beziehungsweise komplexere Verletzungen, mit Beteiligung der Kreuzbänder haben einen Anteil von 19 %. Das vordere Kreuzband reißt statistisch gesehen etwa zehnmal so häufig wie das hintere. Die Hauptursache für die deutlich geringere Inzidenz von Rupturen des hinteren Kreuzbandes sind zum einen dessen größerer Durchmesser und die dadurch bedingte vergleichsweise höhere Belastungsfähigkeit und zum anderen seine anders geartete Funktion. In den Vereinigten Staaten beträgt das Verhältnis von Rupturen des vorderen Kreuzbandes zum hinteren etwa 9 bis 10 : 1, in Deutschland etwa 14 : 1.
Weltweit kommt es zu rund einer Million Kreuzbandrissen pro Jahr. Zumeist sind Freizeitsportler betroffen. Der Riss des vorderen Kreuzbandes ist nicht nur die häufigste Bandverletzung des Knies, sondern auch die häufigste klinisch relevante Verletzung des Knies überhaupt. Die Häufigkeit liegt bei etwa 0,5 bis 1 vorderen Kreuzbandrissen pro tausend Einwohner (USA, Mitteleuropa) und Jahr. In den Vereinigten Staaten kommt es pro Jahr zu etwa 80 000 bis 100 000 Rupturen des vorderen Kreuzbandes. Die Inzidenz ist im Altersintervall von 15 bis 25 Jahren am höchsten. Die dadurch entstehenden jährlichen Kosten liegen bei ungefähr 1 Milliarde Dollar.In Deutschland betrugen 2002 die Krankheitskosten in den Krankenhäusern für die Behandlung der „Binnenschädigung des Kniegelenks“ – bei der Kreuzbandrisse den Hauptanteil verursachen – 359,3 Millionen Euro. Statistisch gesehen reißt in Deutschland alle 6,5 Minuten ein Kreuzband. Bei etwa jedem Dritten ist zusätzlich ein Meniskus beschädigt. In der Schweiz liegen die Schätzungen für die jährlichen Kosten durch Kreuzbandrupturen bei 200 bis 250 Millionen Franken. Von dieser Summe entfallen 40 % auf Heilkosten, 47 % auf Tagegelder, 2 % auf Kapitalleistungen, wie beispielsweise Integritätsentschädigungen (ein sozialversicherungsrechtliches Schmerzensgeld) und 12 % auf Invalidenrenten (Kapitalwerte). Pro Kreuzbandriss sind dies fast 21.000 Franken, mit einem durchschnittlichen Heilkostenanteil von 8350 Franken.Die Schweizerische Unfallstatistik (UVG), von der etwa die Hälfte aller Schweizer Bürger erfasst wird, meldet pro Jahr 6350 Verletzungen des vorderen Kreuzbandes (Zeitraum 1997 bis 2001). Die Hochrechnung für die Schweiz geht von 10.000 bis 12.000 Fällen aus. Von den erfassten 6350 Verletzungen werden 73 % durch „Sport und Spiel“ verursacht, 10 % sind Berufsunfälle, und 17 % entfallen auf sonstige Tätigkeiten, wie beispielsweise Wegeunfälle, Aufenthalt in Häusern oder andere Freizeitaktivitäten.Frauen bzw. Mädchen haben eine zwei- bis achtmal höhere Verletzungsrate als Männer, die den gleichen Sport ausüben. Verschiedene Studien zeigen, dass diese Verletzungen vor allem kontaktlos hervorgerufen werden. Hier spielt eine funktionelle Valgusposition des Kniegelenks bei Landung nach einem Sprung eine wegweisende Rolle. Bei Basketballspielerinnen ist einer Studie zufolge die Wahrscheinlichkeit für eine Knieverletzung, eine Operation am Knie oder des vorderen Kreuzbandes viermal höher als bei männlichen Basketballspielern. Bei Fußballspielerinnen beträgt dieser Faktor 3,41.
Die Ursache für die erhöhte Inzidenz bei Frauen ist noch weitgehend unklar. So werden anatomische Unterschiede, wie beispielsweise ein größeres Spiel im Kniegelenk, Hormone und Trainingstechniken diskutiert.Der Anteil einzelner Sportarten an der Häufigkeit eines Kreuzbandrisses hängt sehr stark von den lokalen Präferenzen für die jeweilige Sportart ab. In den USA beispielsweise haben Basketballspieler (20 %), gefolgt von Fußball- (17 %) und American-Football-Spielern (14 %), den höchsten Anteil an Kreuzbandrissen, während in Norwegen die Reihenfolge Fußballspieler (42 %), Handballspieler (26 %) und alpine Skifahrer (10 %) ist. In Deutschland treten die häufigsten Kreuzbandrisse bei den Sportarten Fußball, Handball und Skifahren (alpin) auf. Danach folgen Straßenverkehrs- und Arbeitsunfälle. Über 70 % der Risse des vorderen Kreuzbandes entstehen ohne Fremdeinwirkung bei der Landung nach einem Sprung, beim Abbremsen oder beim plötzlichen Richtungswechsel.Die Anzahl der jährlich diagnostizierten Kreuzbandrupturen nimmt seit Jahren beständig zu. Neben den verbesserten diagnostischen Möglichkeiten – mit der häufiger Kreuzbandrisse auch als solche erkannt werden – ist auch die Zunahme an sportlichen Aktivitäten in der Freizeitgesellschaft schuld an dieser Tendenz. Ohne einige bestimmte Sportarten wären Kreuzbandrupturen ein relativ seltenes Trauma.
== Risikofaktoren ==
Außer den unter der Rubrik Häufigkeit bereits beschriebenen Faktoren Sportart und Geschlecht spielen noch andere Risikofaktoren beim Kreuzbandriss eine Rolle. Aufgrund der Häufigkeit der Verletzung liegen umfassende statistische Daten und eine Vielzahl daraus abgeleiteter Studien vor. Die Ätiologie des vorderen Kreuzbandrisses ohne Fremdeinwirkung ist sehr vielschichtig, und eine Reihe von teilweise sehr unterschiedlichen Faktoren beeinflussen das Risiko einer Ruptur. Es ist bis heute noch nicht vollständig zu erklären, warum einzelne Personen ein höheres Risiko für diese Verletzung haben als andere. Beispielsweise ist ungeklärt, warum nach der Verletzung des vorderen Kreuzbands eines Knies eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für dieselbe Verletzung des anderen Knies innerhalb der nächsten Jahre gegeben ist. So haben deutsche Fußballspielerinnen, die bereits einen Kreuzbandriss hatten, eine über fünfmal höhere Wahrscheinlichkeit für eine erneute Kreuzbandruptur als Spielerinnen, die bisher von dieser Verletzungsart verschont waren. Bei den Risikofaktoren wird zwischen intrinsischen (personenbezogenen) und extrinsischen (äußeren) Faktoren unterschieden. Zu den intrinsischen Faktoren gehören beispielsweise die genetische Prädisposition beziehungsweise Anatomie, Trainingszustand (Fitness), neuromuskuläre Effekte oder hormonelle Faktoren. Dagegen sind beispielsweise die Bodenbeschaffenheit, das Wetter oder die Sportschuhe extrinsische Risikofaktoren.
Die Kenntnis der Risikofaktoren für Kreuzbandrisse ist ein wichtiger Ansatzpunkt für präventive Maßnahmen.
=== Intrinsische Risikofaktoren ===
Anatomische Faktoren gehören zu den schon länger vermuteten Risikofaktoren. Die Reißfestigkeit eines Kreuzbandes hängt unmittelbar mit dessen Breite zusammen, die wiederum von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein kann. In einer anthropometrischen Studie wurden die vorderen Kreuzbänder des unverletzten kontralateralen Knies von Patienten mit einer Kreuzbandruptur mit denen einer Kontrollgruppe mit gleicher mittlerer Körpermasse verglichen. Die Volumina der Kreuzbänder wurden mittels Magnetresonanztomografie ermittelt. In der Gruppe mit Kreuzbandrissen betrug das Volumen des kontralateralen Kreuzbandes durchschnittlich 1921 mm³, während es bei der Kontrollgruppe bei 2151 mm³ lag. Die Autoren der Studie schließen daraus, dass anthropometrische Unterschiede im Volumen – und daraus abgeleitet der Breite – des Kreuzbandes einen direkten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit eines Kreuzbandrisses ohne Fremdeinwirkung haben. Schon in früheren Studien wurde eine Korrelation von einer schmalen Kreuzbandhöhle (interkondyläres Notch), die wiederum im Zusammenhang mit einem schmaleren Kreuzband steht, mit einem erhöhten Risiko für einen Kreuzbandriss festgestellt. Allerdings herrscht darüber kein wissenschaftlicher Konsens, da andere Studien zu anderen Ergebnissen kommen. Frauen haben gegenüber Männern eine schmalere Kreuzbandhöhle, weshalb dieser anatomische Unterschied ein Erklärungsmodell für die höhere Inzidenz von Kreuzbandrupturen bei Frauen ist.Defizite in der Propriozeption, das heißt der Wahrnehmung der eigenen Körperbewegung und -lage im Raum, werden ebenso wie neuromuskuläre Ermüdungserscheinungen in den unteren Extremitäten und zentrale Ermüdungserscheinungen bei der Landung nach einem Sprung als Risikofaktoren für eine vordere Kreuzbandruptur gesehen. In einer Studie wurde festgestellt, dass die Patienten mit einem Kreuzbandriss signifikante Defizite bei neurokognitiven Fähigkeiten hatten. Weitere Risikofaktoren sind eine dynamische Valgusbelastung der Kniegelenke, eine fehlende Hüft- und Rumpfkontrolle und eine geringe Kniebeugung bei der Landung nach einem Sprung. Außerdem erhöht eine sogenannte Quadrizepsdominanz, d. h. ein Überwiegen der Kraft des M. quadriceps gegenüber der ischiocruralen Muskulatur, das Risiko für eine Verletzung des vorderen Kreuzbandes.
=== Extrinsische Risikofaktoren ===
Der Reibungskoeffizient zwischen der Sohle des Sportschuhs und dem Untergrund ist ein Faktor bei der Ursache eine Kreuzbandrisses. Ein hoher Reibungskoeffizient korreliert mit einem erhöhten Verletzungsrisiko. In einer Studie über zwei Spielzeiten in den oberen drei norwegischen Handball-Ligen spielte bei 55 % der Kreuzbandrisse der Reibungskoeffizient Sportschuh/Bodenbelag eine Rolle. In kälteren Monaten werden im American Football weniger Spieler durch Kreuzbandrisse verletzt als in wärmeren Monaten. Eine mögliche Ursache ist die in den kühleren Monaten reduzierte Bodenhaftung.In einer Studie über Kreuzbandrisse bei Australian Football wird ebenfalls ein Zusammenhang mit den Wetterbedingungen und der Verletzungsrate beschrieben. So war die Verletzungsrate auf trockenen Spielfeldern signifikant höher als auf feuchten. Als Ursache wird ein weicherer Untergrund nach Niederschlägen vermutet, der die Kraftübertragung zwischen Schuh und Oberfläche reduziert.Ebenfalls in Australien wurde ein Zusammenhang mit der Bodenbeschaffenheit festgestellt. So rissen in der Australian Football League auf Weidelgras weniger Kreuzbänder als auf Hundszahngras. Hier wird als Ursache eine reduzierte Haftung der Sportschuhe in Wechselwirkung mit dem Weidelgras vermutet, wodurch die für das Kreuzband destruktive Kraftübertragung geringer ist als auf dem Hundszahngras mit höherer Haftung.
== Symptomatik ==
Wenn ein Kreuzband gerissen ist, führt dies meist zu einer deutlichen Schwellung des Kniegelenks und in Folge zu Schmerzhaftigkeit aufgrund der Kapseldehnung des Gelenkes. Ein blutiger Gelenkerguss (Hämarthros) ist der Normalfall bei einem Kreuzbandriss. Er tritt in 95 % der Fälle auf und schränkt sehr schnell die Beweglichkeit des Kniegelenks ein. Zusammen mit der Instabilität des Kniegelenks ist ein Hämarthros ein Leitsymptom für eine Kreuzbandruptur. Umgekehrt ist ein Kreuzbandriss für etwa 50 bis über 75 % aller Hämarthrosen verantwortlich. Diese Symptomatik wurde bereits im Jahre 1879 von dem Franzosen Paul Ferdinand Segond (1851–1912) beschrieben: Heftiger Schmerz im Knie-Inneren und rasches Einbluten mit entsprechender Schwellung des Gelenkes. Ursache für diese Symptome sind die im Kreuzband verlaufenden Nervenfasern und Blutgefäße. Erstere lösen beim Zerreißen den Schmerz aus, und letztere sorgen für die Einblutung in das Gelenk.
Oft ist das Zerreißen mit einem hörbaren Knall („Plopp“) verbunden. Auf das Zerreißen folgt ein kurzer Schmerz. Die Instabilität im Knie bemerkt der Betroffene schon unmittelbar, wenn sich der erste Schmerz gelegt hat. Der Gelenkerguss stellt sich meist erst im Laufe des Tages ein. In der Regel muss der ausgeübte Sport abgebrochen werden. Eine Ausnahme sind Skifahrer, die oft noch die Abfahrt bewerkstelligen können – allerdings unter erheblichen Schmerzen. Treffen all diese Symptome zu, so handelt es sich mit 90-prozentiger Sicherheit um einen Riss des vorderen Kreuzbandes (oder beider). Das Knie lässt sich meist nicht mehr ganz strecken und wird in leichter Beugestellung gehalten (Schonhaltung). In dieser Beugestellung kann man den Unterschenkelknochen mit der Hand gegen den Oberschenkelknochen um etwa 5–10 mm nach vorne ziehen, ohne einen Anschlag zu spüren, während beim gesunden Knie nur wenige Millimeter (2–3 mm) möglich sind und man dann einen Anschlag verspürt (positiver Lachman-Test).
Nach etwa einer Woche klingen die Symptome bei einem vorderen Kreuzbandriss wieder ab. Manche Patienten beginnen bereits nach zwei Wochen wieder mit Sport. Der Grad der Instabilität des Kniegelenkes ist stark abhängig von den sekundären Kniegelenks-Stabilisatoren beziehungsweise deren Trainingszustand. Sekundäre Kniegelenks-Stabilisatoren sind andere periphere Bänder und Muskelsehnen. Sie können teilweise die Funktion des vorderen Kreuzbandes zur Stabilisierung des Kniegelenkes übernehmen. Viele Patienten sind dann drei bis sechs Monate weitgehend beschwerdefrei. Danach können die sekundären Stabilisatoren die auf das Kniegelenk einwirkenden Kräfte aber meist nicht mehr abfangen. Schäden an den Menisken und Seitenbändern sowie ein vermehrtes Auftreten von giving way sind die Folge.
== Begleitverletzungen ==
Isolierte vordere Kreuzbandrisse sind eher die Ausnahme. Bis zu 80 % aller Kreuzbandrisse werden von anderen Verletzungen begleitet. Verletzungen der Menisken sind dabei ausgesprochen häufig. In einer umfangreichen Studie wurde bei akuten Kreuzbandrissen in 42 % der Fälle ein Riss des Innenmeniskus und zu 62 % ein Riss des Außenmeniskus diagnostiziert. In einer anderen Studie wurde bei Kreuzbandrissen im chronischen Intervall (bei der Durchführung einer Bandplastik) bei 60 % der Patienten ein Riss des Innenmeniskus und bei 49 % einer des Außenmeniskus festgestellt.
Wird der verletzte Meniskus entfernt, so steigt die Instabilität des betroffenen Knies weiter an. Die stark eingeschränkte Stoßdämpfung führt darüber hinaus zu einer verstärkten Häufigkeit sekundärer Arthrosen. Unversehrte Menisken wirken sich positiv auf das Ergebnis einer Kreuzbandplastik aus. Aus diesem Grund empfiehlt sich – wenn es der Riss des Meniskus zulässt – eine Refixation des selbigen durchzuführen. Idealerweise erfolgt dies zusammen mit der Rekonstruktion des Kreuzbandes.Eine weitere häufige Begleitverletzung ist der Riss des Innen- und/oder Außenbandes des Kniegelenks. Sind Innenband, Innenmeniskus und vorderes Kreuzband betroffen, so spricht man von einer Unhappy Triad. Eher selten ist der anterolaterale (vorn und seitlich) knöcherne Kapselausriss am Schienbeinplateau, die sogenannte Segond-Fraktur. Diese stellt nach neueren Erkenntnissen den knöchernen Ausriss des Anterolateralen Ligaments (ALL) dar. Dieses ist ein wichtiger Stabilisator gegen eine forcierte Innenrotation des Knies. Erst ein Riss auch dieses Bandes erlaubt einen positiven Pivot-Shift-Test. In einer retrospektiven Studie der belgischen Arbeitsgruppe, die das Band erstmals 2013 anatomisch beschrieb, konnte es bei 206 von 351 Kernspintomographien von Knien mit einem anschließend operierten vorderen Kreuzbandriss aufgefunden werden, was dadurch erschwert wird, dass das Band schräg zu den Standardschichten der Kernspintomographie läuft. Dabei fand sich ein ALL-Riss bei 162 (79 %) der Knie, ein knöcherner Ausriss (Segond-Fraktur) in drei Fällen (2 %).Verletzungen des Gelenkknorpels (traumatische Chondropathien) sind an 16 bis 46 % aller Rupturen des vorderen Kreuzbandes beteiligt.Seltener, und meist unerkannt, ist der Riss der hinteren, äußeren Kapselschale, vor allem der Sehne des Kniekehlmuskels (tiefer Wadenmuskel). Unbehandelt führt diese Verletzung zu einer erheblichen Kniegelenksinstabilität mit sichtbar gestörtem Gang.
== Diagnostik ==
Die Diagnosestellung erfolgt in vielen Fällen mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung, auch wenn die Patienten unmittelbar nach der Verletzung einen Arzt aufgesucht haben. Einige Studien geben einen mittleren Zeitraum von 2 bis 21 Monaten an, der zwischen dem Zeitpunkt der Verletzung und der korrekten Diagnosestellung vergeht. In vielen Fällen ist zudem der Besuch mehrerer Ärzte notwendig, bis die richtige Diagnose gestellt ist. Typische Falschdiagnosen sind vor allem Meniskusriss und „Verstauchung“. Es wird deshalb davon ausgegangen, dass Kreuzbandrupturen unterdiagnostiziert werden. Das heißt, dass sie tatsächlich häufiger auftreten, als dass sie korrekt diagnostiziert werden.
=== Klinische Befundung ===
Bei einem Riss des vorderen Kreuzbands kommt es zum sogenannten vorderen Schubladenphänomen: Bei gebeugtem Knie kann der Unterschenkel von hinten nach vorne geschoben werden. Ist dagegen das hintere Kreuzband gerissen, so kommt es zum hinteren Schubladenphänomen: Bei gebeugtem Knie kann der Unterschenkel von vorne nach hinten geschoben werden.
Die initiale Diagnose wird mittels Schubladen- und Lachman-Test (seltener Pivot-Shift-Test) durchgeführt. Aufgrund der Anatomie des vorderen Kreuzbandes (zwei Bandanteile = Faszikelbündel) ist eine klinische Diagnose oft erschwert, wenn nur ein Bündel gerissen ist. Hier ergibt sich dann beispielsweise ein negatives Schubladenphänomen in 90°-Beugung des Kniegelenkes, aber ein positiver Lachman-Test in 15°-Beugung.
Ein Ausfall (Insuffizienz) des hinteren Kreuzbandes kann in einigen Fällen durch eine Beobachtung (Inspektion) des in 90° gebeugten Kniegelenks von der Seite beim liegenden Patienten beurteilt werden. Bei zurückgesunkenem Schienbeinkopf sollte eine Verletzung des Bandes in Erwägung gezogen werden. Durch zusätzliches Anspannen der sogenannten ischiocruralen Muskulatur (hintere Oberschenkelmuskulatur) kann dieses Phänomen verstärkt werden. Durch nachfolgende Quadrizepsmuskel-Anspannung (Kontraktion) wird die hintere Schublade aufgehoben.
Der Stabilitätsverlust tritt mit zunehmender Beugung im Kniegelenk ein und ist bei Streckung nicht vorhanden. Dadurch erklären sich die erstaunlich geringen Beschwerden bei isolierten Rissen. Beschwerden werden vor allem beim Treppensteigen oder beim Heben von Gewichten hinter der Kniescheibe (retropatellar) angegeben (erhöhter Druck des Oberschenkelknochens auf die Kniescheibe).
Die Instabilität, die durch einen Kreuzbandriss entsteht, sorgt für eine Überbelastung von Knorpel, Innen- und Außenmeniskus. Wird die Instabilität nicht durch die Muskulatur kompensiert oder durch eine Operation beseitigt, kommt es häufig zu einem Meniskusriss und/oder einer Knorpelschädigung mit Arthrose.
=== Bildgebende Verfahren ===
Die Diagnose kann mit bildgebenden Verfahren – namentlich der Magnetresonanztomographie (MRT, „Kernspin“) – bestätigt werden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Interpretation der MRT in der Diagnostik eines Kreuzbandrisses zu 20 Prozent falsche Diagnosen liefert. Hier kommt es auf die sogenannten Schnittbilder und die geeignete Positionierung des Kniegelenkes bei der MRT-Untersuchung an. Der Radiologe sollte die genaue Vorgeschichte kennen, die zur Verletzung führte, und auch Erfahrung in der Untersuchung eines verletzten Gelenkes haben, um Fehlbeurteilungen zu vermeiden. Im Vergleich zur MRT liegt die Fehlerquote bei dem erheblich einfacher durchzuführenden Lachman-Test bei nur 10 Prozent. Die MRT ist daher in der Regel zur Diagnose eines vorderen Kreuzbandrisses weniger sensitiv und weniger spezifisch als die klinische Befundung durch einen qualifizierten Orthopäden. Das Ergebnis einer MRT hat nur relativ selten einen Einfluss auf die klinische Entscheidungsfindung und sollte keinen Ersatz für eine sorgfältige Anamnese und Palpation darstellen.
Mehrere Studien kommen zu dem Schluss, dass eine MRT nur bei komplizierteren unklaren Knieverletzungen – und dabei eher zum Erstellen einer Ausschlussdiagnose – sinnvoll ist.Röntgenaufnahmen leisten keinen unmittelbaren Beitrag zur Diagnosestellung einer Kreuzbandruptur. Beide Kreuzbänder sind – ob gerissen oder nicht – im Röntgenbild nicht sichtbar. Wird dennoch geröntgt, so kann dies der Diagnosestellung von möglichen knöchernen Begleitverletzungen dienen.
=== Diagnostische Arthroskopie ===
Die höchste diagnostische Sicherheit bietet die diagnostische Arthroskopie (Gelenkspiegelung). Dieses Verfahren stellt für die Diagnosestellung des Kreuzbandrisses den Goldstandard dar. Das Verfahren ist zwar minimalinvasiv, stellt aber in jedem Fall einen mit gewissen Risiken behafteten chirurgischen Eingriff in das Knie des Patienten dar.
Da jedoch die operative Behandlung eines Kreuzbandrisses in der Regel arthroskopisch (therapeutische Arthroskopie) durchgeführt wird, ergibt sich die Möglichkeit die Therapie, beispielsweise in Form einer Kreuzbandteilresektion (bei Anriss) oder einer Refixation des ausgerissenen Bandes, unmittelbar nach der diagnostischen Arthroskopie durchzuführen. Mit der zunehmenden Verbreitung von Kernspintomographen hat die Anzahl der rein diagnostischen Arthroskopien in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Die diagnostische Arthroskopie ist aber nach wie vor zur sicheren Abklärung der Diagnose einer Kreuzbandruptur – bei unklarer klinischer Befundung und unklarer MRT – das Mittel der Wahl.
=== Späte Zeichen eines nichtdiagnostizierten vorderen Kreuzbandrisses ===
Wird ein Kreuzbandriss nicht diagnostiziert und folglich auch nicht behandelt, so kann es zum sogenannten giving way kommen. Dies bedeutet, dass das Kniegelenk instabil ist. Der Patient hat den Eindruck, dass z. B. beim Treppabwärtsgehen der Unterschenkel nicht unter Kontrolle steht. Sportliche Belastungen mit Drehbewegungen des Kniegelenkes sind nicht möglich oder werden vermieden. Rezidivierende Schwellneigungen durch Gelenkergüsse können auftreten. Die über das Schicksal des verletzten Knies entscheidende Folge eines so instabilen Knies sind die fast unweigerlich auftretenden Meniskusläsionen. Diese ereignen sich durch die instabilitätsbedingte sagittalen Bewegung (giving way) über die Hinterkante der Schienbeingelenkfläche hinaus, mit Überwalzung des Meniskus.
== Therapiemöglichkeiten ==
Klinische Studien belegen, dass bei akut verletzten Kreuzbändern ein naturgegebenes Selbstheilungspotential vorhanden ist, das heißt eine spontane Neigung, auf biologischem Wege von selbst wieder festzuwachsen. Ausschlaggebend für die spätere, adäquate Kniestabilität ist jedoch, dass diese Vernarbung an der anatomisch korrekten Ansatzstelle erfolgt. Verwächst ein frisch gerissenes vorderes Kreuzband von allein mit dem hinteren Kreuzband, handelt es sich um das Phänomen der sogenannten Lambda- bzw. Wittek-Heilung.Eine Kreuzbandruptur sollte in jedem Fall nach erstellter Diagnose behandelt werden. Eine nichttherapierte Ruptur kann zu einer Degeneration des hyalinen Gelenkknorpels und so zu Meniskusschäden führen. In einer Vielzahl von Studien konnte gezeigt werden, dass ein Ausbleiben therapeutischer Interventionen zu einer progressiven Zerstörung der Gelenkstrukturen führt und ein hohes Wiederverletzungsrisiko besteht.Die Behandlungsmöglichkeiten lassen sich in zwei Gruppen einteilen: in die chirurgische Therapie (Operation) und in die konservative Therapie. Welche Form der Behandlung zur Anwendung kommt, wird üblicherweise individuell mit dem Patienten auf dessen Bedürfnisse abgestimmt. Für beide Formen gibt es verschiedene Ansätze und Behandlungskonzepte, die zum Teil kontrovers diskutiert werden. Grundsätzlich ist der Verlauf eines chronischen Kreuzbandschadens individuell sehr unterschiedlich. Es ist allgemein akzeptiert, dass nicht jeder Patient eine operative Behandlung benötigt. Doch jüngere und vor allem sportlich aktive Patienten profitieren Studien zufolge von einer operativen Wiederherstellung der Kinematik und Stabilität des Kniegelenkes durch Erhalt oder Ersatz des gerissenen Kreuzbandes.
Die Basis der konservativen Therapie ist ein physiotherapeutischer Muskelaufbau, der der externen Stabilisierung des Kniegelenkes dienen soll. Das Ziel der chirurgischen Therapien ist die anatomische und biomechanische Wiederherstellung des gerissenen Kreuzbandes in seiner ursprünglichen Funktion.Den ursprünglichen Zustand des Knies kann weder die konservative noch die operative Behandlung eines Kreuzbandrisses hundertprozentig wiederherstellen.
=== Konservative Behandlung ===
Nicht jedes gerissene Kreuzband muss operiert werden. Eine systematische Übersichtsarbeit mit Metaanalyse aus dem Jahr 2022 zeigte, anhand von Daten aus drei randomisierten kontrollierten Studien, dass die primäre Rehabilitation mit optionaler chirurgischer Rekonstruktion zu ähnlichen Ergebnissen wie die frühe chirurgische Rekonstruktion bei Kreuzbandruptur führt. In jedem Fall wird individuell, in Abhängigkeit von Lebensalter, Aktivität, Sportfähigkeit, Bereitschaft und Alltagsfähigkeit des Patienten entschieden. Daher bedarf die Therapieentscheidung eines eingehenden Gespräches mit dem Patienten. Die konservative Behandlung ist vor allem für Patienten mit einem vorderen Kreuzbandriss ohne Begleitverletzungen, einer eingeschränkten sportlichen Aktivität und einem höheren Lebensalter eine Alternative zur Operation. Bei sportlich aktiven, konservativ behandelten Patienten wurde eine erhöhte Häufigkeit von Arthrosen – im Vergleich zu operierten Patienten – festgestellt. Mehrere Studien belegen einen signifikanten Vorteil der chirurgischen Intervention, vor allem bei Sportlern, die Sportarten wie beispielsweise Fußball, Handball oder Basketball ausüben – also Sportarten mit hoher Rotations- und Hyperextensions-Belastung des Kniegelenkes. Es gibt einige ältere Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass die konservative Behandlung eines Kreuzbandrisses – auch bei Sportlern – keine negativen Auswirkungen hat. Auch eine neue Studie belegt, dass bei jungen Patienten mit unkompliziertem Kreuzbandriss eine zeitnahe Operation innerhalb von 10 Wochen im Gegensatz zu einer abwartenden konservativen Behandlung mit der Option auf eine spätere Operation bei Instabilität oder Patientenwunsch keine Vorteile bringt.In der konservativen Therapie wird über eine frühfunktionelle Bewegungsbehandlung versucht, die Kniegelenksinstabilität durch ein konsequentes Muskelaufbautraining zu kompensieren und so die fehlende Stabilität wiederherzustellen. Ein weiteres Ziel ist die Verbesserung der propriozeptiven Fähigkeiten der um das Kniegelenk herum gelegenen (periartikulären) Elemente. Häufig wird durch eine Schienung des Kniegelenks in einer Orthese (Knie-Brace) für sechs Wochen und begleitende Physiotherapie eine ausreichende Stabilität erreicht.
Durch eine gezielte und sachgerechte orthopädische Behandlung kann prinzipiell ein Großteil von Patienten mit einer Ruptur des vorderen Kreuzbandes ihre sportliche und berufliche Tätigkeit uneingeschränkt wieder aufnehmen. Die so behandelten Patienten sind nach durchschnittlich sieben Wochen wieder arbeitsfähig und können nach etwa elf Wochen ein normales Leben führen. Diese Zeiten sind in der Regel kürzer als bei einem chirurgischen Eingriff. Etwa 80 % der Patienten kann nach vier Monaten wieder sportlich aktiv sein. Allerdings beschränkt sich dies im Wesentlichen auf Sportarten ohne direkten Körperkontakt und ohne das Knie belastende Schwenkbewegungen. Bei vielen Patienten mit konservativer Behandlung des Kreuzbandrisses stellt sich ein Angstgefühl beim Sport in den Situationen ein, die zur ursprünglichen Verletzung führten. Der für den Betroffenen spürbare Stabilitätsverlust des Knies ist dafür eine der Hauptursachen. Diese Unsicherheit verspüren 18 Monate nach der Verletzung etwa 30 % der Patienten und nach vier Jahren nahezu 80 %. Im täglichen Leben stört es dagegen nur etwa 10 %. Im Alltagsleben sind die meisten Patienten schmerzfrei. In bestimmten Situationen, beispielsweise nach längeren Phasen ohne Bewegung oder Änderungen der Luftfeuchtigkeit, klagt etwa die Hälfte nach vier Jahren über Schmerzen. Bei bis zu 30 % der Patienten ist nach vier Jahren ein Gelenkerguss, oft zusammen mit einer Meniskusläsion, diagnostizierbar. Letzteres ist meist eine Folge von Unfällen, die aus der Instabilität des Gelenkes resultieren. Zur frühzeitigen Erkennung von möglichen Komplikationen ist bei der konservativen Therapie eine regelmäßige Überwachung des betroffenen Kniegelenks notwendig. Eine chirurgische Behandlung ist dann jederzeit möglich.
Bei komplexen Kniebandverletzungen (z. B. Unhappy Triad), knöchernen Ausrissen des vorderen Kreuzbands, zusätzlichen Läsionen im Meniskus, fehlender muskulärer Kompensation nach intensiver Physiotherapie, sowie bei jüngeren leistungsorientierten Sportlern wird normalerweise eine operative Behandlung durchgeführt.
=== Operative Behandlung des vorderen Kreuzbandrisses ===
In den 1970er bis 1980er Jahren lag die Altersgrenze für Operationen zur Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes bei etwa 35 Jahren. Dies lag an den noch eingeschränkten operativen Möglichkeiten mittels Arthroskopie und minimalinvasiven Instrumenten sowie den damals verfügbaren Implantaten. Heute gibt es keine Altersgrenze mehr. Der Zustand des betroffenen Knies, die Ansprüche des Patienten und seine Motivation sind die wesentlichen Einflussgrößen für die Entscheidung für oder gegen eine operative Behandlung. In den meisten Fällen besteht aus medizinischer Sicht bei einem Kreuzbandriss kein unmittelbarer Bedarf für eine sofortige chirurgische Intervention. Eine frische Ruptur wird beim Kreuzbandersatz nach einem Physiotherapiezyklus – das sind in der Regel etwa sechs bis acht Wochen nach der Verletzung – operiert. Das Knie ist dann normalerweise wieder vollständig abgeschwollen. Wird eine kreuzbanderhaltende Methode in Erwägung gezogen, muss die Operation innerhalb von drei Wochen nach dem Unfallereignis durchgeführt werden. In einigen Fällen erfolgt eine operative Behandlung erst mehrere Monate nach der Kreuzbandruptur. Beispielsweise dann, wenn eine zunächst nur geringe Instabilität des betroffenen Knies bei Patienten in der Folge zu Beschwerden führt. In den skandinavischen Ländern Norwegen, Dänemark und Schweden beträgt die Zeit zwischen Ruptur und Operation im Mittel sieben, neun und zehn Monate, in den Vereinigten Staaten dagegen 2,4 Monate. Der Interquartilsabstand geht in den USA von 1,2 bis 7,2 Monate und in Norwegen von 4,2 bis 17,8 Monate.Einige neuere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass bereits sechs Monate nach einer Kreuzbandruptur ohne operative Intervention degenerative Erscheinungen an den Menisken der betroffenen Knie zu beobachten sind, so dass die Autoren zur Reduzierung der Risiken eine Rekonstruktion innerhalb eines Jahres empfehlen.Absolute Indikation für eine Operation ist die Instabilität des Kniegelenkes. Diese führt ohne Stabilisationsoperation zu Meniskusschäden und letztendlich zu einer sekundären Arthrose des Gelenkes. Es sind vorwiegend sportlich aktive Menschen in jüngeren Altersstufen betroffen, wobei auch in den letzten Jahren die Generation der über 50-jährigen einen Anstieg an Kreuzband-Sportverletzungen in Deutschland zu verzeichnen hatte. Besteht ferner für die Betroffenen eine berufliche Einschränkung (z. B. Handwerksberufe), so ist auch hier die Operation notwendig.
Die klinischen Resultate der operativen Behandlung von Rauchern sind signifikant schlechter als diejenigen von Patienten, welche auf Tabakkonsum verzichten.Die nachfolgenden Techniken beziehen sich alle auf den Erhalt oder die Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes. Operationen des hinteren Kreuzbandes sind vergleichsweise selten. Sie werden am Ende dieses Absatzes aufgeführt.
Standardverfahren ist weiterhin die Kreuzbandplastik mit Einsatz eines Sehnen- oder Allograft-Implantats, das das Kreuzband möglichst anatomisch exakt ersetzt.
==== Kreuzbandplastik ====
Am Häufigsten werden die Operationstechniken einer Rekonstruktion des gerissenen Kreuzbandes durchgeführt. Die Reste des durchtrennten Bandes werden dazu weitgehend entfernt und durch ein neues Band ersetzt. Das neue Band kann aus körpereigenem Gewebe (autolog) oder aus dem Gewebe von Verstorbenen (allogen) oder einer anderen Spezies (xenogen) sein.Während noch in den 1980er Jahren meist sofort oder zumindest kurzfristig nach der Verletzung eine Operation durchgeführt wurde, wird seit den 1990er Jahren das „zweizeitige“ Vorgehen bevorzugt. Nach klinischer Untersuchung, oft gestützt durch den Befund einer Magnetresonanztomographie (MRT), wird die Arthroskopie mit Resektion des gerissenen Kreuzbandes und Versorgung von allfälligen Meniskusverletzungen als Vorbereitung für die zweite Operation (Kreuzbandplastik) vorgenommen. Nach der Arthroskopie folgt eine physiotherapeutische Behandlung zur Abschwellung des Knies und Kräftigung der Muskulatur. Nach Abklingen der Symptomatik wird zirka sechs Wochen nach Erstarthroskopie die eigentliche Kreuzband-Operation durchgeführt.
Diese zweizeitige Methode wird bis heute von vielen Operateuren bevorzugt, da man bei den „Sofortoperationen“ eine höhere Rate an Arthrofibrosen und damit massive Bewegungseinschränkungen nach der Operation beobachtete.
In den letzten Jahren wird allerdings – dank besser standardisierter Methoden, aber auch zwecks möglicher Abkürzung des Behandlungsverfahrens – wieder vermehrt „einzeitig“ operiert. Dabei werden die Stümpfe des gerissenen Kreuzbandes meist nur noch partiell entfernt; oft gerade so viel, dass ein Einklemmen der Stümpfe im Gelenk verhindert wird. Klinisch gesicherte Kreuzbandverletzungen können – insbesondere bei Hochleistungs- und Profisportlern – unmittelbar nach der Verletzung auch sofort versorgt werden, soweit das Knie noch weitgehend entzündungsfrei ist.Bei allen Rekonstruktionstechniken wird versucht, die Eigenschaften des ursprünglichen Kreuzbandes so gut wie möglich wiederherzustellen. Das vordere Kreuzband hat eine multiaxiale Faserstruktur. Keines der derzeit verwendeten Transplantate erreicht diese Struktur. Allen Rekonstruktionen fehlt zudem die Propriozeption. Ein gesundes Kreuzband hat Mechanorezeptoren, die den Transplantaten fehlen. Über die Mechanorezeptoren können afferente Signale zum Rückenmark geleitet und Motoneuronen über die γ-Spindelschleife entladen werden. Dieser Regelkreis beeinflusst den Bewegungs-, Kraft- und Stellungssinn des Kniegelenkes und ist ein wichtiger Faktor für dessen Stabilität. Die gesamte Propriozeption des betroffenen Knies ist durch den Verlust der Sensorik deutlich verschlechtert. Deshalb erreicht keine derzeit bekannte Operationstechnik nach der Rekonstruktion des Kreuzbandes die Qualität des unverletzten Bandes. Darüber, welche Technik beziehungsweise welches Transplantat den Eigenschaften eines unverletzten Kreuzbandes am nächsten kommt, wird kontrovers diskutiert.
===== Transplantatauswahl =====
Bei den verwendeten Transplantatmaterialien, die das gerissene vordere Kreuzband ersetzen sollen, haben sich seit den 1980er Jahren im Wesentlichen körpereigene (autologe) Transplantate durchgesetzt. Zurzeit kommen hauptsächlich freie mehrsträngige Sehnentransplantate aus der Pes-anserinus-Gruppe (Semitendinosussehne oder Semitendinosus- und Gracilissehne, auch als Hamstring oder STG – für Semitendinosus-Gracilis-Graft – bezeichnet) zum Einsatz, alternativ das Kniescheibenband (auch als BTB – für Bone-Tendon-Bone – bezeichnet, da ein Anteil der Kniescheibensehne zusammen mit zwei Knochenblöcken entnommen wird) und die Quadrizepssehne. So empfiehlt es auch die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Die Transplantatwahl ist in Fachkreisen das seit Jahren am meisten diskutierte Thema der Kniechirurgie.Kaum verwendet werden Streifen aus dem Tractus iliotibialis oder der Faszie des Musculus gastrocnemius. Aufgrund der Morbidität und Invasivität bei den körpereigenen Sehnentransplantaten könnten synthetische Bandersatzmaterialien oder Leichen-Transplantate eine naheliegende Alternative sein.
In den Vereinigten Staaten wurden im Jahr 2006 einer Studie zufolge etwa 46 % aller vorderen Kreuzbandplastiken mittels BTB-Technik, 32 % mittels Hamstring und 22 % per Allograft realisiert. In Europa werden im Jahr 2014 dagegen Rekonstruktionen in 84–90 % mit Hamstring-Sehnen und nur in 10–14 % der Operationen mit der Kniescheibensehne durchgeführt; die Verwendung von Allografts oder künstlichen Bändern spielt mit ca. 1,4 % keine Rolle.Kniescheibensehne
Bei der Kniescheibensehne (fachsprachlich: Patella(r)sehne, Ligamentum patellae) handelt es sich um eine sehr große und starke Sehne, die allerdings nur halb so elastisch ist wie das natürliche eigene Kreuzband.
Bei der Rekonstruktion des Kreuzbandes mittels autologer Transplantation der Kniescheibensehne wird diese mit anhängenden Knochenteilen entnommen und durch verbreiterte Kanäle (8–10 mm Durchmesser) im Schienbein beziehungsweise Oberschenkelknochen gezogen. Die Länge des oberen und unteren Knochenblocks beträgt jeweils etwa 20 mm. Die stabilste Verankerung der Knochenenden des autologen Transplantats (engl.: graft = Transplantate ohne Blutversorgung, weshalb sowohl hier als auch bei der im folgenden Abschnitt näher erläuterten Semitendinosustechnik von autograft gesprochen wird, mit griechisch αὐτός = selbst) wird durch die Fixation mit sogenannten Interferenzschrauben erreicht. Diese ist besonders wichtig im Hinblick auf eine frühe funktionelle Mobilisierung.
Die Unterstützung nach der Operation mittels einer orthopädietechnischen Schiene (Orthese) ist häufig nicht nötig, so dass die Gefahr der Muskelatrophie geringer ist als bei anderen Verfahren. Dieser Vorteil ist insbesondere für Sportler interessant, die eine frühzeitige Rückkehr zu alter Leistung wünschen.
Da die Kniescheibensehne nur halb so dehnbar ist wie das eigentliche Kreuzband, kann es bis zu 18 Monate dauern, bis wieder an sogenannten „Stop-and-go“-Sportarten teilgenommen werden kann.
Semitendinosussehne
Der halbsehnige Muskel (Musculus semitendinosus) zieht an der zur Mitte zeigenden Seite vom Kniegelenk zum Oberschenkelknochen und ist Bestandteil des sogenannten „Gänsefußes“ Pes anserinus superficialis, der zusätzlich aus den Sehnen des Musculus gracilis und Musculus sartorius gebildet wird.
Die Sehne (Transplantat) wird durch einen mittleren Schnitt auf dem Schienbein, knapp unterhalb des Knies, mittels eines sogenannten tendon stripper oder ring stripper (Sehnenschneider, engl. auch harvester von to harvest = ‚ernten‘) entnommen. Je nach Länge wird die Sehne drei- oder vierfach mit einer bestimmten Fadentechnik zusammengelegt, verdrillt, fixiert und durch eine Bohrung durch den Unterschenkel zum Oberschenkel geführt und dort ebenfalls befestigt. Seit Begin des 21. Jahrhunderts ist eine minimalinvasive Technik zur leichteren und schnelleren Entnahme der Sehne aus der Kniekehle, bei besseren kosmetischen Resultaten, vorhanden.Die Semitendinosussehne ist vierfach gelegt stärker als die Kniescheibensehne. Diese Technik war der Kniescheibensehnentechnik bis etwa zum Jahre 2003 ebenbürtig. Seitdem etabliert sich diese Technik als sogenannter „Goldstandard“, da vor allem die Entnahmestelle weniger schmerzhaft verheilt. Wenn die Semitendinosussehne zu kurz oder zu dünn ist, wird zusätzlich die Gracilissehne entnommen (STG-Technik: Semitendinosus- und Gracilissehne). Das Transplantat wird dadurch aber nicht belastbarer. Manche Operateure entnehmen immer beide Sehnen. Insbesondere für die Plastik des hinteren Kreuzbandes werden sowohl Semitendinosus- als auch Gracillissehne benötigt, was besonders im Fall einer zusätzlich zu versorgenden Außenbandinstabilität die Entnahme von der Gegenseite notwendig macht.
Die modernste OP-Technik ist die Doppel-Bündel-Technik (double bundle technique). Dabei werden mittels vier Knochenkanälen zwei Bündel (anteromedial und posterolateral) in das Knie eingesetzt. Durch die bessere Nachahmung der Anatomie ergeben sich stabilere Ergebnisse. Dieses Verfahren ist allerdings technisch anspruchsvoll und wird derzeit (2010) nur in spezialisierten Zentren durchgeführt. Die Fixation der beiden Transplantate erfolgt ausschließlich extraartikulär durch Endobuttons.Quadrizepssehne
Dem oben genannten Prinzip folgend wird oberhalb der Kniescheibe ein Teil der Sehne des vierbäuchigen Oberschenkelmuskels einschließlich eines Kniescheiben-Knochenzylinders entnommen und in oben gezeigter Weise als Kreuzband implantiert. Als sogenannte Press-fit-Methode wird sie ohne zusätzliche Verschraubung angewandt. Vorteil sind die im Vergleich zur Gracilissehne stärkeren Sehnen. Im Vergleich zur Patellasehne bestehen deutlich geringere Schmerzen beim Knien, da der Druck nicht auf der Narbe lastet. Nachteilig ist, dass nach der Operation häufig ein Muskelschwund des Musculus quadriceps femoris auftritt. Die Quadrizepssehne wird bisher nur von relativ wenigen Chirurgen zur Rekonstruktion des Kreuzbandes verwendet.Allograft
Bei einem sogenannten Allograft handelt es sich um ein Leichen-Transplantat. Hierfür kommen neben den drei zuvor genannten Sehnen auch präparierte Achillessehnen und die Tibialis-anterior-Sehne in Frage. Ein positiver Effekt bei der Verwendung eines Allografts ist, dass es zu keiner Entnahmemorbidität kommen kann. Weitere Vorteile sind die kürzere Operationszeit, kleinere Operationsnarben und Reduzierung der postoperativen Schmerzen. Ursprünglich wurden Allografts nur bei Revisionseingriffen und für die Rekonstruktion des hinteren Kreuzbandes verwendet. Mittlerweile kommen Allografts vermehrt auch zur primären Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes zum Einsatz.Verwendet werden unbehandelte tiefgefrorene Transplantate. Die ursprünglich angewandten Verfahren zur Sterilisation (
γ
{\displaystyle \gamma }
-Strahlung oder Ethylenoxid) schädigten das Transplantat in seinen biomechanischen Eigenschaften oder führten zu Abstoßungsreaktionen.
Bei den unbehandelten Transplantaten ergibt sich jedoch die HIV-Problematik. Die in Deutschland transplantierten Allografts stammen vor allem aus klinikeigenen Beständen oder von Eurotransplant, da Handel und Vertrieb von Organteilen in Deutschland gesetzlich verboten sind. Die hirntoten Lebendspender werden unter anderem auf das HI-Virus hin untersucht. Das Risiko einer Infektion des Empfängers beschränkt sich somit auf den Zeitraum der „diagnostischen Lücke“ und wird als sehr gering eingestuft.Die tiefgefrorenen Allografts lösen keine Abstoßungsreaktion aus. Eine Reihe von Studien bescheinigt den Allografts ähnliche Werte wie den autologen Transplantaten, sowohl in der Kurz- als auch Langzeitbetrachtung. Qualitativ stehen Allografts autologen Transplantaten in nichts nach. Ob ein autologes oder ein allogenes Transplantat zur Rekonstruktion eines Kreuzbandes verwendet wird, ist letztlich eine Entscheidung von Arzt und Patient. Ein wesentliches Problem ist dabei, dass es viel zu wenige Spender für Allografts gibt, um den Bedarf auch nur annähernd decken zu können.Synthetische Rekonstruktionsmaterialien
Synthetische Kreuzbandprothesen, das heißt Implantate beispielsweise aus Kohlenstofffasern, Polyester, Polypropylen, Gore-Tex oder Rinderkollagen, wurden vor allem in den 1980er Jahren verwendet. Sie werden wegen der unzureichenden biomechanischen Eigenschaften und einer erhöhten Anzahl von intraartikulären Komplikationen nicht mehr verwendet. Bei diesen Komplikationen handelte es sich meist um Gelenkergüsse und reaktive Synovitiden (Entzündungen der inneren Schicht der Gelenkkapsel). Die Komplikationen wurden vor allem durch Abriebpartikel hervorgerufen, die im Gelenk zu Fremdkörperreaktionen führen. Die Versagerquote lag bei diesen synthetischen Kreuzbandprothesen zwischen 40 und 78 Prozent.
===== Befestigung des Transplantats =====
In den frühen 1990er Jahren wurden die Kniescheibensehnen-Transplantate mit sogenannten Titan-Interferenzschrauben als Fixation an beiden Enden des Transplantates, teilweise auch nur einseitig verschraubt und am Oberschenkelknochen mit einem sogenannten Endobutton, der durch das Transplantat „gefädelt“ wird, befestigt. Der Endobutton besteht aus einer Schlaufe aus einem nichtresorbierbaren Fadenmaterial mit einem Titan-Kipp-Knopf (Vierlochplatte), der nach der Durchführung durch den Knochenkanal verkippt wird. Später wurden die Titanschrauben durch die heute verwendeten sogenannten Bio-Screws („Bio-Schrauben“, das sind autobioresorbierbare Interferenzschrauben) ersetzt, die einen erneuten Eingriff zur Materialentfernung unnötig machen. Diese Schrauben bestehen aus abbaubaren Polymeren, wie beispielsweise Poly-L-Lactid (PLLA) oder Poly-(L-co-D/L-Lactid) (PLDLLA). Ebenso kann eine Hybridtechnik aus Bio-Schraube (als intraartikuläre Fixation) und femorale/tibialen Endobuttons (als extraartikuläre Fixation) durchgeführt werden. Bei der sogenannten „Press-Fit-Technik-Fixation“, die um das Jahr 1995 aufkam, kann auf die Schraubenfixation bei der BTB-Technik (Knochen-Sehne-Knochen-Technik) völlig verzichtet werden. Hierbei werden die Knochenenden konisch zugerichtet, sodass ein festes Verkanten in den Bohrkanälen gewährleistet ist. Ab 1996 kamen Operationsroboter auf, die den Bohrkanal automatisch mit einem Diamantfräskopf erzeugten. Sie konnten sich nicht durchsetzen, weil sie keine eindeutig besseren operativen Ergebnisse hervorbrachten und hohe Kosten (personal- und apparateintensiv) verursachten.
Bei Semitendinosus- und Gracilistransplantaten (STG) werden meist Bio-Screws für die Befestigung genommen. Seit Ende der 1990er Jahre ist auch hier eine implantatfreie Fixation möglich. Bei dieser Technik wird in das Semitendinosus- und Gracilissehnen-Transplantat am Ende geknotet und der femurale Kanal in Richtung Gelenk etwa 4 mm schmaler aufgebohrt, als an der gelenkfernen Stelle. Das Transplantat wird über die femorale Bohrung in das Gelenk eingesetzt. Dabei sitzt der Knoten des Transplantates vor dem schmaleren Teil des Kanals auf. Messungen ergaben, dass die Gelenksteifigkeit und die maximale Last ähnliche Werte wie bei anderen Techniken erreicht. Durch die Knotung der Sehnenenden sind Interferenzschrauben (Implantate) überflüssig. Die Protagonisten der implantatfreien Fixation sehen darin einen Kostenvorteil. Da keine Implantate verwendet werden, können auch keine Probleme mit diesen Materialien auftreten. Nachteilig ist jedoch der erheblich größere Kanal im Oberschenkelknochen.Bei der Fixierung der Transplantate mit Interferenzschrauben ist es zur Vermeidung des sogenannten „Bungee-Effektes“ und des „Scheibenwischer-Effektes“ wichtig, dass die Fixierung nahe an den Gelenkflächen erfolgt.
===== Morbidität und Invasivität der Transplantatentnahme =====
Die Qualität und Technik der rekonstruierten Kreuzbänder wurde seit der ersten Kreuzbandplastik 1917 stetig verbessert und weist heute sehr hohe Erfolgsraten auf. Die hohen Erfolgsraten im Bereich von etwa 90 % verändern die Anspruchshaltung der Patienten. Ein Nebenaspekt der autologen Transplantate gewinnt daher zunehmend an Bedeutung: die Morbidität und Invasivität der Transplantatentnahme. Sie hat mittlerweile einen erheblichen Einfluss auf die Zufriedenheit der Patienten, die vor allem durch Schmerzen und Beweglichkeit bestimmt wird.
Die Entnahme der Kniescheibensehne ist häufig schmerzhafter als die der anderen autologen Sehnen. Bis zu 60 % der Patienten klagen über Schmerzen beim Knien. Für Patienten mit häufigen knienden Tätigkeiten wird deshalb meist vom Patellasehnen-Transplantat abgeraten. Den Schmerz im Knie verursachen das Patellaspitzensyndrom, Patellatendinitis, patellofemorale Krepitation und infrapatelläre Kontrakturen. Die Häufigkeit dieser Symptome variiert und liegt je nach Studie zwischen 4 und 40 % der Patienten.
Eine wesentliche Ursache für die Komplikationen sind offenbar Verletzungen des Hoffa-Fettkörpers, die zu einer narbigen Kontraktur (Verkürzung der Patellasehne) und einer Fibrose führen können. Dies führt wiederum zu einer eingeschränkten Beweglichkeit der Patellasehne und ihrem Festsitzen an der Vorderkante des Schienbeinknochens. Dass sich die Patellasehne nach der Entnahme des Transplantates verkürzt, wird in einer Reihe von Studien beschrieben. Die Verkürzung kann im Bereich zwischen 2 und 7 mm liegen. Eine zu starke Verkürzung der Patellasehne kann zu einer patellofemoralen Arthrose führen.
In Einzelfällen sind Fissuren der Kniescheibe beobachtet worden, die unter hoher Belastung zum Knochenbruch (Fraktur) derselben führen können. Das Risiko für eine Patellafraktur liegt im Bereich von 0,1 bis 3 %. Durch eine sorgfältige Entnahme des Transplantates lässt es sich weiter minimieren. Wird bei der Entnahme des patellären Knochenblocks beispielsweise eine Hohlfräse verwendet, so wird auch das Risiko der Bildung von Sollbruchstellen vermieden. Die Wahrscheinlichkeit einer Patellasehnenruptur ist durch die Entnahme der Kniescheibensehne erhöht.Auch die Entnahme einer Semitendinosussehne (Hamstring) zur Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes kann zu Komplikationen führen. So wird beispielsweise die Beugekraft der ischiokruralen Muskulatur in den ersten Monaten nach der Entnahme der Sehne reduziert. Auch das Auftreten von patellofemoralen Schmerzen wird von einigen Patienten bei dieser Transplantationsmethode beklagt. Die Ursachen für die Schmerzen sind offensichtlich ein gestörter patellofemoraler Bewegungsablauf im betroffenen Knie, sowie die Verkürzung der Quadrizepsmuskulatur durch die Entnahme des Hamstrings. Durch die Entnahme der Semitendinosussehne entstehende Schmerzen sind eher selten und dann auch nur von kurzer Dauer. Die gleichzeitige Entnahme von Semitendinosus- und Grazilissehne kann die Innenrotation des Kniegelenkes längerfristig stören. Die Hamstringsehnen können nach Befunden einzelner Untersucher nach der Entnahme des Transplantates weitgehend vollständig regenerieren. Sie verändern aber meist ihre Lage und sind dann etwas näher zum Körper gelegen (proximal).Der Anteil an Operationen, bei denen die Quadrizepssehne zur Rekonstruktion des Kreuzbandes verwendet wird, ist bisher noch recht gering. Entsprechend schlecht ist die Datenlage zur Morbidität der Entnahme dieser Sehne. In den vorhandenen Studien sind die Ergebnisse zum Teil sehr widersprüchlich. Einige Autoren berichten im Vergleich zur Entnahme der Patellasehne von einer deutlich geringeren Entnahmemorbidität, während andere von einer Funktionseinschränkung und deutlichen Schmerzen schreiben.
===== Typischer Ablauf einer Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes =====
In diesem Beispiel wird der Ablauf der Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes durch Transplantation einer autologen Semitendinosus- und Gracilissehne beschrieben. In den 1980er Jahren wurde die klassische offene Kreuzbandoperation über den Payr-Zugang zunächst durch die Miniarthrotomie abgelöst. Mittlerweile werden nahezu alle Kreuzbandrekonstruktionen minimalinvasiv mittels Arthroskopie durchgeführt. Nur in Ausnahmefällen, beispielsweise bei sehr komplexen Knieverletzungen, erfolgt eine offene Operation.
Anästhesie
Der Eingriff kann unter Allgemeinanästhesie (Vollnarkose) oder unter Regionalanästhesie erfolgen. Beide Verfahren haben für den Patienten Vor- und Nachteile. Als regionale Verfahren kommen die Spinalanästhesie, die Periduralanästhesie (PDA, Rückenmarksnarkose) und die kombinierte Spinal- und Epiduralanästhesie (CSE) in Frage. Eine andere, häufig zusätzlich zu den genannten Anästhesieformen angewandte Form der Regionalanästhesie ist der Femoraliskatheter. Damit können vor allem die Schmerzen im betroffenen Knie nach der Operation (postoperativ) unterdrückt werden (Nervus-femoralis-Blockade). Dazu wird ein Lokalanästhetikum mit Hilfe eines Katheters in die Nähe des schmerzleitenden Nervs, des Nervus femoralis, gebracht. Eine vollständige Blockade des Knies ist damit alleine jedoch nicht möglich. Die Fasern des N. femoralis verlaufen von der Lendenwirbelsäule aus kommend bis zum Kniegelenk. Ein haarfeiner Schlauch transportiert über eine kleine Dosiereinheit das Schmerzmittel in der Leistengegend an den N. femoralis. Durch die Blockade des N. femoralis wird nicht nur der Schmerz betäubt, sondern auch Gefühl, Kraft und Beweglichkeit des Beins eingeschränkt. Drei bis fünf Tage nach der Operation wird der Katheter entfernt. Durch die Kombination von Femoraliskatheter und Oberschenkelblutsperre bei der Kreuzbandrekonstruktion sind Störungen der Oberschenkel-Muskelfunktion beschrieben.
Arthroskopie
Der eigentliche Eingriff beginnt mit der Einführung des Arthroskops in das Knie des Patienten. Die Diagnose »Kreuzbandriss« kann so nochmals bestätigt werden. Andere Verletzungen, insbesondere des Meniskus, können vor der Rekonstruktion des Kreuzbandes versorgt werden.
Entnahme und Präparation der Sehne
Als erster operativer Eingriff erfolgt die Entnahme der Transplantatsehne. Ein etwa 4 cm langer Hautschnitt am inneren Schienbeinkopf, oberhalb des Pes anserinus, ermöglicht die Entnahme der körpereigenen (autologen) Semitendinosus- oder Gracilissehne oder von beiden Sehnen. Die Sehnen werden mit einem sogenannten „Sehnenstripper“ entnommen und haben eine Länge von etwa 28 cm. Die Sehnen werden auf einer Spezialvorrichtung vorgespannt und als Mehrfachstrang, beispielsweise „Quadruple“, 4-fach miteinander vernäht. Die Länge des Transplantates beträgt dann noch etwa 7 cm und hat einen Durchmesser von mindestens 7 mm. Das Transplantat wird mittels eines Spezialfadens an den vorgesehenen Fixationsvorrichtungen (z. B. Endobutton) fixiert. Der Spezialfaden ist nicht bioresorbierbar.
Entfernung der Kreuzbandreste und Bohren der Knochenkanäle
Arthroskopisch werden die Reste des gerissenen vorderen Kreuzbandes entfernt. Dazu wird ein motorgetriebenes Saug-Schneid-Werkzeug (Shaver) und/oder ein Hochfrequenz-(HF)-Ablationsgerät verwendet. Es empfiehlt sich, am Schienbeinkopf einen Rest vom Stumpf zu belassen, um einen Rest von Proprioception zu erhalten und das Eindringen von Gelenkflüssigkeit in den tibialen Kanal zu minimieren. Mit Hilfe eines Zielgerätes wird die Position zur Bohrung eines Kanals durch den Kopf des Schienbeins anvisiert und anschließend gebohrt. Der Durchmesser des Bohrkanals ist dem Durchmesser des Transplantates angepasst. Durch den Kanal des Schienbeins hindurch, oder präziser heute durch einen zusätzlichen anteromedialen Arthroskopiezugang, wird ein Zielgerät für die Bohrung am Oberschenkelknochen angebracht. Mit Unterstützung dieses Zielgeräts wird ein Kanal in den Oberschenkelknochen gebohrt. Dieser Kanal kann sich nach oben verjüngen (Sackloch) und hat eine Länge von etwa 35 mm. Der breitere Teil des Kanals ist für die Aufnahme des Transplantates, der schmalere für den Durchzug der Transplantataufhängung.
Einziehen des Transplantates
Mit zwei Zugfäden wird das Transplantat von unten nach oben in die Bohrkanäle eingezogen. Mit Hilfe einer Hohlschraube (Transfix-Schraube) wird das Transplantat am Oberschenkelknochen befestigt. Das aus dem Ende des Schienbeinkanals herausragende Ende wird vorgespannt und mit einer Interferenzschraube (Delta-Schraube) durch Verklemmung fixiert. Abschließend werden die Wunden vernäht. Die Operationsdauer liegt typischerweise im Bereich von 45 bis 90 Minuten.
Nach der Operation
Entscheidend für die definitive Funktion ist eine Lagerung direkt postoperativ in Streckposition. Diese sollte 24 Stunden eingehalten werden. Durch diese Lagerung wird ein postoperatives Streckdefizit verhindert, das sich sonst oft ausbildet und zu dessen Beseitigung wochenlange physiotherapeutische Bemühungen notwendig werden können. Am Tag nach der Operation werden üblicherweise die Drainagen aus den Wunden am Knie entfernt. Das operierte Bein darf bis zur fünften Woche nach der Operation nur teilbelastet werden, da das Transplantat in den Bohrkanälen in die Knochen einwachsen muss. Um das in dieser Zeit empfindliche Transplantat zu schützen, wird eine Knieorthese verwendet. Die Rehabilitation kann üblicherweise nach der fünften Woche beginnen.
===== Mögliche Komplikationen nach Rekonstruktionen des vorderen Kreuzbandes =====
Wie bei jedem chirurgische Eingriff kann es auch bei der Rekonstruktion der Kreuzbänder mit den beiden heute üblichen Transplantaten (Patellasehne und Hamstring) zu Komplikationen kommen. Zu den allgemeinen Risiken bei Operationen, wie beispielsweise Blutungen, Wundinfektionen, Störungen der Wundheilung, Thrombosen, Verletzungen von Gefäßen oder Nerven, addieren sich spezifische Komplikationen. Je nach Autor werden unterschiedliche Komplikationsraten von bis zu 26 Prozent angegeben. Die häufigsten Komplikationen sind das Versagen des Transplantates, beispielsweise durch Ausriss, Re-Ruptur oder Lockerung, und vor allem Bewegungseinschränkungen des Kniegelenks.Zu den Komplikationen kann auch die zuvor gezeigte Morbidität der Transplantatentnahme gerechnet werden.
Bewegungseinbuße
Bewegungseinbuße ist eine schwerwiegende Komplikation nach der Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes. Sie liegt definitionsgemäß dann vor, wenn bei der Streckung des Beines ein Winkel von 10° nicht unterschritten und bei der Beugung ein Winkel von 125° nicht überschritten werden kann. Der Verlust der Streckfähigkeit des Gelenkes ist häufiger als der der Beugefähigkeit und zudem für den Patienten auch schwerwiegender. Die Ursache für Bewegungseinbußen ist meist eine entzündungsbedingte Vermehrung von Bindegewebe – eine Fibrose, genauer gesagt einer Arthrofibrose.Transplantatversagen
Die Inzidenz für Transplantatversagen liegt bei etwa 4,3 %. Die Ursachen für ein Versagen eines Transplantates lassen sich in drei Gruppen einteilen:
chirurgische Fehler,
biologisches Versagen, bedingt durch mangelhaftes Einheilen des Transplantates und
erneute Kreuzbandruptur.In einer Studie waren 52 Prozent der Fälle von Transplantatversagen iatrogen, das heißt durch den Arzt verursachte chirurgische Fehler. Bei 25 Prozent der Fälle führten ein erneuter Riss des Kreuzbandes, bei 8 Prozent eine mangelhafte Inkorporation des Transplantates, bei 3 Prozent eine Bewegungseinschränkung und bei ebenfalls 3 Prozent die verwendeten synthetischen Implantate zum Ausfall. Bei 9 Prozent der Fälle von Transplantatversagen konnte die Ursache nicht genau zugeordnet werden. Generell ist das chirurgische Können des Operateurs für den Erfolg einer Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes von großer Wichtigkeit. Typische chirurgische Fehler sind beispielsweise eine falsche Platzierung des Bohrkanals, eine unzureichende Fixierung des Transplantates, eine ungenügende Spannung des Transplantates und eine unzureichende Notch-Plastik mit konsekutivem Impingement.Die erneute Ruptur des Kreuzbandes kann unter anderem durch eine zu aggressive Rehabilitation, mangelnde Komplianz des Patienten oder zu frühe Wiederaufnahme einer sportlichen Tätigkeit mit zu hoher Belastung für das Implantat verursacht werden.
Septische Arthrithis
Eine septische Arthritis (bakterielle Arthritis) ist eine relativ seltene, allerdings sehr schwerwiegende Komplikation einer Kreuzbandrekonstruktion. Die Inzidenzraten liegen im Bereich von 0,3 bis 1,7 Prozent.
Die septische Arthritis ist mit einer hohen Morbidität, einem meist langwierigen Krankenhausaufenthalt und häufig mit einem schlechten klinischen Ergebnis verbunden.In einer Studie in den Vereinigten Staaten lag die Rate an schwerwiegenden Infektionen nach einer Kreuzbandrekonstruktion bei 0,75 Prozent. Die Rate lag bei Autografts bei 1,2 und bei Allografts bei 0,6 Prozent. Die Gabe von Antibiotika ist nach postoperativen Infektionen obligat.In Deutschland werden bei 62 Prozent aller Arthroskopien den Patienten prophylaktisch Antibiotika verordnet, um Infektionen – wie beispielsweise eine septische Arthritis – zu vermeiden.Andere Komplikationen
Postoperative Thrombosen haben eine Inzidenz von 1,2 Prozent. Äußerst selten sind maligne Neoplasien (bösartige Tumoren), die sich nach einer Kreuzbandplastik bilden. In der Literatur sind bisher (Stand Juni 2010) lediglich drei Fälle beschrieben.
==== Kreuzbandnaht ====
→siehe auch Absatz MedizingeschichtlichesBis in die 1980er Jahre wurde das Verfahren der Primärnaht, beispielsweise bei intraligamentären Rissen, bevorzugt. Bei der Primärnaht wurden die durchtrennten Enden des Kreuzbandes im Sinn einer Reparatur wieder zusammengenäht. Dieser Therapieansatz wurde erstmals 1895 durchgeführt. Die damaligen Studienergebnisse über die Primärnaht von Kreuzbandrissen waren nicht zufriedenstellend. Die Versagerquoten in den ersten fünf Jahren nach der Operation lagen studienabhängig bei über 20 Prozent. In der Folgezeit wurde die primäre Naht des Kreuzbandes ohne Augmentation als Therapie mehr und mehr zugunsten der Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes aufgegeben. Andere nachfolgende Langzeitstudien belegten eine Verschlechterung der Resultate über längere Zeiträume, weshalb die alleinige primäre Naht in der damals durchgeführten Operationstechnik heutzutage keine Therapieoption mehr darstellt. Ursache für die mangelhaften Resultate war eine zu schwache biomechanische Stabilität des Kniegelenkes während des Heilungsprozesses. Infolgedessen konnte sich in vielen Fällen kein funktionell angemessenes Narbengewebe ausbilden um die erforderliche Kniestabilität zu gewährleisten.Eine weiterführende Variante der Kreuzbandnaht war die Verstärkung des heilenden Kreuzbandes durch eine sogenannte Augmentation. Für die Augmentation wurden verschiedene synthetische Bandmaterialien oder auch körpereigenes Gewebe verwendet. Die Verstärkung kann intraartikulär (innerhalb des Gelenkes) oder auch extraartikulär (außerhalb des Gelenkes) erfolgen. Auch diese damaligen Verfahren werden allgemein als überholt angesehen.
==== Sonderfall knöcherner Ausriss ====
Der knöcherne Ab- oder Ausriss des vorderen Kreuzbands vom Knochen (Schienbein oder Femur) ist wesentlich seltener als seine intraligamentäre Ruptur und ist definitionsgemäß kein Kreuzbandriss. Dieser Sonderfall tritt häufiger bei Kindern, vor allem im Bereich des Kreuzbandansatzes am Schienbein Eminentia intercondylica auf und hat durch Refixierung des Ausrisses – beispielsweise mit Schrauben oder Drahtnaht – allgemein gute Chancen, wieder vollständig knöchern einzuheilen. Bei der arthroskopischen Refixation der das Kreuzband tragenden Knorpel-Knochen-Schuppe ist eine gute Übersicht von entscheidender Bedeutung, um die Einklemmung des Ligamentum transversum genus (zwischen den Menisken) unter dem Fragment zu vermeiden. Ansonsten ist die mini-open Technik vorzuziehen. Generell ist darauf zu achten, mit den Implantaten (Schrauben oder Drahtnähten) die Wachstumsfuge nicht zu blockieren.
==== Kreuzbanderhaltende Operationen ====
→siehe auch Artikel KreuzbanderhaltKreuzbanderhaltende Operationsmethoden sind noch junge Verfahren, die ohne ersetzendes Sehnen-Transplantat auskommen. Sie können nur innerhalb der ersten drei Wochen nach einem Kreuzbandriss angewendet werden. Diese zeitliche Begrenzung hat ihre Ursache darin, dass vor allem die vorhandene Heilungskapazität eines Kreuzbandes genutzt werden soll, welches ziemlich schnell nachlässt.
Der angestrebte natürliche Vernarbungsprozess des Kreuzbandes wird durch eine biomechanische Stabilisation des Kniegelenkes, einer anatomischen Reposition der verletzten Bandstruktur sowie einer Mikrofrakturierung (Healing Response) erreicht.
Aktuell werden zwei Verfahren angewendet: ein erster Behandlungsansatz ist dynamisch (Federmechanismus) basiert, der zweite setzt auf eine starre, unflexible Stabilisation des Kniegelenks. Bei der dynamischen Methode wird das Kreuzband mit bioresorbierbaren Nähten reponiert und das Knie mit einem dünnen, sehr reißfesten Implantat-Faden stabilisiert. Die flexible Dynamik des Federelementes im Schienbein sorgt dafür, dass bei allen Beuge- und Streckbewegungen das heilende Band entlastet wird. Bei der unelastischen Methode werden ein starr fixiertes Polyethylen-Band zur Kniestabilisierung sowie nicht-resorbierbare Nähte sowie kleine Anker verwendet, um das abgerissene Kreuzband an die originäre Abrissstelle zurückzuführen, bis es wieder angewachsen ist.Bisher veröffentlichte Daten zeigen, dass sich – bei sehr ausgewählter Indikationsstellung – gute Ergebnisse erzielen lassen.
==== Therapieperspektiven ====
Die beiden Kreuzbänder sind im Gegensatz zum Innen- und Außenband nicht in der Lage, nach einem Riss durch Ruhigstellung wieder von alleine zusammenzuwachsen. Bei einem Innenbandriss genügt beispielsweise ein Stützapparat (Schiene), die etwa sechs Wochen getragen werden muss, damit die beiden Enden vernarben können und der Riss so verheilt. Bei den beiden im Inneren des Knies gelegenen Kreuzbändern ist dies nicht der Fall. Die Ursache hierfür ist nicht genau bekannt. Mehrere Faktoren werden diskutiert. So ist die Synovialflüssigkeit, die die Kreuzbänder umgibt, möglicherweise ein Medium, das einen solchen Heilungsprozess verhindert. Ebenso werden Veränderungen des Zellstoffwechsels nach der Verletzung und intrinsische Defizite, wie beispielsweise in der Genexpression der die Kreuzbänder formenden Zellen, für diesen Effekt verantwortlich gemacht.In der Forschung sind Therapiekonzepte, die daran ansetzen, in den Zellen der gerissenen Kreuzbänder die gleichen Fähigkeiten, wie beispielsweise bei den Zellen des Außen- und Innenbandes, zu aktivieren. Prinzipiell sind die Zellen der Kreuzbänder, wie beispielsweise die Zellen des Innenbandes, in der Lage nach einer Ruptur zu proliferieren und zu revaskularisieren. Dies wurde histologisch und immunhistochemisch nachgewiesen. Auch ein Jahr nach der Ruptur sind die Zellen in der Lage, innerhalb der Bandfragmente Kollagen zu produzieren. Auch die Fähigkeit zur Zellmigration in den Wundbereich ist nachgewiesen. Dennoch bildet sich im Knie keine Stützstruktur (Scaffold) für den Gewebeaufbau, die die gerissenen Kollagenfaserbündel des Kreuzbandes wieder miteinander verbindet. Die Enden des gerissenen Kreuzbandes wogen ziellos in der Synovialflüssigkeit hin und her. Eine Hypothese geht davon aus, dass das Fehlen von für den Aufbau der Stützstruktur essentiellen extrazellulären Matrixproteinen und Zytokinen im Bereich der Wunde die Selbstheilung verhindert. Ein Indiz hierfür ist, dass beim Heilungsprozess des Innenbandes erhebliche Mengen an Fibrinogen, Fibronektin, Platelet-Derived Growth Factor A (PDGF-A), TGF-β1, Fibroblasten-Wachstumsfaktor (FGF) und Von-Willebrand-Faktor (vWF) nachweisbar sind, die beim Kreuzbandriss fehlen. Trotz der Einblutung bei einem Kreuzbandriss sind keine Fibrin-Plättchen in der Nähe der Verletzung nachweisbar. Eine mögliche Ursache ist die Anwesenheit höherer Konzentrationen des Enzyms Plasmin. Plasmin ist in der Lage, die Spaltung von Fibrin (Fibrinolyse) zu katalysieren. Es entsteht durch die verstärkte Expression des Enzyms Urokinase, das wiederum die Umwandlung von Plasminogen in Plasmin katalysiert.Die biologische Stimulation des Aufbaus einer Stützstruktur, die einen Heilungsprozess des gerissenen Kreuzbandes im Knie ermöglicht, ist ein potenzielles zukünftiges Therapiekonzept. Die Gabe von Wachstumsfaktoren wie PDGF, TGF-β und FGF konnte in vitro die Proliferation und Migration, wie auch die Produktion von Kollagen hochregulieren. Im Modellorganismus Kaninchen konnte durch die Injektion von Hyaluronsäure eine erhöhte Gefäßneubildung und eine verstärkte Produktion von Kollagen Typ III beobachtet werden. Im Tiermodell Hausschwein bewirkt die Injektion eines kollagenreichen Hydrogels bei einem genähten Kreuzband einen verbesserten Heilungsprozess, mit einer signifikant erhöhten Bandfestigkeit.Alle diesbezüglichen Konzepte des Tissue Engineerings befinden sich noch im Anfangsstadium. Erste und kurzfristige Resultate zeigen, dass mit biologisch stimulierenden Faktoren eine verbesserte Bandheilung erreicht werden kann.
==== Healing-Response-Technik ====
Die Healing-Response-Technik entwickelte der US-amerikanische Chirurg Richard Steadman zu Beginn der 1990er-Jahre. Dieses Therapieverfahren ist nur bei frischen vorderen Kreuzbandrissen, mit Abriss am Oberschenkelknochen oder bei einem Riss im Synovialüberzug, möglich. Bei 80 % aller Rupturen des vorderen Kreuzbandes erfolgt der Abriss am Oberschenkelknochen. Das Verfahren ist umstritten, da die bisher veröffentlichten Ergebnisse uneinheitlich sind. Eine Vergleichsstudie zeigte, dass sich die Ergebnisse von denen der konservativen Therapie nicht wesentlich unterschieden, während andere Studien die Vorteilhaftigkeit dieser Behandlungsmethode dokumentierten.Der Healing-Response-Technik liegt die Annahme zugrunde, dass sich undifferenzierte Stammzellen bei entsprechender mechanischer Beanspruchung – gemäß dem Wolffschen Gesetz – zu Tendinozyten (Flügelzellen) ausdifferenzieren können. Mittels Arthroskopie werden zunächst eventuelle Begleitverletzungen behandelt. Anschließend wird mit einer Ahle das Knochenmark im Bereich des Kreuzbandes an bis zu zehn Stellen geöffnet (Mikrofraktur), damit Stammzellen aus dem Mark austreten können. Ein ausreichend hoher Austritt von Blut aus dem Knochenmark ist wichtig. Danach wird das Kreuzband an seine Ansatzstelle in das Koagulum reponiert und das Kniegelenk gestreckt. Die Behandlung erfolgt stationär, typischerweise für zwei Tage. Ohne Drainage wird das Kniegelenk mit einer Schiene für etwa vier bis sechs Wochen in einer 10°-Beugung fixiert. Danach erfolgt intensives Training. Nach durchschnittlich drei Monaten ist der so behandelte Patient wieder fähig, Leistungssport auszuüben. Der Eingriff muss innerhalb von wenigen Tagen nach der Verletzung erfolgen. Die Erfolgsrate liegt bei über 80 %. Misserfolge können mittels Kreuzbandplastik behandelt werden. Das Verfahren ist möglicherweise auch zur Behandlung von Rissen des hinteren Kreuzbandes geeignet.
=== Operative Behandlung des hinteren Kreuzbandrisses ===
Die Operation des hinteren Kreuzbandes gestaltet sich erheblich schwieriger als die des vorderen und ist eher die Ausnahme. Die Heilungstendenz ist zudem bei einer konservativen Therapie recht hoch. Ein operativer Eingriff ist meist nur bei komplexen Bandverletzungen des Knies indiziert. Gegenwärtig sind drei konkurrierende operative Verfahren beim hinteren Kreuzbandriss etabliert. Dies sind:
Die anatomische Rekonstruktion des anterolateralen Hauptbündels in Single-incision-Technik unter Verwendung von Hamstring-Sehnen, wie beispielsweise Musculus semitendinosus
Die anatomische Rekonstruktion beider Bündel
Die Tibial-Inlay-Technik
=== Physiotherapie zur Rehabilitation nach einer Kreuzbandplastik ===
Ziel der Therapie sollte nicht die alleinige Wiederherstellung der Stabilität sein, sondern vielmehr die Erhaltung der gesamten Gelenkfunktion. Das heißt Stabilität, inklusive des Gefühls eines stabilen Kniegelenks, freie Gelenkbewegung und Beschwerdefreiheit.
Nach der Operation wird frühfunktionell beübt (teilweise passiv mittels Motorbewegungsschiene) und die Mobilität des Patienten mit Unterarmgehstützen und unter Umständen mit einer Kniegelenksorthese hergestellt. Im Anschluss erfolgt eine physiotherapeutische Behandlung, die je nach Operationstyp und Schule nach etwa zwei Wochen zur Vollbelastung des operierten Knies führen soll. Es wird empfohlen Anspannungsübungen durchzuführen. Dies soll die Muskelgruppen aktivieren. Etwa ab der dritten Woche kann man mit leichtem Fahrrad fahren beginnen. Nach etwa sechs Wochen können Übungen auf dem Sportkreisel oder Minitrampolin unter Anleitung durchgeführt werden. Sportfähigkeit für leichtes Lauftraining besteht ab zirka dem dritten Monat nach der Operation. Nach etwa sechs Monaten können Belastungen wie beispielsweise Springen hinzukommen. Insgesamt dauert die Rehabilitationsphase im Durchschnitt sechs bis neun Monate, bevor die volle Sportfähigkeit erreicht ist. Die vollständige Einheilung (Remodellisierungsphase) des vorderen Kreuzbands ist erst nach einem Jahr abgeschlossen.Die Nachbehandlung nach der Operation unterscheidet sich im Wesentlichen nur marginal. Es existieren feste Standards in der physiotherapeutischen Behandlung, die nur unwesentlich differenzieren. Hier sollten auch klare Nachbehandlungsschemata je nach Operationsmethode ihren Niederschlag in der Behandlung finden. Die Erfahrung und Arbeit des Physiotherapeuten ist somit in der Folge für den Heilungsprozess von entscheidender Bedeutung.
== Prognose ==
Auch nach einer optimalen Therapie kann im betroffenen Kniegelenk eine funktionelle Instabilität verbleiben. Diese Instabilität kann zu einer Fehlbelastung des Gelenkkörpers führen und so Folgeschäden verursachen. Typische Folgeschäden sind sekundäre Knorpelschäden, eine Degeneration des Hinterhorns des Innenmeniskus und ein signifikant erhöhtes Risiko einer Kniegelenksarthrose (Gonarthrose).Mehrere Studien zeigen, dass nach einem Riss des vorderen Kreuzbandes die Wahrscheinlichkeit zur Ausbildung einer Kniegelenksarthrose deutlich erhöht ist. Etwa 50 bis 70 % der Patienten mit einem Kreuzbandriss zeigen nach 15 bis 20 Jahren radiographische Veränderungen im Knie. Kommen zu dem Kreuzbandriss noch Begleitverletzungen im Knie – wie beispielsweise ein Meniskusriss – hinzu, so steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Gonarthrose weiter an. In diesem Zeitraum hat die Gonarthrose einen Ahlbäck-Grad von I bis II erreicht und ist üblicherweise noch ohne klinische Symptome. Die Progression ist meist relativ langsam. Ältere Studien gehen davon aus, dass in den meisten Fällen vermutlich erst 30 und mehr Jahre nach dem Riss des vorderen Kreuzbandes die Gonarthrose klinisch relevant wird. Andere Studien berichten davon, dass es bereits im Zeitraum 10 bis 20 Jahre nach dem Riss des Kreuzbandes zu funktionellen Einschränkungen des Kniegelenkes, verbunden mit Schmerzen, bedingt durch arthrotische Prozesse im Knie kommen kann. Die Prognose ist aber generell stark abhängig von Alter, Geschlecht, Genetik, Körpergewicht, Muskelstärke, körperlicher Aktivität und möglichen erneuten Verletzungen im Knie.
Bei amerikanischen Sportlerinnen sind Risse des vorderen Kreuzbandes fünfmal so häufig aufgetreten wie bei Sportlern, obwohl bei amerikanischen Sportlern mit American Football eine für die Knie nicht ganz ungefährliche Sportart dabei ist. Ford KR, Myer GD & Hewett TE (2003) untersuchten daher das Landeverhalten nach beidbeinigem Absprung bei Volleyballerinnen und Basketballspielern. Sie stellten fest, dass die Kraftunterschiede zwischen starkem und schwachem Bein bei den Frauen deutlich größer waren als bei den Männern, dass im Kniegelenk der Frauen bedeutend häufiger eine Valgusstellung vorhanden ist und dass ein Zusammenhang zwischen Valgusstellung und Kraftdifferenz der Beine besteht. Da es bei operativ behandelten Kreuzbandrissen zu einem erheblichen Wiederverletzungsrisiko kommt, wenn der Sport fortgesetzt wird, haben die Amerikaner M. V. Paterno, L. C. Schmitt, K. R. Ford u. a. (2010) 56 Sportlern (35 Frauen, 21 Männer) aus Sportarten mit plötzlichen Richtungsveränderungen (u. a. Fußball und American Football), die eine erfolgreiche Operation des vorderen Kreuzbandes hinter sich hatten, ein Jahr systematisch verfolgt, um zu ermitteln, ob es Besonderheiten gibt, durch die sich ein erneuter Kreuzbandriss vorhersagen lässt. Innerhalb dieses Zeitraumes kam es bei 13 zu erneuten Kreuzbandverletzungen.
Bei allen 56 wurde hierzu eine 3-dimensionale Bewegungsanalyse bei Tiefsprüngen gemacht und hierbei die Stabilität der Körperhaltung mit 4 Videokameras und einer Kissler Kraftmessplatte gemessen. Die Kinematik, Kinetik und Haltungsstabilität wurden bestimmt um herauszufinden, ob übereinstimmende Bewegungs-/Haltungsanomalien statistisch signifikant bei den Wiederverletzten zu finden sind. Mit diesem Verfahren ließ sich die Wiederverletzungswahrscheinlichkeit sehr gut vorhersagen. Die spezifischen Parameter beinhalteten eine Zunahme in Bewegung des Valgus, größerer Asymmetrie bei der Bewegung der internen Knie Extensoren bei Beginn des Bodenkontaktes sowie ein Defizit in der Haltungsstabilität im einbeinigen Stand auf dem betroffenen Bein. Unabhängig von diesen Messungen ermöglichte auch eine kontralaterale Hüftrotation während der ersten 10 % der Landephase eine (wenn auch weniger) gute Vorhersage der Wiederverletzung des vorderen Kreuzbandes. Die Katalanen Ferrer-Roca V., Balius Matas X., Domínguez-Castrillo O., u. a. (2014) haben 35 Fußballspieler (Profis und Halbprofis) aus Barcelona der 1. Spanischen Liga an 2 Tagen zu Beginn der Vorbereitungszeit nach der Sommerpause mit Videoanalyse und 2 Kraftmessplatten in ihren Bewegungen im Hinblick auf mögliche intrinsische Risikofaktoren untersucht. Hierbei verwendeten die Autoren die Tests von Paterno u. a. (2010), da sie davon ausgingen, dass die Sportler, für die die Amerikaner ein Wiederverletzungsrisiko voraussagten, auch ein Erstverletzungsrisiko haben könnten. Sie identifizierten dieselben Probleme und versuchten Richtwerte aufzustellen, von wann an Gegenmaßnahmen im Training zu ergreifen sind: 14,3 % der Spieler hatten eine Valgusabweichung von ≥ 20 Grad im Knie bei der Landung im Tiefsprung. In der Literatur wird schon ≥ 16 Grad als problematisch angesehen. 31,4 % der Spieler hatten funktionale (Kraft)Abweichungen in den Beinen von mehr als 15 %. Da diese 15 % als Maximum gelten, wann ein Spieler nach Verletzungen wieder ins Mannschaftstraining integriert werden darf, ist auch dies ein sinnvoller Richtwert, zumal kein statistischer Zusammenhang bestand zwischen dem Schussbein und dem kräftigeren Bein. Bei den Spielern, die beide Abweichungen vorwiesen, wurden Gegenmaßnahmen ergriffen.Bei nichtoperativ behandelten Kreuzbandrupturen liegt das Risiko für eine Kniegelenksarthrose nach 20 Jahren, über mehrere Studien betrachtet, bei 60 bis 100 %. Im Vergleich dazu haben Patienten mit einer Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes ein 14- bis 16-prozentiges Risiko und bei zusätzlicher Meniskektomie eines von 37 % für eine Gonarthrose.Bei der Langzeitbetrachtung einer kleinen Kohorte von 19 Spitzensportlern mit unbehandeltem Kreuzbandriss hatten nach 35 Jahren 8 der Athleten (= 42 %) eine Knieprothese.Laut Unfallversicherung VBG lag die durchschnittliche Ausfallzeit in den höchsten deutschen Ligen des Basketballs, Eishockeys, Fußballs und Handballs in Deutschland bei rund achteinhalb Monaten. Risse des vorderen Kreuzbandes machten 0,5 Prozent aller Verletzungen aus, sorgen jedoch für bis zu 20 Prozent der Ausfallzeiten.Je nach Sportart kehren etwa 60 bis 80 Prozent der Athleten nach einem Kreuzbandriss zu ihrem vorherigen Niveau zurück.
== Prävention ==
Ein Kreuzbandriss hat für den Betroffenen erhebliche Konsequenzen. Diese Art der Verletzung ist daher eine der von Sportlern am meisten gefürchteten. Für Berufs- und Leistungssportler bedeutet ein Kreuzbandriss – trotz immer weiter verbesserter Behandlungsmöglichkeiten – eine langwierige Trainings- und Wettkampfpause. Bis in die 1990er Jahre führte ein Kreuzbandriss meist zum Karriereende. Für Berufssportler, sowie ihre Vereine und Sponsoren, sind nach wie vor beträchtliche Einnahmeeinbußen die Folge. In der Regel dauert es nach Wiederherstellung der Bänder und Wiederbeginn der Wettkampftätigkeit weitere Monate, bis das ursprüngliche Leistungsniveau des Sportlers wieder erreicht wird. Im Amateur- und Hobbybereich des Sports entstehen für die Gesellschaft durch Arbeitsausfallzeiten, Behandlung und Rehabilitationsmaßnahmen erhebliche Kosten, zu denen sich noch die langfristig entstehenden Kosten durch vorzeitige Kniegelenksarthrosen addieren. Im Sport wird bei entsprechender Physiotherapie durchschnittlich mit Regenerationszeiten von neun Monaten gerechnet.
Der Prävention, also der Vermeidung eines Kreuzbandrisses, kommt daher eine immer bedeutendere Rolle zu. Grundsätzlich erscheint es als möglich, dass durch bestimmte Trainingsmethoden die Wahrscheinlichkeit eines Kreuzbandrisses gesenkt werden kann. Da eine Reihe von Pathomechanismen, die einen Kreuzbandriss begünstigen, lange Zeit nicht ausreichend verstanden wurden, ist es noch weitgehend unklar, welche Übungen einen präventiven Charakter haben oder gar warum sie das Verletzungsrisiko senken. Es werden daher mittlerweile in vielen Ländern große Forschungsanstrengungen unternommen, um zum einen die Risikofaktoren und Pathomechanismen eines Kreuzbandrisses aufzuklären und zum anderen daraus abgeleitet mit geeigneten Maßnahmen dieser Verletzungsart begegnen zu können. Am erfolgreichsten waren bisher Paterno MV, Schmitt LC, Ford KR u. a. (2010), die mit 94%iger Wahrscheinlichkeit aus dem Bewegungsverhalten bei Tiefsprüngen die Wahrscheinlichkeit von Kreuzbandrissen vorhersagen konnten. Sie zeigten, dass große Unterschiede zwischen der Kraft der beiden Beine sowie eine Valgus-Stellung im Kniegelenk bei der Landung die größten Risikofaktoren darstellten, dass aber auch Instabilität des Rückens zur Gefahr beitragen kann. Da eine Valgus-Abweichung von mehr als 16 % und Kraftdifferenzen von mehr als 15 % als problematisch angesehen werden (und eine Reha in diesem Falle als noch nicht abgeschlossen gilt), scheint neben CORE-Training für den Rücken eine entsprechende Beinkraftschulung angebracht.
=== Spezielle Übungen ===
Bisher gibt es keine standardisierten Übungen, um Kreuzbandrissen ohne Fremdeinwirkung vorzubeugen. In einigen Studien zeigte es sich, dass vielseitigere Übungsprogramme einen größeren positiven Effekt zeigen als einzelne Übungen. Plyometrische Übungen für die unteren Extremitäten, Dehngymnastik (Stretching), zur gezielten Beherrschung des Rumpfes, zur gestärken Wahrnehmung der Körperbewegung (Propriozeption) und zur verbesserten Entscheidungsfindung, scheinen positive Effekte in der Prävention zu haben. Dadurch werden die Kräfte bei der Landung des Sportlers nach einem Sprung ebenso reduziert wie die Momente, die bei Varus/Valgus einwirken. Zudem werden Muskeln aktiviert, die Kraftmomente, die auf das Knie einwirken, teilweise mit abfangen können.In einer Studie mit über 1400 Fußballspielerinnen konnte ein positiver Effekt durch spezielles Aufwärmen (warm-up) erreicht werden. Gegenüber der Kontrollgruppe nahm die Anzahl an vorderen Kreuzbandrissen insgesamt um den Faktor 1,7 ab. Betrachtet man nur die Kreuzbandrisse ohne Fremdeinwirkung, so lag in der Gruppe mit dem speziellen Aufwärmprogramm die Häufigkeit sogar um den Faktor 3,3 niedriger. Der Schwerpunkt der Aufwärmübung liegt auf der neuromuskulären Kontrolle des Kniegelenkes. In anderen Studien konnte elektromyografisch nachgewiesen werden, dass neuromuskuläre Übungen positive Effekte auf den Musculus semitendinosus vor Absprung und Landung eines Sportlers haben.Zu ähnlich positiven Ergebnissen kommt eine Studie aus Italien. Mitte der 1990er Jahre nahmen insgesamt 600 Fußballspieler aus 40 Mannschaften des Halbprofi- beziehungsweise Amateurbereichs teil. Die Hälfte der Mannschaften trainierte jeden Tag zusätzlich 20 Minuten nach einem speziellen sensomotorischen Trainingsprogramm, das propriozeptive Elemente enthielt. Die Übungen wurden beispielsweise mit einem Balance Board durchgeführt. Über drei Spielsaisons wurde die Häufigkeit von Verletzungen der vorderen Kreuzbänder beobachtet. Bei den Teilnehmern an dem speziellen Trainingsprogramm war die Inzidenz einer Kreuzbandverletzung signifikant niedriger als in der Kontrollgruppe. Einige Autoren sehen in dieser Studie den Beweis für einen prophylaktischen Effekt des koordinativen Trainings. Übliche propriorezeptive Trainingsmittel sind beispielsweise „Wackelbretter“ und „Sportkreisel“. Diese geben dem Trainierenden einen instabilen Untergrund, wodurch dieser ständig gezwungen ist, seinen Körper im Gleichgewicht zu halten.Eine andere evidenzbasierte Studie aus Norwegen mit über 1800 Handballspielern im Alter von 15 bis 17 Jahren zeigt ebenfalls, dass durch ein strukturiertes Aufwärmprogramm mit neuromuskulären Übungselementen die Inzidenz von Kreuzbandrissen um über 50 % gesenkt werden kann. Zum Einsatz kamen hierbei unter anderem Balancematten. Eine 2005 von der Universität Münster veröffentlichte Studie mit über 250 deutschen Handballspielerinnen kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass propriozeptive und neuromuskuläre Übungen die Häufigkeit von Kreuzbandrupturen erheblich reduzieren können.Eine Reihe von Sportwissenschaftlern plädiert dafür, dass solche präventiven Übungselemente integraler Bestandteil von Trainingseinheiten in Sportarten mit erhöhter Inzidenz für Kreuzbandrupturen werden.
=== Andere Präventionsmaßnahmen ===
Eine Regeländerung zu Beginn der Saison 2005 bewirkte in der Australian Football League, dass die Häufigkeit für einen hinteren Kreuzbandriss um mehr als den Faktor zwei gesenkt werden konnte. Die Regeländerung bestand darin, den Anlauf des Ruckman auf das Anstoßquadrat zu begrenzen.
== Tiermedizin ==
Von den Haustieren ist insbesondere der Haushund häufig von Rupturen des vorderen Kreuzbandes betroffen. Allerdings spielen hier andere, nicht traumatische, Pathomechanismen eine große Rolle. Seltener sind Kreuzbandrisse bei Hauskatzen.
== Medizingeschichtliches ==
Hippokrates von Kos beschrieb eine Subluxation des Knies, die er auf eine Bandverletzung im Knie zurückführte. Galenos beschrieb detailliert die Wichtigkeit der Bänder zur Stabilisierung des Knies und für einen normalen Bewegungsablauf beim Gehen. Zuvor meinte man noch, dass es sich bei den Kreuzbändern um „Nervenstrukturen“ handelt. Auf Galenos geht auch der heute noch gültige Name genu cruciata, mit dem er die das Knie stabilisierenden Strukturen bezeichnete, zurück.Bis in das 19. Jahrhundert hinein wurden zwar ausführlich die Luxationen des Knies und ihre Behandlung beschrieben, die Funktion der Bänder im Knie wurde aber in dem Sammelbegriff Dérangement intern völlig unterbewertet.
Die Wittenberger Brüder Wilhelm Eduard und Eduard Friedrich Weber beschrieben 1835 in ihrem Werk Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge ausführlich die biomechanischen Zusammenhänge der Komponenten innerhalb des Knies und in seiner Peripherie. Bei ihren Forschungsarbeiten untersuchten sie die abnorme Bewegung des Schienbeins in einem Knie ohne Kreuzbänder. Sie beschrieben so als Erste den durch einen Kreuzbandriss entstehenden abnormalen Bewegungsablauf beim Gehen.
Der Franzose Amédée Bonnet beschrieb 1845 in seiner 1300 Seiten umfassenden Monographie Traité des maladies des articulations (deutscher Titel von 1851: Zur Behandlung von Gelenkerkrankungen) seine an Leichen vorgenommenen Studien. Er stellte unter anderem fest, dass das vordere Kreuzband in den meisten Fällen an seiner femoralen (am Oberschenkel) Insertion reißt und die Ruptur von einem krachenden Geräusch begleitet wird. Das mediale Seitenband würde durch Valgusbeugungsstress auch an seinem femoralen Ansatz reißen. Bonnet erkannte auch, dass ein blutiger Gelenkerguss (Hämarthros) und der Schmerz wichtige Symptome des vorderen Kreuzbandrisses sind. Die Ursache der Schmerzen sah er in der Dehnung der Ligamentnerven. Über die Inzidenz schrieb er, dass „Rupturen der Ligamente viel häufiger sind als allgemein angenommen.“. Bonnet erwähnte auch als Erster das Phänomen der Subluxation („… des déplacements qui font croire à une luxation incomplète“), das erst wieder zu Beginn der 1970er Jahre von R. D. Galway und D. L. MacIntosh als Pivot Shift aufgegriffen wurde. In seinem 1853 veröffentlichten Buch Traité de thérapeutique des maladies articulaires schrieb Bonnet, dass eine zu lange Ruhigstellung des betroffenen Knies sich negativ auf den Heilungsprozess auswirke. Gegen die knorpelschädigende Wirkung einer Immobilisierung entwickelte er erste Geräte zur aktiven Bewegung. In seinen Ausführungen zur Behandlung akuter Verletzungen war er der damaligen Zeit weit voraus. So schlug Bonnet beispielsweise kalte Packungen zur Erstversorgung der Verletzung und eine baldige, leichte Bewegung vor. Im gleichen Buch beschreibt Bonnet eine Orthese mit zwei Scharnieren für Patienten mit Riss des vorderen Kreuzbandes.Die Verletzung des vorderen Kreuzbandes wurde erstmals 1850 von dem Briten J. Stark auf konservative Weise mittels eines Gipsverbandes behandelt.Der knöcherne Ausriss des vorderen Kreuzbandes, bei dem die ligamentären Strukturen unverletzt sind, wurde 1875 von französischen Chirurgen Poncet beschrieben. Poncet obduzierte die Leiche eines durch einen Fenstersturz aus dem dritten Stock Verunglückten.Der Engländer Arthur Mayo Robson (1853–1933) führte 1895 an einem 41-jährigen Minenarbeiter aus Featherstone – Mayo Robson nennt ihn in seiner Veröffentlichung acht Jahre später „J. B.“ – erstmals eine Kreuzbandnaht durch. Der Patient hatte sich 36 Wochen zuvor bei einem Unfall in einer Kohlengrube am Knie verletzt. Am 21. November 1895 öffnete Mayo Robson das Knie von J. B. Dabei stellte er fest, dass beide Bänder vollständig abgerissen waren, und fixierte sie mit Catgut. Das vordere Kreuzband nähte er an die Gelenkinnenhaut und an Gewebe der inneren Seite des äußeren Kondylus. Das hintere Kreuzband befand er als zu kurz, weshalb er es aufteilte, um eine ausreichende Länge zu erhalten. Dann fixierte er es an der Gelenkinnenhaut und am Knorpelgewebe der äußeren Seite des inneren Kondylus. Anschließend schloss er die Wunde mit Catgut und die Oberfläche mit Seidendarm. Knapp sechs Jahre später, am 24. Oktober 1901, besuchte ein Mitarbeiter von Mayo Robson den Patienten, der sein operiertes Bein als perfectly strong beschrieb und seinen alten Beruf wieder voll ausüben konnte. Schmerzen hatte er nur, wenn er das Knie bei der Arbeit zu sehr belastete. Der Umfang beider Knie war identisch.
Auch andere Veröffentlichungen empfahlen im Fall einer akuten Ruptur die primäre Kreuzbandnaht. Der Berliner Arzt H. Goetjes veröffentlichte 1913 die erste Sammelstatistik über 30 Fälle mit primärer Kreuzbandnaht, die zu einem positiven Ergebnis kam. Eine erste Kritik am Nähen der Bänder kam bereits 1916 durch Robert Jones, einen britischen Militärorthopäden. Jones hielt das Nähen der Bänder für völlig nutzlos und sah in der natürlichen Vernarbung die einzige verlässliche Reparatur. Ungeachtet dieser Kritik sollte sich die primäre Kreuzbandnaht noch über 60 weitere Jahre halten, wurde sie doch von zahlreichen Autoren bestätigt und empfohlen.
1976 veröffentlichten John A. Feagin und Walton W. Curl das Ergebnis einer fünfjährigen Langzeitstudie, die sie über Soldaten an der Militärakademie West Point anfertigten. 64 Kadetten hatten sich während ihrer Collegezeit einer Naht des vorderen Kreuzbandes unterzogen. Die Langzeitergebnisse waren ausgesprochen negativ, so dass in der Folgezeit die primäre Naht des Kreuzbandes ohne Augmentation als Therapie mehr und mehr zugunsten der Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes aufgegeben wurde. Spätere Studien bestätigten die Ergebnisse dieser Studie.
Der aus Australien stammende Chirurg James Hogarth Pringle beschrieb 1907 an der Glasgow Royal Infirmary erstmals eine Reposition an einem Lebenden, die er 1903 durchgeführt hatte: „The joint was then opened into, the blood and fluid in it washed out, and it was at once seen that the anterior crucial ligament still attached to its bone insertion had been torn off the tibia and taken the spine with it; with a little trouble this was sutured, and the wound closed.“Ebenfalls 1903 verwendet der Münchener Fritz Lange Seidenfäden zur Verstärkung beziehungsweise als Ersatz des vorderen Kreuzbandes. Der Schweizer Eugen Bircher führte 1921 im Kantonsspital Aarau die erste Arthroskopie durch.
Die erste Rekonstruktion eines vorderen Kreuzbandes beim Menschen wurde vermutlich 1914 von dem russischen Chirurgen Grekow vorgenommen. Nach der Beschreibung von Erich Hesse verwendete Grekow freie Streifen von Fascia lata, einer Bindegewebshülle des Oberschenkels. Drei Jahre später verwendete der britische Chirurg Ernest William Hey Groves (1872–1944) einen gestielten Streifen des Tractus iliotibialis zur Kreuzbandrekonstruktion. Den Streifen führte er durch zwei Bohrkanäle, die vom Epicondylus zur Fossa intercondylica, sowie vom Schienbein zur Eminentia intercondylica reichten. Damit legte er den Grundstein für die moderne Bandchirurgie.Der erste Ersatz eines Kreuzbandes durch ein Patellasehnen-Transplantat erfolgte 1935 durch den Deutschen A. Wittek, nachdem drei Jahre zuvor der Marinechirurg zur Verth dies auf dem Kongress der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft in Mannheim vorgeschlagen hatte.1926 beschrieb Edwards, dass eine Rekonstruktion mit den Sehnen des M. semitendinosus und des M. gracilis möglich sei. Lindemann führte 1950 dann erstmals eine Kreuzbandrekonstruktion mit diesen Sehnen durch.Kenneth Jones verwendete 1963 als Erster ein distal gestieltes Transplantat des mittleren Drittels der Patellasehne. Dieses präparierte er zusammen mit dem Knochenblock in ganzer Länge aus der Patella. Das Transplantat zog er distal ohne Bohrkanal unter dem Hoffa-Fettkörper hindurch. Auf der proximalen Seite zog er es durch einen Bohrkanal im Bereich der Kreuzbandhöhle hindurch. Die erste Beschreibung eines BTB-Transplantates stammt vermutlich von dem deutschen Arzt Helmut Brückner aus dem Jahr 1966. Die Arbeiten von Jones und Brückner bilden die Grundlagen der heutigen Kreuzbandchirurgie. Im deutschen Sprachraum spricht man daher oft auch von einer Brückner- oder Brückner-Jones-Plastik.
== Weiterführende Literatur ==
Fachbücher
W. Petersen, T. Zantop: Das vordere Kreuzband: Grundlagen und aktuelle Praxis der operativen Therapie. Deutscher Ärzteverlag, 2009, ISBN 978-3-7691-0562-9 eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
M. J. Strobel, A. Weiler: Hinteres Kreuzband. Anatomie, Diagnostik und Operationstechnik. 1. Auflage. Endo Press, 2008, ISBN 978-3-89756-719-1.
N. P. Südkamp, A. Weiler: Ligamentäre Kniegelenksverletzungen und Meniskusverletzungen. In: W. Mutschler, N. P. Haas (Hrsg.): Praxis der Unfallchirurgie. 2. Auflage. Thieme, 2007, ISBN 978-3-13-101151-0, S. 466–467.
A. Hüter-Becker: Lehrbuch zum neuen Denkmodell der Physiotherapie – Band 1 Bewegungssystem. 2. Auflage. Thieme Verlag, 2006, ISBN 3-13-130142-2 eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
A. Wilcke: Vordere Kreuzbandläsion. Verlag Birkhäuser, 2004, ISBN 3-7985-1404-6 eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
J. Jerosch, J. Heisel: Das Kniegelenk – Rehabilitation nach Verletzungen und operativen Eingriffen. Pflaum Verlag, 2004, ISBN 3-7905-0911-6.
M. J. Strobel: Arthroskopische Chirurgie. 1. Auflage. Springer, 1998, ISBN 3-540-63571-8 eingeschränkte Vorschau in der Google-BuchsucheÜbersichtsartikel (Reviews)
O. Gorschewsky: Das Vordere Kreuzband. (PDF)
H. J. Eichhorn, W. Birkner: Aktuelle Trends zur Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes. (Memento vom 18. September 2011 im Internet Archive) (PDF; 1,3 MB)
P. Renström, J. Kelm: Vorderes Kreuzband – Operation und Rehabilitation. (PDF). In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin. 58, 2007, S. 392–394.
M. M. Murray: Current status and potential of primary ACL repair. In: Clinics in sports medicine. Band 28, Nummer 1, Januar 2009, S. 51–61, doi:10.1016/j.csm.2008.08.005. PMID 19064165, PMC 2642924 (freier Volltext) (Review).
Y. Shimokochi, S. J. Shultz: Mechanisms of noncontact anterior cruciate ligament injury. In: Journal of athletic training. Band 43, Nummer 4, Jul–Aug 2008, S. 396–408, doi:10.4085/1062-6050-43.4.396. PMID 18668173, PMC 2474820 (freier Volltext) (Review).
T. E. Hewett u. a.: Dynamic neuromuscular analysis training for preventing anterior cruciate ligament injury in female athletes. In: Instr Course Lect. 56, 2007, S. 397–406. PMID 17472323
C. D. Harner u. a.: Anterior and posterior cruciate ligament reconstruction in the new millennium: a global perspective. In: Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc. 9, 2001, S. 330–336. PMID 11734868
== Weblinks ==
Leitlinie Vordere Kreuzbandruptur. In: AWMF onlineÜbersicht: Die vordere Kreuzbandruptur. Ärztemagazin
Diashow einer Kreuzbandrekonstruktion (Memento vom 6. Mai 2015 im Internet Archive)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzbandriss
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Megalithik in den Niederlanden
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= Megalithik in den Niederlanden =
Die Megalithik trat in den heutigen Niederlanden während der Jungsteinzeit vor allem im Nordosten auf. Megalithanlagen, also Bauwerke aus großen aufgerichteten Steinen, kommen in verschiedenen Formen und Funktionen vor, hauptsächlich als Grabanlagen, als Tempel oder als Menhire (einzeln oder in Formation stehende Steine). Aus den Niederlanden sind ausschließlich Grabanlagen bekannt. Diese Großsteingräber (niederländisch Hunebedden) sind zwischen 3470 und 3250 v. Chr. von Angehörigen der Westgruppe der Trichterbecherkultur (TBK) errichtet und bis etwa 2760 v. Chr. genutzt worden. Eine Nachnutzung der Anlagen erfolgte nach dem Ende der Trichterbecherkultur im Spätneolithikum durch die Einzelgrabkultur und die Glockenbecherkultur, während der darauf folgenden Frühen Bronzezeit und in geringem Umfang noch bis ins Mittelalter.
Von den ursprünglich wohl über 100 Großsteingräbern der Niederlande sind heute noch 54 erhalten. Von diesen liegen 52 in der Provinz Drenthe. Zwei weitere liegen in der Provinz Groningen, davon wurde eines in ein Museum umgesetzt. Hinzu kommt eine Anlage in der Provinz Utrecht, deren Einordnung als Großsteingrab unsicher ist. Zerstörte Großsteingräber sind zudem aus der Provinz Overijssel bekannt. Die Mehrzahl der erhaltenen Gräber konzentriert sich auf dem Höhenzug Hondsrug zwischen den Städten Groningen und Emmen.
Die Gräber erweckten bereits früh das Interesse von Forschern. Die erste Abhandlung wurde 1547 publiziert. Große Verbreitung fand ein 1660 veröffentlichtes Buch von Johan Picardt, der die Gräber für Bauten von Riesen hielt. Titia Brongersma führte 1685 die erste bekannte Ausgrabung an einem niederländischen Großsteingrab durch. 1734 wurde ein erstes Gesetz zum Schutz der Gräber erlassen; diesem folgten im 18. und 19. Jahrhundert weitere. Leonhardt Johannes Friedrich Janssen legte 1846 erstmals ein annähernd vollständiges Verzeichnis der Gräber vor. William Collings Lukis und Henry Dryden fertigten 1878 von zahlreichen Gräbern die bis dahin genauesten Pläne an. Die moderne archäologische Erforschung der Großsteingräber wurde 1912 durch Jan Hendrik Holwerda eingeleitet, der zwei Anlagen vollständig ausgrub. Kurz darauf begann Albert Egges van Giffen mit weiteren Forschungen. Er vermaß sämtliche Anlagen, führte zahlreiche weitere Grabungen durch und ließ bis in die 1950er Jahre fast alle Gräber restaurieren. Van Giffen entwickelte für die Großsteingräber auch ein bis heute verwendetes Nummerierungssystem mit einem Großbuchstaben für die Provinz und einer von Norden nach Süden aufsteigenden Nummer (sowie einem Kleinbuchstaben bei zerstörten Anlagen). Seit 1967 gibt es in Borger ein Museum, das ausschließlich den Großsteingräbern und ihren Erbauern gewidmet ist.
Die Kammern der Gräber wurden aus Granit-Findlingen erbaut, die während der Eiszeit in den Niederlanden abgelagert wurden. Die Lücken zwischen den Steinen wurden mit Trockenmauerwerk aus kleinen Steinplatten verfüllt. Anschließend wurden die Kammern mit Erde überhügelt. Einige der Hügelschüttungen weisen zudem eine steinerne Umfassung auf. Abhängig davon, ob der Zugang zur Kammer an einer Schmal- oder einer Langseite liegt, werden die Gräber als Dolmen oder Ganggräber bezeichnet. Fast alle Anlagen in den Niederlanden sind Ganggräber, nur bei einer handelt es sich um einen Dolmen. Die Gräber ähneln einander in ihrem Grundaufbau, variieren aber in ihrer Größe sehr stark. Die Kammerlänge reicht von 2,5 m bis zu 20 m. Kleine Kammern wurden in allen Errichtungsphasen gebaut, größere traten erst in späteren Phasen hinzu.
Aufgrund ungünstiger Erhaltungsbedingungen konnten aus den Gräbern nur geringe Reste menschlicher Knochen geborgen werden. Hauptsächlich handelt es sich hierbei um Leichenbrand. Zum Sterbealter und zum Geschlecht der Toten sind nur sehr begrenzte Aussagen möglich.
Sehr reichhaltig sind hingegen die Beigaben. In einigen Gräbern wurden tausende von Keramikscherben gefunden, die sich häufig zu hunderten Gefäßen rekonstruieren ließen. Weitere Beigaben waren Steingeräte, Schmuck in Form von Perlen und Anhängern, Tierknochen und in seltenen Fällen Gegenstände aus Bronze. Das reiche Formen- und Verzierungsspektrum der Gefäße erlaubte die Unterscheidung mehrerer typologischer Stufen, die Rückschlüsse auf die Bau- und Nutzungsgeschichte der Gräber zulassen.
== Forschungsgeschichte ==
=== Frühe Forschungen (16.–18. Jahrhundert) ===
Die moderne Beschäftigung mit den niederländischen Großsteingräbern begann 1547 mit Anthonius Schonhovius Batavus (Antony van Schoonhove), Kanoniker der Sint-Donaaskathedraal in Brügge. Er bezog sich in einem Manuskript auf eine Textpassage in der Germania des Tacitus, in der „Säulen des Herakles“ im Land der Friesen erwähnt werden. Schonhovius setzte diese mit einem der Gräber bei Rolde gleich und vermengte den Text des Tacitus mit lokalen Sagen. Er nahm an, dass das Baumaterial von Dämonen herbeigeschafft wurde, die unter dem Namen Herakles verehrt wurden. Weiterhin hielt er die Gräber für Altäre, auf denen Menschenopfer durchgeführt wurden. Sein Text wurde in den folgenden Jahrzehnten von zahlreichen weiteren Gelehrten aufgegriffen und die Säulen des Herakles bzw. die „Duvels Kut“ („Teufelsfotze“, ein weiterer Name, der laut Schonhovius für das Grab bei Rolde verwendet wurde), wurden zwischen 1568 und 1636 auf mehreren Landkarten verzeichnet.
Es dauerte noch über hundert Jahre, bis jemand über die niederländischen Großsteingräber schrieb, der sie auch persönlich in Augenschein genommen hatte. Der aus Bentheim stammende Johan Picardt war unter anderem in Rolde und Coevorden als Pastor tätig und verantwortete zudem die Moorkolonisierung im Grenzgebiet zwischen Bentheim und Drenthe. 1660 veröffentlichte er ein dreiteiliges Werk über die Altertümer der Niederlande und im Besonderen der Provinz Drenthe und der Stadt Coevorden. Picardts Ansichten waren stark von biblischen Geschichten beeinflusst. So vertrat er die Hypothese, dass die Großsteingräber von Riesen gebaut worden seien, die aus dem Heiligen Land über Skandinavien schließlich nach Drenthe eingewandert seien. Diese Ansicht fand nicht zuletzt durch eindrückliche Illustrationen in Picardts Buch große Verbreitung. Zugleich gab es aber auch schon vor und während Picards Lebzeiten andere (vor allem deutsche) Forscher, die diese Idee ablehnten und die Errichtung der Gräber gewöhnlichen Menschen zuschrieben. Weiterhin lieferte Picardt erstmals ausführliche Beschreibungen vom Aufbau der Gräber und erwähnte zudem Keramikgefäße als Beigaben.Auch der Jurist und Historiker Simon van Leeuwen besuchte einige Jahre nach Picardt die Großsteingräber der Provinz Drenthe und widmete ihnen einen Abschnitt in seinem 1685 posthum erschienenen Werk Batavia Illustrata. Auch van Leeuwen hielt Riesen als Erbauer für denkbar, dachte dabei aber eher an hochgewachsene Kimbern und Kelten.
Die aus Dokkum stammende Dichterin Titia Brongersma führte 1685 die erste bekannte Ausgrabung an einem Großsteingrab in den Niederlanden durch. Gemeinsam mit ihrem Cousin Jan Laurens Lentinck, dem Schultheiß von Borger, organisierte sie die Untersuchung des Großsteingrabs Borger (D27). Brongersma selbst veröffentlichte hierüber nur zwei Gedichte, aus denen hervorgeht, dass sie das Grab für einen Tempel hielt, welcher der Natur gewidmet war. Sie tauschte sich hierüber aber intensiv mit ihrem Freund, dem aus Groningen stammenden Arzt und Dichter Ludolph Smids, aus. Smids verfasste zunächst seinerseits ein Gedicht über die Grabung. In seinem Werk Poëzije veröffentlichte er 1694 diese Gedichte und fügte zudem eine nähere Beschreibung der Funde und Befunde aus dem Grab hinzu. Smids Publikation der Grabung in Borger sowie sein Briefwechsel mit Christian Schlegel führten dazu, dass die Vorstellung von Riesen als Erbauer der Großsteingräber nun zunehmend abgelehnt wurde. Smids selbst revidierte seine Ansichten aber nach seiner Konversion vom Katholizismus zum Calvinismus wieder und griff in seinem 1711 erschienenen Werk Schatkamer der Nederlandse oudheden erneut die Ansichten Picardts auf.1706 führten Johannes Hofstede und Abraham Rudolph Kymmel eine weitere Ausgrabung an einem Großsteingrab in Rolde (D17) durch. Hofstede beschrieb in seinem Bericht erstmals die verschiedenen Schichten innerhalb der Anlage sowie die stratigraphische Lage der gefundenen Keramik. Unglücklicherweise hatte der Bericht keinerlei Einfluss auf Hofstedes Zeitgenossen, da er erst 1848 publiziert wurde.In den 1730er Jahren entstanden in großen Teilen der Niederlande und Nordwestdeutschlands neue Deiche, da die alten auf Holzkonstruktionen basierten, die durch eingeschleppte Schiffsbohrwürmer zerfressen worden waren. Die neuen Deiche bestanden aus steingedeckten Erdhügeln, weswegen Findlinge jetzt zu einem gefragten Baumaterial wurden. Die völlig unregulierte Suche nach Findlingen führte auch dazu, dass Grenzsteine entfernt wurden. Dies veranlasste die Regierung von Drenthe am 21. Juli 1734 eine Resolution zu erlassen, die solche Handlungen verbot. Gleichzeitig wurden mit dieser Resolution die Großsteingräber unter Schutz gestellt. Nach zwei königlichen Erlässen in Dänemark (1620) und Schweden (1630) war dies europaweit das dritte Gesetz zum Schutz von Altertümern.1732 unternahm der wohlhabende Amsterdamer Textilhändler Andries Schoemaker gemeinsam mit dem Zeichner Cornelis Pronk und dessen Schüler Abraham de Haen eine Reise nach Drenthe. Dabei entstanden die ersten realistischen Zeichnungen der beiden Großsteingräber bei Havelte (D53 und D54). Schoemaker fertigte zudem eine ausführliche Beschreibung der Anlagen an. Beide Zeichner kehrten später noch einmal nach Drenthe zurück. Von de Haen ist noch eine Zeichnung des Großsteingrabs D53 aus dem Jahr 1737 überliefert und von Pronk eine des Großsteingrabs Midlaren (D3) aus dem Jahr 1754.
1756 wurde Joannes van Lier mit der Restaurierung des Großsteingrabs Eext (D13) beauftragt. Diese in den Boden eingetiefte Anlage war rund 20 Jahre zuvor von einem Steinsucher entdeckt worden und wurde 1756 ebenfalls von Steinsuchern wiederentdeckt. Dabei aufgefundene Gefäße und Äxte wurden an Sammler verkauft. Außerdem wurden zwei Decksteine entfernt. Van Lier führte eine ausführliche Untersuchung der Anlage durch und versetzte die Grabkammer so gut es ging in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Nur zwei Tage später veröffentlichte er einen Zeitungsartikel über seine Arbeit. Kurz darauf fertigte Cornelis van Noorde eine Zeichnung des Grabes an. Henrik Cannegieter, Rektor der Lateinschule in Arnhem, schrieb auf Grundlage des Zeitungsartikels eine Abhandlung über das Grab, ohne es selbst je in Augenschein genommen oder mit van Lier Kontakt aufgenommen zu haben. Auf Anregung seines Freundes Arnout Vosmaer setzte van Lier sich in fünf langen Briefen mit dieser Abhandlung kritisch auseinander. Aus diesen Briefen entstand schließlich die erste monographische Abhandlung über ein niederländisches Großsteingrab. Sie wurde 1760 von Vosmaer herausgegeben.
Petrus Camper fertigte zwischen 1768 und 1781 Zeichnungen von acht Großsteingräbern an, darunter das im 19. Jahrhundert zerstörte Großsteingrab Steenwijkerwold (O1).1774 gab Theodorus van Brussel eine Neuauflage von Ludolf Smids’ Schatkamer der Nederlandse oudheden heraus und versah sie mit umfangreichen eigenen Anmerkungen. Van Brussel vertrat darin (offensichtlich in Unkenntnis der Arbeiten van Liers) die Ansicht, die Großsteingräber seien natürliche Gebilde, die sich auf dem Meeresgrund gebildet hätten und nachdem das Land trockengefallen war, hätten sie durch Erosion ihr heutiges Aussehen erhalten.1790 veröffentlichte Engelbertus Matthias Engelberts den dritten Band seines an ein breites Publikum gerichteten Geschichtswerks De Aloude Staat En Geschiedenissen Der Vereenigde Nederlanden. Er widmete sich darin ausführlich den Großsteingräbern und fasste den damaligen Forschungsstand recht vollständig zusammen. Er fügte seinem Text außerdem zwei (recht ungenaue) Zeichnungen des Großsteingrabs Tynaarlo (D6) bei. Erwähnenswert ist seine Beobachtung, dass bei den Gräbern die flache Seite der Decksteine stets nach unten zeigt. Er verwarf daher die Idee, die Anlagen hätten als Altäre gedient.1790 wurde die Resolution zum Schutz der Großsteingräber erneuert. 1809 verbot der Landdrost von Drenthe, Petrus Hofstede, erneut das Entfernen von Steinen aus den Gräbern sowie das Graben in Hügeln. 1818/19 wurden die lokalen Behörden verpflichtet, die Einhaltung dieses Gesetzes genau zu überwachen und jährlich Berichte hierüber zu verfassen.
=== 19. Jahrhundert ===
1808 rief die Koninklijke Hollandsche Maatschappij der Wetenschappen auf Initiative von Adriaan Giles Camper, dem Sohn Petrus Campers, einen Wettbewerb ins Leben, der zum Ziel hatte, die ethnische Identität der Erbauer der Großsteingräber zu klären.Im April 1809 wurde das bis dahin vollständig überhügelte Großsteingrab Emmen-Noord (D41) freigelegt und untersucht. Johannes Hofstede, der Bruder von Petrus Hofstede, verfasste hierüber einen ausführlichen Bericht. Sein Bruder erwirkte daraufhin, dass Johannes Hofstede das alleinige Recht zugestanden wurde, in der Provinz Drenthe Ausgrabungen durchzuführen. Im weiteren Verlauf des Jahres untersuchte er noch vier weitere Großsteingräber. Diese Grabungen wurden aber nicht genauer dokumentiert.Weitere wichtige Forschungsbeiträge lieferte Nicolaus Westendorp zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 1811 besuchte er die Großsteingräber in Drenthe sowie sieben weitere in Deutschland. Er verfasste eine umfangreiche Abhandlung, mit der er schließlich den 1808 ausgeschriebenen Wettbewerb gewann. Westendorp beschrieb ein Verbreitungsgebiet von megalithischen Anlagen, das von Portugal bis Skandinavien reichte. Für all diese Anlagen nahm er einen gemeinsamen Ursprung an. Er griff die durch van Lier gemachte Beobachtung auf, dass die Großsteingräber nur Steingeräte enthielten. Westendorp argumentierte auf dieser Grundlage für ein Zweiperiodensystem bestehend aus einer Steinzeit und einer darauf folgenden Metallzeit. Der dänische Forscher Christian Jürgensen Thomsen wurde von seiner Arbeit bei der Entwicklung seines Dreiperiodensystems stark beeinflusst. Westendorp verglich die Inventare der Großsteingräber mit den materiellen Hinterlassenschaften mehrerer antiker Völker und schloss die meisten aufgrund ihres Gebrauchs von Metallwerkzeugen aus. Da für ihn die Zuweisung an ein bislang unbekanntes Volk nicht in Frage kam, plädierte er für frühe Kelten als Erbauer. Seine Thesen veröffentlichte er zunächst 1815 als Aufsatz und 1822 als Monographie. Westendorps Werk fand viel Beachtung, erntete aber auch Kritik. Beispielsweise wurde seine Kelten-Hypothese in Frage gestellt, da Großsteingräber in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas fehlen, obwohl diese von Kelten bewohnt waren.In den 1840er Jahren sollte gemeinschaftlich genutztes Land parzelliert werden. Für die Großsteingräber bestand daher wieder die Gefahr der Zerstörung, weshalb 1841 Johan Samuel Magnin, Provinzarchivar von Drenthe eine Petition an König Wilhelm II. richtete, in der er forderte, vorzeitliche Gräber von der Privatisierung des Landes auszunehmen. Die Petition blieb aber erfolglos. Auch ein 1842 erschienener Zeitungsartikel des Arztes Levy Ali Cohen erbrachte keine Gesetzesänderung.Weiterhin erschienen in den 1840er Jahren zwei zu dieser Zeit recht populäre, an ein breites Publikum gerichtete Geschichtsbücher, in denen den Großsteingräbern ein breiter Raum gewidmet wurde. 1840 veröffentlichte Johannes Pieter Arend den ersten Band seiner Algemeene Geschiedenis des Vaterlands. Er stützte sich dabei vor allem auf die Arbeiten von Engelberts und Westendorp und sah die frühen Kelten als Erbauer der Gräber an. Grozewinus Acker Stratingh hingegen vertrat 1849 die damals neue These, die Gräber wären von namentlich nicht bekannten Vorfahren der Kelten und Germanen errichtet worden.
Der bedeutendste Forscher in der Mitte des 19. Jahrhunderts war Leonhardt Johannes Friedrich Janssen (1806–1869), Kurator der Sammlung niederländischer Altertümer im Rijksmuseum van Oudheden in Leiden. Seine Beschäftigung mit den Großsteingräbern begann 1843, als er mehrere Modelle des Großsteingrabs Tynaarlo (D6) für verschiedene Museen anfertigen ließ. 1846 grub er die Steinkiste von Exloo-Zuiderveld (D31a) und das Großsteingrab Zaalhof (D44a) aus. 1847 studierte er die niederländischen Großsteingräber vor Ort und publizierte im folgenden Jahr eine Arbeit hierüber. Janssen legte damit erstmals eine annähernd vollständige beschreibende Übersicht der noch erhaltenen Großsteingräber in den Niederlanden vor. 1849 führte er eine weitere Ausgrabung an den Resten der Steinkiste im Rijsterbos (F1) durch. Später widmete er sich Fragestellungen zu den Konstruktionsmethoden der Gräber und zur Lebensweise ihrer Erbauer. Janssens größter Irrtum war die viel zu junge Datierung der Anlagen. Er bezeichnete die Keramikfunde als „germanisch“ und hielt die jüngsten Gräber für römerzeitlich. 1853 fiel er auf den Hilversumer Arbeiter Dirk Westbroek herein, der mehrere vermeintlich steinzeitliche Herdstellen gefälscht hatte. In einer davon war eine bearbeitete Sandsteinplatte aus dem Mittelalter oder der Neuzeit verbaut, die Janssen aber römerzeitlich datierte und als Bestätigung dafür ansah, dass die Steinzeit in den Niederlanden erst mit den Römern endete. Dieser Irrtum Janssens prägte die Vorgeschichtsforschung in Leiden noch für viele Jahrzehnte. Erst 1932 wurden die Herdstellen in Hilversum als Fälschung entlarvt.Der Schriftsteller Willem Hofdijk wurde stark von Janssens Arbeit beeinflusst und verfasste zwischen 1856 und 1859 mehrere Werke, in denen er ein lebendiges Bild der niederländischen Vorzeit entwarf. Ein erstaunliches Kuriosum ist seine Datierung der Großsteingräber, die er in seinem Werk Ons Voorgeslacht (Unsere Vorfahren) in die Zeit um 3000 v. Chr. verortete. Allgemein wurden sie zu dieser Zeit als deutlich jünger angesehen, doch Hofdijk nahm hier, wohl eher zufällig, eine Datierung an, die in etwa den heutigen Erkenntnissen entspricht.1861 und 1867 kam es durch illegale Grabungen zu stärkeren Zerstörungen am Großsteingrab De Papeloze Kerk (D49). Um weitere Zerstörungen zu verhindern, gingen um 1870 schließlich alle Gräber bis auf eines ins Eigentum des Staates bzw. der Provinz Drenthe über. Auf Anregung des Amateurarchäologen Lucas Oldenhuis Gratama wurden anschließend mehrere Anlagen restauriert, was allerdings unfachmännisch geschah. Gratama übernahm eine irrtümliche Annahme Westendorps, dass die Gräber ursprünglich keine Hügelschüttungen besessen hätten und ließ diese daher als vermeintliche Windverwehungen ohne Dokumentation entfernen.
Augustus Wollaston Franks, Kurator am British Museum, besuchte 1871 Drenthe und war über die unprofessionellen Restaurierungen der Großsteingräber sehr enttäuscht. Auf seine Anregung hin unternahmen 1878 William Collings Lukis (1817–1892) und Henry Dryden (1818–1899) eine Forschungsreise nach Drenthe. Beide hatten zuvor bereits Megalithanlagen im Vereinigten Königreich und in der Bretagne untersucht und fertigten nun sehr genaue Grundriss- und Schnittzeichnungen von 40 Großsteingräbern der Niederlande sowie mehrere Aquarelle von Keramikfunden an.Willem Pleyte, Janssens Nachfolger als Kurator am Rijksmuseum van Oudheden, publizierte ab 1877 ein umfangreiches Verzeichnis der damals bekannten archäologischen Fundplätze in den Niederlanden. Er bediente sich dabei auch erstmals umfangreich des Mittels der Fotografie. Die ersten bekannten Bilder von niederländischen Großsteingräbern wurden 1870 angefertigt. 1874 unternahm Pleyte zusammen mit dem Fotografen Jan Goedeljee eine Reise durch Drenthe und ließ dort alle Großsteingräber ablichten. Die Fotos dienten ihm als Vorlage für Lithografien. Offenbar unabhängig von Pleytes Arbeit unternahm 1877 Conrad Leemans, der Direktor des Rijksmuseums, eine Reise nach Drenthe. Jan Ernst Henric Hooft van Iddekinge, der zuvor schon mit Pleyte dort gewesen war, fertigte für Leemans Pläne der Großsteingräber an, die aber qualitativ nicht an die Arbeiten von Lukis und Dryden heranreichten.Die Erkenntnis, dass die niederländischen Großsteingräber Teil einer steinzeitlichen Kultur waren, die große Teile Nord- und Mitteleuropas umspannte, setzte sich allmählich ab Ende des 19. Jahrhunderts durch. Bereits Nicolaus Westendorp war 1815 die große Ähnlichkeit zu den Gräbern in Nordwestdeutschland aufgefallen. Augustus Wollaston Franks bemerkte 1872, dass nicht nur die Gräber, sondern auch die gefundenen Beigaben denen aus Deutschland und Dänemark sehr ähnlich waren. 1890 stellte der Königsberger Prähistoriker Otto Tischler erstmals die Existenz verschiedener Regionalgruppen innerhalb der Trichterbecherkultur fest und grenzte das Verbreitungsgebiet der Westgruppe genauer ein. Anfang des 20. Jahrhunderts unterschied Gustaf Kossinna anhand der Keramik vier regionale Gruppen: Eine Nord-, West-, Ost- und Südgruppe. Konrad Jażdżewski konnte in den 1930er Jahren einen noch genaueren Überblick vorlegen und Kossinnas Ostgruppe zudem in eine Ost- und Südostgruppe unterteilen.
=== 20. und 21. Jahrhundert ===
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts leistete der Mediziner Willem Johannes de Wilde wichtige Forschungsbeiträge. In den Jahren 1904–1906 suchte er alle noch erhaltenen Großsteingräber der Niederlande auf, erstellte Pläne, fertigte Fotos an und entwickelte einen umfangreichen Fragenkatalog zur Architektur der einzelnen Anlagen. Unglücklicherweise sind seine Aufzeichnungen nur unvollständig erhalten geblieben.Eine neue Phase der Megalithforschung in den Niederlanden begann 1912, als der Leidener Archäologe Jan Hendrik Holwerda die beiden Großsteingräber bei Drouwen (D19 und D20) vollständig ausgrub. Im folgenden Jahr untersuchte er das Großsteingrab Emmen-Schimmeres (D43).
Kurz nach Holwerda führte der Groninger Archäologe Albert Egges van Giffen weitere Grabungen durch. Seine Arbeit sollte die Megalithforschung der Niederlande für mehrere Jahrzehnte prägen. Er grub 1918 das Großsteingrab Havelte 1 (D53), ein Großsteingrab bei Emmerveld (D40), das Großsteingrab Exloo-Noord (D30) und zwei Großsteingräber bei Bronneger (D21 und D22) vollständig aus und machte Probegrabungen am Großsteingrab Drouwenerveld (D26), dem Großsteingrab Balloo (D16) und einem weiteren Großsteingrab bei Emmerveld (D39). Weiterhin untersuchte er zwischen 1918 und 1925 die Reste von drei zerstörten Anlagen: Das Großsteingrab Steenwijkerwold (O1), die Steinkiste im Rijsterbos (F1) und das Großsteingrab Weerdinge (D37a). Zudem vermaß er erneut alle noch erhaltenen Anlagen in den Niederlanden und publizierte 1925–27 sein aus zwei Textbänden und einem Atlasband bestehendes Werk De Hunebedden in Nederland. Hierfür entwickelte er für die Gräber auch das noch heute verwendete Nummerierungssystem mit einem Großbuchstaben für die Provinz gefolgt von einer von Norden nach Süden aufsteigenden Nummer (sowie einem angehängten Kleinbuchstaben bei zerstörten Anlagen). 1927 grub van Giffen noch zwei weitere Gräber aus: Das Großsteingrab Buinen-Noord (D28) und das Großsteingrab Eexterhalte (D14). In den 1940er Jahren untersuchte er die Reste mehrerer zerstörter Anlagen.Im Zweiten Weltkrieg wurden die Steine des Großsteingrabs Havelte 1 (D53) vergraben und an seinem Standort eine Landebahn errichtet. Der Flugplatz wurde 1944 und 1945 bombardiert. Nach dem Krieg wurde die Anlage an der ursprünglichen Stelle wieder aufgebaut.In den 1950er Jahren widmete sich van Giffen vor allem der Restaurierung der Gräber. Dabei machte er fehlende Wandsteine dadurch kenntlich, dass er ihre Standlöcher mit Beton ausgießen ließ. 1952 führte er noch eine Grabung am Großsteingrab Annen (D9) sowie 1957 gemeinsam mit Jan Albert Bakker am Großsteingrab Noordlaren (G1) und 1968–1970 mit Jan Albert Bakker und Willem Glasbergen am Großsteingrab Drouwenerveld (D26) durch.
Die Idee für ein Museum, das eigens den Großsteingräbern und ihren Erbauern gewidmet sein sollte, kam van Giffen bereits 1959. Die von Diderik van der Waals und Wiek Röhling entwickelte Ausstellung wurde ab 1967 in einem restaurierten Bauernhaus in Borger präsentiert. Unglücklicherweise brannte das Haus zwei Mal nieder und das Museum wurde schließlich in das ehemalige Armenhaus in die Nähe des Großsteingrabs Borger (D27) verlegt. 2005 wurde an dieser Stelle unter dem Namen Hunebedcentrum ein neu errichtetes Besucherzentrum mit Freilichtanlagen eröffnet.Weitere Grabungen führte Jan N. Lanting zwischen 1969 und 1993 durch. Er untersuchte die Reste mehrerer zerstörter Anlagen, die größtenteils durch den Amateurarchäologen Jan Evert Musch entdeckt worden waren. Weiterhin untersuchte Lanting das erst 1982 entdeckte Großsteingrab Heveskesklooster, das 1987 in ein Museum umgesetzt wurde.Jan Albert Bakker legte in den 1970er Jahren mit seiner Dissertation ein bis heute maßgebliches Überblickswerk über die Westgruppe der Trichterbecherkultur vor. Einen wesentlichen Teil seiner Datengrundlage machten die damals bekannten Grabinventare der niederländischen Großsteingräber aus. 1992 veröffentlichte er eine Monographie zur Architektur der Gräber und 2010 eine weitere zur Forschungsgeschichte.Anna L. Brindley konnte anhand der umfangreichen Keramikfunde aus den Großsteingräbern in den 1980er Jahren ein siebenstufiges inneres Chronologiesystem für die Trichterbecherwestgruppe entwickeln.Die wenigen aus den niederländischen Gräbern bekannten Knochenreste wurden lange Zeit nicht systematisch untersucht. Dies änderte sich erst in den Jahren zwischen 2012 und 2015, als Liesbeth Smits und Nynke de Vries die in den Großsteingräbern gefundenen Brandbestattungen auswerteten.Im Jahr 2017 wurden alle Großsteingräber in den Niederlanden mittels Photogrammetrie in einem 3D-Atlas erfasst. Die Daten wurden aus einer Zusammenarbeit der Provinz Drente und der Reichsuniversität Groningen von der Stiftung Gratama gewonnen.
== Bestand und Verbreitung ==
Wie viele Großsteingräber es in den Niederlanden ursprünglich gegeben hat, ist unbekannt. Ihre Zahl dürfte vermutlich bei über 100 gelegen haben. Erhalten sind heute noch 53 Gräber. Hinzu kommt noch eines, das in ein Museum umgesetzt wurde sowie eine steinerne Anlage, bei der fraglich ist, ob es sich um Reste eines Großsteingrabs handelt. Weiterhin sind 23 zerstörte Gräber bekannt, über die gesicherte Erkenntnisse vorliegen. Jan Albert Bakker führt außerdem neun mögliche Anlagen auf, über die nur vage Angaben aus älterer Literatur vorliegen und deren Einordnung als Großsteingräber unsicher ist (Angaben zu 19 weiteren Anlagen hält er für nicht zuverlässig). Bert Huiskes konnte zudem für die Provinz Drenthe 96 Flurnamen identifizieren, die auf mögliche zerstörte Großsteingräber hindeuten.Die Großsteingräber der Niederlande wurden von Angehörigen der Trichterbecherkultur errichtet. Bei dieser handelt es sich um einen jungsteinzeitlichen Kulturenkomplex, der sich um 4100 v. Chr. von Dänemark aus über große Teile Europas verbreitete und bis 2800 v. Chr. Bestand hatte. Die Trichterbecherkultur gliederte sich in mehrere Regionalgruppen, die von Mittelschweden im Norden bis nach Tschechien im Süden und von den Niederlanden im Westen bis in die Ukraine im Osten verbreitet waren. Megalithische Grabbauten waren nicht im gesamten Verbreitungsgebiet üblich, sondern auf Skandinavien, Dänemark, Nord- und Mitteldeutschland, das nordwestliche Polen und die Niederlande beschränkt. Die niederländischen Großsteingräber werden zusammen mit den Anlagen des westlichen Niedersachsen zur Westgruppe der Trichterbecherkultur gerechnet. Der ursprüngliche Gesamtbestand der Gräber ist schwierig abzuschätzen. Es sind etwa 20.000 Anlagen bekannt, die noch erhalten sind oder über die gesicherte Erkenntnisse vorliegen (davon über 11.600 in Deutschland, 7.000 in Dänemark und 650 in Schweden). Die Gesamtzahl aller jemals errichteten Großsteingräber der Trichterbecherkultur dürfte bei mindestens 75.000 gelegen haben, vielleicht betrug sie sogar bis zu 500.000. Die niederländischen Gräber bilden also eine vergleichsweise kleine Gruppe am äußersten westlichen Rand der Trichterbecherkultur.
Die erhaltenen Gräber liegen alle in den Provinzen Drenthe und Groningen. Der größte Teil konzentriert sich auf einem von Nordnordwest nach Südsüdost verlaufendem Streifen auf dem Höhenzug Hondsrug zwischen den Städten Groningen und Emmen. Diese Gräber sind fast alle über die Landstraße N34 erreichbar. Drei Anlagen befinden sich in einiger Entfernung westlich der Hauptgruppe bei Diever und Havelte. Zwischen ihnen und der Hauptgruppe befinden sich in lockerer Streuung die Standorte mehrerer zerstörter Anlagen. Im Norden der Provinz Groningen, nahe der Küste, wurde 1983 in der heutigen Gemeinde Eemsdelta unter einer Warft das Großsteingrab Heveskesklooster (G5) entdeckt und ins Muzeeaquarium Delfzijl umgesetzt.
Aus der Provinz Overijssel sind zwei zerstörte Großsteingräber bekannt. Das Großsteingrab Steenwijkerwold (O1) lag ganz im Norden der Provinz, etwa 8 km von den beiden Großsteingräbern bei Havelte (D53 und D54) entfernt. Im Osten der Provinz, nahe der deutschen Grenze befand sich das Großsteingrab Mander (O2). Einige Kilometer nördlich lagen die Großsteingräber bei Uelsen im niedersächsischen Landkreis Grafschaft Bentheim.
Weit abseits der anderen Anlagen liegt im Norden der Provinz Utrecht der Stein von Lage Vuursche (U1). Falls es sich bei diesem um die Reste eines Großsteingrabs handeln sollte, wäre es das südlichste und westlichste in den Niederlanden sowie die westlichste megalithische Grabanlage im Verbreitungsgebiet der Trichterbecherkultur.
Bakker hält es auch für möglich, dass es in der Provinz Gelderland ursprünglich Großsteingräber gegeben haben könnte, da auch aus der östlich benachbarten Region, dem nördlichen Nordrhein-Westfalen, megalithische Grabanlagen bekannt sind.
== Grabarchitektur ==
=== Grabtypen ===
Die Großsteingräber der Trichterbecherkultur weisen aus Findlingen errichtete überhügelte Grabkammern auf und werden anhand verschiedener Merkmale in mehrere Typen unterteilt. Als Hauptmerkmal gilt die Position des Zugangs zur Grabkammer. Befindet er sich an einer Langseite, spricht man von einem Ganggrab. Das Gegenstück zu diesem bildet der Dolmen, der einen Zugang an einer Schmalseite besitzt oder bei sehr kleinen Anlagen (den Urdolmen) gar keinen Zugang aufweist. Als weitere Klassifizierungsmerkmale werden die Anzahl der Gangsteine sowie die Form der Hügelschüttung und das Vorhandensein oder Fehlen einer steinernen Umfassung herangezogen.Von den 54 erhaltenen Anlagen in den Niederlanden sind 52 sicher oder mit hoher Wahrscheinlichkeit als Ganggräber anzusprechen (ein weiteres ist für eine sichere Klassifizierung zu stark zerstört). Albert Egges van Giffen unterschied hier noch einmal vier Untertypen:
Das „ganggraf“ (Ganggrab): Als solche bezeichnete van Giffen nur diejenigen Gräber mit einer steinernen Umfassung und einem dem Zugang vorgelagerten abgedeckten Gang.
Das „portaalgraf“ (Portalgrab): Hierunter verstand van Giffen diejenigen Gräber, deren Zugang ein Paar Gangsteine ohne Deckstein vorgelagert sind.
Das „trapgraf“ (Treppengrab): Damit sind in den Boden eingetiefte Anlagen gemeint, deren Grabkammern nicht durch einen horizontalen Gang, sondern durch eine steinerne Treppe zugänglich sind. Das einzige Exemplar dieses Typs in den Niederlanden ist das Großsteingrab Eext (D13). Auch im restlichen Verbreitungsgebiet der Trichterbecherkultur sind Gräber mit einer solchen Zugangskonstruktion selten. Lediglich von vier Exemplaren aus Niedersachsen (das Großsteingrab Deinste 1, das Großsteingrab Krelingen, das Großsteingrab Sieben Steinhäuser C und das zerstörte Großsteingrab Meckelstedt 2) ist vergleichbares bekannt.
Das „langgraf“ (Langgrab): Damit ist eine Anlage mit einem langen Hünenbett gemeint, welches mehrere Grabkammern umschließt. Das einzige Exemplar dieses Typs in den Niederlanden ist das Großsteingrab Emmen-Schimmeres (D43). Auch für diesen Typ sind ähnliche Anlagen aus Niedersachsen bekannt, etwa das Hünenbett A von Daudieck, das Großsteingrab Kleinenkneten II oder das Großsteingrab Tannenhausen.Schematische Darstellung der Ganggrabtypen nach van Giffen
In neuerer Literatur (etwa bei Bakker) werden diese Bezeichnungen van Giffens nicht mehr verwendet und all diese Anlagen werden stattdessen nur als Ganggräber bezeichnet. In Niedersachsen wurde für eine Unterform des Ganggrabs, die für die Westgruppe der Trichterbecherkultur typisch ist, die Bezeichnung Emsländische Kammer geprägt. Auch ein großer Teil der niederländischen Ganggräber entspricht diesem Typ. Gekennzeichnet ist die Emsländische Kammer durch eine vergleichsweise lange, meist ungefähr ost-westlich orientierte Grabkammer mit einem Zugang an der südlichen Langseite, die in einem geringen Abstand von einer steinernen Umfassung umschlossen ist.
Die große Ausnahme unter den niederländischen Anlagen stellt das umgesetzte Großsteingrab Heveskesklooster (G5) dar, bei dem es sich um den einzigen bekannten Dolmen (genauer einen Großdolmen) des Landes handelt. Es besteht aus drei Wandsteinpaaren an den Langseiten, einem Abschlussstein an der nördlichen Schmalseite und drei Decksteinen. Der Zugang befindet sich an der offenen südlichen Schmalseite.
Kleinere Grabanlagen, deren Kammern zumeist in den Boden eingetieft sind und aus kleinformatigen Steinplatten errichtet wurden, werden als Steinkisten bezeichnet. Auch hiervon sind aus den Niederlanden einige trichterbecherzeitliche Exemplare bekannt. Diese Anlagen werden allgemein aber nicht zu den Großsteingräbern gerechnet.
=== Hügelschüttung und Umfassung ===
Alle Gräber wiesen ursprünglich eine Hügelschüttung auf. Diese war bei kleineren Anlagen rund und bei den größeren oval. Lediglich das Großsteingrab Emmen-Schimmeres (D43) weist eine andere Form auf. Hier liegen die beiden Grabkammern in einem leicht trapezförmigen Langbett mit abgerundeten Schmalseiten und einer steinernen Umfassung. Bei acht oder neun weiteren Anlagen wurde ebenfalls eine Umfassung festgestellt. Es handelt sich stets um größere Anlagen mit einer Kammerlänge von 8 m und mehr.
=== Grabkammer ===
==== Orientierung ====
Bei den meisten Ganggräbern sind die Grabkammern ungefähr in Ost-West-Richtung orientiert und der Zugang zeigt nach Süden. Es gibt hierbei große Streuungen von Nordost-Südwest nach Südost-Nordwest, aber bei fast allen Kammern liegen die Enden innerhalb der Extrempunkte des Auf- und Untergangs von Sonne und Mond. Sechs Kammern weichen allerdings hiervon ab und weisen eine Orientierung zwischen Südsüdost-Nordnordwest und Südsüdwest-Nordnordost auf.
==== Kammergröße und Anzahl der Steine ====
Die Größe der Kammern variiert sehr stark. Die kürzeste Kammer mit einer inneren Länge von 2,5 m weist der Großdolmen von Heveskesklooster (G5) auf. Das kleinste Ganggrab war das zerstörte Großsteingrab Glimmen-Zuid (G3) mit einer inneren Kammerlänge von 2,7 m und einer äußeren Länge von 3,2 m. Die größte Grabkammer besitzt das Großsteingrab Borger (D27). Sie hat eine innere Länge von 20 m sowie eine äußere Länge von 22,6 m und eine Breite von 4,1 m.Die Zahl der Wandsteinpaare an den Langseiten liegt zwischen zwei und zehn, die Zahl der Decksteine zwischen zwei und neun.
==== Kammerform ====
Die Grabkammern der Ganggräber haben zumeist einen leicht trapezförmigen Grundriss und sind auf der vom Zugang aus gesehen linken Seite etwas breiter als auf der rechten. Albert Egges van Giffen konnte 36 Kammern diesbezüglich vermessen und stellte bei 29 eine entsprechende Form fest. Der Breitenunterschied variiert recht stark. Bei den meisten Gräbern beträgt er zwischen 7 cm und 50 cm, drei Kammern weisen allerdings einen deutlich höheren Breitenunterschied von 87 cm, 88 cm bzw. 106 cm auf. Von den restlichen sieben vermessenen Kammern sind fünf am rechten Ende breiter als am linken. Hier beträgt der Breitenunterschied aber nur zwischen 9 cm und 21 cm. Bei zwei Kammern sind beide Enden genau gleich breit.
==== Der Zugang ====
Der Zugang zu den Kammern befindet sich bei den Ganggräbern in fast allen Fällen in der Mitte der südlichen bzw. östlichen Langseite. Bei den Gräbern mit drei bis fünf Wandsteinpaaren sind die Zugänge meist leicht nach rechts versetzt. Seltener liegen sie exakt in der Mitte und in zwei Fällen sind sie leicht nach links versetzt. Von den sieben Gräbern mit sieben Wandsteinpaaren haben vier einen Zugang mehr oder weniger genau in der Mitte, bei einem ist er nach links und bei einem nach rechts versetzt. Bei den Gräbern mit neun oder zehn Wandsteinpaaren befinden sich die Zugänge ebenfalls in der Mitte oder leicht nach rechts versetzt. Eine auffällige Abweichung von dieser Bauweise lässt sich lediglich beim Großsteingrab Emmen-Noord (D41) feststellen. Dieses besitzt vier Wandsteinpaare und der Zugang liegt hier am westlichen Ende der südlichen Langseite zwischen dem ersten und dem zweiten Wandstein.Der Zugang zur Kammer besteht entweder aus einer einfachen Öffnung zwischen zwei Wandsteinen oder ihm ist ein Gang vorgelagert, der typischerweise ein oder zwei Wandsteinpaare aufweist. Nur bei einem Grab ist ein Gang mit drei Wandsteinpaaren nachgewiesen. Längere Gänge, wie sie etwa für die Großsteingräber der Trichterbecher-Nordgruppe typisch sind, kommen in den Niederlanden nicht vor.Beim Großsteingrab Eext (D13) führt statt eines Gangs eine Treppe zum Zugang. Diese bestand gemäß van Liers Untersuchung im Jahr 1756 aus vier Stufen, die jeweils aus einer oder zwei flachen Steinplatten bestanden und von zwei Mauern aus Rollsteinen eingefasst waren. Am unteren Ende der Treppe lag direkt im Zugang zur Kammer ein Schwellenstein. Albert Egges van Giffen fand 1927 nur noch Reste dieser Treppenkonstruktion vor.
==== Der Kammerboden ====
Der Boden der Grabkammern besteht zumeist aus mehreren Lagen von verschiedenen Steinen. Die oberste Schicht besteht aus gebranntem Granit-Grus. Darunter folgten Sandstein-Platten oder Geröll von runder oder flacher Form. Bei einigen Gräbern scheint hierunter noch eine weitere Schicht aus Steinen gelegen zu haben. Die Böden sind meist nicht eben, sondern senken sich zur Mitte hin leicht. Die Höhenunterschiede betragen bis zu 50 cm.In der Trichterbecher-Nordgruppe sind die Grabkammern häufig durch senkrecht in den Boden eingelassene Steinplatten in mehrere Quartiere unterteilt. In der Westgruppe ist dies seltener der Fall und für die Niederlande ist dies nur von einem Grab bekannt. Im nördlichen Großsteingrab bei Drouwen (D19) fand Jan Hendrik Holwerda am nordwestlichen Kammerende eine Reihe aus drei 70 cm langen und 30 cm hohen Platten, die einen kleinen Raum von 2 m Breite und 1 m Länge abtrennten.
==== Trockenmauerwerk ====
Die Lücken zwischen den Wandsteinen der Kammern waren ursprünglich von außen durch Trockenmauerwerk aus waagerecht verlegten behauenen Steinplatten verfüllt worden. Hiervon sind heute nur noch Reste erhalten. Die maximal erhaltene Höhe des Mauerwerks betrug 1,4 m beim Großsteingrab Bronneger 1 (D21). Bei einigen sehr langen Kammern wurden größere Lücken zudem nicht vollständig mit Trockenmauerwerk verfüllt, sondern es wurden zusätzlich kleinere aufrechte Findlinge eingebaut, die keinen Deckstein trugen.
== Bestattungen ==
Im Gegensatz zu vielen anderen Gegenden mit megalithischen Grabanlagen haben sich in den niederländischen Großsteingräbern kaum organische Materialien erhalten. Dies gilt auch für die Knochen der hier Bestatteten. Jan Hendrik Holwerda konnte bei seiner Untersuchung der beiden Anlagen in Drouwen in Grab D19 noch schlecht erhaltene Reste von menschlichen Skeletten feststellen. Hauptsächlich handelte es sich um Zähne und Reste von Kieferknochen.In 26 Gräbern wurden Reste von Leichenbrand gefunden. Teilweise waren nur wenige Gramm erhalten, aus den beiden Großsteingräbern von Havelte (D53 und D54) und dem zerstörten Großsteingrab Glimmen 1 (G2) konnten hingegen jeweils mehr als 1 kg geborgen werden. Das Gesamtgewicht des geborgenen Leichenbrands aus allen niederländischen Großsteingräbern beträgt knapp 8 kg. Zumeist ließen sich die Knochenfragmente nur einzelnen Individuen zuordnen, in zwei Gräbern konnten aber auch fünf Individuen unterschieden werden. Insgesamt konnten 48 Individuen identifiziert werden.Knochen aus mehreren Gräbern wurden mittels Radiokarbonmethode datiert, wodurch bestätigt werden konnte, dass sie aus trichterbecherzeitlichen Bestattungen stammen.Zum Geschlecht und zum Sterbealter der Bestatteten lassen sich nur begrenzte Aussagen machen, da beides bei der Mehrzahl der Individuen nicht oder nur ungenau bestimmt werden konnte. Nach der Auswertung von Nynke de Vries dürfte ein leichter Männerüberschuss unter den Toten vorliegen. Die meisten Individuen waren im Erwachsenenalter verstorben. Bestattungen von Kindern und Jugendlichen machen nur einen kleinen Teil aus.
== Beigaben ==
=== Keramik ===
Den mit Abstand größten Teil der trichterbecherzeitlichen Grabbeigaben machen Keramikgefäße aus. Die größte Anzahl stammt aus dem Großsteingrab Havelte 1 (D53). Die hier gefundenen Scherben ließen sich zu 649 Gefäßen rekonstruieren. Das zerstörte Großsteingrab Glimmen 1 (G2) enthielt etwa 360 Gefäße und das Großsteingrab Drouwenerveld (D26) 157.Das Formenspektrum der Keramik ist recht vielfältig. Namensgebend für die Kultur der Großsteingraberbauer ist der Trichterbecher, ein bauchiges Gefäß mit einem langen trichterförmigem Hals. Ähnliche Gefäße mit Ösen am Hals-Schulter-Umbruch werden als Ösen- oder Prunkbecher bezeichnet. Kragenflaschen sind kleine bauchige Flaschen mit einer Verbreiterung unterhalb der Mündung. Amphoren sind bauchige Gefäße mit einem kurzen zylindrischen Rand. Die Ösen- oder Dolmenflasche weist einen trichterförmigen Hals auf, der bei einigen Exemplaren sehr lang sein kann. Am Hals-Schulter-Umbruch befinden sich ein oder zwei Ösenpaare. Eine ähnliche Gefäßform ist der Ösenkranzbecher, bei dem sich die Ösen nahe dem Boden befinden. Krüge sind dreigliedrig und weisen einen trichterförmigen Rand sowie ein oder zwei Henkel auf. Schultertassen haben den gleichen Aufbau wie Krüge, sind aber breiter als hoch. Steilwandige Becher besitzen eine gerade, sich nach oben etwas erweiternde Wandung. Auch Schalen mit geraden oder konvexen Wandungen sowie Kümpfe treten auf. Frucht- oder Fußschalen bestehen aus einem konvexen oder trichterförmigen Hals und einem ebensolchen Standfuß. Beide können durch ein oder zwei Henkel verbunden sein. Halsrillengefäße sind zweigliedrige flache Schalen mit konusförmigem Rand. Sie treten erst in der Spätphase der Trichterbecherkultur auf. Tüllennäpfchen bestehen aus einer Schale und einer angesetzten hohlen Tülle. Löffel weisen statt der Tülle einen massiven Griff auf. Beide Formen sind (gerade im zerscherbten Zustand) nicht immer leicht zu unterscheiden. Weiterhin kommen flache Keramikscheiben, Backteller genannt, vor. Nur einmal belegte Formen sind ein spindelartiger Gegenstand und ein Modell eines Schemels oder Throns.
Keramik
=== Steingeräte ===
Weitere häufige Beigaben sind Geräte aus Feuerstein. Hierzu gehören Beile, querschneidige Pfeilspitzen, Schaber, Klingen und Abschläge. Die Querschneider stellen hierbei die zahlmäßig größte Gruppe dar. Beile, Äxte und Hämmer aus Felsgestein sind selten. Nur einmal belegt ist ein Keulenkopf.
Steingeräte
=== Schmuck ===
Bei den aufgefundenen Schmuckgegenständen sind Perlen aus Bernstein am häufigsten. Vereinzelt treten auch Perlen aus Gagat und Quarz sowie Anhänger aus durchlochten Fossilien auf.
Schmuck
=== Metall ===
Eine seltene Objektgruppe sind Metallfunde. Im Großsteingrab Drouwen 1 (D19) wurden Streifen, im Großsteingrab Buinen 1 (D28) Spiralen und im Großsteingrab Wapse (D52a) ein Blech aus Kupfer bzw. Arsenbronze gefunden. Es handelt sich hierbei um die ältesten Metallfunde in den Niederlanden.
Metallfunde
=== Tierknochen ===
In 20 Großsteingräbern wurden geringe Reste von zumeist verbrannten Tierknochen gefunden. Vertreten waren Knochen vom Hausschwein, Hausrind, Schaf/Ziege, Pferd, Caniden, Bär, Rothirsch und eventuell vom Reh. Sie waren wahrscheinlich größtenteils als Werkzeuge genutzt worden, wenigstens ein Knochen scheint aber von einem Speiseopfer zu stammen. Da vom Bären ausschließlich Krallen gefunden wurden, könnte es sich um Reste eines Bärenfells handeln, mit dem eine Person vor der Verbrennung eingewickelt worden war.
== Niederlegungen vor den Gräbern ==
Vor den Zugängen mehrerer Großsteingräber wurden Niederlegungen von trichterbecherzeitlichen Keramikgefäßen und Steingeräten aufgefunden, so beim Großsteingrab Drouwenerveld (D26) und beim Großsteingrab Eexterhalte (D14). Auch bei der Abtragung der Hügelschüttungen der beiden Großsteingräber bei Midlaren (D3 und D4) um 1870 dürften wohl entsprechende Ritualgruben aufgedeckt aber nicht als solche erkannt worden sein. Die Keramik ähnelt derjenigen, die in den Grabkammern gefunden wurde qualitativ und stilistisch sehr stark und datiert auch in die gleiche Zeit. Vorratsgefäße und Backteller sowie Feuerstein-Kratzer fehlen allerdings in den Niederlegungen.
== Datierung der trichterbecherzeitlichen Nutzungsphasen ==
Anhand des Formen- und Verzierungsspektrums der aufgefundenen Keramikgefäße lassen sich mehrere typologische Stufen innerhalb der Trichterbecher-Westgruppe unterscheiden, die zugleich unterschiedliche Nutzungsphasen der Großsteingräber anzeigen. Wichtige ältere Arbeiten hierzu stammen von Heinz Knöll und Jan Albert Bakker. Das bis heute maßgebliche typologische System wurde in den 1980er Jahren von Anna L. Brindley entwickelt. Durch den Abgleich mit einer großen Menge an 14C-Daten konnte Moritz Mennenga 2017 die bis dahin genaueste absolutchronologische Datierung dieser Stufen vorlegen.
Keramik der Stufe 1 wurde als ältestes Fundmaterial in fünf Gräbern gefunden. Es handelt sich ausschließlich um kleine Anlagen mit 2–5 Wandsteinpaaren, Kammerlängen zwischen 2,7 m und 6,1 m, runden oder ovalen Hügelschüttungen ohne Umfassung und einem Zugang mit einem Gangsteinpaar oder ohne Gangsteine. Die Errichtung von sieben oder acht weiteren Gräbern erfolgte während Stufe 2. Auch diese besaßen teilweise kleine Kammern, es entstanden nun aber auch größere Kammern mit bis zu sieben Wandsteinpaaren und Längen bis zu 12,4 m. Beim Großsteingrab Drouwenerveld (D26) und dem Großsteingrab Emmen-Schimmeres (D43) mit seinen zwei Grabkammern ist erstmals eine steinerne Umfassung feststellbar. Alle anderen Gräber dieser Stufe weisen noch eine Hügelschüttung ohne Umfassung auf. Die Hochzeit der Errichtung der Großsteingräber fällt in Stufe 3. In 13 Gräbern stellt die entsprechende Keramik das älteste Fundmaterial dar. Weiterhin wurden sowohl kleine als auch große Anlagen errichtet. Die Kammern wiesen nun bis zu zehn Wandsteinpaare und Längen bis zu 17 m auf. Hügelschüttungen wurden mit oder ohne Umfassung errichtet und die Zugänge besaßen null bis zwei Wandsteinpaare. Nach Stufe 3 scheinen keine neuen Großsteingräber mehr errichtet worden zu sein. Große Mengen an Keramik belegen aber eine kontinuierliche Weiternutzung fast aller Anlagen bis Stufe 5. Danach wurden viele Gräber aufgegeben. Keramik der Stufen 6 und 7 wurde nur in wenigen Anlagen gefunden. Für einige Gräber ist auch eine Unterbrechung der Nutzung nachweisbar. So wurde etwa das zerstörte Großsteingrab Glimmen 1 (G2) während der Stufen 3–5 genutzt, in Stufe 6 aufgegeben und in Stufe 7 erneut genutzt.
== Nachnutzung der Gräber ==
=== Spätneolithikum und Frühe Bronzezeit ===
==== Bestattungen ====
In den meisten niederländischen Großsteingräbern wurden neben den trichterbecherzeitlichen Beigaben auch Gefäße und Steingeräte der Einzelgrabkultur und der Glockenbecherkultur (beide spätneolithisch) und der frühbronzezeitlichen Wickelschnurkeramik gefunden. Diese Funde werden allgemein als Beigaben aus Nachbestattungen betrachtet. Auffällig ist allerdings, dass neben der üblichen Grabkeramik dieser Zeit auch große Amphoren und Vorratsgefäße gefunden wurden, die sonst nur aus Siedlungen bekannt sind, in Einzelgräbern hingegen fast völlig fehlen. Die Großsteingräber scheinen daher wohl für besondere Bestattungen genutzt worden zu sein.
==== Schalensteine ====
An mehreren Großsteingräbern in den Niederlanden wurden in vorgeschichtlicher Zeit kleine kreisrunde Schälchen angebracht. Mette van de Merwe identifizierte bei einer Untersuchung im Jahr 2018 sieben Anlagen, bei denen solche Bearbeitungen vorhanden sind. In fünf Fällen befinden sich die Schälchen auf Decksteinen, in einem Fall auf einem Wandstein und in einem weiteren Fall auf einem Umfassungsstein. Der genaue Zweck dieser Schälchen ist unbekannt. Auch für ihre Zeitstellung gibt es bei den niederländischen Gräbern keine konkreten Anhaltspunkte. Es ist daher ein Vergleich mit anderen Regionen nötig. Ewald Schuldt fand bei seinen Untersuchungen der Großsteingräber in Mecklenburg-Vorpommern keine Hinweise, dass die dortigen Schälchen von Angehörigen der Trichterbecherkultur angebracht worden waren. Sie scheinen eher jünger zu sein, da sie in mehreren Fällen an Stellen entdeckt wurden, die wohl erst nach einer gewissen Zeit des Verfalls der Grabkammern wieder zugänglich waren. Aus Schleswig-Holstein hingegen sind mehrere Großsteingräber mit Schälchen bekannt, die im Spätneolithikum und der Bronzezeit erneut überhügelt und für neue Bestattungen genutzt wurden. Für Jan Albert Bakker spricht all dies dafür, dass die Schälchen wohl ins Spätneolithikum und die frühe Bronzezeit zu datieren sind.
=== Mittlere Bronzezeit bis Mittelalter ===
Nach der frühen Bronzezeit scheinen die Großsteingräber kaum noch genutzt worden zu sein, denn Funde aus jüngerer Zeit sind sehr selten. In dem zerstörten Großsteingrab Spier (D54a) wurde eine kerbschnitt-verzierte bronzezeitliche Urne gefunden. Aus dem Großsteingrab Westenesch-Noord (D42) stammt ein mittelbronzezeitliches Rasiermesser und aus dem Großsteingrab Drouwenerveld (D26) ein Gefäß der eisenzeitlichen Harpstedter Gruppe. 1750 soll im Großsteingrab Eexterhalte (D14) eine römische Silbermünze gefunden worden sein. Um 1800 wurde im Großsteingrab Loon (D15) ein Bootsmodell gefunden, das wohl ins Frühmittelalter datiert. Zwei ähnliche Exemplare sind unbekannter Herkunft. Auch einige früh- bis hochmittelalterliche Gefäße dürften aus Großsteingräbern stammen.
== Literatur ==
Gesamtüberblick
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== Filme ==
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== Weblinks ==
The Megalithic Portal: Netherlands (englisch)
Hunebedden in Nederland (niederl.)
De hunebedden in Drenthe en Groningen (niederl.)
Het Hunebed Nieuwscafé (niederl.)
Hunebeddenwijzer (niederl.)
JohnKuipers.ca: A Hunebed Map of Drenthe (englisch)
cruptorix.nl: De hunebedden in Nederland (niederl.)
Website des „Hunebedcentrum“ in Borger (niederl.)
De Hunebedden in Nederland – 3D-Atlas (niederl.)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Megalithik_in_den_Niederlanden
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Encephalitozoonose
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= Encephalitozoonose =
Die Encephalitozoonose („Sternguckerkrankheit“) ist eine durch den Einzeller Encephalitozoon cuniculi, seltener Encephalitozoon intestinalis oder Encephalitozoon hellem, hervorgerufene parasitäre Erkrankung, die in Europa vor allem Kaninchen befällt. Andere Stämme des Erregers verursachen eine Erkrankung bei Altweltmäusen und Hundeartigen. Die Encephalitozoonose kommt vor allem bei immungeschwächten Tieren vor. Sie ist eine potenzielle Zoonose und kann, wenn auch sehr selten, ebenfalls bei immunschwachen Menschen auftreten. Die Erkrankung wurde erstmals 1922 von Wright und Craighead beschrieben.Der Erreger befällt vor allem die Niere und das Gehirn. Letzteres zeigt sich in neurologischen Störungen, wobei eine Kopfschiefhaltung das häufigste Symptom ist. Mit dem Antiparasitikum Fenbendazol lassen sich der Erreger und damit Neuinfektionen bekämpfen. Beim Auftreten klinischer Erscheinungen muss die Therapie durch Gabe von Antibiotika und unterstützende Maßnahmen erweitert werden, die Heilungsaussicht ist dann unsicher.
== Erreger und Vorkommen ==
Encephalitozoon cuniculi ist ein nur in Zellen höherer Organismen (obligat intrazellulär) lebender Einzeller aus der Gruppe der Mikrosporidien. Wie alle Mikrosporidien handelt es sich um einen eng mit den Pilzen verwandten Organismus mit Zellkern und Zellmembran (Eukaryot), dem aber einige Zellorganellen wie beispielsweise Mitochondrien fehlen. Das Genom ist mit 2,9 Millionen Basenpaaren, die nur knapp 2000 Proteine kodieren, außerordentlich klein. In Säugetieren befällt der Parasit die Zellen der Niere, des Gehirns und anderer Organe. Außerhalb seines Wirts überlebt der Einzeller in Form einer 2 µm großen Spore, die das infektiöse Dauerstadium darstellt.
Je nach Hauptwirt werden drei verschiedene Stämme von Encephalitozoon cuniculi unterschieden. Kaninchen sind prinzipiell für alle drei empfänglich, natürliche Infektionen wurden aber bislang nur für den Kaninchenstamm beschrieben. Folgende Stämme kommen vor:
In Europa spielt vor allem der Kaninchenstamm (Typ I) eine Rolle, der weltweit vorkommt. Bisherige Studien fanden bei gesunden Tieren Antikörper bei 7 bis 52 % der Hauskaninchen. Diese Seroprävalenz zeigt jedoch nur, dass die Tiere mit dem Erreger Kontakt hatten und ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit noch in sich tragen. Zu einer Erkrankung kommt es aber nur bei einer zeitweiligen Störung des Immunsystems, z. B. nach Virusinfektionen. Bei neurologisch erkrankten Hauskaninchen beträgt die Seroprävalenz bis zu 85 %. Das Erregerreservoir stellen vermutlich Wildkaninchen dar, bei denen die Seroprävalenz zwischen 4 und 25 % liegt, andere Hasenartige sind offenbar nicht Träger des Erregers. Die Encephalitozoonose ist mittlerweile die häufigste Infektionskrankheit bei Hauskaninchen.
Encephalitozoon cuniculi Typ II (Mäusestamm) ist vor allem für Altweltmäuse krankheitsauslösend und wurde bislang nur in Europa nachgewiesen. Die Seroprävalenz beträgt bei wildlebenden Ratten und Mäusen zwischen 3 und 4 %, in den Laborhaltungen kommt der Erreger durch die hohen Hygienestandards praktisch nicht mehr vor. In Skandinavien wurden auch tödlich verlaufende Infektionen mit diesem Typ bei Farmfüchsen beobachtet.
Encephalitozoon cuniculi Typ III (Hundestamm) ist vor allem in Nordamerika und Südafrika verbreitet, befällt vorwiegend Hunde und ist für diese vermutlich der einzige potenziell krankheitsauslösende (pathogene) Stamm. In Zoos wurden weltweit auch Infektionen bei Halbaffen beobachtet.E. cuniculi kommt weltweit vor, die Erkrankung wurde erstmals 1922 bei Kaninchen beschrieben. Antikörper gegen den E. cuniculi lassen sich bei vielen Säugetieren nachweisen. Berichte über menschliche Erkrankungen beschränken sich auf immunsupprimierte und AIDS-Patienten, wobei vermutlich nur der Kaninchen- und der Hundestamm potenziell gefährlich sind. In der Ostslowakei betrug die Seroprävalenz 5,7 %, bei Menschen mit Immundefekten sogar 37,5 %. Bei Pferden liegt die Seroprävalenz zwischen 14 % und 60 %.
== Infektionsweg und Krankheitsentstehung ==
Die häufigste Art der Übertragung scheint die orale Aufnahme der vor allem über den Urin ausgeschiedenen Sporen zu sein. Eine Übertragung des Erregers von der Mutter auf die Föten vor der Geburt (intrauterin) ist ebenfalls möglich. Nach der Aufnahme der Sporen wird der Erreger im Darm von Fresszellen (Phagozyten) aufgenommen und mit ihnen über die Blutbahn verteilt.
Die Infektion löst normalerweise keine Erkrankung aus. Der Wirt reagiert auf ein Eindringen des Erregers mit einer Immunreaktion, die durch zytotoxische CD8(+) T-Zellen vermittelt wird.Zu einem Krankheitsausbruch kommt es unter Umständen erst Jahre nach der Infektion bei einer Störung des Immunsystems, beispielsweise wenn die Tiere Lärm und Stress ausgesetzt sind. Der Erreger besiedelt bei Kaninchen dann vor allem die Nieren, wo er eine chronische Nierenentzündung mit Proliferation oder Atrophie des Epithels der Nierenkanälchen verursacht. Im Gehirn und den Hirnhäuten kommt es erst bei chronischer Infektion zu einer eitrigen Entzündung (Meningoenzephalitis) mit Vermehrung (Gliose) der Astrozyten und Lymphozyteninfiltrationen um die Blutgefäße. Darüber hinaus können sich Sporen in der Augenlinse ansiedeln und eine phakoklastische Uveitis auslösen, diese Lokalisation scheint aber ausschließlich bei einer Übertragung im Mutterleib stattzufinden. Bei Tamarinen wurden darüber hinaus auch Herzmuskel-, Leber-, Lungen-, Skelettmuskel- und Netzhautentzündungen nachgewiesen. Bei immunsupprimierten Mäusen zeigte sich eine nichteitrige, lymphozytäre Meningoenzephalitis mit Untergang von Nervenzellen und Astrogliose. Pferde können eine nekrotisierende Entzündung des Mutterkuchens (Plazentitis) entwickeln.
== Symptome ==
Die klassischen Symptome einer Encephalitozoonose bei Kaninchen sind neurologische Störungen wie Schiefhals (Torticollis), meist in Kombination mit Augenzittern (Nystagmus), Störungen der Bewegungskoordination (Ataxie), steifer Gang, Lähmungen und Krämpfe. Tiere mit starker Gehirnaffektion drehen sich im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf nicht selten unkontrolliert um ihre eigene Längsachse und können sich dabei schwer verletzen. Die Krankheit kann sich aber auch in Form einer Niereninsuffizienz oder einer Linsentrübung und Entzündung der mittleren Augenhaut nach Ruptur der Linsenkapsel (phakoklastische Uveitis) manifestieren. In einer Studie zeigten 45 % der erkrankten Kaninchen neurologische Ausfallserscheinungen, 31 % eine Nierensymptomatik und 14 % eine Uveitis. Vor allem bei Außenhaltung besteht bei neurologischen Störungen aufgrund der eingeschränkten Bewegungsmöglichkeit und damit der Körperpflege die Gefahr eines Fliegenmadenbefalls.
Bei Hunden und Füchsen äußert sich eine Encephalitozoonose in Nierenversagen und zentralnervösen Erscheinungen, die der Staupe ähneln. Derartige Erkrankungen wurden bei Hunden bislang nur in Afrika und den Vereinigten Staaten beobachtet, während Erkrankungen bei Füchsen auch in Skandinavien auftraten. Bei Katzen kommt es vor allem zu Augeninfektionen (phakoklastische Uveitis, fokale Linsentrübung, Uveitis anterior), wobei als Auslöser vor allem der Mäusestamm (Typ II) in Frage kommt.Bei anderen Tieren sind die Krankheitssymptome zumeist unspezifisch und eine Encephalitozoonose wird erst bei der pathologischen Sektion entdeckt. Bei Halbaffen treten Totgeburten und plötzliche Todesfälle bei Jungtieren auf. Bei Pferden ist die Bedeutung des serologischen Nachweises noch nicht geklärt: Encephalitozoon cuniculi kann Aborte auslösen, wird aber auch im Zusammenhang mit Koliken und neurologischen Störungen diskutiert. Die Symptome bei immunsupprimierten oder HIV-infizierten Menschen werden im Abschnitt „Gefahr für den Menschen“ dargestellt.
== Diagnosestellung ==
Die Diagnose ist am lebenden Tier nicht sicher zu stellen.
Bei der klinischen Diagnosestellung handelt es sich immer um eine Verdachtsdiagnose. Da viele Hauskaninchen den Erreger in sich tragen, ohne daran zu erkranken, gibt eine serologische Untersuchung auf Antikörper (India-Ink Immunoreaktion, Titerbestimmung durch indirekte Immunfluoreszenz) gegen den Erreger zwar einen Hinweis auf eine erfolgte Ansteckung, ob die bestehenden Symptome aber dadurch bedingt werden, muss per Ausschluss anderer Erkrankungen abgeklärt werden. Ein Antikörpertiter kann auch bei über 40 % der gesunden Kaninchen nachgewiesen werden. Eine Studie fand bei Kaninchen mit klinischem Verdacht mittlere Titer von 1:1324 und damit etwa 1,7fach höhere Werte als bei Tieren ohne einen solchen. Weitere Studien konnten dagegen keinen Zusammenhang zwischen Titerhöhe und Erkrankung nachweisen. Zudem können die Antikörperspiegel nach einer Infektion über Jahre hoch bleiben. Kaninchen, die sich bereits im Mutterleib infiziert haben, weisen meist keine Antikörper auf, da der Erreger nicht als fremd erkannt wird (→ Selbsttoleranz). Der direkte Nachweis der Erreger-DNA mittels PCR im Urin, Kot oder Hirnwasser ist selten erfolgreich. Darüber hinaus tritt Erreger-DNA im Urin erst drei bis fünf Wochen nach der Infektion auf und auch bei einigen gesunden Tieren. Lediglich bei einer phakoklastischen Uveitis kann durch PCR an entferntem Linsenmaterial die Diagnose meist eindeutig gestellt werden.Das Leitsymptom „Schiefhals“ kann bei Kaninchen auch bei einer Entzündung des Innenohrs (Otitis interna, Haupterreger Pasteurella multocida), Virusinfektionen des Gehirns, Listeriose, Toxoplasmose, wandernden Larven (Larva migrans) des Waschbärspulwurms, Tumoren (vor allem Lymphome) und Abszessen des Gehirns sowie Kopfverletzungen auftreten. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Vergiftungen, Stoffwechselstörungen oder ein Rückenmarkstrauma können neurologische Ausfallserscheinungen verursachen. Ein Teil dieser Erkrankungen kann durch bildgebende Verfahren nachgewiesen werden und somit eine Encephalitozoonose indirekt ausschließen.Eine sichere Diagnose ist nur nach dem Tod durch eine pathologische Untersuchung mit Nachweis des Erregers möglich. Er lässt sich durch Immunhistochemie oder PCR nachweisen. Eine kulturelle Anzüchtung ist möglich, aber sehr aufwändig.
== Gefahr für den Menschen ==
Die Encephalitozoonose ist eine potenzielle Zoonose, allerdings wurden bislang nur Erkrankungen bei Menschen mit einer starken Schwächung des Immunsystems (z. B. AIDS-Patienten, Menschen mit Immunsuppression nach Organtransplantationen, Idiopathische CD4+ T-Lymphocytopenie) beobachtet. Theoretisch könnten auch Menschen mit einem schwach ausgeprägten Immunsystem (Kleinstkinder, sehr alte Menschen) empfänglich sein, allerdings gibt es dafür noch keine Hinweise.
Erkrankte Tiere haben in den meisten Fällen bereits über einen langen Zeitraum die Erreger ausgeschieden. Obwohl ein großer Teil der Heimtierkaninchen seropositiv ist, liegen bisher keine Nachweise vor, dass sich ein Mensch bei einem Kaninchen oder einem anderen Tier angesteckt hat, obwohl der Infektionsweg beim Menschen bislang nicht geklärt ist. Es gibt einen Fall einer Mensch-zu-Mensch-Übertragung des Hundestamms bei einer Knochenmarktransplantation bei einem Morbus-Hodgkin-Patienten, der daraufhin an einer Lungenentzündung verstarb.Bei Menschen mit Immunschwäche spielen allerdings Durchfallerkrankungen infolge Infektionen mit Encephalitozoon bieneusi und Encephalitozoon intestinalis die weitaus größere Rolle, während Encephalitozoon cuniculi-Infektionen selbst bei diesem Personenkreis sehr selten sind. Die Symptome einer solchen Erkrankung reichen von Fieber, Brust-, Bauch-, Muskel- und Kopfschmerzen, Husten, Schnupfen, Durchfall, Nasennebenhöhlen- und Lungenentzündung, Binde- und Hornhautentzündung bis zum Nierenversagen. Auch Encephalitozoon hellem kann sowohl eine Keratokonjunktivitis als auch eine disseminierte Infektion beim Menschen auslösen. Seit 1994 wurden weltweit nur 17 E.-cuniculi-Infektionen bei AIDS-Kranken und 6 bei Menschen nach Organtransplantationen nachgewiesen. Ältere Fallbeschreibungen müssen mit Vorsicht interpretiert werden, da Encephalitozoon-Arten lichtmikroskopisch nicht zu unterscheiden sind und die molekularbiologischen Nachweisverfahren erst in den 1990er Jahren etabliert wurden.
== Behandlung ==
Es gibt derzeit noch keine 100-prozentig wirksame Behandlung der Encephalitozoonose.
Eine Eliminierung des Erregers bei Kaninchen ist vermutlich nicht möglich, denn nicht wenige Tiere, die sich klinisch durch eine Behandlung bessern, werden zu einem späteren Zeitpunkt mit wiederholter Symptomatik vorgestellt. Die Antiparasitika Fenbendazol und Albendazol führen nur zu einer Reduktion der Erreger und können Neuinfektionen einschränken, bei klinischem Ausbruch einer Encephalitozoon-cuniculi-Infektion ist die Wirkung dagegen begrenzt. Da die Kaninchen zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Erkrankung immungeschwächt sind, wird die Gabe eines Antibiotikums (Chloramphenicol, Gyrasehemmer, Chloroquinphosphat, Oxytetracyclin oder Sulfonamide) empfohlen. Zur Minderung der Entzündung werden gleichzeitig auch Glucocorticoide eingesetzt, allerdings ist deren Einsatz umstritten, da sie auch zu einer Unterdrückung der körpereigenen T-Zell-Antwort führen können und bei Kaninchen häufig starke Nebenwirkungen auslösen. Zusätzlich sollten die Tiere, insbesondere beim Vorliegen einer Niereninsuffizienz, mit Infusionen versorgt werden. Dazu muss eine regelmäßige Kontrolle der Blutwerte erfolgen. Die Gabe eines Vitamin-B-Komplexes wird ebenfalls von einigen Autoren als unterstützende Maßnahme empfohlen. Kaninchen mit Lähmungserscheinungen sollten zusätzlich physiotherapeutisch behandelt werden, indem die gelähmten Gliedmaßen bewegt werden. Kaninchen, die nicht selbstständig Futter aufnehmen, müssen zwangsernährt werden. Lärm und Stress sind in jedem Fall vom erkrankten Tier fernzuhalten. Dabei ist daran zu denken, dass Tiere eine andere Hörschwelle besitzen als der Mensch und somit Geräusche wahrnehmen, die für den Menschen nicht zu erkennen sind. Bei einer Erkrankung des Auges kann nur eine Entfernung des aus der rupturierten Linsenkapsel ausgetretenen Linsenproteins zu einer Heilung führen. Geschieht dies nicht, werden in der Folge immer wieder Episoden mit schweren Uveitiden auftreten.
Bei immunsupprimierten Menschen mit Encephalitozoonose wird gegen Encephalitozoon cuniculi und andere Mikrosporidien Albendazol eingesetzt. Neuere Therapieansätze sind Polyamine, Chitininhibitoren wie Nikkomycin und Fluorchinolone, bei lokalen Augenentzündungen auch Fumagillin.Das potenzielle Risiko einer Tier-zu-Mensch-Übertragung kann durch konsequente Hygienemaßnahmen minimiert werden. Hierzu zählt neben der täglichen Beseitigung von Kot und Urin die Reinigung des Käfigs oder Geheges mit reinigenden und desinfizierenden Mitteln. Zur Desinfektion eignen sich kochendes Wasser, 2-prozentiges Lysol, 1-prozentiges Formaldehyd oder 70-prozentiger Alkohol. Nach einem Tierkontakt sollten, auch zur Reduzierung der Gefahr der Übertragung anderer Zoonosen, die Hände gründlich gewaschen werden.
== Heilungsaussichten ==
In einigen Fällen kommt es bei Kaninchen zu einer Spontanheilung ohne Therapie. Eine klinische Heilung von Kopfschiefhaltung und Ataxien ist jedoch im Regelfall umso günstiger, je schneller mit der Therapie begonnen wird. Bestehen die neurologischen Symptome bereits länger, muss mit einer deutlich längeren Zeit bis zur vollständigen Heilung (restitutio ad integrum) gerechnet werden. Manchmal, in besonders schwerwiegenden Fällen, kann es nach Abschluss der medikamentösen Behandlung mehrere Monate dauern, bis die Kopfschiefhaltung verschwunden ist. Die Erkrankung kann aber auch zu bleibenden Schäden am Gehirn führen, so dass es zu einer dauerhaften Kopfschiefhaltung kommt. Es ist weiterhin immer mit einem Rückfall zu rechnen, aber von einer vorsorglichen, dauerhaften Gabe von Fenbendazol wird abgeraten, da der Erreger gegen den Wirkstoff Resistenzen bilden kann und die Substanz auch immunsupprimierend wirken kann. Schwere Infektionen können auch tödlich verlaufen oder so starke bleibende Beeinträchtigungen hervorrufen, dass eine Einschläferung angezeigt ist.
== Literatur ==
Peter Deplazes: Encephalitozoonose. In: Andre Jaggy: Atlas und Lehrbuch der Kleintierneurologie. Schlütersche 2005, ISBN 3-87706-739-5, S. 458.
Anja Ewringmann: Leitsymptome beim Kaninchen. Diagnostischer Leitfaden und Therapie. Enke-Verlag, 2004, ISBN 3-8304-1020-4.
E.J. Gentz und J.W. Carpenter: Neurologic and musculoskeletal diseases. In: E.V. Hillyer und K.E. Quesenberry (Hrsg.): Ferrets, rabbits, and rodents. Saunders 1999, ISBN 0-7216-4023-0, S. 220–226.
Frances Harcourt-Brown: Textbook of rabbit medicine. Butterworth-Heinemann, 2004, ISBN 0-7506-4002-2.
Thomas Schnieder (Hrsg.): Veterinärmedizinische Parasitologie. Paul Parey, 2006, ISBN 3-8304-4135-5.
Ulrike Flock: Enzephalitozoonose beim Kaninchen – eine retrospektive Auswertung. (PDF; 606 kB), Dissertation, Tierärztliche Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität, München 2010, abgerufen am 17. September 2013.
== Weblinks ==
B. Drescher: Enzephalitozoonose beim Kaninchen
Intervet: Enzephalitozoonose
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Encephalitozoonose
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Chronische Nierenerkrankung der Katze
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= Chronische Nierenerkrankung der Katze =
Die chronische Nierenerkrankung der Katze (CNE) – in der älteren Literatur auch chronische Niereninsuffizienz (CNI) oder chronisches Nierenversagen genannt – ist eine unheilbare, fortschreitende Krankheit, die durch eine allmähliche Abnahme der Nephrone und damit zu einer abnehmenden Funktion (Insuffizienz) der Nieren gekennzeichnet ist. Sie ist eine der häufigsten Todesursachen bei älteren Hauskatzen. In der gegenwärtigen Literatur wird der Begriff „Nierenerkrankung“ gegenüber dem Begriff „Niereninsuffizienz“ bevorzugt, weil die Erkrankung zunächst ohne messbares Nachlassen der Nierenfunktion abläuft. Infolge des anderen Ernährungstyps und der daraus resultierenden Stoffwechselbesonderheiten unterscheiden sich Krankheitsbild und Behandlung zum Teil deutlich vom chronischen Nierenversagen des Menschen.
Die chronische Nierenerkrankung entsteht bei Katzen infolge einer Entzündung der Nierenkanälchen und des Nierenzwischengewebes ohne erkennbare Ursache (idiopathische tubulointerstitielle Nephritis). Hauptsymptome sind Fressunlust, vermehrtes Trinken, vermehrter Urinabsatz, Abgeschlagenheit, Erbrechen und Gewichtsverlust. Die chronische Nierenerkrankung wird bei Katzen anhand der Kreatinin-Konzentration im Blutplasma in vier Hauptstadien eingeteilt, welche nach dem Protein-Kreatinin-Quotienten im Harn und dem Blutdruck weiter untergliedert werden. Die Behandlung stützt sich vor allem auf die Verminderung des Protein- und Phosphatgehalts der Nahrung auf den Grundbedarf („Nierendiät“). Darüber hinaus werden die zahlreichen aus der Nierenfunktionsstörung resultierenden Folgeerscheinungen wie Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushaltes, Blutdruckanstieg, Blutarmut und Verdauungsstörungen medikamentös behandelt. Bei einer frühzeitigen Feststellung und Behandlung können das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamt, die Lebensqualität verbessert und die Lebenserwartung der Tiere erhöht werden.
== Physiologische Grundlagen ==
Die Niere ist ein lebensnotwendiges Organ mit vielfältigen Aufgaben. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts, bei der Ausscheidung giftiger Stoffwechselabbauprodukte wie beispielsweise Harnstoff sowie bei der Rückgewinnung der im Rahmen der Ultrafiltration in den Nierenkörperchen zunächst aus dem Blut herausgefilterten wertvollen Substanzen wie Traubenzucker, Aminosäuren, Peptide und Mineralstoffe. Zudem werden in der Niere körpereigene und körperfremde Stoffe um- und abgebaut – die Niere ist also neben der Leber ein zentrales Stoffwechselorgan. Schließlich werden in der Niere einige hormonaktive Stoffe wie Renin, Erythropoetin und Calcitriol (aktive Form des Vitamin D3) hergestellt. Dadurch hat das Organ eine wesentliche Bedeutung für die Regulation des Blutdrucks, der Blutneubildung beziehungsweise des Calcium- und Phosphorhaushalts und damit des Knochenstoffwechsels.
Katzen sind als Fleischfresser in besonderem Maße auf die Zufuhr tierischer Proteine angewiesen, weil bei ihnen die Traubenzuckerbildung aus Aminosäuren die wichtigste Energiequelle ist. Die Enzyme des Aminosäureabbaus sind an die hohe Proteinzufuhr angepasst und ihre Aktivität ist weitgehend unabhängig vom Proteinangebot in der Nahrung, so dass Katzen bei mangelnder Proteinzufuhr körpereigene Proteine (vor allem aus der Muskulatur) abbauen (katabole Stoffwechsellage). Fleisch und Innereien enthalten darüber hinaus für die Katze lebensnotwendige Nährstoffe wie beispielsweise Vitamin A, Taurin oder Arachidonsäure. Verglichen mit der normalen Kost eines Menschen nehmen Katzen mit dem handelsüblichen Katzenfutter im Verhältnis rund sechsmal so viel Nahrungsphosphat zu sich. Dadurch ist es schwierig, eine ähnliche Phosphorreduktion in der Katzennahrung zu erreichen, wie sie in der Humanmedizin für menschliche Nierendiäten angestrebt wird.
== Pathophysiologische Grundlagen ==
Krankheitserscheinungen treten erst in einem fortgeschrittenen Stadium auf, wenn bereits mehr als zwei Drittel der ursprünglichen Nierenfunktion verloren sind. Dies ist den körpereigenen Kompensationsmechanismen und der Reservekapazität der Niere geschuldet, die die reduzierte Nierenfunktion lange ausgleichen und die Ausscheidung harnpflichtiger Substanzen dabei aufrechterhalten können. Mit dem Verlust funktionierender Nephrone – der funktionellen Baueinheit der Niere – nimmt die Filterleistung der Nierenkörperchen (glomeruläre Filtrationsrate) ab und damit die Ausscheidungskapazität für harnpflichtige Stoffe.
Die erhöhten Harnstoffwerte im Blut (Urämie) führen aus verschiedenen Ursachen zu Übelkeit und Erbrechen. Zum einen reizen sie direkt Chemorezeptoren der Chemorezeptoren-Triggerzone im Gehirn. Zweitens erhöhen sie die Gastrinsekretion und führen so zu einer Steigerung der Magensäurebildung und damit zu einer Übersäuerung des Magens. Schließlich rufen sie eine Gefäßentzündung (urämische Vaskulitis) hervor, die zu weiteren Schäden am Verdauungstrakt führt.Infolge der Phosphatanreicherung im Blut (Hyperphosphatämie) und der verminderten Bildung von Calcitriol in den verbliebenen Hauptstücken kommt es zu einem Abfall des Calciumblutspiegels (Hypokalzämie), und es wird vermehrt Parathormon aus der Nebenschilddrüse freigesetzt. Eine chronische Nierenerkrankung führt in 84 % der Fälle zu einer Nebenschilddrüsenüberfunktion (sekundärer renaler Hyperparathyreoidismus). Das Parathormon bewirkt unter anderem eine Freisetzung von Calcium und Phosphat aus den Knochen, die letztlich zu nierenbedingten Knochenstörungen und zur Verkalkung von Nieren, Haut, Herz und Gefäßen führt. In den Nieren trägt diese Verkalkung zur weiteren Zerstörung des Nierengewebes bei. Die verminderte Ansprechbarkeit der Nebenschilddrüsenzellen auf Calcium stört die negative Rückkopplung der Parathormonsekretion, so dass trotz der Erhöhung des Calciumspiegels weiterhin Parathormon ausgeschüttet wird. Da durch die verminderte Filtrationsrate weniger Phosphat in die Nierenkanälchen gelangt, hat die Hemmwirkung des Parathormons auf die Wiederaufnahme im Hauptstück nur einen geringen Effekt auf den Blutphosphatspiegel.Der Verlust von Nephronen und die damit verbundene Abnahme der Zahl der Natrium-Ionenkanäle führt zu einer Abnahme des Konzentrationsgefälles in der Niere. Dieses ist jedoch die treibende Kraft für die Wasserrückgewinnung im Mittelstück und – in Anwesenheit von ADH – auch in den Sammelrohren. Die Folge ist ein Wasserverlust über den Harn und damit eine Austrocknung des Körpers, die durch den Flüssigkeitsverlust beim Erbrechen noch verstärkt wird.Eine Konsequenz der verminderten Fähigkeit der Nieren zur Ausscheidung von Wasserstoff-Ionen, Phosphat und Sulfat sowie des übermäßigen Verlusts an Bikarbonat ist die stoffwechselbedingte Übersäuerung des Blutes (metabolische Azidose). Eine metabolische Azidose tritt bei 80 % der chronisch nierenkranken Katzen auf.Mit zunehmender Nierenschädigung wird auch die Autoregulation der Nierendurchblutung beeinträchtigt, die normalerweise dafür sorgt, dass der Blutdurchfluss und damit die Filterleistung bis zu einer Schwelle von 60 mm Hg unabhängig vom allgemeinen Blutdruck sind. Dadurch ist bei niedrigem Blutdruck die Nierenleistung vermindert und beim häufig mit chronischen Nierenerkrankungen einhergehenden Bluthochdruck kommt es aufgrund der Drucküberlastung der Nierenkörperchen zu weiteren Schädigungen. Zur Blutdruckerhöhung kommt es infolge der Verhärtung der Blutgefäße im Bereich der Nierenkörperchen, der verminderten Bildung gefäßerweiternder Prostaglandine sowie der Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems.
== Vorkommen und Ursachen ==
Die chronische Nierenerkrankung ist eine der häufigsten Todesursachen bei älteren Hauskatzen. Bei vielen Tieren bleibt die Erkrankung jedoch zunächst unerkannt, da im frühen Stadium der chronischen Nierenerkrankung aufgrund der Reservekapazität der Niere klinische Erscheinungen oft fehlen und ausreichend empfindliche diagnostische Tests nicht für den Routineeinsatz verfügbar sind. Die Angaben zur Häufigkeit der Erkrankung bei Katzen sind widersprüchlich, sie schwanken zwischen 1,6 und 20 %. Die chronische Nierenerkrankung tritt vermehrt bei älteren Katzen auf: Über 50 % der betroffenen Katzen sind sieben Jahre alt oder älter und 30 % aller über 9 Jahre alten Katzen zeigen erhöhte Blutwerte an Stickstoffverbindungen (Azotämie). Die Erkrankung kann aber bereits in einem Alter von 9 Monaten vorkommen. Eine Rasseprädisposition ist für Maine Coon, Abessinier, Siam, Russisch Blau und Burmesen nachgewiesen.Da die Nieren eine hohe Reservekapazität haben und klinische Erscheinungen erst auftreten, wenn zwei Drittel der ursprünglichen Nierenfunktion verloren sind, müssen die auslösenden Faktoren beide Nieren schädigen.Die chronische Nierenerkrankung der Katze ist eine idiopathische tubulointerstitielle Nephritis, also eine Entzündung der Nierenkanälchen und des Nierenzwischengewebes ohne erkennbare Ursache. Neben der Schädigung, welche diese Primärerkrankung auf das Nierengewebe direkt ausübt, kommt es infolge aktivierter körpereigener Reparaturmechanismen wie der Bindegewebszubildung zu einem weiteren, sich teilweise selbst unterhaltenden Untergang funktionellen Nierengewebes. Die verminderte Fähigkeit der Niere zur Ausscheidung von Natrium und Wasser bewirkt ein Zurückhalten dieser Substanzen und damit eine Erhöhung des Blutvolumens, was letztlich einen Anstieg des Blutdrucks zur Folge hat. Etwa zwei Drittel aller Katzen mit CNE sind davon betroffen. Ein Bluthochdruck führt wiederum zu verstärkter Bindegewebszubildung. Auch ein durch andere Nierenschäden sekundär entstehender Kaliummangel oder Calciumüberschuss verursacht eine weitere Schädigung des Nierengewebes.
Auch andere Erkrankungen können Auslöser von Nierenfunktionsstörungen sein, beispielsweise Infektionen, Autoimmunerkrankungen, Vergiftungen oder Tumoren. Praktisch jede Infektion oder auch ein „Lupus erythematodes“ kann zu einer Ablagerung von Antigen-Antikörper-Komplexen in der Basalmembran der Nierenkörperchen und damit zu deren Schädigung führen. Eine starke nierenschädigende Giftwirkung (Nierentoxizität) besitzen bei Katzen unter anderem viele Lilienarten, Ethylenglycol, Melamin, Cyanursäure und einige Schwermetalle (Cadmium, Blei, Quecksilber). Aber auch viele Arzneistoffe wie Amphotericin B, Cholecalciferol, Doxorubicin, Polymyxine, Aminoglykoside und zahlreiche nichtsteroidale Entzündungshemmer (→ Analgetikanephropathie) können eine Nierenschädigung auslösen.
== Symptome ==
Hauptsymptome der chronischen Nierenerkrankung bei Katzen sind Fressunlust (Anorexie), vermehrtes Trinken (Polydipsie), vermehrter Urinabsatz (Polyurie), Abgeschlagenheit (Apathie), Erbrechen und Gewichtsverlust. Darüber hinaus können infolge der Urämie Durchfall, eine Entzündung der Maulschleimhaut (Stomatitis) mit Bildung von Geschwüren (Ulcera), vermehrtem Speichelfluss (Hypersalivation) und Mundgeruch auftreten. Ein erhöhter Blutdruck (Arterielle Hypertonie) mit Schädigung des Auges (Fundus hypertonicus, hypertensive Retinopathie), Blutarmut (Anämie), Juckreiz, Austrocknung (Dehydratation), Weichteilverkalkungen, Blutungen und Wasseransammlungen in den Geweben (Ödeme) sind ebenfalls häufigere Begleiterscheinungen. Bei hochgradiger Urämie kann es auch zu neurologischen Erscheinungen wie Teilnahmslosigkeit, Krampfanfällen, Delirium, Koma, abnormalen Bewegungen und Muskelerkrankungen (Myopathien) kommen.
Typischerweise treten die Symptome – im Gegensatz zum akuten Nierenversagen – schleichend über Wochen, Monate oder gar Jahre auf, und der Allgemeinzustand ist schlecht. Zudem ist das akute Nierenversagen zunächst durch eine verminderte Harnproduktion gekennzeichnet. Allerdings wird eine bestehende gering- oder mittelgradige chronische Nierenerkrankung häufig durch ein akutes Geschehen schlagartig verschlechtert („Exazerbation“) und damit für den Katzenbesitzer auffällig. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn eine Niere durch einen Harnrückstau bereits in eine funktionslose Schrumpfniere übergegangen ist und plötzlich die zweite akut durch einen Harnstau anschwillt (Hydronephrose) und geschädigt wird („Große-Niere-kleine-Niere-Syndrom“) oder wenn eine Schilddrüsenüberfunktion behandelt und damit die glomeruläre Filtrationsrate plötzlich gesenkt wird.Durch eine Tastuntersuchung können die Nieren auf Schmerzhaftigkeit, Festigkeit (Konsistenz), Vergrößerung oder Verkleinerung sowie auf Veränderung der Oberflächenstruktur geprüft werden. Die gesunde Niere ist etwa 4 cm lang, 3 cm breit und 2–3,5 cm dick. Bei der häufigsten Form – CNE infolge einer tubulointerstitiellen Nephritis – sind die Nieren meist verkleinert und haben eine unregelmäßige Oberfläche, bei Tumoren oder einer Pyelonephritis können sie vergrößert und schmerzempfindlich sein. Da der Grad des Eiweißverlusts über den Harn in direktem Zusammenhang mit der Blutdruckerhöhung steht, ist eine regelmäßige Blutdruckmessung sinnvoll.
Mit einer Röntgenuntersuchung lassen sich Größen-, Dichte- und Lageveränderungen der Nieren sowie einige Nierensteine (Struvit- und Calciumoxalatsteine sind „röntgendicht“) und Weichteilverkalkungen nachweisen. Bei stark abgemagerten Katzen oder Flüssigkeitsansammlungen im Retroperitonealraum ist die Niere im Röntgenbild jedoch aufgrund der daraus resultierenden Kontrastminderung nur bedingt darstellbar. Eine höhere diagnostische Aussage hat die Ausscheidungsurographie, bei der ein röntgendichtes Kontrastmittel (z. B. Iopamidol, Iohexol) in die Blutbahn gespritzt und dessen Ausscheidung über die Nieren röntgenologisch erfasst wird. Damit lassen sich Durchblutungsstörungen, Funktionsstörungen der Nierenkörperchen und Verlegungen der Abflusswege nachweisen.
Die Ultraschalluntersuchung gestattet es, morphologische Veränderungen der Nieren detaillierter darzustellen. Neben Größen- und Formveränderungen lassen sich auch Nierenzysten, örtlich abgegrenzte (fokale) Organschäden, Wassersacknieren und Harnstauungen sowie Tumoren darstellen. Kaum abgegrenzte (diffuse) Organveränderungen gehen zwar mit Änderungen der Echogenität einher, sind aber nur selten definierten Erkrankungen zuzuordnen. Mittels „Pulsed-Wave-Doppler“ lassen sich auch Durchblutungsstörungen nachweisen.Die Nierenbiopsie findet routinemäßig nicht Anwendung, kann aber bei bestimmten Vorberichten – beispielsweise junge Abessinierkatze mit Symptomen einer Nierenerkrankung zum Nachweis einer Amyloidose – indiziert sein. Die Computer- und die Magnetresonanztomographie haben zwar eine sehr gute Detailerkennbarkeit, spielen aber in der Tiermedizin aufgrund der hohen Kosten und begrenzten Verfügbarkeit nur eine untergeordnete Rolle.
== Labordiagnostische Befunde ==
Die Urinuntersuchung ist bei der chronischen Nierenerkrankung der Katze unverzichtbar. Bereits bei einer Schädigung von zwei Dritteln der Nephrone kommt es zu einer verminderten Fähigkeit zur Harnkonzentration und das spezifische Gewicht sinkt unter 1030 N·m−3. Der Eiweißverlust über die Niere wird durch einen Anstieg des Protein-Kreatinin-Verhältnisses im Harn (UPC) nachgewiesen, da 24-Stunden-Sammelproben bei Katzen nicht praktikabel sind. Das UPC ist ein guter Marker für die Früherkennung einer CNE, da er Nierenfunktionsstörungen bereits vor dem Anstieg des Kreatinins im Blut aufdeckt. Im Urinsediment können auch Ausgüsse der Nierenkanälchen (Zylinder), bei chronischen bakteriellen Nierenbeckenentzündungen auch Bakterien oder Eiter nachgewiesen werden. Der Nachweis geringer Albuminmengen (< 300 mg/l, „Mikroalbuminurie“) ist zwar sehr sensitiv, aber wenig spezifisch für eine chronische Nierenerkrankung.
Im Blutserum ist zumeist der Gehalt stickstoffhaltiger Substanzen wie Harnstoff und Kreatinin (Urämie beziehungsweise Azotämie) sowie Phosphat (Hyperphosphatämie) erhöht. Die erhöhte Phosphatkonzentration ist Folge der verminderten glomerulären Filtrationsrate. Unter anderen ist hier der Fibroblasten-Wachstumsfaktor 23 (FGF-23) beteiligt, der bei einer beginnenden Störung sensitiver ist als der Phosphatspiegel. Der Kaliumgehalt ist meist erniedrigt (Hypokaliämie), kann aber auch erhöht sein – beim Natriumgehalt ist es umgekehrt. Liegt die Ursache für die Nierenerkrankung in den Nierenkörperchen, treten auch Albuminmangel (Hypalbuminämie) und Cholesterinüberschuss (Hypercholesterinämie) auf. Die Bestimmung von Cystatin C ist für Katzen nicht evaluiert, dieses Protein kann bei Katzen auch bei einer Schilddrüsenüberfunktion oder bei einer Glukokortikoidgabe erhöht sein und nach der Nahrungsaufnahme für mehrere Stunden stark absinken. Neuere Untersuchungen legen nahe, dass das symmetrische Dimethylarginin (SDMA) ein geeigneter Marker für die Nierenfunktion bei Katzen ist. Die SDMA-Konzentration im Serum zeigt enge Korrelationen zur glomerulären Filtrationsrate und zur Kreatininkonzentration. Sie kann bereits einen 40%igen Funktionsverlust der Niere detektieren, also bevor es zu einem Kreatininanstieg im Blut kommt.Die sensitivste Methode der Nierenfunktionsdiagnostik ist die direkte Bestimmung der glomerulären Filtrationsrate über die Clearance, die bei der chronischen Nierenerkrankung bereits vermindert ist, bevor es zu einer Azotämie kommt. Für Katzen sind verschiedene Substanzen evaluiert, am praktikabelsten sind Kreatinin und Iohexol. Kreatinin wird zwar langsamer als Iohexol eliminiert, kann aber in vielen Tierarztpraxen fotometrisch auch ohne Einbeziehung eines Speziallabors sofort bestimmt werden.Im Blutbild zeigt sich bei fortgeschrittener Nierenerkrankung eine Abnahme der Zahl roter Blutkörperchen und damit des Hämatokrits ohne Änderung der Blutfarbstoffbeladung und der Zellgrößen der roten Blutkörperchen sowie ohne Zeichen einer Blutzellneubildung (normochrome, normozytäre, aregenerative Anämie).
== Einteilung ==
Die chronische Nierenerkrankung der Katze wird von der International Renal Interest Society (IRIS) und davon adaptiert von der Europäischen Gesellschaft für veterinärmedizinische Nephrologie und Urologie derzeit in vier Hauptstadien eingeteilt, wobei die Kreatinin-Konzentration im Blutplasma als Hauptkriterium herangezogen wird. Darüber hinaus werden Unterstadien anhand des Protein-Kreatinin-Quotienten im Harn sowie des Blutdrucks definiert. Die Plasmakreatininkonzentration sollte durch mindestens zwei Messungen im Abstand von ein bis zwei Wochen, der Protein-Kreatinin-Quotient im Urin über zwei oder drei Messungen in einem Zeitraum von zwei bis vier Wochen gesichert werden. Da Kreatinin auch von anderen Faktoren beeinflusst wird, wird bei der Einteilung der IRIS seit 2019 auch der das Symmetrische Dimethylarginin (SDMA) zur Beurteilung herangezogen.
== Differentialdiagnosen ==
In der Summe aller Untersuchungsbefunde ist die chronische Nierenerkrankung mit kaum einer anderen Erkrankung verwechselbar. Weitgehende Übereinstimmung besteht lediglich mit der akuten Niereninsuffizienz. Hier ist insbesondere der klinische Verlauf (siehe Symptome) als Abgrenzungskriterium geeignet. Zudem sind bei der akuten Niereninsuffizienz der Blutdruck und die Zahl der roten Blutkörperchen unverändert, die Niere häufig vergrößert und schmerzhaft.Das für die Stadieneinteilung maßgebliche Hauptmerkmal – die Azotämie – kann eine Reihe anderer Ursachen haben, die „vor der Niere“ (prärenal) oder „hinter der Niere“ (postrenal) lokalisiert sein können. Prärenale Ursachen sind bei Katzen vor allem Blutverluste, Austrocknung, Schock, kongestives Herzversagen, Schilddrüsenüberfunktion, aber auch Fieber oder starke körperliche Anstrengung. Mögliche postrenale Ursachen sind, neben der Verlegung der Harnwege durch Steine oder Tumoren, Zerreißungen der Harnblase, des Harnleiters oder der Harnröhre.
== Behandlung ==
Die Möglichkeiten der Nierenersatztherapie sind bei Katzen stark eingeschränkt, da Nierentransplantationen oder Hämodialyse in der Tiermedizin aufgrund des hohen apparativen, logistischen und finanziellen Aufwands nur in Ausnahmefällen durchgeführt werden. Ziel ist es daher, eine chronische Nierenerkrankung in einem möglichst frühen Stadium zu erkennen, in dem die Niere noch ausreichend Reservekapazität hat. Gleichzeitig wird versucht, über diätetische Maßnahmen die Menge der harnpflichtigen Stoffe – vor allem Stickstoffverbindungen und Phosphat – in der Nahrung zu reduzieren. Schließlich müssen Stoffwechselentgleisungen und Folgeerscheinungen abgepuffert werden. Ab einem Plasmakreatininspiegel von 7 mg/dl (618,8 µmol/l) ist die medikamentöse Therapie jedoch wenig erfolgversprechend.
=== Diätetische Maßnahmen ===
Ein Problem der diätetischen Therapie mit phosphat- und proteinreduzierten Diäten ist ihre meist geringe Schmackhaftigkeit. Zudem haben nierenkranke Katzen kaum Appetit und die Gewöhnung an ein neues Futter ist aufgrund der negativen Prägung – die Katze verbindet das eigene körperliche Unwohlsein mit dem neuen Futter – zusätzlich erschwert. Durch den Eiweißverlust über den Harn entsteht darüber hinaus eine negative Stickstoffbilanz, die ebenfalls den Appetit reduziert. Schließlich zeigen betroffene Tiere häufig Magen-Darm-Kanal-Probleme. In einer klinischen Studie von Elliott et al. konnten 34 % der Katzen nicht auf die Nierendiät umgestellt werden und bei Plantinga et al. waren es sogar 54 %. Es kann versucht werden, die Akzeptanz des Futters durch Erwärmen oder durch schmackhafte Zusätze wie Thunfischsaft oder Sardinen zu erhöhen. Es wird daher empfohlen, die Futterumstellung erst nach Beseitigung der Urämie zu beginnen und durch allmähliches Zumischen über drei Wochen zu strecken, um eine Futteraversion zu vermeiden. Mit Sorbentien wie Aktivkohle oder mit Probiotika kann versucht werden, die Entstehung urämischer Substanzen im Magen-Darm-Kanal zu vermindern. Eventuell können zur Steigerung des Appetits kurzzeitig Cyproheptadin oder Mirtazapin eingesetzt werden; wenn diese Maßnahmen nicht fruchten, ist eine Zwangsernährung über eine Speiseröhren- oder Magensonde erforderlich.
==== Phosphatreduktion ====
Ein wesentliches Ziel beim Management der chronischen Nierenerkrankung der Katze besteht darin, die Aufnahme von Nahrungsphosphat frühzeitig im Verlauf der Krankheit zu reduzieren. Als Faustregel kann eine Reduktion des Phosphatgehaltes auf 170 mg/MJ UE (Megajoule Umsetzbare Energie, siehe auch Physiologischer Brennwert), also auf zwei Drittel des Erhaltungsbedarfs, gelten. Handelsübliches Katzenfutter enthält in der Regel das Doppelte des Erhaltungsbedarfs, sollte also nicht mit dem Diätfutter gemischt werden. Sind die Phosphatwerte im Plasma weiterhin erhöht, kann die Aufnahme im Darm durch den Einsatz von Calciumsalzen und Phosphatbindern wie Aluminiumhydroxid, Aluminiumcarbonat oder Lanthancarbonat reduziert werden. Calciumcarbonat kann im Anfangsstadium den Calciummangel ausgleichen, in fortgeschrittenen Stadien aber zu einer Hyperkalzämie führen.
In mehreren Studien wurde festgestellt, dass eine Reduktion des Phosphates in der Nahrung ausreicht, um das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen. Kommt es unter der Phosphatreduktion zu einer weiteren Verschlechterung des Allgemeinzustandes, ist auch ein Phosphatmangel in Erwägung zu ziehen. Dieser äußert sich ähnlich wie die chronische Nierenerkrankung: Struppiges Haarkleid, Appetitlosigkeit, Schwäche, Abgeschlagenheit und Blutarmut. Zur Behandlung der sekundären Nebenschilddrüsenüberfunktion kann auch Calcitriol eingesetzt werden, allerdings nur unter Kontrolle der Parathormon- und Calciumspiegel.
==== Eiweißreduktion ====
Zur Bekämpfung der Urämie kann der Proteinanteil im Futter und damit die dem Körper zugeführte Stickstoffmenge gesenkt werden. Dies ist bei Katzen aber nur bedingt möglich, da ihr Energiehaushalt auf Eiweiß angewiesen ist (siehe oben). Der Proteingehalt sollte auf den Erhaltungsbedarf von 15 g verdauliches Rohprotein je MJ UE eingestellt und nie unter 11 g/MJ UE gesenkt werden, wobei zu beachten ist, dass die auf Futtermitteln deklarierte Proteinmenge mit dem Faktor 0,86 multipliziert werden muss, um das verdauliche Rohprotein zu erhalten. Hochwertiges tierisches Eiweiß reduziert außerdem die Menge der in den Dickdarm gelangenden Stickstoffverbindungen und somit die Menge des durch bakterielle Abbauprozesse durch die Darmflora entstehenden Ammoniaks.
=== Behandlung der Begleiterscheinungen ===
==== Austrocknung ====
Zur Bekämpfung der Austrocknung sollte ausreichend frisches Trinkwasser bereitgestellt werden. Auch hier kann versucht werden, durch Zusatz von Fleischbrühe oder Thunfischsaft die freiwillige Wasseraufnahme durch die Katze zu erhöhen. Sollten diese Maßnahmen nicht fruchten, ist ab dem Stadium III die Flüssigkeitsgabe steriler Infusionslösungen unter die Haut oder über eine Ernährungssonde angezeigt.
==== Metabolische Azidose und Kalium ====
Der Bikarbonatgehalt sollte idealerweise zwischen 17 und 22 mEq/l liegen. Zur Abpufferung werden Natriumbikarbonat oder Kaliumcitrat verabreicht, wobei letzteres gleichzeitig einen eventuell bestehenden Kaliummangel ausgleicht. Eine kalium- und magnesiumreiche Diät ist empfehlenswert und in den meisten kommerziellen Nierendiäten bereits realisiert. Auch Kaliumgluconat kann zum Ausgleich eines Kaliummangels eingesetzt werden, Kaliumchlorid wird dagegen von Katzen meist schlecht akzeptiert und verursacht häufig Störungen im Magen-Darm-Kanal. Es muss beachtet werden, dass durch die Einschränkung der Nierenausscheidung im Stadium IV, durch ACE-Hemmer oder durch einen Aldosteronmangel infolge Reninmangels auch eine Hyperkaliämie entstehen kann, weshalb die Kaliumwerte regelmäßig kontrolliert werden müssen und unter Umständen auch eine kaliumarme Diät eingesetzt werden muss.
==== Bluthochdruck ====
Über 60 % der nierenkranken Katzen entwickeln einen Bluthochdruck. Zur Behandlung werden vor allem Amlodipin oder Atenolol eingesetzt. Reicht die blutdrucksenkende Wirkung dieser Wirkstoffe nicht aus, kann zusätzlich ein ACE-Hemmer wie Benazepril, Enalapril oder Ramipril verabreicht werden. Die alleinige Verabreichung eines ACE-Hemmers führt meist nicht zu einer ausreichenden Blutdrucksenkung, kann aber bis zum Stadium III das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen. Im Stadium IV gelten ACE-Hemmer als relativ kontraindiziert. Von diesen Wirkstoffen sind in Deutschland derzeit Benazepril und Ramipril für Katzen zugelassen, alle anderen müssen umgewidmet werden. Seit 2014 ist auch der AT1-Antagonist Telmisartan zur Behandlung des Bluthochdrucks und der Proteinurie für Katzen zugelassen. Telmisartan kann das Ausmaß der Proteinurie signifikant reduzieren. Diätetisch kann mittels einer Reduzierung des Natriumgehalts des Futtermittels die Neigung zum Bluthochdruck reduziert werden.
==== Blutarmut ====
Zur Bekämpfung einer Blutarmut ist vor allem ein Eisenzusatz zum Futter in Form organischer Eisenverbindungen oder Eisensulfat sinnvoll. Der Eisengehalt im Futter sollte etwas über dem Erhaltungsbedarf von 5 mg/MJ UE liegen. Sinkt der Hämatokrit dennoch, sind Bluttransfusionen angezeigt. Anabole Steroide zur Erhöhung der Blutneubildung wirken bei Katzen nur langsam, ihr Nutzen ist fraglich. Rekombinantes menschliches Erythropoetin kann ab einem Hämatokrit < 20 % angezeigt sein. Die Behandlung ist allerdings kostspielig und etwa ein Drittel aller Katzen bildet Antikörper gegen diesen Wirkstoff, was eine nicht mehr therapierbare Blutarmut zur Folge hat. Mit Darbepoetin ist das Risiko der Antikörperbildung offenbar deutlich geringer, es hat zudem eine längere Plasmahalbwertszeit und wirkt potenter.
==== Magen-Darm-Kanal ====
Sekundärfolgen der Urämie auf den Magen-Darm-Kanal sind bei Katzen vor allem eine Fibrose und Mineralisierung der Magenschleimhaut, jedoch keine Magengeschwüre, so dass die lange zur Therapie empfohlenen Magensäureblocker wie Omeprazol kritisch überdacht werden müssen. Zur Appetitanregung und Verminderung der urämisch bedingten Übelkeit hat sich Mirtazapin bewährt.
=== Nierentransplantation ===
Eine Nierentransplantation ist nur in wenigen spezialisierten Einrichtungen möglich und kostenintensiv. Grundvoraussetzungen sind eine dekompensierte Niereninsuffizienz im Frühstadium, die auf konventionelle Behandlung nicht mehr anspricht, ein vorheriger Gewichtsverlust von maximal 20 %, das Fehlen ernsthafter Begleiterkrankungen sowie negative Tests auf chronische Virusinfektionen wie Katzenleukämie oder das Immundefizienzsyndrom der Katzen. Auch Harnwegsinfekte sollten in der jüngeren Vergangenheit nicht aufgetreten sein.
== Wechselwirkungen mit anderen Behandlungen ==
Da die Niere ein wichtiges Ausscheidungsorgan auch für zahlreiche Arzneistoffe ist, muss eine chronische Nierenerkrankung bei der Arzneimitteltherapie anderer Krankheiten berücksichtigt werden. So kann die Plasmahalbwertszeit deutlich verlängert sein (beispielsweise bei zahlreichen Antibiotika) und es muss eine entsprechende Verminderung der Dosis vorgenommen werden. Zu den Wirkstoffen, die bei nierenkranken Katzen nur mit Vorsicht verabreicht werden können, gehören Atenolol, Carbimazol, Chlorthiazid, Digoxin und Thiamazol.
== Behandlungsaussicht ==
Eine Wiederherstellung untergegangener Nephrone ist nicht möglich, so dass alle therapeutischen Maßnahmen lediglich eine Erhöhung der Lebensqualität und der Lebensdauer bewirken. Die Behandlungsaussicht ist stark vom Grad der Azotämie, des Proteinverlusts über den Harn, der Hyperphosphatämie und der Urämie sowie vom Hämatokrit abhängig. Im Stadium 2 sind ein niedriger Hämatokrit und ein hohes Urin-Protein-Kreatinin-Verhältnis, im Stadium 3 eine Hyperphosphatämie prognostisch für ein Fortschreiten der CNE. Die mittlere Überlebenszeit betrug in einer aktuellen Studie bei Katzen im Stadium IIb 1151, im Stadium III 778 und im Stadium IV lediglich 103 Tage. Der konsequente Einsatz phosphatreduzierter Nierendiäten zeigt bis zum Stadium III recht gute Erfolge. Sprechen die eingeleiteten Maßnahmen nicht an, bleibt bei einer fortgeschrittenen Nierenerkrankung oftmals nur die Einschläferung.
== Literatur ==
Sarah Steinbach und Reto Neiger: Chronische Nierenerkrankung: In: Hans Lutz et al. (Hrsg.): Krankheiten der Katze. Enke, 5. Aufl. 2014, ISBN 978-3-8304-1243-4, S. 751–755.
Gregory F. Grauer: Chronic renal failure. In: R. W. Nelson und C. G. Couto (Hrsg.): Small animal internal medicine. Mosby, 3. Auflage 2003, ISBN 0-323-01724-X, S. 615–623.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chronische_Nierenerkrankung_der_Katze
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Geschichte des Strahlenschutzes
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= Geschichte des Strahlenschutzes =
Die Geschichte des Strahlenschutzes beginnt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit der Erkenntnis, dass ionisierende Strahlung aus natürlichen und künstlichen Strahlenquellen eine schädigende Wirkung auf lebende Organismen haben kann. Sie ist damit auch die Geschichte der Strahlenschädigungen.
Nachdem in der Anfangszeit der Umgang mit radioaktiven Substanzen beziehungsweise Röntgenstrahlung leichtfertig erfolgte, mündete das zunehmende Bewusstsein über die Gefahren von Strahlung im Laufe des 20. Jahrhunderts weltweit in verschiedene Präventivmaßnahmen, die zu entsprechenden Bestimmungen des Strahlenschutzes führten. Die ersten Opfer waren die Radiologen, die als „Märtyrer“ des radiologischen Fortschritts in die Medizingeschichte eingingen. Viele von ihnen mussten wegen Strahlenschäden Amputationen erleiden oder verstarben an Krebserkrankungen. Die Anwendungen von radioaktiven Substanzen im Alltag galten als „chic“. Nach und nach wurden die gesundheitlichen Auswirkungen bekannt, ihre Ursachen ergründet und das Bewusstsein für Schutzmaßnahmen geschärft. Eine einschneidende Veränderung erfolgte nach den Atombombenabwürfen im Zweiten Weltkrieg. Zunehmend erkannte man auch die Folgen der natürlichen „kosmischen Strahlung“, die Auswirkungen von in der Umwelt vorkommenden radioaktiven Substanzen wie Radon und Radium sowie die möglichen Gesundheitsschädigungen durch nicht ionisierende Strahlung. Weltweit wurden Schutzmaßnahmen erarbeitet und eingeführt, Geräte zur Überwachung entwickelt sowie Gesetze und Strahlenschutzbestimmungen erlassen.
Im 21. Jahrhundert unterliegen die Bestimmungen einer zunehmenden Verschärfung. Insbesondere die zulässigen Grenzwerte für die Stärke ionisierender Strahlung erfahren weitere Korrekturen hin zu kleineren Werten. Auch der Begriff des Strahlenschutzes wird weiter gefasst, er enthält nunmehr auch Vorschriften zum Umgang mit nichtionisierender Strahlung.
In der Bundesrepublik Deutschland werden Strahlenschutzbestimmungen durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) erarbeitet und erlassen. Das Bundesamt für Strahlenschutz arbeitet fachlich mit. In der Schweiz ist die Abteilung Strahlenschutz des Bundesamts für Gesundheit und in Österreich das Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie zuständig.
== Röntgenstrahlen ==
=== Erste Strahlenfolgen ===
Die Entdeckung von Röntgenstrahlen durch Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923) im Jahr 1895 führte zu ausgedehnten Experimenten von Wissenschaftlern, Ärzten und Erfindern. Die ersten Röntgenapparate erzeugten für die Bildgebung höchst ungünstige Strahlungsspektren mit extrem hoher Hautdosis. Im Februar 1896 führten John Daniel und William Lofland Dudley (1859–1914) von der Vanderbilt University ein Experiment durch, bei dem Dudleys Kopf durchleuchtet wurde, was zum Haarausfall führte. Herbert D. Hawks, ein Absolvent der Columbia University, erlitt schwere Hand- und Brustverbrennungen bei Röntgen-Demonstrationsexperimenten. Es wurde in Fachzeitschriften über Verbrennungen und Haarausfall berichtet. So warnte Nikola Tesla (1856–1943) als einer der ersten Forscher im Electrical Review am 5. Mai 1897 ganz ausdrücklich vor dem Gefahrenpotenzial der Röntgenstrahlen – nachdem er ihnen anfangs noch absolute Unbedenklichkeit zugeschrieben hatte. Er musste selbst massive Strahlenschäden nach seinen Testversuchen am eigenen Leib erfahren. Trotzdem behaupteten zu dieser Zeit noch manche Ärzte, dass Röntgenstrahlung gar keine Wirkungen auf den Menschen habe. Es wurden noch bis in die 1940er Jahre Röntgen-Einrichtungen ohne jede Schutzvorkehrung betrieben.Röntgen selbst wurde das Schicksal der anderen Röntgenstrahlenanwender durch eine Angewohnheit erspart. Er trug die unbelichteten Photoplatten ständig in seinen Taschen mit sich herum und stellte fest, dass diese belichtet wurden, wenn er während der Strahlenexposition im selben Raum blieb. So verließ er regelmäßig das Zimmer bei der Anfertigung von Röntgenaufnahmen.
Die Anwendung der Röntgenstrahlen bei der Diagnose in der Zahnheilkunde wurde durch die Pionierarbeit von C. Edmund Kells (1856–1928), einem Zahnarzt aus New Orleans, ermöglicht, der diese bereits im Juli 1896 vor Zahnärzten in Asheville (North Carolina) vorführte. Kells verübte Suizid nach einer langen Leidensgeschichte durch strahlenverursachten Krebs. Ihm war ein Finger nach dem anderen amputiert worden, später die ganze Hand, gefolgt vom Unterarm und dann dem ganzen Arm.
Otto Walkhoff (1860–1934), einer der bedeutendsten deutschen Zahnärzte der Geschichte, führte ebenfalls im Jahr 1896 Röntgenaufnahmen im Selbstversuch durch und gilt als Pionier der zahnärztlichen Röntgenologie. Er bezeichnete die notwendige Expositionszeit von 25 Minuten „als eine Tortur“. Die Braunschweiger Ärzteschaft beauftragte ihn später mit der Einrichtung und Betreuung einer zentralen Röntgenstation. Er erprobte ebenso im Selbstversuch 1898 – demnach im Jahr der Entdeckung des Radiums – den Radiumeinsatz in der Medizin unter Anwendung einer heute unvorstellbaren Menge von 0,2 g Radiumbromid. Walkhoff beobachtete, dass krebskranke Mäuse, die einer Radiumstrahlung ausgesetzt wurden, signifikant später starben als eine Vergleichsgruppe unbehandelter Mäuse. Er leitete damit die Entwicklung der Strahlenforschung zur Behandlung von Tumoren ein.Der armenisch-amerikanische Radiologe Mihran Krikor Kassabian (1870–1910), Vizepräsident der American Roentgen Ray Society (ARRS), befasste sich mit den Reizwirkungen von Röntgenstrahlen. In einer Veröffentlichung erwähnte er die zunehmenden Probleme mit seinen Händen. Obwohl Kassabian die Röntgenstrahlen als Ursache erkannte, vermied er es, diesen Bezug herzustellen, um den Fortschritt in der Radiologie nicht zu behindern. 1902 erlitt er eine schwere Strahlenverbrennung an der Hand. Sechs Jahre später wurde die Hand nekrotisch und zwei Finger seiner linken Hand wurden amputiert. Kassabian führte ein Tagebuch und fotografierte seine Hände, als die Gewebeschäden voranschritten. Er starb 1910 an den Krebsfolgen.Viele der frühen Röntgen- und Radioaktivitätsforscher gingen als „Märtyrer für die Wissenschaft“ in die Geschichte ein. Sarah Zobel von der University of Vermont verweist in ihrem Artikel The Miracle and the Martyrs (deutsch Das Wunder und die Märtyrer) auf ein Bankett, das zu Ehren vieler Pioniere des Röntgens im Jahre 1920 abgehalten wurde. Es gab Huhn zum Abendessen: „Kurz nachdem das Essen serviert war, konnte man sehen, dass einige der Teilnehmer nicht in der Lage waren, die Mahlzeit zu genießen. Nach Jahren der Arbeit mit Röntgenstrahlen hatten viele Teilnehmer Finger oder Hände wegen der Strahlenexposition verloren und konnten das Fleisch nicht selbst schneiden.“ Der erste Amerikaner, der wegen der Strahlenexposition starb, war Clarence Madison Dally (1845–1904), Assistent von Thomas Alva Edison (1847–1931). Edison begann Röntgenstrahlen fast unmittelbar nach Röntgens Entdeckung zu untersuchen und delegierte diese Aufgabe an Dally. Im Laufe der Zeit musste Dally sich auf Grund der Strahlenschäden über 100 Hautoperationen unterziehen. Schließlich mussten ihm beide Arme amputiert werden. Sein Tod veranlasste Edison im Jahr 1904 jegliche weitere Röntgenforschung aufzugeben.
Zu den Pionieren zählte auch der Österreicher Gustav Kaiser (1871–1954), dem 1896 die Aufnahme einer Doppelzehe mit 1½–2 Stunden Belichtungszeit gelang. Auch er hatte aufgrund des noch geringen Wissens ausgeprägte Strahlenschäden an den Händen und verlor mehrere Finger und die rechte Mittelhand. Seine Arbeiten waren unter anderem Grundlage für die Konstruktion von Bleigummischürzen. Heinrich Albers-Schönberg (1865–1921), der erste Lehrstuhlinhaber für Röntgenkunde weltweit, empfahl 1903 den Gonadenschutz für Hoden und Ovarien. Er war damit einer der ersten, der die Keimzellen nicht nur vor akuten Strahlenschäden schützte, sondern auch vor kleinen Strahlendosen, die mit der Zeit kumulieren und Spätschäden auslösen können. Albers-Schönberg starb 56-jährig an den Folgen von Röntgenschädigungen, ebenso wie auch Guido Holzknecht und Elizabeth Fleischman.
Ein Ehrenmal der Radiologie im Garten des Krankenhauses St. Georg in Hamburg-St. Georg erinnert seit dem 4. April 1936 an 359 Opfer aus 23 Ländern unter den ersten medizinischen Anwendern der Röntgenstrahlung.
=== Erste Warnungen ===
Im Jahr 1896 empfahl der Ingenieur Wolfram Fuchs aufgrund seiner Erfahrungen mit zahlreichen Röntgenuntersuchungen, die Strahlzeit möglichst kurz zu halten, von der Röhre Abstand zu halten und die Haut mit Vaseline abzudecken – dies war weltweit die erste derartige Veröffentlichung. Die Chicagoer Ärzte William Fuchs und Otto Schmidt waren 1897 die ersten Anwender, die einem Patienten wegen Strahlenschäden Schadensersatz leisten mussten.Der Zahnarzt William Herbert Rollins (1852–1929) forderte im Jahr 1901, dass bei der Arbeit mit Röntgenstrahlen Schutzbrillen mit Bleiglas getragen werden sollten, die Röntgenröhre mit Blei zu umschließen sei und alle Bereiche des Körpers mit Bleischürzen bedeckt sein müssten. Er veröffentlichte über 200 Artikel über die möglichen Gefahren der Röntgenstrahlen, jedoch wurden seine Vorschläge lange Zeit ignoriert. Ein Jahr später schrieb Rollins voller Verzweiflung, dass seine Warnungen über die mit Röntgenstrahlen verbundenen Gefahren sowohl von der Industrie als auch von seinen Kollegen nicht beachtet würden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Rollins bereits nachgewiesen, dass Röntgenstrahlen Versuchstiere töten können und Fehlgeburten bei Meerschweinchen verursachen. Rollins Verdienste wurden erst spät anerkannt. Seitdem ging er als „Vater des Strahlenschutzes“ in die Geschichte der Radiologie ein. Er wurde Mitglied der Radiological Society of North America und ihr erster Schatzmeister.Der Strahlenschutz entwickelte sich weiter durch die Erfindung neuer Messgeräte wie des Chromoradiometers von Guido Holzknecht (1872–1931) im Jahr 1902, des Radiometers von Raymond Sabouraud (1864–1938) und Henri Noiré (1878–1937) in den Jahren 1904/05 sowie des Quantimeters von Robert Kienböck (1873–1951) im Jahr 1905. Damit konnten Maximaldosen angegeben werden, bei denen mit größter Wahrscheinlichkeit noch keine Hautveränderungen auftraten. Auch Radium wurde durch die British Roentgen Society einbezogen, die 1921 ein erstes Memorandum veröffentlichte, das speziell auf Radiumschutz ausgerichtet war.
=== Unbedarfte Anwendungen ===
==== Pedoskop ====
In vielen Schuhgeschäften in Nordamerika und Europa wurden seit den 1920er Jahren Pedoskope aufgestellt, allein in den USA mehr als 10.000, erfunden von Jacob Lowe, einem Physiker aus Boston. Es handelte sich um Röntgengeräte zur Überprüfung der Passform von Schuhen, die der Verkaufsförderung beim Schuhkauf, insbesondere für Kinder, dienten. Kinder waren besonders vom Anblick ihrer Fußknochen fasziniert. Die Durchleuchtung geschah oft mehrmals nacheinander an einem Tag, um verschiedene Schuhe hinsichtlich ihrer Passform zu beurteilen. Die Geräte standen größtenteils bis Anfang der 1970er Jahre in den Schuhgeschäften. Die vom Kunden absorbierte Energiedosis betrug bis zu 116 Rad, was 1,16 Gray entspricht. In den 1950er Jahren, als bereits medizinische Erkenntnisse über die gesundheitlichen Gefahren vorlagen, wurden Warnhinweise an den Pedoskopen angebracht, wonach Schuhkäufer sich nicht öfter als drei Mal pro Tag und zwölf Mal pro Jahr durchleuchten lassen sollten.Bis zum Beginn der 1950er Jahre gaben eine Reihe von Berufsorganisationen Warnungen vor der fortgesetzten Verwendung von schuhanpassenden Fluoroskopen aus, beispielsweise die American Conference of Governmental Industrial Hygienists, das American College of Surgeons, die New York Academy of Medicine und das American College of Radiology. Gleichzeitig erließ der District of Columbia Vorschriften, nach denen Fluoroskope für Schuhe nur von einem zugelassenen Physiotherapeuten bedient werden durften. Ein paar Jahre später verabschiedete der Staat Massachusetts entsprechende Vorschriften, wonach diese Maschinen nur von einem lizenzierten Arzt betrieben werden durften. Im Jahr 1957 wurde in Pennsylvania per Gerichtsbeschluss der Einsatz von Schuhanpassungs-Fluoroskopen verboten. Bis 1960 führten diese Maßnahmen und der Druck von Versicherungsgesellschaften zumindest in den USA zum Verschwinden des Schuhanpassungs-Fluoroskops.In der Schweiz waren 1500, ab 1963 noch etwa 850 Schuhdurchleuchtungsapparate in Betrieb, die auf Grund einer Verordnung des Eidgenössischen Departements des Inneren vom 7. Oktober 1963 durch den schweizerischen elektrotechnischen Verein kontrolliert werden mussten. Der letzte wurde erst 1990 stillgelegt.In Deutschland erging ein Verbot der Geräte erst im Jahr 1976. Die Kinder, Eltern und das Verkaufspersonal waren unkontrolliert der Röntgenstrahlung während der Durchleuchtung (keine Röntgenaufnahme, sondern Dauerbetrieb) ausgesetzt, die so lange andauerte, wie der Einschaltknopf gedrückt wurde. Die Röntgenstrahlen konnten zudem ungehindert durch die reine Holzverkleidung des Geräts hindurchtreten. Stand das Pedoskop in der Nähe der Kasse, war die Kassiererin einer besonders hohen, weil kumulierten Strahlenexposition ausgesetzt. Die Langzeitfolgen von Röntgenstrahlen, sowohl was genetische Schäden als auch die Kanzerogenität angeht, sind heutzutage bekannt. Inwieweit der weltweite Einsatz der Pedoskope über Jahrzehnte hinweg für gesundheitliche Konsequenzen kausal war, ist jedoch nicht konkret nachweisbar. Etwa beim Basalzellkarzinom am Fuß wird ein unmittelbarer Zusammenhang diskutiert. 1950 wurde ein Fall publiziert, bei dem einem Model für Schuhe deshalb ein Bein amputiert werden musste.
==== Strahlentherapie ====
Im Jahr 1896 verwendete der Wiener Hautarzt Leopold Freund (1868–1943) die Röntgenstrahlung erstmals für eine Krankenbehandlung. Er bestrahlte mit Erfolg den behaarten Naevus eines jungen Mädchens. 1897 veröffentlichte Hermann Gocht (1869–1931) die Strahlenbehandlung bei Trigeminusneuralgie, und Alexei Petrowitsch Sokolow (1854–1928) schrieb in der ältesten röntgenologischen Fachzeitschrift Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen (RöFo) über die Strahlentherapie bei Arthritis (Gelenkentzündung). 1922 wurde die Behandlung mit Röntgenstrahlung für zahlreiche Erkrankungen und zur Diagnostik als sicher empfohlen. Der Strahlenschutz beschränkte sich darauf, Dosisempfehlungen abzugeben, die vor allem keine Erytheme (Hautrötungen) erzeugen sollten. Beispielsweise wurde die Röntgenbestrahlung als Alternative zur Tonsillektomie (Mandelentfernung) propagiert. Ebenso wurde gerühmt, dass dadurch in 80 % der Fälle bei Diphtherieüberträgern innerhalb von zwei bis vier Tagen das Corynebacterium diphtheriae nicht mehr nachweisbar war. Der Freiburger Radiologe Günther von Pannewitz (1900–1966) perfektionierte die von ihm so genannte Röntgenreizbestrahlung bei degenerativen Erkrankungen in den 1930er Jahren. Schwach dosierte Strahlung vermindert die Entzündungsreaktion des Gewebes. Bis etwa 1960 wurden deshalb Erkrankungen wie der Morbus Bechterew oder Favus (Kopfpilz) auch bei Kindern bestrahlt, was wirksam war, aber Jahrzehnte später erhöhte Krebsraten unter den Patienten zur Folge hatte. Der US-amerikanische Pathologe James Ewing (1866–1943) beobachtete 1926 als Erster Knochenveränderungen infolge einer Strahlentherapie, die er als radiation osteitis bezeichnete (heute Osteoradionekrose). 1983 stellte Robert E. Marx fest, dass die Osteoradionekrose eine strahleninduzierte aseptische Knochennekrose ist. Den akuten und chronischen Entzündungsprozessen einer Osteoradionekrose wird mit der Gabe von steroidalen Entzündungshemmern vorgebeugt. Darüber hinaus werden die Verabreichung von Pentoxifyllin und eine antioxidative Behandlung, beispielsweise mit Superoxiddismutase und Tocopherol (Vitamin E), empfohlen.
== Strahlenschutz bei Röntgenuntersuchungen ==
=== Vorbemerkung ===
Die Sonografie (Ultraschalldiagnostik) ist ein vielseitig und häufig eingesetztes bildgebendes Verfahren in der medizinischen Diagnostik. Ultraschall wird auch in der Therapie eingesetzt. Dabei werden jedoch mechanische Wellen und keine ionisierende oder nichtionisierende Strahlung eingesetzt. Die Sicherheit des Patienten ist gewährleistet, wenn empfohlene Grenzwerte zur Vermeidung von Kavitation und Überwärmung eingehalten werden, siehe auch Sicherheitsaspekte der Sonografie.
Auch im Fall von mit magnetischen Wechselfeldern im Radiofrequenzbereich arbeitenden Geräten wie der Magnetresonanztomographie (MRT) wird keine ionisierende Strahlung eingesetzt. 1973 wurde das MRT als bildgebendes Verfahren von Paul Christian Lauterbur (1929–2007) mit wesentlichen Beiträgen von Sir Peter Mansfield (1933–2017) entwickelt. Hier besteht die Möglichkeit, dass Schmuck oder Piercings sich stark erhitzen; zum anderen wird eine hohe Zugkraft auf den Schmuck ausgeübt, was im schlimmsten Fall zum Ausreißen führen kann. Um Schmerzen und Verletzungen zu vermeiden, soll der Schmuck vorher entfernt werden, sofern dieser ferromagnetisches Metall enthält. Herzschrittmacher, Defibrillator-Systeme und große Tätowierungen im Untersuchungsgebiet, die metallhaltige Farbpigmente enthalten, können sich erwärmen beziehungsweise Hautverbrennungen bis II. Grades hervorrufen oder zum Funktionsausfall der Implantate führen.
Die photoakustische Tomografie (PAT) ist ein hybrides bildgebendes Verfahren, welches den photoakustischen Effekt ausnutzt und ebenfalls keine ionisierende Strahlung verwendet. Sie arbeitet berührungslos mit sehr schnellen Laserpulsen, die im zu untersuchenden Gewebe Ultraschall erzeugen. Die lokale Absorption des Lichts führt zur schlagartigen lokalen Erwärmung und zu daraus resultierender thermischen Expansion. Dadurch werden schließlich breitbandige akustische Wellen erzeugt. Durch Messung der ausgehenden Ultraschallwellen mit entsprechenden Ultraschallwandlern kann die ursprüngliche Verteilung der absorbierten Energie rekonstruiert werden.
=== Erfassung der Strahlenbelastung ===
Um den Strahlenschutz besser abzuschätzen, wird in Deutschland die Anzahl der Röntgenuntersuchungen einschließlich der Dosis seit 2007 jährlich erfasst. Für konventionelle Röntgenuntersuchungen liegen jedoch keine vollständigen Daten des statistischen Bundesamtes vor. Für das Jahr 2014 wurde für Deutschland eine Gesamtzahl von etwa 135 Millionen Röntgenuntersuchungen abgeschätzt, davon im zahnmedizinischen Bereich etwa 55 Millionen Röntgenuntersuchungen. Die mittlere effektive Dosis aus Röntgenuntersuchungen pro Einwohner in Deutschland beläuft sich für das Jahr 2014 auf circa 1,55 mSv (etwa 1,7 Röntgenuntersuchungen pro Einwohner und Jahr). Der Anteil an zahnärztlichen Röntgenaufnahmen beträgt 41 %, aber macht nur 0,4 % der kollektiven effektiven Dosis aus.In Deutschland schrieb die Röntgenverordnung (RöV) seit 2002 im § 28 vor, dass der behandelnde Arzt bei Röntgenuntersuchungen Röntgenpässe bereitzuhalten und der untersuchten Person anzubieten hat. Dort wurden Informationen zu den Röntgenuntersuchungen des Patienten eingetragen, um unnötige Wiederholungsuntersuchungen zu vermeiden und um Vergleichsmöglichkeiten mit vorherigen Aufnahmen zu haben. Mit dem Inkrafttreten der neuen Strahlenschutzverordnung am 31. Dezember 2018 ist diese Pflicht entfallen. In Österreich und der Schweiz gibt es Röntgenpässe bisher nur auf freiwilliger Basis. Grundsätzlich muss immer sowohl eine rechtfertigende Indikation zur Anwendung von Röntgenstrahlen gegeben sein als auch eine informierte Einwilligung (englisch Informed consent) des Patienten vorliegen. Die Informierte Einwilligung bezeichnet im Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung die von Information und Aufklärung getragene Einwilligung des Patienten in alle Arten von Eingriffen und andere medizinische Maßnahmen (§ 630d BGB).
=== Strahlenreduktion ===
Im Laufe der Jahre wurden zunehmend Anstrengungen unternommen, die Strahlenbelastung von Therapeuten und Patienten zu reduzieren.
==== Strahlenschutzkleidung ====
Nach der Erkenntnis von Rollins 1920, dass Bleischürzen vor Röntgenstrahlung schützen, wurden Bleischürzen mit einer Bleistärke von 0,5 mm eingeführt. Auf Grund des hohen Gewichts wurden in der Folge bleifreie oder bleireduzierte Schürzen entwickelt. 2005 wurde erkannt, dass der Schutz teilweise erheblich geringer war als beim Tragen von Bleischürzen. Die bleifreien Schürzen enthalten Zinn, Antimon und Barium, die die Eigenschaft besitzen, bei Bestrahlung eine intensive Eigenstrahlung (Röntgenfluoreszenz-Strahlung) zu entwickeln. In Deutschland hat der Normenausschuss Radiologie das Thema aufgegriffen und 2009 eine Deutsche Norm (DIN 6857–1) eingeführt. 2014 wurde schließlich der internationale Standard IEC 61331-3:2014 erlassen. Schutzschürzen, die nicht der DIN 6857–1 von 2009 oder der neuen IEC 61331–1 von 2014 entsprechen, können zu höheren Expositionen führen. Grundsätzlich gibt es die beiden Bleiäquivalenzklassen 0,25 mm und 0,35 mm. Vom Hersteller ist das flächenbezogene Gewicht in kg/m² anzugeben, bei welchem die Schutzwirkung einer Reinbleischürze von 0,25 beziehungsweise 0,35 mm Pb erreicht wird. Die Schutzwirkung einer Schürze muss für den verwendeten Energiebereich geeignet sein, bei Niederenergieschürzen bis 110 kV und bei Hochenergieschürzen bis 150 kV.Gegebenenfalls müssen auch Bleiglasbrillen verwendet werden, wobei Frontgläser je nach Anwendung einen Bleigleichwert von 0,5–1,0 mm Blei aufweisen sollen, mit einem Bleigleichwert für den Seitenschutz von 0,5–0,75 mm Blei.
Außerhalb des Nutzstrahlbündels entsteht die Strahlenbelastung hauptsächlich aus der Streustrahlung des durchleuchteten Gewebes. Bei Untersuchungen des Kopfes und des Torsos kann sich diese Streustrahlung im Körperinneren ausbreiten und lässt sich kaum durch Strahlenschutzkleidung abschirmen. Die Befürchtung, dass eine Bleischürze die Strahlung am Verlassen des Körpers hindert, ist jedoch unbegründet, da Blei die Strahlung stark absorbiert und kaum streut.Für das Anfertigen eines Orthopantomogramms (OPG) für eine zahnärztliche Übersichtsaufnahme wird teilweise der Verzicht auf eine Bleischürze empfohlen, da diese die Streustrahlung aus dem Kieferbereich kaum abschirmt, aber evtl. die Drehbewegung des Aufnahmegeräts behindern kann. Gemäß der im Jahre 2018 gültigen Röntgenverordnung ist jedoch nach wie vor das Tragen einer Bleischürze bei der Anfertigung eines OPGs vorgeschrieben.
==== Röntgenverstärkerfolien ====
Im gleichen Jahr der Entdeckung der Röntgenstrahlung erfand Mihajlo Idvorski Pupin (1858–1935) die Methode, ein mit fluoreszierenden Substanzen beschichtetes Blatt Papier auf die fotografische Platte zu legen, und so die notwendige Belichtungszeit und damit die Strahlenbelastung drastisch zu senken. Eine Schwärzung des Filmes erfolgte zu 95 % durch die Verstärkerfolien und nur die restlichen 5 % wurden direkt durch die Röntgenstrahlen geschwärzt. Thomas Alva Edison identifizierte das blau leuchtende Calciumwolframat (CaWO4) als geeigneten Leuchtstoff, der schnell zum Standard für Röntgenverstärkerfolien wurde. In den 1970er Jahren wurde das Calciumwolframat durch noch besser verstärkende und feiner zeichnende Verstärkerfolien mit Leuchtstoffen (Terbium-aktiviertes Lanthanoxybromid, Gadoliniumoxysulfid) auf der Basis von Seltenen Erden abgelöst. Die Verwendung von Verstärkerfolien bei der Anfertigung von Zahnfilmen hat sich wegen Einbußen in der Bildqualität nicht durchgesetzt. Die Kombination mit hochempfindlichen Filmen reduzierte die Strahlenbelastung noch weiter.
==== Streustrahlenraster ====
Ein Streustrahlenraster (englisch Potter-Bucky grid) ist eine Vorrichtung in der Röntgentechnik, die vor dem Bildempfänger (Bildschirm, Detektor oder Film) angebracht ist und den Einfall von Diffusstrahlung auf diesem reduziert. Das erste Streustrahlenraster wurde 1913 von Gustav Peter Bucky (1880–1963) entwickelt. Der US-amerikanische Radiologe Hollis Elmer Potter (1880–1964) verbesserte und ergänzte es 1917 um eine Bewegungseinrichtung. Bei Anwendung von Streustrahlenrastern muss die Strahlendosis erhöht werden. Bei Kindern sollte deshalb auf den Einsatz von Streustrahlenrastern möglichst verzichtet werden. Bei der digitalen Radiographie kann unter bestimmten Voraussetzungen auf ein Raster verzichtet werden, um die Strahlenbelastung des Patienten zu reduzieren.
==== Strahlenschutzschiene ====
Auch gegen Streustrahlung, die bei Tumorbestrahlungen im Kopf-Hals-Bereich an Metallteilen am Gebiss (Zahnfüllungen, Brücken und Ähnliches) entsteht, können Strahlenschutzmaßnahmen nötig sein. Seit den 1990er Jahren werden als Strahlenschutzschienen bekannte Weichgewebsretraktoren eingesetzt, um eine Mukositis, eine Entzündung der Schleimhaut, zu vermeiden oder zu verringern. Sie ist die bedeutendste unerwünschte, akute Strahlennebenwirkung. Die Strahlenschutzschiene ist ein Abstandshalter, der die Schleimhäute von den Zähnen abhält, so dass entsprechend dem Abstandsquadratgesetz die auf die Schleimhaut auftreffende Streustrahlung verringert wird. Die äußerst schmerzhafte Mukositis stellt die größte Beeinträchtigung der Lebensqualität der Patienten dar und begrenzt oft die Strahlenbehandlung, wodurch die Tumorheilungschancen verringert werden. Die Schiene vermindert die Reaktionen an der Mundschleimhaut, die typisch im zweiten und dritten Drittel einer Strahlentherapieserie entstehen und irreversibel sind.
==== Panorama-Röntgengerät ====
Der Japaner Hisatugu Numata entwickelte 1933/34 das erste Panorama-Röntgengerät. Es folgte die Entwicklung der intraoralen Panoramaröntgengeräte, bei denen sich der Röntgentubus intraoral (innerhalb des Mundes) und der Röntgenfilm extraoral (außerhalb des Mundes) befinden. Parallel waren 1943 der Dresdner Horst Beger und 1946 der Schweizer Zahnarzt Walter Ott damit beschäftigt, woraus die Geräte Panoramix (Koch & Sterzel), Status X (Siemens) und Oralix (Philips) entstanden. Intraorale Panoramageräte wurden Ende der 1980er Jahre stillgelegt, da die Strahlenbelastung im unmittelbaren Kontakt mit der Zunge und der Mundschleimhaut durch den intraoral befindlichen Tubus zu hoch war.
==== Digitales Röntgen ====
Das erste Patent für digitales Röntgen reichte Eastman Kodak im Jahr 1973 ein. Die erste kommerzielle CR-Lösung (Computed Radiology) wurde 1983 unter der Gerätebezeichnung CR-101 von Fujifilm in Japan angeboten. Röntgenspeicherfolien dienen in der Röntgendiagnostik dazu, das Schattenbild der Röntgenstrahlung aufzunehmen. Das erste kommerzielle digitale Röntgensystem zur Anwendung in der Zahnheilkunde wurde 1986 von Trophy Radiology (Frankreich) unter dem Namen Radiovisiographie vorgestellt. Digitale Röntgensysteme tragen zu einer reduzierten Strahlenbelastung bei. An Stelle des Films enthalten die Geräte einen Szintillator, der auftreffende Röntgenphotonen entweder in sichtbares Licht oder direkt in elektrische Impulse umwandelt.
==== Computertomographie ====
1972 wurde der erste kommerzielle Computertomograph zur klinischen Anwendung im Londoner Atkinsons Morley Hospital in Betrieb genommen. Als sein Erfinder gilt der englische Ingenieur Godfrey Newbold Hounsfield (1919–2004), der zusammen mit Allan McLeod Cormack (1924–1998) für seine Pionierarbeit auf dem Gebiet der Computertomographie 1979 den Nobelpreis für Medizin verliehen bekam. Erste Schritte zur Dosisreduktion wurden 1989 in der Ära der Einzelschicht-Spiral-Computertomographie unternommen. Die Einführung der Mehrschicht-Spiral-Computertomographie im Jahr 1998 und ihre stete Weiterentwicklung ermöglichten durch die Dosismodulation ein dosisreduziertes Arbeiten. Der Röhrenstrom wird dabei angepasst, indem beispielsweise bei Aufnahmen der Lunge die Leistung im Vergleich zum Abdomen zurückgenommen wird. Bei der Rotation wird der Röhrenstrom moduliert. Da der menschliche Körper näherungsweise einen ovalen Querschnitt hat, wird die Strahlenintensität zurückgenommen, wenn von vorne beziehungsweise von hinten gestrahlt wird, und hochgeregelt, wenn von der Seite gestrahlt wird. Diese Dosisregelung erfolgt auch in Abhängigkeit vom Body-Mass-Index. Beispielsweise führt der Einsatz der Dosismodulation in der Kopf-Hals-Region zu einer Reduktion der Gesamtexposition und der Organdosen von Schilddrüse und Augenlinse um bis zu 50 % ohne relevante Beeinträchtigung der diagnostischen Bildqualität. Mittels des Computed Tomography Dose Index (CTDI) wird die Strahlenbelastung während einer Untersuchung mit einem Computertomographen gemessen. Der CTDI wurde von der Food and Drug Administration (FDA) im Jahr 1981 erstmals definiert. Die Maßeinheit des CTDI ist das mGy (Milli-Gray). Durch Multiplikation des CTDI mit der Länge des Untersuchungsvolumens erhält man das Dosis-Längen-Produkt (DLP); es quantifiziert die gesamte Strahlenbelastung des Patienten während einer CT-Untersuchung.
==== Bauliche Schutzmaßnahmen ====
Ein Röntgenraum muss allseits strahlensicher mit 1 mm Bleigleichwert abgeschirmt sein. Als Mauerwerk ist Kalksandstein oder Vollziegel empfehlenswert. Es soll eine Zarge aus Stahl verwendet werden, nicht nur wegen des Gewichts der schweren Strahlenschutztür, sondern auch wegen der Abschirmung; Holzzargen müssen extra verbleit werden. Die Strahlenschutztür muss mit einer 1 mm dicken Bleifolie belegt sein, als Sichtverbindung muss ein Bleiglasfenster eingebaut sein. Ein Schlüsselloch ist zu vermeiden. Alle Installationen (Sanitär oder Elektro), die den Strahlenschutz unterbrechen, müssen verbleit werden (§ 20 Röntgenverordnung) und Anlage 2 (zu § 8 Abs. 1 Satz 1 RöV).
In der Nuklearmedizin sind je nach Verwendungszweck noch weit umfangreichere Schutzmaßnahmen, bis hin zu meterdicken Betonwänden notwendig. Zudem ist ein Medizinphysikexperte in der Röntgendiagnostik und -therapie zur Optimierung und Qualitätssicherung der Anwendung und zur Beratung in Fragen des Strahlenschutzes ab 31. Dezember 2018, dem Inkrafttreten der neuesten Änderungen im § 14 Abs. 1 Nr. 2b des Strahlenschutzgesetzes, hinzuzuziehen.
=== Fachkundenachweis ===
Jede Einrichtung, die ein Röntgengerät betreibt, muss genügend Personal mit entsprechender Fachkunde nachweisen. Der Strahlenschutzverantwortliche oder ein beziehungsweise mehrere Strahlenschutzbeauftragte müssen über eine entsprechende Qualifikation verfügen, die immer wieder aktualisiert werden muss. Röntgenuntersuchungen dürfen von allen anderen Mitarbeitern einer ärztlichen oder zahnärztlichen Praxis technisch durchgeführt werden, wenn sie unter unmittelbarer Aufsicht und Verantwortung der fachkundigen Person stehen und wenn sie selbst zusätzlich über Kenntnisse im Strahlenschutz verfügen.
Diese Kenntnisse im Strahlenschutz werden seit der Novellierung der Röntgenverordnung im Jahre 1987 gefordert; entsprechende Nachschulungen der medizinischen und zahnmedizinischen Fachangestellten (damals Arzthelfer beziehungsweise Zahnarzthelfer) erfolgten im Jahr 1990. Für das Fachgebiet der Radiologie wurden die Vorschriften durch das Strahlenschutzgesetz, das zum 1. Oktober 2017 in Kraft getreten ist, verschärft.Der Umgang mit radioaktiven Stoffen und ionisierender Strahlung (sofern nicht durch die Röntgenverordnung abgedeckt) wird durch die Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) geregelt. In § 30 StrlSchV wird die „Erforderliche Fachkunde und Kenntnisse im Strahlenschutz“ definiert.
=== Strahlenschutzverbände ===
Die Vereinigung Deutscher Strahlenschutzärzte (VDSÄ) formierte sich Ende der 1950er Jahre aus einer Arbeitsgemeinschaft von Strahlenschutzärzten des Deutschen Roten Kreuzes und wurde 1964 gegründet. Sie widmete sich der Förderung des Strahlenschutzes und der Vertretung ärztlicher, zahnärztlicher und tierärztlicher Belange des Strahlenschutzes gegenüber der Öffentlichkeit und dem Gesundheitswesen. Sie ist seit 2017 im Fachverband für Strahlenschutz aufgegangen. Gleiche Ziele verfolgt der 1966 gegründete Österreichische Verband für Strahlenschutz (ÖVS) mit dem Verband für Medizinischen Strahlenschutz in Österreich. Der Fachverband für Strahlenschutz für Deutschland und die Schweiz ist weltweit vernetzt.
== Strahlenschutz in der Strahlentherapie ==
Neben den baulichen Schutzmaßnahmen und Vorkehrungen zum Schutz der Therapeuten tritt der Strahlenschutz in der Strahlentherapie eher in den Hintergrund. In der Nutzen-/Risikobewertung steht bezüglich des Patienten das therapeutische Ziel im Vordergrund, Krebserkrankungen zu behandeln. Der Strahlenschutz konzentriert sich dabei darauf, dass die Strahlung nur dort ihre Wirkung entfaltet, wo sie durch eine entsprechende Bestrahlungsplanung erwünscht ist. Wegen ihrer überlegenen technischen Eigenschaften und im Hinblick auf Risiken, ersetzten die Linearbeschleuniger, die seit etwa 1970 verfügbar sind, die Cobalt- und Cäsiumstrahler in der Routinetherapie. Linearbeschleuniger dürfen im Gegensatz zu den Röntgen- und Telecurieanlagen nur in Anwesenheit eines Medizinphysikers benutzt werden, dem auch die technische Qualitätskontrolle obliegt. Als Strahlennekrose bezeichnet man die durch die Einwirkung ionisierender Strahlung ausgelöste Nekrose von Zellen eines Organismus. Radionekrosen sind die wichtigste und schwerwiegendste Komplikation radiochirurgischer Behandlungen, die meist erst Monate oder Jahre nach der Bestrahlung klinisch auffällig wird. Mit den Fortschritten bei der Weiterentwicklung der Strahlentherapie ist die Inzidenz im Vergleich zu den Anfängen der Radiotherapie erheblich gesunken. Die modernen Bestrahlungstechniken schonen das gesunde Gewebe so gut wie möglich. Grundsätzlich besteht jedoch das Dilemma zwischen dem Schonen des gesunden Gewebes zur Vermeidung einer Strahlennekrose und einer möglichst großflächigen Bestrahlung des Gebietes um den Tumor, um ein Rezidiv zu vermeiden. Für Patienten in einer Strahlentherapie gibt es deshalb keinen Grenzwert hinsichtlich des Strahlenrisikos.
== Strahlenschutz und Strahlenschäden in der Veterinärmedizin ==
Über Strahlenschäden am Tier, die durch diagnostische Strahlenanwendung entstanden sind, ist in der Literatur sehr wenig verzeichnet. Außer lokalen Verbrennungen, welche durch zu lange Expositionen von Körperteilen entstanden sind oder durch das Überspringen von Funken aus alten Röntgenröhren, ist in der Literatur nichts bekannt. Strahlenschäden am tierärztlichen Personal sowie beim Tierarzt selbst sind nicht vergleichbar mit der Häufigkeit von Schäden, die in der Humanmedizin bekannt sind. In der Tiermedizin werden weniger Aufnahmen als in der Humanmedizin angefertigt, vor allem weniger Computertomogramme, jedoch werden häufig noch Tiere mit den Händen fixiert, um eine Narkose zu vermeiden. Dadurch befindet sich mindestens eine Person im Kontrollbereich, und deren Strahlenbelastung ist um einiges größer als die des humanmedizinischen Personals. Seit den 1970er Jahren wird die Strahlenbelastung des Personals bei Röntgenaufnahmen in tierärztlichen Praxen durch Dosimeter bestimmt.
Die feline Hyperthyreose (Schilddrüsenüberfunktion) ist eine häufige Erkrankung der älteren Katze. Die Radiojodtherapie wird von vielen Autoren als die Therapie der Wahl angesehen. Nach Verabreichung des radioaktiven Jods werden die Katzen im Isolierstall gehalten. Nach der Therapie kann nach Radioaktivitätsmessung der Katze der Entlasszeitpunkt festgelegt werden. Dieser liegt meist bei 14 Tagen nach Therapiebeginn. Die Behandlung ist mit erheblichen Strahlenschutz-Auflagen verbunden und deshalb in Deutschland nur an zwei tiermedizinischen Einrichtungen verfügbar (Stand 2010). Zuhause müssen die Katzen 4 Wochen nach Therapiebeginn in der Wohnung gehalten werden und Kontakt zu Schwangeren und Kindern unter 16 Jahren aufgrund der radioaktiven Reststrahlung vermieden werden.Jede tierärztliche Praxis, die ein Röntgengerät betreibt, muss ebenso wie eine ärztliche Praxis, genügend Personal mit entsprechender Fachkunde, die in der Röntgenverordnung aus 2002 in § 18 gefordert wird, nachweisen. Entsprechende Nachschulungen der tiermedizinischen Fachangestellten (damals Tierarzthelfer/in) erfolgten im Jahr 1990.In Linsengericht (Hessen) wurde 2017 die europaweit erste Klinik für krebskranke Pferde eröffnet. Die Strahlentherapie erfolgt in einem acht Meter breiten Behandlungsraum auf einem speziell konstruierten Tisch, der das hohe Gewicht aushält. Drei Meter dicke Wände schützen die Umwelt vor der Strahlung. An diversen Standorten wird die Bestrahlung von Tumoren bei Kleintieren mit mobilen Geräten durchgeführt.
== Radioaktive Substanzen ==
=== Radon ===
Radon ist ein natürlich vorkommendes radioaktives Edelgas, das 1900 von Friedrich Ernst Dorn (1848–1916) entdeckt worden ist und als karzinogen (krebserregend) gilt. Radon kommt vermehrt in Gebieten mit hohem Uran- und Thoriumgehalt im Boden vor. Dies sind hauptsächlich Gegenden mit hohem Granitgesteinvorkommen. Nach Studien der Weltgesundheitsorganisation nimmt das Auftreten von Lungenkrebs signifikant bei Strahlungswerten von 100–200 Bq pro Kubikmeter Raumluft zu. Die Wahrscheinlichkeit für Lungenkrebs steigt danach jeweils mit der Zunahme um weitere 100 Bq/m³ in der Raumluft um 10 %.In zahlreichen Gegenden in Deutschland, insbesondere in Süddeutschland, in Österreich und der Schweiz ist ein erhöhter Radongehalt gemessen worden.
==== Deutschland ====
Das Bundesamt für Strahlenschutz hat hierzu eine Radonkarte Deutschlands entwickelt. Die EU-Richtlinie 2013/59/Euratom (Strahlenschutz-Grundnormenrichtlinie) führte Referenzwerte ein und für Arbeitnehmer die Möglichkeit, ihren Arbeitsplatz auf Radonbelastung überprüfen zu lassen. In Deutschland wurde sie im Strahlenschutzgesetz (Kapitel 2 bzw. §§ 124–132 StrlSchG) und der novellierten Strahlenschutzverordnung (Teil 4 Kapitel 1, §§ 153–158 StrlSchV) umgesetzt. Die neuen Radon-Schutzvorschriften für Arbeitsplätze und neue Wohnbauten sind seit Januar 2019 verbindlich. Flächenhafte Radonbelastungen und Radonvorsorgegebiete wurden durch die Umweltministerien der Bundesländer festgestellt (Stand 15. Juni 2021).
==== Österreich ====
In Österreich wurden 1991 die höchsten Radonkonzentrationen in der Gemeinde Umhausen in Tirol gemessen. Umhausen hat etwa 2300 Einwohner und befindet sich im Ötztal. Die Häuser wurden dort zum Teil auf einem Felssturz aus Granitgneis errichtet. Aus diesem porösen Untergrund drang das im Gestein vorhandene Radon ungehindert in die unversiegelten Kellerräume vor, die mit bis 60.000 Becquerel Radon pro Kubikmeter Luft belastet waren. Die Radonkonzentrationen in den Wohnungen von Umhausen wurden seit 1992 systematisch untersucht. Seitdem wurden an den Gebäuden umfangreiche Maßnahmen zum Radonschutz getroffen: Neubauten, Versiegelung der Böden im Keller, Zwangsentlüftung der Keller oder Übersiedlungen. Abfragen im Österreichischen Gesundheitsinformationssystem (ÖGIS) haben ergeben, dass die Häufigkeit von neuen Lungenkrebserkrankungen seither stark zurückgegangen ist. Mit dem österreichischen nationalen Radonprojekt (ÖNRAP) wurde die Radonbelastung flächendeckend untersucht. Österreich hat als Rechtsgrundlage ebenfalls ein Strahlenschutzgesetz. Grenzwerte für Innenräume sind 2008 festgelegt worden. Das österreichische Umweltministerium führt hierzu aus:
Aktuell gilt in Österreich die Radonschutzverordnung in der Fassung vom 10. September 2021. Dort sind auch die Radonschutzgebiete und Radonvorsorgegebiete festgelegt.
==== Schweiz ====
Der Aktionsplan Radon 2012–2020 in der Schweiz hatte zum Ziel, die neuen internationalen Empfehlungen in die schweizerische Strategie zum Schutz vor Radon einzubeziehen und so die Zahl der Lungenkrebsfälle, die auf Radon in Gebäuden zurückzuführen sind, zu verringern.Am 1. Januar 2018 wurde der Grenzwert von 1000 Bq/m³ ersetzt durch einen Referenzwert von 300 Becquerel pro Kubikmeter (Bq/m³) für die über ein Jahr gemittelte Radongaskonzentration in «Räumen, in denen sich Personen regelmässig während mehreren Stunden pro Tag aufhalten».
Nachfolgend wurde am 11. Mai 2020 durch das Bundesamt für Gesundheit BAG der Aktionsplan Radon 2021–2030 erlassen. Die Bestimmungen zum Radonschutz sind vor allem in der Strahlenschutzverordnung (StSV) festgelegt.
==== Strahlenkrankheit von Bergleuten ====
Im Jahr 1879 veröffentlichten Walther Hesse (1846–1911) und Friedrich Hugo Härting die Studie „Der Lungenkrebs, die Bergkrankheit in den Schneeberger Gruben“. Der Pathologe Hesse war schockiert über den schlechten Gesundheitszustand und das geringe Lebensalter, das Bergleute typischerweise erreichten. Weil die Bergkrankheit unter den Bergleuten in den Schneeberger Gruben (sächsisches Erzgebirge) auftrat, erhielt diese besondere Form des Bronchialkarzinoms den Namen Schneeberger Krankheit.
Als Hesses Bericht erschien, waren radioaktive Strahlung und die Existenz von Radon unbekannt. Erst 1898 entdeckten Marie Curie-Skłodowska (1867–1934) und ihr Mann Pierre Curie (1859–1906) das Radium und schufen den Begriff der Radioaktivität. Seit Herbst 1898 litt Marie Curie an Entzündungen der Fingerspitzen, welches die ersten bekannten Symptome der Strahlenkrankheit waren.
In den Joachimsthaler Gruben, wo vom 16. bis ins 19. Jahrhundert Silber- und Buntmetallbergbau stattgefunden hatte, wurde im 20. Jahrhundert reichlich Uranerz abgebaut. Erst während des Zweiten Weltkriegs wurden Grenzwerte im Erzbergbau der Schneeberger und Joachimsthaler Gruben eingeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Urangewinnung für das sowjetische Atombombenprojekt und die entstehende sowjetische Atomindustrie voran getrieben. Als Arbeitskräfte dienten Zwangsarbeiter. Zunächst waren dies deutsche Kriegsgefangene und nichtvertriebene Einwohner, nach dem Februarumsturz von 1948 politische Häftlinge, inhaftiert durch das Regime der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, sowie zwangsverpflichtete Zivilarbeiter. Zur Unterbringung dieser Arbeiter wurden im Gebiet mehrere „tschechoslowakische Gulags“ errichtet. Insgesamt durchliefen die Lager rund 100.000 politische Häftlinge und über 250.000 Zwangsverpflichtete. Vermutlich hat etwa die Hälfte von ihnen die Bergarbeit nicht überlebt. 1964 wurde der Uranabbau eingestellt. Über weitere Opfer, die an den Strahlenfolgen starben, können nur Vermutungen angestellt werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zuge des Bergbaus entdeckte radonhaltige Quellen begründeten einen bis in die Gegenwart bedeutenden Kurbetrieb sowie den Status der Stadt als ältestes Radium-Sole-Heilbad der Welt.
==== Wismut AG ====
Bei den rund 200.000 Uranbergarbeitern der Wismut AG in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone in Ost-Deutschland hat vor allem in den Jahren 1946 bis 1955, aber auch in späteren Jahren eine sehr hohe Strahlenexpositionen stattgefunden. Diese Expositionen sind durch die Inhalation von Radon und seinen radioaktiven Folgeprodukten, die sich in erheblichem Ausmaß auf dem inhalierten Staub niederschlagen, entstanden. Die Strahlenbelastung wurde in der historischen Einheit Working Level Month (WLM) angegeben. Die Maßeinheit wurde in den 1950er Jahren speziell für den Arbeitsschutz in Uranbergwerken der USA eingeführt, um Strahlenexposition zu erfassen, die aus radioaktiver Belastung durch Radon und seine Zerfallsprodukte in der Atemluft entsteht. Ungefähr 9000 Arbeiter der Wismut AG sind an einem Lungenkarzinom erkrankt.
=== Radium ===
Radiumverbindungen galten bis in die 1930er Jahre nicht nur als relativ harmlos, sondern als gesundheitsfördernd und wurden als Medikamente gegen eine Vielzahl von Leiden beworben oder in Produkten verarbeitet, die im Dunkeln leuchteten. Die Verarbeitung geschah ohne jegliche Schutzvorkehrungen.
Bis in die 1960er Jahre wurde mit Radioaktivität häufig naiv-unbedacht umgegangen. Von 1940 bis 1945 stellte die Berliner Auergesellschaft, die von Carl Auer von Welsbach (1858–1929, Osram) gegründet worden war, eine radioaktive Zahnpasta namens Doramad her, die Thorium-X enthielt und international vertrieben wurde. Sie wurde beworben mit der Aussage „Durch ihre radioaktive Strahlung steigert sie die Abwehrkräfte von Zahn und Zahnfleisch. Die Zellen werden mit neuer Lebensenergie geladen, die Bakterien in ihrer zerstörenden Wirksamkeit gehemmt.“ Die Werbeaussage von strahlend weißen Zähnen erhielt dadurch eine doppelsinnige Bedeutung. Daneben gab es um 1930 Badezusätze und Ekzemsalben der Marke „Thorium-X“. Ebenso hatte man Zahnpasten Radium beigemischt, so der Zahnpasta Kolynos. Radioaktivität war ab dem Ersten Weltkrieg ein Symbol moderner Errungenschaften und galt deshalb als „chic“. Radioaktive Substanzen wurden dem Mineralwasser ebenso zugesetzt wie Kondomen oder dem Puder als Kosmetikum. Selbst mit Radium angereicherte Schokolade war im Handel. Der Spielzeughersteller Märklin im schwäbischen Göppingen erprobte den Verkauf eines Röntgenapparats für Kinder. Auf Partys der Oberschicht „fotografierte“ man sich zum Spaß gegenseitig die Knochen. Mittels Franchising wurde in den USA ein System namens Trycho (von altgriechisch τριχο- tricho-, deutsch ‚das Haar betreffend‘) zur Epilation (Haarentfernung) im Gesicht und am Körper vertrieben. Tausende von Frauen litten in der Folge an Hautverbrennungen, Ulcera (Geschwüren) und Tumoren. Eine öffentliche Sensibilität für die Gefahren ionisierender Strahlung entstand erst nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, womit diese Produkte marktunfähig wurden.Es entstand eine Radiumindustrie, die in Cremes, Getränken, Schokoladen, Zahnpasten und Seifen Radium einsetzte. Es dauerte relativ lange, bis aus beobachteten Wirkungen Radium und sein Zerfallsprodukt Radon als Ursache der Schäden erkannt wurden. In den Vereinigten Staaten wurde Radithor vertrieben, ein radioaktives Mittel, das aus dreifach destilliertem Wasser bestand, in dem die Radium-Isotope 226Ra und 228Ra gelöst waren, so dass es über eine Aktivität von mindestens einem Mikrocurie verfügte. Erst als der prominente US-amerikanische Sportler Eben Byers, der nach eigenen Angaben etwa 1400 Fläschchen Radithor als Medizin auf Empfehlung seines Arztes zu sich genommen hatte, schwer an Krebs erkrankte, ihm zahlreiche Zähne ausfielen und er wenig später unter großen Qualen starb, kamen 1932 starke Zweifel an der heilenden Wirkung von Radithor und Radiumwässern auf.
==== Radiumkuren ====
1908 brach ein Boom bei der Nutzung radioaktiver Wässer zu Kurzwecken aus. Mit der Entdeckung der Quellen in Oberschlema und Bad Brambach war der Weg zum Aufbau von Radiumbädern, in denen auf die Heilwirkung des Radiums vertraut wurde, geebnet. Während der Kuren wurde in Radiumwasser gebadet, Trinkkuren mit Radiumwasser gereicht und in Emanatorien Radon inhaliert. Die Bäder wurden jährlich von Zehntausenden besucht; sie hofften auf die Hormesis.
Bis heute erfolgen therapeutische Anwendungen in Heilbädern und Heilstollen. Es werden dabei natürliche Freisetzungen von Radon aus dem Erdboden genutzt. Laut Heilbädertag muss die Aktivität im Wasser dabei mindestens 666 Bq/Liter betragen. Die Vorgabe für die Inhalationskuren liegt bei mindestens 37.000 Bq/m³ Luft. Wissenschaftlich ist diese Form der Therapie nicht anerkannt, das potentielle Risiko der damit verbundenen Strahlenexposition wird kritisiert. Die Äquivalentdosis einer Radonkur in Deutschland geben die einzelnen Kurorte je nach Ort mit etwa ein bis zwei Millisievert an. 2010 haben Erlanger Mediziner nach dem (überholten) LNT-Modell (Linear, No-Threshold, deutsch „Linear ohne Schwellenwert“) hergeleitet, dass fünf Prozent aller lungenkrebsbedingten Todesfälle in Deutschland auf Radon zurückgehen. Radonbäder gibt es in Bad Gastein, Bad Hofgastein und Bad Zell in Österreich, in Niška Banja in Serbien, im Radon-Revitalbad (Grube Krunkelbach) in Menzenschwand und in Bad Brambach, Bad Münster am Stein-Ebernburg, Bad Schlema, Bad Steben, Bad Schmiedeberg und Sibyllenbad in Deutschland, in Jáchymov in Tschechien, in Hévíz in Ungarn, in Świeradów-Zdrój (Bad Flinsberg) in Polen, in Naretschen und in Kostenez in Bulgarien sowie auf der Insel Ischia in Italien. Radonstollen gibt es in Bad Kreuznach und in Bad Gastein.
==== Leuchtzifferblätter ====
Die Gefährlichkeit des Radiums wurde Anfang der 1920er Jahre erkannt und erstmals 1924 vom New Yorker Zahnarzt und Oralchirurgen Theodor Blum (1883–1962) beschrieben. Sie zeigte sich besonders in der Uhrenindustrie, wo es für Leuchtzifferblätter verwendet wurde. Er veröffentlichte einen Artikel über das Krankheitsbild des sogenannten Radiumkiefers (englisch radium jaw). Er beobachtete diese Krankheit bei Patientinnen, die als Ziffernblattmalerinnen mit Leuchtfarbe in Kontakt kamen, deren Zusammensetzung dem Radiomir glich, einem 1914 erfundenen Leuchtstoff, der aus einem Gemisch aus Zinksulfid und Radiumbromid besteht. Sie brachten beim Malen die mit dem Leuchtstoff beladene Pinselspitze mit ihren Lippen in die gewünschte spitze Form, und so gelangte das radioaktive Radium in ihren Körper. Allein in den USA und Kanada waren im Laufe der Jahre etwa 4000 Arbeiterinnen damit beschäftigt. Im Nachhinein wurden die Fabrikarbeiterinnen Radium Girls genannt. Sie spielten auch mit der Farbe und bemalten sich Fingernägel, Zähne und Gesichter. Dadurch leuchteten sie zur Überraschung ihrer Lebensgefährten bei Nacht.
Nachdem Harrison Stanford Martland (1883–1954), oberster Gerichtsmediziner in Essex County, in der Atemluft der Radium Girls das radioaktive Edelgas Radon nachgewiesen hatte (ein Zerfallsprodukt von Radium), wandte er sich an Charles Norris (1867–1935) und Alexander Oscar Gettler (1883–1968). Gettler gelang es im Jahre 1928, in den Knochen von Amelia Maggia, einer der jungen Frauen, selbst fünf Jahre nach deren Tod noch eine hohe Konzentration an Radium nachzuweisen. 1931 wurde ein Verfahren zur Bestimmung der Radiumdosierung mittels eines Filmdosimeters entwickelt. Ein Standardpräparat wirkt eine definierte Zeit durch einen Hartholzwürfel hindurch auf einen Röntgenfilm, der dadurch geschwärzt wird. Die Würfelminute war lange Zeit eine wichtige Einheit für die Radiumdosierung. Sie wurde durch ionometrische Messungen geeicht. Die Radiologen Hermann Georg Holthusen (1886–1971) und Anna Hamann (1894–1969) fanden 1932/1935 als Eichwert die Intensität von 0,045 r/min. Der Eichfilm erhält dabei durch den Holzwürfel hindurch vom Präparat von 13,33 mg jede Minute die y-Strahlendosis von 0,045 r. Im Jahre 1933 machte der Physiker Robley D. Evans (1907–1995) die ersten Messungen von Radon und Radium in den Ausscheidungen der Arbeiterinnen. Auf dieser Basis legte 1941 das National Bureau of Standards, Vorläufer des National Institute of Standards and Technology (NIST), die Grenzwerte für Radium auf 0,1 Mikrocurie (etwa 3,7 Kilobecquerel) fest.
Mit einem Aktionsplan Radium 2015–2019 soll in der Schweiz das Problem der radiologischen Altlasten gelöst werden, die durch die Verwendung von Radium-Leuchtfarbe in der Uhrenindustrie bis in die 1960er Jahre vorwiegend im Jurabogen bestehen.In Frankreich entstand im Jahr 1932 eine Kosmetikserie namens Tho-Radia, die sowohl Thorium als auch Radium enthielt und sich bis in die 1960er Jahre hielt.
=== Sonstige terrestrische Strahlung ===
Die terrestrische Strahlung ist eine auf der Erde allgegenwärtige Strahlung, die von Radionukliden im Boden verursacht wird, die vor Milliarden Jahren durch die stellare Nukleosynthese gebildet wurden und aufgrund ihrer langen Halbwertszeiten noch nicht zerfallen sind. Die terrestrische Strahlung wird durch natürliche Radionuklide verursacht, die im Erdboden, in Gesteinen, in der Hydrosphäre und in der Erdatmosphäre natürlicherweise vorhanden sind. Die natürlichen Radionuklide kann man in kosmogene und primordiale Nuklide unterteilen. Die kosmogenen Nuklide liefern keinen signifikanten Beitrag zur terrestrischen Umgebungsstrahlung auf der Erdoberfläche. Die Quellen der terrestrischen Strahlung sind die in den obersten Erdschichten, im Wasser und in der Luft enthaltenen natürlichen radioaktiven Nuklide. Dazu gehören insbesondere
Thorium-232 (Halbwertszeit 14 Milliarden Jahre),
Uran-238 (Halbwertszeit 4,4 Milliarden Jahre),
Uran-235 (Halbwertszeit 0,7 Milliarden Jahre) und
Kalium-40 (Halbwertszeit 1,3 Milliarden Jahre).
==== Abbau und Förderung von Brennstoffen ====
Nach Angaben der World Nuclear Association enthält Kohle aller Lagerstätten Spuren verschiedener radioaktiver Substanzen, vor allem von Radon, Uran und Thorium. Bei der Kohleförderung, vor allem aus Tagebauen, über Abgase von Kraftwerken oder über die Kraftwerksasche werden diese Substanzen freigesetzt und tragen über ihren Expositionspfad zur terrestrischen Strahlenbelastung bei.Im Dezember 2009 wurde bekannt, dass bei der Erdölgewinnung und Erdgasförderung jährlich Millionen Tonnen radioaktiver Rückstände anfallen, die größtenteils ohne Nachweis und unsachgemäß entsorgt werden, einschließlich 226Radium sowie 210Polonium. Die spezifische Aktivität der Abfälle beträgt zwischen 0,1 und 15.000 Becquerel pro Gramm. In Deutschland ist das Material laut Strahlenschutzverordnung von 2001 bereits ab einem Becquerel pro Gramm überwachungsbedürftig und müsste gesondert entsorgt werden. Die Umsetzung dieser Verordnung wurde der Eigenverantwortung der Industrie überlassen; diese beseitigte die Abfälle über Jahrzehnte hinweg sorglos und unsachgemäß.
==== Baumaterial ====
Jedes Baumaterial enthält Spuren natürlicher radioaktiver Stoffe, insbesondere 238Uran, 232Thorium und deren Zerfallsprodukte sowie 40Kalium. Erstarrungs- und Ergussgesteine wie Granit, Tuff und Bims weisen einen höheren Radioaktivitätsgehalt auf. Dagegen enthalten Sand, Kies, Kalkstein und Naturgips (Calciumsulfat-Dihydrat) nur geringe Mengen an Radioaktivität. Zur Bewertung der Strahlenbelastung durch Baustoffe kann der Activity Concentration Index (ACI) der Europäischen Union herangezogen werden, der 1999 entwickelt wurde. Er löste die Leningrader Summenformel ab, mit der 1971 in Leningrad (Sankt Petersburg) festgelegt worden war, wie viel Strahlenbelastung durch Baustoffe für den Menschen zulässig ist. Der ACI berechnet sich aus der Summe der gewichteten Aktivitäten von 40Kalium, 226Radium und 232Thorium. Die Wichtung berücksichtigt die relative Schädlichkeit für den Menschen. Baustoffe mit einem Wert des europäischen ACI von über „1“ sollten gemäß offiziellen Empfehlungen nicht in größeren Mengen verbaut werden.
==== Glasuren ====
Zur Uranglasur bei Keramikfliesen werden zur Farbgebung (rot, gelb, braun) uranhaltige Pigmente verwendet, wobei 2 mg Uran pro cm² erlaubt sind. Zwischen 1900 und 1943 wurden uranhaltige Keramiken in den USA, aber auch in Deutschland und Österreich in größeren Mengen gefertigt. Schätzungen nach wurden in den USA zwischen 1924 und 1943 jährlich 50–150 Tonnen an Uran(V,VI)-oxid zur Herstellung von uranhaltigen Glasuren verwendet. Im Jahr 1943 verhängte die US-Regierung ein Verbot über die zivile Nutzung von uranhaltigen Stoffen, das bis 1958 galt. Ab 1958 verkaufte die US-Regierung, sowie ab 1969 auch die United States Atomic Energy Commission abgereichertes Uran in Form von Uran(VI)-fluorid zur zivilen Nutzung. In Deutschland wurden Keramiken, deren Glasur Uran enthielt, unter anderem von der Porzellanmanufaktur Rosenthal gefertigt und waren bis in die frühen 1980er Jahre im Handel erhältlich. Keramiken mit Uranglasur sollten wegen des möglichen Abriebs nur als Sammlerstücke und nicht zum alltäglichen Gebrauch verwendet werden.
=== ODL-Messnetz ===
Das Messnetz des Bundesamts für Strahlenschutz misst routinemäßig die natürliche Strahlenbelastung. Die gemessene Ortsdosisleistung (ODL) wird in der Einheit Mikrosievert pro Stunde (μSv/h) angegeben. Dies entspricht der Gammastrahlung aus der Umgebung pro Stunde an einem bestimmten Ort. Die natürliche ODL bewegt sich in Deutschland je nach örtlichen Gegebenheiten ungefähr zwischen 0,05 und 0,18 μSv/h. Das ODL-Messnetz, das seit 1973 arbeitet, besteht inzwischen aus 1800 ortsfesten, automatisch arbeitenden Messstellen und stellt eine Frühwarnfunktion dar, um erhöhte Strahlung durch radioaktive Stoffe in der Luft in Deutschland schnell zu erkennen. Seit 2008 werden zusätzlich spektroskopische Sonden verwendet, die zusätzlich zur Ortsdosisleistung den Beitrag künstlicher Radionuklide bestimmen können. Neben dem ODL-Messnetz des Bundesamts für Strahlenschutz existieren weitere Bundesmessnetze beim Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie und bei der Bundesanstalt für Gewässerkunde, mit denen die Gammastrahlung im Wasser gemessen wird, der Deutsche Wetterdienst misst mit Aerosolsammlern die luftgetragene Aktivität. Um die kerntechnischen Anlagen zu überwachen, betreiben die zuständigen Bundesländer eigene ODL-Messnetze. Die Daten dieser Messnetze gehen automatisch in das Integrierte Mess- und Informationssystem (IMIS) ein und werden dort zur Analyse der aktuellen Lage verwendet.
Viele Staaten betreiben eigene ODL-Messnetze zum Schutz der Bevölkerung. Im europäischen Raum werden diese Daten auf der EURDEP-Plattform der Europäischen Atomgemeinschaft gesammelt und publiziert. Grundlage für die europäischen Messnetze sind Artikel 35 und 37 des Euratom-Vertrags.
=== Radionuklide in der Medizin ===
Die Nuklearmedizin ist die Anwendung von offenen Radionukliden zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken (Radionuklidtherapie). Sie umfasst zudem die Anwendung weiterer radioaktiver Substanzen und kernphysikalischer Verfahren zur Funktions- und Lokalisationsdiagnostik. George de Hevesy (1885–1966) lebte in Untermiete und hatte 1923 den Verdacht, dass seine Vermieterin ihm nicht gegessenen Pudding in der darauf folgenden Woche erneut anbot. Er mischte eine kleine Menge eines radioaktiven Isotops unter die Essensreste. Als sie ihm eine Woche später einen Pudding auftischte, konnte er Radioaktivität in einer Probe des Auflaufs nachweisen. Als er damit seine Vermieterin vorführte, hat sie ihm umgehend gekündigt. Die angewandte Methode machte ihn zum Vater der Nuklearmedizin. Sie hat sich als Tracermethode etabliert, die bis heute in der nuklearmedizinischen Diagnostik eingesetzt wird. Eine geringe Menge eines radioaktiven Stoffes, seine Verteilung im Organismus und sein Weg durch den menschlichen Körper können von außen verfolgt werden. Dies gibt Auskunft über diverse Stoffwechselfunktionen des Körpers. Zunehmender Strahlenschutz wird dabei durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Radionuklide erreicht. So wurden beispielsweise die Quecksilberverbindungen 203Chlor-Merodrin und 197Chlor-Merodrin in den 1960er Jahren wieder verlassen, da Substanzen entwickelt worden waren, die bei geringerer Strahlenbelastung eine höhere Photonenausbeute zuließen. In der Radionuklidtherapie werden Betastrahler wie 131I, 90Y verwendet. In der nuklearmedizinischen Diagnostik werden die β+-Strahler 18F, 11C, 13N und 15O in der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) als radioaktive Markierung der Tracer eingesetzt. An der Entwicklung der Radiopharmaka (isotopenmarkierte Arzneimittel) arbeitet kontinuierlich die Radiopharmazie.
Reste aus der Radiopharmazie, wie beispielsweise leere Applikationsspritzen und kontaminierte Reststoffe der Patienten aus der Toilette, dem Dusch- und Waschwasser werden in Tanks aufgefangen und dort so lange gelagert, bis sie gefahrlos in die Kanalisation abgepumpt werden können. Die Lagerungszeit hängt von der Halbwertszeit ab und liegt je nach Radionuklid bei einigen Wochen bis einigen Monaten. Seit 2001 wird in Freigabemessplätzen gemäß § 29 Strahlenschutzverordnung die spezifische Radioaktivität in den Abfallbehältern erfasst und der Zeitpunkt für die Freigabe automatisch berechnet. Dazu sind Messungen der Probenaktivität in Bq/g und der Oberflächenkontamination in Bq/cm² erforderlich. Zudem wird das Verhalten der Patienten nach ihrer Entlassung aus der Klinik vorgeschrieben. Zum Schutz des Personals werden Spritzenabfüllsysteme, Bohrlochmessplätze zur nuklidspezifischen Messung γ-strahlender Einzelproben mit geringer Aktivität und kleinem Volumen, ein Liftsystem in die Messkammer, um die Strahlenexposition beim Umgang mit hochaktiven Proben zu reduzieren, Sondenmessplätze, ILP-Messplätze (englisch Isolated Limb Perfusion ‚isolierte Gliedmaßenperfusion‘), um während der Operation die Aktivität mit einem oder mehreren Detektoren zu kontrollieren und dem chirurgischen Onkologen eine Leckage zu melden.
==== Radioiodtherapie ====
Die Radioiodtherapie (RIT) ist ein nuklearmedizinisches Therapieverfahren zur Behandlung der Schilddrüsenautonomie, des Morbus Basedow, der Schilddrüsenvergrößerung und bestimmter Formen des Schilddrüsenkrebses. Eingesetzt wird das radioaktive Iod-Isotop 131Iod, einem überwiegenden Beta-Strahler mit einer Halbwertszeit von acht Tagen, der im menschlichen Körper nur in Schilddrüsenzellen gespeichert wird. 1942 veröffentlichten Saul Hertz (1905–1950) vom Massachusetts General Hospital und der Physiker Arthur Roberts ihren Bericht über die erste Radioiodtherapie (1941) beim Morbus Basedow, damals noch überwiegend mit dem Isotop 130Iod mit einer Halbwertszeit von 12,4 Stunden. Zeitgleich führten Joseph Gilbert Hamilton (1907–1957) und John Hundale Lawrence (1904–1991) die erste Therapie mit 131Iod durch – dem Isotop, das auch heute noch verwendet wird.Die Radioiodtherapie unterliegt in vielen Ländern besonderen gesetzlichen Bestimmungen und darf in Deutschland nur stationär durchgeführt werden. In Deutschland existieren etwa 120 Therapieeinrichtungen (Stand 2014), in denen etwa 50.000 Behandlungen jährlich durchgeführt werden. In Deutschland beträgt die Mindestaufenthaltsdauer auf der Therapiestation 48 Stunden. Die Entlassung hängt von der im Körper verbliebenen Restaktivität ab. 1999 wurde der Grenzwert für die Restaktivität erhöht. Die Dosisleistung darf in 2 Meter Abstand vom Patienten 3,5 µSv pro Stunde nicht überschreiten, wodurch innerhalb eines Jahres bei einem Abstand von 2 Metern eine Strahlenexposition von 1 mSv nicht überschritten wird. Dies entspricht einer Restaktivität von etwa 250 MBq. Ähnliche Regelungen gelten in Österreich.
In der Schweiz darf eine Strahlenexposition von maximal 1 mSv pro Jahr und für die Angehörigen des Patienten maximal 5 mSv pro Jahr nicht überschritten werden. Nach der Entlassung nach einer Radioiodtherapie ist eine Dosisleistung in 1 Meter Abstand von höchstens 5 µSv pro Stunde zulässig, was einer Restaktivität von etwa 150 MBq entspricht. Bei einer vorzeitigen Entlassung muss diese bis zu einer Dosisleistung von 17,5 µSv/h der Aufsichtsbehörde angezeigt werden, ab 17,5 µSv/h muss hierfür eine Genehmigung eingeholt werden. Bei Verlegung des Patienten auf eine andere Station muss der zuständige Strahlenschutzbeauftragte dafür sorgen, dass dort geeignete Maßnahmen zum Strahlenschutz ergriffen werden, zum Beispiel vorübergehend ein Kontrollbereich eingerichtet wird.
==== Szintigrafie ====
Die Szintigrafie ist eine Untersuchungsmethode aus dem Bereich der Nuklearmedizin: Dem Patienten werden dabei schwach radioaktive Stoffe als Arzneimittel zu Diagnosezwecken injiziert. Hierzu gehört die Knochenszintigrafie, die Schilddrüsenszintigrafie, die Octreotid-Szintigrafie und als Weiterentwicklung des Verfahrens die Einzelphotonen-Emissionscomputertomographie (englisch Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT)). Beispielsweise werden in der Myokardszintigrafie zur Diagnostik der Durchblutungsverhältnisse und Funktion des Herzmuskels (Myokard) 201Tl-Thallium(I)-chlorid, Technetium-Verbindungen (99mTc-Tracer, 99mTechnetium-Tetrofosmin), PET-Tracer (mit einer Strahlenbelastung von jeweils 1100 MBq bei 15O-Wasser, 555 MBq bei 13N-Ammoniak oder 1850 MBq bei 82Rb-Rubidiumchlorid) angewandt. Die Untersuchung mit 74 MBq 201Thalliumchlorid verursacht eine Strahlenexposition von etwa 16 mSv (effektive Äquivalentdosis), die Untersuchung mit 740 MBq 99mTechnetium-MIBI von etwa 7 mSv. Metastabiles 99mTc ist aufgrund seiner kurzen Halbwertszeit, der emittierten Gammastrahlung mit einer Energie von 140 keV und seiner Fähigkeit, sich an viele aktive Biomoleküle anzulagern, das bei weitem wichtigste, als Tracer für szintigrafische Untersuchungen eingesetzte Nuklid. Nach der Untersuchung wird der größte Teil wieder ausgeschieden. Das verbleibende 99mTc zerfällt bei einer 6-Stunden-Halbwertszeit schnell in 99Tc. Dieses besitzt eine lange Halbwertszeit von 212.000 Jahren und trägt wegen der relativ weichen Betastrahlung, die bei seinem Zerfall frei wird, nur zu einer geringen zusätzlichen Strahlenbelastung über die restliche Lebenszeit bei. Allein in den USA werden für Diagnosezwecke pro Jahr etwa sieben Millionen Einzeldosen 99mTc verabreicht.
Um die Strahlenbelastung zu reduzieren hat die American Society of Nuclear Cardiology (ASNC) 2010 Dosierungsempfehlungen abgegeben. Mit 13N-Ammoniak kommen 2,4 mSv (effektive Dosis), mit 15O-Wasser 2,5 mSv, mit 18F-Fluordesoxyglucose 7 mSv und mit 82Rb-Rubidiumchlorid 13,5 mSv zustande. Durch die Befolgung dieser Empfehlungen wird eine Reduzierung der durchschnittlichen Strahlenexposition auf ≤ 9 mSv erwartet. Die Verordnung über radioaktive oder mit ionisierenden Strahlen behandelte Arzneimittel (§ 2 AMRadV) regelt die Genehmigungsverfahren zur Verkehrsfähigkeit radioaktiver Arzneimittel.
==== Brachytherapie ====
Mittels der Brachytherapie wird eine umschlossene radioaktive Strahlenquelle innerhalb oder in unmittelbarer Nähe des zu bestrahlenden Gebietes im Körper zur Krebstherapie, beispielsweise dem Prostatakarzinom, platziert. Oft wird dabei die Afterloading-Brachytherapie mit der Teletherapie, einer Bestrahlung von extern und aus größerer Entfernung als bei der Brachytherapie, kombiniert. Sie wird nicht zu den nuklearmedizinischen Verfahren gezählt, obwohl sie ebenso wie diese die von Radionukliden abgegebene Strahlung ausnutzt. Nach dem anfänglichen Interesse an der Brachytherapie Anfang des 20. Jahrhunderts ging ihre Anwendung in der Mitte des 20. Jahrhunderts wegen der Strahlenbelastung für die Ärzte bei der manuellen Handhabung der Strahlenquellen zurück. Erst die Entwicklung von ferngesteuerten Nachladesystemen (Afterloading) und die Verwendung neuer Strahlenquellen in den 1950er und 1960er Jahren verringerten das Risiko unnötiger Strahlenbelastung für Arzt und Patient. Beim Afterloadingverfahren wird vor der eigentlichen Therapie ein leerer, röhrenförmiger Applikator in das Zielvolumen (beispielsweise die Gebärmutter) geschoben und nach Lagekontrolle mit einem radioaktiven Präparat beschickt. Das Präparat befindet sich dabei an der Spitze eines Stahldrahtes, der computergesteuert schrittweise vor- und zurückgezogen wird. Nach der vorausberechneten Zeit wird die Quelle wieder in einen Tresor zurückgezogen und der Applikator entfernt. Angewendet wird das Verfahren unter anderem beim Mammakarzinom, beim Bronchialkarzinom oder Mundbodenkarzinom. Verwendet werden Betastrahler wie beispielsweise 90Sr oder 106Ru oder 192Ir. Als Vorsichtsmaßnahme wird Patienten, die eine permanente Brachytherapie erhalten, geraten, unmittelbar nach der Behandlung keine kleinen Kinder zu halten und sich nicht in der Nähe von schwangeren Frauen aufzuhalten, da im Fall einer permanenten Brachytherapie nach der Behandlung schwach dosierte radioaktive Strahlenquellen (Seeds) im Körper verbleiben. Die besonders strahlenempfindlichen Gewebe eines Fötus oder Säuglings sollen dadurch geschützt werden.
==== Thorium als Medikament und Röntgenkontrastmittel ====
Radioaktives Thorium wurde in den 1950er und 60er Jahren (auch bei Kindern) gegen Tuberkulose und andere gutartige Erkrankungen eingesetzt, mit schwerwiegenden Folgen (siehe Peteosthor). Eine stabilisierte Suspension von kolloidalem Thorium(IV)-oxid, die von António Egas Moniz (1874–1954) mitentwickelt worden war, wurde ab 1929 unter dem Handelsnamen Thorotrast als Röntgenkontrastmittel für die Angiografie bis zu seinem Verbot Mitte der 1950er Jahre weltweit an mehreren Millionen Patienten verwendet. Es reichert sich im retikulohistiozytären System an und kann aufgrund örtlich erhöhter Strahlenbelastung zu Krebs führen. Ähnliches gilt für das Gallengangskarzinom und das Angiosarkom der Leber, zwei seltene Leberkrebse. Ebenso sind Karzinome der Nasennebenhöhlen nach der Verabreichung von Thorotrast beschrieben. Typischerweise treten die Erkrankungen 30–35 Jahre nach der Exposition auf. Die biologische Halbwertszeit beträgt etwa 400 Jahre. Die größte diesbezügliche Studie wurde in Deutschland im Jahr 2004 durchgeführt; sie zeigte die besonders hohe Sterblichkeitsrate der so exponierten Patienten auf. Im Median war die Lebenserwartung in einem siebzigjährigen Beobachtungszeitraum 14 Jahre kürzer als in der Vergleichsgruppe.
== Kernwaffen und Kernenergie ==
=== Strahlenauswirkungen beim Atombombenangriff und Folgen für den Strahlenschutz ===
Nach den US-amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 starben – neben den 100.000 Sofortopfern – bis Ende 1945 weitere 130.000 Menschen an den Strahlenfolgen. Bei manchen trat die sogenannte Walking-Ghost-Phase auf, eine durch eine hohe Äquivalentdosis von 6 bis 20 Sievert hervorgerufene akute Strahlenkrankheit nach tödlicher Ganzkörperdosis. Die Phase bezeichnet den Zeitraum scheinbarer Erholung eines Patienten zwischen dem Auftreten erster massiver Beschwerden und dem unvermeidlich folgenden Tod. In den Folgejahren kamen etliche Todesfälle durch strahleninduzierte Krankheiten hinzu. Die strahlengeschädigten Überlebenden werden in Japan als Hibakusha (japanisch 被爆者 ‚‚Explosionsopfer‘‘) bezeichnet und vorsichtig auf etwa 100.000 geschätzt.Um die Spätfolgen der Strahlung unter den Überlebenden nach diesen Atombombenabwürfen zu untersuchen, wurde 1946 die Atomic Bomb Casualty Commission (ABCC, deutsch etwa ‚Kommission für Atombomben-Personenschäden‘) gegründet; dies geschah durch den Nationalen Forschungsrat der National Academy of Sciences auf Anordnung von US-Präsident Harry S. Truman. 1975 wurde die ABCC von der Radiation Effects Research Foundation (RERF) abgelöst. Auf Basis der untersuchten und teilweise über Jahrzehnte medizinisch begleiteten Atombombenopfer analysieren Organisationen wie United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR, deutsch ‚Komitee der Vereinten Nationen über die Wirkung der atomaren Strahlung‘), das 1955 gegründet wurde, und National Academy of Sciences – Advisory Committee on the Biological Effects of Ionizing Radiation (BEIR Committee, gegründet 1972, deutsch ‚Beratender Ausschuss der Nationalen Akademie der Wissenschaften für die biologischen Wirkungen ionisierender Strahlung‘) die Auswirkungen der Strahlenexposition auf den Menschen. Sie ermitteln den Verlauf der Sterberate abhängig vom Lebensalter bei den Strahlungsopfern im Vergleich zur Spontanrate und auch die Dosisabhängigkeit der Anzahl der zusätzlichen Toten. Bisher erschienen 26 UNSCEAR-Berichte, die online abrufbar sind, zuletzt 2017 zu den Auswirkungen des Reaktorunfalls in Fukushima.Spätestens ab 1949 fühlten sich die Amerikaner durch die Möglichkeit eines Atomkriegs mit der Sowjetunion zunehmend bedroht und suchten nach Wegen, einen nuklearen Angriff zu überleben. Die U.S. Federal Civil Defense Administration (USFCDA) wurde von der Regierung gegründet und sollte die Öffentlichkeit informieren, wie man sich auf eine solche Attacke vorbereiten könne. 1951 entstand in den USA mit Unterstützung dieser Behörde unter anderem ein Lehrfilm für Kinder mit dem Titel Duck and Cover (deutsch: „sich ducken und bedecken“), in dem eine Schildkröte demonstriert, wie man sich mit einem Mantel, Tischtüchern oder auch einer Zeitung vor den unmittelbaren Folgen einer Atombombenexplosion ausreichend schützen soll.In dem Bewusstsein, dass die bestehenden medizinischen Kapazitäten im Ernstfall nicht ausreichen würden, besann man sich auf Zahnärzte, die im Notfall entweder den Ärzten assistieren oder, falls notwendig, auch eigenständig Hilfe leisten könnten. Um den Berufsstand mit Hilfe eines prominenten Vertreters zu mobilisieren, wurde im Juli 1951 der Zahnarzt Russell Welford Bunting (1881–1962), Dekan der University of Michigan Dental School, als zahnärztlicher Berater für die USFCDA gewonnen.Der US-amerikanische Physiker Karl Ziegler Morgan (1907–1999) war einer der Begründer der Strahlengesundheitsphysik. In seinem späteren Leben, nach einer langen Karriere im Manhattan-Projekt und am Oak Ridge National Laboratory (ORNL), wurde er zum Kritiker der Atomkraft- und Atomwaffenproduktion. Morgan war Direktor der Health Physics am ORNL seit Ende der 1940er Jahre bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1972. Im Jahr 1955 wurde er der erste Präsident der Health Physics Society und war Redakteur der Zeitschrift Health Physics von 1955 bis 1977.Atomschutzbunker sollen für einen längeren, definierten Zeitraum Schutz bieten. Entsprechende Schutzräume müssen auf Grund der Eigenheiten der nuklearen Kriegsführung längere Zeit vollständig autark sein. Insbesondere wegen der radioaktiven Verseuchung des Umlands muss eine solche Anlage das Überleben einige Wochen ermöglichen. 1959 begannen in Deutschland die streng geheimen Bauarbeiten für einen Regierungsbunker im Ahrtal. Im Juni 1964 probten 144 Testpersonen sechs Tage lang das Überleben in einem zivilen Atombunker. Dieser Dortmunder Bunker stammte aus den Zeiten des Zweiten Weltkrieges und war zu Beginn der 1960er Jahre für viel Geld in einen kernwaffensicheren Bau umgewandelt worden. Ein Bunkerbau für Millionen Bundesbürger wäre jedoch überhaupt nicht zu bewältigen. Die Schweizer Armee erstellte 1964 rund 7800 Atomschutzunterstände. Insbesondere in den USA, aber auch in Europa, bauten Bürger in Eigeninitiative private Atomschutzbunker in ihren Vorgärten. Diese Baumaßnahmen wurden größtenteils geheim gehalten, weil die Besitzer befürchteten, dass sich im Krisenfall Dritte des Bunkers bemächtigen könnten.
=== Fallout und Kontamination ===
Am 16. Juli 1945 fand in der Nähe der Stadt Alamogordo (New Mexico, USA) der erste Atombombentest statt. Als Folge der atmosphärischen Kernwaffenversuche, die neben den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vor allem Frankreich, Großbritannien und China durchführten, wurde die Erdatmosphäre ab den 1950er Jahren zunehmend mit Spaltprodukten aus diesen Tests kontaminiert. Der radioaktive Niederschlag (englisch ‚Fallout‘) landete auf der Erdoberfläche und gelangte in Pflanzen und über Futtermittel auch in Lebensmittel tierischer Herkunft. Letztlich gelangten sie in den menschlichen Körper, ließen sich unter anderem als Strontium-90 auch in Knochen und Zähnen nachweisen. Die Radioaktivität im Gelände wurde mit einem Gammaskop gemessen, wie es 1954 auf der Luftschutzgeräteausstellung in Bad Godesberg gezeigt wurde. Allein 1962 fanden rund 180 Tests statt. Das Ausmaß der radioaktiven Verunreinigung der Lebensmittel löste Anfang der 1960er Jahre weltweite Proteste aus.
Während des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges, über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahre, fand die Produktion von Plutonium für US-Kernwaffen in Hanford Site statt. Auch das Plutonium der ersten Plutonium-Atombombe, Fat Man, stammt von dort. Hanford gilt als der radioaktiv am schwersten kontaminierte Ort in der westlichen Hemisphäre. Insgesamt wurden dort 110.000 Tonnen Nuklearbrennstoff produziert. 1948 trat aus der Anlage eine radioaktive Wolke aus. Allein der Anteil an 131I betrug 5500 Curie. Die meisten Reaktoren in Hanford wurden in den 1960er Jahren abgeschaltet; es wurde aber keine Entsorgung und Dekontamination durchgeführt. Nach Vorarbeiten wird seit 2001 in Hanford die größte Dekontaminationsaktion der Welt durchgeführt, um die radioaktiven und giftigen Abfälle sicher zu entsorgen. Etwa 11.000 Arbeiter waren noch 2006 damit beschäftigt, kontaminierte Gebäude und Böden zu sanieren, um die Strahlungsintensität auf dem Gelände auf ein tragbares Niveau zu reduzieren. Diese Maßnahmen werden vermutlich bis zum Jahr 2052 dauern. Schätzungen nach sind mehr als vier Millionen Liter radioaktive Flüssigkeit aus den Lagerungsbehältern ausgelaufen.
Erst nachdem die beiden Großmächte sich 1963 auf ein Teststopabkommen (englisch Partial Test Ban Treaty ‚Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser‘) geeinigt hatten, das nur noch unterirdische Kernwaffenversuche erlaubte, nahm der Radioaktivitätspegel in Lebensmitteln allmählich ab. Shields Warren (1896–1980), einer der Autoren eines Berichts über Auswirkungen der Atombomben-Abwürfe über Japan, wurde wegen der Verharmlosung der Auswirkungen der Reststrahlung in Hiroshima und Nagasaki kritisiert, warnte jedoch später vor den Gefahren des Fallouts. Mit Dispersion bezeichnet man die Ausbreitung von Radioaktivität im Kontext der jeweiligen meteorologischen Situation. Ein Modellversuch wurde 2008 durchgeführt.Die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (englisch International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN)) ist ein internationales Bündnis von Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Abschaffung aller Atomwaffen durch einen bindenden völkerrechtlichen Vertrag – eine Atomwaffenkonvention – einsetzt. ICAN wurde 2007 bei der Konferenz des Atomwaffensperrvertrags in Wien von der IPPNW (englisch International Physicians for the Prevention of Nuclear War ‚Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges‘) und anderen Organisationen ins Leben gerufen und in zwölf Ländern gestartet. Inzwischen nehmen an der Kampagne 468 Organisationen in 101 Ländern teil (Stand 2017). ICAN erhielt den Friedensnobelpreis 2017.
=== Radioprotektoren ===
Ein Radioprotektor ist ein Pharmakon, das nach seiner Verabreichung selektiv gesunde Zellen vor den toxischen Auswirkungen ionisierender Strahlung schützen soll. Die ersten Arbeiten mit Radioprotektoren begannen im Rahmen des Manhattan-Projekts, eines militärischen Forschungsprojekts zur Entwicklung und zum Bau einer Atombombe.
Vom Körper aufgenommenes Iod wird fast vollständig in der Schilddrüse mit einer biologischen Halbwertszeit von etwa 120 Tagen gespeichert. Ist das Iod radioaktiv (131I), so kann es in dieser Zeit die Schilddrüse in hohen Dosen bestrahlen und schädigen. Da die Schilddrüse nur eine begrenzte Menge Iod aufnimmt, kann vorbeugend verabreichtes nicht radioaktives Iod zu einer Iodblockade führen. Kaliumiodid in Tablettenform (umgangssprachlich „Iodtabletten“) vermindert auf diese Weise die Aufnahme radioaktiven Iods in die Schilddrüse um den Faktor 90 und darüber und dient so als Radioprotektor. Alle übrigen Strahlenschäden bleiben durch die Einnahme von Iodtabletten unbeeinflusst. Zur Sicherstellung der „Versorgung der Bevölkerung mit kaliumiodidhaltigen Arzneimitteln bei radiologischen Ereignissen“ wurde in Deutschland 2003 die Kaliumiodidverordnung (KIV) erlassen (§ 1, Abs. 1 KIV). Kaliumiodid wird in der Regel in Gemeinden im Umkreis kerntechnischer Anlagen vorgehalten, um im Katastrophenfall an die Bevölkerung ausgegeben zu werden. Personen über 45 Jahren sollten keine Iodtabletten einnehmen, weil das Risiko von Nebenwirkungen höher wäre als das Risiko, später an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. In der Schweiz werden im Nahbereich von Kernkraftwerken (früher 20 km, seit 2014 50 km) seit 2004 alle fünf Jahre vorsorglich Tabletten an die Bevölkerung verteilt. In Österreich gibt es seit 2002 eine umfassende Bevorratung der Iodtabletten in Apotheken, Kindergärten, Schulen, beim Heer und in der sogenannten Bundesreserve.Dank der Schutzfunktion von Radioprotektoren kann die Strahlendosis bei einer gegen bösartige Tumoren (Krebs) gerichteten Strahlentherapie erhöht und so die Wirksamkeit der Therapie gesteigert werden. Daneben gibt es auch Radiosensitizer, die die Empfindlichkeit von bösartigen Tumorzellen gegenüber ionisierender Strahlung erhöhen. Bereits 1921 beschrieb der deutsche Röntgenologe Hermann Holthusen (1886–1971), dass Sauerstoff die Empfindlichkeit von Zellen erhöht.
=== Nuklearunfälle und -katastrophen ===
Die 1957 als Unterorganisation der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gegründete Nuclear Energy Agency (NEA) bündelt die wissenschaftlichen und finanziellen Ressourcen der Nuklearforschungsprogramme der beteiligten Staaten. Sie betreibt verschiedene Datenbanken, sie managt auch die Datenbank für Störungen in nuklearen Anlagen (International Reporting System for Operating Experience, „IRS“ oder „IAEA/NEA Incident Reporting System“ genannt) der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO, englisch International Atomic Energy Agency, IAEA). Die IAEO erfasst und untersucht die weltweit aufgetretene Strahlenunfälle die im Zusammenhang mit nuklearmedizinischen Verfahren und der Entsorgung diesbezüglicher Substanzen stehen.Die International Nuclear and Radiological Event Scale (INES, deutsch Internationale Bewertungsskala für nukleare und radiologische Ereignisse) ist eine Skala für sicherheitsrelevante Ereignisse, im Speziellen Störfälle und Atomunfälle in kerntechnischen Anlagen. Sie wurde von einer internationalen Expertengruppe erarbeitet, die gemeinsam von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und der Kernenergiebehörde der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 1990 offiziell eingeführt. Ziel der Skala ist es, die Öffentlichkeit anhand einer nachvollziehbaren Einstufung der Ereignisse rasch über die sicherheitstechnische Bedeutung eines Ereignisses zu informieren.
Nach dem Ende der Nutzung ist die sachgerechte Entsorgung der immer noch hohen Aktivität von größter Bedeutung. Unsachgemäße Verschrottung des Radionuklids Cobalt-60, das in Kobaltkanonen in der Strahlentherapie zur Anwendung kommt, verursachte folgenschwere Strahlenunfälle, wie beispielsweise 1983/84 beim Radiologischen Unfall von Ciudad Juárez (Mexiko), im Jahr 1987 beim Goiânia-Unfall (Brasilien), im Jahr 2000 beim Nuklearunfall von Samut Prakan (Thailand) oder in Mayapuri (Indien) 2010.Der Linearbeschleuniger Therac-25 wurde von 1982 bis 1985 in elf Exemplaren von der kanadischen Atomic Energy of Canada Limited (AECL) gebaut und in Kliniken in den USA und in Kanada installiert. Durch Softwarefehler und mangelnde Qualitätssicherung war ein schwerer Funktionsfehler möglich, der von Juni 1985 bis 1987 drei Patienten das Leben kostete und drei weitere schwer verletzte, bevor geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen wurden. Die Strahlenbelastung in den sechs Fällen wurde nachträglich auf 40 bis 200 Gray geschätzt; eine normale Behandlung entspricht einer Dosis unter 2 Gray.Um das Jahr 1990 waren in Deutschland noch etwa hundert Cobalt-Geräte im Einsatz. Inzwischen wurde eine Umstellung auf Elektronen-Linearbeschleuniger durchgeführt und die letzte Kobaltkanone 2000 stillgelegt.
Die Nuklearkatastrophe von Fukushima von 2011 bestärkte die Notwendigkeit eines entsprechenden Sicherheitsmanagements, der Ableitung von Sicherheitsindikatoren bezüglich der ermittelten Häufigkeiten von Störungen und Fehlhandlungen durch das Personal, demnach der menschliche Faktor (englisch Human Factors). Die Nuclear Safety Commission of Japan (NSC, deutsch „Nuklearsicherheitskommission Japans“; japanisch 原子力安全委員会 genshiryoku anzen iinkai) war ein Gremium von Wissenschaftlern, das die japanische Regierung in Angelegenheiten der Sicherheit kerntechnischer Anlagen beriet. Die Kommission wurde 1978 eingerichtet, wurde jedoch nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima am 19. September 2012 aufgelöst und durch die Genshiryoku Kisei Iinkai (japanisch 原子力規制委員会 ‚Atomkraftregulierungsausschuss‘, englisch Nuclear Regulation Authority) ersetzt. Sie ist eine selbstständige Behörde (gaikyoku, „Außenamt“) des japanischen Umweltministeriums, die die Sicherheit in japanischen Kernkraftwerken und verwandten Anlagen reguliert und überwacht.
Als Folge der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 wurde von der IAEO 1991 erstmals der Begriff der „Sicherheitskultur“ (englisch safety culture) geprägt, um auf die Wichtigkeit von menschlichen und organisatorischen Belangen für den sicheren Betrieb von Kernkraftwerken aufmerksam zu machen.
Nach dieser Nuklearkatastrophe wurde in Deutschland der Sand aus Sandkästen auf Kinderspielplätzen entsorgt und durch unbelasteten Sand ersetzt, um die durch Radioaktivität besonders gefährdeten Kinder zu schützen. Manche Familien verließen vorübergehend die Bundesrepublik, um dem Fallout zu entgehen. Die Säuglingssterblichkeit war 1987, im Jahr nach Tschernobyl, signifikant um 5 % erhöht. Insgesamt sind in diesem Jahr 316 Neugeborene mehr gestorben als statistisch erwartet. Jährlich nehmen in Deutschland die Cäsium137-Inventare aus der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl um 2–3 % in Boden und Nahrungsmitteln ab; die Kontamination von Wild und Pilzen war jedoch im Jahr 2015 vor allem in Bayern immer noch vergleichsweise hoch; Überschreitungen der Grenzwerte gibt es in nicht wenigen Fällen bei Wildbret, insbesondere bei Wildschweinfleisch. Diesbezügliche Kontrollen erfolgen jedoch nur unzulänglich.
=== Meerversenkung radioaktiver Abfälle ===
In den Jahren 1969–1982 wurden konditionierte schwach- und mittelradioaktive Abfälle nach den Bestimmungen der europäischen Vereinbarung zur Verhinderung der Meeresverschmutzung durch das Versenken von Abfällen jeder Art (London Dumping Convention vom 11. Juni 1974) unter der Aufsicht der NEA (Nuclear Energy Agency) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (englisch Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD) im Atlantik in etwa 4000 m Tiefe endgelagert. Dies wurde von mehreren europäischen Ländern gemeinsam durchgeführt. Seit 1993 ist die Entsorgung radioaktiver Abfälle in den Ozeanen durch internationale Verträge verboten. Jahrzehntelang war diese Atommüllverklappung der Öffentlichkeit kaum bekannt, bis in den 1980er Jahren Greenpeace sie anprangerte.
=== Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle ===
Seit Inbetriebnahme der ersten kommerziellen Kernkraftwerke (USA 1956, Deutschland 1962) wurden in den nachfolgenden Jahrzehnten verschiedenste Endlagerkonzepte für radioaktive Stoffe vorgeschlagen, unter denen nur die Einlagerung in tiefe geologische Formationen als sicher und innerhalb überschaubarer Fristen realisierbar erschien und weiterverfolgt wurde. Wegen der großen Aktivität der kurzlebigen Spaltprodukte werden verbrauchte Brennelemente zunächst nur unter Wasser gehandhabt, sie werden mehrere Jahre in einem Abklingbecken verwahrt. Das Wasser dient einerseits zur Kühlung, andererseits schirmt das Wasser einen großen Teil der emittierten Strahlung ab. Danach schließt sich entweder eine Wiederaufarbeitung oder eine jahrzehntelange Zwischenlagerung an. Auch Abfälle aus der Wiederaufarbeitung müssen zwischengelagert werden, bis die Wärmeentwicklung so weit zurückgegangen ist, dass eine Endlagerung möglich ist. Castoren sind Spezialbehälter zur Lagerung und zum Transport hochradioaktiver Materialien. Ihre maximal zulässige Dosisleistung ist 0,35 mSv/h, wovon maximal 0,25 mSv/h durch Neutronenstrahlung verursacht sind. Die Sicherheit dieser Transportbehälter wird seit 1980 alle drei Jahre auf dem International Symposium on the Packaging and Transportation of Radioactive Materials PATRAM diskutiert.Nach diversen Versuchen, wie dem Atommülllager Gorleben oder der Schachtanlage Asse, erarbeitete in den Jahren 1999 bis 2002 ein Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AkEnd) Empfehlungen für ein neues Auswahlverfahren für Endlagerstandorte. In Deutschland wurden 2013 das Standortauswahlgesetz und am 23. März 2017 das Gesetz zur Fortentwicklung der Standortsuche beschlossen. Ein geeigneter Standort soll in ganz Deutschland gesucht und bis 2031 ausfindig gemacht werden. Grundsätzlich kommen für einen Endlagerstandort die Gesteinsarten Kristallin (Granit), Salz oder Ton in Frage. Den „idealen“ Standort wird es nicht geben. Gesucht wird nach dem „bestmöglichen“ Standort. Bergbaugebiete und Gegenden, in denen Vulkane aktiv waren oder die Gefahr von Erdbeben besteht, sind ausgeschlossen. International befürworten Fachleute eine Lagerung in Gesteinsschichten mehrere hundert Meter unter der Erdoberfläche. Hierzu wird ein Endlagerbergwerk errichtet und die Abfälle werden eingelagert. Danach wird es dauerhaft verschlossen. Geologische und technische Barrieren, die die Abfälle umschließen, sollen sie über Jahrtausende sicher abschirmen. 300 Meter Gestein sollen zum Beispiel das Endlager von der Erdoberfläche trennen. Eine 100 Meter starke Schicht aus Granit, Salz oder Ton muss es umgeben. Mit der Einlagerung der ersten Abfälle wird nicht vor 2050 gerechnet.Das Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE) nahm am 1. September 2014 seine Tätigkeit auf. Das Aufgabenfeld umfasst Aufgaben der kerntechnischen Sicherheit, der nuklearen Entsorgungssicherheit, des Standortauswahlverfahrens einschließlich der Forschungstätigkeit auf diesen Gebieten und später weitere Aufgaben auf dem Gebiet der Zulassung und Aufsicht von Endlagern.
In den USA wurde zunächst Yucca Mountain als Endlagerstätte ausgewählt, dieses Vorhaben jedoch im Februar 2009 einstweilen gestoppt. Der Yucca Mountain war Ausgangspunkt einer Untersuchung zur Atomsemiotik.
=== Atomsemiotik ===
Durch den Betrieb von Kernkraftwerken und anderen kerntechnischen Einrichtungen werden radioaktive Stoffe in Mengen erzeugt, deren gesundheitliche Auswirkungen noch in Tausenden von Jahren tödlich sein können. Es gibt keine Einrichtung, die in der Lage ist, über solche Zeiträume das notwendige Wissen über die Gefahren zu erhalten und sicherzustellen, dass entsprechende Warnungen vor Gefahren des Atommülls in atomaren Endlagern in ferner Zukunft von der Nachwelt verstanden werden. Selbst die mit entsprechenden Warnhinweisen versehenen Kapseln des Radionuklids Cobalt-60 (siehe oben) blieben vor wenigen Jahren unbeachtet, was nach ihrer unsachgemäßen Entsorgung zur Öffnung dieser Kapseln geführt und tödliche Folgen verursacht hat. Die Zeitdimensionen übersteigen die bisherigen menschlichen Maßstäbe. Man denke an die nur etwa 5000 Jahre alte Keilschrift (vor rund 150 Menschen-Generationen), die nur nach langer Forschungstätigkeit und auch nur von Experten verstanden wird. In den USA begann die Forschung zur Entwicklung einer Atomsemiotik im Jahr 1981, im deutschsprachigen Raum wurde dazu durch Roland Posner (1942–2020) von der Arbeitsstelle für Semiotik der Technischen Universität Berlin 1982/83 gearbeitet. Für die USA wurde der zeitliche Horizont für entsprechende Warnmarkierungen auf 10.000 Jahre festgelegt, später, wie auch in Deutschland, für einen Zeitraum von einer Million Jahren, was rund 30.000 (Menschen)-Generationen entspräche. Bis heute wurde keine befriedigende Lösung für das Problem gefunden.
== Strahlenschutz bei Flügen ==
=== Höhenstrahlung ===
Im Jahr 1912 entdeckte Victor Franz Hess (1883–1964) die (sekundäre) kosmische Strahlung mithilfe von Ballonfahrten in der Erdatmosphäre. Er erhielt dafür 1936 den Nobelpreis für Physik. Auch er gehörte zu den „Märtyrern“ der frühen Strahlenforschung und musste sich auf Grund erlittener Radiumverbrennungen einer Daumenamputation und einer Operation am Kehlkopf unterziehen. In den USA und der Sowjetunion wurden vor 1960 Ballonfahrten in Höhen bis etwa 30 km mit anschließenden Fallschirmsprüngen aus der Stratosphäre unternommen, um die Belastungen zu untersuchen, denen der Mensch im Weltraum unter anderem durch kosmische Strahlung ausgesetzt ist. Bekannt wurden insbesondere die amerikanischen Projekte Manhigh und Excelsior mit Joseph Kittinger (1928–2022), aber auch der sowjetische Springer Jewgeni Andrejew (1926–2000) stellte neue Rekorde auf.
Energiereiche Strahlung aus dem Weltall tritt in großen Höhen erheblich stärker in Erscheinung als auf Meeresniveau. Die Strahlenexposition für fliegendes Personal und Flugreisende ist deshalb erhöht. Die Internationale Strahlenschutzkommission (englisch International Commission on Radiological Protection, ICRP) legte Empfehlungen über Dosisgrenzwerte vor, die 1996 in europäisches Recht und 2001 in die deutsche Strahlenschutzverordnung übernommen wurden. Insbesondere bei Flügen in den Polarregionen beziehungsweise über die Polroute ist die Strahlenbelastung besonders hoch. Die mittlere effektive Jahresdosis des Luftfahrtpersonals betrug 2015 1,9 mSv, 2016 2,0 mSv. Der höchste Jahrespersonendosiswert lag 2015 bei 5,7 mSv, 2016 bei 6,0 mSv. Die Kollektivdosis für das Jahr 2015 betrug etwa 76 Personen-Sv. Damit zählt das fliegende Personal bezüglich der Kollektivdosis und der mittleren Jahresdosis zu den am höchsten strahlenexponierten Berufsgruppen Deutschlands. Zu dieser Gruppe zählen auch Vielflieger, wobei Thomas Stuker den „Rekord“ – auch an Strahlenbelastung – hält, indem er von 1982 bis zum Sommer 2011 mit 5.900 Flügen die 10-Millionen-Meilen-Grenze bei MileagePlus von United Airlines erreicht hat. Inzwischen überschritt er 2017 die 18-Millionen-Meilen-Grenze.An der Universität Siegen und am Helmholtz Zentrum München wurde das Programm EPCARD (englisch European Program Package for the Calculation of Aviation Route Dose ‚Europäisches Programmpaket zur Bestimmung der Exposition von Passagieren bzw. fliegenden Personals durch kosmische Strahlung‘) entwickelt, mit dessen Hilfe auf beliebigen Flugrouten und Flugprofilen die Dosis aus allen Komponenten der natürlichen durchdringenden kosmischen Strahlung – auch online – berechnet werden kann.
=== Strahlenschutz im Weltraum ===
Bei den ersten bemannten Weltraumflügen bis hin zur ersten Mondlandung und der Errichtung der Internationalen Raumstation (ISS) musste der Strahlenschutz mitbedacht werden. Raumanzüge für Außenbordarbeiten sind an der Außenseite mit Aluminium beschichtet, das größtenteils gegen die kosmische Strahlung schützt. Das größte internationale Forschungsvorhaben zur Bestimmung der effektiven Dosis beziehungsweise der effektiven Äquivalentdosis war das Matroschka-Experiment im Jahre 2010, das nach den Matrjoschkas, den gleichnamigen russischen ineinander schachtelbaren Holzpuppen, benannt wurde, da ein in Scheiben zerlegbares, menschengroßes Phantom verwendet wird. Im Rahmen von Matroschka wurde erstmals ein anthropomorphes {gewebeäquivalentes} Phantom an der Außenseite der Raumstation exponiert, um somit einen Astronauten, der einen Außenbordeinsatz („Weltraumspaziergang“) unternimmt, zu simulieren und dessen Strahlenexposition zu bestimmen. Ebenso muss die Mikroelektronik bei Satelliten vor der Strahlung geschützt werden.
Japanische Wissenschaftler der Japan Aerospace Exploration Agency (JAXA) haben mit ihrer Mondsonde Kaguya auf dem Mond eine riesige Höhle entdeckt, die bei künftigen Mondlandungen Astronauten Schutz vor gefährlicher Strahlung bieten könnte, insbesondere bei der geplanten Zwischenlandung einer Marsmission.Im Rahmen einer bemannten Mars-Mission müssen die Raumfahrer vor kosmischer Strahlung geschützt werden. Während der Marsmission von Curiosity wurde ein Radiation Assessment Detector (RAD) zur Messung der Strahlenbelastung eingesetzt. Die ermittelte Strahlenbelastung von 1,8 Millisievert pro Tag ergab sich hauptsächlich durch die permanent vorhandene hochenergetische galaktische Teilchenstrahlung. Die von der Sonne ausgehende Strahlung war dagegen während des Fluges von Curiosity zum Mars für lediglich etwa drei bis fünf Prozent der gemessenen Strahlenwerte verantwortlich. Auf dem Weg zum Mars konnte das RAD-Instrument insgesamt fünf größere Strahlungsevents nachweisen, welche durch Sonneneruptionen verursacht wurden. Zum Schutz der Astronauten soll zukünftig als Energieschild eine Blase aus Plasma das Raumschiff umgeben und mit ihrem Magnetfeld dafür sorgen, dass die Besatzung vor der kosmischen Strahlung geschützt wird. Damit ließe sich der mehrere Zentimeter dicke und entsprechend schwere Strahlenschutzschild herkömmlicher Bauart vermeiden. Im Projekt Space Radiation Superconducting Shield (SR2S, deutsch ‚Supraleitende Abschirmung vor kosmischer Strahlung‘), das im Dezember 2015 abgeschlossen wurde, fand man Magnesiumdiborid als brauchbares Material, um ein geeignetes magnetisches Kraftfeld zu erzeugen.
== Entwicklung messtechnischer Grundlagen des Strahlenschutzes ==
=== Dosimeter ===
Dosimeter sind Messgeräte zur Messung der Strahlendosis – als Energiedosis oder Äquivalentdosis – und daher wichtiger Eckpfeiler bei der Gewährleistung des Strahlenschutzes.
==== Filmdosimeter ====
Auf der Tagung der American Roentgen Ray Society im Oktober 1907 berichtete Rome Vernon Wagner, ein Röntgenröhrenhersteller, er habe begonnen eine photographische Platte in seiner Tasche zu tragen und diese jeden Abend zu entwickeln. So könne er feststellen, wie viel Strahlung er ausgesetzt war. Dies war der Vorläufer des Filmdosimeters. Seine Bemühungen erfolgten zu spät, denn er hatte bereits Krebs entwickelt und starb ein halbes Jahr nach der Tagung.
In den 1920er Jahren wurde die Filmdosimetrie für die routinemäßige Personalüberwachung eingeführt, an der der Physikochemiker John Eggert (1891–1973) maßgeblich beteiligt war. Sie wurde seitdem sukzessive verbessert, insbesondere wurde die Auswertetechnik seit den 1960er Jahren automatisiert. Gleichzeitig wurden von Hermann Joseph Muller (1890–1967) Mutationen als genetische Folgen von Röntgenstrahlen entdeckt, wofür er 1946 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Im gleichen Zeitraum wurde das Röntgen (R) als Einheit für die quantitative Messung der Strahlenexposition eingeführt.
Ein Filmdosimeter ist in mehrere Segmente aufgeteilt. In jedem Segment wird der in seinem Inneren befindliche licht- beziehungsweise strahlenempfindliche Film von Kupfer- und Bleischichten unterschiedlicher Dicke umgeben. Je nach Durchdringungsgrad der Strahlung wird das jeweilige Segment gar nicht oder unterschiedlich stark geschwärzt. Die Wirkung der im Laufe der Messzeit aufgenommenen Strahlung addiert sich, aus der Schwärzung kann auf die Strahlendosis geschlossen werden. Für die Auswertung existieren Richtlinien. Diejenigen für Deutschland sind 1994 erlassen und am 8. Dezember 2003 zuletzt aktualisiert worden.
==== Teilchen- und Quantendetektoren ====
Mit der Erfindung des Zählrohrs durch Geiger im Jahr 1913, aus dem 1928 das Geiger-Müller-Zählrohr hervorging – benannt nach den Physikern Hans Geiger (1882–1945) und Walther Müller (1905–1979) – ließen sich die einzelnen Teilchen oder Quanten ionisierender Strahlung nachweisen und messen. Auch später entwickelte Detektoren wie Proportionalzähler oder Szintillationszähler, die nicht nur zum „Zählen“, sondern auch zur Energiemessung und zur Unterscheidung von Strahlenarten dienen, wurden für den Strahlenschutz wichtig. Die Szintillationsmessung ist eine der ältesten Messmethoden zum Nachweis von ionisierender Strahlung oder Röntgenstrahlung; ursprünglich wurde ein Zinksulfidschirm in den Strahlengang gehalten und die Szintillationsereignisse entweder als Blitze gezählt oder im Fall der Röntgendiagnostik als Bild betrachtet. Ein als Spinthariskop bezeichneter Szintillationszähler wurde 1903 von William Crookes (1832–1919) entwickelt und von Ernest Rutherford (1871–1937) zur Untersuchung der Streuung von α-Teilchen an Atomkernen eingesetzt.
==== Thermolumineszenzdosimeter ====
Bereits 1950 war Lithiumfluorid in den USA von Farrington Daniels (1889–1972), Charles A. Boyd und Donald F. Saunders (1924–2013) für die Festkörperdosimetrie mittels Thermolumineszenzdosimeter vorgeschlagen worden. Die Intensität des Thermolumineszenzlichts ist proportional zu der Menge der zuvor absorbierten Strahlung. Diese Art der Dosimetrie wird seit 1953 unter anderem bei der Behandlung von Krebspatienten eingesetzt und überall dort verwendet, wo Personen beruflich strahlenexponiert sind. Dem Thermolumineszenzdosimeter folgte die OSL-Dosimetrie, die nicht auf Wärme, sondern auf einer optisch stimulierten Lumineszenz beruht und von Zenobia Jacobs und Richard Roberts an der University of Wollongong (Australien) entwickelt wurde. Der Detektor gibt die gespeicherte Energie in Form von Licht wieder ab. Die mit Photomultipliern gemessene Lichtleistung ist dann ein Maß für die Dosis.
=== Ganzkörperzähler ===
Ganzkörperzähler dienen seit 2003 im Strahlenschutz zur Überwachung der Aufnahme (Inkorporation) von Radionukliden bei Menschen, die mit gammastrahlenden offenen radioaktiven Stoffen umgehen und eventuell durch die Nahrung, durch das Einatmen von Stäuben und Gasen oder über offene Wunden kontaminiert sind. (α- und β-Strahler sind damit nicht messbar).
=== Prüfkörper ===
Bei der Konstanzprüfung erfolgt eine Überprüfung von Bezugswerten im Rahmen der Qualitätssicherung in der Röntgendiagnostik, der nuklearmedizinischen Diagnostik und der Strahlentherapie. Es ist in den jeweiligen nationalen Bestimmungen festgelegt, welche Parameter zu prüfen sind, welche Grenzwerte einzuhalten sind, welche Prüfverfahren anzuwenden und welche Prüfkörper zu benutzen sind. In Deutschland fordern die Richtlinie „Strahlenschutz in der Medizin“ und die einschlägige DIN-Norm 6855 in der Nuklearmedizin regelmäßige (zum Teil arbeitstägliche) Konstanzprüfungen. Zur Prüfung des Ansprechvermögens von Sonden-Messplätzen sowie von In-vivo- und In-vitro-Messplätzen werden Prüfstrahler eingesetzt. Vor Beginn der Untersuchungen sind arbeitstäglich die Untergrundzählrate und die Einstellung des Energiefensters, mindestens einmal wöchentlich die Einstellungen und die Ausbeute bei reproduzierbarer Geometrie mit einem geeigneten Prüfstrahler, beispielsweise 137Caesium, zu überprüfen (DIN 6855-1). Die Bezugswerte der Konstanzprüfung werden bei der Abnahmeprüfung festgelegt.
Für medizinischen Röntgenbilder sind kompakte Prüfkörper erst 1982 entstanden. Zuvor diente oftmals der Patient selbst als Objekt zur Anfertigung von Röntgentestaufnahmen. Prototypen eines solchen Röntgenphantoms mit integrierten Strukturen sind von Thomas Bronder an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt entwickelt worden.Ein Wasserphantom ist ein mit destilliertem Wasser gefüllter Plexiglasbehälter, der stellvertretend für lebendes Gewebe zur Überprüfung von in der Strahlentherapie verwendeten Elektronen-Linearbeschleunigern verwendet wird. Überprüfungen mittels Wasserphantom müssen nach den gesetzlichen Vorschriften etwa im Abstand von drei Monaten durchgeführt werden, damit sichergestellt ist, dass die am Therapiegerät gemäß der Bestrahlungsplanung vorgesehene Strahlungsleistung auch tatsächlich in dieser Stärke auftritt.Als Röntgenphantom hat sich das von Samuel W. Alderson (1914–2005) erfundene Alderson-Rando-Phantom zum Standard entwickelt. Es folgte das Alderson-Radio-Therapy-Phantom (ART), das er 1967 zum Patent angemeldet hat. Das ART-Phantom ist horizontal in 2,5 cm dicke Scheiben geschnitten. Jede Scheibe weist Löcher auf, die mit knochenäquivalenten, weichgewebeäquivalenten oder lungengewebeäquivalenten Stiften verschlossen sind, die durch Thermolumineszenzdosimeter ersetzt werden können. Alderson ist auch als Erfinder des Crashtest-Dummys in die Historie eingegangen.
=== Dosisrekonstruktion mit ESR-Spektroskopie von Milchzähnen ===
Nach Unfällen oder unsachgemäßer Anwendung und Entsorgung von Strahlenquellen ist eine nicht unerhebliche Anzahl von Personen radioaktiver Strahlung in unterschiedlichem Ausmaß ausgesetzt. Radioaktivitäts- und Ortsdosismessungen reichen nicht aus, um Strahlenfolgen voll umfänglich einschätzen zu können. Zur retrospektiven Ermittlung der individuellen Strahlendosis werden Messungen an Zähnen, demnach an biologischen, körpereigenen Materialien, durchgeführt. Der Zahnschmelz ist zum Nachweis von ionisierender Strahlung wegen seines hohen mineralischen Gehalts (Hydroxylapatit) besonders geeignet, was durch die Forschungen von John M. Brady, Norman O. Aarestad und Harold M. Swartz seit 1968 bekannt ist. Die Messungen erfolgen an Milchzähnen – bevorzugt Backenzähnen – mittels Elektronenspinresonanz-Spektroskopie (ESR, englisch Electron paramagnetic resonance, EPR). Dabei wird in der mineralischen Zahnkomponente die durch ionisierende Strahlung erzeugte Konzentration an Radikalen gemessen. Durch die hohe Stabilität der Radikale kann diese Methode zur Dosimetrie von lange zurückliegenden Expositionen verwendet werden.
=== Dosisrekonstruktion mittels biologischer Dosimetrie ===
In Ergänzung zur physikalischen Dosimetrie ermöglicht seit etwa 1988 die biologische Dosimetrie eine individuelle, personenbezogene Dosisrekonstruktion ionisierender Strahlung. Es finden immer wieder Strahlenexpositionen statt, ohne dass eine physikalische Dosiskontrolle durchgeführt worden ist. Dieses gilt vor allem für unvorhergesehene, unfallartige Strahlenexpositionen. Dafür werden biologische Marker verwendet, insbesondere zytogenetische Marker in den Lymphozyten des Blutes. Techniken zur Erfassung von Strahlenschäden sind die Analyse von dizentrischen Chromosomen nach einer akuten Strahlenexposition. Dizentrische Chromosomen sind das Ergebnis einer fehlerhaften Reparatur von Chromosomenbrüchen in zwei Chromosomen. Sie haben zwei Centromere und nicht wie ungeschädigte Chromosomen nur eines. Symmetrische Translokationen (Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung, FISH) werden nach chronischer oder länger zurückliegender Bestrahlung angewandt. Zur Messung der akuten Exposition stehen daneben der Mikrokerntest und der PCC-Assay (englisch Premature Chromosome Condensation ‚Prämature Chromosomenkondensation‘) zur Verfügung.
== Messgrößen und Einheiten ==
Grundsätzlich ist eine Reduzierung der Belastung des menschlichen Organismus mit ionisierender Strahlung auf Null nicht möglich und vielleicht auch gar nicht sinnvoll. An die natürliche Radioaktivität ist der menschliche Organismus seit Jahrtausenden gewöhnt und letztlich löst diese auch Mutationen (Veränderung des Erbgutes) aus, die Ursache für die Entwicklung des Lebens auf der Erde sind. Die mutationsauslösende Wirkung energiereicher Strahlung wurde erstmals 1927 von Hermann Joseph Muller (1890–1967) nachgewiesen.Das United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation, verabschiedete drei Jahre nach ihrer Gründung 1958 – insbesondere auf Betreiben der Sowjetunion – die lineare Dosis-Wirkung-Beziehung ohne Schwellenwert – Linear No-Threshold (LNT-Modell). Die bei hohen Dosen gemessene Dosis-Wirkung-Beziehung wurde linear hin zu kleinen Dosen extrapoliert. Es gäbe keinen Schwellenwert, da schon kleinste Mengen ionisierender Strahlung irgendeinen biologischen Effekt auslösen würden. Das LNT-Modell ignoriert nicht nur die eventuelle Strahlenhormesis, sondern auch die wohlbekannte Fähigkeit der Zellen, Erbgutschäden zu reparieren, sowie die Fähigkeit des Organismus, beschädigte Zellen zu entfernen. John W. Gofman (1918–2007) und Arthur R. Tamplin von der University of California, Berkeley führten zwischen 1963 und 1969 eine Forschungsarbeit im Auftrag der United States Atomic Energy Commission (USAEC, 1946–1974) durch, in der sie Zusammenhänge zwischen Strahlendosen und Krebsfällen untersuchten. Ihre Ergebnisse lösten ab 1969 heftige Kontroversen in den USA aus. Ernest J. Sternglass, Radiologe an der University of Pittsburgh publizierte ab 1970 mehrere Untersuchungen, in denen er die Auswirkung radioaktiver Strahlung im Zusammenhang mit Atomversuchen und in der Umgebung von Atomkraftwerken auf die Kindersterblichkeit beschrieb. 1971 setzte die UASEC dann die erlaubte maximale Strahlendosis um das 100-fache herunter. Nachfolgend wurde in der Kerntechnik nach dem Prinzip „As Low As Reasonably Achievable“ (ALARA) (deutsch so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar) gearbeitet. Ein in sich schlüssiges Prinzip, so lange man davon ausgeht, dass es keinen Schwellenwert gibt und alle Dosen additiv wirksam sind. Inzwischen diskutiert man immer mehr einen Übergang zu „As High As Reasonably Safe“ (AHARS) (deutsch so hoch, wie sicherheitstechnisch erforderlich). Für die Frage der Evakuierung nach Unfällen erscheint ein Übergang zu AHARS zwingend erforderlich. Sowohl im Falle Tschernobyl als auch im Falle Fukushima wurde durch überhastete, schlecht organisierte und schlecht kommunizierte Evakuierung psychischer und physischer Schaden bei Betroffenen ausgelöst – im Falle Fukushima inklusive dokumentierter Todesfälle. Diese Schäden sind nach einigen Schätzungen höher als bei nicht erfolgter Evakuierung zu erwarten gewesen wären. Stimmen wie en:Geraldine Thomas ziehen daher derartige Evakuierungen grundsätzlich in Zweifel und fordern – soweit möglich – zum Übergang zu shelter-in-place auf.
=== Energiedosis und Äquivalentdosis ===
Der britische Physiker und Radiologe sowie Begründer der Strahlenbiologie Louis Harold Gray (1905–1965) hat in den 1930er Jahren die Einheit Rad (Akronym für englisch radiation absorbed dose ‚absorbierte Strahlendosis‘) für die Energiedosis eingeführt, die 1978 nach ihm als Einheit Gray (Gy) umbenannt wurde. Ein Gray ist eine massenspezifische Größe und entspricht der Energie von einem Joule, die von einem Kilogramm Körpergewicht aufgenommen wird. Eine akute Ganzkörperexposition von mehr als vier Gy ist für den Menschen in der Regel tödlich.
Die verschiedenen Strahlungsarten ionisieren unterschiedlich stark. Ionisation heißt jeder Vorgang, bei dem aus einem Atom oder Molekül ein oder mehrere Elektronen entfernt werden, so dass das Atom oder Molekül als positiv geladenes Ion (Kation) zurückbleibt. Jeder Strahlungsart wird daher ein dimensionsloser Wichtungsfaktor zugeordnet, der ihre biologische Wirksamkeit ausdrückt. Bei Röntgen-, Gamma- und Betastrahlung liegt der Faktor bei eins, Alphastrahlung erreicht einen Faktor von zwanzig, bei Neutronenstrahlung liegt er je nach Energie zwischen fünf und zwanzig.
Multipliziert man die Energiedosis in Gy mit dem Wichtungsfaktor, erhält man die Äquivalentdosis, angegeben in Sievert (Sv). Sie ist nach dem schwedischen Mediziner und Physiker Rolf Maximilian Sievert (1896–1966) benannt. Sievert war der Begründer der Strahlenschutz-Forschung und entwickelte 1929 die Sievert-Kammer, um die Intensität von Röntgenstrahlen zu messen. Er gründete die International Commission on Radiation Units and Measurements (ICRU; deutsch Internationale Kommission für Strahlungseinheiten und Messung) und wurde später Vorsitzender der Internationalen Strahlenschutzkommission (englisch International Commission on Radiological Protection, ICRP). ICRU und ICRP geben unterschiedlich definierte Wichtungsfaktoren an, die für umgebungsbezogene Messwerte (Qualitätsfaktor) bzw. für körperbezogene Angaben der Äquivalentdosis (Strahlungs-Wichtungsfaktor) gelten.
Auf den Körper bezogen ist der maßgebende Dosisbegriff die Organ-Äquivalentdosis (früher „Organdosis“). Das ist die über ein Organ gemittelte Äquivalentdosis. Mit organspezifischen Gewebe-Wichtungsfaktoren multipliziert und über alle Organe aufsummiert ergibt sich die effektive Dosis, die eine Dosisbilanz darstellt. Auf Umgebungsmessungen bezogen ist die Umgebungs-Äquivalentdosis oder Ortsdosis maßgebend. Deren Zunahme mit der Zeit wird als Ortsdosisleistung bezeichnet.
Schon bei sehr kleinen effektiven Dosen geht man heute von stochastischen Wirkungen aus (genetisches und Krebs-Risiko). Bei effektiven Dosen über 0,1 Sv kommt es auch zu deterministischen Wirkungen (Gewebeschädigungen bis zur Strahlenkrankheit bei sehr hohen Dosen). Entsprechend hohe Strahlendosen werden nur mehr in der Einheit Gy angegeben. Die natürliche Strahlenbelastung in Deutschland liegt deutlich unterhalb dieses Bereichs mit einer jährlichen mittleren effektiven Dosis von ca. 0,002 Sv.
=== Toleranzdosis ===
Im Jahr 1931 hat das 1929 gegründete U.S. Advisory Committee on X-Ray and Radium Protection (ACXRP, heute: National Council on Radiation Protection and Measurements, NCRP) die Ergebnisse einer Studie über die sogenannte Toleranzdosis veröffentlicht, worauf ein wissenschaftlich begründeter Strahlenschutzleitfaden basierte. Sukzessive wurden die Expositionsgrenzwerte reduziert. 1936 betrug die Toleranzdosis 0,1 R/Tag. Die Einheit „R“ (das Röntgen), aus dem CGS-Einheitensystem, ist seit Ende 1985 veraltet. Seitdem ist die SI-Einheit der Ionendosis „Coulomb pro Kilogramm“.
=== Relative biologische Wirksamkeit ===
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Begriff der Toleranzdosis durch den der maximal zulässigen Dosis ersetzt und das Konzept der relativen biologischen Wirksamkeit eingeführt. Der Grenzwert wurde 1956 durch die National Council on Radiation Protection & Measurements (NCRP) und die International Commission on Radiological Protection (ICRP, deutsch Internationale Strahlenschutzkommission) auf 5 rem (50 mSv) pro Jahr für Strahlenbeschäftigte und auf 0,5 rem pro Jahr für die allgemeine Bevölkerung festgesetzt. Die Einheit Rem als physikalische Maßeinheit der Strahlungsdosis (von englisch Roentgen equivalent in man ‚Röntgenäquivalent beim Menschen‘) wurde 1978 durch die Einheit Sv (Sievert) ersetzt. Hintergrund war der Aufstieg der Atomenergie und die damit verbundenen Gefahren. Vor 1991 wurde die Äquivalentdosis als Bezeichnung sowohl für die Dosismessgröße als auch für Körperdosen verwendet, die für den Verlauf und die Überlebenschancen bei der Strahlenkrankheit entscheidend ist. Mit der ICRP-Publikation 60 wurde für die Körperdosis der Strahlungswichtungsfaktor
w
R
{\displaystyle w_{R}}
eingeführt. Für Beispiele von Äquivalentdosen als Körperdosen siehe
Größenordnung der Äquivalentdosis
Größenordnung der Ortsdosisleistung.
=== Bananenäquivalentdosis ===
Der Ursprung des Konzepts, eine Bananenäquivalentdosis (BÄD) als Vergleichsmaßstab zu verwenden, ist unbekannt. Gary Mansfield vom Lawrence Livermore National Laboratory fand im Jahr 1995 die Bananenäquivalentdosis (englisch Banana equivalent dose (BED)) sehr nützlich, um der Öffentlichkeit Strahlenrisiken zu erklären. Sie ist keine formal angewendete Dosisangabe.
Bei der Bananenäquivalentdosis betrachtet man die Dosis ionisierender Strahlung, der ein Mensch durch Verzehr einer Banane ausgesetzt wird. Bananen enthalten Kalium. Natürliches Kalium besteht zu 0,0117 % aus dem radioaktiven Isotop 40K (Kalium-40) und hat eine spezifische Aktivität von 30.346 Becquerel pro Kilogramm, also etwa gut 30 Becquerel pro Gramm. Die Strahlendosis durch Verzehr einer Banane beträgt circa 0,1 μSv. Der Wert dieser Referenzdosis wird mit „1“ angegeben und so zur „Maßeinheit“ Bananenäquivalentdosis. Folglich lassen sich andere Strahlenexpositionen mit dem Verzehr einer Banane vergleichen. Beispielsweise beträgt die durchschnittliche tägliche Gesamtstrahlenexposition eines Menschen 100 Bananenäquivalentdosen.
Mit 0,17 mSv pro Jahr wird fast 10 Prozent der natürlichen radioaktiven Belastung in Deutschland (durchschnittlich 2,1 mSv pro Jahr) durch körpereigenes (lebensnotwendiges) Kalium verursacht.Die Bananenäquivalentdosis lässt außer Betracht, dass durch den Verzehr kaliumhaltiger Lebensmittel kein radioaktives Nuklid im Körper angesammelt wird (kumuliert). Der Gehalt des Körpers an Kalium befindet sich in Homöostase und wird konstant gehalten.
== Missachtung des Strahlenschutzes ==
=== Unethische Strahlungsexperimente ===
Der Trinity-Test war die erste durchgeführte Kernwaffenexplosion im Rahmen des Manhattan-Projekts der USA. Es gab weder Warnungen an Anwohner wegen des Fallouts noch Informationen über Schutzmöglichkeiten oder etwaige Evakuierungen.1946 folgten Tests auf den Marshall-Inseln (Operation Crossroads), von denen der Chemiker Harold Carpenter Hodge (1904–1990), Toxikologe für das Manhattan-Projekt, in seinem Vortrag (1947) als Präsident der International Association for Dental Research erzählt. Hodges Ruf wurde durch die 1999 erfolgte Veröffentlichung der Historikerin Eileen Welsome The Plutonium Files – America’s Secret Medical Experiments in the Cold War (englisch Amerikas heimliche medizinische Experimente während des kalten Krieges) massiv in Frage gestellt (für die sie den Pulitzer-Preis erhielt). Sie dokumentiert erschreckende menschliche Experimente, bei denen die Probanden nicht wussten, dass sie (auch von Hodge) als „Versuchskaninchen“ benutzt wurden, um die Sicherheitsgrenzen von Uran und Plutonium herauszufinden. Die an den nicht aufgeklärten Probanden durchgeführten Experimente wurden durch die United States Atomic Energy Commission (AEC, deutsch Atomenergiekommission) bis in die 1970er Jahre fortgesetzt.Der Missbrauch von Strahlung zieht sich bis in die Gegenwart. In den USA wurden während des Kalten Kriegs ethisch verwerfliche Strahlungsexperimente an nicht aufgeklärten Probanden durchgeführt, um die detaillierte Wirkung der Strahlung auf die menschliche Gesundheit festzustellen. Zwischen 1945 und 1947 wurde 18 Menschen von Manhattan-Projektärzten Plutonium injiziert. In Nashville erhielten schwangere Frauen radioaktive Mischungen. In Cincinnati wurden etwa 200 Patienten über einen Zeitraum von 15 Jahren bestrahlt. In Chicago erhielten 102 Personen Injektionen von Strontium- und Caesiumlösungen. In Massachusetts erhielten 57 Kinder mit Entwicklungsstörungen Haferflocken mit radioaktiven Markern. Erst 1993 wurden diese Strahlenexperimente unter Präsident Bill Clinton eingestellt. Das begangene Unrecht wurde jedoch nicht gesühnt. Uranhexafluorid verursachte über Jahre Strahlenschäden in einer Anlage der DuPont-Company und unter den Anwohnern. Zeitweise wurde das in erhitztem Zustand gasförmige Uranhexafluorid von der Fabrik sogar gezielt in die Umgebung freigesetzt, um die Wirkungen des radioaktiven und chemisch aggressiven Gases zu untersuchen.
=== Stasi-Grenzkontrollen ===
An 17 Grenzübergängen der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland wurden zwischen 1978 und 1989 Fahrzeuge mittels 137Cs-Gammaquellen durchleuchtet. Gemäß Transitabkommen durften Kontrollen von Fahrzeugen nur bei begründetem Verdacht erfolgen. Deshalb installierte und betrieb das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) unter dem Decknamen „Technik V“ eine geheime radioaktive Kontrolltechnik, mit der in der Regel alle Transitreisenden durchleuchtet wurden, um „Republikflüchtlinge“ zu entdecken. Gewöhnliche DDR-Zöllner erfuhren nichts von der geheimen radioaktiven Kontrolltechnik und unterlagen einer strengen „Betreteordnung“, um sie vor der Strahlenexposition weitgehend zu „schützen“. Generalleutnant Heinz Fiedler (1929–1993) war, als der ranghöchste Grenzwächter des MfS, verantwortlich für alle Strahlenkontrollen. Am 17. Februar 1995 veröffentlichte die Strahlenschutzkommission eine diesbezügliche Stellungnahme, in der sie ausführt: „selbst unter der Annahme, dass es bei einzelnen Personen zum häufigeren Anhalten im Strahlenfeld kam und eine bis dreiminütige Durchleuchtung die jährliche Strahlenexposition auf ein bis wenige mSv ansteigen ließ, ergibt sich keine gesundheitlich bedenkliche Dosis“. Dem gegenüber hat der Konstrukteur dieser Art der Grenzkontrolle 15 nSv pro Durchfahrt ausgerechnet. Lorenz vom ehemaligen Staatlichen Amt für Strahlenschutz und Atomsicherheit der DDR kam auf eine Dosisabschätzung von 1000 nSv, korrigierte sich einige Wochen später auf 50 nSv.
=== Radaranlagen ===
Radargeräte werden unter anderem auf Flughäfen, in Flugzeugen, Raketenstellungen, bei Panzern und auf Schiffen eingesetzt. Bei der im 20. Jahrhundert üblichen Radartechnologie entstand in der Hochspannungselektronik der Geräte als technisch unvermeidbares Nebenprodukt Röntgenstrahlung. In den 1960er und 1970er Jahren waren die Bundeswehrsoldaten und -techniker weitgehend unwissend über die Gefahren, ebenso wie die der Nationalen Volksarmee der DDR. Seit den 1950er Jahren war das Problem international, der Bundeswehr spätestens ab etwa 1958 bekannt. Es wurden jedoch keine Maßnahmen zum Strahlenschutz ergriffen, wie beispielsweise das Tragen von Bleischürzen. Bis etwa Mitte der 1980er Jahre war die Abschirmung der Strahlung, insbesondere der Impuls-Schaltröhren, unzureichend. Besonders betroffen waren Wartungstechniker (Radarmechaniker), die den Röntgenstrahlung erzeugenden Teilen ohne jeden Schutz über Stunden ausgesetzt waren. Der zulässige Jahresgrenzwert konnte bereits nach 3 Minuten überschritten sein. Erst ab 1976 wurden bei der Bundesmarine, ab den frühen 1980er Jahren generell Warnhinweise angebracht und Schutzmaßnahmen ergriffen. Noch in den 1990er Jahren bestritt die Bundeswehr jeglichen Zusammenhang zwischen Radargeräten und Krebserkrankungen beziehungsweise genetischen Folgeschäden. Die Zahl der Geschädigten beträgt mehrere Tausend. Später wurde der Zusammenhang von der Bundeswehr anerkannt und in vielen Fällen eine Zusatzrente gezahlt. 2012 wurde eine Stiftung zur unbürokratischen Entschädigung der Opfer eingerichtet.
== Strahlenschutzverbrechen ==
=== Nationalsozialismus ===
Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden die schädlichen Wirkungen der Röntgenstrahlen erkannt. Die Funktion der Gonaden (Eierstöcke beziehungsweise Hoden) wird mittels ionisierender Strahlung zerstört, was zur Unfruchtbarkeit führt. Im Juli 1942 entschied Heinrich Himmler (1900–1945), Versuche zur Zwangssterilisierung im KZ Auschwitz-Birkenau durchführen zu lassen, die Horst Schumann (1906–1983), zuvor Arzt bei der Aktion T4, ausführte. Jedes Versuchsopfer musste sich zwischen zwei Röntgengeräte stellen, die so angeordnet waren, dass das Versuchsopfer gerade genug Platz dazwischen hatte. Gegenüber den Röntgengeräten befand sich eine Kabine mit Bleiwänden und einem kleinen Fenster nach vorne hin. Von der Kabine aus konnte Schumann Röntgenstrahlen auf die Sexualorgane seiner Versuchsopfer richten, ohne sich selbst zu gefährden. Ebenso wurden in Konzentrationslagern unter der Leitung von Viktor Brack (1904–1948) Menschenversuche zur Strahlenkastration durchgeführt. Im Rahmen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden vielfach auch Personen in Verhörsituationen ohne ihr Wissen einer Strahlenkastration unterzogen. Deutschlandweit beteiligten sich rund 150 Radiologen aus Krankenhäusern an der Zwangskastration von etwa 7200 Menschen durch Röntgen- oder Radiumstrahlung.
=== Polonium-Mord ===
Am 23. November 2006 wurde Alexander Walterowitsch Litwinenko (1962–2006) unter nicht geklärten Umständen durch die Folgen der durch Polonium verursachten Strahlenkrankheit ermordet. Vorübergehend wurde das auch im Fall des 2004 verstorbenen Jassir Arafat (1929–2004) vermutet.
=== Strahlungsstraftaten ===
Der Missbrauch ionisierender Strahlen gehört zu den Strahlungsstraftaten im deutschen Strafrecht. Sanktioniert wird der Gebrauch ionisierender Strahlung zur Schädigungen von Personen oder Sachen. Seit 1998 sind die Regelungen in § 309 StGB zu finden (davor § 311a StGB a. F.); die Vorschriften gehen auf § 41 AtG a. F. zurück. Im österreichischen Strafgesetzbuch sind im siebenten Abschnitt Gemeingefährliche strafbare Handlungen und strafbare Handlungen gegen die Umwelt einschlägige Straftatbestände definiert. In der Schweiz werden eine Gefährdung durch Kernenergie, radioaktive Stoffe oder ionisierende Strahlen nach Art. 326ter StGB und die Missachtung von Sicherheitsbestimmungen nach dem 9. Kapitel des Kernenergiegesetzes vom 21. März 2003 bestraft.
== Strahlenschutz für weniger energiereiche Strahlungsarten ==
Ursprünglich bezog sich der Begriff des Strahlenschutzes nur auf ionisierende Strahlung. Inzwischen werden auch nicht ionisierende Strahlen mit einbezogen und fallen in den Zuständigkeitsbereich des Bundesamts für Strahlenschutz, der Abteilung Strahlenschutz des Bundesamts für Gesundheit bzw. des Bundesministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie. Im Rahmen eines Projektes wurde für alle europäischen Staaten (47 Länder plus Deutschland) sowie für wichtige außereuropäische Staaten (China, Indien, Australien, Japan, Kanada, Neuseeland und USA) Datenmaterial zur jeweiligen rechtlichen Situation in den Ländern zu elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern (EMF) sowie zu optischer Strahlung (OS) gesammelt, ausgewertet und verglichen. Die Ergebnisse fielen sehr unterschiedlich aus und weichen teilweise von den Empfehlungen der International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection (ICNIRP) (deutsch Internationale Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung) ab.
=== UV-Licht ===
Seit vielen Jahrhunderten verwendeten die Inuit (Eskimos) Schneebrillen mit schmalen Sehschlitzen, geschnitzt aus Seehundknochen oder Rentiergeweih, zum Schutz vor der Schneeblindheit (Photokeratitis).
In den 1960er Jahren startete Australien – insbesondere Queensland – im Sinne der primären Prävention die erste Aufklärungskampagne über die Gefahren von ultravioletter Strahlung (UV). In den 1980er Jahren initiierten dann viele Länder in Europa und Übersee ähnliche Kampagnen zum UV-Strahlenschutz. Die UV-Strahlung wirkt thermisch auf Haut und Augen und kann dadurch zu Hautkrebs (Malignes Melanom) und Entzündungen oder Katarakten am Auge führen. Um die Haut vor schädlicher UV-Strahlung zu schützen, beispielsweise einer Photodermatose, einer Acne aestivalis, einer Aktinischen Keratose oder einer Urticaria solaris, können normale Kleidung, spezielle UV-Schutzkleidung (Lichtschutzfaktor 40–50) und Sonnencreme mit hohem Lichtschutzfaktor verwendet werden. Um schützende Kleidungsstücke herzustellen, die beim Baden – insbesondere von Kindern – getragen werden, und um Beschattungstextilien (Sonnenschirme, Markisen) herzustellen, erfolgt beim australisch-neuseeländischen Standard (AS/NZS 4399) aus dem Jahr 1996 die Messung an neuwertigem textilem Material in ungedehntem und trockenem Zustand. Mit dem UV-Standard 801 wird von einer maximalen Strahlungsintensität mit dem Sonnenspektrum in Melbourne (Australien), am 1. Januar eines Jahres (auf dem Höhepunkt des australischen Sommers), dem empfindlichsten Hauttyp beim Träger und unter Tragebedingungen ausgegangen. Da sich das Sonnenspektrum auf der Nordhalbkugel von demjenigen in Australien unterscheidet, wird bei der Messmethode nach der europäischen Norm EN 13758-1 das Sonnenspektrum von Albuquerque (New Mexico, USA) zu Grunde gelegt, das in etwa demjenigen in Südeuropa entspricht.Zum Schutz der Augen werden Sonnenbrillen mit UV-Schutz beziehungsweise spezielle Schutzbrillen, die auch seitlich abschirmen, verwendet, um einer Schneeblindheit vorzubeugen. Eine Abwehrreaktion der Haut ist die Ausbildung einer Lichtschwiele, eines hauteigenen Sonnenschutzes, der etwa einem Schutzfaktor 5 entspricht. Gleichzeitig wird die Produktion der braunen Hautpigmente (Melanin) in den entsprechenden Zellen (Melanozyten) angeregt.
Eine Sonnenschutzfolie ist meist eine aus Polyethylenterephthalat (PET) bestehende Folie, die auf Fenster aufgebracht wird, um das Licht und die Wärme der Sonnenstrahlen zu reduzieren. Die Folie filtert UV-A- und UV-B-Strahlung. Polyethylenterephthalat geht auf eine Erfindung der beiden Engländer John Rex Whinfield (1902–1966) und James Tennant Dickson im Jahre 1941 zurück.
Die Tatsache, dass UV-B-Strahlung (Dorno-Strahlung, nach Carl Dorno (1865–1942)) ein nachgewiesenes Kanzerogen ist, gleichzeitig aber auch für die körpereigene Vitamin-D3-Synthese (Cholecalciferol) benötigt wird, führt zu international widersprüchlichen Empfehlungen hinsichtlich einer gesundheitsförderlichen UV-Exposition. Auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte wurde 2014 eine von 20 wissenschaftlichen Behörden, Fachgesellschaften und Fachverbände des Strahlenschutzes, der Gesundheit, der Risikobewertung, der Medizin und der Ernährungswissenschaften konsentierte Empfehlung „UV-Exposition zur Bildung des körpereigenen Vitamin D“ veröffentlicht. Sie war damit die weltweit erste interdisziplinäre Empfehlung zu diesem Thema. Die erstmalige Nutzung eines Solariums in jungen Jahren (<35 Jahre) verdoppelt annähernd das Risiko, an schwarzem Hautkrebs zu erkranken. In Deutschland ist für Minderjährige die Nutzung eines Solariums seit März 2010 gesetzlich verboten. Ab dem 1. August 2012 dürfen Solariengeräte eine maximale Bestrahlungsstärke von 0,3 Watt pro Quadratmeter Haut nicht mehr überschreiten. Die Geräte müssen entsprechend gekennzeichnet sein. Das neue Limit der Bestrahlungsstärke entspricht der höchsten UV-Dosis, die auf der Erde gemessen werden kann, nämlich um 12 Uhr mittags bei wolkenlosem Himmel am Äquator.Bei medizinischen Anwendungen wird die Minimale Erythemdosis (MED) bestimmt. Die MED ist definiert als die geringste Strahlendosis, die ein gerade noch sichtbares Erythem erzeugt. Sie wird 24 Stunden nach der Testbestrahlung bestimmt. Sie wird mit dem zur Therapie vorgesehenen Lampentyp durch Anlegen von sogenannten Lichttreppen an normalerweise nicht lichtexponierter Haut (beispielsweise am Gesäß) durchgeführt.
=== Höhensonne ===
Richard Küch (1860–1915) war 1890 erstmals in der Lage, Quarzglas zu schmelzen – die Grundlage für UV-Strahlenquellen –, und gründete die Heraeus Quarzschmelze. Er entwickelte die erste Quarzlampe (Höhensonne) zur Erzeugung von UV-Strahlung im Jahr 1904 und legte damit die Grundlage für diese Form der Lichttherapie.
Trotz der Dosierungsprobleme verwendeten Mediziner Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend Quarzlampen. Die Vertreter der inneren Medizin und die Dermatologen gehörten zu den fleissigsten Testern. Nach Erfolgen bei der Hauttuberkulose wurden in der inneren Medizin die tuberkulöse Pleuritis (Rippenfellentzündung), Drüsentuberkulose oder Tuberkulose des Darms behandelt. Daneben testeten Mediziner die Wirkung der Quarzlampen bei weiteren Infektionskrankheiten wie Syphilis, bei Stoffwechselkrankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei Nervenschmerzen wie Ischias oder bei Nervenkrankheiten wie Neurasthenie und Hysterie. In der Dermatologie wurden daneben Pilzerkrankungen, eitrige Geschwüre und Wunden, Schuppenflechte sowie Akne, Sommersprossen und Haarausfall mit Quarzlampen behandelt, in der Gynäkologie Unterleibskrankheiten. Verjüngungsspezialisten setzten die künstliche Höhensonne zur Anregung der Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen ein und behandelten Unfruchtbarkeit, Impotentia generandi (Zeugungsunfähigkeit) und Mangel an sexueller Lust mit Bestrahlungen der Geschlechtsteile. Philipp Keller (1891–1973) entwickelte hierzu ein Erythemdosimeter, mit dem er die Strahlungsmenge nicht in Finsen-Einheiten (UV-Strahlung mit der Wellenlänge λ von 296,7 nm und der Bestrahlungsstärke E von 10−5 W/m²), sondern in Höhensonneneinheiten (HSE) angab. Es war um 1930 das diesbezüglich einzige Messgerät, das jedoch wenig Akzeptanz in ärztlichen Kreisen fand.Die Therapie der Akne mit Ultraviolettstrahlung ist bis heute umstritten. Zwar vermag UV-Strahlung antibakteriell zu wirken, gleichzeitig kann jedoch eine Proliferationshyperkeratose induziert werden. In der Folge droht die Neubildung von Komedonen („Mitesser“). Außerdem kann es zu phototoxischen Effekten kommen. Hinzu kommen die Kanzerogenität und die Förderung der Hautalterung. Zunehmend wird die UV-Therapie zu Gunsten der photodynamischen Therapie verlassen.
=== Laser ===
Der Rubinlaser wurde 1960 von Theodore Maiman (1927–2007) auf Grundlage des Rubinmasers als erster Laser überhaupt entwickelt. Bald darauf wurden die Gefahren entdeckt, die von einem Laser ausgehen können, insbesondere für die Augen und die Haut, denn der Laser hat nur eine geringe Eindringtiefe. Laser haben zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten in Technik und Forschung sowie im täglichen Leben, vom einfachen Laserpointer (Lichtzeiger) über Entfernungsmessgeräte, Schneid- und Schweißwerkzeuge, die Wiedergabe von optischen Speichermedien wie CDs, DVDs und Blu-ray Discs, Nachrichtenübertragung bis hin zum Laserskalpell und anderen Laserlicht verwendenden Geräten im medizinischen Alltag. Die Strahlenschutzkommission fordert, dass Laseranwendungen an der menschlichen Haut nur durch einen speziell geschulten Arzt ausgeführt werden dürfen. Hinzu kommt die Anwendung in Showeffekten in Diskotheken und bei Veranstaltungen.
Laser können aufgrund der Eigenschaften ihrer Strahlung und aufgrund ihrer teilweise extrem konzentrierten elektromagnetischen Leistung biologische Schäden verursachen. Daher sind Laser je nach Laser-Klasse mit genormten Warnhinweisen zu versehen. Maßgebend für die Klasseneinteilung ist die DIN-Norm EN 60825-1. Dabei werden Bereiche der Wellenlängen und Einwirkzeiten unterschieden, die zu charakteristischen Verletzungen und Verletzungs-Schwellenwerten der Leistungs- oder Energiedichte führen.
Der CO2-Laser wurde 1964 vom indischen Elektroingenieur und Physiker Chandra Kumar Naranbhai Patel (* 1938) entwickelt, zeitgleich der
Nd:YAG-Laser (Neodym-dotierter Yttrium-Aluminium-Granat-Laser) in den Bell Laboratories von LeGrand Van Uitert (1922–1999) und Joseph E. Geusic (* 1931) und der Er:YAG-Laser (Erbium-dotierter Yttrium-Aluminium-Granat-Laser) und wurden seit den frühen 1970er Jahren (auch) in der Zahnmedizin eingesetzt. Im Hardlaserbereich zeichnen sich vor allem zwei Systeme für den Einsatz in der Mundhöhle ab: der CO2-Laser für die Anwendung im Weichgewebe und der Er:YAG-Laser für die Anwendung in der Zahnhartsubstanz und im Weichgewebe. Bei der Softlaserbehandlung wird eine Biostimulation mit kleinen Energiedichten angestrebt.Die Strahlenschutzkommission empfiehlt mit Nachdruck, den Besitz und Erwerb von Laserpointern der Klassen 3B und 4 gesetzlich zu regeln, so dass eine missbräuchliche Nutzung verhindert wird. Ursächlich ist die Zunahme von gefährlichen Blendattacken durch Laserpointer hoher Leistung. Zu den Betroffenen gehören neben Piloten zunehmend LKW- und Autofahrer, Lokomotivführer, Fußballspieler, Schiedsrichter, aber auch Besucher von Fußballspielen. Eine solche Blendattacke kann sowohl zu schweren Unfällen als auch bei Piloten oder LKW-Fahrern durch die verursachten Augenschäden zur Berufsunfähigkeit führen. Am 1. April 1988 erschien die erste Unfallverhütungsvorschrift als Berufsgenossenschaftliche Vorschrift BGV B2, am 1. Januar 1997 gefolgt von der DGUV Vorschrift 11, der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Zwischen Januar und Mitte September 2010 registrierte das Luftfahrt-Bundesamt bundesweit 229 Blendattacken auf Hubschrauber und Flugzeuge deutscher Airlines. Am 18. Oktober 2017 wurde ein Täter nach einer Blendattacke auf einen Hubschrauber der Bundespolizei zu einem Jahr und sechs Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt.
=== Elektromagnetische Strahlenbelastung ===
Unter Elektrosmog wird umgangssprachlich die Belastung des Menschen und der Umwelt durch elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder verstanden, von denen teilweise angenommen wird, dass sie unerwünschte biologische Wirkungen haben könnten. Die elektromagnetischen Umweltverträglichkeit (EMVU) umfasst die Wirkung auf Lebewesen, von denen manche als elektrosensibel gelten. Ängste vor solchen Wirkungen bestehen seit den Anfängen der technischen Nutzung Mitte des 19. Jahrhunderts. 1890 war es beispielsweise Beamten der Königlichen Generaldirektion in Bayern verboten, an der Eröffnungsfeier des ersten deutschen Wechselspannungs-Kraftwerks, der Elektricitäts-Werke Reichenhall, teilzunehmen oder den Maschinenraum zu betreten. Mit der Einrichtung der ersten Funktelegrafie und deren Telegrafenstationen wurde im April 1911 in der US-Zeitschrift The Atlanta Constitution über die mögliche Gefahr der Wellen von Funktelegrafen berichtet, die neben „Zahnausfall“ im Laufe der Zeit auch zu Haarausfall führen und Personen „verrückt“ machen soll. Zur Prävention wurde eine Ganzkörper-Schutzkleidung empfohlen.
Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind weitere Quellen elektromagnetischer Felder in den Mittelpunkt gesundheitlicher Bedenken gerückt, wie Stromversorgungsleitungen, Photovoltaikanlagen, Mikrowellenherde, Computer- und Fernsehbildschirme, Sicherheitseinrichtungen, Radargeräte und in jüngster Zeit auch Schnurlostelefone (DECT), Mobiltelefone, deren Basisstationen, Energiesparlampen und Bluetooth-Verbindungen. Elektrifizierte Bahntrassen sowie Oberleitungen der Straßenbahn und Stromschienen der U-Bahn sind ebenfalls starke Quellen von Elektrosmog. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im Jahr 1996 das EMF-Projekt (englisch ElectroMagnetic Fields) gestartet, um aktuelles Wissen und verfügbare Ressourcen wichtiger internationaler und nationaler Organisationen und wissenschaftlicher Institutionen über elektromagnetische Felder zusammenzuführen. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) veröffentlichte 2006 folgende Empfehlung:
Ab 2016 gilt die EMF-Leitlinie 2016 der EUROPAEM (Europäische Akademie für Umweltmedizin, englisch European Academy For Environmental Medicine) zur Prävention, Diagnostik und Therapie EMF-bedingter Beschwerden und Krankheiten.
==== Mikrowellen ====
Ein Mikrowellenherd, den 1950 der US-Forscher Percy Spencer (1894–1970) erfunden hat, wird zum schnellen Erwärmen von Speisen mittels Mikrowellenstrahlung mit einer Frequenz von 2,45 Gigahertz verwendet. Bei einem intakten Mikrowellenherd ist die Leckstrahlung aufgrund der Abschirmung des Garraums verhältnismäßig gering. Dabei ist ein „Emissionsgrenzwert von fünf Milliwatt pro Quadratzentimeter (entspricht 50 Watt pro Quadratmeter) in einem Abstand von fünf Zentimeter von der Geräteoberfläche“ (Strahlungsdichte oder Leistungsflussdichte) festgelegt. Kinder sollen sich während der Zubereitung des Essens nicht unmittelbar vor oder neben dem Gerät aufhalten. Ferner nennt das Bundesamt für Strahlenschutz Schwangere als besonders gefährdete Personen.Elektromagnetischen Wellen werden in der Mikrowellentherapie zur Wärmebehandlung erzeugt. Je nach Frequenz der Anwendung (Kurzwelle, Ultrakurzwellen, Mikrowellen) variieren die Eindringtiefe und die Energieverteilung. Um eine größere Eindringtiefe zu erzielen, werden Impulsmikrowellen eingesetzt, die jede für sich große Energie ins Gewebe bringt. Durch eine Impulspause wird sichergestellt, dass sich keine Verbrennungen ergeben. Kontraindikationen der Behandlung sind Metallimplantate und Herzschrittmacher.
==== Mobiltelefone ====
Bislang wird die Diskussion über eventuelle gesundheitliche Gefährdungen durch Handystrahlung kontrovers geführt, wobei nach derzeitigem Kenntnisstand keine validen Ergebnisse vorliegen. Nach Angaben des Bundesamts für Strahlenschutz
Das Bundesamt für Strahlenschutz empfiehlt unter anderem Handys mit geringem SAR-Wert (Spezifische Absorptionsrate) und die Verwendung von Headsets oder der Freisprecheinrichtung, um einen Abstand zwischen Handy und Kopf einzuhalten. Die Möglichkeit wird diskutiert, dass Handystrahlung eine Erhöhung des Auftretens eines Akustikusneurinoms, eines gutartigen Tumors, der vom Hör- und Gleichgewichtsnerv (Nervus vestibulocochlearis) ausgeht, bewirkt. Daher soll diese reduziert werden. Im Alltag sendet ein Mobiltelefon nur in Ausnahmefällen mit maximaler Leistung. Sobald es sich nahe an einer Mobilfunkzelle befindet, wo die Maximalleistung nicht mehr nötig ist, wird es von dieser Zelle angewiesen, seine Leistung zu reduzieren. Elektrosmog- oder Handystrahlenfilter, die ins Handy eingebaut werden, sollen angeblich vor der Strahlung schützen. Die Wirkung ist aus Sicht der elektromagnetischen Umweltverträglichkeit zweifelhaft, da dadurch gleichzeitig die Strahlungsintensität durch das Handy überproportional erhöht wird, um die notwendige Leistung zu erhalten. Gleiches gilt für die Benutzung im Auto ohne externe Antenne, da sonst die notwendige Strahlung nur durch die Scheiben dringen kann, oder in Gegenden mit schlechter Netzabdeckung. Seit 2004 werden Funknetz-Repeater für Handynetze (GSM, UMTS, Tetrapol) entwickelt, die den Empfang einer Mobilfunkzelle in abgeschatteten Gebäuden verstärken können. Sie reduzieren damit den SAR-Wert des Handys beim Telefonieren.
Der SAR-Wert eines WLAN-Routers beträgt nur ein Zehntel der Handystrahlung, wobei diese in einem Meter Abstand bereits um weitere 80 % sinkt. Der Router kann so eingestellt werden, dass er sich bei Nichtverwendung, beispielsweise nachts, abschaltet.
==== Elektrische Felder ====
===== Hochspannungsleitungen =====
Bisher wird der Transport elektrischer Energie vom Kraftwerk zum Verbraucher fast ausschließlich mittels Hochspannungsleitungen bewerkstelligt, in denen Wechselstrom mit einer Frequenz von 50 Hertz fließt. Im Zuge der Energiewende sind in Deutschland auch Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsanlagen (HGÜ) geplant. Seit der Novellierung der 26. Bundes-Immissionsschutzverordnung (BImSchV) im Jahr 2013 sind auch Immissionen von HGÜ-Anlagen gesetzlich geregelt. Die Begrenzung ist so gewählt, dass Störbeeinflussungen von elektronischen Implantaten durch statische Magnetfelder vermieden werden. Für statische elektrische Felder wurde kein Grenzwert
festgelegt.
===== Häusliche Elektroinstallation =====
Um elektrische Felder und (bei Stromfluss) auch magnetische Felder zu verringern, die von der häuslichen Elektroinstallation ausgehen, sind Netzfreischalter erhältlich. Bei Installationen unter Putz kann zwar nur ein geringer Teil des elektrischen Feldes aus der Wand austreten. Ein Netzfreischalter macht jedoch automatisch die betreffende Leitung spannungsfrei, solange kein Stromverbraucher eingeschaltet ist; sobald ein Verbraucher eingeschaltet wird, wird auch die Netzspannung wieder zugeschaltet. Die Netzfreischalter wurden 1973 eingeführt und im Laufe der Jahrzehnte kontinuierlich verbessert. So wurde 1990 auch die Abschaltung des PEN-Leiters (früher: Nullleiter) möglich. Die Netzfreischalter können in mehrere unterschiedliche Stromkreise eingebaut werden, bevorzugt in diejenigen, die Schlafräume versorgen. Sie schalten allerdings nur ab, wenn keine Dauerstromverbraucher wie Klimageräte, Lüfter, Luftbefeuchter elektrische Wecker, Nachtlichter, Standby-Geräte, Alarmanlagen, Ladegeräte und Ähnliches eingeschaltet sind. Statt der Netzspannung wird eine Niedervoltspannung (2–12 Volt) angelegt, mit der das Einschalten eines Verbrauchers erkannt werden kann.
Räume lassen sich auch durch Kupfertapeten oder spezielle metallhaltige Wandfarben abschirmen, womit das Prinzip des Faradayschen Käfigs angewendet wird.
==== Körperscanner ====
Körperscanner werden seit etwa 2005 vorwiegend auf Flughäfen für Sicherheitskontrollen (Passagierkontrollen) verwendet. Passive Scanner detektieren vom Körper einer Person ausgesandte natürliche Strahlung und nutzen sie, um am Körper getragene oder versteckte Objekte zu lokalisieren. Bei aktiven Systemen wird zusätzlich eine künstliche Bestrahlung verwendet, um die Detektion durch Analyse der Rückstreuung zu verbessern. Bei Körperscannern wird unterschieden, ob sie mit ionisierender (meist Röntgenstrahlung) oder mit nichtionisierender Strahlung (Terahertzstrahlung) arbeiten.
Die im unteren Terahertzbereich arbeitenden integrierten Bausteine strahlen weniger als 1 mW (-3 dBm) ab, womit man davon ausgehen kann, dass keine gesundheitlichen Schäden zu erwarten sind. Es existieren widersprüchliche Studien aus dem Jahre 2009, ob als Folge von Terahertzbestrahlung genetische Schäden nachgewiesen werden können. In den USA machen Röntgen-Rückstreuungsscanner den Großteil der verwendeten Geräte aus. Bei den Röntgen-Rückstreuungsscannern befürchten Wissenschaftler, dass durch eine zukünftige Zunahme an Krebserkrankungen eine größere Gefährdung für Leib und Leben der Passagiere bestehen könnte, als durch den Terrorismus selbst. Ob die bei einer konkreten Kontrolle eingesetzten Körperscanner nur Terahertz- oder auch Röntgenstrahlung verwenden, ist für den Passagier nicht eindeutig festzustellen.
Nach Angaben des Bundesamts für Strahlenschutz lassen die wenigen vorliegenden Ergebnisse aus Untersuchungen im Frequenzbereich der aktiven Ganzkörperscanner, die mit Millimeterwellen- oder Terahertzstrahlung arbeiten, noch keine abschließende Bewertung aus Sicht des Strahlenschutzes zu (Stand: 24. Mai 2017).Im Umfeld der Anlage, in dem sich Beschäftigte oder andere Dritte aufhalten können, wird auch bei dauerhaftem Aufenthalt der Grenzwert der zulässigen Jahresdosis für eine Einzelperson der Bevölkerung von einem Millisievert (1 mSv, Schwangere und Kinder eingeschlossen) nicht überschritten.
Bei Röntgenscannern für Handgepäck ist die Einrichtung eines Strahlenschutzbereichs gemäß § 19 RöV nicht erforderlich, da die Strahlenexposition während einer Handgepäckkontrolle für Passagiere selbst unter ungünstigen Annahmen nicht mehr als 0,2 Mikrosievert (μSv) beträgt. Deshalb gelten die mit Gepäckkontrollen Beschäftigten auch nicht als beruflich strahlenexponierte Personen nach § 31 RöV und müssen daher kein Dosimeter tragen.
==== Strahlenschutz bei elektromedizinischen Behandlungsverfahren ====
Elektromagnetische Wechselfelder werden seit dem Jahr 1764 in der Medizin verwendet, hauptsächlich zur Erwärmung und Durchblutungssteigerung (Diathermie, Kurzwellentherapie) zur Verbesserung der Wund- und Knochenheilung. Den diesbezüglichen Strahlenschutz regelt das Medizinproduktegesetz zusammen mit der Medizinprodukte-Betreiberverordnung. Die Medizingeräteverordnung trat am 14. Januar 1985 in Deutschland in Kraft. In ihr wurden die zu diesem Zeitpunkt bekannten medizinisch-technischen Geräte entsprechend ihrem Gefährdungsgrad für den Patienten in Gruppen eingeteilt. Die Medizingeräteverordnung regelte bis zum 1. Januar 2002 den Umgang mit Medizinprodukten und wurde durch das Medizinproduktegesetz abgelöst. Beim Einsatz ionisierender Strahlung in der Medizin muss der Nutzen höher sein als das potenzielle Risiko der Gewebeschädigung (rechtfertigende Indikation). Aus diesem Grund wird dem Strahlenschutz besonders große Bedeutung beigemessen. Die Ausführung sollte mit dem ALARA-Prinzip (As Low As Reasonably Achievable, englisch: „so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar“) optimiert werden, sobald eine Anwendung als geeignet beschrieben ist. Seit 1996 kümmert sich das von der Europäischen Kommission gegründete European ALARA Network (EAN) um die weitere Durchsetzung des Prinzips im Strahlenschutz.
=== Infrarotstrahlung ===
Die um 1800 vom deutsch-britischen Astronomen, Techniker und Musiker Friedrich Wilhelm Herschel (1738–1822) entdeckte Infrarotstrahlung erzeugt vor allem Wärme. Wenn die Erhöhung der Körpertemperatur sowie die Einwirkdauer kritische Grenzen überschreitet, können Hitzeschäden bis hin zum Hitzschlag die Folge sein. Aufgrund der noch unbefriedigenden Datenlage und der teilweise widersprüchlichen Ergebnisse sind eindeutige Empfehlungen für den Strahlenschutz bezüglich Infrarotstrahlung bislang nicht möglich. Die Erkenntnisse hinsichtlich einer Beschleunigung der Hautalterung durch Infrarotstrahlung sind allerdings ausreichend, um den Einsatz von Infrarotstrahlung gegen Faltenbildung als kontraproduktiv zu bezeichnen.Das Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung hat 2011 Expositionsgrenzwerte zum Schutz der Haut vor Verbrennungen durch Wärmestrahlung festgelegt. Das IFA empfiehlt, zusätzlich zu dem in der EU-Richtlinie 2006/25/EG festgelegten Grenzwert zum Schutz der Haut vor Verbrennungen für Expositionszeiten bis zu 10 sec einen Grenzwert für Expositionszeiten zwischen 10 und 1000 sec anzuwenden. Außerdem sollten zum Vergleich mit den Grenzwerten alle Strahlungsanteile im Wellenlängenbereich von 380 bis 20000 nm berücksichtigt werden.
== Strahlenschutzvorschriften ==
=== Erste Strahlenschutzvorschriften ===
Mit einem 1913 erschienenen Merkblatt der Deutschen Röntgengesellschaft (DRG) wurde das Thema Strahlenschutz erstmals systematisch angegangen. Der Physiker und Mitbegründer der Gesellschaft Bernhard Walter (1861–1950) war einer der Pioniere des Strahlenschutzes.
Die International Commission on Radiological Protection (ICRP) (deutsch Internationale Strahlenschutzkommission) konstituierte sich 1928 auf dem zweiten International Congress of Radiology in Stockholm, ebenso die International Commission on Radiation Units and Measurements (ICRU). Im gleichen Jahr wurden die ersten internationalen Strahlenschutzempfehlungen verabschiedet und jedes vertretene Land aufgefordert, ein koordiniertes Programm zur Strahlenkontrolle zu entwickeln. Der Vertreter der Vereinigten Staaten, Lauriston Taylor vom US Bureau of Standards (NSB), bildete den beratenden Ausschuss für Röntgen- und Radiumschutz, der später zum National Committee on Radiation Protection and Measurements (NCRP) (deutsch Nationales Komitee für Strahlenschutz und Messungen) umbenannt wurde. Die NCRP erhielt 1964 eine Kongress-Charta und entwickelt bis heute Richtlinien, um Einzelpersonen und die Öffentlichkeit vor übermäßiger Strahlung zu schützen. In den Folgejahren wurden durch fast alle Präsidenten zahlreiche weitere Organisationen gegründet.
=== Strahlenschutzüberwachung ===
Piloten, Nuklearmediziner und Mitarbeiter von Kernkraftwerken sind bei ihrer Berufsausübung ionisierender Strahlung ausgesetzt. Um diese Personen vor der schädlichen Wirkung der Strahlung zu schützen, unterliegen in Deutschland mehr als 400.000 Personen der beruflichen Strahlenschutzüberwachung. Rund 70.000 Personen, die in wechselnden Betrieben tätig sind, besitzen einen Strahlenpass (nicht zu verwechseln mit dem Röntgenpass – siehe unten). Strahlenschutzüberwacht werden alle diejenigen, die während ihrer beruflichen Tätigkeiten im Jahr eine effektive Dosis von mehr als 1 Millisievert erhalten können. (Die effektive Dosis durch natürliche Strahlung liegt in Deutschland jährlich bei 2,1 Millisievert). Hierzu messen Dosimeter die Strahlendosis. Der Grenzwert für die berufliche Strahlendosis liegt bei 20 Millisievert pro Jahr. Die Überwachung bezieht sich auch auf Gebäude, Anlagenteile oder (radioaktive) Stoffe. Diese werden mit einem speziellen Verwaltungsakt, der Freigabe im Strahlenschutz, aus dem Geltungsbereich der Strahlenschutzverordnung entlassen. Dazu muss sichergestellt sein, dass die entstehende Strahlenbelastung für eine Einzelperson der Bevölkerung 10 µSv im Kalenderjahr und die resultierende Kollektivdosis 1 Personen-Sievert pro Jahr nicht überschreiten.
=== Strahlenschutzregister ===
Gemäß § 170 Strahlenschutzgesetz (StrlSchG) benötigen alle beruflich exponierten Personen und Inhaber von Strahlenpässen ab dem 31. Dezember 2018 eine Strahlenschutzregisternummer (SSR-Nummer), eine eindeutige persönliche Kennnummer. Die SSR-Nummer erleichtert und verbessert die Zuordnung und Bilanzierung der individuellen Dosiswerte aus der beruflichen Strahlenexposition im Strahlenschutzregister. Sie ersetzt die bisherige Strahlenpassnummer. Sie dient der Überwachung von Dosisgrenzwerten. Unternehmen sind verpflichtet, ihre Beschäftigten so einzusetzen, dass die Strahlendosis, der diese ausgesetzt sind, den Grenzwert von 20 Millisievert im Kalenderjahr nicht übersteigt. In Deutschland waren im Jahr 2016 etwa 440.000 Personen als beruflich strahlenexponiert eingestuft. Gemäß § 145 Abs. 1, Satz 1 Strahlenschutzgesetz „hat bei Sanierungs- und sonstigen Maßnahmen zur Verhinderung und Verminderung der Exposition bei radioaktiven Altlasten derjenige, der die Maßnahmen selbst beruflich durchführt oder durch unter seiner Aufsicht stehende Arbeitskräfte durchführen lässt, vor Beginn der Maßnahmen eine Abschätzung der Körperdosis der Arbeitskräfte durchzuführen.“ Die Beantragung der SSR-Nummern beim Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) für alle aktuell in der Überwachung befindlichen Beschäftigten muss bis zum 31. März 2019 durchgeführt werden.Die Beantragung der SSR-Nummer beim BfS und die Übermittlung der dafür nötigen Daten sind gemäß § 170 Absatz 4 Satz 4 StrlSchG sicherzustellen vom
Strahlenschutzverantwortlichen oder vom
Verpflichteten nach § 131 Absatz 1 oder § 145 Absatz 1 Satz 1 StrlSchG oder vom
Verantwortlichen nach § 115 Absatz 2 oder § 153 Absatz 1 StrlSchG.Die SSR-Nummern sind dann zur weiteren Verwendung im Rahmen der üblichen Kommunikation mit den Messstellen bzw. Strahlenpassbehörden vorzuhalten. Die SSR-Nummer wird durch eine nicht rückführbare Verschlüsselung aus der Sozialversicherungsnummer und aus den Personendaten abgeleitet. Die Übertragung erfolgt online. Etwa 420.00 Menschen in Deutschland werden strahlenschutzüberwacht (Stand 2019).
Notfalleinsatzkräfte (auch ehrenamtliche), die nicht zu den beruflich exponierten Personen im Sinne des Strahlenschutzgesetzes gehören, benötigen nachträglich, also nach einem Einsatz, bei dem sie einer Strahlenexposition über den in der Strahlenschutzverordnung angegebenen Schwellen ausgesetzt waren, ebenfalls eine SSR-Nummer, da alle relevanten Expositionen im Strahlenschutzregister zu erfassen sind.
=== Strahlenschutzbereiche ===
Als Strahlenschutzbereiche werden räumliche Bereiche bezeichnet, in denen entweder Personen beim Aufenthalt bestimmte Körperdosen erhalten können oder in denen eine bestimmte Ortsdosisleistung überschritten wird. Diese werden im § 36 der Strahlenschutzverordnung beziehungsweise in den §§ 19 und 20 der Röntgenverordnung definiert. Laut der Strahlenschutzverordnung unterscheidet man Strahlenschutzbereiche je nach Gefährdung zwischen Sperrbereich (Ortsdosisleistung ≥ 3 mSv/Stunde), Kontrollbereich (effektive Dosis > 6 mSv/Jahr) und Überwachungsbereich (effektive Dosis > 1 mSv/Jahr).
== Radiologische Notfallschutzprojekte ==
=== Frühwarnsysteme ===
Deutschland, Österreich und die Schweiz halten neben vielen anderen Ländern Frühwarnsysteme zum Schutz der Bevölkerung vor.
Das Ortsdosisleistungs-Messnetz (ODL-Messnetz) ist ein vom deutschen Bundesamt für Strahlenschutz betriebenes Messsystem für Radioaktivität, das die Ortsdosisleistung am Messort bestimmt.Als Strahlenfrühwarnsystem wird in Österreich ein Mess- und Meldesystem, das in den späten 1970er Jahren errichtet wurde, bezeichnet, das helfen soll Erhöhungen ionisierender Strahlung auf dem Hoheitsgebiet bereits frühzeitig zu erkennen und zu ermöglichen, notwendige Maßnahmen einzuleiten. Die Messwerte werden automatisch an die Zentrale im Ministerium geliefert, wonach die damit befassten Dienststellen, wie die Bundeswarnzentrale oder die Landeswarnzentralen der Bundesländer, darauf zugreifen können.Das NADAM (Netz für automatische Dosisalarmierung und -messung) ist das Messnetz für Gammastrahlung der Nationalen Alarmzentrale der Schweiz. Das Messnetz wird ergänzt durch die verdichteter aufgestellten MADUK-Stationen (Messnetz zur automatischen Dosisleistungsüberwachung in der Umgebung der Kernkraftwerke) des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI).
=== Projekt NERIS-TP ===
Das NERIS-TP-Projekt zielte in den Jahren 2011–2014 darauf ab, die durch das Europäische Projekt EURANOS gewonnenen Erkenntnisse im Zusammenhang mit nuklearen Notfallmaßnahmen mit allen relevanten Stakeholdern zu diskutieren.
=== Projekt PREPARE ===
Im europäischen Projekt PREPARE sollen Lücken im kerntechnischen und radiologischen Notfallschutz geschlossen werden, die nach dem Unfall in Fukushima identifiziert wurden. Im Projekt sollen Notfallschutz-Konzepte bei lang anhaltenden Freisetzungen überprüft werden, Probleme bei Messverfahren und in der Lebensmittelsicherheit bei grenzüberschreitenden Kontaminationen bearbeitet und fehlende Funktionen in Decision Support-Systemen ergänzt werden (Quellterm-Rekonstruktion, verbesserte Ausbreitungsmodellierung, Berücksichtigung des aquatischen Ausbreitungspfads in europäischen Flusssystemen).
=== Projekt IMIS ===
Bereits seit den 1950er Jahren wird in Deutschland die Umweltradioaktivität überwacht. Dieses erfolgte bis 1986 durch verschiedene Behörden, die sich nicht miteinander abstimmten. Anlässlich der Verwirrungen während der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 wurde eine Bündelung der Messaktivitäten im Projekt IMIS (Integriertes Mess- und Informationssystem) durchgeführt, einem Umweltinformationssystem zur Überwachung der Radioaktivität in Deutschland. Früher waren die Messeinrichtungen den Warnämtern unter dem Namen WADIS („Warndienst-Informationssystem“) angegliedert.
=== Projekt CONCERT ===
Das Ziel des Projekts CONCERT (englisch European Joint Programme for the Integration of Radiation Protection Research ‚Gemeinschaftliches europäisches Programm zur Integration der Strahlenschutzforschung‘) ist, basierend auf den aktuellen strategischen Forschungsprogrammen der europäischen Forschungsplattformen MELODI (Strahlenwirkungen und Strahlenrisiken), ALLIANCE (Radioökologie), NERIS (Nuklearer und radiologischer Notfallschutz), EURADOS (Strahlendosimetrie) und EURAMED (Medizinischer Strahlenschutz), im Jahre 2018 ein gemeinsames Europäisches Programm für Strahlenschutzforschung in Europa zu etablieren.
=== Projekt REWARD ===
Das Projekt REWARD (englisch Real time wide area radiation surveillance system, deutsch Echtzeit-Überwachungssystem für weiträumige Strahlung) wurde gegründet, um gegen Bedrohungen durch nuklearen Terrorismus, vermisste radioaktive Strahlenquellen, radioaktive Kontamination und nukleare Unfälle vorzugehen. Das Konsortium entwickelte ein mobiles System für die Weitbereichsstrahlungsüberwachung in Echtzeit auf der Grundlage der Integration neuer miniaturisierter Festkörpersensoren. Hierfür werden zwei Sensoren verwendet: ein Cadmiumzinktellurid-Detektor (CdZnTe) für die Gammastrahlung und ein hocheffizienter Neutronendetektor auf Basis neuartiger Siliziumtechnologien. Die Gamma- und Neutronendetektoren werden in einer einzigen Überwachungsvorrichtung, Tag (deutsch Schild) genannt, integriert. Die Sensoreinheit enthält eine drahtlose Kommunikationsschnittstelle, um die Daten aus der Ferne an eine überwachende Basisstation zu senden, die auch ein GPS-System verwendet, um die Position des Tags zu berechnen.
=== Einsatzgruppe für alle Arten von nuklearen Notfällen ===
Das Nuclear Emergency Support Team (NEST) ist ein US-amerikanisches Programm für alle Arten von nuklearen Notfällen der National Nuclear Security Administration (NNSA) des Energieministeriums der Vereinigten Staaten und ist gleichzeitig eine Anti-Terroreinheit, die bei Zwischenfällen mit radioaktiven Stoffen oder Atomwaffen aus US-amerikanischem Besitz im Ausland tätig wird. Es wurde 1974/75 unter US-Präsident Gerald Ford gegründet und 2002 in Nuclear Emergency Support Team umbenannt. 1988 wurde ein Geheimabkommen aus dem Jahr 1976 zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland bekannt, das den Einsatz von NEST in der Bundesrepublik festlegt. In Deutschland besteht seit 2003 eine ähnliche Einheit mit dem Namen Zentrale Unterstützungsgruppe des Bundes für gravierende Fälle nuklearspezifischer Gefahrenabwehr (ZUB).
== Gesetzliche Grundlagen ==
Schon im Jahre 1905 forderte der Franzose Viktor Hennecart eine besondere Gesetzgebung, die den Umgang mit Röntgenstrahlen regelt. In England schlug 1915 Sidney Russ (1879–1963) der British Roentgen Society vor, von sich aus eine Reihe von Sicherheitsstandards aufzustellen, wozu es im Juli 1921 durch die Bildung des British X-Ray and Radium Protection Committee kam. In den USA entwarf 1922 die American X-Ray Society ihre eigenen Richtlinien. Im Deutschen Reich formulierte ein Sonderausschuss der Deutschen Röntgengesellschaft unter Franz Maximilian Groedel (1881–1951), Hans Liniger (1863–1933) und Heinz Lossen (1893–1967) nach dem Ersten Weltkrieg die ersten Richtlinien. Im Jahre 1953 erließen die Berufsgenossenschaften die Unfallverhütungsvorschrift „Anwendung von Röntgenstrahlen in medizinischen Betrieben“ aufgrund der gesetzlichen Grundlage im § 848a Reichsversicherungsordnung. In der DDR war von 1954 bis 1971 die Arbeitsschutzanordnung (ASAO) 950 gültig. Diese wurde am 1. April 1971 durch die ASAO 980 abgelöst.
=== EURATOM ===
Die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) wurde am 25. März 1957 durch die Römischen Verträge von Frankreich, Italien, den Beneluxstaaten und der Bundesrepublik Deutschland gegründet und besteht bis heute fast unverändert. Kapitel 3 des Euratomvertrags regelt die Maßnahmen zur Sicherung der Gesundheit der Bevölkerung. In Artikel 35 werden Einrichtungen zur ständigen Überwachung des Bodens, der Luft und des Wassers auf ihre Radioaktivität vorgeschrieben. In allen Mitgliedsstaaten wurden daraufhin entsprechende Messnetze installiert, die ihre erhobenen Daten an die zentrale Datenbank der EU (EURDEP, englisch European Radiological Data Exchange Platform) senden. Die Plattform ist Bestandteil des ECURIE Systems der EU für den Informationsaustausch in radiologischen Notsituationen und wurde 1995 in Betrieb genommen. Auch die Schweiz nimmt an dem Informationssystem teil.
=== Gesetzliche Grundlagen in Deutschland ===
In Deutschland wurde erstmals im Jahre 1941 eine Röntgenverordnung (RGBl. I S. 88) erlassen und galt ursprünglich für nichtmedizinische Betriebe. Die ersten medizinischen Vorschriften wurden von dem Hauptverband der Gewerblichen Berufsgenossenschaften als Unfallverhütungsvorschriften zur Reichsversicherungsordnung im Oktober 1953 erlassen. Grundnormen für den Strahlenschutz wurden durch Richtlinien der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) am 2. Februar 1959 eingeführt. Das Atomgesetz vom 23. Dezember 1959 ist die nationale gesetzliche Grundlage für das gesamte Strahlenschutzrecht in Deutschland (West) mit der Strahlenschutzverordnung vom 24. Juni 1960 (nur für radioaktive Stoffe), der Strahlenschutzverordnung vom 18. Juli 1964 (für den Medizinbereich) und der Röntgenverordnung vom 1. März 1973. Der Strahlenschutz wurde im § 1 formuliert, wonach Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Kernenergie und der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen zu schützen und durch Kernenergie oder ionisierende Strahlen verursachte Schäden auszugleichen sind. In der Strahlenschutzverordnung sind Dosisgrenzwerte für die allgemeine Bevölkerung und für beruflich strahlenexponierte Personen festgelegt. Generell muss jede Anwendung ionisierender Strahlung gerechtfertigt sein und die Strahlenbelastung muss auch unterhalb der Grenzwerte so gering wie möglich gehalten werden. Hierzu müssen beispielsweise Ärzte, Zahnärzte und Tierärzte alle fünf Jahre – gemäß § 18a Abs. 2 RöV in der Fassung vom 30. April 2003 – einen Nachweis der Aktualisierung der Fachkunde im Strahlenschutz erbringen und hierzu einen Ganztageskurs mit Abschlussprüfung absolvieren. Die Fachkunde im Strahlenschutz ist nach der Fachkunde-Richtlinie Technik nach RöV – R3 für Personen vorgeschrieben, die beim Einsatz von Gepäckdurchleuchtungseinrichtungen, industriellen Messeinrichtungen und Störstrahlern tätig sind. Seit 2019 sind die Regelungsgebiete der bisherigen Röntgen- und Strahlenschutzverordnungen in der novellierten Strahlenschutzverordnung zusammengeführt.
Die Strahlenschutzkommission (SSK) wurde 1974 als Beratungsgremium des Bundesministeriums des Innern gegründet. Sie entstand aus der Fachkommission IV „Strahlenschutz“ der am 26. Januar 1956 konstituierten Deutschen Atomkommission. Nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 wurde in der Bundesrepublik Deutschland das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit gegründet. Die Gründung dieses Ministeriums war vor allem eine Reaktion auf den als unzureichend koordiniert empfundenen Umgang der Politik mit der Katastrophe von Tschernobyl und ihren Folgen. Am 11. Dezember 1986 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Strahlenschutzvorsorgegesetz (StrVG), zum Schutz der Bevölkerung, die Radioaktivität in der Umwelt zu überwachen und die Strahlenexposition der Menschen und die radioaktive Kontamination der Umwelt im Falle radioaktiver Unfälle oder Zwischenfälle so gering wie möglich zu halten. Die letzte Neufassung der Röntgenverordnung wurde am 8. Januar 1987 ausgefertigt. Im Zuge einer umfassenden Modernisierung des deutschen Strahlenschutzrechts, die maßgeblich auf der Richtlinie 2013/59/Euratom beruhte, wurden die Regelungen der Röntgenverordnung in die neu gefasste Strahlenschutzverordnung übernommen.
Neben zahlreichen anderen Maßnahmen wurden kontaminierte Lebensmittel in großem Umfang aus dem Verkehr gezogen. Eltern wurde dringend geraten ihre Kinder nicht in Sandkästen spielen zu lassen. Teilweise wurde der kontaminierte Sand ausgetauscht.1989 wurde das Umweltministerium um das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) erweitert. Es folgte eine Neubekanntmachung des Strahlenschutzvorsorgegesetzes am 30. April 2003 zur Umsetzung zweier EU-Richtlinien über den Gesundheitsschutz von Personen gegen die Gefahren ionisierender Strahlung bei medizinischer Exposition. Der Schutz von Arbeitnehmern vor optischer Strahlung, (Infrarotstrahlung (IR), Sichtbares Licht (VIS) und Ultraviolettstrahlung (UV)), die zum Bereich der nicht ionisierenden Strahlung gehört, wird durch die Arbeitsschutzverordnung zu künstlicher optischer Strahlung vom 19. Juli 2010 geregelt. Es basiert auf der EU-Richtlinie 2006/25/EG vom 27. April 2006. Am 1. März 2010 trat das „Gesetz zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung bei der Anwendung am Menschen“ (NiSG) in Kraft beschlossen, BGBl. I S. 2433, wonach seit dem 4. August 2009 Minderjährigen die Benutzung von Solarien nach Maßgabe des § 4 NiSG untersagt ist. Am 1. Oktober 2017 trat ein neues Strahlenschutzgesetz in Deutschland in Kraft.In Deutschland leitet und beaufsichtigt ein Strahlenschutzbeauftragter Tätigkeiten zur Gewährleistung des Strahlenschutzes beim Umgang mit radioaktiven Stoffen oder ionisierender Strahlung. Seine Aufgaben sind unter anderem in den §§ 31 bis 33 der Strahlenschutzverordnung und in den §§ 13 bis 15 der Röntgenverordnung beschrieben. Er wird vom Strahlenschutzverantwortlichen bestellt, der dafür verantwortlich ist, dass alle Vorschriften zum Strahlenschutz eingehalten werden.
==== Röntgenpass ====
Ein Röntgenpass ist ein Dokument, in das seit 2002 der untersuchende Arzt oder Zahnarzt Informationen zu den Röntgenuntersuchungen des Patienten eintragen musste, die an ihm durchgeführt werden. Dadurch sollten insbesondere unnötige Wiederholungsuntersuchungen vermieden werden. Gemäß der neuen Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) sind Praxen und Kliniken seit 1. Januar 2019 nicht mehr dazu verpflichtet, ihren Patienten Röntgenpässe anzubieten und Untersuchungen darin einzutragen. Die Strahlenschutzverordnung trat am 31. Dezember 2018 gemeinsam mit dem bereits im Jahre 2017 beschlossenen Strahlenschutzgesetz (StrlSchG) in Kraft und ersetzt die bisherige Strahlenschutzverordnung und Röntgenverordnung. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) rät Patienten trotzdem dazu, über strahlendiagnostische Untersuchungen in Eigenregie Buch zu führen. Auf seiner Internetseite stellt das Bundesamt ein Dokument zum Download zur Verfügung, das für eine persönliche Dokumentation genutzt werden kann.
=== Gesetzliche Grundlagen in der Schweiz ===
In der Schweiz begann der institutionalisierte Strahlenschutz 1955 mit dem Erlass von Richtlinien für den Schutz gegen ionisierende Strahlungen in der Medizin, in Laboratorien, Gewerbe- und Fabrikationsbetrieben, die jedoch nur Empfehlungscharakter hatten. Die gesetzlichen Grundlagen schuf ein neuer Verfassungsartikel (Art. 24), wonach der Bund Vorschriften über den Schutz vor den gefahren ionisierender Strahlen erlässt. Darauf aufbauend trat zum 1. Juli 1960 ein entsprechende Bundesgesetz in Kraft. Am 1. Mai 1963 wurde die erste schweizerische Verordnung über den Strahlenschutz in Kraft gesetzt. Als Ergänzungen zur Verordnung wurden am 7. Oktober 1963 im Wesentlichen folgende Verfügungen des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) erlassen:
über den Strahlenschutz bei medizinischen Röntgenanlagen
über den Strahlenschutz bei Schuhdurchleuchtungsapparaten (von denen 1963 etwa 850 in Betrieb waren; der letzte wurde erst 1990 stillgelegt)
über die Radioaktivität von Leuchtzifferblättern.Es folgten weitere 40 Verordnungen. Die Überwachungen entsprechender Einrichtungen zog sich – mangels Personals – über viele Jahre hin. Seit 1963 sollten Dosimeter zum Personenschutz eingesetzt werden, was jedoch auf vielerlei Widerstand stieß. Der Erlass eines aktualisierten Strahlenschutzgesetzes dauerte bis 1989. Damit einher ging die Strahlenschutzausbildung der betroffenen Personen.
=== Gesetzliche Grundlagen in Österreich ===
Die gesetzliche Basis für den Strahlenschutz in Österreich ist das Strahlenschutzgesetz (BGBl. 277/69 i.d.g.F.) vom 11. Juni 1969. Die Aufgaben im Strahlenschutz erstrecken sich in die Bereiche Medizin, Gewerbe und Industrie, Forschung, Schulen, Arbeitnehmerschutz und Lebensmittel. Die Allgemeine Strahlenschutzverordnung, BGBl. II Nr. 191/2006, ist seit 1. Juni 2006 in Kraft. Sie regelt auf Basis des Strahlenschutzgesetzes den Umgang mit Strahlenquellen und die Maßnahmen zum Schutz vor ionisierenden Strahlen. Die Verordnung optische Strahlung (VOPST) ist eine Detailverordnung zum ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG).
Am 1. August 2020 ist ein neues Strahlenschutzrecht in Kraft getretenen, in dem die Strahlenschutzregelungen betreffend künstliche radioaktive Stoffe und terrestrische natürliche radioaktive Stoffe weitgehend vereinheitlicht worden sind. Sie sind nunmehr in der Allgemeine Strahlenschutzverordnung 2020 verankert. Unternehmen, die Tätigkeiten mit natürlich vorkommenden radioaktiven Materialien ausüben, unterliegen seither der Bewilligungs- oder Meldepflicht gemäß §§ 15 bis 17 Strahlenschutzgesetz 2020, sofern keine Ausnahmebestimmung gemäß §§ 7 oder 8 Allgemeine Strahlenschutzverordnung 2020 zutrifft. In den Geltungsbereich wurden die Zementherstellung einschließlich der Wartung von Klinkeröfen, die Produktion von Primäreisen sowie die Zinn-, Blei- und Kupferschmelze aufgenommen. Fällt ein Unternehmen in den Geltungsbereich der Allgemeine Strahlenschutzverordnung 2020, muss dessen Inhaberin/Inhaber eine behördlich ermächtige Überwachungsstelle beauftragen. Die Beauftragung umfasst eine Dosisabschätzung für jene Arbeitskräfte, die einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt sein könnten, sowie gegebenenfalls die Ermittlung der Aktivitätskonzentration von Rückständen und von mit der Luft oder dem Abwasser abgeleiteten radioaktiven Stoffen.
== Siehe auch ==
Liste von Unfällen in kerntechnischen Anlagen
USIE, RANET, EURDEP, ITRAP, AtMSV, REMPAN, BEIR
== Literatur ==
J. Samuel Walker: Permissible Dose: A History of Radiation Protection in the Twentieth Century. University of California Press, 2000, ISBN 978-0-520-92484-0 (google.com). Eingeschränkte Vorschau in Google Books.
K. N. Govinda Rajan: Radiation Safety in Radiation Oncology. CRC Press, 2017, ISBN 978-1-4987-6226-7 (google.com). Eingeschränkte Vorschau in Google Books.
Strahlengefahrdung und Strahlenschutz / Radiation Exposure and Radiation Protection. Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-642-82229-2 (google.com). Eingeschränkte Vorschau in Google Books.
J. Samuel Walker: Short History of Nuclear Regulation, 1946–1999. DIANE Publishing, 2001, ISBN 978-0-7567-0929-7 (google.com). Eingeschränkte Vorschau in Google Books.
Ashley W. Oughterson, Shields Warren: Medical Effects of the Atomic Bomb in Japan. Band VIII.8 aus der National Nuclear Energy Series zum Manhattan Project, McGraw-Hill Book Company, 1956.
Carl Voegtlin, Harold C. Hodge: Pharmacology and Toxicology of Uranium Compounds. Band VI.1, Teil I und Teil II (with a Section on the Pharmacology and Toxicology of Fluorine and Hydrogen Fluoride) aus der National Nuclear Energy Series zum Manhattan Project, McGraw-Hill Book Company, 1949.
Henry DeWolf Smyth (written on the request of Maj. Gen. L. R. Groves): Atomic Energy for Military Purposes. The official report on the development of the atomic bomb under the auspices of the United States Government, 1940–1945. Princeton University Press, 1946.
James E. Grindler (Argonne National Laboratory): The Radiochemistry of Uranium. Nuclear Science Series, National Research Council, NAS-NS 3050, undatiert.
== Weblinks ==
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Leitlinien zur Qualitätssicherung in der Röntgenologie (PDF) Bundesärztekammer, 23. November 2007. Abgerufen am 4. Dezember 2017.
DIN-Normen Radiologie (PDF) DIN-Normenausschuss Radiologie NAR in Arbeitsgemeinschaft mit der Deutschen Röntgengesellschaft, Juni 2015. Abgerufen am 4. Dezember 2017.
Strahlenschutz in der Tierheilkunde – Richtlinie zur Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) und zur Röntgenverordnung (RöV) (PDF) 25. September 2014, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, Referat Medizinisch-biologische Angelegenheiten des Strahlenschutzes Az. RS II 4 – 11432/7. Abgerufen am 28. November 2017.
Radioaktivität und Strahlenschutz (PDF; 6,6 MB) Bundesamt für Gesundheit (Schweiz), Juli 2007. Abgerufen am 25. November 2017.
Übersicht der internationalen Strahlenschutzfachverbände und -organisationen, Österreichischer Verband für Strahlenschutz. Abgerufen am 3. Dezember 2017.
Human Radiation Experiments DOE Openness. Abgerufen am 10. Januar 2018.
Department of Energy OpenNet Resources. Abgerufen am 10. Januar 2018.
Igor Gusev, Angelina Guskova, Fred A. Mettler: Medical Management of Radiation Accidents, Second Edition. CRC Press, 2001, ISBN 978-1-4200-3719-7, S. 299 ff. (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
== Einzelnachweise ==
ebot
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_des_Strahlenschutzes
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Finnische Sprachenpolitik
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= Finnische Sprachenpolitik =
Die finnische Sprachenpolitik bezeichnet das Verhältnis des finnischen Staates zu den im Land gesprochenen Sprachen und den diese Sprachen sprechenden Volksgruppen. Zu den besonderen Zügen der finnischen Sprachenpolitik gehört seit dem 19. Jahrhundert die Zweisprachigkeit und das damit verbundene Ringen um die Kräfteverhältnisse zwischen der von einer Minderheit gesprochenen schwedischen und der finnischen Sprache.
== Geschichte ==
=== Vorgeschichte ===
Das Gebiet des heutigen Finnland war seit etwa dem 12. Jahrhundert bis ins Jahr 1809 ein organischer Teil des Schwedischen Reiches. Als Verwaltungssprache des Staates diente im Wesentlichen die schwedische Sprache. Im Spätmittelalter wurde zusätzlich auch Latein und während der Zeit der Kalmarer Union in gewissem Umfang auch Dänisch verwendet. Die vom überwiegenden Teil der Bevölkerung gesprochene finnische Sprache hatte hingegen keinen offiziellen Status und war als Schriftsprache zunächst nicht existent.
Als Vater der finnischen Schriftsprache gilt heute Mikael Agricola, welcher spätestens im Jahr 1543 das erste Lesebuch in finnischer Sprache, das ABC-Buch, veröffentlichte. Am Anfang des 17. Jahrhunderts wurden die ersten Gesetze auch auf Finnisch veröffentlicht, und im Jahr 1759 wurde schließlich das gesamte Gesetzbuch des Landes in finnischer Sprache herausgegeben.
Während der schwedischen Zeit nahm der finnische Adel ebenso wie ein großer Teil des wohlhabenden Bürgertums die schwedische Sprache an. Der Bauernstand trug bei den Reichstagen wiederholt erfolglos die Bitte nach Dolmetscher- und Übersetzerdiensten vor und verlangte die Berücksichtigung der finnischen Sprache bei der Besetzung von Ämtern. Während sich jedoch an der Akademie zu Turku unter der Führung von Henrik Gabriel Porthan eine Bewegung von Liebhabern der finnischen Sprache, die sogenannten Fennophilen, bildete, war Porthan selbst der Ansicht, dass im Zuge der „weiteren Ausbreitung der Kultur“ die finnische Sprache letztlich verschwinden würde.
=== Großfürstentum Finnland ===
Nach der Loslösung Finnlands von Schweden und der Bildung des Großfürstentums Finnland unter der russischen Krone bewahrte sich das Schwedische seine Position als Amts- und Verwaltungssprache. Die russischen Herrscher erhofften sich jedoch durch eine Stärkung der finnischen Sprache eine Schwächung der Bindungen Finnlands an das bisherige Mutterland Schweden. So wurde die Regentenversicherung von Zar Alexander I. auf dem Reichstag von Porvoo sowohl auf Finnisch als auch auf Schwedisch veröffentlicht.
In der Zeit des Großfürstentums entstand, angefacht durch die in Europa aufgekommenen nationalen Ideen, eine neue finnische Identität. Diese finnische Nationalbewegung war zunächst nicht sprachpolitischer Natur. Von den zentralen Protagonisten der Bewegung schrieben zum Beispiel Johan Ludvig Runeberg und Zacharias Topelius auf Schwedisch und Johan Vilhelm Snellman benutzte beide Sprachen. Allerdings schrieben Elias Lönnrot und Aleksis Kivi auf Finnisch, und die Veröffentlichung von Lönnrots Sammlung Kalevala sowie Kivis Roman Die Sieben Brüder brachten der bisher geringgeschätzten finnischen Sprache und Kultur Respekt ein.
Die russische Sprache erreichte auch in der Zeit der russischen Herrschaft zu keinem Zeitpunkt einen wesentlichen Stellenwert, wenn auch seit dem Jahr 1818 von allen Amtsinhabern ein Zeugnis über die russische Sprachkenntnis verlangt wurde.
Diese Anforderung wurde für Pfarrer im Jahr 1824 aufgehoben. Von diesen wurde stattdessen in Gemeinden mit finnischsprachiger Bevölkerung finnische Sprachkenntnis verlangt.
Im Jahr 1828 wurde an der Universität das Amt des Lektors der finnischen Sprache und 1850 der Lehrstuhl für finnische Sprache und Literatur begründet. Die erste finnischsprachige Dissertation wurde 1858 veröffentlicht. Im gleichen Jahr wurde in Jyväskylä das erste Gymnasium gegründet, dessen Unterrichtssprache Finnisch war.
Gesetze und Verordnungen wurden auf Schwedisch und nach Bedarf auch auf Finnisch bekanntgemacht. Das seit 1860 erschienene finnische Verordnungsblatt wurde von Beginn an zweisprachig, im Zuge der in den 1880er Jahren begonnenen Russifizierungsbestrebungen in der kurzen Periode von 1903 bis 1905 auch auf Russisch veröffentlicht. Die Vorarbeiten zu den Gesetzen fanden grundsätzlich auf Schwedisch statt, und erst für die offizielle Gesetzesvorlage wurden finnische Übersetzungen angefertigt. Erst ab der Parlamentsreform von 1906 begann die finnischsprachige Gesetzesvorbereitung Raum zu gewinnen.
=== Fennomanen und Svekomanen ===
Die Bestrebungen zur Verbesserung der Stellung der finnischen Sprache und der sprachlichen Rechte der Finnischsprachigen führten in den 1840er Jahren zur Entstehung der Fennomanie als ideeller Bewegung. Deren Anhänger gründeten die Finnische Partei und gaben ab 1847 die erste in finnischer Sprache an ein gebildetes Publikum gerichtete Zeitung Suometar heraus.
Der prominenteste Fennomane war zunächst der Philosoph, Journalist und spätere Staatsmann Johan Vilhelm Snellman, welcher in Zeitungsartikeln beklagte, dass das finnische Volk gegenüber anderen Völkern geistig und materiell zurückgeblieben sei. Als Grund hierfür machte Snellman den Mangel an Nationalbewusstsein aus, welches man nur durch die Erhebung der finnischen Sprache zur Amts- und Bildungssprache fördern könne.
Die Gedanken Snellmans fanden ein weites Echo, und in der sich erweiternden Bewegung bildeten sich bald unterschiedliche Strömungen heraus. Während liberale Fennomanen wie Elias Lönnrot und Zacharias Topelius eine Zweisprachigkeit des Landes anstrebten, wollten vor allem die ab 1863 um Yrjö Koskinen formierten Jungfennomanen Finnisch unter Verdrängung des Schwedischen als einzige Kultur- und Amtssprache Finnlands etablieren. Radikalisierte Fennomanen entwickelten aus der Sprachfrage die Forderung nach einem die finnischsprachigen Völker umfassenden Großfinnland. Die Finnlandschweden bezeichneten sie als Fremde oder als Verräter ihrer finnischen Vorfahren.
Als Gegenreaktion zu den Fennomanen bildete sich eine die Stellung der schwedischen Sprache verteidigende Bewegung, die Svekomanen, deren führende Persönlichkeit Professor Axel Olof Freudenthal war und aus welcher die Schwedische Partei hervorging. In den schwedischsprachigen Zeitungen wurde argumentiert, dass die finnische Sprache als Kultursprache ungeeignet sei. Radikale Svekomanen vertraten die Ansicht, dass die Schweden bereits im Mittelalter den ansonsten entwicklungsunfähigen Finnen die westliche Kultur gebracht hätten.
Auch in Regierungskreisen herrschte eine der finnischen Sprache unfreundlich gesinnte Einstellung vor, von russischer Seite verstärkt durch die Besorgnis vor der Verbreitung revolutionären Gedankengutes im Volke. Daher wurde im Jahr 1850 durch die sogenannte Sprachverordnung die Veröffentlichung von finnischsprachigen Texten mit Ausnahme von religiösen und wirtschaftlichen Veröffentlichungen verboten. Die Verordnung wurde jedoch wenig befolgt und im Jahr 1860 auch formal wieder aufgehoben. Seit 1858 wurden im Binnenland tätige Amtsträger verpflichtet, eine mündliche finnische Sprachprüfung abzulegen.
Während der finnische Senat der finnischen Sprache gegenüber weiterhin skeptisch blieb, erzielten die Fennomanen im Jahr 1863 scheinbar einen Durchbruch, als Zar Alexander II. einen von Snellman unter Umgehung des Senates vorgelegten Verordnungsentwurf unterzeichnete, nach welchem Finnisch innerhalb von 20 Jahren gleichberechtigte Amts- und Gerichtssprache werden sollte.
=== Verschiebung der Kräfteverhältnisse ===
Als die von Alexander II. gesetzte Frist im Jahr 1883 ablief, versuchte der russische Generalgouverneur Fjodor Loginowitsch Heiden, das Finnische im Verordnungswege in den Stand der Amtssprache einzusetzen. Er scheiterte dabei jedoch zunächst am Widerstand des schwedisch gesinnten Senates wie auch des Prokurators Robert Montgomery, welcher das Finnische für eine „fremde Sprache“ hielt, die in den Gerichten nicht verwendet werden könne. Erst mit der Sprachverordnung vom 19. Juni 1902 wurde Finnisch Amtssprache.
Dieser Vorgang wurde überlagert von den Auswirkungen des im Jahr 1900 erlassenen Sprachmanifestes, durch welches im Zuge der angestrebten Russifizierung Finnlands die russische Sprache unter anderem als Sprache des Senats festgelegt wurde. In der Praxis blieben jedoch Schwedisch und Finnisch die im Senat verwendeten Sprachen, während die Protokolle und Beschlüsse lediglich ins Russische übersetzt wurden. Das Sprachmanifest wurde nach dem vorläufigen Ende der Russifizierungsbestrebungen im Jahr 1906 wieder aufgehoben.
Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnene Aufbau eines finnischsprachigen Schulwesens führte bis zur Jahrhundertwende zur Bildung einer gebildeten finnischsprachigen Bevölkerungsschicht, und bis zum zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte sich Finnisch zu einer vollwertigen Kultursprache entwickelt. Im gleichen Zuge verlor das Schwedische seine Stellung als alleinige Kultursprache. Während bisher Schwedisch die Sprache der gebildeten Schichten war, wurde es nun zunehmend als Sprache einer klaren Bevölkerungsminderheit empfunden. Dies führte auch dazu, dass sich die schwedischsprachigen Bevölkerungsteile deutlicher als zuvor als besondere Volksgruppe empfanden, zu welcher neben der alten Elite auch die schwedischsprachigen Teile der einfachen Bevölkerung gehörten. Diese Entwicklung zusammen mit dem wieder aufflammenden Sprachenstreit und den Bestrebungen von fennomanischen Kreisen, Finnisch zur einzigen Amtssprache des Landes zu machen, führte schließlich zur Gründung der Schwedischen Volkspartei als Interessenvertretung der sprachlichen Minderheit sowie der ersten explizit schwedischsprachigen Universität, der Åbo Akademi.
=== Ringen um die Sprachenpolitik des selbstständigen Finnland ===
Als Finnland im Jahr 1917 die Unabhängigkeit erlangte, hatten sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Sprachen umgekehrt, und als entscheidende offene Frage verblieb der Status des Schwedischen im jungen Staat. Die um ihre Sprachrechte fürchtenden Finnlandschweden sahen sich lautstarken Forderungen der Fennomanen gegenüber, welche das Schwedische allenfalls als Minderheitensprache tolerieren wollten.
Radikale svekomanische Gruppierungen stellten die Theorie von zwei verschiedenen Nationalitäten auf und verlangten einen Autonomiestatus für die mehrheitlich schwedischsprachigen Gebiete, vergleichbar den später der Inselgruppe Åland zugestandenen Rechten. Zu diesem Zweck wurde im Frühjahr 1919 eine inoffizielle Volksvertretung der Finnlandschweden (Svenska Finlands folkting) gegründet. Die Schwedische Volkspartei, welche eine Schwächung der Gesamtstellung des Schwedischen im Lande fürchtete, lehnte diese Forderungen ab, und auch im Parlament konnte das Projekt keine bedeutende Zustimmung gewinnen.
Nach langen Verhandlungen einigte man sich schließlich auf einen Kompromiss und legte in der Verfassung von 1919 fest, dass Finnisch und Schwedisch gleichberechtigte Landessprachen sind. Das Sprachengesetz von 1922 bestimmte die Details des Gebrauchs der Landessprachen in Gerichten und Behörden, wobei die Rechte zur Benutzung der eigenen Sprache in erster Linie auf der Ebene der schriftlichen Korrespondenz garantiert wurden.
=== Die „wahren Finnen“ ===
Der in den Verfassungsverhandlungen gefundene Kompromiss löste die im jahrzehntelangen Sprachenstreit verhärteten Fronten nicht auf. Die schwedische Sprache bewahrte sich noch für lange Zeit eine beherrschende Stellung in Bildungs- und Kulturkreisen, und finnische Bevölkerungskreise beschuldigten die Finnlandschweden wiederholt der Arroganz und des Elitedenkens.
Die radikale fennomanische Bewegung setzte sich in den Aktivitäten von verschiedenen Bevölkerungsgruppen fort, die bald als die „wahren Finnen“ (aitosuomalaiset) bekannt wurden. Ihre hauptsächlichen Stützpfeiler hatte die Bewegung einerseits in finnischsprachigen akademischen Kreisen, hier insbesondere unter Einfluss des nationalistischen Akademischen Karelien-Vereins (Akateeminen Karjala-Seura, AKS), andererseits in der finnischen Landbevölkerung, vertreten durch den Landbund (heutige Finnische Zentrumspartei). Der fortgesetzte Sprachenstreit führte zu häufigen Demonstrationen, aber auch zu einer regen Entwicklung des Kulturlebens auf beiden Seiten.
Der Sprachstreit spitzte sich Ende 1934 erneut zu, als die Regierung die Einführung einer Quote für schwedischsprachige Professuren an der Universität Helsinki plante. Dies wurde von den zu einer einsprachigen Universität strebenden „wahren Finnen“ um den Landbund und einen Teil der Nationalen Sammlungspartei vehement abgelehnt. Die Marathonreden der Gegner des Vorhabens verhinderten 1935 eine abschließende Behandlung der Vorlage während der Legislaturperiode des Parlaments, so dass die Frage zunächst offenblieb. Erst 1937 wurde der Streit im Grundsatz zugunsten der finnischen Sprache entschieden, die Quote für schwedischsprachige Professuren über den Umweg eines Ausführungsgesetzes aber dennoch eingeführt.
Nach dieser letzten Verschärfung der Sprachenfrage begannen die weltpolitischen Geschehnisse, den Sprachengegensatz in den Hintergrund zu drängen. Die Furcht vor der Sowjetunion und einem möglichen Krieg zwangen auch die fennomanisch orientierten Parteien zu einer stärkeren Hinwendung zu einer an den skandinavischen Westnachbarn orientierten Politik. Die nachfolgenden Kriege trugen dazu bei, das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der Finnen zu stärken, und Sprachenstreite in der bisherigen Vehemenz gehörten damit der Vergangenheit an.
=== Sprachenpolitik in der Nachkriegszeit ===
Nach dem Krieg musste Finnland erhebliche Gebiete an die Sowjetunion abtreten, darunter Ostkarelien. Die Umsiedlung der betroffenen Bevölkerungsteile, welche 12 % der finnischen Gesamtbevölkerung ausmachten, warf auch sprachpolitische Fragen auf. Die Neuansiedlung der vorwiegend bäuerlichen Bevölkerung wurde durch das 1945 im Parlament verabschiedete Landerwerbsgesetz geregelt.
Auf Forderung des damaligen Ministerpräsidenten und späteren Präsidenten Juho Kusti Paasikivi wurden in das Gesetz auch sprachbezogene Bestimmungen aufgenommen. Diesen zufolge durften die Umsiedlungen die Sprachverhältnisse der betroffenen Gemeinden nicht ändern. Hierdurch wurde in der Praxis die Ansiedlung in schwedischsprachige oder zweisprachige Gebiete verhindert, da es schwedischsprachige Flüchtlinge nur sehr wenig gab.
Nach Paasikivis Ansicht hätten die Umsiedler die schwedischsprachige Besiedlung und Kultur gefährdet. Deren Erhaltung stelle aber sicher, dass das Interesse Schwedens, der nordischen Länder sowie mittelbar auch der gesamten westlichen Welt am Schicksal Finnlands nicht nachlasse. Anders als in der Vorkriegszeit wurde die Zweisprachigkeit in Finnland damit nicht mehr als innenpolitisches Problem, sondern als außenpolitischer Vorteil empfunden.
== Finnisch und Schwedisch im heutigen Finnland ==
=== Gesetzliche Regelung der Sprachfrage ===
Das 1922 erstmals verabschiedete Sprachgesetz (finnisch kielilaki, schwedisch språklagen) ist in der Folge verschiedentlich reformiert worden, zuletzt im Jahr 2003. Kernregelungen des Gesetzes betreffen einerseits die Rechte der individuellen Person, andererseits den Sprachstatus von Gemeinden als Verwaltungseinheiten.
Jede Gemeinde ist entweder finnischsprachig, schwedischsprachig oder zweisprachig. Eine Gemeinde gilt als zweisprachig, wenn die sprachliche Minderheit von mindestens 3000 Einwohnern repräsentiert wird oder alternativ einen Bevölkerungsanteil von mindestens 8 % ausmacht. Nach der derzeitigen, bis zum Jahr 2022 gültigen Einteilung sind in Finnland 16 Gemeinden schwedischsprachig (sämtlich in der Provinz Åland) und 33 Gemeinden zweisprachig. Die übrigen 260 Gemeinden sind ausschließlich finnischsprachig.
Der Bürger hat das Recht, mit staatlichen Gerichten und Behörden in seiner Muttersprache, Schwedisch oder Finnisch, zu verkehren. Das Gleiche gilt für die kommunalen Behörden in zweisprachigen Gemeinden. In einsprachigen Gemeinden verwenden die kommunalen Behörden dagegen grundsätzlich nur die Gemeindesprache. Soweit aber ein Beteiligter in einer Sache, die er nicht selbst veranlasst hat, angehört werden muss, darf er auch seine Muttersprache verwenden. Nötigenfalls muss ein Dolmetscher hinzugezogen werden.
In den Gesetzen über die Besetzung von öffentlichen Ämtern ist festgelegt, dass jede Einstellung in den öffentlichen Dienst Finnlands den Nachweis von finnischen und schwedischen Sprachkenntnissen voraussetzt. Das Erlernen der jeweils anderen Landessprache ist in allen Schulen seit 1968 zwingend vorgeschrieben. Auch der Erwerb eines Hochschulabschlusses setzt jeweils den Nachweis von Kenntnissen der jeweils anderen Landessprache voraus.
In der finnischen Armee ist Finnisch aus praktischen Gründen ausschließliche Kommandosprache. Allerdings werden die meisten schwedischsprachigen Soldaten in einer gesonderten Brigade in Dragsvik ausgebildet.
In Åland gelten die finnischen Sprachengesetze nicht, stattdessen werden die Sprachfragen in dieser autonomen Provinz durch das Selbstverwaltungsgesetz geregelt. Åland ist ausschließlich schwedischsprachig, jedoch dürfen Finnen gegenüber den Behörden des finnischen Staates auch die finnische Sprache verwenden. Gegenüber den Behörden der Provinz oder ihrer Gemeinden kann nur Schwedisch verwendet werden.
Die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Finnlands Yleisradio versorgt die schwedischsprachige Bevölkerung mit zwei Radiostationen. In den Fernsehprogrammen der Anstalt nehmen Sendungen in schwedischer Sprache einen Anteil von etwa 10 % ein.
=== Statistik ===
Während die absolute Zahl der schwedischsprachigen Finnen langfristig weitgehend unverändert geblieben ist, ist der relative Anteil an der Gesamtbevölkerung stetig zurückgegangen (siehe nebenstehende Tabelle). Dabei ist insbesondere in den zweisprachigen Gebieten eine zunehmende Vermischung der Sprachgruppen zu beobachten.
Es gehört zu den Besonderheiten der in Finnland praktizierten Zweisprachigkeit, dass die Sprachgrenzen in der Praxis kein relevantes Hindernis für die Formung von Lebensgemeinschaften darstellen. Hierzu mag beitragen, dass nach einer Untersuchung aus dem Jahr 1997 ein Anteil von 70 % der Finnen die schwedische Sprache als Teil der eigenen nationalen Identität betrachtet. In den zweisprachigen Familien werden 60 % der Kinder als schwedischsprachig registriert.
=== Der Sprachenstreit heute ===
Obwohl es seit den 1930er Jahren keine groß angelegten Sprachenstreite mehr gegeben hat, ist es um die Sprachenfrage doch nie ganz ruhig geworden. Die Diskussion entzündet sich heute regelmäßig vor allem an zwei Streitpunkten, nämlich der obligatorischen Sprachausbildung sowie den Quoten für schwedischsprachige Studenten.
Die Pflicht zur Erlernung der jeweils anderen Landessprache ist ständiger Kritik vor allem aus den Reihen der Finnischsprachigen ausgesetzt, insbesondere von Seiten der von der Lernpflicht betroffenen Schüler und Studenten. Das Thema wird unter dem Schlagwort „Zwangsschwedisch“ (finnisch pakkoruotsi) immer wieder zum Gegenstand von öffentlichen Kampagnen gemacht. Als zentrales Argument dient dabei, dass die schwedische Sprache weniger nutzbringend sei als das Erlernen von Fremdsprachen wie Englisch.
Unter den politischen Parteien des Landes herrscht derzeit jedoch ein klarer Konsens über die Beibehaltung des obligatorischen Schwedischunterrichts. Der Forderung nach dessen Abschaffung haben sich nur einige kleine rechtspopulistische Parteien angeschlossen. So wurde das neue Sprachengesetz 2003, welches in dieser Hinsicht keine Änderung brachte, vom Parlament mit 179 Stimmen bei nur drei Gegenstimmen angenommen.
Der zweite große Streitpunkt betrifft die quotenmäßige Besetzung von bestimmten Studien- und Ausbildungsplätzen mit schwedischsprachigen Studenten. So stehen in den Studiengängen der Rechtswissenschaft und der Medizin jeweils gesonderte Quoten für Studenten zur Verfügung, welche die schwedische Sprache beherrschen. Diese von manchen finnischsprachigen Finnen als diskriminierend empfundene Praxis wird damit begründet, dass das Sprachgesetz ein zureichendes Angebot an schwedischsprachigen Dienstleistungen erfordert und dass zu diesem Zweck auch eine ausreichende Ausbildung in schwedischer Sprache sichergestellt werden muss. Außerdem stehe die schwedischsprachige Ausbildung allen Finnen offen, welche die schwedische Sprache beherrschen, nicht etwa nur solchen Finnen, deren Muttersprache Schwedisch ist.
Trotz dieser Streitpunkte ist die auf dem Sprachgesetz beruhende Praxis inzwischen für die meisten Finnen zur Selbstverständlichkeit geworden und sprachliche Streitfragen sind nur noch selten Gegenstand einer breiteren öffentlichen Diskussion.
== Stellung der samischen Sprachen ==
Besonders ab den 1990er Jahren wurde in der Sprachenpolitik Finnlands zunehmend auch auf andere Minderheitensprachen sowie auf das Recht der Sprecher dieser Sprachen an ihrer eigenen Sprache und Kultur Rücksicht genommen. In diesem Zusammenhang hat Finnland auch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ratifiziert.
Neben dem Schwedischen fallen in Finnland nur die samischen Sprachen unter die Charta. Seit dem Jahr 1992 haben diese einen offiziellen Status in den Heimatbezirken der Samen in den Gemeinden Enontekiö, Inari und Utsjoki sowie im Nordteil der Gemeinde Sodankylä.
Der Status der samischen Sprachen garantiert den Samen das Recht, diese als Verkehrssprache in Behörden und Krankenhäusern zu verwenden. Da die verschiedenen Varianten der samischen Sprache ebenfalls berücksichtigt werden, ist infolge der Neuerung aus Inari die einzige viersprachige Gemeinde Finnlands geworden. Dort werden alle öffentlichen Bekanntmachungen auf Nord-Sami, Inari-Sami, Skolt-Sami sowie auf Finnisch gemacht. In den Schulen einiger Gebiete ist Nord-Sami die erstrangige Schulsprache.
Zu den zentralen Anliegen der Sprachenpolitik der nordischen Länder gehört die Wiederbelebung der samischen Sprachen. Unter dem Druck der größeren Landessprachen spricht nur noch etwa die Hälfte der Samen eine samische Sprache. Zur Überwachung der Stellung der samischen Sprachen und zur Verwirklichung einer sprachlichen und kulturellen Selbstverwaltung wurde 1996 eine eigene parlamentarische Vertretung der Samen (sámediggi) gegründet.
== Siehe auch ==
Liste der schwedisch- und zweisprachigen Gemeinden Finnlands
== Literatur ==
Pentti Virrankoski: Suomen historia. SKS, Helsinki 2001, ISBN 951-746-321-9, ISBN 951-746-342-1.
== Weblinks ==
Kansalliskielten historiallinen, kulttuurinen ja sosiologinen tausta, 2000 (Memento vom 23. Februar 2012 im Internet Archive) (Kommission zur Vorbereitung des Sprachgesetzes 2003, finnisch und schwedisch)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Finnische_Sprachenpolitik
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Skating-Technik
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= Skating-Technik =
Die Skating-Technik ist ein Stil des Skilanglaufs, bei dem der Beinabstoß unter Verwendung des Schlittschuhschritts erfolgt. Dieser Stil hat sich als revolutionäre Entwicklung des Skilanglaufs seit Mitte der 1980er-Jahre etabliert und ermöglicht gegenüber dem klassischen Stil eine schnellere Fortbewegung. Seit 1985 werden internationale Wettkämpfe getrennt in der klassischen und in der freien Technik (auch: Freistil) durchgeführt, wobei bei Wettbewerben mit freier Technik die Skating-Technik angewandt wird.
Im Gegensatz zur klassischen Technik kann der Ski vollständig für das Gleiten ausgelegt werden und benötigt keine Haftzone in der Skimitte. Die verwendeten Skier sind in der Regel beim Skating etwas kürzer und die Stöcke etwas länger. Es gibt zwar Skier, die sich als Kompromiss bedingt sowohl für die klassische Technik als auch Skating eignen, im Regelfall setzen aber auch Freizeitläufer für beide Techniken eine separate Ausrüstung ein. Die Loipen sind beim Skating im Gegensatz zur klassischen Technik nicht gespurt, sondern nur in einer ausreichenden Breite gewalzt, bieten also keine große Seitenstabilität für die Skier. Die Skating-Technik gilt als schwieriger zu erlernen als die klassische Technik und ist anstrengender, da insbesondere in Anstiegen die langsamst mögliche Ausführung bereits einen recht hohen Energieaufwand erfordert. Um auch im Sommer möglichst sportartspezifisch trainieren zu können, werden insbesondere von leistungssportlich orientierten Läufern Skating-Skiroller verwendet oder andere dem Inlineskating verwandte Sportarten betrieben.
== Geschichte ==
=== Aufkommen des Skatings ===
Einseitige Schlittschuhschritte bei Richtungsänderungen und beidseitige im Endspurt gehörten im Skilanglauf schon immer zur Technik eines Rennläufers.
Anfang der 1970er-Jahre waren erste Anzeichen des vermehrten Einsatzes des Schlittschuhschritts zu beobachten. Genau genommen liegen die Ursprünge dieser Bewegungsform noch früher: Bei der Einstock-Katapult-Technik im mittelalterlichen Skandinavien wurden zwei unterschiedlich lange Skier verwendet. Der längere, der Glider, diente zum Gleiten und der kürzere, der Andor, vorwiegend für den Abstoß und war mit Fellen bezogen. Die Fortbewegung, bei der eine Scherstellung der Skier vorteilhaft war, weist eine deutliche Ähnlichkeit mit der asymmetrischen Bewegungsform des heutigen Skatings auf.Vor dem Aufkommen des Skatings hatten im 20. Jahrhundert stetige Verbesserungen bei Trainingsmethoden und Material sowie das maschinelle Spuren der Loipen zu einer Steigerung des Lauftempos und zu einem vermehrten Einsatz des Doppelstockschubs geführt, wobei der Oberarmkraft eine stärkere Bedeutung zukam. Einige Rennen wurden mit Skiern gewonnen, die ausschließlich für das Gleiten präpariert waren und keinen Beinabstoß in der Spur ermöglichten. Aus dem Drang nach noch höheren Laufgeschwindigkeiten entwickelten sich neue Bewegungsformen.
=== Vordringen im Wettkampfsport ===
Ab 1978 setzten vor allem die stärkeren Volksläufer bei eisigen und schnellen Verhältnissen immer häufiger den Halbschlittschuhschritt ein, bei dem ein Ski in der Spur bleibt, der andere seitlich ausgeschert wird. Die Nachahmer nannten dies Finnstep oder Siitonen-Schritt, nach Pauli Siitonen, einem der ersten, der diese Technik anwandte. Dies führte auch zu einer Neuerung in der Präparation der Loipen – halb gespurt, halb gewalzt. Später entwickelten sich weitere Bewegungsformen außerhalb der Spur. Im Weltcup erkannte zuerst der US-amerikanische Läufer Bill Koch die Vorteile dieser Technik. Er gewann 1981 damit den Engadiner Marathon und 1982 die Gesamtwertung des Skilanglauf-Weltcups.In der Folgezeit gab es heftige Diskussionen über Reglementierungen, auch aus dem Breitensport kam der Ruf nach einem Verbot der Skating-Technik. Der Diagonalschritt, die Hauptbewegungsform des klassischen Stils, drohte aus dem Wettkampfsport vollständig zu verschwinden, und dadurch wäre die Möglichkeit der Identifikation des Breitensportlers mit dem Spitzensport geschwächt worden. Bei der Weltmeisterschaft 1985 in Seefeld wurde bewusst eine übermäßig schwierige Loipe gewählt, bei der keine andere Bewältigung als in klassischer Technik möglich schien – die überwältigende Mehrzahl der Läufer nutzte dennoch die neue Technik und sorgte damit für den endgültigen Durchbruch.Für die Saison 1985/86 führte die FIS parallele Wettkämpfe in klassischer und freier Technik ein, wobei die Wettkämpfe des Weltcups je zur Hälfte in einer der beiden Techniken ausgetragen wurden. Die Weltmeisterschaften 1987 in Oberstdorf und die Olympischen Winterspiele 1988 in Calgary waren die ersten Großereignisse mit dem Nebeneinander von klassischen und Skating-Wettkämpfen. Beim Biathlon und bei der Nordischen Kombination kam man überein, alle Wettkämpfe in der freien Technik durchzuführen.
=== Weitere Entwicklung ===
Nach wie vor trainieren die meisten Spitzenläufer der Langlaufdiziplinen beide Techniken. Auch die FIS wirkte einer Spezialisierung entgegen, indem im Skilanglauf-Weltcup keine separaten Pokale für die einzelnen Techniken vergeben, sondern in allen Wettkämpfen die gleiche Anzahl von Rennen in der klassischen und in der freien Technik ausgetragen werden. 1988 wurden Verfolgungsrennen eingeführt, die zunächst in der klassischen, dann in der freien Technik gelaufen werden. Dabei wird das Skating-Rennen im sogenannten Jagdstart aufgenommen, das heißt, der Start erfolgt entsprechend den Zeitabständen des ersten Rennens. Seit 2003 gibt es diese Disziplin als Doppelverfolgung oder Ski-Duathlon. Die Wettkämpfe werden dabei nicht mehr an zwei aufeinander folgenden Tagen, sondern direkt hintereinander ausgetragen, wobei der Wechsel der Ausrüstung auch Bestandteil des Wettkampfs ist.Athleten der Disziplinen Biathlon und Nordische Kombination trainieren nahezu ausschließlich die Skating-Technik, sie nutzen die klassische Technik gelegentlich dazu, die Ausdauer zu trainieren und nicht die Technik an sich. Dagegen nutzen viele Freizeitläufer weiterhin hauptsächlich die klassische Technik, manche üben beide Techniken aus und wenige spezialisieren sich auf die Skating-Technik. Nach wie vor gibt es für die Skating-Technik weniger präparierte Loipen als für die klassische Technik. Nicht bewahrheitet haben sich die während des Aufkommens der Skating-Technik von einigen Sportmedizinern geäußerten Befürchtungen von Belastungsschäden an den Gelenken.
== Grundelemente ==
Die wesentlichen Grundelemente der Skating-Technik sind der Schlittschuhschritt und der Doppelstockschub. Der Doppelstockschub und die anderen Grundelemente wie Abfahrts-, Brems- und Kurventechniken entsprechen weitgehend dem klassischen Stil. Durch Verwendung des Schlittschuhschritts kann der Abstoß vom gleitenden, sich bewegenden Ski erfolgen, bei der klassischen Technik muss der Ski für einen kurzen Moment während des Abdrucks stehen. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass beim Skating gegenüber der klassischen Technik höhere Laufgeschwindigkeiten erzielt werden.
=== Schlittschuhschritt ===
Die Beinbewegung beim Skating entspricht der Grundform des Schlittschuhschritts. Der Abdruck erfolgt wechselseitig vom schräg zur Bewegungsrichtung gleitenden Ski, der in der Endphase des Abdrucks – weiterhin gleitend – immer deutlicher aufgekantet wird. Der Körperschwerpunkt vollzieht eine rhythmische Pendelbewegung quer zur Bewegungsrichtung, wobei Abdruck- und Gleitphasen ineinander verschmelzen. Der Ausstellwinkel der Skier ist abhängig vom Gelände, von der Geschwindigkeit und von der jeweiligen Bewegungsform. Bei den verschiedenen Bewegungstechniken des Skatings ergeben sich durch den Stockeinsatz gewisse Variationen des Schlittschuhschritts, insbesondere, was die Symmetrie anbelangt.Während der Stützphase eines Skis treten zwei markante Kraftspitzen und dazwischen ein Kraftminimum knapp vor der Hälfte der Bodenkontaktzeit auf. Dieses Minimum teilt die Stützphase in zwei annähernd gleich lange Teile, denen unterschiedliche funktionelle Bedeutungen zugeordnet werden können. Die erste Kraftspitze fällt mit dem Ende des Beinabstoßes der Gegenseite zusammen, was die kurzzeitige Doppelstützphase beendet, also den Zeitraum, bei dem beide Skier im Schnee sind. Gegen Ende dieser Phase hat der neue Gleitski die gewichtsverlagernde Bewegung von der Gegenseite aufgefangen. Das wesentlich höhere Kraftmaximum im zweiten, etwas längeren Abschnitt der Stützphase spiegelt den Beinabstoß wider. Für einen optimalen Beinabstoß ist das Erspüren des maximal möglichen Drucks an der Skikante auch unter sich ständig ändernden Schnee- und Geländebedingungen wichtig. Von entscheidender Bedeutung ist dabei auch, dass der Körper während der Hauptphase des Beinabstoßes weder in Vor- noch Rücklage ist, damit die Stoßkraft gleichmäßig über den ganzen Ski übertragen wird.
=== Doppelstockschub ===
Im Prinzip entspricht der Doppelstockschub dem des klassischen Stils und gliedert sich in drei Phasen: Er beginnt mit einer Zugphase nach dem Vorschwingen der Arme, wenn die Stöcke in leicht spitzem Winkel in den Schnee einsetzen. Der Oberkörper wird anschließend einschließlich der Hüfte nach vorne gebracht. Unter Ausnutzung des Körpergewichts zieht sich der Läufer nun an die Stöcke heran, die Ellenbogen werden dabei je nach Geschwindigkeit unterschiedlich stark angewinkelt. Kurz bevor die Hände an den Knien vorbeiziehen, beginnt die Schubphase. Der Oberkörper befindet sich dann in seiner tiefsten Position. Während bei der Zugphase Oberarm-, Schulter- und Rückenmuskulatur eingesetzt werden können, arbeiten in der Schubphase ausschließlich die Arme. Um die Schubphase zu verlängern, können gegen Ende die Hände geöffnet werden, wobei der Stock noch mit Daumen und Zeigefinger geführt wird. Wenn die Stöcke den Schnee verlassen, beginnt die Schwungphase, die bis zum erneuten Einsatz der Stöcke dauert.Insbesondere die Schwungphase variiert beim Einsatz des Doppelstockschubs bei den verschiedenen Bewegungsformen des Skatings erheblich. Dem reinen Doppelstockschub des klassischen Stils am ähnlichsten ist der Stockeinsatz bei der Armschwungtechnik, aber auch dabei treten geringere Maximalkräfte auf, da es zu einer Entlastung durch die Beinarbeit kommt. Aufgrund der hohen Frequenz des Stockeinsatzes liegt beim Eintakter die durchschnittliche Stockkraft pro Zyklus höher als bei jeder anderen Bewegungsform und erfordert deshalb eine starke Oberkörpermuskulatur. Bei der Führarmtechnik tritt die Besonderheit auf, dass der Kraftstoß nicht auf beiden Seiten gleich ist, was in anderen Fällen einer optimalen Ausführung entspricht, sondern auf der Führarmseite um ungefähr 20 Prozent größer als auf der anderen Seite ist.
== Bewegungstechniken ==
Abhängig von der erzielbaren Geschwindigkeit, die hauptsächlich durch die Geländeneigung und andere äußere Faktoren vorgegeben ist, können fünf Hauptbewegungsformen unterschieden werden. Neben abgeleiteten Sonderformen gibt es Kurven- und Bremstechniken, die sich aber nicht wesentlich von der klassischen Technik unterscheiden. Auch die passive Abfahrt und das alpine Schwingen sind keine Besonderheiten des Skatings.Die Benennung der fünf Haupttechniken führt häufig zu Missverständnissen, nicht zuletzt, weil sich im deutschen Sprachgebrauch verschiedene Varianten etabliert haben. Eine stellt das Vorhandensein von Symmetrie quer zur Fahrtrichtung und das Verhältnis von Beinabstoß und Stockeinsatz bei den Bewegungsformen in den Mittelpunkt, eine andere legt den Schwerpunkt auf die Aktivität der Arme. Das sogenannte Fünfgangmodell sagt nichts über das Aussehen der Bewegungsform aus, sondern orientiert sich ausschließlich am Geschwindigkeitsbereich, für den sich die jeweilige Technik eignet. Die folgende Tabelle stellt die Bewegungsformen im Überblick dar.
=== Diagonalskating ===
Das Diagonalskating ist eine reine Aufstiegstechnik, die bei steilen Anstiegen angewandt wird. Es handelt sich um eine symmetrische Technik und die einzige Hauptbewegungsform, bei der die Stöcke nicht gleichzeitig eingesetzt werden, sondern einzeln. Beim Loslaufen beginnt sie als Passgangbewegung – Stockeinsatz mit gleichzeitigem Beinabstoß auf derselben Seite –, geht aber in eine Diagonalbewegung über, dann kommt wie beim Diagonalschritt der klassischen Technik ein Arm gleichzeitig mit dem gegenüberliegenden Ski nach vorne. Die Skier werden auf dem kürzesten Weg vorgestellt, es erfolgt also kein Beinschluss. Der Oberkörper dreht auf dem Gleitski, geht aber nicht mit dem Stock mit. Wenn bei größerer Steigung keine Gleitphase mehr möglich ist, entspricht diese Bewegungsform dem Grätenschritt der klassischen Technik.Im Wettkampf ist das Diagonalskating sehr selten zu sehen. Auch von Freizeitläufern wird es nur gelegentlich angewandt, meist erst, wenn keine Gleitphase mehr möglich ist. Der Grund dafür ist, dass es gegenüber den anderen Bewegungsformen zu wenig trainiert und deshalb mangelhaft ausgeführt wird.
=== Führarmtechnik ===
Für Anstiege und in schwierigem Gelände eignet sich die Führarmtechnik. Dies ist die asymmetrischste der Hauptbewegungsformen, nur bei jedem zweiten Beinabstoß erfolgt ein Doppelstockschub. Die Beinbewegung ist ein asymmetrischer Schlittschuhschritt mit Hauptabstoßbein und Hauptgleitbein. Die Stockarbeit entspricht nicht dem klassischen Doppelstockschub, der Arm auf der Seite des Hauptgleitbeins ist der Führungsarm. Der Stock des Führungsarms wird relativ senkrecht nahe beim Ski, der andere wesentlich tiefer schräg vor den Körper gesetzt. Beide Stöcke und der Ski des Hauptgleitbeins bekommen gleichzeitig Schneeberührung. Der Körper macht eine relativ starke Pendelbewegung quer zur Bewegungsrichtung, wobei die Position auf der Seite des Hauptabstoßbeins etwas aufgerichtet, auf der anderen Seite aber recht tief ist, man lässt sich sozusagen auf das Hauptgleitbein fallen. Die Arm- und Körperbewegung erscheint bewegungsverwandt mit dem Stechpaddeln.Aufgrund ihrer vielseitigen Verwendbarkeit ist diese Technik die wichtigste beim Skating, besonders im Freizeitsport. Auch bei quer geneigten Abschnitten der Loipe eignet sich diese Bewegungsform, der Führungsarm befindet sich dabei auf der Bergseite. Unabhängig von der Geländeform ist von Zeit zu Zeit ein Seitenwechsel vorteilhaft, da die Art und Intensität der Muskelbelastung auf beiden Seiten sich deutlich unterscheidet. Für einen Seitenwechsel können zwei Schlittschuhschritte nacheinander ohne Stockeinsatz ausgeführt werden. Alternativ kann ein kurzer, angedeuteter Stockeinsatz den Wechsel einleiten, auf den sofort beim nächsten Schritt der nächste Stockeinsatz mit gewechseltem Führungsarm folgt.Keine Bewegungsform im Skating zeigt so viele individuelle Varianten. Beispielsweise werden die Stöcke oft nicht zeitgleich gesetzt, sondern der Stock der Führarmseite folgt etwas später. Daneben gibt es auch noch die gesprungene Form, die eine hohe Kraftausdauer erfordert und deshalb praktisch nur im Wettkampf verwendet wird. Dabei wird das Hauptabstoßbein stärker gebeugt und die ohnehin kurze Gleitphase auf dieser Seite bewusst abgebrochen. Aus der Beinbeugung wird ein raumgreifender Sprung in Richtung des Hauptgleitbeins ausgeführt, der Stockeinsatz setzt während der Flugphase ein.
=== Eintakter ===
Der vollständig symmetrische Eintakter ist eine sehr kraftbetonte Bewegungsform, die zudem große koordinative Fähigkeiten erfordert. Bei jedem Schritt erfolgt auch ein unterstützender Doppelstockschub. Diese Technik wird vor allem bei leichten Anstiegen, zur Beschleunigung und als Sprintform im Zielbereich von Wettkampfstrecken eingesetzt. Etwas vor dem Beinabstoß erfolgt der Stockeinsatz, die Stöcke werden dabei in etwa parallel zum noch gleitenden Ski eingesetzt, der Oberkörper ist in Richtung des Gleitskis gebeugt. Die Stockarbeit ist ausgeführt, bevor der Beinabstoß mit gestrecktem Bein beendet wird. Nach Abheben des Abstoßskis richtet sich der Oberkörper auf, das gesamte Gewicht wird auf den gleitend aufgesetzten Ski der Gegenseite verlagert, bis der Körperschwerpunkt über dem Gleitski ist. Da der Doppelstockschub in hoher Frequenz ausgeführt werden muss, ist kein so aktives Vorschwingen der Arme wie bei der Armschwungtechnik möglich.Diese Technik erfordert neben einer hohen Kraftausdauer auch ein sehr sicheres Gleichgewicht beim Gleiten auf einem Ski, was insbesondere bei schlechter Loipe schwierig ist. Deshalb ist diese Bewegungsform im Freizeitsport etwas seltener zu sehen. Es handelt sich aber auch um die am ehesten entbehrliche Hauptbewegungsform, da es nur wenige Loipenabschnitte gibt, bei denen nicht Führarm- oder Armschwungtechnik eine durchaus passende Alternative darstellen. Andererseits wird dieser Technik auch die größte Bewegungsästhetik nachgesagt.
=== Armschwungtechnik ===
Die Armschwungtechnik zählt zu den symmetrischen Bewegungsformen, obwohl sie offensichtlich nicht vollständig symmetrisch ist, da der Doppelstockschub nur bei jedem zweiten Schritt erfolgt, also nur auf einer Seite wie bei der Führarmtechnik. Dennoch weist die Armschwung- im Vergleich zur Führarmtechnik eine erheblich größere Symmetrie auf, insbesondere was die Beinarbeit und das Spurbild anbelangt. Die Armschwungtechnik wird vorwiegend in leicht abfallendem Gelände verwendet oder zur Erhaltung einer hohen Geschwindigkeit in der Ebene eingesetzt. Der Bewegungsablauf ähnelt dem Eintakter, wie bei diesem erfolgt der Doppelstockschub in Richtung des gleitenden Skis. Der Beinabstoß beginnt nach dem Stockeinsatz, dies ist ein wesentlicher Unterschied zur Führarmtechnik und ermöglicht, über einen längeren Zeitraum eine beschleunigende Kraft aufrechtzuerhalten. Nur bei guten Loipenbedingungen oder ausreichendem Können ist es möglich, den Doppelstockschub auf dem gleitenden Ski nahezu abzuschließen, bevor der Beinabstoß beginnt. Die Gewichtsverlagerung erfolgt vollständig auf den anderen Ski. Im Gegensatz zum Eintakter wird der Körperschwerpunkt beim Durchschwingen der Arme nicht nur während des Doppelstockschubs abgesenkt, sondern auch spiegelbildlich beim Vorschwingen der Arme, das zeitlich etwas vor dem Beinabstoß auf der Gegenseite eingeleitet wird. Dieses aktive Vorholen der Arme trägt ebenfalls zum Vortrieb bei.Da auch diese Technik nicht vollständig symmetrisch ist, ist ein Seitenwechsel von Zeit zu Zeit vorteilhaft. Wie auch bei der Führarmtechnik ist dieser Wechsel durch zwei aufeinander folgende Schritte ohne Stockeinsatz oder durch direkt aufeinander folgende Doppelstockschübe möglich. Bei letzterer Variante können auch mehrere Doppelstockschübe direkt hintereinander folgen – damit erfolgt der Seitenwechsel in Verbindung mit einem kurzzeitigen Wechsel zum Eintakter. Bei quergeneigten Loipenabschnitten ist es vorteilhaft, den Doppelstockschub auf dem talseitigen Ski auszuführen, die geländeangepasste Seitenwahl ist aber nicht so entscheidend wie bei der Führarmtechnik.
=== Schlittschuhschritt ohne Stockeinsatz ===
Der größte Gang des Fünfgangmodells wird manchmal verkürzt und etwas missverständlich einfach als Schlittschuhschritt bezeichnet. Diese Bewegungsform findet Verwendung, wenn aufgrund zu hoher Geschwindigkeit ökonomisch keine Beschleunigung durch einen Doppelstockschub mehr möglich ist. Die Stöcke können hierbei unter die Arme geklemmt oder waagrecht an den Körper gepresst werden. Der Öffnungswinkel ist sehr klein, die Gleitphasen sind möglichst lang. Um den Luftwiderstand zu verringern, kann eine tiefe Stellung eingenommen werden. Bei noch höheren Geschwindigkeiten erfolgt kein Beinabstoß mehr und die Körperstellung entspricht der Abfahrtshocke.Mit dieser Bewegungsform können auch etwas steilere Gefällstrecken noch beschleunigend unterstützt werden. Der reine Schlittschuhschritt wird auch bei Zielsprints oder bei der Startbeschleunigung eingesetzt. Insbesondere dann werden die Arme mitsamt der an den Unterarm herangezogenen Stöcke wie beim Eisschnelllauf aktiv mitgeschwungen. Dies verlangt aber sehr viel freien Raum, um andere Loipenbenutzer oder Konkurrenten nicht zu gefährden. Auch kann der Schlittschuhschritt ohne Stockeinsatz bereits bei niedrigeren Geschwindigkeiten zur Erholung der Armmuskulatur eingesetzt werden. Dies wird beispielsweise beim Biathlon vor dem Schießen so praktiziert.
=== Weitere Techniken ===
Mehr aus historischen Gründen gibt es den Siitonen-Schritt als weitere Technik des Skatings, da dieser eine wesentliche Rolle beim Übergang vom klassischen zum Skating-Stil spielte. Es handelt sich dabei um einen Halbschlittschuhschritt, bei dem ein Ski in der Spur der Loipe gleitet, während der andere seitlich ausgeschert wird. Der Abstoß des ausgescherten und gekanteten Skis wird durch einen Doppelstockschub unterstützt. Seit der Präparation getrennter Loipen für die beiden Stilformen wird der Siitonen-Schritt hauptsächlich noch von Läufern, die von der klassischen auf die freie Technik umsteigen wollen, als Lernhilfe praktiziert.Die Abfahrts- und Bremstechniken unterschieden sich nicht von denen der klassischen Technik. Gegenüber dieser ist die stabilere Fixierung durch Schuh und Bindung vorteilhaft und erleichtert die Ausführung, beispielsweise beim Pflug.Bei den Kurventechniken wird das passive und das aktive Bogentreten unterschieden. Das passive Bogentreten, auch als Umtreten bezeichnet, entspricht in der Ausführung dem klassischen Stil: Der bogenäußere Ski wird nur kurzzeitig belastet, um den entlasteten Innenski vorne anheben und nach innen drehen zu können. Anschließend wird der entlastete Außenski herangezogen und nachgeführt. Während das passive Bogentreten ohne Stockeinsatz erfolgt, wird das aktive mit einem dynamischen Doppelstockschub auf dem bogeninneren Ski unterstützt. Vom bogenäußeren Ski ist ein kräftiges Abdrücken erforderlich. Das aktive Bogentreten wird im Vergleich zur passiven Variante bei niedrigerer Geschwindigkeit oder größeren Kurvenradien eingesetzt und ermöglicht, die Geschwindigkeit in Kurven zu halten oder sogar zu erhöhen.
== Ausrüstung und Skipräparation ==
Die Ausrüstung zur Ausübung der Skating-Technik entspricht nur zum Teil der des klassischen Stils. Nahezu immer werden unterschiedliche Skier, Bindungen und meist auch andere Schuhe eingesetzt. Die Stöcke sind im Prinzip die gleichen, nur sollten sie beim Skating durchschnittlich 10 Zentimeter länger sein. Bei der sonstigen Langlaufbekleidung gibt es bei beiden Stilarten keine nennenswerten Unterschiede.
=== Ski ===
Im Gegensatz zu Skiern für die klassische Technik sind Skating-Skier vollständig für das Gleiten ausgelegt, es gibt also keine Haftzone in Skimitte. Ein bedeutender weiterer Aspekt bei Skating-Skiern ist die seitliche Stabilität und Torsionsfestigkeit, die eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Abstoßkraft zum Untergrund sicherstellt. Der Skating-Ski weist wie der Klassik-Ski eine Wölbung und Vorspannung auf. Diese ist sogar noch stärker, selbst bei Belastung eines Skis mit dem gesamten Körpergewicht soll die Mitte des Skating-Skis nicht vollständig durchgedrückt sein. Ziel dieser Konstruktion ist den Druck auf die gesamte Skifläche so gleichmäßig wie möglich zu verteilen, da dies die besten Gleiteigenschaften gewährleistet. Durch die Vorspannung und die elastische Verformung des Skis kann zudem die beim Abstoß investierte Energie anschließend zum Teil in Vortriebsenergie umgewandelt werden.Wie beim alpinen Skisport ist die Skibreite nicht für den gesamten Ski gleich. Die Absicht ist dabei nicht die Drehfreudigkeit des Skis zu erhöhen, sondern einen gleichmäßigen Abdruck über den ganzen Ski zu unterstützen und gute Gleiteigenschaften zu erzielen. Nachdem früher deutliche Taillierungen üblich waren, sind die Hersteller wieder zu einer gleichmäßigeren Breite zurückgekehrt. Tendenziell sind die Skier vorne schmäler als hinten. Die Skibreite liegt im Mittel bei ungefähr 43 Millimetern, wobei die Skibreite im Regelfall weniger als vier Millimeter variiert. Das Gewicht spielt beim Skating-Ski eine wichtigere Rolle als bei der klassischen Technik, da der Ski einen nicht unerheblichen Teil der Zeit vom Schnee abgehoben wird. Da die Gewichtsreduktion nicht auf Kosten der Stabilität erfolgen kann, wurden für die Optimierung des Skigewichts Techniken und Erfahrungen aus dem Flugzeugbau genutzt. Es gibt Skier mit einem Gewicht unter einem Kilogramm.Für die Auswahl eines passenden Skis gibt es Modelle mit unterschiedlicher Länge und Härte (Stiffness). Bei Festlegung dieser individuellen Parameter spielt insbesondere das Körpergewicht sowie die beabsichtigte Intensität der Ausübung des Sports die Hauptrolle, dann erst die Körpergröße. Im Vergleich zur klassischen Technik werden kürzere Ski verwendet, die maximale Skilänge liegt nur wenig über 1,90 Meter. Längere Skier hätten zwar bessere Gleiteigenschaften, wären aber bei engen Passagen und insbesondere in Anstiegen hinderlich, auch weil sich die Skienden bei großem Scherwinkel zu weit überkreuzen würden.Es gibt auch Kombinationsmodelle, die für die klassische und die Skating-Technik verwendet werden können. Bei Verwendung in der klassischen Technik wird in Skimitte ein Steigwachs aufgetragen, beim Skating wird der Ski durchgängig für das Gleiten präpariert. Solche sogenannten Allround-Skier sind allerdings weniger gebräuchlich.
=== Bindungen und Schuhe ===
Bei den Bindungen gibt es zwei Systeme, die sich den Weltmarkt praktisch teilen: NNN (New Nordic Norm) von Rottefella und SNS (Salomon Nordic System). Diese sind nicht kompatibel, der Bindungstyp muss auf den Schuh abgestimmt sein, nicht aber auf den Ski. Bei beiden Systemen gibt es spezielle Skating-Bindungen, bei denen
die Verbindung mit dem Ski im Vergleich zur klassischen Technik stabiler ist. Der Schuh wird unter dem Fußballen befestigt und nicht nur an der Schuhspitze, wie meist beim klassischen Stil. Ein Gummibolzen oder eine Feder erleichtert das Heranziehen des Skis zur Fußsohle und verhindert, dass der Ski vorne herunterfällt. Es gibt Bindungen, bei denen diese Federkraft einstellbar ist und die sich damit für beide Techniken eignen, da beim Skating eine stärkere Kraft vorteilhaft ist.Ein Skating-Schuh ist gegenüber einem Modell für die klassische Technik höher geschnitten. Die Sohle ist relativ hart und somit verwindungssteif. Die Bewegungsachse unterstützt die Aktivität des oberen Sprunggelenks passend zum Bewegungsablauf beim Skaten. Es gibt auch vermehrt Schuhmodelle, die sich für beide Stilarten eignen. Dies gilt auch für den Leistungssport, da seit 2003 in der Doppelverfolgung beide Techniken in einem Wettkampf direkt hintereinander gelaufen werden.
=== Stöcke ===
Die Konstruktion des Stocks entspricht der klassischen Technik, es handelt sich um ein Hohlrohr, bei dem oben Handgriff und Schlaufe sowie unten eine Spitze und ein Stockteller angebracht sind. Der optimale Stock soll möglichst leicht und bruchfest sein, was fertigungstechnisch gegensätzliche Anforderungen sind, insbesondere bei sehr langen Stöcken. Als Rohrmaterial wird meist Carbon oder Aluminium verwendet. Es gibt auch Langlaufstöcke mit verstellbarer Länge.Im Regelfall werden beim Skating etwas längere Stöcke als beim klassischen Stil eingesetzt, nach der Faustregel ist die optimale Länge zwischen 85 und 90 Prozent der Körpergröße. Bei höherem Leistungsvermögen können längere Stöcke von Vorteil sein. Kürzere Stöcke sind bei Sprintstrecken oder steilen Anstiegen günstiger.Beim Aufkommen der Skating-Technik Ende der 1980er-Jahre wurden extrem lange Stöcke bevorzugt, deren Länge teilweise sogar die Körpergröße übertraf, damit auch bei hohen Geschwindigkeiten eine Stockunterstützung möglich war. Im Jahr 1993 durchgeführte Untersuchungen haben gezeigt, dass die optimale Stocklänge sehr individuell ist und von technischen und konditionellen Voraussetzungen abhängt. Den meisten untersuchten Läufern konnte dabei empfohlen werden, kürzere Stöcke als bisher zu verwenden.
=== Skipräparation ===
Mit dem Aufkommen der Skating-Technik war die Zuversicht verbunden, dass die Präparation der Skier einfacher würde, da ja „nur noch“ die Gleitfähigkeit optimiert werden müsse. Im Bereich des Leistungssports hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt, da eine gute Gleitfähigkeit beim Skating von noch entscheidenderer Bedeutung als bei der klassischen Technik ist, und die Optimierungsanstrengungen in diesem Bereich deshalb unerwartete Dimensionen angenommen haben.
Bei der Optimierung der Gleitfähigkeit werden hauptsächlich drei Faktoren unterschieden: der Schliff, die Struktur und das Wachsen. Schliff und Struktur bestimmen vor allem, wie das durch den Druck des Gleitens unter dem Ski entstehende Schmelzwasser verdrängt und unter dem Ski entlanggeführt wird. Insbesondere gilt es dabei, Saugeffekte zu vermeiden. Die Struktur stellt eine Verfeinerung des Schliffs dar. Ein im Handel erworbener Ski besitzt bereits einen Schliff, meist einen universell ausgerichteten, es gibt aber auch bereits speziell für kalte oder wärmere Bedingungen vorbereitete Skier. Der Schliff wird mit einem speziellen Schleifstein und Diamant in den Ski geschnitten und kann nur durch einen erneuten Schliff abgelöst werden. Die Struktur wird in den geschliffenen Belag gedrückt. Eine lineare, grobe Struktur eignet sich dabei für nassen Schnee, feine Kreuzstrukturen eher für trockene Verhältnisse mit kristallinem Schnee. Für das Aufbringen der Struktur gibt es handliche Geräte, deren Verwendung dennoch fast ausschließlich auf den Rennsport beschränkt ist. Die Struktur verschwindet wie das Wachs nach mehrmaliger Benutzung.Das Wachsen gilt als etwa gleich wichtig wie Schliff und Struktur. Beim Wachsen werden Flüssig- und Heißwachse unterschieden. Flüssigwachse sind am einfachsten anzuwenden, sie werden lediglich aufgetragen und poliert, was auch unterwegs in der Loipe möglich ist. Heißwachse werden mit Hilfe eines präzise temperierbaren Bügeleisens aufgetragen. Als Heißwachse werden im Bereich des Freizeitsports hauptsächlich Paraffinwachse verwendet, die es für unterschiedliche Temperaturbereiche gibt. Etwas höherwertig sind die Fluorwachse, deren Anwendung den Paraffinwachsen entspricht. Im Bereich des Leistungssports gibt es weitere Verfahren, die teilweise kombiniert werden, beispielsweise reines Fluorwachs, Wachs auf nanotechnologischer Basis und spezielle Pulver oder Sprays.
== Neuere Entwicklungen und Forschung ==
Es wurde mehrmals versucht, das Konzept des Klappschlittschuhs, der das Eisschnelllaufen Mitte der 1990er-Jahre revolutionierte, für die Skating-Technik im Skilanglauf zu adaptieren. Dabei war kein so durchschlagender Effekt wie beim Eisschnelllaufen zu erwarten, da die Bindung beim Skating ohnehin einen recht langen Bodenkontakt mit flach aufliegendem Ski beim Abdruck ermöglicht. Dennoch haben Versuche gezeigt, dass eine an den Klappschlittschuh angelehnte Konstruktion zumindest auf kurzen Sprintstrecken Vorteile bringen kann und die Wadenmuskulatur weniger beansprucht. Aufgrund der verwindungssteifen Konstruktion kann der Schuh niedriger geschnitten werden; dies ermöglicht eine erhöhte Bewegungsfreiheit des Fußgelenks. Im Sprintweltcup 2006/2007 wurde erstmals ein solches System eingesetzt.
In den Sprintrennen sind auch Neuerungen bei den Bewegungsformen zu sehen. Zum einen die gesprungene Form des Eintakters, zum anderen die Übertragung der aus dem Inline-Speedskating stammenden Double-Push-Technik. Dabei wird der Ski nicht wie normalerweise bei Einleitung der Gleitphase plan aufgesetzt, sondern auf der Außenkante und zudem leicht nach innen gedreht, um so einen weiteren beschleunigenden Abstoßimpuls zu ermöglichen. Gegenüber dem Inlineskating ist nachteilig, dass die Richtung des im Schnee gleitenden Skis nicht kontinuierlich nach außen in die Position des normalen innenkantigen Abdrucks gedreht werden kann, sondern diese Richtungsänderung mit einem Sprung vollzogen werden muss. Bei Versuchen über eine kurze Sprintdistanz waren die Läufer im Mittel etwa 3 Prozent schneller bei Verwendung des Double-Push beim Eintakter gegenüber der herkömmlichen Technik. Der Double-Push erfordert eine höhere Muskelaktivität und die Anwendbarkeit dieser Neuerung ist auch aufgrund der hohen technischen Anforderungen wohl auf Start- und Zielsprints oder taktische Zwischenspurts in Sprintrennen beschränkt.Im internationalen Skilaufrennsport ist bei der Trainingsgestaltung der erfolgreichen Nationen eine stärkere Fokussierung auf die Trainingsqualität zu beobachten, da der Belastungsumfang auf einem Niveau angekommen ist, bei dem eine Steigerung keine effektiven Anpassungserscheinungen mehr bewirkt. Basierend auf quantitativen und qualitativen biomechanischen Analysen der letzten Jahre werden spezifische Methoden und Geräte entwickelt, um beispielsweise Schnellkraft und Kraftausdauer gezielt für die Bewegungsformen der Skating-Technik trainieren zu können. Eine Weiterentwicklung der bestehenden Lauftechniken und auch des Materials sind aus heutiger Sicht die Reserven zur weiteren Steigerung des Leistungsvermögens. So stellten z. B. Sandbakk et al. (2014) fest, dass die Kurvengeschwindigkeit und -technik im Bergabfahren vor allem von der Schnellkraft und der Maximalkraft der Beine abhängt, Eigenschaften, die einer maximalen Ausdauer nicht unbedingt förderlich sind.
== Skiroller ==
Um im Sommer Technik, Koordination und Kondition möglichst sportartspezifisch trainieren zu können, werden insbesondere von Leistungssportlern im Sommer Skating-Skiroller verwendet oder verwandte Spielarten des Nordic-Inline-Skating praktiziert.Auf Skirollern lassen sich alle Bewegungsformen der Skating-Technik umsetzen und kommen dem Skilanglauf recht nahe. Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich daraus, dass die Rollreibung beim Skiroller nur etwa ein Viertel der Gleitreibung beim Ski entspricht, deshalb sind die Geschwindigkeiten beim Skiroller deutlich höher als auf Skiern. Dies führt auf Skirollern zu einer Verlängerung der Gesamtzykluszeit und auch zu anderen Zeitanteilen der Teilzyklen, was eine veränderte Kinästhetik zur Folge hat.Beim Stockeinsatz ist es insbesondere auf Asphalt oft nicht möglich, den Schub bei spitzer werdendem Einstichwinkel vergleichbar lang wie im Schnee aufrechtzuerhalten, da die Stöcke wegrutschen. Auch beim Beinabstoß zeigen sich aufgrund der veränderten Bedingungen deutliche Unterschiede: Beim Skiroller tritt eine wesentlich höhere Außenkantenbelastung auf, auch die Zweigipfligkeit des Kraftverlaufs während der Abdruckphase ist insbesondere auf dem Ballen weit weniger ausgeprägt als bei der Verwendung von Skiern.
== Zielgruppe und Lernprozess ==
Die Ausübung der Skating-Technik ist abseits präparierter Loipen nur unter besonderen Bedingungen möglich – beispielsweise auf einer hart gefrorenen Schneedecke oder auf einem zugefrorenen See mit leichter Schneeauflage. Beim Skating steht der sportliche Aspekt meist mehr im Vordergrund als beim Laufen in der klassischen Technik und erst recht gegenüber dessen moderner wellness-orientierten Spielart, dem Nordic Cruising.Die langsamst mögliche Ausführung des Skatings erfordert gegenüber dem klassischen Stil eine erhöhte Energiebereitstellung. Dies gilt umso mehr in der frühen Lernphase der Skating-Technik, da es gewisse technische Fertigkeiten voraussetzt, steile Anstiege in langsamem Tempo zu durchlaufen, ohne den Rhythmus zu verlieren. Ein Schwerpunkt des Lernprozesses ist das Trainieren des Gleichgewichtsgefühls für das Gleiten auf einem Ski. Anfänglich erfolgt häufig keine vollständige Gewichtsverlagerung auf den Gleitski und der Schwerpunkt des Läufers befindet sich ständig fast zentral zwischen beiden Skiern. Untersuchungen haben ergeben, dass auch bei Spitzenläufern der Kopf die seitliche Bewegung bei der Gewichtsverlagerung einleitet. Dies ist trainingsmethodisch nutzbar, da der Läufer bewusst überprüfen kann, ob sich die Blickrichtung nach Gewichtsverlagerung in Richtung Skispitze des Gleitskis orientiert. Eine weitere Hürde beim Lernen der Skating-Technik ist die nur scheinbare Ähnlichkeit der Führarm- und Armschwungtechnik, da bei beiden Bewegungsformen ein Doppelstockschub bei jedem zweiten Schritt erfolgt. Dadurch besteht die Gefahr, diese Techniken nicht sauber voneinander zu trennen.
== Literatur ==
Stefan Lindinger: Biomechanische Analysen von Skatingtechniken im Skilanglauf. Meyer & Meyer Verlag, Aachen 2006, ISBN 3-89899-105-9.
Kuno Hottenrott, Veit Urban: Das große Buch vom Skilanglauf. Meyer & Meyer Verlag, Aachen 2004. ISBN 3-89124-992-6.
Egon Theiner, Chris Karl: Skilanglauf: Geschichte, Kultur, Praxis. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2002, ISBN 3-89533-371-9.
Deutscher Skiverband (DSV, Hrsg.): Offizieller DSV-Lehrplan Skilanglauf: Technik, Unterrichten, Praxis. Pietsch Verlag, Stuttgart 2013, ISBN 3-613-50712-9.
Ulricht Wenger, Franz Wöllzenmüller: Skilanglauf: klassische Technik und Skating. sportinform Verlag, München 1995, ISBN 3-8254-0423-4.
== Weblinks ==
DSV-Experten-Tipps: Diagonalskating, Halbschlittschuhschritt, Skating 2-1 am Berg, Skating 2-1 mit aktivem Armschwung, Schlittschuhschritt (YouTube-Videos)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Skating-Technik
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Adelsgesellschaft
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= Adelsgesellschaft =
Adelsgesellschaften waren durch Eid besiegelte genossenschaftliche Zusammenschlüsse von Adeligen, die sich im Heiligen Römischen Reich während des Übergangs vom Mittelalter zur frühen Neuzeit entwickelten.
Die Adelsgesellschaften gaben sich in der Regel gemeinsame Statuten, in denen ihr Innen- und Außenverhältnis geregelt wurde. Streitigkeiten wurden schiedsgerichtlich beigelegt. Die „Gesellen“ bekräftigten ihre Gemeinschaft durch eine gemeinsame Festkultur, die vom gemeinsamen Mahl bis zur Ausrichtung aufwändiger Turniere reichen konnte. Gemeinsame Abzeichen oder das Tragen einer einheitlichen Kleidung bei ihren regelmäßigen Zusammenkünften trugen zur Schaffung einer adeligen Identität und der Abgrenzung nach außen bei. Die Selbstbezeichnung, welche die Gesellen für diese Art der Gemeinschaft fanden, war „Ritterschaft“.Während zu Beginn der Vereinigungen politische Motive (Unterstützung einer Partei in Machtkämpfen, Schutz gegen Expansionsbestrebungen mächtiger Nachbarn) im Vordergrund standen, entwickelten sich die Gesellschaften mit der Zeit zu einer repräsentativen Bühne zum Zweck des standesgemäßen Auslebens einer adeligen Kultur, auch für niederadelige Geschlechter, unabhängig von den Fürstenhöfen. Diese Funktion nahmen die reinen Turniergesellschaften wahr, während die politische Rolle vornehmlich von der Gesellschaft mit Sankt Jörgenschild übernommen wurde.
Die Adelsgesellschaften formten die gemeinsame Identität, aus der sich im 16. Jahrhundert die konstituierte Reichsritterschaft bilden konnte. Diese konnte auf die von den Adelsgesellschaften geschaffene Infrastruktur zurückgreifen.
== Abgrenzung und Einordnung des Begriffs „Adelsgesellschaft“ ==
=== Adelsgesellschaften als Besonderheit des Heiligen Römischen Reiches ===
In der angelsächsischen Literatur hat Boulton eine Systematik der westeuropäischen Adelsvereinigungen erarbeitet. Er unterscheidet grob „Echte Orden (true orders)“, die von einem Monarchen oder Fürsten initiiert wurden, und „Pseudoorden (pseudo orders)“, bei denen die Initiative zum Zusammenschluss von den Mitgliedern ausging, die sich aber dennoch, mit oder ohne Eid, einem Förderer unterstellten.
Bei dem Versuch, diese Systematik für die Erstellung eines Repertoriums zur Klassifizierung der deutschen Adelsgesellschaften heranzuziehen, fanden Kruse, Paravicini und Ranft Boultons Klassifikation nicht praktikabel, da sie dem „…schillernden und wandelbaren Charakter…“ der von ihnen beobachteten Gesellschaften nicht gerecht werde. Als schillernd bezeichnen sie zum Beispiel die Gesellschaft St. Antonius (Kleve)., die eine Gebetsverbrüderung, ein Hoforden und Förderer des Antoniterordens und schließlich eine Schützenbruderschaft gewesen sei. Als wandelbar bezeichnen sie den Falken, der sich aus einer an politischen Zielen orientierten Vereinigung zu einer Turniergesellschaft, oder den Drachen, der sich vom Hoforden zum Ehrenzeichen gewandelt habe. Sie vermuten, dass solche genossenschaftlichen Vereinigungen im Spätmittelalter in Deutschland, im Vergleich zu anderen Regionen Europas, besonders häufig anzutreffen waren, weil sich hier kein an einem einzelnen Monarchen ausgerichteter Zentralstaat ausgebildet hatte. Sie identifizieren 92 Gesellschaften, die hinsichtlich ihrer Struktur (Eid, Statuten, genossenschaftliche Organisation …) Gemeinsamkeiten aufwiesen. Angesichts der mageren Überlieferung nehmen sie an, dennoch nur einen Bruchteil der tatsächlichen Gesellschaften erfasst zu haben.Der römisch-deutsche König hatte, im Gegensatz zu den Königen von England, Frankreich oder Spanien, keine eigene Gesellschaft. Die Gesellschaften, in denen deutsche Könige anzutreffen sind, waren Gesellschaften ihrer Stammherrschaften. Der Drache war ungarisch, der Adler österreichisch, und „Tusin“ böhmisch. Die deutschen Kaiser und Könige betrieben eine flexible Politik im Spannungsfeld Kaiser/König–Fürsten–Adel–Städte, die vom generellen Verbot von Adelsgesellschaften in der Goldenen Bulle Karls IV. 1356, über punktuelle Verbote, bis zur Billigung und Förderung durch König Sigmund 1422/1431 reichte. Friedrich III. verfolgte eine opportunistische Politik, die sowohl Verbot als auch Förderung umfasste. Sein Sohn Maximilian betrieb eine aktive Förderung, um ein königs-/kaisertreues Gegengewicht gegen die Fürsten zu fördern.
=== Abgrenzung vom Begriff „Orden“ ===
Viele der Bezeichnungen für einzelne Adelsgesellschaften sind nicht zeitgenössisch. Dies gilt auch für die Oberbegriffe. So nannten sich nur St. Antonius, Pelikan und St. Hubertus tatsächlich selbst Orden. „Schwanenorden“ ist hingegen eine Bezeichnung des 19. Jahrhunderts – ursprünglich nannte sich die Vereinigung „Gesellschaft unserer lieben Frau“. Ebenso verhielt es sich beim Drachenorden, der in der Stiftungsurkunde gar nicht benannt wurde und später als gesellschaft mit dem trakchen, societas Draconis oder Gesellschaft des (Lind-)Wurms bezeichnet wurde.
=== Abgrenzung vom Begriff „Turniergesellschaft“ ===
Der Begriff „Turniergesellschaft“ ist für eine allgemeine Bezeichnung ebenfalls zu eng. Diese Bezeichnung geht zurück auf die Beschäftigung mit Turnier- und Wappenbüchern im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Anhand dort gefundener Eintragungen wurde versucht, Mitgliederverzeichnisse von Turniergesellschaften zu erfassen. Da die Kenntnisse der Herolde, die solche Turnier- und Wappenbücher erstellten, begrenzt und oft von regionalen Vorlieben beeinflusst waren oder, wie im Falle Rüxners deutlich wird, auch nachträgliche Konstruktionen darstellten, sind solche Zusammenstellungen willkürlich. Eine jede „…Liste fügt unter Weglassung alter Namen neue hinzu.“ In dem vom Kruse, Paravicini und Ranft erstellten Repertorium sind nur 24 der 92 aufgezeichneten Gesellschaften, entweder wegen einer Selbstbezeichnung in ihren Statuten oder wegen einer Erwähnung in Turnier- und Wappenbüchern, als Turniergesellschaften bezeichnet. Besonders bei den frühen Gesellschaften des 14. Jahrhunderts fehlt die Zuordnung als Turniergesellschaft ganz. Die Gesellschaft von 1361 wird in der Literatur als Turniergesellschaft bezeichnet, war aber eine politische Vereinigung ober- und niederbayerischer Adeliger zur Beeinflussung des labilen Herzogs Meinrad. 1362 entstand ein adeliger Gegenbund, der die Wittelsbacher Ruprecht I. und Ruprecht II., Pfalzgrafen bei Rhein, Stephan II., Herzog von Bayern-Landshut, und Johann II. unterstützte gegen jene, die Meinrad „…seinen landen und läuten, rittern und knechten, steten un märgten, reichen und armen enpfrümpt und enpfürt habent…“. Mit dem Tod Meinrads verschwanden sowohl die Gesellschaft als auch das Gegenbündnis.
Auch andere sogenannte Turniergesellschaften hatten vorwiegend politische Motive. Die Gesellschaft des Rüdenbandes firmierte laut Statut als Turniergesellschaft, wurde aber von Wenzel von Breslau genutzt, um seine Nachfolge durch seinen Neffen Ludwig II. zu sichern.
Die Gesellschaft mit dem Greifen wurde wegen ihrer Aufnahme in spätere Turnier- und Wappenbücher –- bei Rüxner sogar fälschend zurückverlegt bis zu einem sagenhaften Magdeburger Turnier von 938 – als Turniergesellschaft bezeichnet. Es handelte sich aber um ein Bündnis des Grafen Johann von Wertheim, des Grafen Gotfrid von Rieneck und anderer Adeliger, um sich im Angriffsfalle gegenseitig beizustehen. Sie fürchteten, in den Konflikt zwischen dem Erzbischof von Mainz und dem Pfalzgrafen Ruprecht dem Älteren hineingezogen zu werden. Wertheim und Rieneck waren dem Erzbischof in einem Solddienstvertrag verpflichtet.
Eine Verlagerung der Schwerpunkte ist auch bei den beiden Gesellschaften Falke in Oberschwaben und Fisch am Bodensee zu beobachten. Beide Gesellschaften hatten von Anfang an an Turnieren teilgenommen, aber besonders bei den Falken stand das innere und äußere Friedensgebot, mit Schiedsgericht und gegenseitigem Schutz bei äußerem Angriff, klar im Vordergrund. Im Jahr 1479 kam es zu einem Bündnisvertrag zwischen den beiden selbständig bleibenden Gesellschaften, der nur von den beiden Königen gesiegelt wurde. Der Aspekt des gegenseitigen Schutzes spielte bei diesem Bündnis eine herausragende Rolle. 1484 vereinigten sich dann die beiden Gesellschaften zur Gesellschaft vom Fisch und Falken. Dies ging einher mit der Zeit der großen Turniere in den 80er Jahren des 15. Jahrhunderts. Die Aufnahmeregeln für die neue Gesellschaft nahmen ausdrücklich auf die „Vier-Lande-Turniere“ Bezug: Aufgenommen werden sollte nur derjenige, „…so fern derselbe von den Vier Landen deß Turners zugelassen wuerdt“. Interessant ist, dass die Schiedsgerichtsbarkeit der Gesellschaft auf die Kampf- und Schiedsgerichte der Turniere übertragen wurde, das heißt, Auseinandersetzungen konnten auch im Turnierkampf und vor dem dortigen Schiedsgericht ausgetragen werden und das Ergebnis war zu akzeptieren. Ein weiterer Aspekt, der die stärkere Hinwendung dieser neuen fusionierten Gesellschaft zum Turnier erklärt, ist das gleichzeitige Erstarken der Gesellschaft mit Sankt Jörgenschild. Fast sämtliche Mitglieder der neuen Gesellschaft waren gleichzeitig auch in der vornehmlich politische Interessen verfolgenden Gesellschaft vom Fisch und Falken vertreten. Auch andere Gesellschaften, welche sich ausschließlich als „Thornergesellschaften“ verstanden, wie der Leitbracken, oder die Gekrönten Steinböcke, hatten in ihren Statuten Regelungen zur internen Friedenswahrung, also ein genossenschaftliches Regulativ des Fehdewesens.
=== Abgrenzung vom Begriff „Ritterbund“ ===
Auch der Begriff „Ritter“ in neuzeitlichen Bezeichnungen wie „Ritterbund“ oder der noch weitergehenden Begriffsvermischung „Ritterorden“ muss relativiert werden. Keine Gesellschaft machte die „Ritterwürde“, also die Legitimation durch Ritterschlag, zur Aufnahmevoraussetzung, im Gegensatz zum Beispiel zu den „internationalen“ Orden – Hosenbandorden, Orden vom Goldenen Vlies oder dem französischen Ordre de Saint-Michel. Es gab zwar „Rittergesellschaften“, wie den Fürspang, der sich als „societas militum et militarium“ bezeichnete, den Roßkamm „societas equestris“, oder „Ritterbruderschaften“ wie St. Hubertus zu Sayn, St. Maria in Geldern und St. Georg zu Friedberg. Hierbei wurde aber auf die Standesqualität abgehoben und nicht auf die eigentliche Ritterwürde. Auffallend ist jedoch, dass die Aufnahmekriterien der einzelnen Gesellschaften sich im Laufe der Zeit verschärften. Im Zuge der Territorialisierung und des damit verbundenen Machtverlustes der mindermächtigen Adeligen verstärkten sich deren Abgrenzungstendenzen. So reichte beim Esel 1387 die einfache Majorität der Standesgenossen und Schuldenfreiheit für eine Aufnahme aus. 1430 durfte ein neu aufzunehmendes Mitglied, dessen Eltern noch keine Mitglieder der Gesellschaft waren, nicht mehr als vier Gegenstimmen bei mindestens 15 anwesenden Gesellen erhalten. 1478 wurde dies erneut verschärft. Jetzt durfte nur aufgenommen werden, wer Adel und Wappengenossenschaft von vier Ahnen nachweisen konnte und nicht unebenbürtig geheiratet hatte. Auch bei den Gekrönten Steinböcken und der Schwanengesellschaft sind solche Verschärfungen zu beobachten. Im 15. Jahrhundert wird die vierfache Ahnenprobe häufiger, so bei St. Hieronymus, St. Christoph, St. Simplicius und St. Martin.
== Konstituierende Elemente der Adelsgesellschaften ==
Auf festen Regeln und Gebräuchen beruhende und genossenschaftlich organisierte Verbindungen gab es bereits in anderen Ausprägungen, zum Beispiel Gilden und Zünfte, oder unter reisenden Kaufleuten, Studenten und Klerikern. Wichtig dabei – und im mittelalterlichen Denken fest verankert – war die Bedeutung der Form. Das heißt: rechtssymbolische Handlungen (zum Beispiel Eid oder gemeinsames Mahl), religiöse Übungen (gemeinsames Gebet oder Messen), regelmäßige Versammlungen und die Verabredung gemeinsamer Erkennungszeichen.
So finden sich auch bei den Adelsgesellschaften Statuten, in denen ein Name festgelegt wurde, auf welche Dauer die Gesellschaft angelegt war, ob sie von einem oder mehreren Hauptleuten oder so genannten Königen geführt wurde, wo sie sich treffen wollte, welchem Heiligen als Patron sie sich unterstellte und zu welchem Zweck sie zusammenkam, wer zur Gemeinschaft gehörte und wie Beitritt und Austritt geregelt war, welchen Regeln und Pflichten sich die Genossen unterwarfen und welche Sanktionen bei Verstößen gegen diese Regeln gelten sollten. Die einzelnen Gesellschaften unterschieden sich aber in ihren Zielsetzungen und in der Ausgestaltung ihres Zusammenlebens und in den Details, wie dies alles geregelt wurde. Der heutige Kenntnisstand darüber ist sehr unterschiedlich; manche Gesellschaften sind heute nur durch Erwähnungen in einzelnen Urkunden bekannt, sehr oft im Zusammenhang mit Schiedssprüchen in (aus heutiger Sicht) zivilrechtlichen Angelegenheiten. Es gab aber konstituierende Elemente, die allen Gesellschaften gemeinsam waren und die den besonderen Charakter der Gesellschaften ausmachten.
=== Der Eid ===
In der Art des Eides lag der maßgebliche Unterschied zwischen den Hoforden und den Genossenschaften. Bei den Hoforden war es ein Huldigungs- oder Gefolgschaftseid auf den Herrn beziehungsweise den Gründer und die von ihm gesetzten Statuten. Bei den Genossenschaften stand die Betonung des „wir“ im Vordergrund: „…wir die Gesellen [Name der Gesellschaft], die iczunt sint oder hernach werden mogen, geloben […] in guter Truwen an Eydestadt gute Gesellen zu syn und die Gesellschaft zuhalten und unser eyner den andern zu verantworten […]“. Diese Eidesformel wurde oft bei den regelmäßigen Treffen erneuert und war von jedem Neumitglied zu sprechen. Durch die Wiederholung der Eidesformel bekam die durch den beschworenen Vertrag gesetzte Ordnung eine besondere Bedeutung. Es handelte sich um „gewillkürtes Recht“, das heißt, es wurde mit dem Willen aller Beteiligten eine eigene Friedens- und Rechtsordnung geschaffen, die durch eine eigene Gerichtsbarkeit gesichert und notfalls nach außen verteidigt wurde.Die Geselschaff van sent Joeris vom 15. Juli 1375, die am Mittelrhein, Niederrhein und in der Eifel angesiedelt war, hatte neben der allgemeinen Organisation (genossenschaftlicher Eid, Friedensgebot und interne Gerichtsbarkeit, Kapitel, Rat und Hauptmann durch Wahl, Kassenwesen, einheitliche Röcke) ausführliche Regelungen über Fehdehilfe, Verhalten im Krieg, Umgang mit Gefangenen und Verteilung der Kriegsbeute. Die Organisation und die Befehlsstruktur im Kampfesfall ähnelten den Regeln der turnierenden Gesellschaften für den Kampf zwischen den Schranken und waren auf eine schnelle, schlagkräftige Reaktion im Krisenfall ausgelegt. Die Begründung der Gesellschaft war an die Präambeln der Landfriedensbündnisse angelehnt, zum Nutzen von Land und Leuten. Es wurden nicht nur der eigene Stand, sondern auch Kaufleute, Bauern und Pilger, Geistliche und Laien unter Schutz genommen. Es handelte sich also um die „Anmaßung“ eines öffentlichen Gewaltmonopols. Deshalb ließ Karl IV. am 22. Oktober 1375 die Gesellschaft verbieten, da sie „wider Gott, Recht, Ehre und kaiserliche Gesetze sei“. Bemerkenswert ist aber, dass sie am 12. September 1378 noch existierte und auf regionaler Ebene akzeptiert wurde, als sie in einem Bündnis zwischen Herzog Wilhelm von Jülich und Geldern, Wilhelm von Jülich, Graf von Berg und Graf Adolf von Kleve von letzterem als Genossen ausgenommen wurde.Der genossenschaftliche Eid stand somit im Gegensatz zu den Landfriedensordnungen mit Kaiser, Städten und mächtiger werdenden Territorialfürsten als Vertragspartner. Er stellte das von diesen beanspruchte Gewaltmonopol zur Durchsetzung der Landfrieden in Frage. In Landfriedensordnungen der Zeit wurden Gesellschaften daher oft ohne konkrete Namensnennung als „böse Gesellschaften“ allgemein ausgenommen. Die Landfrieden wurden als Gegenpart zu den Gesellschaften deshalb ebenfalls mit einem verpflichtenden Eid ausgestattet, samt der zusätzlichen Forderung, dass die Bündnispartner auch ihre Diener und Mannen anzuhalten hätten, gegebenenfalls aus Gesellschaften auszutreten.
In den meisten Eiden der Gesellschaften war der König oder Kaiser ausdrücklich ausgenommen, das heißt, es bestand keine Beistandspflicht, wenn diese gegen den Monarchen gerichtet gewesen wäre. Der eigene Lehnsherr wurde ebenfalls oft aus dem Eid ausgenommen.
Dies führte zu einer Ambivalenz der Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gegenüber den Adelsgesellschaften, die sich in Verboten solcher Gesellschaften einerseits, in ihrer aktiven Förderung als Machtinstrument gegen die Fürsten andererseits niederschlug. Hierauf wird weiter unten im Rahmen der geschichtlichen Einordnung vertiefend eingegangen.
=== Religiöser Aspekt der Gesellschaften ===
Nicht ausschließlich, aber mehrheitlich stellten sich die Gesellschaften unter das Patronat eines oder mehrerer Heiliger. Toten- oder Gedächtnisstiftungen waren ebenfalls oft, aber auch nicht ausschließlich Bestandteil der Einigungen. Hierzu trafen sich die Gesellen an einem festgelegten geistlichen Sitz. Dies konnte ein Kloster oder eine bestimmte Kirche sein. Oft wurde ein eigener Altar oder eine besondere Seitenkapelle gestiftet. Diese dienten der Aufnahme der Totenschilde. Noch heute sichtbare Beispiele sind das Heilig-Geist-Stift in Heidelberg für den Pelikan und Esel, oder die St. Gumpertus-Kirche in Ansbach für den fränkischen Teil der Schwanengesellschaft. Bußen wurden oft mit der Verpflichtung zur Stiftung von Messen belegt.
Im Bundbrief der „Geselschaft vom Aingehürn“ heißt es:
Das religiöse Engagement beschränkte sich nicht auf den Kampf gegen die Hussiten; umfangreiche Begängnisse mit Vigilien und jeweils 24 Seelenmessen für jeden verstorbenen Gesellen waren in den Statuten festgelegt und zeugen von einer gelebten Frömmigkeit. Die Gesellen versicherten sich hiermit eine gegenseitige Solidarität, die über den Tod hinausging.
Es gab Vereinigungen, welche sich gleichzeitig als Bruderschaft und Gesellschaft verstanden, so die Bruderschafft und ritterliche Geselschaft […] zu Lobe […] besonder sente Huprichcz. Die Statuten trennten klar den bruderschaftlichen und den genossenschaftlichen Teil. Der bruderschaftliche Teil beschäftigte sich mit dem im Prämonstratenserkloster Sayn zelebrierten christlichen Kult, der genossenschaftliche Teil bezog sich auf die bereits bekannten Funktionen, wie Organisation, innere und äußere Friedenswahrung. Die Grafen von Sayn hatten als Teil eines Vierergremiums ein Vorschlagsrecht für den König der Gesellschaft, waren aber ansonsten unter den Gesellen Gleiche unter Gleichen. Die Gesellschaft stellte somit einen Prestige- und Machtfaktor für das Grafenhaus dar. Aber auch die Gesellen profitierten von dem besonderen Ansehen und der gegenseitigen Absicherung im Konfliktfall, sowohl außerhalb wie auch innerhalb der Gesellschaft. Im religiösen Sinne wurden das prächtige Zeremoniell und der herausragende Rahmen des Klosters als besonders segensreich empfunden. Durch die Stiftung von Messen und Vigilien sowie die Bestellung, Unterbringung und Versorgung von 20 zusätzlichen Priestern für die jährlich stattfindende Hubertusmesse trat die Gesellschaft als Förderer des Klosters auf.Ihre besondere Frömmigkeit brachte die Geselscap van den Rade dadurch zum Ausdruck, dass sie ihren Patronatsheiligen Sankt Georg nicht als glänzenden Drachentöter verehrte, sondern mit dem Symbol seines Martyriums.Auch bei der Geselschafft des Aingehörns undt der Junkhfrauen brachte die Namenswahl den besonderen Anspruch an ein „reines“ Leben zum Ausdruck. Der Jungfrau Maria als Patronin wird als Sinnbild der jungfräulichen Reinheit, aber auch eines beschaulichen, der Versuchung abholden Lebenswandels das dies symbolisierende Einhorn vorangestellt. Die Statuen legten fest, dass die Gesellen sich gegenseitig daran hindern sollten unredliche Sachen undt Geschäfft zu machen. Eingeleitet wurden die Statuten mit der Forderung an den vier unserer Frauen Tag ein Hochamt singen zu lassen. Für ein verstorbenes Mitglied sollte jeder der Gesellen für diesen 30 Messen lesen lassen.
=== Geselligkeit als Teil des Gesellschaftslebens ===
In der Regel sahen die Statuten einen jährlichen Hoftag vor. Zumeist fanden dabei die Kapitelversammlungen statt, mit Beratungen über Neuaufnahmen, Erneuerung des Gesellschaftseides und den weiteren Gesellschaftsbelangen. Bei Bedarf wurden die Statuten angepasst. Anschließend wurde mindestens ein gemeinsames Mahl begangen, bei den größeren Gesellschaften auch oft ein Turnier abgehalten. Die Gesellen waren dabei angehalten, eine oft vorgegebene Anzahl von Damen zu diesen Tagen mitzubringen, manchmal mit der konkreten Vorgabe, dass diese im heiratsfähigen Alter sein sollten. Einige Gesellschaften, wie der Drache oder der Schwan, ließen Frauen zur Gesellschaft zu.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl wurde in den meisten Fällen durch das Führen eines gemeinsamen Abzeichens ausgedrückt. Auch das Tragen einheitlicher Kleidung stellte ein Zusammengehörigkeitsgefühl her. So wie die Fürsten auf ihren Festen ihre Gefolgschaft zu repräsentativen Zwecken in einheitlichen Farben auftreten ließen, taten es ihnen die Gesellschaften hierin gleich, um ebenfalls nach außen ihre Geschlossenheit zu demonstrieren. Das Abzeichen wurde oft auch auf den Epitaphen abgebildet und sollte so die Gesellen daran erinnern, dass die Gemeinschaft im Sinne des mittelalterlichen Memorialwesens auf ewig angelegt war. Die Totenbegängnisse wurden deshalb ebenfalls mit einem gemeinsamen Mahl abgeschlossen.
Die Solidarität unter den Genossen wurde auch dadurch geübt, dass Streitigkeiten vor einem gemeinsamen Schiedsgericht geschlichtet werden sollten. Darüber hinaus wurde die Gemeinschaft unter den Genossen auch auf andere Weise gefördert. Die Sichel hatte Vereinbarungen, dass die Genossen jenen unter ihnen, die sich kein eigenes Schlacht- oder Turnierross leisten konnten, eines der ihren zu leihen hätten. Auch bei anderen Gesellschaften fanden sich Regelungen, wie unverschuldet verarmte Genossen zu unterstützen seien. In Zeiten, in denen die wirtschaftliche Situation mancher Adeliger sie in Versuchung brachte, sich auf Kosten anderer, selbst Standesgenossen, zu bereichern, war dies, in Kombination mit der internen Friedenspflicht, ein wichtiges Regulativ.
Die Gesellschaft bot den Niederadeligen die Gelegenheit, ihren Standesanspruch nach außen zu dokumentieren. Auf seiner Burg standen dem Adeligen, im Gegensatz zu den Fürsten, keine Möglichkeiten zur herrschaftlichen Repräsentation zur Verfügung. Da der Anspruch auf eine gesellschaftliche Führungsrolle nie aufgegeben wurde, musste eine neue, dem Adel angemessene Bühne zur Präsentation dieses Anspruchs geschaffen werden. Als gemeinsame Gesellschaftsleistung war dies möglich. Den letzten Höhepunkt dieser ständischen Repräsentation stellten die Vier-Lande-Turniere des letzten Viertels des 15. Jahrhunderts dar. Den äußeren Rahmen für eine solche Präsentation bildete die Stadt.Eine weitere Form der Selbstdarstellung waren die vielfältigen Wappen- und Turnierbücher. Die Adeligen konnten sich darin als Teil einer weit angelegten Gemeinschaft sehen. Vor allem die Turnierbücher stellten eine – oft fiktive – Geschichtstradition her, die die Standesmäßigkeit der Familien bis in weit zurückreichende Generationen belegen sollte. So stellte Georg Rüxner in seinem berühmten Turnierbuch eine Reihe von 36 Turnieren auf, die bis zu einem imaginären Turnier im Jahr 938 in Magdeburg zurückreichte. So können diese Bücher zwar für zeitgenössische Zustände als mehr oder minder zuverlässige Quellen über die Zugehörigkeit von Familien zu Adelsgesellschaften herangezogen werden, ihre Angaben über die Vergangenheit sind aber als Fiktion zu betrachten. Die Gesellschaften unterhielten auch eigene Persevanten, die solche Aufzeichnungen vornahmen, so zum Beispiel Hans Ingeram für die Gesellschaft mit dem Esel.
== Gesellschaftliche Einordnung der Adelsgesellschaften ==
Der niedere Adel begann im späten Mittelalter seine angestammte Rolle als Herrschaftsträger zu verlieren, die er als Inhaber der Gewalthoheit vor Ort und als Monopolist überlegener Waffentechnik innegehabt hatte. Er wurde daher für die aufstrebenden Territorialherren immer entbehrlicher und suchte deshalb nach neuen Formen der Absicherung. Er tat dies – wo immer möglich – in der Form egalitärer Schwurvereinigungen. Ein Erklärungsansatz für das Rekrutierungspotential solcher Vereinigungen ist, dass sich zunächst meist aus Schwaben stammende Niederadelige, die sich in Italien als Condottieri verdingt hatten, bei ihrer Rückkehr in den sechziger Jahren des 14. Jahrhunderts, zu Gesellschaften zusammenschlossen. Einige wenige Adelsgesellschaften existierten aber schon vorher, und das genossenschaftliche Prinzip war eine allgemein anerkannte Organisationsform.
Einige Fürsten gründeten Gesellschaften zur Integration ihres landsässigen Adels. Diese Gesellschaften waren zwar im Verhältnis der Gesellen untereinander genossenschaftlich organisiert, glichen aber in der gemeinsamen Orientierung auf einen Fürsten mehr den hierarchisch ausgerichteten Ritter- und Hoforden. Die fürstlichen Gesellschaften waren in der Regel auf Dauer angelegt, während die genossenschaftlichen Vereinigungen des Niederadels zumeist für einen befristeten Zeitraum geschlossen wurden. Durch Verlängerungen konnten aber auch diese eine sehr lange Dauer erreichen. Während im 14. Jahrhundert beim Niederadel noch kriegerische, aus politischer Opportunität begründete kurzfristige Bündnisse vorherrschten, stand im 15. Jahrhundert die soziale Standesvertretung in längerfristigen Vereinigungen im Mittelpunkt.
=== Anzahl und Größe der Gesellschaften ===
Die Zahl der Gesellschaftsgründungen stieg zum Ende des 14. Jahrhunderts steil an. Sie fiel nach dem ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts stark ab und erreichte um 1440 einen weiteren Höhepunkt. Ein letzter Höhepunkt lag dann in den neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts. Dies war die Zeit der großen „Vier-Lande-Turniere“. Anfang des 16. Jahrhunderts brach die Gründungswelle ab. Die Gesellschaften verschwanden weitgehend und die Niederadeligen konstituierten sich in der Freien Reichsritterschaft.
Es gab Gesellschaften, die nie mehr als vier Genossen hatten (Einhorn und Jungfrau) oder wie der Sittich eine Vereinigung von vier Fürsten darstellten. Gerade diese Vereinigung von Fürsten macht deutlich, wie sehr sich der genossenschaftliche Gedanke bei nicht hierarchischen Vereinigungen durchgesetzt hatte. Andere, wie die Löwengesellschaft, oder St. Jörgenschild hatten 120 beziehungsweise fast 200 Mitglieder.Eine besondere Anwendung des genossenschaftlichen Vereinigungsprinzips fand sich innerhalb der Burggrafschaft Friedberg auf der Burg Friedberg. Hier wurde das genossenschaftliche Prinzip zur Binnenorganisation einer fest umrissenen, an einen festen Ort gebundenen Gruppe genutzt: den Ganerben der Burg. Zunächst, um 1367, fand sich dort die Gesellschaft der Grunen Minne zusammen, von der man über Altarstiftungen Kenntnis hat. 1384 bildete sich eine weitere Gesellschaft, die Gesellschaft vom Mane (Mond). Beide Gesellschaften verbanden sich und gingen 1387 in einer Bruderschaft auf. Hundert Jahre später vereinigten sich die Burgmannen vor dem 26. August 1492 zur Fraternitas equestris S. Georgii. Die Gesellen trafen sich regelmäßig am Montag nach Fronleichnam in der Burgkapelle zu Messen und Vigilien für die Verstorbenen. In der anschließenden Kapitelversammlung wurden auch organisatorische Angelegenheiten der Ganerbenschaft geregelt.
=== Geographische Verbreitung ===
Die geographische Verbreitung der Gesellschaften spiegelt das Kulturgefälle und die Verfassungswirklichkeit des Reiches wider. In den restlichen westeuropäischen Ländern entwickelte sich der moderne Territorialstaat durch die Ausschaltung beziehungsweise Vereinnahmung der regionalen Kräfte als Vereinigungswerk der Könige. Im Reich waren es die mächtigen Territorialfürsten, die ein solches Vereinigungswerk auf beschränktem Raum vorantrieben. Der Prozess setzte aber viel später ein und kam eigentlich erst mit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs zum Abschluss. Dort wo sich solche Territorialfürsten nicht durchsetzen konnten, ergaben sich Nischen für eine eigenständige Politik weniger starker Mächte. Hier etablierten sich die Städtebünde, aber auch die hier betrachteten Adelsgesellschaften.
Dort, wo es festgefügte Landesherrschaften gab, finden sich deshalb wenige oder keine Adelsgesellschaften, hingegen viele, wo sich in den „Schütterzonen der öffentlichen Gewalt“ die Unabhängigkeit des Adels behaupten konnte. Sie fehlten im Norden und Osten fast ganz (Ausnahme Leoparden von 1387 und Eidechsengesellschaft von 1397).
Der mitteldeutsche Raum – Westfalen, Braunschweig-Lüneburg, Sachsen, Meißen, Schlesien, österreichische Länder und Bayern – stellte eine Übergangszone dar, in der vereinzelt Adelsgesellschaften anzutreffen waren.
Gehäuft traten sie entlang des Rheins (Ober-, Mittel- und auch Niederrhein) und besonders in Schwaben und Franken auf.
Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz, wo sich die genossenschaftliche Vereinigung auf einer anderen Ebene vollzog, fehlten sie ganz. Der dortige Adel fand sich anfangs noch in den schwäbischen Adelsgesellschaften wieder, später verlagerte er seinen Lebensmittelpunkt entweder nördlich des Bodensees und Rheins oder er trat der Eidgenossenschaft bei.
=== Die frühen Gesellschaften des 14. Jahrhunderts ===
Die geschichtliche Entwicklung und die geographische Verteilung der Adelsgesellschaften spiegelt die Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reichs zu jener Zeit wider. So fiel der erste Gründungshöhepunkt mit der Auseinandersetzung um die Krone des Reichs zwischen den Häusern Habsburg, Wittelsbach und Luxemburg zusammen. Die Könige Ludwig der Bayer, Friedrich der Schöne und Karl IV. betrieben eine intensive Hausmachtpolitik, die Fürsten und aufstrebenden Territorialstaaten versuchten sich in diesen Auseinandersetzungen ebenfalls zu positionieren und der Niedere Adel und die Städte mussten sich durch eine geschickte Bündnispolitik in diesem Geflecht behaupten. Hinzu kam die Instrumentalisierung des Abendländischen Schismas in diesem Machtkampf. Eine bedeutende Rolle spielte hierbei der Gegenpapst Clemens VII.
Beispielhaft für diese Phase war die ältere Gesellschaft mit dem Lewen vom 17. Oktober 1379. Ausgehend von den Grafen von Nassau und den Grafen von Katzenelnbogen, rekrutierte sie sich aus Anhängern des Gegenpapstes Clemens VII. Ausgehend von einer Verbindung von 17 Grafen, Herren und Geistlichen in der Wetterau dehnte sich die Gesellschaft bald über den gesamten südwestdeutschen Raum aus und musste, ab Frühjahr 1389 in sechs Teilgesellschaften, Lothringen, Franken, Niederlande, Schwaben, Elsass und Breisgau aufgeteilt werden. Im Umfeld der Grafen von Helfenstein entstand eine weitere eigenständige Gesellschafft mit sant Wilhalmen, welche die Statuten der Löwen wortwörtlich übernahm und sich am 1. März 1381 mit diesen verbündete. Am 8. März 1381 verband sich die Gesellschaft mit Sankt Wilhelm mit der fränkischen geselschaft mit sant Gyren.
Als Reaktion kam es zur Gründung des Süddeutschen Städtebundes. Es kam zu ausgedehnten Kampfhandlungen, bis am 9. April 1382 unter Vermittlung von Herzog Leopold von Österreich der Landfrieden von Ehingen geschlossen wurde.
Einzigartig an dieser Konstellation war die planvolle Ausdehnung und die Einrichtung einer funktionierenden Struktur von Teilgesellschaften. So konnte zum Beispiel im Zuge der Fehdehilfe frei auf dem Gebiet der „Tochtergesellschaften“ operiert werden.
=== Die Adelsgesellschaften zwischen Verbot und Förderung ===
Das Kräftespiel König–Fürsten–Städte–Niederer Adel zeigt sich auch in den Verbots-/Legitimationskonjunkturen. Kaiser Karl IV. verbot 1356 im Artikel 15 der Goldenen Bulle sowohl Städtebündnisse als auch Adelsgesellschaften. 1372 verbot er namentlich die Krone. König Wenzel verbot 1395 die „Schlegler“. Sigismund hingegen legitimierte 1422 und 1431 die Gesellschaften und versuchte sie in seine Landfriedenspolitik einzubinden. Friedrich III. verbot zwar 1467 mit ausdrücklichem Verweis auf die Goldene Bulle das von Sigismund 1431 bestätigte Einhorn, aber er und sein Nachfolger Maximilian banden gerade den St. Jörgenschild sehr aktiv in ihre Reichsreformpolitik ein. Die Schwanengesellschaft wurde sogar, analog zu den bekannten westeuropäischen Hoforden, vom Papst legitimiert.
=== Die Adelsgesellschaften im 15. Jahrhundert ===
Den Höhepunkt der überregionalen Gesellschaften und auch deren langlebigste stellte der Sankt Jörgenschild dar. Die Gesellschaft konstituierte sich am 11. September 1406 als Vereinigung im Bodenseegebiet und in Südschwaben ansässiger Adeliger zur Vermeidung der vielen Rechtsstreitigkeiten untereinander. Die Gesellschaft wurde immer nur auf eine beschränkte Zeit geschlossen, aber durch die entsprechenden Erneuerungen dauerte sie bis zur Einrichtung der Reichsritterschaft in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts an.
Bereits in den ersten Bundbriefen 1407 und 1408 wurde die Abwehr der aufständischen Appenzeller als Vereinigungsgrund genannt. Die Gesellschaft erhielt die Einwilligung von König und Kirche zur Bundschließung. Der Erfolg in dieser Auseinandersetzung führte zur Gründung weiterer Teilgesellschaften mit identischen Bundesbriefen.
Das von den Hauptleuten, ab 1463 von einem Rat geführte Schiedsgericht erlangte eine zunehmende, auch externe, Autorität, so dass es auch von Nichtmitgliedern angerufen wurde. Bereits am 14. März 1426 erhielt die Gesellschaft das Privileg zur Aufnahme von Eigen- und Vogtleuten und den Gerichtsstand der armen Leute. Dieses privilegierte Schiedsgericht wurde nochmals in der Goldenen Bulle von 1431 bestätigt. Ab diesem Zeitraum stand der Grundsatz im Bundesbrief: „…da(ß) sie als Glieder beim heiligen Reiche bleiben mügen, St. Georg, der Kirche, dem Reiche und ihren Landen zu Ehren und zur Stärkung, zur Nutz, zu Frieden und Gemach“. Aus solchen Aussagen wurde, zum Beispiel von Roth von Schreckenstein, geschlossen, dass sich hier das Bewusstsein einer freien Reichsritterschaft herausbildete.
Bereits 1422 war der Gesellschaft von König Sigismund das Privileg der freien Bündniswahl zugestanden worden, das von Friedrich III. nach seiner Krönung 1440 bestätigt wurde. Deshalb ging die Gesellschaft mit Sankt Jörgenschild auch vielfältige Bündnisse mit anderen Gesellschaften und Städten ein. Bei der Gründung des Schwäbischen Bundes 1488 wurde maßgeblich auf die Organisationsstruktur der Gesellschaft zurückgegriffen. Die Niederadeligen waren, vertreten durch die Gesellschaft, Mitglied des Bundes. Diese Konstruktion erlaubte es, dass die Niederadeligen auf Augenhöhe mit den anderen Ständen, insbesondere den Fürsten verhandeln konnten. Die Gesellschaft ging nicht im Schwäbischen Bund auf, sondern bestand über dessen Ende hinaus weiter fort.
Die Gesellschaft mit Sankt Jörgenschild stellte einen Wendepunkt in der spätmittelalterlichen Landfriedenspolitik dar. Auch andere Gesellschaften wurden von diesem Zeitpunkt an zunehmend als Partner in Landfriedensbündnisse aufgenommen. Kenntnis über einige dieser Gesellschaften besteht sogar einzig durch ihre Erwähnung in solchen Landfriedensbündnissen, wie zum Beispiel die Gesellschaft mit dem Rüden im Gebiet des Oberrheins zwischen Säckingen und Rastatt. Andererseits zeigen sich in dieser Zeit aber auch die Grenzen für diese Gesellschaften in den Gebieten, in denen eine starke Anbindung an einen Fürsten bestand. Der Gestaltungsspielraum für den landsässigen Adel schränkte sich immer mehr ein. Aber auch die Landesherren bemühten sich in einigen Fällen, die Gesellschaften für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, so Herzog Friedrich von Österreich, der die Gesellschaft mit Sant Georgen und Sant Wilhelms Schild in seinen Kampf gegen die Eidgenossen einband.
Die begrenzten Möglichkeiten des in eine Landesherrschaft eingebundenen Niederadels, seine Standesinteressen mit Hilfe einer Gesellschaft zu sichern, werden auch bei der Geselschaft vom Aingehürn (23. April 1428) deutlich. Diese Adeligen aus dem Straubinger Land, dem Bayerischen Wald und der Oberpfalz schlossen sich zur Abwehr gegen die Hussiten zusammen. Zur Durchsetzung ihrer eigenen Rechte verbündeten sie sich 1430 auch mit der fränkischen Ritterschaft und mit der Gesellschaft mit Sankt Jörgenschild, also der reichsfreien Ritterschaft. In der Zeit der Nachfolgewirren im Hause Wittelsbach schien die Hoffnung des Adels auf eine Loslösung von den Fürsten sich zu bestätigen. Erst 1466, am 16. Oktober, fand eine Erneuerung der Gesellschaft statt. Herzog Albrecht baute zu dieser Zeit seine Position in Bayern aus. Als dessen Bruder Christoph, der Albrecht seine Stellung streitig machte, in die Gesellschaft aufgenommen wurde – gegen Protest aus den eigenen Reihen –, schürte Albrecht mit Unterstützung Ludwigs von Bayern-Landshut und der Pfalzgrafen Friedrich und Otto den Widerstand gegen die Gesellschaft. Ein Jahr darauf, am 19. Oktober 1467, erfolgte das kaiserliche Verbot der Gesellschaft. Die Gesellschaft löste sich auf, der Bundesbrief wurde zerschnitten und die Siegel an die Gesellen zurückgegeben. Der Konflikt war aber noch nicht beendet und setzte sich im sogenannten Böcklerkrieg fort. Auch die Gründung der Gesellschaft von dem Leon war ein solcher Versuch, gegen die Mediatisierungsbestrebungen der Fürsten an einer genossenschaftlich organisierten Selbstverwaltung festzuhalten.
Einer der Gründe für das Ende der Gesellschaften war die Reformation. Die bruderschaftliche Frömmigkeit, das an feste Andachtsstätten und Altäre gebundene Ritual, kollidierte zunehmend mit den individuellen Glaubensentscheidungen der Genossen. Selbst wenn protestantische Genossen weiterhin an dem sozialen Netzwerk einer brüderlichen Gemeinschaft partizipieren wollten, so waren die Messfeiern für sie kein geeignetes Mittel mehr. Auch akzeptierten katholische Bischöfe bald keine protestantischen Patronatsherren für Altar- und Kirchenstiftungen mehr. Umgekehrt waren katholische Messfeiern in protestantisch gewordenen Gotteshäusern undenkbar. Ein weiterer Grund war, dass der Exklusivitätsanspruch einiger Gesellschaften nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Die strenger gewordene Ahnenprobe und der materielle Aufwand (Rüstung, Turnierpferd, Beiträge, Hofhaltung …) konnten von vielen Adeligen nicht mehr geleistet werden oder wurden nicht mehr akzeptiert. Es setzte eine Überalterung in den Gesellschaften ein. Politische Forderungen konnten jetzt besser in anderen Zusammenschlüssen durchgesetzt werden, die weniger elitär ausgerichtet waren. Mit der Einrichtung des Reichskammergerichts waren nun eher Juristen als Krieger gefragt. Aber wie beim konfessionellen Aspekt war auch dies ein längerfristiger Prozess.
=== Das Verhältnis der Adelsgesellschaften zu den Städten ===
Zumeist wird das Verhältnis zwischen Adel und Städten einseitig als konfliktgeladen dargestellt. Als Beispiel dienen von den Adeligen unter Vorwand provozierte Fehden und es wird das Bild des Raubritters heraufbeschworen. Adelsgesellschaften, die eine Konzentration militärischer Macht darstellten, wurden von den Städten, die ja selbst eine ausgreifende Sicherungspolitik ihrer Handelswege betrieben, durchaus als Bedrohung angesehen. Diese Bedrohung kam aber aus Sicht sowohl der Städte als auch der Adeligen im gleichen Maße von den Fürsten. Die Städtebündnisse waren also nicht einseitig gegen den Adel gerichtet, in der Regel fanden sich wechselnde Bündnisse, so dass auch die Städte auf Söldnertruppen zurückgriffen, die wiederum von Adeligen geführt wurden. Oder sie nahmen gar ganze Gesellschaften in ihren Sold, wie zum Beispiel die Gesellschaft mit der Krone für die Stadt Augsburg, die Gesellschaft mit dem Schwert für Ulm, oder die Schlegler, welche für die Städte Worms und Speyer im Sold standen.
Zudem darf die zentrale Rolle nicht übersehen werden, welche die Stadt für die Gesellschaften spielte. Die Stadt stellte die „Bühne“ für das „Herrschaftstheater“ des Gesellschaftslebens des genossenschaftlich organisierten Adels dar. Die Burgen der Adeligen waren hierfür in den seltensten Fällen geeignet, einmal aus Platzgründen, zum anderen, weil die Burgen in der Regel nicht mehr als enge, schmutzige, ummauerte Bauernhöfe darstellten. Es hätte auch dem egalitären Prinzip widersprochen, wenn die Genossen, welche über einen repräsentativen Adelssitz verfügten, dadurch vor ihren Standesgenossen hervorgehoben worden wären.
Die Stadt war Gründungsort und weltlicher Sitz der Gesellschaften, die die Infrastruktur der Stadt für ihre Belange nutzten: die Schreiber, die ihre Briefe ausfertigten, das Archiv, in dem diese Briefe hinterlegt wurden, die Kämmerei, von der das Gesellschaftsvermögen verwaltet wurde, die Versammlungsräume, in denen Kapitelsitzungen und Festmahle begangen wurden, die Plätze, auf denen ihre Turniere ausgerichtet werden konnten. Vor allem bot nur eine Stadt die Möglichkeit, eine Vielzahl von Personen – neben den Gesellen selbst auch deren Frauen und Töchter und das Gesinde – sowohl unterzubringen als auch für mehrere Tage zu versorgen. Die Versammlung in einer Stadt bot auch die Möglichkeit, sich mit den Dingen des gehobenen Bedarfs einzudecken, seien es Rüstungen, Pferde, Kleidung, Schmuck oder Gewürze. Oft wurden die jährlichen Kapiteltreffen mit den Messeterminen der Stadt koordiniert.
So trafen sich die Martinsvögel zur Klärung von internen Streitigkeiten und besonders von Geld- und Zinsangelegenheiten ausschließlich in Straßburg, die Fürspänger in Schweinfurt, die Löwler in Cham, die Geselschaft mit Sant Gyren in Crailsheim. Dorthin waren auch Hilfsgesuche an die Genossen zu richten, was darauf hindeutet, dass die städtische Kanzlei ganzjährig für die Gesellschaft tätig war. Dies zeigt auch, weshalb es für eine Stadt von Interesse sein konnte, Kapitelsitz einer Gesellschaft zu sein. Sie erlangte dadurch einen nützlichen Informationsvorsprung. Die Gesellschaft vom Ayngehürn traf sich deshalb neben Regensburg auch in Amberg, um nicht von einer Kanzlei abhängig zu sein. Die Gesellschaft mit Sankt Jörgenschild richtete ab 1433 das Amt eines eigenen Schreibers ein. Mehrere Versammlungsorte finden sich auch bei überregionalen Gesellschaften. Der eben erwähnte Sankt Jörgenschild hatte mehr als ein Dutzend solcher Versammlungsorte, darunter Augsburg, Ehingen, Engen, Konstanz, Meersburg, Pfullendorf, Riedlingen und Stockach. Die Eselsgesellen trafen sich als Obere und Niedere Gesellschaft jeweils in Heidelberg und Frankfurt am Main. Die Löwengesellschaft versammelte sich in Wiesbaden und St. Goar. Andere Gesellschaften ließen den Ort der Versammlung offen. Die Gesellschaft Fisch und Falke legte fest, dass ihr Kapitel zusammen mit dem jährlich abzuhaltenden Hof der „Vier-Lande-Turniere“ abgehalten werden sollte, deren erstes 1479 in Würzburg stattgefunden hatte.
Die einzige Ausnahme stellten die Gesellschaften auf der Burg Friedberg dar. Dort hätte der Zweck dieser Gesellschaften – die Organisation des Zusammenlebens auf dieser Ganerbenburg – einen anderen Kapitelort nicht sinnvoll erscheinen lassen.
Einige Städte wurden so Gastgeber für mehr als eine Gesellschaft. Dabei betrieben die Vertreter der Stadt, wie diverse städtische Rechnungsbüchern belegen, einen nicht unerheblichen Aufwand zu Ehren ihrer Gäste: festlicher Empfang auf dem Rathaus oder an einem anderen repräsentativen Ort der Stadt, gemeinsame Mahle, Weingeschenke, Überlassung von städtischen Dienern. Dahinter steckten handfeste wirtschaftliche Interessen, da die Städte vielfältig von den Besuchen der Gesellschaften profitierten. Die Herbergen, die Lebensmittellieferanten, das Handwerk (Tuchmacher und Schneider, Schuster, Maler, Schreiner, Sattler, Harnischmacher), Händler für Luxuswaren, Pferdehändler und weitere Dienstleister, vom Notar bis zum Musiker, und viele weitere mehr verdienten am Besuch von oft mehreren tausend Teilnehmern. Beim Turnier in Heidelberg 1482 mussten 3.499 Pferde untergebracht werden, im selben Jahr in Nürnberg 4.200. Ein weiterer Vorteil, Kapitelsitz einer Gesellschaft zu sein, lag darin, dass dies planbare, jährlich wiederkehrende Ereignisse waren.
Neben dem ökonomischen Aspekt boten solche Veranstaltungen auch einen entsprechenden Unterhaltungswert für alle Schichten einer Stadt. Wenn die Stadt für die Adeligen eine Bühne darstellte, auf der sie sich präsentieren konnten, war diese Bühne für das städtische Patriziat ein Schaufenster, in dem es die höfische Lebensweise erlernen konnte. Die häufigen städtischen Gesellenstechen – wie die städtischen Turniere genannt wurden – zeigen, dass die Städter bemüht waren, den höfischen Glanz zu kopieren, ja in vielen Fällen gar zu übertreffen. Zur Wahrung der Exklusivität blieb dem Adel nur die ständische Abschottung, wie die erwähnte Verschärfung der Zulassungsregeln zu den Gesellschaften zur Hochzeit des Turnierwesens belegt.
== Bewertung ==
Andreas Ranft stellt fest, dass die einzelnen Gesellschaften, von der Gesellschaft mit Sanktjörgenschild abgesehen, für sich genommen kaum gestaltenden und anhaltenden Einfluss auf ihre Umgebung ausüben konnten. Die Gesellschaften wurden zumeist von einer Herrschaft oder von Gegenbündnissen aufgelöst, neutralisiert oder für eigene Zwecke instrumentalisiert. Aber es entstanden immer neue Genossenschaften. Der „…Druck ständig nachwachsender Verbindungen …“ verhinderte eine grundsätzliche Liquidation. „[D]ie adlige Genossenschaft wurde zum stabilen Faktor politischer Organisation, welcher den Adligen, zumindest den reichsunmittelbaren, lange Zeit eine vorteilhaft ungeklärte Konkurrenz mehrfacher Loyalitäten zu ihren Lehensherren, zu den Dienstherren, zu ihren Einigungen und zum Reich aufrechtzuerhalten erlaubte“. Seit dem Privileg von 1422, welches dem Adel die genossenschaftliche Organisation gestattete, stellten die Gesellschaften für die Könige oder Kaiser einen Machtblock dar, den sie als politisches Gegengewicht in ihren Auseinandersetzungen mit den Fürsten einsetzen konnten. Durch die – wortwörtlich – eigenständige Einübung von Verwaltungs- und Organisationsformen wurde so die Rolle des Adels in der späteren Reichsritterschaft vorbereitet. Der Schwäbische Bund als korporative Vereinigung erlaubte es den Fürsten und Städten, den Niederadel als standesgemäßen Verhandlungspartner zu akzeptieren. Der Trick bestand darin, dass nicht der einzelne Niederadelige der Verhandlungspartner war, sondern die Gesellschaft. Organisatorisch lässt sich deshalb eine Linie ziehen von der politischen Einbindung des Sankt Jörgenschildes als Kooperation im Schwäbischen Bund bis zur ständischen Organisation der verfassten Reichsritterschaft in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Die Ritterkantone lehnten sich an die Kantonsstruktur des Sankt Jörgenschildes an, es wurden aber auch die Symbole anderer Gesellschaften tradiert.
== Register der Adelsgesellschaften ==
Die im Repertorium von Kruse, Paravicini und Ranft erfassten Gesellschaften sind im Artikeltext doppelt, durch Kursivschrift und „Anführungszeichen“ gekennzeichnet. Dies dient der Unterscheidung von bloßen Bündnissen oder hierarchischen Orden.
Anm. Durch den Referenzmarker «↑» ist ein Rücksprung zur jeweiligen Textstelle möglich.
== Literatur ==
Holger Kruse, Werner Paravicini, Andreas Ranft (Hrsg.): Ritterorden und Adelsgesellschaften im spätmittelalterlichen Deutschland (= Kieler Werkstücke. Reihe D: Beiträge zur europäischen Geschichte des späten Mittelalters. Band 1). Peter Lang, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-631-43635-1.
Andreas Ranft: Adelsgesellschaften: Gruppenbildung und Genossenschaft im spätmittelalterlichen Reich (= Kieler historische Studien. Band 38). Thorbecke, Sigmaringen 1994, ISBN 3-7995-5938-8 (zugleich Habilitationsschrift, Universität Kiel).
Tanja Storn-Jaschkowitz: Gesellschaftsverträge adliger Schwureinungen im Spätmittelalter. Edition und Typologie. Logos, Berlin 2007, ISBN 978-3-8325-1486-0 (zugleich: Dissertation, Universität Kiel).
Peter Jezler, Peter Niederhäuser, Elke Jezler (Hrsg.): Ritterturnier. Geschichte einer Festkultur. Begleitbuch zur Ausstellung im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, Quaternio Verlag, Luzern 2014, ISBN 978-3-905924-23-7.
== Weblinks ==
== Anmerkungen und Einzelnachweise ==
Holger Kruse, Werner Paravicini, Andreas Ranft (Hrsg.): Ritterorden und Adelsgesellschaften im spätmittelalterlichen Deutschland. Peter Lang, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-631-43635-1.
Andreas Ranft: Adelsgesellschaften: Gruppenbildung und Genossenschaft im spätmittelalterlichen Reich (= Kieler historische Studien. Band 38). Thorbecke, Sigmaringen 1994, ISBN 3-7995-5938-8.
Sonstige
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https://de.wikipedia.org/wiki/Adelsgesellschaft
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Amendingen
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= Amendingen =
Amendingen (schwäbisch Aumadenga) ist ein Ortsteil und Pfarrdorf der kreisfreien Stadt Memmingen in Bayern. Die erste Besiedlung geht auf die Zeit vor 233 zurück. Der Ort wurde 1180 erstmals urkundlich bestätigt und gehörte bis 1455 zur Herrschaft der Ritter von Eisenburg. Ab 1475 begann eine Zersplitterung der Ortschaft auf verschiedene Herrschaftsgeschlechter und Klöster. Im Jahr 1803 wurde mit dem Reichsdeputationshauptschluss die heutige Flur festgelegt.
Ab dem Jahr 1805 war Amendingen eine selbstständige Gemeinde, bis es 1972 nach Memmingen eingemeindet wurde. Mit über 3700 Einwohnern ist Amendingen der größte Ortsteil nach dem Hauptort Memmingen. Bekannt ist das ehemalige Pfarrdorf vor allem für seine barocke St.-Ulrichs-Kirche und das Gewerbegebiet Nord, welches zum größten Teil auf Amendinger Flur liegt.
== Geographie ==
=== Lage ===
Der Memminger Ortsteil Amendingen liegt am Westrand des Memminger Achtals. Der Ort liegt nördlich der Memminger Kernstadt und ist inzwischen baulich mit dieser zusammengewachsen. Im Norden der Amendinger Flur liegt der größte Teil des Gewerbegebiets Nord.
=== Klima ===
Amendingen liegt bei der Jahresdurchschnittstemperatur und der Niederschlagsmenge im Durchschnitt der gemäßigten Zone, wobei die Niederschläge meist etwas höher und die Tiefsttemperaturen etwas niedriger liegen. Die durch die Ortschaft fließende Memminger Ach und der nahe Weidenbach können im Frühjahr und Herbst dichten Nebel auf den Fluren und innerhalb der Ortschaft verursachen. Der kälteste Monat ist der Januar mit einer durchschnittlichen Tagestiefsttemperatur von −5 °C und einer durchschnittlichen Tageshöchsttemperatur von 2 °C. Die wärmsten Monate sind Juli und August mit je 12 °C durchschnittlicher Tiefst- und 24 °C durchschnittlicher Höchsttemperatur.
=== Geologie ===
Der Untergrund besteht aus einer rund einen Meter dicken Lösslehmschicht, unter der etwa 20 Meter Schotter liegen. Der Talboden ostwärts der Gemeinde setzt sich aus Almerde und darunter liegenden Torfablagerungen zusammen, welche vereinzelt mit Kies und grauschwarzem Sand vermischt sind. Vor allem die Memminger Ach in ihrem regulierten Verlauf gibt die ungefähre Grenze zwischen Almerde und Schotter an. Am Talrand zeigt sich eine tertiäre Anlagerung, welche das reiche Vorkommen von Quellen bis hinunter nach Heimertingen begünstigt.
== Geschichte ==
=== Frühgeschichte (bis 8. Jahrhundert n. Chr.) ===
In der römischen Kaiserzeit verlief die Straße, von Kempten (Allgäu) (Cambodunum) nach Kellmünz (Caelius Mons) sehr wahrscheinlich auch über die Amendinger Flur. Bei mehreren Neu- und Umbauten wurden im Gemeindegebiet immer wieder römische Mauerreste entdeckt. 1943 und 1954 konnten solche aus dem 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. freigelegt werden. Im Süden des heutigen Gemeindegebietes errichtete vermutlich ein aus dem Militärdienst ausgeschiedener Veteran einen Gutshof, eine sogenannte villa rustica. Bei archäologischen Ausgrabungen um 1830 und Anfang der 1960er Jahre wurde festgestellt, dass der Hof eine Fläche von ungefähr neunzig mal neunzig Metern bedeckte. Er wurde mindestens dreimal durch Brand zerstört und wiederaufgebaut. Auch waren vermutlich Handwerkerhäuser an den Hof angeschlossen, wie der Fund eines Webgewichtes nahelegt. Als im Jahr 233 die Germanen zum ersten Mal den Limes nördlich der Donau überrannten, wurde der römische Gutshof wahrscheinlich zum ersten Mal zerstört.
Der Kern der Ortschaft Amendingen, südwestlich der Kirche, entstand wohl im Zuge der alemannischen Landnahme im 5./6. Jahrhundert. Ausschlaggebend dürfte ein alemannischer Siedlungsweg von Heimertingen nach Memmingerberg gewesen sein, der dem Wasserlauf der Ach folgte. Sicher spielte bei der Besiedlung auch die alte Römerstraße eine Rolle. Wie bei Memmingen setzt sich der Ortsname aus einem Personennamen und der Endung -ingen zusammen. Vermutlich hieß der Stammesführer Otmund. Später wurde daraus Otmundingen, heute Amendingen. Die Flur des ältesten Dorfes umfasste zunächst Teile der Memminger Ach und die vom römischen Gutshof urbar gemachten Äcker. Bei Ausgrabungen des Memminger Altertumsvereins um 1830 fand man ein Steinplattengrab, das sich heute an der Südseite des Memminger Waldfriedhofes befindet. Wegen der fehlenden Beigaben vermutet man, dass das Grab vor dem Jahr 751, in der Zeit der Merowinger, entstanden ist. Es wurde auch eine Mauer aus Tuffstein angeschnitten, dem gleichen Material wie das der Grabkiste. Ziegelfunde zeigten, dass die Mauer und die sonstigen Funde, mit Ausnahme der Gräber, aus römischer Zeit stammten. Weitere Grabungen ergaben, dass die heidnischen Bewohner Amendingens ihre Begräbnisstätten bei dem zerstörten römischen Hof anlegten. Die Toten lagen mit dem Kopf nach Osten. Etwa um das Jahr 800 wurde die erste Kirche in Amendingen errichtet, vermutlich als schlichter Bau aus Holz. Die Toten wurden in dem zugehörigen Friedhof beigesetzt.
=== Kloster Ottobeuren und Besitz weltlicher Herren ===
Das Chronicon ottenburanum, das eine um 1180 entstandene Sammlung von Abschriften älterer Urkunden enthält, nennt in der Stiftungsurkunde des Klosters Ottobeuren das Dorf Amendingen mit allem Besitz (und den zugehörigen Menschen) – villam Oumintingen cum pertinentiis suis – als Stiftungsgut. Die Abschrift gibt den Inhalt einer als echt geltenden, aber verlorengegangenen Urkunde aus dem Jahr 764 wider. Für das Jahr 972 ist eine Gebietsabtretung des Klosters Ottobeuren in einer Urkunde bezeugt, deren Echtheit aber umstritten ist. Die Abschrift aus dem frühen 12. Jahrhundert erwähnt Amendingen als oppidum Oumintingen cum vico suo Trunkenesperc. Kaiser Otto I. belehnt darin den Alemannenherzog Burchard III. von Schwaben mit Gütern, die das Kloster Ottobeuren an den Kaiser abgetreten hatte, um sich von den Pflichten der Heerfahrt, des Kriegsdienstes und des Hoflagers zu befreien. Die früheste erhaltene schriftliche Erwähnung Amendingens in der vom Augsburger Dompropst Gerhard 982/992 verfassten Vita des heiligen Ulrich bezeugt, dass dieser im Mai 973 auf seiner Heimreise von dem oberschwäbischen Obersulmetingen nach Augsburg mit Mönchen aus dem nahe gelegenen Kloster in Amendingen zusammentraf, um ihnen das kaiserliche Privileg der freien Abtwahl mitzuteilen.Um 1200 ging Amendingen an die Ritter von Eisenburg, die von den Herzögen von Schwaben die Heerfahrtspflicht in dem Gebiet übernommen hatten und bildete damit den wirtschaftlichen Mittelpunkt dieser Herrschaft. In kirchlicher Hinsicht gehörte das Dorf ab 1341 zum Kloster Rot an der Rot. Der letzte Ritter von Eisenburg verkaufte seine Herrschaft.
=== Besitz Memmingens und evangelisch-katholischer Konflikt ===
Amendingen kam im Jahr 1455 an das Memminger Bürger- und Patriziergeschlecht Sättelin und später ein Großteil des Dorfes in den Besitz weiterer Memminger Bürger, an die Straßennamen erinnern (Marquard, Spichel, Waimer, Zehender). Mit anderen Orten ging das Dorf 1580 in den Besitz der benachbarten Reichsstadt Memmingen über. Seit 1586 hatte diese auch die Hochgerichtsbarkeit im Dorf inne. Einundzwanzig Jahre später erwarb 1601 der Ulmer Bürger und Patrizier Hans Eitel Neubronner die ganze Herrschaft Eisenburg. Die Sättelin als Memminger Bürger wurden in der Reformation evangelisch, auch die Neubronner als deren Nachfolger hatten als Ulmer Bürger die neue Lehre angenommen. Die Herrschaft war zwar nun evangelisch, die über der Herrschaft stehende Landvogtei jedoch katholisch. Daraus ergaben sich Differenzen, welche 1586, dreißig Jahre nach dem Augsburger Religionsfrieden, zu einem Vertrag führten. Aus den Kirchenakten geht hervor, dass von sechshundert Untertanen noch hundertfünfzig katholisch geblieben waren. Der Vertrag bestimmte, dass die Herren von Eisenburg zwar evangelisch bleiben durften, die Untertanen aber in der alten katholischen Religion belassen werden sollten. Sie durften, soweit sie die neue Konfession angenommen hatten, diese noch weitere acht Jahre behalten. Danach mussten die Untertanen unter Androhung von Strafe wieder zur alten Religion zurückkehren. Dem damaligen Pfarrer Gallus Möslin gelang es, vor Ablauf der Frist die meisten wieder zu konvertieren. Wer allerdings beim neuen Glauben bleiben wollte, zog in das evangelische Steinheim oder nach Memmingen.
In der Reformationszeit siedelten sich auch die ersten Juden in Amendingen und anderen Orten der Herrschaft Eisenburg an, da ihnen die Reichsstädte keine Unterkunft gewährten. Da viele der Juden Handel trieben, gab es bald kleinere Streitereien zwischen der Stadt Memmingen und Sebastian von Berwang als Inhaber der Herrschaft Eisenburg und mehrmals zu Prozessen. Im Jahr 1573 standen 83 Memminger Handwerksleute in den Schuldbüchern der Amendinger Juden. Seit 1600 gab es keine jüdische Bevölkerung mehr in Amendingen, da die meisten nach Fellheim zogen, wo sie unter dem Schutz des dortigen Herrschers standen. Als die Neubronner 1601 die Herrschaft Amendingen kauften, wurde in der Kaufsabred vereinbart, keine jüdische Bevölkerung mehr aufzunehmen. Die Neubronner als neue Inhaber der Herrschaft suchten von Anfang an durch Verträge und Absprachen Ordnung zu schaffen. Sie legten die Rechte und Pflichten des Mesners und des Lehrers fest und trafen mit dem Kloster Rot an der Rot eine Abmachung über die Zehntenrechte in Amendingen.
Im Dreißigjährigen Krieg gab es Einquartierungen kaiserlicher und schwedischer Truppen und entsprechender Belastung der Bevölkerung. An der damaligen St. Ottilienkapelle kam es zu einem Zusammenstoß der beiden Kriegsparteien. Die Pfarrbücher belegen, dass die Gefallenen vor der Kapelle bestattet wurden.
Auch die Pest wütete 1635 in der Gegend um Memmingen. Es ist aber nicht bekannt, inwieweit Amendingen davon betroffen war. Als wichtigste Folge des Krieges verkaufte das Kloster Rot am 16. Juli 1642 das Patronatsrecht mit dem Zehnten und andere Besitzungen in Amendingen an die Kartause Buxheim. Die Kirche in Amendingen wurde 1655 durch den Einsturz des Turmes zerstört. Dieses Ereignis führte zur Errichtung eines behelfsmäßigen Baues, der 1661 eingeweiht wurde. Im Jahr 1671 wurde die Herrschaft durch die Erben der Neubronnerschen Familie in zwölf Teile gespalten. Trotz eines eingesetzten Verwalters für alle zwölf Teile gab es bald Zwist. Der Großteil wurde ab 1705 an das Memminger Unterhospital veräußert.
Im Jahr 1752 begann der Bau der heutigen Kirche, deren Chor nicht mehr nach Osten, sondern nach Norden ausgerichtet ist. 1754 war der Bau vollendet und wurde am 12. Oktober 1755 feierlich eingeweiht.
=== 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg ===
Bis 1805 blieb das Dorf im Bereich der Herrschaft Eisenburg. Nachdem der Friede von Lunéville dem Kurfürstentum Bayern die Hoheit über die schwäbischen Gebiete brachte, übernahm in Amendingen die Krone Bayerns am 31. Dezember 1805 mittags nach zwei Uhr offiziell die Landeshoheit. Damit wurde es eine eigenständige bayerische Gemeinde. Zu Amendingen gehört seitdem auch die in Richtung Eisenburg liegende Flur und das Landschloss Grünenfurt.
Im Jahr 1866 ereignete sich in Amendingen eine Katastrophe. Sie ging unter dem Namen Der große Brand von Amendingen in die Chronik ein. In der Memminger Wochenzeitung vom 3. Oktober 1866 (Nr. 79) war Folgendes zu lesen:
Da die Häuser zu dieser Zeit fast ausschließlich aus Holz gebaut und die Dächer mit Stroh gedeckt waren, konnte sich das Feuer schnell ausbreiten. Die Größe des Brandes ist aus dem Einsatz von 20 Feuerwehren erkennbar. Der Brand hatte zur Folge, dass sich das gesamte Ortsbild veränderte. Der Neuaufbau erfolgte auch unter dem Gesichtspunkt, wie eine solche Katastrophe zukünftig verhindert werden könnte. Einige Höfe wurden verschoben oder umgesiedelt, um die Bebauung aufzulockern. Nur durch die Tatsache, dass bei der Verschiebung notarielle Verträge notwendig waren, weiß man heute, dass sieben Höfe und Häuser abbrannten. Über andere abgebrannte Häuser liegen keine Informationen vor.
1904 übernahm Johann Dirr das Bürgermeisteramt von seinem Vater. Er leitete mehr als 40 Jahre, auch im Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Geschicke Amendingens.
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges hatte Amendingen rund 700 Einwohner. Nach Kriegsende siedelten sich wegen der Nähe zu Memmingen zahlreiche Arbeiter, Beamte und Gewerbetreibende an. Durch den Zuzug begünstigt, bildeten sich nach und nach zwei politische Hauptströmungen im Ort. Die größere Gruppe stellte hierbei die christlich-bürgerliche Mitte der Bayerischen Volkspartei und des Zentrums. Dazu kam die sozialistische Linke der Arbeiterschaft (Sozialdemokraten und Kommunisten). Außerdem war auch der Bauernbund als rechtsgerichteter loser Interessenverband sehr stark vertreten. Wegen der konträren politischen Meinungen kam es auch öfter zu Streitereien innerhalb des Ortes. Bezeichnend dafür war die Existenz zweier Sportvereine, der des katholischen Gesellenvereins und der Sportverein der Arbeiter, die beide die gleichen Sportarten ausübten, ohne in zehn Jahren ein einziges Mal gegeneinander anzutreten.
Durch einen nie ermittelten Brandstifter gab es um 1930 mehrere Großbrände im Ort. 1923 wurde das neue Schulgebäude, der heutige Kindergarten, eingeweiht.
Bis 1933 gewannen die Nazis unter Hitler auch in Amendingen immer mehr Anhänger für ihre NSDAP. Allerdings blieb mit etwa 20 % der Stimmen das Interesse relativ gering. Die Ursache dafür lag in der katholischen Einstellung des überwiegenden Teils der Einwohner und an den linken Arbeiterparteien. Erst mit der Machtübernahme Hitlers wurde eine eigene Ortsgruppe der NSDAP gegründet. Zugleich sollten die alten Gemeinderäte und Bürgermeister Dirr abgesetzt und durch Parteimitglieder oder Anhänger der Partei ersetzt werden. Der örtliche NSDAP-Vorsitzende Göppel sollte im Auftrag der Kreisleitung das Amt des Bürgermeisters übernehmen. Durch Dirrs bereits 30-jährige Tätigkeit als Bürgermeister und wegen des Vertrauens der Amendinger Bürgerschaft zu ihm, sah Göppel ein, dass Dirr der Geeignetere war und bat ihn deshalb, im Amt zu bleiben. Allerdings musste Dirr dafür in die Partei eintreten. Göppel selbst wurde stellvertretender Bürgermeister. Die Ortsgruppe übernahm es, die befohlenen festlichen Veranstaltungen wie Maifeiern, Erntedankfest und andere zu organisieren sowie den Sport und die NS-Einrichtungen zu fördern. Bis zum Anfang des Krieges stieg die Mitgliederzahl der Partei von 10 auf 80.
=== Amendingen im Zweiten Weltkrieg ===
Amendinger Soldaten waren bereits am Überfall auf Polen beteiligt. Dabei gab es bereits die ersten Opfer des Krieges. Beim Balkanfeldzug im April 1941 waren viele Amendinger bei den Gebirgstruppen im Einsatz. Auch im Kessel von Stalingrad kämpften Amendinger Soldaten.
Ab Anfang 1943 war Amendingen wegen des in der Nähe liegenden Fliegerhorst Memmingerberg von alliierten Luftangriffen bedroht. Aus der fast völlig zerstörten Stadt Essen trafen im gleichen Jahr rund 50 Flüchtlinge, hauptsächlich Frauen und Kinder, ein. Bald kamen noch etwa zehn schlesische Familien dazu.
Ab März 1945 lagen in den Memminger Lazaretten rund 4.000 verwundete Soldaten. Der Bürgermeister der Stadt Memmingen versuchte, den Standortarzt zu einem Antrag zu bewegen, Memmingen mit Rücksicht auf die große Zahl Verwundeter als Lazarettstadt, also als offene Stadt, zu erklären und somit kampflos zu übergeben. Dies hätte zur Folge gehabt, dass auch Amendingen nicht verteidigt worden wäre. Allerdings lehnte der Arzt die Bitte mit der Erklärung ab, er sei viel zu sehr Soldat und habe die Pflicht, auch den letzten Sandhaufen zu verteidigen.
Der Flüchtlingsstrom von Westen über Egelsee und Ulm nahm immer größere Ausmaße an. Gegen Mitte April setzte der Rückzug des deutschen Heeres vom Westen ein. Die Kolonne bewegte sich vorbei an Amendingen durch die Stadt Memmingen. Die im Lager Heuberg auf der Schwäbischen Alb stationierte Wlassow-Armee aus sowjetischen Kriegsgefangenen und „Hilfswilligen“, die von Heinrich Himmler rekrutiert worden waren, zog auf ihrem Rückzug durch Amendingen. Der größte Teil der schätzungsweise 10.000 Mann begab sich in den nahen Gemeindewald, um dort zu biwakieren. Einige hundert blieben im Dorf und übernachteten dort. Sie brachen in verschiedene Häuser ein und plünderten diese. Bald zogen sie nach Osten weiter.
Bei schweren Luftangriffen am 20. April 1945 auf den Fliegerhorst Memmingerberg und Bahnanlagen in Memmingen fielen auch zirka 30 Bomben auf Amendinger Gebiet. Außer an den Bahngleisen, in Höhe des heutigen Sportplatzes, kam es zu keinen nennenswerten Schäden.
Am 26. April 1945, gegen sechs Uhr früh, wurde ein erster Artilleriebeschuss vernommen. Das sieben Kilometer entfernte Heimertingen war bereits eingenommen und dabei schwer beschädigt worden. Nachdem die amerikanischen Truppen noch am gleichen Tag ein Ultimatum zur Kapitulation Memmingens gestellt hatten, wurde beschlossen, die Stadt und umliegende Dörfer – auch wegen der vielen Verwundeten in den Lazaretten – kampflos zu übergeben. Auf Anordnung des Ortsgruppenleiters der NSDAP fuhr der Ortsbauernführer im Laufe des späteren Tages ins Rathaus nach Memmingen, um dort für die Gemeinde Amendingen eine Solidaritätserklärung für eine kampflose Übergabe zusammen mit der Stadt Memmingen abzugeben.
Am frühen Nachmittag übergaben Bürgermeister Dirr und der Ortsgruppenleiter Göppel den Ort kampflos. Dirr gab zudem die Erklärung ab, dass Amendingen frei von deutschen Soldaten sei und nicht geschossen werde. Eine Gruppe französischer Kriegsgefangener machte sich bald zum Sprecher für die Amendinger. Sie hatten größtenteils zwei Jahre und mehr bei den Bauern im Dorf gearbeitet und erklärten den Amerikanern, dass sie von den Bauern und auch von der übrigen Bevölkerung gut behandelt worden waren.
Bei der Einnahme des Ortes gab es einen Zwischenfall bei der alten Mühle in der sogenannten Neuen Welt. Ein Todesopfer war zu beklagen, als der Hausbesitzer des in der Villa Stetter untergebrachten Bürgermeisteramtes die verschlossene Tür nicht rechtzeitig öffnen konnte und von den Schüssen getroffen wurde, welche ein amerikanischer Soldat zur Sprengung des Schlosses abgegeben hatte. Sonst verlief der Einmarsch der Amerikaner ohne Probleme. Die Panzer zogen weiter, um die Stadt Memmingen zu besetzen. Der letzte der 100 Amendinger Kriegsgefangenen kehrte erst fünf Jahre später zurück. Von den 350 zu den Waffen gerufenen Männern waren 64 gefallen und 35 vermisst.
=== Nachkriegszeit bis heute ===
Die Amerikaner blieben etwa 14 Tage bis zur Kapitulation Deutschlands im Ort. Ein kleiner Stab wurde nach dem Abzug im Ort belassen, um weiterhin für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die Belange der amerikanischen Militärregierung durchzusetzen. Die in großer Zahl sich frei bewegenden Zwangsarbeiter zogen mehrere Tage plündernd durch das Land. Die Amerikaner hatten es ihnen gestattet, weshalb sich niemand dagegen wehren konnte. Man hörte in allen umliegenden Ortschaften von Massendiebstählen und Bränden. Dank der Aussage der französischen Kriegsgefangenen wurde in Amendingen allerdings darauf geachtet, dass, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nichts passierte.Nach 41-jähriger ununterbrochener Tätigkeit wurde Bürgermeister Johann Dirr von den Amerikanern wegen seiner Parteizugehörigkeit abgesetzt. Ein halbes Jahr später erlag er einem Schlaganfall. Als sein Nachfolger wurde von der Besatzungsmacht der Mühl- und Sägewerksbesitzer Josef Höfelmayer kommissarisch eingesetzt. Im Februar 1946 fanden die ersten freien Gemeindewahlen statt, bei denen der Bauer Josef Riedmiller zum Bürgermeister der Gemeinde Amendingen gewählt wurde.
Aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und vor allem aus dem Raum Jägerndorf (Krnov) im Sudetengebiet kamen 290 Flüchtlinge und Vertriebene nach Amendingen. Für die 900 Einwohner zählende Gemeinde bedeutete dies eine große Belastung.
In den Jahren 1949 und 1950 kehrten die letzten Kriegsgefangenen aus Russland und anderen östlichen Ländern nach Hause zurück. Die Wohnungsnot war immer noch groß. Es wurden in der nachfolgenden Zeit einige Sozialbauten, wie 1950 ein Sechsfamilienhaus am Ortsrand oder 1952 zehn Eigenheime an der Stoll-Wespach-Straße errichtet. Bei der Flurbereinigung im Winter 1953/54 wurde mit der Regulierung der Memminger Ach begonnen. Das vormals künstlich angelegte Bachbett wurde aufgefüllt und der Ach ihr nahezu natürlicher Lauf zurückgegeben. Für die Ansiedlung neuer Industrien zur Beschaffung von Arbeitsplätzen musste die Gemeinde zusammen mit dem Landkreis viel Geld investieren. Schließlich siedelte sich die Firma Metzeler-Schaumgummi-Werke zusammen mit der Teppichfabrik Cord GmbH an und baute eine großzügig angelegte Fabrik.
Bevorzugt stellte der Betrieb Arbeitskräfte aus Amendingen ein, was zu einer Minderung der großen Arbeitslosigkeit führte. Die Räume der in der Schule notdürftig untergebrachten Gemeindeverwaltung waren zu eng geworden. Der Gemeinderat kaufte deshalb den Hof eines Bauern. Auf dessen Grund am heutigen Ulrichsplatz wurde ein Gemeindehaus errichtet. Im Neubau wurden auch die Poststelle und die Freiwillige Feuerwehr untergebracht. 1956 trat bei den Gemeindewahlen Bürgermeister Riedmiller aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr an. Zum Nachfolger wurde Henning von Rom gewählt.
Die günstige geographische Lage Amendingens übte eine große Anziehungskraft aus. Die Bautätigkeit für Industrie und Handwerk und auch der private Wohnungsbau stiegen rapide an, somit wuchsen auch die Steuereinnahmen rasch. Mit dem sozialen Wohnungsbau entstanden Wohnungen für die Flüchtlingsfamilien, so dass die große Wohnungsnot gelindert wurde.
In vier Bauabschnitten wurde das gesamte Straßennetz in den Jahren 1959 bis 1963 gebaut. Neben dem Grundausbau, der Verlegung von Randsteinen und der Sicherung des Wasserablaufes wurden die Straßen auch mit neuen Asphaltdecken versehen. Im Oktober 1964 begann der Bau einer neuen Schule, die am 16. Juli 1966 eingeweiht wurde. Die alte Schule wurde zum Kindergarten.
Am 1. Juli 1972 wurde Amendingen im Zuge der Gebietsreform in die Stadt Memmingen eingemeindet. Damit endete die kurze Phase der Unabhängigkeit des Ortes. Das Rathaus wird heute von der Stadtverwaltung Memmingen und der Freiwilligen Feuerwehr Amendingen e. V. genutzt. In den 1970er-Jahren wurde auch die B18 am Südrand des Ortes zur A 96 ausgebaut. Diese führt auch heute noch mitten durch den Ort und trennt den alten Ortskern von den neuen Siedlungen wie der Römerhofsiedlung, welche ihren Namen aufgrund der dort gefundenen Reste der Villa rustica trägt.
Zu Differenzen zwischen den Amendingern und Memmingen kam es im Laufe der Jahre vor allem durch den immer wieder verzögerten Bau einer neuen Leichenhalle auf dem Friedhof und wegen der sich drastisch zuspitzenden Situation an der Volksschule Amendingen. Dort wurden immer mehr Schüler auf beengtem Raum unterrichtet. Erst 1986 wurde, nach vielen Diskussionen, der Ausbau der Amendinger Schule in Angriff genommen. Vom 21.–23. Juni 1985 wurden der neue Sportplatz und das Sportheim des SV Amendingen eröffnet. Im selben Jahr, am 27. September, wurde auch das Musikheim, das an den Kindergarten angebaut worden war, eingeweiht.
Das Amendinger Brunnenfest findet seit der Einweihung des Brunnens vor dem ehemaligen Rathaus am 2. Juni 1991 jährlich statt.
Das Gewerbegebiet Nord, das zum größten Teil auf Amendinger Flur liegt, entwickelte sich immer weiter. Es ist heute das zweitgrößte zusammenhängende Gewerbegebiet in Schwaben.Durch Platznot, Unfallgefahr und das Fehlen verschiedener Funktionsräume wurde bereits 1993 eine erste Kostenaufstellung für einen Anbau des alten Feuerwehrhauses mit Schulungsraum und Nassräumen in Auftrag gegeben. Nachdem sich die Platzsituation als unzureichend herausstellte wurde ein komplett neues Feuerwehrhaus geplant. Allerdings vergingen noch einige Jahre bis zum ersten Spatenstich im März 2017. Als neuer Standort wurde ein Grundstück in der Donaustraße nahe dem Gewerbegebiet Nord gewählt. Knapp 4 Millionen Euro hat die neue Feuerwache gekostet. Auf einer Nutzfläche von 1100 Quadratmeter bietet die Fahrzeughalle Platz für bis zu sechs Feuerwehrfahrzeuge, zudem gibt es Werkstatt- und Lagerflächen sowie einen Verwaltungsbereich mit mehreren Schulungs- und Funktionsräumen. Das neue Feuerwehrhaus wurde am 13. April 2019 feierlich eingeweiht.
=== Wappen ===
=== Religionen ===
Die Gemeinde ist, bedingt durch die historische Entwicklung, vorwiegend katholisch. Das Zentrum bildet die barocke Kirche St. Ulrich. Später bildete sich durch Zuzug eine evangelische Gemeinde, deren Gemeindezentrum seit 1998 im Amendinger Schlössle beherbergt ist. Eine weitere Kirche untersteht der Priesterbruderschaft St. Pius X.
=== Einwohnerentwicklung ===
* Schätzung
== Politik ==
Der ehemalige Gemeinderat bestand aus acht Gemeinderäten, dem Bürgermeister und dessen Stellvertreter. Letzter Bürgermeister war der Kaufmann und Besitzer des Schlosses Grünenfurt, Henning von Rom. Nach der Kommunalwahl im März 2008 sind im Stadtrat von Memmingen sechs Räte und die stellvertretende Bürgermeisterin aus Amendingen.Die ehemaligen Gemeindevorsteher und Bürgermeister waren, soweit bekannt:
? – 1904: Dirr sen.
1904–1946: Johann Dirr
1946–1946: Josef Höfelmayr (kommissarisch)
1946–1956: Josef Riedmiller
1956–1972: Henning von RomAm 9. Dezember 1972, kurz nach der Eingemeindung, wurde auf Betreiben der Amendinger Bürger Xaver Mang, Heinrich Lacher und Stefan Binzer ein Bürgerausschuss gegründet. Die Aufgabe des Bürgerausschusses sollte sein, die Einhaltung der bei der unfreiwilligen Eingemeindung zu Memmingen schriftlich und mündlich gemachten Zugeständnisse von seiten der Stadt in sachlicher Zusammenarbeit zu überwachen. Der Bürgerausschuss besitzt keinerlei Rechte und kann nur durch geschickte Handlungsweise Erfolge erzielen. Es darf niemals der Eindruck entstehen, als wollte er zwischen der Stadt und dem Ortsteil Amendingen eine Mauer aufbauen. Der Ausschuss soll den für Amendingen zuständigen Stadträten nach besten Kräften unterstützen und arbeitet auch direkt mit der Stadt zusammen. Die Mitglieder des Ausschusses werden alle drei Jahre gewählt. Wahlberechtigt sind alle Amendinger ab 18 Jahren.
== Kultur und Sehenswürdigkeiten ==
=== Historische Bauwerke ===
==== Amendinger Schlössle ====
Das Amendinger Schlössle wurde um 1730 gebaut. Ursprünglich war es eine Kupferschmiede und Drahtzieherei. Um den Schmiedehammer zu bedienen, grub man ein zweites Bachbett, das 1960 wieder zugeschüttet wurde. Später beherbergte das Schlössle vorübergehend die Post.
Da es unter Denkmalschutz steht, durfte es nicht abgerissen werden. So gelangte es in den Besitz mehrerer Personen, die es aber angesichts hoher Renovierungskosten verfallen ließen. Im Jahre 1995 übernahm die evangelische Kirche das Gebäude und sanierte es. 1998 wurde es als evangelisches Gemeindehaus eingeweiht.
==== Kirche St. Ulrich ====
Die römisch-katholische Pfarrkirche St. Ulrich entstand zwischen 1752 und 1755 im Barock- beziehungsweise Rokokostil. Das Patronatsfest wird am 4. Juli gefeiert (Ulrich von Augsburg). Die bedeutendsten Kunstwerke in der Kirche sind eine Madonna Ivo Strigels und eine Statue der heiligen Ottilie (um 1500).
==== Kriegerdenkmal ====
Das Kriegerdenkmal mit St. Georg hoch zu Ross auf einem großen Sockel, ein Werk des Memminger Bildhauers Daumiller, wurde vom Veteranenverein 1923 am St.-Ulrich-Platz errichtet. Die Kosten brachte zum größten Teil die Gemeinde auf, der Rest wurde durch Spenden innerhalb des Vereins gedeckt.
==== Hammerschmiede ====
Am Haienbach bey der segmül stand die erste Hammerschmiede mit Hammer, Bollier vnd Schleiff. Sie wird erstmals 1465 bei der Verleihung an einen Blattner (Hammerschmied) erwähnt. Vermutlich wurde sie bald darauf an das Nordende der Gemeinde verlegt. Sehr lange Zeit war sie, ebenso wie das Schlössle, als Kupferhammer im Besitz des Memminger Unterhospitals. In den 1930er-Jahren wurden die Hämmer und die Wasserkunst entfernt, nachdem dort hauptsächlich nur noch Glockenschwengel geschmiedet worden waren. Die Schmiede wurde bis in die 1950er Jahre benutzt. 1975 wurde sie trotz ihres erhaltenswerten Charakters abgerissen, um einer Wohnbebauung Platz zu machen. Der Straßenname An der Hammerschmiede erinnert noch an den Standort.
==== Tafern ====
Die Tafern, heute Gastwirtschaft zum Adler, ein schlichtes Satteldachhaus mit einem schmiedeeisernen Ausleger mit stilisierten Ranken und Blumen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, war zugleich Gastwirtschaft und herrschaftliche Brauerei, die die Herrschaft Eisenburg und die dazugehörenden Orte mit Bier zu versorgen hatte. Das Gasthaus wurde 1475 das erste Mal erwähnt, als die Sättelin die Herrschaft teilten. Der erste Wirt wurde 1551 genannt. Das Gebäude gehört der Memminger Brauerei und ist weiterhin eine Gastwirtschaft.
=== Vereine ===
Der älteste Verein des Ortes ist die Freiwillige Feuerwehr Amendingen. Sie ist die zweitgrößte Feuerwehr im Bereich der Stadt Memmingen. Nach dem großen Brand von Amendingen im Jahre 1866 gab es schon Bestrebungen, eine Freiwillige Feuerwehr einzurichten. Allerdings wurde diese erst einundzwanzig Jahre später, am 15. Juni 1887, gegründet. Der größte Brand in der Geschichte der Feuerwehr ereignete sich 1977 in der Fertigung der Firma Metzeler. Der Brand dauerte vier Tage an und die Bekämpfung erwies sich als so schwierig, dass unter anderem die Berufsfeuerwehren aus München und Augsburg sowie ein Schaumlöschfahrzeug der Flughafenfeuerwehr Frankfurt hinzugezogen werden mussten. Die Feuerwehr war aber nicht nur ein Verein, sondern zugleich eine Einrichtung der Gemeinde. Eine juristische Klärung dieser Doppelnatur gibt es erst seit der Veröffentlichung des Bayerischen Feuerwehrgesetzes (BayFwG) im Jahr 1985. Danach ist die Feuerwehr eine gemeindliche Einrichtung, zu der aber parallel der Feuerwehrverein existiert.
Der Löschzug der Feuerwehr besteht aktuell aus folgenden Fahrzeugen:
Tanklöschfahrzeug 16/25 (Florian Amendingen 21-1)
Löschgruppenfahrzeug LF8-TS (Florian Amendingen 48-1)
Mannschaftstransportfahrzeug (Florian Amendingen 14-1)
Pulverlöschanhänger P250 (wird meistens vom Löschgruppenfahrzeug LF8-TS gezogen, wurde im Jahr 2014 ausgemustert)
Ölschadenanhänger (wird meistens vom Mannschaftstransportfahrzeug gezogen)Zusammen mit dem LF 16-TS der Feuerwehr Steinheim bilden die Fahrzeuge den dritten Löschzug der Stadt Memmingen. Sie ist die Erstruffeuerwehr für Einsätze im Gewerbegebiet Nord und am Autobahnkreuz Memmingen. Die Fahrzeuge und das Vereinsheim sind bis zum 13. April 2019 im alten Rathaus untergebracht gewesen. Seit dem Tag ist die Freiwillige Feuerwehr Amendingen im neuen Feuerwehrhaus in der Donaustraße 111 untergebracht. Zurzeit leisten ca. 45 Feuerwehrmänner und -frauen aktiven Feuerwehrdienst. Außerdem zählt der Feuerwehrverein etwa 40 passive bzw. fördernde Mitglieder. In der Jugendfeuerwehr werden zurzeit 14 Jugendliche auf den Feuerwehrdienst vorbereitet. Zum Einsatzgebiet der Feuerwehr gehört auch das Gewerbegebiet Nord mit seinen über 100 Betrieben.
Der zweitälteste Verein ist der Sportverein Amendingen. Er wurde 1923 als Turnverein gegründet. Nach der Auflösung während des Krieges erfolgte 1946 die Neugründung. Der Verein bietet eine große Bandbreite verschiedener Sportarten. Die Damen-Faustballgruppe des SVA spielt aktuell in der zweiten Bundesliga.
Der Musikverein Amendingen wurde am 1. Oktober 1954 gegründet. Er sorgt für die musikalische Umrahmung der verschiedenen Feste, nimmt an Wertungsspielen teil und kümmert sich um die sonstigen musikalischen Aktivitäten. Daneben haben sich ein Theaterverein, ein Schnupfclub und kleinere Musikgruppen gebildet. Mit den Nachbarkapellen von Steinheim und Buxheim wurde 2000 die Jugendkapelle ABS gegründet. Später kamen die jungen Musiker der Memmingerberger Kapelle hinzu. Um die Nachwuchsarbeit weiter zu fördern, beschloss die Vorstandschaft im Jahr 2002, einen Förderverein der musizierenden Jugend Amendingen zu gründen. Durch musikalische Früherziehung werden schon die Kleinsten an Instrumente herangeführt. Der Verein ist Mitglied im Allgäu-Schwäbischen Musikbund. Er hat zurzeit (2008) 43 Aktive und wird durch 202 passive Mitglieder unterstützt.
=== Regelmäßige Veranstaltungen ===
Seit der Einweihung des Brunnens vor dem ehemaligen Rathaus am 2. Juni 1991 findet jedes Jahr dort das Brunnenfest statt. Dieses Fest wird abwechselnd von der Feuerwehr und dem Musikverein organisiert. Am Sonntag nach dem Ulrichstag (4. Juli) wird im und vor dem Pfarrheim und der Kirche das Pfarrfest veranstaltet. Das traditionelle Weinfest findet in der Regel am letzten Wochenende im September in der Turnhalle der Amendinger Schule statt. Am Funkensonntag, also am ersten Sonntag nach Aschermittwoch, wird auf der Amendinger Flur, Richtung Grünenfurt, meist ein Funkenfeuer abgebrannt.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
=== Wirtschaft ===
Amendingen war lange landwirtschaftlich ausgerichtet und durch Bauernhöfe geprägt. Der älteste Betrieb des Dorfes ist der Spezialfahrzeughersteller Goldhofer. Er entwickelte sich aus der Dorfschmiede Amendingens, die sich neben dem heutigen evangelischen Gemeindehaus befand. Der größte Teil des Gewerbegebiets Nord, des zweitgrößten zusammenhängenden Gewerbegebiets in Schwaben, befindet sich auf der Amendinger Flur. Viele Betriebe sind in ihrer Branche Weltmarktführer. Es gibt die Speditionen Dachser, Gebrüder Weiss, Epple und Honold. Buzil, ein weltweit agierendes Unternehmen für Reinigungsmittel, hat ebenfalls seinen Sitz im Gewerbegebiet, genauso wie die aus Amendingen stammende Goldhofer AG, der weltweit führende Hersteller von Spezialtransportfahrzeugen. Ein großes Fachmarktzentrum mit Einzelhändlern befindet sich ebenfalls am Rande des Gewerbegebietes.
=== Verkehr ===
Der Ortsteil ist durch die A 96 sowie die Bundesstraße Augsburg–Memmingen (B 300) an das überregionale Verkehrsnetz und durch zwei Buslinien an den ÖPNV Memmingens angebunden.
Am östlichen Ortsende führt die Illertalbahn ohne Halt vorbei. Im Zuge der Regio-S-Bahn Donau-Iller ist die Einrichtung einer Haltestelle in Ortsnähe geplant.
=== Bildung ===
Das erste Schulhaus, ein kleines Backsteingebäude, stand neben der heutigen Sparkasse. Nachdem die Schülerzahl angestiegen war, wurde die vormals einklassige Schule in zwei Stufen gegliedert. Die Kleine Schule mit den Schülern der 1. und 2. Jahrgangsstufe befand sich vorübergehend im alten Mesnerhaus neben der Kirche. Die Große Schule, in der Schüler der 3. bis zur 7. Jahrgangsstufe unterrichtet wurden, verblieb im alten Backsteingebäude. Die erste große Schule in Amendingen wurde während der Inflationszeit erbaut. Im Jahr 1954 wurde ein dritter Schulsaal angebaut und einige Jahre später ein weiterer Saal im barackenähnlichen Stil hinzugefügt.
Nach längerer Suche wurde ein Grundstück am Ostrand des Dorfes für ein neues Schulgebäude ausfindig gemacht. Mit einem Kostenaufwand von rund zwei Millionen D-Mark entstand ein Schulviertel, das eine achtklassige Volksschule mit Turnhalle beherbergte. Der Bau wurde im Oktober 1964 begonnen und am 16. Juli 1966 der Neubau eingeweiht. Kurz nach der Fertigstellung wäre allerdings schon eine Erweiterung nötig gewesen, da die Schule zur Verbandsschule geworden war. Die Schülerzahl stieg damit rapide an. Nach häufigem und dringlichem Aufzeigen der Schulraumnot wurde die Schulhauserweiterung 1985 genehmigt. Die Schule konnte zum Schuljahresbeginn 1987 ihrer Bestimmung übergeben werden. 1996 wurde der Bau ein weiteres Mal mit dem Anbau von acht weiteren Klassen- und Fachräumen an der Nordseite der ersten Erweiterung vergrößert. Am 5. August 2008 fand der erste Spatenstich zur Erweiterung der Turnhalle statt.Die Schule umfasst eine Grund- und Mittelschule von der 1. bis zur 9. Klasse. Zusätzlich wird auch ein Mittlere-Reife-Zug von der 7. bis zur 10. Klasse angeboten. Zum heutigen Schulsprengel gehören die Grund- und Hauptschüler der Memminger Ortsteile Amendingen und Eisenburg und der politisch selbstständigen Gemeinden Buxheim (5.–9. Klasse), Heimertingen, Fellheim und Pleß (7.–9. Klasse). Zur Schule gehen aktuell 570 Schüler und das Kollegium umfasst 49 Lehrer. Sie wurde 2011 in eine Grund- und Mittelschule umgewandelt.
Die Volksschule Amendingen wurde 1979 bundesweit bekannt, als ein Lehrer einen Schüler ohrfeigte und dieses vom Obersten Landesgericht in Bayern mit Bezug auf das Gewohnheitsrecht toleriert wurde. Dieses Urteil führte zu einer Gesetzesänderung in Bayern, die die Prügelstrafe endgültig abschaffte.
== Persönlichkeiten ==
Der Maler Josef Madlener wurde 1881 in Amendingen geboren. Eine Postkarten-Reproduktion seines Gemäldes Der Berggeist diente dem Schriftsteller J. R. R. Tolkien als Inspiration für den Zauberer Gandalf im Roman Der Herr der Ringe.
Der viermalige Fußballnationalspieler Franz „Bulle“ Roth (* 1946), der von 1966 bis 1978 beim FC Bayern München spielte, ist ebenfalls Amendinger.
Der ehemalige bayerische Landwirtschaftsminister Josef Miller (* 1947) lebt in Amendingen und ist Stadtrat in Memmingen.
== Literatur ==
Joachim Jahn u. a.: Die Geschichte der Stadt Memmingen – Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt. Theiss, Stuttgart 1997, ISBN 3-8062-1315-1.
Paul Hoser u. a.: Die Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Neubeginn im Königreich Bayern bis 1945. Theiss, Stuttgart 2001, ISBN 3-8062-1316-X.
Uli und Walter Braun: Eine Stunde Zeit für Memmingen – vom Umland ganz zu schweigen. Maximilian Dietrich Verlag, Memmingen, ISBN 3-934509-30-4 (div. Auflagen).
Maximilian Dietrich: Der Landkreis Memmingen. Deutscher Kunstverlag, Memmingen 1971, ISBN 3-87164-059-X.
Günther Bayer: Memmingen – Alte Ansichten aus Stadt und Land. Verlag Memminger Zeitung, Memmingen 1990, ISBN 3-9800649-9-9.
Stefan Binzer: Amendingen in Vergangenheit und Gegenwart – Eine kurzgefasste Ortsgeschichte. Amendingen 1957.
Stefan Binzer: Amendinger Chronik. Geschichte Amendingens – Über 30 Jahre in Krieg und Frieden – Vom Ersten Weltkrieg bis 1964. 1964.
== Weblinks ==
Der Ortsteil auf Memmingen.de
Bürgerausschuss Amendingen
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Amendingen
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Arkansas Traveler
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= Arkansas Traveler =
Der Arkansas Traveler oder Arkansas Traveller, bisweilen auch Arkansaw Traveler, ist eine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene Figur der US-amerikanischen Folklore und Populärkultur. In zahlreichen Abwandlungen existiert die Geschichte eines gut gekleideten Reisenden zu Pferd, des Arkansas Travelers, der einen auf der Fiddle spielenden Siedler um ein Nachtlager in dessen ärmlicher Hütte bittet. Der Siedler weist ihn zunächst unter Hinweis auf die beengten Verhältnisse und seine Armut zurück und versucht weiter vergeblich, auf der Fiddle eine vollständige Melodie zu spielen. Der Reisende lässt sich die Fiddle geben und spielt die ganze Melodie, worauf der Siedler ihm begeistert Kost und Logis anbietet.
Die erste Version der humoristischen Erzählung vom Arkansas Traveler soll von „Colonel“ Sandford „Sandy“ Faulkner (1806–1874) stammen, einem Plantagenbesitzer und Politiker aus Little Rock. In Ergänzung seiner Erzählung hat Faulkner demnach um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Melodie The Arkansas Traveler komponiert, die seither mit verschiedenen Texten unterlegt wurde. Zwei Unterhaltungskünstler, Joseph Tasso aus Cincinnati und Mose Case, werden von anderen Quellen als Urheber von Dialog und Melodie bezeichnet, andere wiederum schreiben beide Schöpfungen nicht greifbaren Verfassern des frühen 19. Jahrhunderts zu. Eine Variante der Arkansas Traveler war von 1949 bis 1963 der State Song und ist seit 1987 der State Historical Song des Bundesstaats Arkansas. Der Arkansas Traveler wurde häufig auf den Bühnen des Vaudeville aufgeführt, und um die Jahrhundertwende entstanden zahlreiche Aufnahmen von Sketchen auf Phonographenwalzen und Schallplatten.
Um 1856 malte Edward Payson Washbourne (1831–1860) sein Gemälde The Arkansas Traveler, mit dem berittenen Reisenden und dem vor seiner Hütte sitzenden Siedler. Reproduktionen dieses Gemäldes wurden 1859 und 1870 in den ganzen Vereinigten Staaten in hohen Auflagen als Kupferstich und Lithografie vertrieben. Durch diese Drucke und ihre Nachahmungen auf den Umschlägen von Liedersammlungen und Partituren wurde der Arkansas Traveler zusätzlich bekannt.
Das Paar des Arkansas Travelers und seines Partners, des armen, kinderreichen, stets betrunkenen und dummen Hillbilly der Ozarks, wurde zeitweise als diskriminierendes Stereotyp aufgefasst und heftig kritisiert. Der Arkansas Traveler blieb aber stets auch eine positiv wahrgenommene Symbolfigur des Bundesstaates Arkansas und wurde zum Namensgeber von Zeitungen, Radio- und Fernsehshows, eines Baseball-Teams, einer Tomaten- und einer Pfirsichsorte und eines vom Gouverneur vergebenen Ehrentitels.
== Die Geschichten vom Arkansas Traveler ==
Eine Niederschrift des Dialogs zwischen dem Arkansas Traveler und dem Siedler, wie sie um die Jahrhundertwende populär war, ist als Anhang der Autobiografie von William F. Pope (1814–1895) abgedruckt. Pope, der Sandford Faulkner noch selbst kennengelernt hat, gibt die Entstehungsgeschichte folgendermaßen wieder:
„Colonel“ Sandford C. Faulkner, ein wohlhabender Plantagenbesitzer aus dem Chicot County in Arkansas, hatte sich eines Tages in der Umgebung des Bayou Macon verlaufen und stieß schließlich auf die baufällige Hütte eines ärmlichen Siedlers. Dort entspann sich das Gespräch zwischen Faulkner und dem Siedler, der das löchrige Dach seiner Hütte nicht reparierte, weil es regnete, und der es bei schönem Wetter nicht reparierte, weil es dann nicht hereinregnete. Alle Fragen Faulkners nach Essen, Trinken und einem Platz für die Nacht wurden zurückgewiesen, und darüber hinaus bekam Faulkner auf seine Fragen wenig zielführende Antworten: Wohin geht diese Straße? – Keine Ahnung. Wenn ich morgens aufstehe ist sie immer hier. – Ich habe eben ein Pferd mit einem gebrochenen Bein gesehen. Tötet ihr hier keine Pferde mit einem gebrochenen Bein? – Nein. Wir töten sie mit einem Gewehr.
Während des Gesprächs versucht der Siedler auf seiner Fiddle eine Melodie zu spielen, bringt aber immer wieder nur die erste Hälfte heraus. Faulkner lässt sich die Fiddle geben und spielt beide Teile, womit er den Siedler zur Begeisterung bringt. Er bietet Faulkner den einzigen trockenen Platz in der Hütte, Futter für sein Pferd und reichlich von seinem versteckten Whisky an.Eine andere Variante spielt in der Zeit vor den Gouverneurswahlen 1840. Der spätere Wahlsieger Archibald Yell, die Senatoren William Savin Fulton und Ambrose Hundley Sevier, der spätere Senator Chester Ashley und „Colonel“ Faulkner befanden sich auf einer Wahlkampfreise und hatten in den Boston Mountains, einem Teil des Ozark-Plateaus, den Weg verloren. An der Hütte eines Siedlers fragte Faulkner als Sprecher der Reisegesellschaft nach dem Weg, und seine Begleiter amüsierten sich über den folgenden Dialog. Bei der Feier zur Amtseinführung des Gouverneurs und bei zahlreichen Gelegenheiten bis zu seinem Tod im Jahr 1874 wurde Faulkner dazu aufgefordert, sein Gespräch mit dem Siedler wiederzugeben. Er tat das in der Form eines Dialoges, in dem er beide Rollen übernahm und den kultivierten Reisenden dem mit einem breiten Dialekt antwortenden Siedler gegenüberstellte. In seine humoristische Wiedergabe des Gesprächs nahm Faulkner bald das Spiel auf der Fiddle auf, das dem Reisenden hilft, das Vertrauen und die Unterstützung des Siedlers zu gewinnen.Neben „Colonel“ Faulkner wird der als Sohn italienischer Eltern in Mexiko geborene und in Cincinnati, Ohio lebende Violinist, Komponist und Orchesterleiter Joseph Tasso (1802–1887) als Urheber des Dialogs genannt. Tasso hieß eigentlich Marie de los Angelos José Tosso und hatte am Pariser Konservatorium seine musikalische Ausbildung erhalten. Er soll den Arkansas Traveler bereits 1841 oder 1842 in Cincinnati als Dialog mit der Melodie als Begleitung dargeboten und sich selbst als Urheber von Dialog und Melodie bezeichnet haben. Andere Quellen geben ebenfalls an, dass die Geschichte in Ohio bekannt war und häufig dargeboten wurde, allerdings ohne einen Urheber zu benennen. Als dritter möglicher Urheber gilt Mose Case (um 1824–1885), ein albinotischer afroamerikanischer Unterhaltungskünstler aus Charlestown, Indiana, der auch als Komponist und Arrangeur tätig war. Case veröffentlichte Mitte der 1860er Jahre mehrere Partituren mit begleitendem Dialogtext, die ihn fast immer als Urheber von Melodie und Text angaben.Mary D. Hudgins (1901–1987), eine Kennerin der Musik und Folklore von Arkansas, weist allen drei vermeintlichen Urhebern lediglich die Rolle des Arrangeurs zu. Sowohl der Dialog als auch die Melodie seien deutlich älter. Hudgins nennt dazu konkrete Jahreszahlen. So soll der Arkansas Traveler 1845 auf einer Hochzeitsfeier in Columbus, Wisconsin gespielt worden sein. Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts erscheinende Zeitschrift Spirit of the Times nannte den Arkansas Traveler eine in Hot Springs, Arkansas beliebte Tanzmelodie. Ein Sketch auf der Basis des Dialogs ist 1852 in Salem, Ohio aufgeführt worden. Den Schiffern auf dem Mississippi soll lange vor 1855 sowohl der Dialog als auch die Melodie bekannt gewesen sein. Ein berühmtes Rennpferd der Zeit um 1840 hieß Arkansas Traveler. Hudgins hielt es für unwahrscheinlich, dass Faulkner, Tasso und Case einander gekannt haben. Aufgrund deutlicher Unterschiede der Dialoge und der Melodien nimmt sie an, dass alle drei unabhängig voneinander aus einer bereits existierenden Quelle geschöpft haben. Die von Hudgins angeführten und datierten Beispiele sind allerdings nicht durch Quellenangaben belegt und könnten nur den um 1824 geborenen Mose Case sicher als Urheber ausschließen.Die Geschichte vom Arkansas Traveler wurde von der gebildeten Elite der Städte, auch wegen ihres derben Humors, nur als gelegentliche Darbietung prominenter Mitglieder der Gesellschaft oder Vertretern gehobener Unterhaltung zur Kenntnis genommen. Sie gewann aber rasch große Popularität in der ländlichen Bevölkerung. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war sie als Erzählung und als Liedtext in Old Southwest und im Ohio Valley verbreitet. Als Sketch eines Alleinunterhalters oder zweier Darsteller wurde sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach in Sideshows, dem US-Vaudeville, in Zirkussen und in Gaststätten aufgeführt. Mit der Erfindung und Verbreitung von Phonographen und Grammophonen fand sie weitere Verbreitung, eine Reihe von Unterhaltungskünstlern veröffentlichten die Darbietung auf Tonträgern.Um den gemeinsamen Kern des gebildeten und wohlhabenden Reisenden und des einfältigen armen Siedlers, die durch ihr Spiel auf der Fiddle verbunden werden, existieren zahlreiche Varianten, die häufig individuellen Vorlieben von Erzähler oder Publikum entsprechen. So wird in einer Geschichte die Frage des Reisenden, ob es in der Gegend Presbyterianer gebe, von der Frau des Hauses mit oben an der Wand hängt einer, mein Mann zieht allem, was er schießt, das Fell ab beantwortet. Dahinter verbirgt sich eine Darstellung der Distanz zwischen den beiden Figuren. Der Arkansas Traveler ist offenbar Presbyterianer, ein Angehöriger einer Kirche, die in den Augen der einfachen Landbewohner eine High Church ist, eine Kirche, die in Liturgie und Theologie alte Formen pflegt, Modernisierungen ablehnend gegenübersteht und streng hierarchisch aufgebaut ist. Demgegenüber wird es sich bei dem Siedler und seiner Frau um Methodisten oder sogar um Baptisten handeln, deren bodenständige Glaubensgemeinschaften Gesinnung, Lebensführung und lokale Verantwortung der Gläubigen betonen. Die Gegenüberstellung zweier Protagonisten mit stark unterschiedlichem sozioökonomischem Status ist typisch für die humoristische Literatur des Old Southwest, des im Norden von Ohio River oder Tennessee River, im Osten von den Grenzen zu Virginia, North Carolina und Georgia, im Süden vom Golf von Mexiko und im Westen vom Red River begrenzten Teil des Antebellum South. Das Genre hatte seine Wurzeln in den raschen und tiefgreifenden Veränderungen, denen die Bevölkerung des Wilden Westens unterworfen war. In ihrem Bemühen, die Eigenheiten ihrer Heimat und ihrer Kultur zu dokumentieren, schufen die Schriftsteller häufig Karikaturen, die nur noch geringen Bezug zur Realität hatten. Darüber hinaus nimmt der Dialog die Spaltung des Arkansas-Territoriums und des jungen Bundesstaats in eine wirtschaftlich erfolgreiche Bevölkerung des Flachlands mit seinen Städten und Baumwollplantagen und die wirtschaftsschwache Bevölkerung des Berglands mit ihren kleinen Farmen auf.1866 schrieb der US-amerikanische Dramatiker Edward Spencer für den populären New Yorker Schauspieler Frank Chanfrau das Drama Down on the Mississippi. Das Leben des Protagonisten Jefferson gerät aus den Fugen, als ein Fremder seine Frau und seine Tochter entführt. Nach vielen Jahren der Suche findet der zu Wohlstand gekommene Jefferson seine Tochter wieder und kann den Fremden besiegen. Chanfraus Manager Thomas B. de Walden änderte das Stück, indem er die Geschichte des Arkansas Travelers als Prolog voranstellte und den Titel in Kit, the Arkansas Traveler änderte. Der Siedler Kit Redding wurde nunmehr zum Titelhelden und Reisenden, während der ursprüngliche Traveler zum Schurken wurde. Nach anfänglichem Misserfolg wurde das Bühnenstück äußerst erfolgreich und erlebte von 1870 bis zur Jahrhundertwende zahllose Aufführungen vor vollen Häusern, nach dem Tod Chanfraus im Jahr 1884 übernahm dessen Sohn Henry Chanfrau die Titelrolle. Für das US-amerikanische Genre des Border Drama ist Kit, the Arkansas Traveler einer der bedeutendsten Vertreter. Der Stoff wurde unter dem gleichen Titel 1914 verfilmt.
== Der Arkansas Traveler als Melodie und Song ==
Auch die Melodie des Arkansas Traveler soll auf „Colonel“ Faulkner, Mose Case oder Joseph Tasso zurückzuführen sein. Die Melodie wurde gedruckt erstmals 1847 als The Arkansas Traveller and Rackinsack Waltz in einem Arrangement von William Cumming von den Verlagen Peters and Webster in Louisville, Kentucky und Peters and Field in Cincinnati, Ohio herausgegeben. 1851 wurde sie A Western Refrain genannt, doch spätere Veröffentlichungen nannten die Melodie wieder The Arkansas Traveler. Es folgten zahlreiche weitere Arrangements, darunter eine um 1930 von dem Musikverlag G. Schirmer, Inc. veröffentlichte Orchesterfassung und Jazz-Adaptionen. The Arkansas Traveler ist eine der am häufigsten aufgeführten und veröffentlichten Melodien der US-amerikanischen Folklore.Die erste gedruckte Wiedergabe der Melodie mit einem begleitenden Dialog wurde zwischen 1858 und 1863 von Mose Case, einem seinerzeit populären Komponisten und Arrangeur, veröffentlicht. 1863 war dieselbe Version in Mose Cases Liederbuch War Songster enthalten. Im Dezember 1863 erschien eine Ausgabe bei Oliver Ditson & Co. in Boston, bei der Mose Case als Urheber angegeben war. All diese Ausgaben hatten nur eine sehr geringe Verbreitung. Erst das 1864 bei Dick & Fitzgerald in New York City erschienene Arkansas Traveler’s Song Book, bei dem die ersten fünf Seiten von Mose Cases Song eingenommen wurden, verschaffte dem Arkansas Traveler nationale Bekanntheit. Dick & Fitzgerald veröffentlichte seinerzeit eine Vielzahl von Liedern der Minstrel Shows, die für zehn Cents portofrei an jeden Ort der Vereinigten Staaten geschickt wurden und sehr zur Verbreitung von Stereotypen meist rassistischen Inhalts beitrugen. Auch der nun gedruckt erhältliche Dialog war gegenüber der Version Faulkners und dem wenige Jahre zuvor entstandenen Gemälde bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Insbesondere das verbindende Element, die gemeinsame Herkunft von Siedler, Reisendem und Erzähler oder Maler aus Arkansas, und die im Spiel auf der Fiddle gefundene Gemeinsamkeit der Akteure, gingen weitgehend verloren. Im Extremfall war der Siedler dumm und böswillig und der Reisende ein Besucher aus dem Osten, der sich nie wieder nach Arkansas wagte.Zu den Interpreten gehörte Len Spencer, der den Arkansas Traveler mehrmals alleine oder mit wechselnden Partnern für verschiedene Schallplattenproduzenten aufnahm. Die Veröffentlichungen erfolgten zwischen 1901 und 1919. Weitere Interpreten waren 1922 Steve Porter und Ernest Hare und 1925 Gene Austin und George Reneau als The Blue Ridge Duo mit einer Square-Dance-Version für die Edison Record Company. Eine 1922 von Eck Robertson und Henry Gilliland aufgenommene Version gehörte 2002 zu den ersten 50 in das National Recording Registry der Library of Congress aufgenommenen Tondokumenten. 1949 wurden die alte Melodie und ein dazu neu verfasster Text zum State Song ernannt, nachdem der Song Arkansas von Eva Ware Barnett wegen Streitigkeiten um das Urheberrecht ersetzt werden musste. 1963 waren die Streitigkeiten beigelegt und Arkansas wurde wieder State Song. 1987 wurde er durch zwei neue Songs zum 150-jährigen Bestehen des Bundesstaates ersetzt, Arkansas wurde nunmehr State Anthem und The Arkansas Traveler wurde State Historical Song.Das 1992 veröffentlichte Album Arkansas Traveler der Singer-Songwriterin Michelle Shocked enthält neben anderen traditionellen amerikanischen Folksongs auch eine Interpretation des Arkansas Traveler, wozu Jimmy Driftwood als Gast die Geschichte erzählt.
Die populär gewordene Melodie des Arkansas Traveler soll in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Tramps und Seeleute zurück nach Irland gebracht worden sein, wo sie als der Reel Soldier’s Joy oder die Ballade The Wind That Shakes the Barley Verbreitung gefunden hat. Tatsächlich dürfte die Ähnlichkeit des Arkansas Traveler darauf zurückzuführen sein, dass der Komponist, sei es Faulkner oder jemand anderes, Motive bereits existierender schottischer und irischer Folk Songs abgewandelt hat.
== Der Arkansas Traveler im Bild ==
=== Edward Washbournes Gemälde (um 1856) ===
Um 1856 malte Edward Washbourne sein Gemälde The Arkansas Traveler, mit dem er die Geschichte vom Arkansas Traveler ins Bild setzte. In einem Brief Washbournes an seinen Bruder vom Juni oder Juli 1856 erwähnt er den Arkansas Traveler und gibt an, dass er das offenbar zu diesem Zeitpunkt bereits fertige Bild stechen lassen möchte. Dazu kam es allerdings erst Jahre später, kurz vor Washbournes Tod. In seiner Ausgabe vom 31. März 1860 nannte der in Little Rock erscheinende True Democrat in einem Nachruf auf Washbourne The Arkansas Traveler ein wahrhaftiges Bild aus dem Süden, von einem Künstler des Südens. Ein zweites Gemälde Washbournes, The Turn of the Tune, zu dem er durch den großen Erfolg des Arkansas Traveller angeregt wurde, konnte er nicht mehr fertigstellen. Es befand sich zum Zeitpunkt seines Todes auf seiner Staffelei und zeigt eine Fortsetzung des Arkansas Traveler, nunmehr spielt der Traveler auf der Fiddle und der Siedler tanzt dazu.Zum Verbleib der beiden Originale liegt eine Reihe von Indizien vor, überwiegend Familienkorrespondenz der Washbournes. 1860 beschrieb Edwards Bruder Henry in einem Brief das Haus Cephas Washburns in Norristown. Das Haus des Vaters, der neun Tage vor seinem Sohn verstarb, war mit Gemälden Edwards geschmückt, die als Zeichen der Trauer mit schwarzem Krepp verhangen waren. Zu ihnen gehörte auch der Arkansas Traveler und es bestand in der Familie die Absicht, das Gemälde erneut stechen zu lassen und so für den Lebensabend der Witwe Washburn zu sorgen. Die mündliche Überlieferung in der Familie Washbourne weist darauf hin, dass Ende 1860 oder Anfang 1861 Verträge über Stich und Reproduktion abgeschlossen wurden, aber nie auch nur ein Cent an die Familie geflossen ist. Die Gemälde – auch das unvollendete zweite – wurden nach New York City geschickt und gingen während des Sezessionskriegs von 1861 bis 1865 verloren. 1866 begab sich Edwards Bruder Woodward Washbourne in Angelegenheiten der Indianermission nach Washington, D.C. und versuchte vergeblich, die Gemälde an der Ostküste aufzufinden.Die Arkansas History Commission erhielt 1957 von Nachkommen der Familie die Spende einiger Gemälde Washbournes. Dabei befand sich auch eine schlecht restaurierte Version des Arkansas Traveller, bei der es sich um das verschollen geglaubte Original handeln soll. Es wird aber auch für möglich gehalten, dass dieses Gemälde eine von Washbourne selbst angefertigte und seiner Mutter nachgelassene Kopie oder eine Kopie von fremder Hand ist. Die These des fremden Kopisten wird von den deutlichen Abweichungen zwischen dem Gemälde und dem noch zu Washbournes Lebzeiten veröffentlichten ersten Stich gestützt. Einen deutlichen Hinweis darauf, dass das überlieferte Gemälde im Besitz der Arkansas History Commission nicht die Vorlage des Stiches von Grozelier gewesen sein kann, ist die auf dem Gemälde nur mangelhafte und verzerrte Ausführung der Sattelkerben an den Ecken des Blockhauses, die auf den Stichen einwandfrei übereinander liegen. Washbourne hätte als ein Bewohner des Westens keine derartig mangelhafte Wiedergabe eines Blockhauses gemalt, und seine künstlerische Ausbildung befähigte ihn zu mehr als der in vielerlei Hinsicht primitiven Machart des Gemäldes. Grozelier war hingegen als Stecher zur exakten Reproduktion der Vorlage verpflichtet und er besaß kaum die Fähigkeit, Washbournes Gemälde als fehlerhaft zu erkennen und die Fehler sachgerecht zu korrigieren.Auf dem Kunstmarkt werden häufig Gemälde mit dem Motiv des Arkansas Traveler angeboten, die teilweise aus dem 19. Jahrhundert stammen, aber lediglich mehr oder weniger gelungene Kopien der Arbeit Washbournes darstellen. Sie wurden oft deutlich erkennbar nach den Lithografien gemalt. Von Bedeutung ist unter den Kopien eine Arbeit des Malers James M. Fortenberry, die 1876 als ein Beitrag des Bundesstaates Arkansas auf der Centennial Exhibition in Philadelphia gezeigt wurde. Für das Gemälde diente die Lithografie von Grozelier als Vorlage, es befindet sich heute im Besitz der Arkansas Historical Society.In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Motiv des Arkansas Traveler wiederholt und mehr oder weniger stark abgewandelt auf den Umschlägen von Liederbüchern und Partituren wiedergegeben. Ein um 1863 veröffentlichtes Notenblatt von Mose Case zeigt auf dem Umschlag noch einen Arkansas Traveler, der zu Fuß unterwegs ist. 1864 erschien bei Dick & Fitzgerald das Arkansas Traveler’s Song Book, dessen Titelsong noch einen wandernden Arkansas Traveler besingt, während auf dem Titel verschiedene Motive aus Washbourns Gemälde Verwendung finden: Das Waschbärenfell an der Hütte, das leere Whiskyfass als Sitzgelegenheit des Fiddlers und der berittene Reisende stammen offensichtlich von Washbourne und wurden so weit verändert, dass sein Urheberrecht gewahrt blieb.
=== Stich Leopold Grozeliers (1859) ===
Als Stich wurde Washbournes Gemälde erstmals 1859 von J. H. Bufford and Sons in Boston veröffentlicht. Washbourne war nach Boston gereist, um mit dem französischstämmigen Lithografen Leopold Grozelier (1830–1865) Kontakt aufzunehmen, der für Bufford and Sons arbeitete. Die Lithografie enthielt eine Widmung an Sandford Faulkner und als Teil der Bildunterschrift eine Notenzeile mit der Melodie, aber ohne Dialog oder Liedtext. Es fällt auf, dass das „WHISKY“-Schild über der Tür der Hütte ein spiegelverkehrtes „S“ aufweist, wie es auch auf Washbournes angeblichen Original dargestellt ist, und dass der Stich in seinen Proportionen dem Gemälde ähnelt. Die weitere Darstellung ist allerdings wesentlich feiner als die der angeblichen Vorlage und auch den späteren Lithografien von Currier and Ives ähnlicher. So enthalten nur die Lithografien die Darstellung der beiden Hunde, der sich kämmenden Tochter und der Mutter mit einer Pfeife aus einem Maiskolben, und die Darstellungen wirken im Gegensatz zum Gemälde außerordentlich lebendig.Die Lithografien nach Grozelier wurden von Washburn selbst vertrieben. In seinem Nachlass fand sich eine umfangreiche Liste von Vertriebspartnern in den ganzen Vereinigten Staaten mit der jeweils in Kommission genommenen Stückzahl. Die Veröffentlichung der Drucke wurde in Arkansas nicht nur von Zeitungsanzeigen Washbournes begleitet, sie wurde auch im redaktionellen Teil der Zeitungen besprochen. Dabei wurde die Darstellung durchweg positiv aufgenommen und immer wieder hervorgehoben, dass Sandford Faulkner und Edward Washbourne selbst aus Arkansas stammen und dass es sich bei der abgebildeten Szene um eine treffende Darstellung des Humors von Arkansas handele. Washbourne selbst protestierte 1859 heftig gegen eine Wiedergabe der Geschichte vom Arkansas Traveler in der literarischen Monatsschrift The Knickerbocker, in der Arkansas stark abwertend dargestellt wurde. Washbournes umfangreiche Entgegnung wurde in voller Länge abgedruckt.Als die wahrscheinlich am nächsten an das Original Washbournes heranreichende Wiedergabe ist Grozeliers Lithografie eingehend untersucht worden. Der Fluss im Hintergrund ist wahrscheinlich der Arkansas River, und bei den Bergen dahinter handelt es sich um die Ouachita Mountains, die von den Ozarks sicher unterschieden werden können. Die Hütte befindet sich demnach westlich von Little Rock, in jener Gegend, in der Sandford Faulkner sein Gespräch mit dem Siedler geführt haben will, und zugleich an jener Strecke, auf der Edward Washbourne häufig beim Besuch seiner Eltern in Fort Smith unterwegs war.Die Blockhütte ist in ihrer Bauweise mit den Sattelkerben als Eckverbinder charakteristisch für den US-amerikanischen Westen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das gilt nicht für das Dach, das als Pfettendach ausgeführt wurde und auf einen skandinavischen Ursprung hinweist. Üblich waren Sparrendächer ohne stützende Pfetten. Die Pfetten sind von hölzernen Schindeln bedeckt, von denen einige fehlen, offenbar eine Anspielung auf das undichte Dach in der Geschichte Faulkners. Die Tür der Hütte ist unnatürlich breit, offenbar wollte Washbourne hier mehr Raum zur Darstellung der kinderreichen Familie haben. Fenster sind ebenso wenig zu sehen wie ein Kamin. Während Fenster nicht unbedingt vorhanden sein mussten, war ein Kamin unverzichtbar. Er wird sich außerhalb des Bildes in einer Ecke der Hütte befunden haben. Entgegen jüngeren Erläuterungen handelt es sich bei der Hütte keineswegs um ein Nebengebäude eines größeren Gebäudekomplexes, sondern um eine eigenständige Hütte, wie sie während der ersten Besiedlungsphase üblich waren und bis zur Mitte des Jahrhunderts bestanden. Zu ihr gehörten weitere Bauten wie ein Toilettenhäuschen, eine Räucherkammer und ein Getreideschuppen, die im Bild nicht gezeigt werden.Andere typische Gegenstände sind dargestellt und zeugen von der Vertrautheit des Malers mit den Lebensbedingungen des Wilden Westens. Dazu gehört die hölzerne Tränke für die Hunde und das Vieh. Der Aschebehälter, auf dem der ältere Sohn sitzt, nahm die Asche von Harthölzern auf. Sie wurde mit Wasser übergossen, das aus der Asche Alkalien löste, unten abgezapft werden konnte und als Grundstoff für die Seifenproduktion diente. Der Baumstamm links neben der Hütte kann ausgehöhlt als Wasserbehälter, als Gerb-Bottich oder als ein großer Mörser zum Mahlen von Getreide gedient haben. Die Flaschenkürbisse im Baum sind Nisthilfen für Vögel, eine simple Maßnahme zur Schädlingsbekämpfung. Weitere Kürbisse dienten als Aufbewahrungsgefäß für Dinge des täglichen Bedarfs wie zum Beispiel Schießpulver, Blei oder Salz. Häute wurden als wertvoller Rohstoff oft auf Gestellen oder an Hauswänden getrocknet. Sie waren das Material für die eigene Kleidung – die Mütze des Siedlers aus Waschbärenfell oder seine Mokassins aus Hirschleder – oder sie dienten als Tauschobjekt und Handelsware. Das Gewehr neben der Tür hat ein Steinschloss. Obwohl das Perkussionsschloss schon entwickelt war, wurden im abgelegenen Arkansas noch bis in die Jahrhundertmitte Waffen mit Steinschlössern verwendet. Sie waren unentbehrlich zur Selbstverteidigung und für die Jagd. Die Axt neben dem Aschebehälter symbolisiert bereits die zweite Phase der Besiedlung, das Roden von Land.Die Familie des Siedlers ist gleichfalls typisch für den frühen Südwesten. Die Familien waren meist kinderreich, und alle trugen einfache Kleidung aus Beiderwand. Zum Haushalt gehörte fast immer eine größere Anzahl von Hunden. Die aus einem Maiskolben geschnitzte Pfeife der Frau war bis zum Sezessionskrieg ein von beiden Geschlechtern häufig genutzter Gegenstand und die Fiddle fast unentbehrlich, wenn man auf ihr spielen konnte. Auch der Verkauf von selbst gebranntem Whisky war Alltag. Der Wert des reichlich vorhandenen Getreides konnte durch das Schnapsbrennen auf das Zehn- bis Zwanzigfache gesteigert werden. Die Kleidung und Ausstattung des Reisenden und der Besitz eines Reitpferdes weisen ihn als ein Mitglied der Oberschicht aus. Dass jemand wie er bei einem armen Siedler um ein Bett für die Nacht, eine Mahlzeit und Futter für sein Pferd bittet war nicht ungewöhnlich, sondern ein Element der Lebenswirklichkeit in den Pioniertagen. Die Abstände zwischen den Forts und den Städten waren groß, oft mehr als ein Tagesritt. Ein Reisender konnte davon ausgehen, dass er als zahlender Gast willkommen war, und es hatten sich mit der Zeit übliche Preise für eine Übernachtung mit oder ohne Mahlzeiten und für das Futter eines Pferdes herausgebildet.Erst im frühen 21. Jahrhundert wies die Historikerin Louise Hancox von der University of Arkansas darauf hin, dass die von Currier and Ives 1870 mit ihren Lithografien verbreitete Deutung des Gemäldes seither unreflektiert übernommen wurde, aber eine wissenschaftliche Analyse des Bildes noch nicht stattgefunden hat. Hancox sieht in der Darstellung des Arkansas Traveler auch die Wiedergabe der sozialen Hierarchie im Arkansas unmittelbar vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg aus der Sicht eines Beteiligten. Der Reisende und der Siedler sind Vertreter der Plantagenbesitzer und der ländlichen Siedler, sie stehen als Akteure im Mittelpunkt. Die Frau des Siedlers ist mit ihrer Pfeife nur eine Karikatur, die Tochter kämmt ihr Haar und hat keinen Bezug zu ihrer Umgebung und die übrigen Kinder zeichnen sich durch ihre uniformen Gesichter und den Verzicht auf jegliche Individualität aus. Sie sind immerhin noch Randfiguren, aber die zahlenmäßig und wirtschaftlich bedeutende Bevölkerungsgruppe der Sklaven erscheint gar nicht im Bild.
=== Stich von Currier and Ives (1870) ===
1870 veröffentlichte die Druckerei Currier and Ives zwei Lithografien mit den Titeln The Arkansas Traveler und The Turn of the Tune. Dabei wurde The Turn of the Tune offenbar nach dem zweiten Gemälde Washbournes gestochen, es erscheint plausibel, dass beide Gemälde Currier and Ives als Vorlage zur Verfügung standen. Die Drucke mit einer beigelegten Partitur und dem Dialogtext des Arkansas Traveler wurden zum Preis von 40 Cent pro Stück portofrei in die ganzen Vereinigten Staaten verkauft. Damit waren sie wesentlich preiswerter als die Stiche Grozeliers, die noch 2,50 US-Dollar kosteten. Sie fanden weite Verbreitung und trugen entscheidend zur Popularität der Melodie des Arkansas Traveler bei, ohne jedoch Sandford Faulkner oder Edward Washbourne als Urheber zu erwähnen.
=== Broadside von Frederick W. Allsopp (um 1895) ===
Um 1895 wurde von Frederick W. Allsopp ein Broadside veröffentlicht. Unter einem Holzschnitt, der den Lithografien von Currier and Ives nachempfunden war, wurden die Melodie und eine vollständige Version des Dialogs wiedergegeben. Von diesem Broadside wurde mehr als tausend Stück zu einem geringen Preis verkauft.
== Kritik ==
Das Arkansas-Territorium und der 1836 neugegründete Bundesstaat hatten in den Vereinigten Staaten und im Ausland den Ruf eines wilden und gesetzlosen Landstrichs. Dazu trugen um 1840 eine Reihe von Reiseberichten bei. So nannte der britische Geologe George William Featherstonhaugh Arkansas einen „Abgrund von Verbrechen und Ruchlosigkeit“ und beklagte, dass es in Little Rock weniger als ein Dutzend Einwohner gebe, die nicht mit zwei Pistolen und einem riesigen Jagdmesser, das sie Bowiemesser nennen, umherliefen. Das von dem deutschen Abenteurer und Schriftsteller Friedrich Gerstäcker in seinem Roman Die Regulatoren in Arkansas und weiteren Veröffentlichungen gezeichnete Bild entsprach Featherstonhaughs Darstellung und wurde auch in den Vereinigten Staaten bekannt. In späteren Jahrzehnten wandelten sich die Darstellungen, nun stand der einfältige Hillbilly als Stereotyp des Einwohners von Arkansas im Vordergrund.Die Figur des Arkansas Traveler stammte ursprünglich ebenso aus Arkansas wie der Siedler, der Erzähler Sandford Faulkner und der Maler Edward Washbourne. Erst in späteren Veröffentlichungen wurde die Figur als zivilisierter Reisender von der Ostküste dargestellt, der das große Pech hatte, durch das rückständige Arkansas reisen zu müssen. Diese Interpretation ging wahrscheinlich auf die von Mose Case 1863 veröffentlichte Variante der Erzählung zurück. Sie erregte zum Ende des Jahrhunderts großes Missfallen, da sie das negative Bild vom zurückgebliebenen Arkansas mit seinen dummen und hinterwäldlerischen Hillbillys in den ganzen USA verbreitete. 1877 brachte ein Kommentator der Arkansas Gazette das mit dem Arkansas Traveler verbundene Stereotyp des Bewohners von Arkansas mit Antriebslosigkeit, Trägheit und Sorglosigkeit in Verbindung. Der ehemalige Richter William F. Pope beklagte in seiner 1895 erschienenen Autobiografie, dass viele intelligente Menschen die Karikatur des Siedlers in seiner undichten Hütte und mit seiner verstimmten Fiddle als einen typischen Vertreter der Bevölkerung von Arkansas betrachteten. Das weit verbreitete Gemälde Washbournes habe dem guten Namen des Staates und seiner Bevölkerung unermesslichen Schaden zugefügt. Obgleich es in jeder Gemeinschaft faule und unbewegliche Charaktere gebe, deren einziges Ziel das Erzeugen und Heranziehen einer großen Zahl von weiteren wertlosen Taugenichtsen sei, hätten der Erzähler und der Maler diesem Thema zu viel Aufmerksamkeit zu Lasten wichtigerer Dinge verschafft. Ein Jahr später beklagte William H. Edmonds in seiner Schrift The Truth about Arkansas, dass der Arkansas Traveler dem Bundesstaat einen wirtschaftlichen Schaden in Millionenhöhe zugefügt habe. Neben diesen scharfen Kritikern gab es aber stets auch Stimmen, die den Arkansas Traveler sehr schätzten.Ein ansonsten bedeutungsloser Werbesong für den Staat Arkansas aus der Zeit um 1940 griff das Motiv in seinen ersten Zeilen auf: The traveler no longer finds / The fiddler at a cabin door [...] And sland'rous jests are out of date / 'Bout Arkansas, Fair Arkansas. Das Lied war Teil einer mit großem Aufwand geführten Kampagne, in deren Verlauf das Image des Staates Arkansas vom Bear State zum Wonder State gewandelt werden sollte. Diese Kampagne war wiederum Teil des Country Life Movement, das sich seit dem frühen 20. Jahrhundert die Verbesserung der Lebensumstände der auf dem Land lebenden Amerikaner zum Ziel gesetzt hatte. Das Country Life Movement widmete sich besonders den abgelegenen Regionen des Südens wie den Appalachen oder den Ozarks. Ungeachtet der Bemühungen um die Modernisierung des Staates und seiner Imagepflege war der Arkansas Traveler weiter präsent, und Komiker wie Bob Burns sorgten für sein Fortleben. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, mit der zunehmenden Wertschätzung der unberührten Natur und des Lebens auf dem Land, wurde auch der Arkansas Traveler wieder ein durchweg positiv wahrgenommenes Symbol des Staates Arkansas.
== Der Arkansas Traveler als Namensgeber ==
=== Medien ===
Eine von 1882 bis 1916 zunächst in Little Rock und ab 1887 in Chicago von Opie Read herausgegebene humoristische Zeitschrift hieß The Arkansaw Traveler, auf ihrem Titel waren beide Szenen der Drucke von Currier and Ives wiedergegeben. Die Zeitschrift sorgte dafür, dass eine ganze Reihe Stereotype aufnehmender und reproduzierender Witze über Arkansas und seine Bewohner Verbreitung erlangten;
1920 wurde der Name der Studentenzeitung der University of Arkansas, The University Weekly, in The Arkansas Traveler geändert. Die Zeitung erscheint bis heute mehrmals wöchentlich unter diesem Namen;
Mitte der 1920er Jahre gab der Ku-Klux-Klan in Little Rock eine Wochenzeitung mit dem Titel Arkansas Traveller heraus;
Der Komiker Bob Burns trat seit den 1930er Jahren als The Arkansas Traveler auf. Als er 1941 seine eigene Radioshow erhielt, hieß diese zunächst ebenfalls The Arkansas Traveler, wurde aber im Januar 1943 in The Bob Burns Show umbenannt;
Eine von 1977 bis 2004 und von 2005 bis 2009 laufende Radiosendung des Senders WDET der Wayne State University in Detroit, Michigan, in der Bluegrass gesendet wurde, hieß Arkansas Traveler;
Eine im Juni und Juli 2017 veröffentlichte US-amerikanische Western-Webserie trägt den Titel Arkansas Traveler.
=== Sport ===
Ein bekanntes Rennpferd der 1840er Jahre hieß Arkansas Traveler;
Das 1901 gegründete Baseball-Team Little Rock Travelers wurde 1963 in Arkansas Travelers umbenannt, die Mannschaft spielt seit 1964 in der Southern League des Minor League Baseball;
Der US-amerikanische Profi-Golfer E. J. Harrison hatte den Spitznamen Arkansas Traveler;
1949 gründete Hazel Walker mit ihren Arkansas Travelers das erste Frauenteam im professionellen Basketball. Bis 1965 spielten sie ausschließlich gegen Männer-Teams und gewannen 80 bis 85 Prozent ihrer Spiele.
=== Politik ===
Seit 1941 können in Arkansas Personen, die nicht Bürger des Bundesstaates sind, als Arkansas Traveler ausgezeichnet werden. Die Ehrung wird vom Gouverneur für Verdienste um den Bundesstaat Arkansas oder seine Bevölkerung vergeben. Die Ehrung des Empfängers erfolgt üblicherweise im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung, bei der dem Geehrten ein vom Gouverneur und vom Secretary of State des Bundesstaates Arkansas unterzeichnetes und mit dem Siegel von Arkansas versehenes Zertifikat im Format 11 ¼ × 15 ¼ Zoll übergeben wird. Zum ersten Arkansas Traveler wurde am 20. Mai 1941 Präsident Franklin D. Roosevelt ernannt;
Im Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1992 und zur Wahl 1996 nannte sich eine Gruppe aus Arkansas stammender und die ganzen USA bereisender Unterstützer des Kandidaten Bill Clinton, seinerzeit Gouverneur des Bundesstaates, die Arkansas Travelers.
=== Sonstiges ===
Eine Lockheed P-38 Lightning der United States Army Air Forces hieß Arkansas Traveler und war mit der entsprechenden Nose art bemalt;
Eine Modellreihe von Sportbooten wurde Mitte des 20. Jahrhunderts unter der Markenbezeichnung Arkansas Traveler von der Southwest Manufacturing Co. aus Little Rock hergestellt und vertrieben;
Eine für Hahnenkämpfe gezüchtete Rasse von Hühnern heißt Arkansas Traveler oder Blue Montgomery Traveler;
Eine Tomatensorte und eine Pfirsichsorte heißen Arkansas Traveler;
1968 wurde in Hardy The Arkansaw Traveller Folk Theater mit einem zugehörigen Restaurant gegründet;
Der Arkansas Traveler Tartan ist seit 2001 offizieller State Tartan von Arkansas. Das Grün steht für die Schönheit der Wälder und Bäume der Ozarks, in denen sich viele schottische Einwanderer niederließen, das Blau symbolisiert die Seen und Flüsse, das Gelb den Sonnenschein im Frühling und Sommer, und das Rot die starken Blutsbande mit Schottland und innerhalb von Arkansas.
== Literatur ==
Benjamin A. Botkin (Hrsg.): A Treasury of American Folklore. Stories, Ballads, and Traditions of the People. Crown Publishers, New York 1944, S. 321–322 und S. 346–349.
Sarah Brown: The Arkansas Traveller: Southwest Humor on Canvas. In: The Arkansas Historical Quarterly. 1987, Vol. 46, No. 4, S. 348–375, doi:10.2307/40025957
Mose Case: Mose Case’s war songster. Containing union and war songs of his own composition. Comprising a history of the rebellion, to which is added Mose’s adventures in Mexico. Franklin Printing House, Buffalo, New York 1863, OCLC 58663881
Tom Dillard: Statesmen, Scoundrels, and Eccentrics. A Gallery of Amazing Arkansans. The University of Arkansas Press, Fayetteville 2010, ISBN 978-1-55728-927-8.
Louise Hancox: The Redemption of the Arkansas Traveler. In: The Ozark Historical Review. Spring 2009, Vol. XXXIIX, S. 1–30, Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3Dhttps%3A%2F%2Ffulbright.uark.edu%2Fdepartments%2Fhistory%2F_resources%2Fpdf%2Fozark-historical-review%2Fohr-2009-1.pdf~GB%3D~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D, PDF, 592 KB
Fennimore Harrison: The Arkansas Traveller. A New Eccentric Comedy in Four Acts. New Orleans 1881, Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Darkansastravelle00harr~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D
Henry Chapman Mercer: On the Track of the Arkansas Traveler. In: The Century Magazine. März 1896, S. 707–712, Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Dontrackofthearka00merc~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D
William F. Pope: Early days in Arkansas; being for the most part the personal recollections of an old settler. Frederick W. Allsopp, Little Rock, Arkansas 1895, Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Dcu31924028802812~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D. Als Anhang The Arkansaw Traveler als Niederschrift des Dialogs zwischen dem Arkansas Traveler und dem Siedler
The Arkansas Traveller’s Songster: Containing the Celebrated Story of the Arkansas Traveller, With the Music for Violin or Piano, and also, An Extensive and Choice Collection of New and Popular Comic and Sentimental Songs. Dick & Fitzgerald, New York City 1864, Digitalisat 1http://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Darkansastravelle00newy~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3DDigitalisat%201~PUR%3D, Digitalisat 2http://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3D~IA%3Darkansastravelle00makirich~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3DDigitalisat%202~PUR%3D
== Weblinks ==
Arkansas Traveler in The Encyclopedia of Arkansas History and Culture (englisch)
Arkansas Traveler auf der Website des Arkansas Historic Museum (englisch)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Arkansas_Traveler
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Babisnauer Pappel
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= Babisnauer Pappel =
Die Babisnauer Pappel ist eine Schwarz-Pappel (Populus nigra) bei Babisnau, einem Ortsteil der Gemeinde Kreischa in Sachsen. Sie steht exponiert auf einer Hochfläche südlich von Dresden und ist als Landmarke weithin sichtbar. Der Babisnauer Gutsbesitzer Johann Gottlieb Becke pflanzte die Pappel 1808 als Grenzbaum an der Grenze seines Besitzes. Sie ist seit dem Jahre 1936 als Naturdenkmal ausgewiesen. Die Pappel hat bei starken Stürmen in den Jahren 1967 und 1996 einen Großteil ihrer runden Krone verloren. Sie ist 17,3 Meter hoch, der Stamm hat einen Umfang von 5,1 Metern.
Der Baum ist wegen der Aussicht nach allen Seiten und zur Stadt Dresden ein beliebtes Ausflugsziel. Im Deutschen Krieg 1866 diente die Pappel mit einem vorübergehend eingebauten Beobachtungsgerüst als Ausguck. Ein festes Aussichtsgerüst neben dem Baum entstand 1885 und wurde in den Jahren 1922, 1963 und 1999 erneuert. Die Pappel wurde ab 1993 mehrmals vegetativ vermehrt. Einer Legende nach zeigt die Pappel mit ihrer Blüte, die nicht in jedem Jahr erscheint, das nahende Ende eines Krieges an. Zweimal im Jahr findet mit dem Wendelauf ein Volkslauf um die Pappel statt.
== Lage ==
Die Pappel steht auf dem unbewaldeten 335 Meter über Normalnull hohen Zughübel mit freier Sicht in alle Richtungen, vor allem nach Dresden, das auf etwa 110 Meter Höhe liegt, und zur Sächsischen Schweiz. Sie ist etwa neun Kilometer südlich von der Inneren Altstadt Dresdens und etwa 800 Meter westlich von Babisnau entfernt, steht etwa 220 Meter oberhalb der Elbe und ist von landwirtschaftlich genutzten Feldern umgeben. Die Pappel befindet sich unmittelbar an der Flurgrenze zwischen den Gemarkungen des Kreischaer Ortsteils Babisnau und Golberode, einem Ortsteil von Bannewitz. In nächster Nähe steht eine Aussichtsplattform und in etwa zehn Metern Entfernung die im Jahr 1890 gepflanzte Bismarck-Eiche. Am 8. April 2006 wurde einige Meter weiter eine weitere, aus einem Steckholz der Altpappel herangewachsene, Schwarz-Pappel gepflanzt. Das Panorama von der Pappel und der Plattform aus umfasst im Norden über der breiten Elbtalweitung den bewaldeten Steilhang, der die Westlausitzer Hügel- und Berglandschaft nach Süden begrenzt. Diese lässt sich von dem 361 Meter über Normalnull hohen Borsberg bis zu den Lößnitzhöhen verfolgen. Im Osten ist das Relief der Tafelberge des Elbsandsteingebirges zu sehen. Im Süden umrahmt der Höhenzug mit der Quohrener Kipse, dem Hermsdorfer Berg und dem Wilisch das Kreischaer Becken.Die Pappel steht auf einer kreidezeitlichen (turonen) Pläner-Sandsteintafel, die in etwa 320 Metern Höhe endet. Entsprechend dem schwachen Einfallen der Sandsteine neigt sich die Tafel mit sanft geneigten Hängen von zwei bis vier Grad nach Norden in Richtung Golberode. Am Zughübel begrenzt eine ausgeprägte, nach West und Südwest gerichtete, etwa 40 Meter hohe Schichtstufe die Tafel gegen den Zertalungsbereich des Possendorfer Baches. Auf den Sandsteinen befindet sich eine flache Lößlehmdecke, auf der sich flachgründige Decklöß-Parabraunerden entwickelt haben. Aufgrund dieser geologischen Bedingungen auf dem Zughübel konnte die Pappel an diesem Standort gedeihen. Die Pappel gehört einer Gattung an, die sonst in der Regel in feuchten Niederungen wächst und nicht auf einem Höhenzug.
== Geschichte ==
Gutsbesitzer Johann Gottlieb Becke aus Babisnau pflanzte die Schwarzpappel 1808 als Grenzbaum zur benachbarten Golberoder Flur an der höchsten Stelle des Zughübels. Ob dies als dauerhafte Markierung auf der Flurgrenze wegen eines Streites mit dem Nachbarn geschehen ist oder im Einvernehmen mit ihm, ist nicht überliefert. Auch ist nicht bekannt, wie alt der Baum bei der Pflanzung war. Maximilian Eckhardt versah 1858 seine Grafik Blick auf Leubnitz von Norden her mit einer Baumsignatur der Pappel am Horizont. Im Jahr 1866 soll die schon stattliche Pappel während des Preußisch-Österreichischen Krieges sächsischen Pionieren als Beobachtungspunkt von einem eingebauten Gerüst aus gedient haben. Die Kampfhandlungen fanden jedoch weiter südlich in Böhmen statt, so dass die Pappel ohne Schäden blieb. Die Plattform diente danach als Aussichtspunkt mit Rundblick und wurde immer mehr von Ausflüglern aufgesucht. Wie lange sie existierte, ist nicht bekannt. Das älteste bekannte Foto des Baumes stammt aus dem Jahre 1878.
Am Grenzbaum führte der Weg von Babisnau nach Golberode und Possendorf vorbei. Im Jahr 1883 beabsichtigte man, diesen Kommunikationsweg zu verlegen, und der Gutsbesitzer Gießmann wollte deswegen die Pappel fällen. Er befürchtete, dass die zahlreichen Ausflügler nach der Verlegung des Weges seinen Feldweg zur Pappel benutzen und den Ertrag seines benachbarten Feldes beeinträchtigen würden. Die Pappel war jedoch bereits zum Wahrzeichen des Elbtals bei Dresden geworden und der Baum diente auch als Visierpunkt für geodätische und ähnliche Arbeiten. Um die Fällung zu verhindern, fand am 27. Januar 1884 eine Delegierten-Versammlung des 1877 gegründeten Gebirgsvereins für die Sächsisch-Böhmische Schweiz statt. Man verhandelte mit dem Eigentümer der Pappel und am 23. März 1884 kaufte der Gebirgsverein den Baum für 300 Mark. Der umliegende Grund von 150 Quadratmetern wurde gepachtet. Am 6. Mai 1884 setzten Geometer die Grenzsteine. Nach dem Kauf der Pappel gründete Ernst Wilhelm Zöllner die Gebirgsvereinssektion Golberode-Babisnau, die auch den Gutsbesitzer Gießmann als Vereinsmitglied gewinnen konnte. Am 17. Mai 1885 wurde das erste, von der Sektion für 360 Mark errichtete, etwa vier bis fünf Meter hohe Aussichtsgerüst eingeweiht. Die Aussichtsplattform lag in etwa drei Metern Höhe, zu ihr führten 16 Stufen. Darunter, innerhalb des Aussichtsgerüstes, befand sich eine offene Unterstellmöglichkeit als Wetterschutz. Später wurde sie zum Teil geschlossen.
Im Jahr 1886 berichtete das Aprilheft der Bergblumen, illustrierte Blätter der Sektion Strehlen über die Pappel mit einer Zeichnung, die sie mit einer beinahe kugelrunden Krone zeigt. Die Mitglieder der Gebirgsvereinssektionen Strehlen und Golberode-Babisnau pflanzten zwischen 1887 und 1896 vier Eichen neben die Pappel. Die erste davon, die Wettin-Eiche, ging vermutlich bereits nach kurzer Zeit ein. Deshalb wurde anlässlich der 800-Jahr-Feier des Hauses Wettin im Jahr 1889 eine weitere Eiche gesetzt. Ebenfalls im Jahr 1889 kaufte der Gebirgsverein das 150 Quadratmeter große umliegende Grundstück für 12 Mark pro Quadrat-Rute. Die nächste Eiche wurde im Jahr 1890 zu Ehren von Reichskanzler Otto von Bismarck als Bismarck-Eiche gepflanzt. Als letzte kam im Frühjahr 1896 die König-Albert-Eiche zu Ehren König Alberts hinzu. Eine Zeit lang war die Pappel von drei Eichen umgeben. Die Bismarck-Eiche ist die einzige, die noch steht. Eine Fotografie der Pappel vom Juni 1897, auf der auch das Aussichtsgerüst zu sehen ist, zeigt sie wiederum mit einer runden Krone. Im Jahr 1899 wurde das morsch gewordene und teilweise mutwillig beschädigte Aussichtsgerüst instand gesetzt.Am 21. September 1922 feierte die Gebirgsvereinssektion Golberode-Babisnau als Bauherrin nach zweiwöchiger Bauzeit die Einweihung eines neuen, vier Meter hohen Aussichtsgerüsts. Eine Rotdornhecke wurde im Jahr 1925 angepflanzt. Eine Verordnung des Kreishauptmanns Dresden-Bautzen vom 28. Dezember 1936 wies die Pappel 128 Jahre nach ihrer Pflanzung als Naturdenkmal nach dem Reichsnaturschutzgesetz (RNG) aus. Von 1944 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war bei der Pappel eine Fliegerabwehrstaffel stationiert. Nachdem die deutschen Linien am Boden nicht mehr standgehalten hatten, stand die Pappel mitten im Kriegsgeschehen. Kurz vor dem Ende des Krieges sollte sie gefällt werden, da sie als gefährliche Sichtmarke angesehen wurde. Dazu kam es jedoch nicht mehr. Im Jahr 1945 löste sich der Gebirgsverein auf und das Flurstück mit der Pappel und der Bismarck-Eiche ging in die Betreuung der Gemeinde Bärenklause-Kautzsch über. Im Jahr 1957 wurde Babisnau der Gemeinde Bärenklause-Kautzsch im Kreis Freital angegliedert. Ein Jahr später, am 23. August 1958, wies der Rat des Kreises (RdK) Freital mit seinem Beschluss 108/58 die Pappel zum zweiten Mal als Naturdenkmal aus. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurde das Aussichtsgerüst baupolizeilich gesperrt, da es durch die Witterung und mutwillige Beschädigungen unbrauchbar und gefährlich geworden war. Freitaler Heimatfreunde errichteten 1962/63 in Eigenleistung eine neue, stählerne Aussichtsplattform. Am 21. Juni 1961 wurde die Babisnauer Pappel mit dem Flurstück 36a und den beiden umliegenden Flurstücken 35a und 40 zum Volkseigentum erklärt, womit sie der staatlichen Verwaltung unterlagen. Die Betreuung blieb jedoch weiterhin bei der Gemeinde. Bei einem starken Gewittersturm am 20. Juli 1967 mit Hagel nach Temperaturen von 30 Grad Celsius verlor die Pappel ein Drittel ihrer inzwischen großen Krone. Einer der drei nach oben gehenden Haupttriebe brach aus und die Krone verlor damit ihre kugelrunde Form. Die Höhe reduzierte sich von etwa 26 auf etwa 20 Meter. Wegen seiner Größe waren zwei Traktoren nötig, um den ausgebrochenen Ast wegzuschleppen. Von da an übernahm immer mehr die inzwischen ebenfalls große Krone der Bismarck-Eiche die Rolle als Blickfang aus der Ferne.
Die ersten Pflegemaßnahmen an der Pappel fanden im Auftrag des Landratsamtes Freital am 9. Dezember 1991 statt. Dabei wurde auch der Stumpf des 1967 ausgebrochenen Astes gerade gesägt. In der Nacht vom 30. zum 31. Dezember 1993 legten Vandalen im Hohlraum der Pappel Feuer. Gegen Mitternacht waren die Feuerwehren von Bärenklause-Kautzsch und Kreischa vor Ort, um den Schwelbrand im hohlen Baumstamm zu bekämpfen. Wer die Feuerwehr alarmierte, ist nicht bekannt. Der komplette Wasserinhalt eines Löschfahrzeuges wurde in den Hohlraum gepumpt, der stürmische Wind ließ jedoch die Glut nicht erlöschen. Am frühen Silvesternachmittag fuhr die Feuerwehr erneut zur Pappel, um mit einer weiteren Tankladung Wasser zu löschen. Zusätzlich wurde in die Öffnung des Stammes Sand gefüllt; die Löcher im Wurzelbereich wurden mit Erde zugestopft, damit die Kaminwirkung des hohlen Stammes nachließ. Dies beendete den Schwelbrand. Hätte die Feuerwehr Schaum angewandt, hätte die Pappel größeren Schaden davongetragen. Der Landkreis Freital, zu dem Babisnau gehörte, fusionierte 1994 mit dem Landkreis Dippoldiswalde zum neu gebildeten Weißeritzkreis. Die Pappel wurde am 23. August 1995 per Verordnung des Landratsamtes Weißeritzkreis ein drittes Mal als Naturdenkmal ausgewiesen. Im Jahr 1996 übernahm die am 1. Januar 1993 gegründete Ortsgruppe Babisnau im Landesverein Sächsischer Heimatschutz die Flurstücke 35a und 36a der Gemarkung Babisnau und 1997 das Flurstück 40 der Gemarkung Golberode zum symbolischen Preis von jeweils einer Mark. Weil die Aussichtsplattform gefährliche Roststellen aufwies, beauftragte der Vorstand des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz am 1. Dezember 1996 die Babisnauer Ortsgruppe, sie zu entfernen. Für die nächsten Jahre blieb der Bereich der Pappel ohne Aussichtsplattform. In der Nacht vom 5. zum 6. Juli 1996 brach bei einem heftigen Sturm der zweite Hauptast ab. Er war an der Abzweigstelle des 1967 abgebrochenen Astes stark angefault. Aufgrund der beträchtlichen Länge von etwa sieben Metern konnte er dem Sturm nicht standhalten. Die Krone der Pappel bestand nun nur noch zu einem Drittel mit einem von ehemals drei Hauptästen. Die Charakteristik der Pappel hatte sich stark geändert und wird von einem Hauptast geprägt.
Nach dem ersten Spatenstich am 1. Juni 1999 wurde das neue Aussichtsgerüst am 2. Juli 1999 eingeweiht. Finanziert wurde das Gerüst und die Gestaltung des umliegenden Areals mit Fördermitteln des Regierungspräsidiums Dresden und durch Sponsoren. An der Wunde des 1996 ausgebrochenen Astes hatte sich im Laufe der Zeit ein Riss gebildet, der sich immer mehr verbreiterte. Um ein Auseinanderbrechen des Baumes zu verhindern, wurden im Jahr 2000 an der verbliebenen Krone Metallbänder, verbunden mit einem Stahlseil, angebracht. Gegen Ende Dezember des Jahres 2003 brach ein großer Seitenast heraus. Das Kronenvolumen verringerte sich dadurch erneut. Die Pappel überragte nur noch mit ein paar Zweigen die Krone der danebenstehenden Eiche. An der Ausbruchstelle des Seitenastes wuchs ein Porling. Im Frühjahr des Jahres 2006 waren es mehrere solcher Pilze, so dass die Gefahr bestand, dass der Ast, der an dieser befallenen Stelle abzweigt, vorzeitig abbrach. Um dem entgegenzuwirken, musste er entlastet werden. Der große Ast wurde am 11. April 2006 stark eingekürzt, so dass seine Masse abnahm. Die Höhe der Krone verringerte sich dadurch nochmals auf 17 Meter. Damit ist die Pappel niedriger als die danebenstehende Eiche. Zusätzlich zu den Metallbändern wurden flexible Sicherungsgurte angebracht. Am 16. August 2008 feierten über 500 Besucher das 200. Jubiläum der Pappelpflanzung. Zur selben Zeit fand eine Ausstellung über den Baum in Babisnau statt. Am 21. Mai 2009 wurden mit einem Festakt ein steinerner Tisch und Bänke, gesponsert von einer Dresdner Familie, als Rastplatz eingeweiht.An der Aussichtsplattform befindet sich eine Tafel mit kurzen Informationen über die Pappel. Im Juli 2020 wurde der Zugang auf die Aussichtsplattform (Holz-Stahl-Konstruktion) aus Gründen der Verkehrssicherheit dauerhaft gesperrt, weil die hölzernen Trittbohlen im oberen Teil der Plattform verwitterungsbedingt marode waren. Nach der Instandsetzung konnte die Plattform im Juli 2022 wieder geöffnet werden.
== Beschreibung ==
Der Stamm der Pappel ist gleichmäßig und vollständig erhalten. In etwa vier Metern Höhe teilte er sich ehemals in drei große Äste, die die runde Krone bildeten. Heute ist nur noch ein Ast vorhanden, aus dem die unregelmäßige Krone hervorgeht. Das Ausbrechen der Äste öffnete den Stamm. Die Krone hatte im Jahr 2004 eine Ausdehnung von 14 auf 19 Metern. Die Höhe des Baums hat sich nach mehreren Astausbrüchen auf 17,3 Meter reduziert.Die Pappel wurde zu verschiedenen Zeiten vermessen. Bei der ersten Messung im Jahr 1896 betrug der Stammumfang etwa 4,30 Meter auf einem Meter Höhe. Der Baum war damals 23 Meter hoch. Im Jahr 1957 hatte er mit 26 Metern die größte Höhe erreicht. Der Stammumfang in 1,3 Metern Höhe, der Höhe des sogenannten Brusthöhendurchmessers, belief sich auf 4,70 Meter. Im Jahr 2007 war der Umfang auf gleicher Höhe auf 5,13 Meter angewachsen. Das Deutsche Baumarchiv, das die alten Bäume in Deutschland dokumentiert, gibt in Bäume, die Geschichten erzählen, einen Umfang – in einem Meter Höhe gemessen – von 5,00 Metern an. Aufgrund ihres Standortes hat die Pappel wohl zu keiner Zeit die Messdaten von Schwarzpappeln gleichen Alters, die in artgerechter Umgebung aufgewachsen sind, erreicht.
== Verschiedenes ==
=== Wendelauf ===
Im Jahr 1991 fand zu Silvester der erste Wendelauf um die Babisnauer Pappel statt. Seitdem hat sich der jährliche Volkslauf im Sportkalender von Dresden etabliert. Gegen Ende der 1990er Jahre hatten am Wendelauf, der kein Wettkampf ist, bereits über 300 Läufer, Wanderer und Radfahrer teilgenommen. Der Wendelauf findet zweimal jährlich, als Sommersonnenwendelauf und als Jahreswendelauf an Silvester, statt. Bei diesem Volkslauf ist der Start- und Zielpunkt beliebig, die Wende an der Hälfte der Strecke ist aber stets die Babisnauer Pappel, wo es im Winter gratis Glühwein und im Sommer Sekt gibt. Auch Verpflegung wird dort ausgegeben. Die Art der Fortbewegung spielt keine Rolle. So haben im Winter auch schon Skiläufer teilgenommen, auch einen Reiter gab es bereits. Angeboten werden immer verschiedene Routen mit unterschiedlicher Länge, die sternförmig zur Pappel führen.
=== Verschiedene Namen ===
Die Pappel wird heute ausschließlich als Babisnauer Pappel bezeichnet. Das war jedoch nicht immer so. In der Zeitschrift Bergblumen wurde die Pappel in der Festausgabe zum zehnjährigen Bestehen der Sektion Strehlen im Jahr 1888 und auf zwei Fotografien aus dem Jahr 1897 sowie auf später erschienenen Ansichtskarten als Zöllner-Pappel bezeichnet. Dieser Name ging vermutlich auf den damaligen Vorsitzenden der Sektion Strehlen des Gebirgsvereins für die Sächsisch-Böhmische Schweiz zurück, den Strehlener Privatus Ernst Wilhelm Zöllner, der im Jahr 1884 die Pappel im Auftrag des Vereins gekauft hatte. Um die Jahrhundertwende bürgerte sich in den Wanderbüchern wieder der Name Babisnauer Pappel ein. Ein weiterer Name in manchen Wanderführern und auf Ansichtskarten der damaligen Zeit ist Silberpappel. In die Naturdenkmal-Liste wurde die Pappel als Deutsche Pappel eingetragen.
=== Legende ===
Einer Legende nach blüht die Pappel immer dann, wenn das Ende eines Krieges bevorsteht. Eine Schwarzpappel blüht nicht in jedem Jahr, was in der Botanik als natürliche Ökonomie der Pflanzen und Bäume bezeichnet wird. Die Pappel soll im Jahr 1870 geblüht haben und das Ende des Deutsch-Französischen Krieges im Jahr 1871 angezeigt haben. Ein weiteres Mal blühte der Baum im Jahr 1918 zum Ende des Ersten Weltkrieges. Im Frühjahr 1943 stand die Pappel erneut in Blüte und trug Früchte in großer Fülle. Der deutsche Romanist Victor Klemperer schrieb am 23. Mai 1943 in seinem Tagebuch, dass die Babisnauer Pappel blühte und dem Aberglauben nach der Krieg bald zu Ende gehen würde. Im Jahr 1947 erwähnte Klemperer diese Legende auch in seinem Werk LTI – Notizbuch eines Philologen. Er schrieb, dass die Babisnauer Pappel nur selten blühe und dass ihm erzählt worden sei, sie habe auch bei allen anderen Kriegen im 19. Jahrhundert geblüht. Bei der Pappelblüte im Jahr 1943 war die Legende vom Ende des Krieges weit über Dresden hinaus bekannt. So wurde aus Oberschlesien berichtet, dass bei Dresden eine Pappel steht, bei deren Blüte der Krieg zu Ende geht. Menschen, die von der Wunderblüte gehört hatten, kamen aus fernen Gegenden, um die Pappel aufzusuchen. Zwei Jahre später, im Mai 1945, endete tatsächlich der Weltkrieg. Die von den Menschen wahrgenommene „Blüte“ sind allerdings die schon reifen wolligen Fruchtstände, die eigentliche Pappelblüte ist sehr unscheinbar.
=== Vegetative Vermehrung ===
Die Sächsische Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Graupa prüfte die Pappel auf ihre genetische Reinheit. Sie kam dabei zu einem positiven Ergebnis und schloss somit aus, dass es sich um eine Bastard-Schwarz-Pappel handelt. Im Februar 1993 schnitt Rudolf Schröder, der damalige Leiter des Botanischen Gartens Dresden, von der Pappel Steckhölzer. Steffen Ruhtz, der Vorsitzende der Ortsgruppe Babisnau im Landesverein Sächsischer Heimatschutz, betreute in den darauffolgenden Jahren die Steckhölzer, die beim Aufwachsen die gleichen klimatischen Bedingungen wie der Altbaum hatten. Im Jahr 1997 wurde einer der jungen Bäume auf dem Gelände der Sternwarte in Radeberg bei Dresden gepflanzt. Am 8. April 2006, im Jahr, als die Schwarzpappel zum Baum des Jahres gewählt wurde, pflanzten Babisnauer Mitglieder der Regionalgruppe Goldene Höhe des Landesvereins eine zweite solche Schwarzpappel neben der Babisnauer Pappel. Der junge Baum hatte Anfang November 2007 eine Höhe von 8,20 Metern.
== Literatur ==
Magdalena Flügge: Die runde Pappel zu Babisnau. 2. erweiterte Auflage. Landesverein Sächsischer Heimatschutz, Dresden 2008, ISBN 978-3-9812320-1-1.
Uwe Kühn, Stefan Kühn, Bernd Ullrich: Bäume, die Geschichten erzählen. BLV Buchverlag GmbH & Co. KG, München 2005, ISBN 3-405-16767-1.
Karl Lemke, Hartmut Müller: Naturdenkmale. Bäume, Felsen, Wasserfälle. 2. Auflage. VEB Tourist Verlag, Berlin/Leipzig 1990, ISBN 3-350-00284-6.
Karen Trinks: Naturschutz regional: Baum-Naturdenkmale in der Region oberes Elbtal/Osterzgebirge. Hrsg.: Staatliches Umweltfachamt Radebeul. UBIK-Verlag, Radebeul 2004.
Victor Klemperer: LTI: Notizbuch eines Philologen. 10. Auflage. Philipp Reclam jun., Leipzig 1990, ISBN 3-379-00125-2.
== Siehe auch ==
Liste markanter und alter Baumexemplare in Deutschland
== Weblinks ==
Ein beachtenswertes Naturdenkmal vor den Toren Dresdens
Babisnauer Pappel
Die Babisnauer Pappel
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Babisnauer_Pappel
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Bavaria
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= Bavaria =
Die Bavaria (der latinisierte Ausdruck für Bayern) ist die weibliche Symbolgestalt und weltliche Patronin Bayerns und tritt als personifizierte Allegorie für das Staatsgebilde Bayern in verschiedenen Formen und Ausprägungen auf. Sie stellt damit das säkulare Gegenstück zu Maria als religiöser Patrona Bavariae dar.
In der bildenden Kunst kann die kolossale Bronzestatue in München als bekannteste und zugleich monumentalste Darstellung der Bavaria gelten. Sie wurde im Auftrag von König Ludwig I. (1786–1868) in den Jahren 1843 bis 1850 errichtet und steht in baulicher Einheit mit der Ruhmeshalle am Rande der Hangkante oberhalb der Theresienwiese.
Nach den barocken Kolossalstatuen des 17. Jahrhunderts ist sie das erste Beispiel ihrer Art aus dem 19. Jahrhundert und seit der Antike die erste Kolossalstatue, die gänzlich aus gegossener Bronze besteht. Sie war und ist eine technische Meisterleistung.
== Allegorien Bayerns ==
Die Tellus Bavarica ist eine seit vielen Jahrhunderten gebräuchliche Allegorie der „bayerischen Erde“, die in vielerlei Gestalt unter anderem in Wappen, auf Gemälden, als Reliefdarstellung, zum Beispiel über Hauseingängen, sowie als Statue begegnet. In der öffentlichen Wahrnehmung wird die Bavaria heute weitgehend mit der monumentalen Statue an der Theresienwiese identifiziert, doch lassen sich weitere Beispiele im öffentlichen Raum finden. Ein gut zugängliches ist im Münchner Hofgarten zu sehen: Die Kuppel des zentralen „Dianatempels“ wurde ursprünglich von einer bronzenen Statue der Diana von Hubert Gerhard gekrönt, welche mutmaßlich Hans Krumpper 1623 zur Allegorie Bayerns umgestaltete, indem er ihren Helm zum Kurfürstenhut ergänzte und einen Reichsapfel statt eines Ährenkranzes in die Hand gab. Auf dem Tempel befindet sich heute eine Kopie, das Original ist im Theatinergang der Münchner Residenz ausgestellt.
1773 schuf Bartolomeo Altomonte Teile der barocken Ausgestaltung des Klosters Fürstenzell bei Passau und platzierte die Bavaria im Zentrum des Deckenfreskos im Fürstensaal. Sie ist als Königin im Moment der Krönung durch einen Engel dargestellt und von Allegorien der Kirche, des Handels, der Agrikultur und der Künste umgeben.
Eine ganz andere Version einer bayerischen Landesallegorie schuf 1805 die Künstlerin Marianne Kürzinger in ihrem Ölgemälde „Gallia schützt Bavaria“. Das Bild zeigt eine mädchenhafte, zierliche Allegorie des Landes in weiß-blauem Gewand, die sich vor dem drohenden Sturm in die Arme der herangleitenden Gallia flüchtet, derweil der Bayerische Löwe sich dem Unheil entgegenwirft. In der Darstellung spiegelt sich die Allianz zwischen Bayern und Frankreich in jener Zeit. Der Habsburger Kaiser Franz hatte gedroht: „Ich werde Bayern nicht nehmen, ich werde es verschlingen.“
Rund ein Vierteljahrhundert später schuf Peter von Cornelius zusammen mit weiteren an der Ausgestaltung der Münchner Hofgartenarkaden beteiligten Künstlern eine wesentlich selbstbewusstere Allegorie Bayerns als Fresko: Diese friedliche aber wehrhafte Bavaria trägt einen Brustharnisch und eine Mauerkrone, mit der rechten Hand hält sie einen umgekehrten Speer als Friedenszeichen, in der Linken einen Schild mit dem Motto König Ludwigs I. „Gerecht und beharrlich“. Mit dem Bayerischen Löwen zu ihrer Seite sitzt sie vor einer Landschaft mit Bergen und Flusstälern.
Dem unbekannten Maler einer Tölzer Schützenscheibe von 1851 dürften die zu jener Zeit bereits recht weit fortgeschrittenen Arbeiten Schwanthalers an der Kolossalplastik für die Ruhmeshalle mit ziemlicher Sicherheit aus der Presse oder sogar aus eigener Anschauung bekannt gewesen sein: Zwar frei interpretiert, zeigt seine Darstellung der Bavaria diese doch mit den gleichen Attributen wie die zwei Jahre danach enthüllte Bavaria an der Theresienwiese. Die Kleidung ist abweichend, doch die Postierung auf dem Sockel, das Schwert in der Rechten und der Siegeskranz in der Linken lassen das Vorbild deutlich erkennen. Allerdings setzte der Künstler die Allegorie hier vor eine Alpenlandschaft mit einer Stadtansicht von Bad Tölz im Hintergrund und fügte im Vordergrund ein Stadtwappen hinzu.
Von 2011 bis 2018 hielt die Bavaria, dargestellt von der Schauspielerin Luise Kinseher, die Fastenpredigt beim Starkbieranstich auf dem Nockherberg.
== Ruhmeshalle und Bavaria ==
Die Bavaria an der Theresienwiese wird von der Ruhmeshalle und dem Bavariapark umrahmt. Sie bildet eine gedankliche und gestalterische Einheit, wenn auch mit Brüchen, mit der sie umrahmenden dreiflügeligen dorischen Säulenhalle, welche sie auf ihrem Sockel überragt. Daher wird im Folgenden der Beschreibung der Bavaria eine kurze Darstellung der Geschichte der Halle vorangestellt. Eine ausführlichere Darstellung der Entwicklung findet sich im Artikel über die Ruhmeshalle München.
=== Entstehungsgeschichte der Ruhmeshalle ===
==== Historischer Hintergrund ====
Die Jugendzeit Ludwigs I. war geprägt von den Machtansprüchen Napoleons auf der einen und Österreichs auf der anderen Seite, das elterliche Haus Wittelsbach war zu dieser Zeit Spielball zwischen jenen beiden Großmächten. Bis 1805, als Napoleon im dritten Koalitionskrieg München „befreite“ und Ludwigs Vater Maximilian zum König machte, war Bayern wiederholt Kriegsschauplatz mit verheerenden Folgen für das Land. Erst mit Napoleons Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 trat Bayern wirklich in eine Friedensphase ein.
Vor diesem Hintergrund machte sich Kronprinz Ludwig Gedanken über ein „Baiern aller Stämme“ und eine „größere deutsche Nation“. Diese Beweggründe und Ziele motivierten ihn in der Folgezeit zu mehreren Bauprojekten für Nationaldenkmäler wie die Konstitutionssäule in Gaibach (1828), die Walhalla östlich von Regensburg oberhalb der Donau und des Ortes Donaustauf (1842), die Ruhmeshalle in München (1853) und die Befreiungshalle bei Kelheim (1863), welche der König allesamt privat finanzierte und die in Form und Inhalt, Zweckbestimmung und Rezeption eine künstlerische wie politische Einheit bilden, die bei allen inneren Widersprüchen für Deutschland einzigartig ist.
Ludwig, der seinem Vater nach dessen Tod 1825 auf den Königsthron folgte, fühlte sich eng mit Griechenland verbunden, war ein glühender Verehrer der griechischen Antike und wollte seine Hauptstadt München in ein „Isar-Athen“ verwandeln. Ludwigs zweitgeborener Sohn Otto wurde 1832 zum König von Griechenland proklamiert.
==== Baugeschichte ====
Schon als Kronprinz entwickelte Ludwig den Plan, in der Residenzstadt München ein patriotisches Denkmal zu errichten, in der Folgezeit ließ er Listen und Verzeichnisse „großer“ Bayern aller Stände und Berufe anfertigen. 1833 schrieb er einen Wettbewerb für sein Bauvorhaben aus. Der Wettbewerb sollte zunächst erste Ideen für die Gestaltung der Ruhmeshalle sammeln, daher wurden in der Ausschreibung nur die Eckdaten des Projekts vorgegeben: Die Halle sollte oberhalb der Theresienwiese errichtet werden und Platz für etwa 200 Büsten bieten. Die einzige Vorgabe lautete:
Diese Bestimmung schloss den klassizistischen Baustil des Parallelprojekts Walhalla nicht aus, es liegt jedoch nahe anzunehmen, dass die Architekten dazu ermutigt werden sollten, einen anderen Baustil vorzuschlagen. Da die Entwürfe der vier Teilnehmer weitgehend erhalten sind, bietet sich ein interessanter Einblick in die Baugeschichte der Ruhmeshalle, entstanden in einer Phase des künstlerisch-weltanschaulichen Streits zwischen Klassizisten einerseits, die sich der Ästhetik der griechischen und römischen Antike verbunden fühlten, und Romantikern andererseits, die ihren künstlerischen Ausdruck an die Formensprache des Mittelalters anlehnten. Beim Wettbewerb zur Ruhmeshalle fand diese nicht nur künstlerisch-architektonische, sondern auch weltanschaulich-politische Auseinandersetzung eine Fortsetzung, die sich in den eingereichten Entwürfen spiegelt. Schlussendlich entschied sich Ludwig I. im März 1834, in erster Linie aus Kostengründen, gegen die Projekte Friedrich von Gärtners, Joseph Daniel Ohlmüllers und Friedrich Zieblands und beauftragte Leo von Klenze mit dem Bau der Ruhmeshalle. An Klenzes Entwurf beeindruckte ihn zweifellos die Kolossalstatue besonders, war doch eine solche Großplastik seit der Antike nicht mehr verwirklicht worden. Geschmeichelt von der Idee, ebenso imposante Statuen zu errichten wie die bewunderten antiken Herrscher, schrieb Ludwig I. nach seiner Entscheidung für Klenzes Entwurf:
=== Die Bavaria ===
==== Ikonografie ====
Die Statue war ursprünglich in antikisierender Ikonographie skizziert, der Charakter wurde jedoch im Laufe der Planungszeit geändert. Das schließlich verwirklichte Standbild ist durch die Romantik geprägt und greift die Symbolik des germanischen Raums auf.
==== Entwürfe Leo von Klenzes ====
Von Klenze zeichnete bereits 1824 erste Entwürfe einer Bavaria als „griechischer Amazone“. Inspiration für ein solches Standbild war die kolossale Bronzestatue der Athena Promachos, mehrere Gemälde von 1846 zeigen Klenzes Vorstellung der Akropolis von Athen.
Nachdem der Wettbewerb für die Gestaltung der Ruhmeshalle zu Gunsten v. Klenzes entschieden war, zeichnete dieser neben Detailskizzen für die Halle weitere Entwürfe für die Bavaria. Die Skizzen zeigen eine antiken Amazonendarstellungen nachempfundene Bavaria mit zweifach gegürtetem Kleid (Chiton) und hochgeschnürten Sandalen. Mit ihrer rechten Hand krönt sie eine mehrköpfige Herme, deren vier Gesichter die Herrscher- und Kriegstugenden, die Künste und die Wissenschaft symbolisieren sollen. In der linken Hand hält die Bavaria mit ausgestrecktem Arm einen Kranz auf Hüfthöhe, den sie symbolisch den geehrten Persönlichkeiten spendet. Zur Linken der Bavaria kauert ein Löwe.
Mit diesem Vorschlag schuf v. Klenze durch die Mischung verschiedener Motive einen neuen Typ der Länderallegorie. Personifikationen Bayerns gab es, wie oben beschrieben, schon lange zuvor. Doch während beispielsweise die Attribute der Tellus Bavarica auf dem Hofgartentempel für materielle Reichtümer des Landes stehen, stattete v. Klenze seine Bavaria mit Attributen der Bildung und der Staatsführung aus. Damit zeichnete er zugleich ein neues Ideal des Staates. In v. Klenzes Entwurf rückt ein tugendhaftes und aufgeklärtes Staatsideal in den Mittelpunkt und verdrängt die agrarischen Symbole. In einem weiteren Entwurf aus dem Jahr 1834 plante v. Klenze die Bavaria als exakte Kopie der Athena Promachos, die einst vor der Akropolis stand. Nach diesem Vorschlag wäre die Bavaria mit Helm und Schild und erhobener Lanze ausgestattet worden.
Am 28. Mai 1837 wurde der Vertrag über die Herstellung der Bavaria zwischen Ludwig I., v. Klenze, dem Bildhauer Ludwig Schwanthaler und den Erzgießern Johann Baptist Stiglmaier und dessen Neffen Ferdinand von Miller unterzeichnet. Die Entwürfe für Hermannsdenkmäler im Teutoburger Wald aus den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, die allerdings erst nach der Bavaria realisiert wurden, waren Ludwig I. und den beteiligten Künstlern sicher bekannt.
==== Entwürfe Schwanthalers ====
Im Gegensatz zu Klenze, der sich intensiv mit der Antike beschäftigte, war Schwanthaler Anhänger der romantischen Bewegung und gehörte mehreren Münchner Mittelalter-Zirkeln an, die sich für alles „Vaterländische“ begeisterten, Fremdes und vor allem die Antike dagegen ablehnten. Daher stand Schwanthaler in Opposition zu den klassizistischen Vorgaben Klenzes. Offenbar war es Teil von Ludwigs Strategie, die konträren Kunstauffassungen in die Gestaltung ein und desselben patriotischen Denkmalprojekts einzubinden, um die zerstrittenen Lager unter dem Dach der Nation zu einen. Sein Versuch einer Synthese der klassizistischen und der romantisch-gotischen Stilrichtung wird in der Literatur oft als „romantischer Klassizismus“ oder „ludovizianischer Stil“ bezeichnet.
Schwanthaler hielt sich in seinen ersten Bavaria-Entwürfen zunächst an die Vorgaben Klenzes. Bald jedoch begann der Bildhauer, eigene Variationen der Bavaria zu entwerfen. Entscheidend war dabei sein Entschluss, die Bavaria nicht mehr nach antikem Vorbild zu gestalten, sondern sie „germanisch“ zu kleiden: Das bis zu den Füßen reichende, hemdartige Kleid wurde nun sehr einfach drapiert und zusammen mit einem darübergeworfenen Bärenfell gegürtet, was der Figur nach Schwanthalers Ansicht einen typisch „teutschen“ Charakter verlieh.
In einem Gipsmodell aus dem Jahr 1840 ging Schwanthaler noch einen Schritt weiter. Das Haupthaar der Bavaria zierte er nun mit einem Eichenkranz. Aus dem Kranz in der erhobenen Linken, der bei Klenze aus Lorbeer gewunden war, wurde ebenfalls ein Eichenkranz. Die Eiche galt als speziell deutscher Baum. Die Umgestaltung der Bavaria fand zeitlich parallel zur so genannten Rheinkrise von 1840/41 und somit in einer Zeit patriotischer Aufwallungen gegen den „Erzfeind“ Frankreich statt. Diese Krise scheint für Schwanthaler, der ohnehin schon ein begeisterter Patriot war, Anlass gewesen zu sein, seine Bavaria betont wehrhaft mit gezogenem Schwert darzustellen. Noch bis 1843 veränderte Schwanthaler das immer wieder angepasste Gipsmodell. Dabei erhielt die zunächst steife Darstellung „innere Bewegung“ und es „gelang, der kompakten Kolossalstatue mit ihrer vorsichtig angedeuteten Kontrapoststellung Leichtigkeit und gelockerte Haltung zu geben. Der nun geneigte Kopf mit milderen, mädchenhaften Zügen strahlt eine stille Verträumtheit aus, die vorher fehlte. Das Schwert wird nicht mehr unnatürlich steil nach oben, sondern mit angewinkeltem rechtem Arm schräg gehalten. Der Löwe steht unruhiger und hält das Maul geschlossen.“
Die Attribute der Bavaria sind wie dargelegt im Fall des Bärenfells, des Eichenkranzes und des Schwertes relativ leicht aus dem kunsthistorischen und politischen Kontext der Entstehungsgeschichte zu erklären. Schwerer fällt dies jedoch bei der Deutung des Löwen. Das Tier einfach als Symbol für Bayern zu interpretieren liegt zwar nahe, trifft jedoch nicht ganz die Intentionen Klenzes und Schwanthalers. Im Bereich der Heraldik hatte der Löwe für die Herrscher Bayerns seit jeher einen festen Platz. Als Pfalzgrafen bei Rhein führten ihn die Wittelsbacher seit dem Hochmittelalter im Wappen. Außerdem dienten schon sehr früh zwei aufrechte Löwen als Schildhalter des bayerischen Wappens.
Der Kunsthistoriker Manfred F. Fischer ist jedoch der Meinung, dass der Löwe neben der Bavaria nicht nur als Wappentier Bayerns gedacht war, sondern ebenso wie das gezogene Schwert als ein Symbol für die Wehrhaftigkeit angesehen werden muss.
Das wichtigste Attribut der Bavaria bleibt jedoch der Eichenkranz in ihrer linken Hand. Der Kranz bedeutet eine Ehrengabe für diejenigen, deren Büsten im Inneren der Ruhmeshalle aufgestellt werden sollten.
==== Ausführung ====
Das 18,52 Meter hohe und 1560 (bayr.) Zentner (ca. 87,36 Tonnen) schwere Standbild der Bavaria wurde im Bronzehohlguss hergestellt und besteht aus vier Teilgüssen (Kopf, Brust, Hüfte, untere Hälfte und Löwe) und diversen montierten Kleinteilen. Die Höhe des Steinsockels beträgt 8,92 Meter.
Die Statue sollte nach den Vorschlägen v. Klenzes in Bronze gegossen werden. Seit der Antike galt Bronze als ehrwürdiges und dauerhaftes Material. Ludwig, der die Zeugnisse seines Wirkens der Nachwelt erhalten wollte, lag sehr viel an der Kunst des Bronzegusses. Daher förderte der König die Münchner Bronzegießer Johann Baptist Stiglmaier und dessen Neffen Ferdinand von Miller und belebte die lange Tradition des Bronzegusses in München, indem er eine neue Gießstätte errichten ließ. Im Jahr 1825 wurde die von Ludwig in Auftrag gegebene und von v. Klenze erbaute Königliche Erzgießerei an der Nymphenburger Straße in Betrieb genommen. Aus der Produktion dieses Gießhauses stammt neben vielen weiteren Bronze-Großplastiken jener Zeit unter anderem der Obelisk am Münchner Karolinenplatz.
Seit Ende des Jahres 1839 erarbeitete Schwanthaler auf dem Gelände der Erzgießerei gemeinsam mit etlichen Hilfsarbeitern nach und nach ein Gipsmodell der Bavaria in Originalgröße. Beim Brennvorgang fingen mehrere Werkstatthallen Feuer. 1840 wurde zunächst ein erstes, vier Meter hohes Hilfsmodell angefertigt. Im Spätsommer 1843 konnte dann das fertiggestellte originalgroße Modell in einzelne Teile zerlegt werden, die Stiglmaier und Miller dann als Vorlage für die jeweiligen Gussformen dienten. Ehe man jedoch mit dem Gießen beginnen konnte, starb Stiglmaier im April 1844, und die Leitung des Projekts ging auf v. Miller über.
Am 11. September 1844 wurde der Kopf der Bavaria aus der Bronze türkischer Kanonen gegossen, die 1827 im griechischen Befreiungskrieg in der Schlacht von Navarino (heute Pylos auf der Peloponnes) mit der ägyptisch-türkischen Flotte untergegangen waren und unter dem griechischen König Otto, Sohn Ludwigs I., gehoben und als Recyclingmaterial in Europa verkauft worden waren, wobei etliche davon nach Bayern gelangten. Im Januar und März 1845 folgte der Guss der Arme, am 11. Oktober 1845 der des Bruststückes. Im darauf folgenden Jahr wurde das Hüftstück gegossen, und im Juli 1848 war das gesamte Oberteil der Statue fertiggestellt. Der letzte größere Guss, für das Unterteil, fand am 1. Dezember 1849 statt.
An den Ort der Herstellung der Monumentalstatue erinnern heute noch die Münchner Erzgießereistraße sowie die parallele Sandstraße, an der die für den Guss notwendige Sandgrube lag.
==== Finanzierung ====
Wie alle Nationaldenkmäler Ludwigs waren die Bavaria und die Ruhmeshalle private Projekte des Königs, die er persönlich finanzierte. Am 20. März 1848 dankte Ludwig I. unter Druck zugunsten seines Sohnes Maximilian ab, was nicht ohne Folgen für die Weiterführung des Denkmalprojekts blieb.
Maximilian verpflichtete sich zwar zur Fortführung des Unternehmens, sein Budget dafür sah aber lediglich 9000 Gulden pro Jahr vor, was völlig unzureichend war.
v. Miller, der die Gusskosten aus eigener Tasche vorstrecken musste, geriet in ernste Geldnot. Erst als der abgedankte König die Finanzierung aus seiner Privatschatulle wieder übernahm, konnte die Fertigstellung der Bavaria gesichert werden. v. Miller blieb auf einem Teil der Kosten sitzen, der Werbeeffekt für die Erzgießerei war in der Folge jedoch so groß, dass die Kosten durch eine Vielzahl von Aufträgen reichlich aufgewogen wurden und die später privatisierte Erzgießerei sich bis in die 1930er Jahre behaupten konnte.
Insgesamt kostete die Ruhmeshalle den König 614.987 Gulden, die Bavaria 286.346 Gulden und das Grundstück 13.784 Gulden.
==== Aufstellung und Einweihung 1850 ====
Zum Oktoberfest des Jahres 1850, welches das 25. Regierungsjahr Ludwigs gewesen wäre, sollte die Bavaria in einem festlichen Akt enthüllt werden. Vor der Feier für den abgedankten König musste man zunächst Bedenken der Regierung ausräumen, die befürchtete, eine solche Veranstaltung könne als Demonstration gegen den regierenden König Maximilian II. aufgefasst werden.
Von Juni bis August wurden die Einzelteile der Bavaria auf eigens hierfür konstruierten Wagen, die von je zwölf Pferden gezogen wurden, zum Aufstellungsort transportiert. Am 7. August 1850 wurde als letztes der Kopf mit einem Festzug durch die Stadt zur Theresienhöhe geleitet. Die feierliche Enthüllung fand schließlich am 9. Oktober nach einem Festzug aller Gewerbe und Zünfte zur Theresienwiese statt und geriet erwartungsgemäß zu einer Huldigungsfeier für den abgedankten König. Die Künstler, die der König in den Jahren seiner Regierung sehr gefördert und durch seine rege Bautätigkeit mit Aufträgen versorgt hatte, würdigten Ludwig in besonderem Maß. Der für die Münchner Künstlerschaft sprechende Festredner Tischlein rief in seiner Festrede nach der Enthüllung der Bavaria:
Die Ruhmeshalle war bei der Enthüllung der Bavaria noch nicht fertiggestellt, Gerüste und Holzdächer verdeckten noch weite Teile des Baus. Erst 1853 konnte der Bau im Rahmen einer weitaus schlichteren Feier eingeweiht werden.
Im Inneren der Statue führt eine Wendeltreppe in den Kopf zu einer Plattform mit zwei bronzenen Sitzbänken und vier Sichtluken. Im Jahr 2014 bestiegen rund 33.000 Besucher die Statue. Die Aufstellung der Statue an der Hangkante oberhalb der damals noch wesentlich größeren Theresienwiese weist über die antiken Bezüge hinaus, wo Statuen und Säulen sich auf Architektur bezogen, sondern greift germanisch, romantische Motive auf: „Vor ihr öffnet sich die Weite des freien, grenzenlosen Raumes. Sie gehört zu der flachen Landschaft, nicht zur Architektur“ und „Schwanthaler gelang mit der ›Bavaria‹ das erste monumentale romantische Werk, das in sich geschlossen und doch auf den freien Landschaftsraum bezogen ist.“ Bei der ab den 1870er Jahren geplanten Bebauung der östlichen Theresienwiese legte Georg von Hauberrisser 1878 einen Entwurf vor, der eine ovale Begrenzung der verbleibenden Freifläche vorsieht, bei der alle einmündenden Straßen radial auf die Bavaria zulaufen. Dieses Konzept wurde im Baulinienplan von 1882 aufgegriffen und verwirklicht.
==== Nachguss der rechten Hand ====
1907 veranlasste Oskar von Miller, der Sohn Ferdinand von Millers und Begründer des Deutschen Museums in München, einen originalgetreuen Nachguss der rechten Hand der Bavaria. Er wurde in der Königlichen Erzgießerei Ferdinand von Miller angefertigt, aus dem gleichen Material wie das Original (92 % Kupfer, 5 % Zink, 2 % Zinn, 1 % Blei). Der Guss hat eine Wandstärke von 4 bis 8 Millimetern und wiegt 420 Kilogramm. Die Hand ist seither in der Metallurgie-Sammlung des Deutschen Museums zu besichtigen.
==== Sanierung ====
Die vom Verein Bavaria 2000 initiierten Untersuchungen der Bavaria durch Experten brachten so schwerwiegende Schäden ans Licht, dass die Statue im Jahr 2001 für Besucher geschlossen werden musste. Insgesamt wurden über zweitausend Einzelschäden festgestellt.
Zur Teilfinanzierung der Renovierungsarbeiten legte der Verein Repliken des einzigen Schwanthaler-Modells, der Spitze des kleinen Fingers der Statue in verschiedenen Maßstäben, unter anderem als Trinkgefäß, und anderer kunsthandwerklicher Raritäten auf, die zusammen mit einer Publikation verkauft wurden. Als weitere Finanzquelle wurden später die Außenflächen des Gerüsts als Werbeflächen vermarktet.
Im Zuge der umgehend in die Wege geleiteten, rund eine Million Euro teuren Sanierungsarbeiten wurde nicht nur der erhobene Arm aufwendig stabilisiert und die gesamte Außenfläche gereinigt, abgeschliffen und versiegelt, sondern auch eine komplett neue Wendeltreppe eingebaut.
Die Arbeiten an der Statue dauerten bis zum Beginn des Oktoberfests im September 2002. Weiterhin renovierungsbedürftig ist der Sockel des Standbildes.
Der Verein Bavaria 2000, der sich unter seinen Präsidenten Adi Thurner und später Erwin Schneider († 2005) für das Andenken an König Ludwig I. und die Erhaltung seiner Bauten und Denkmäler eingesetzt hatte, wurde im Jahre 2006 aufgelöst.
==== Künstlerische Rezeption ====
Die Bavaria von Schwanthaler wurde zum Vorbild für spätere Denkmäler. Sie beeinflusste etwa den Schweizer Bildhauer Ferdinand Schlöth bei dessen St. Jakobs-Denkmal in Basel, aufgestellt 1872.
=== Umgang mit dem Ensemble in der Zeit des Nationalsozialismus ===
Die Nationalsozialisten zeigten ein ambivalentes und zynisches Verhältnis zur Ruhmeshalle und der Bavaria.
Einerseits entwickelten sie verschiedene Pläne zur Umgestaltung des Festplatzes auf der Theresienwiese einschließlich der Bavaria und der Ruhmeshalle, die jeden Respekt vor dem Ort und der Intention des Erbauers vermissen lassen. So wurde 1934 ein Abriss der Ruhmeshalle hinter der Bavaria in Erwägung gezogen, stattdessen sollte dort ein Veranstaltungsgelände gebaut werden, die Theresienwiese sollte von Aufmarschstraßen durchzogen werden. 1935 wurde ein weiterer Plan vorgelegt, der vorsah, neben der Ruhmeshalle auch die Bavaria zu beseitigen, um an ihrer Stelle eine riesige Kongresshalle mit Heldengedenkstätte zu errichten. Nach Plänen von 1938 sollten die Bavaria und die Ruhmeshalle bestehen bleiben, jedoch von Monumentalbauten im neoklassizistischen Stil umrahmt werden. Die Theresienwiese wollte man quadrieren.
Andererseits wurde die Freifläche der Theresienwiese und die bestehende repräsentative und symbolkräftige Architektur gerne für propagandistische Inszenierungen genutzt, beispielsweise für Massenveranstaltungen bei den bis zum Kriegsausbruch großspurig gefeierten Maikundgebungen, wie der folgende Auszug aus einem Bericht der gleichgeschalteten Presse über die Feierlichkeiten am 1. Mai 1934 zeigt:
== Film ==
König Ludwig I. und seine Bavaria, Ein Film von Bernhard Graf, Bayerischer Rundfunk, 2018.
== Literatur ==
Frank Otten: Die Bavaria. In: Hans-Ernst Mittig, Volker Plagemann: Denkmäler im 19. Jahrhundert (= Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts. Bd. 20). Prestel, München 1972, ISBN 3-7913-0349-X, S. 107–112.
Paul Ernst Rattelmüller: Die Bavaria. Geschichte eines Symbols. Hugendubel, München 1977, ISBN 3-88034-018-8.
Helmut Scharf: Nationaldenkmal und nationale Frage in Deutschland am Beispiel der Denkmäler Ludwig I. von Bayern und deren Rezeption. Schnelldruckzentrum, Gießen 1985, DNB 860622185 (Teildruck der Dissertation Universität Frankfurt am Main, 1978).
Christian Gruber, Christoph Hölz: Erz-Zeit. Ferdinand von Miller – Zum 150. Geburtstag der Bavaria. HypoVereinsbank, München 1999, ISBN 3-930184-21-4.
Manfred F. Fischer: Ruhmeshalle und Bavaria. Amtlicher Führer. Überarbeitet von Sabine Heym. 2., erweiterte Auflage. Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, München 1997, ISBN 3-9805654-3-2.
Ulrike Kretschmar: Der kleine Finger der Bavaria. Entstehungsgeschichte der Bavaria von Ludwig von Schwanthaler anläßlich der Auflage „Der kleine Finger der Bavaria“ (Bronze-Reproduktion). Huber, Offenbach am Main 1990, ISBN 3-921785-53-7.
Josef Anselm Pangkofer: Bavaria, Riesenstandbild aus Erz vor der Ruhmeshalle auf der Theresienwiese bei München. Franz, München 1850 (Digitalisat).
== Weblinks ==
Bayerische Schlösserverwaltung zur Bavaria
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bavaria
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Belziger Landschaftswiesen
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= Belziger Landschaftswiesen =
Die Belziger Landschaftswiesen bilden eine ausgedehnte, flache und heute fast waldfreie Niederungslandschaft im Südwesten Brandenburgs. Sie liegen vollständig innerhalb des Baruther Urstromtales. Das rund 7.600 Hektar umfassende siedlungsfreie Gebiet gehört zum Naturpark Hoher Fläming und ist seit dem 1. Juli 2005 mit einem Teil von rund 4.500 Hektar als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Der Schutz dient der Erhaltung und Wiederherstellung eines in Brandenburg seltenen Durchströmungsmoores mit einem Netz naturnaher Bäche um den Fluss Plane. Neben der Förderung der biotopspezifischen Flora und Fauna liegt ein Schwerpunkt der Maßnahmen in der Weiterentwicklung eines der letzten deutschen Refugien für die Großtrappe. Historische Bedeutung kommt dem Landstrich insofern zu, als mitten durch die Wiesen bis 1815 die Grenze zwischen dem Kurfürstentum bzw. Königreich Sachsen und dem Königreich Preußen verlief.
Nach dem Oberspreewald nehmen die nach der Stadt Bad Belzig benannten Wiesen die zweitgrößte Fläche unter den geographischen Niederungslandschaften im Baruther Urstromtal ein, gefolgt vom Fiener Bruch, das sich nach Nordwesten bis hinein nach Sachsen-Anhalt erstreckt, und den Flemmingwiesen östlich der Talenge von Luckenwalde.
== Geographischer Überblick und Geologie ==
=== Abgrenzung ===
Die Landschaftswiesen haben sowohl im Nordosten als auch im Südwesten eine markante, deutliche Grenze. Nordöstlich der Landschaftswiesen schließt sich die Hochfläche der Zauche an, die in ihrem südlichen Teil eine ausgedehnte trockene Sanderfläche trägt. Die 86 Meter hohen Rauhen Berge begrenzen den Sander nach Norden und sind Endmoränen der jüngsten, der Weichseleiszeit. Südwestlich der Landschaftswiesen ragen die über 100 Meter NN erreichenden Höhen des Flämings auf.
Nach Nordwesten und Südosten ist die naturräumliche Grenze unscharf, da sich dort das Baruther Urstromtal jeweils fortsetzt. Die Talenge des Urstromtales bei der Stadt Brück wird meist als südöstliche Begrenzung angegeben. Etwas willkürlich kann man die Nordwestgrenze der Belziger Landschaftswiesen mit der Bundesstraße 102 zwischen dem Bad Belziger Ortsteil Ragösen und Golzow ziehen, während das deutlich kleinere gleichnamige Naturschutzgebiet seine nordwestliche Begrenzung bereits auf einer Linie zwischen dem Flämingdorf Lütte und dem Zaucheort Cammer findet.
Die namensgebende Stadt Bad Belzig liegt mit ihrem Kern rund drei Kilometer südwestlich der Niederung und erstreckt sich mit ihrem Ortsteil Hagelberg bis zum gleichnamigen Hagelberg, der mit 200 Metern höchsten Stelle des Fläming und einer der höchsten Erhebungen der Norddeutschen Tiefebene. Das Tal im Oberlauf des Belziger/Fredersdorfer Baches verbindet die Bad Belziger Altstadt mit den Landschaftswiesen.
=== Entstehung ===
Zählt der Hohe Fläming noch zur Altmoränenlandschaft der Saale-Eiszeit, gehören die Niederungen innerhalb des Urstromtals bereits zum Jungmoränenland der Weichsel-Eiszeit, deren Inlandeis in der Talung seine maximale Ausdehnung nach Süden erreichte.
Die Abflussbahn der Schmelzwasser entstand vor rund 21.000 Jahren und hinterließ mit dem Baruther Urstromtal einen im Mittel rund drei bis fünf Kilometer breiten Talboden, der nach der Verlagerung des Urstromes nach Norden (zum Berliner Urstromtal) zwischenzeitlich trocken fiel. Wie alle Urstromtäler bestehen auch die Belziger Landschaftswiesen im Untergrund aus mächtigen Schmelzwassersanden. Das Schmelzwasser erodierte an einigen Stellen stark am Nordhang des Fläming und schnitt bis zu 60 Meter aufragende Geländestufen heraus.
Vor rund 7.000 bis 9.000 Jahren kam es zu einer Anhebung des Grundwasserspiegels und das Gebiet der Belziger Landschaftswiesen vermoorte großflächig. Es bildete sich Torf. Ob die Bäche zu dieser Zeit in einem eigenen Flussbett flossen oder den Moorkörper, wie bei einem Durchströmungsmoor üblich, infiltrierten, ist nicht eindeutig geklärt. Sicher ist jedoch, dass sich mit der Vermoorung flächendeckend Bruch- und Feuchtwälder herausbildeten. Sie bestanden meist aus Erlen, Eschen, Eichen und Hainbuchen.
=== Heutiges Landschaftsbild ===
Der tischebene, vermoorte Niederungsstandort mit einer Höhe zwischen 40 und 44 Meter über NN ist neben einer Vielzahl schnurgerader Meliorationsgräben von mehreren Bächen wie dem Hellbach (im Mittellauf: Temnitz), dem Baitzer Bach und dem Belziger/Fredersdorfer Bach durchzogen, die ihre Wasser dem Hauptfluss Plane und damit der Havel zuführen. An den artenreichen Bachufern und Grabenrändern dominieren im Sommer Seggen und Hochstauden.
Von den einst vorhandenen Bruchwäldern blieben nur Restbestände erhalten. Das Gebiet wird, wie es der Name Landschaftswiesen schon andeutet, heute vor allem als Grünland genutzt. Das Bild des Grünlands prägen unterschiedliche Wiesenarten und Ackerbauflächen. Einige nasse Vertiefungen, die zum Teil bis in den Sommer hinein Wasser tragen, eingelagerte Talsandflächen und kleinflächige randliche Dünenkomplexe ergänzen den Standort. Überwiegend in den Randgebieten runden vereinzelte Weidengebüsche, Reste der Erlenbrüche und Kiefernforste das Bild der Belziger Landschaftswiesen ab. Landschaftliche Reize bietet das insgesamt eher monotone, eintönige Gebiet Freunden stiller, weiter Landschaften und den Liebhabern der Vogelkunde.
=== Hydrografie und Klimadaten ===
Charakteristisch für die gegenwärtige hydrologische Situation der Landschaftswiesen sind neben dem umfangreichen Entwässerungssystem der 1970er Jahre die vielen Bäche, die im Hohen Fläming entspringen und die Wiesen mit hoher Geschwindigkeit durchfließen. Allein im Naturdenkmal Dippmannsdorfer Paradies sickern 32 Quellen aus dem Fläminghang. Das Gewässernetz weist eine Gesamtlänge von 169 Kilometern auf, davon entfällt auf die natürlichen Fließgewässer ein Anteil von 19 %, also von rund 30 Kilometern.
Die Naturschutzverordnung sieht im Rahmen der hydrographischen Maßnahmen die naturnahe Entwicklung beziehungsweise Wiederherstellung der Bachläufe und eine Entfernung der noch vorhandenen Staueinrichtungen vor. Entscheidende Bedeutung für die Umsetzung der Schutz- und Entwicklungsmaßnahmen von Flora und Fauna kommt der gezielten Wasserregulierung mit einer möglichst hohen Wasserhaltung zu. So soll beispielsweise die von den Rindern verschmähte und wiesenüberwuchernde Ackerkratzdistel (Cirsium arvense) zurückgedrängt werden. Die hydrologischen Maßnahmen erfolgen heute durch die Naturschutzstation Baitz in enger Abstimmung mit den Landwirten und dem Wasser- und Bodenverband.
In der feuchten und oft nebelverhangenen Niederung herrscht, anders als im Fläming, ein kontinental getöntes Klima mit einer Jahresmitteltemperatur von 8,6 °C und einem mittleren Jahresmaximum von 33,3 °C. Der mittlere Jahresniederschlag beträgt 541 mm und ist damit deutlich geringer (um ca. 100 mm) als auf dem nur wenige Kilometer entfernten Fläming. Die Sonne scheint im Mittel rund 1.700 Stunden im Jahr.
Die mächtigen wärmespeichernden Schmelzwassersande des Urstromtals und die ausgedehnten Sandflächen des Fläming sorgen mit den Aufwinden der erst flachen, dann hügeligen Landschaft für eine ausgezeichnete Thermik für den Segelflug, wie einige „große“ Flüge über 1.000 Kilometer vom nahegelegenen Segelflugplatz Lüsse widerspiegeln. Im Jahr 2008 fanden hier die Weltmeisterschaften im Segelflug statt.
=== Ortschaften und Bahntrasse ===
Während sich innerhalb der Wiesen keine Siedlungen und auch keine Straßen finden, gibt es außer der Stadt Brück folgende Dörfer am Rand der Landschaftswiesen: die Bad Belziger Ortsteile Schwanebeck, Fredersdorf, Lütte, Dippmannsdorf und Ragösen sowie die nach Brück eingemeindeten Dörfer Baitz, Trebitz und Gömnigk. Nördlich der Landschaftswiesen finden sich die Planebruch-Ortsteile Freienthal, Damelang und Cammer. Am nordwestlichsten Zipfel liegt die Gemeinde Golzow. Viele dieser Dörfer und Städte verfügen über historische Feldsteinkirchen oder architektonisch interessante Kirchenbauten wie Schinkels Normalkirche in Lütte, Stülers ungewöhnliche Fachwerkkirche in Dippmannsdorf oder die oktogonale Golzower Kirche. Kulturell bedeutsam sind zudem Herrenhäuser wie in Fredersdorf und verschiedene Wassermühlen. Dem Dorf Schwanebeck brachten eine eisenhaltige und eine mit Schwefel versetzte Quelle bereits im Jahr 1715 den Titel Kurort ein.
Am Südrand der Wiesen bietet der vorbeiführende Europaradweg R1 gute Einblicke in das Gelände. Insbesondere das autofreie Teilstück zwischen Baitz und Trebitz, das am Hang von Fuchsberg (64 Meter) und Räuberbergen (68 Meter) in erhöhter Lage verläuft, eröffnet einen weiten Überblick über die flache Landschaft. Am Westrand führt die stillgelegte Trasse der eingleisigen Brandenburgischen Städtebahn entlang, die zwischen 1904 und 1962 Treuenbrietzen über Bad Belzig und Rathenow mit Neustadt (Dosse) verband. Bis zum Jahr 2003 war noch die Teilstrecke zwischen Bad Belzig und Brandenburg an der Havel in Betrieb, deren Züge auch an Bahnhöfen der Dörfer Fredersdorf, Lütte und Dippmannsdorf hielten. Kurz vor Ragösen schwenkt die Bahntrasse nach Norden und verläuft parallel zur Bundesstraße 102 nach Golzow.
== Geschichte ==
=== Frühe Randbesiedlung und Klostermühle ===
Die Fläming- und Zaucheforste sowie die trockenen Bereiche rund um die Wiesen waren laut Norbert Eschholz zu allen geschichtlichen Zeiten vom Menschen besiedelt. Bodenfunde belegen, dass der Raum vom Ende der Bronzezeit bis in die Eisenzeit (7. – 6. Jahrhundert v.u.Z.) […] sogar recht dicht besiedelt war. Wann es zu ersten Rodungen der heutigen Landschaftswiesen kam, ist unbekannt. Im Jahr 1251 erhielt das einflussreiche und vermögende Kloster Lehnin die Mühle Gömnigk (molendinum Gomenik) am Planezufluss zu den Wiesen mit den zugehörigen Gewässern, die sich zwischen Rottstock und Trebitz (Trebegotz) bis zum südlichen Wiesenrand erstreckten, von Graf Baderich von Belzig zum Geschenk.
Die Zisterzienser Mönche aus der märkischen Zauche weiteten damit ihren Einflussbereich bis ins konkurrierende Magdeburgische, also Sächsische aus und stützten damit gezielt den Landesausbau und die Siedlungspolitik der askanischen Markgrafen. Erst Hundert Jahre zuvor, 1157, hatte der Askanier Albrecht der Bär die Kerngebiete der Mark den nach den Semnonen hier siedelnden Slawen endgültig abgerungen und die Mark Brandenburg aus der Taufe gehoben. Die darauf folgenden Rufe zur Besiedlung an die namensgebenden und überwiegend niederländischen Flamen (Fläming) hatten sowohl die Askanier wie auch der Magdeburgische Erzbischof Wichmann erteilt. Zur Sicherung der jungen Gebiete entstand noch im 12. Jahrhundert die Belziger Burg Eisenhardt.
Zur Schenkung an die Mönche, die laut Theodor Fontane mit dem Kreuz in der Linken, mit Axt und Spaten in der Rechten, lehrend und Ackerbauend, bildend und heiligend die Kultur in die Mark brachten, führt das Regestenverzeichnis des Klosters Lehnin unter dem 6. August 1251 den Eintrag: Schenkung Graf Bederichs v. Belzig: eine Mühle bei Rottstock auf dem Fluß Plane mit allen Gewässern bis zum Dorf Trebegotz. Erste Rodungen im Wiesenbereich fallen in diese Zeit.
=== Heu aus dem Urstromtal ===
Da sie weder auf den trockenen Fläminghängen noch in den engen periglazialen Trockentälern, den flämingtypischen Rummeln, Heu gewinnen konnten, mussten die Belziger Bauern den drei Kilometer weiten Weg durch das Bachtal bis in die Niederung in Kauf nehmen, um feuchten und flachen Boden zur Anlage von Wiesen zu erreichen. Das heutige Wiesengelände war noch um 1780 fast flächendeckend von Bruchwäldern bedeckt. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen die Flämingbauern, neue Erkenntnisse im Wasserbau zur größeren Wiesengewinnung zu nutzen.
Der Belziger Rektor Paul Quade beschrieb 1900 die schwierige Heueinbringung: Zwischen Lütte und Brück liegen an der Plane die Landschaftswiesen, von denen die Bewohner des Fläming oft meilenweit ihr Heu holen müssen. Zur Zeit der ersten Mahd und des Grummets entwickelt sich dann in den an der Straße zu den Wiesen gelegenen Dörfern ein reges Leben. Vom Nachmittage bis zum Abend ziehen schwer bepackte Heuwagen hindurch. Viele halten beim Wirtshause an, und Tiere und Menschen ruhen sich ein wenig aus vom schweren Tagewerk und erquicken sich durch einen kühlen Trunk. Die Gewinnung des Heus wird dem Landmann von der Natur meist recht schwer gemacht. Oft kann er nicht mähen, da die Wiesen unter Wasser stehen. Ist der Schnitt glücklich gelungen, dann stören heftige Regengüsse wieder das Einbringen des Heus. An manchen Stellen kann es nur durch Ochsen herausgeschafft werden, an anderen müssen es sogar die Menschen heraustragen. Naß muß es nach Hause gefahren und dort erst getrocknet werden. (Quade S. 443 / Erläuterung: Grummet = zweiter und weitere Grasschnitte)
=== Rechtsplanische Stoppelbauern ===
Die Dörfer rund um die Wiesen lebten zu einem erheblichen Teil von dem Holzreichtum der Fläming- und Zauchewälder. Friedrich der Große ließ beispielsweise 1754 das Dorf Freienthal (frei von Steuern und Abgaben) als Kolonistendorf mit der Order an die Familien anlegen, Bauholz aus den umliegenden Amtsforsten der Zauche zu gewinnen. Dass schon 12 Jahre später im harten Winter 1762/1763 trotz der nahen Wälder viele Dörfler erfroren, büßte der Kolonie-Direktor Groschop mit vier Jahren Festungshaft in der Zitadelle Spandau, da er die Siedler nicht ausreichend mit Holz versorgt hatte.
Gelegentlich sahen sich die Zauche-Bauern gezwungen, bei den Flämingbauern jenseits der Wiesen Holz zu kaufen. Das fiel ihnen nicht leicht, verspotteten sie die Fläminger doch gerne als Stoppelsachsen (angeblich rasierten sich die Sachsen nur einmal wöchentlich). Bis zum Wiener Kongress verlief durch die Belziger Landschaftswiesen die Grenze zwischen dem Königreich Sachsen und der Mark Brandenburg, erst mit der Bildung der gleichnamigen Provinz Brandenburg 1815 als Kerngebiet Preußens kam der Fläming zu Brandenburg. Als sogenannte Neupreußen oder Musspreußen wehrten sich die Fläminger noch längere Zeit mit passivem Widerstand gegen diese unwillkommene Maßnahme.
Kursächsische Postmeilensäulen in Bad Belzig und Brück bilden heute beredte steinerne Zeugen dieser Zeit, in der sich die Bauern zu beiden Seiten der Landschaftswiesen einige feindselige Scharmützel lieferten. Diebstahlsvorwürfe aus der Zauche an die «Rechtsplanischen Stoppelbauern» waren eine Zeit lang an der Tagesordnung, was die sächsischen Bauern allerdings nicht hinderte, den preußischen Dörflern jenes Holz zu verkaufen, dass sie selber in den staatlichen Flämingforsten gestohlen hatten. (Feustel, S. 164f.)
Nach der Vereinigung unter dem märkischen Adler führten die Bauern erste umfangreichere Rodungen der dichten Sumpfwälder und die Anlage eines ersten kleinräumigen Kanalsystems zur Entwässerung durch. Sie schufen damit die Grundlage für die umfassenden engmaschigen Meliorationsmaßnahmen der 1970er Jahre und für die Herausbildung der Belziger Landschaftswiesen, wie sie sich heute als geschütztes Gebiet darstellen.
== Naturschutzverordnung ==
Die online verfügbare Verordnung für das Naturschutzgebiet Belziger Landschaftswiesen vom 24. Mai 2005, die am 1. Juli 2005 in Kraft trat, regelt detailliert Schutz- und Pflegemaßnahmen des 4.435 Hektar umfassenden Gebietes, das zu den wichtigsten Wiesenbrütergebieten Brandenburgs zählt. Die Flächen gehören zu Gemarkungen der Gemeinden Bad Belzig, Brück und Planebruch. Die Verordnung integriert die Landschaftswiesen in die Gesamtentwicklung eines Biotopverbundes mit der Nuthe-Nieplitz-Niederung, dem Fiener Bruch, der mittleren Havel und dem Havelländischen Luch.
=== Naturschutz als Interessenmanagement ===
Zentraler Stellenwert kommt dem ausgleichenden Management der unterschiedlichen Interessen zu, die sich auf verschiedenen Ebenen darstellen und deshalb nicht immer vermittelbar sind (siehe Kapitel „Wiesen und Landschaftspflege“). Das Umweltministerium Brandenburg konnte einen Teil der Zielkonflikte mit einer Aufteilung des Gebiets lösen. Mit 2.461 Hektar steht etwas mehr als die Hälfte der Gesamtfläche der landwirtschaftlichen Nutzung zur Verfügung und ist nochmals in drei Zonen mit unterschiedlichen Nutzungsbeschränkungen unterteilt:
Zone 1: rund 962 Hektar
Zone 2: rund 132 Hektar
Zone 3: rund 1.367 HektarIm Rahmen des Interessenmanagements spielen die Abschlüsse des Vertragsnaturschutzes (Pflegeverträge zwischen Behörden und Landwirten) und seine Einhaltung eine mitentscheidende Rolle.
=== Schutzzweck ===
Die Naturschutzverordnung listet die zu schützende Fauna und Flora und die erforderlichen Pflegemaßnahmen detailliert auf. Als Beispiel für den Charakter der rund 15-seitigen Verordnung ist im Folgenden nach der Einleitung ein Auszug aus dem § 3 (Schutzzweck) wiedergegeben, der zudem die Durchzugs- und Rastvögel auflistet, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Der anschließend dargestellte Absatz 2 beschreibt die Einbindung der Vorschrift in übergeordnete Maßnahmen exemplarisch am Beispiel der Bäche und Hochstaudenfluren.
Unter dem § 3 Schutzzweck heißt es unter anderem:
(1) Schutzzweck des Naturschutzgebietes, das einen für das Land Brandenburg charakteristischen Ausschnitt des Baruther Urstromtals umfasst, ist
1. die Erhaltung, Entwicklung und Wiederherstellung des Gebietes als Lebensraum wild lebender Pflanzengesellschaften, insbesondere nährstoffarmer artenreicher Feuchtwiesen, Glatthaferwiesen, Großseggen- und Röhrichtmooren, Sandtrockenrasen auf Binnendünen und Flechten-Kiefern-Wäldern,
[…]
(2) Die Unterschutzstellung dient der Erhaltung und Entwicklung
[…]
1.b.) als Durchzugs-, Rast und Überwinterungsgebiet für im Gebiet regelmäßig auftretende Zugvogelarten beispielsweise Rohrdommel (Botaurus stellaris), Entenarten wie zum Beispiel Spießente (Anas acuta), Löffelente (Anas clypeata), Krickente (Anas crecca), Pfeifente (Anas penelope) und Knäkente (Anas querquedula), nordische Gänse wie zum Beispiel Blässgans (Anser albifrons) und Saatgans (Anser fabalis), Singschwan (Cygnus cygnus), Fischadler (Pandion haliaetus), Kranich (Grus grus), Limikolen wie zum Beispiel Doppelschnepfe (Gallinago media), Uferschnepfe (Limosa limosa) und Kampfläufer (Philomachus pugnax);
2. der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung „Belziger Bach“, „Baitzer Bach“, „Plane“ und „Plane Ergänzung“ (§ 2a Abs. 1 Nr. 8 des Brandenburgischen Naturschutzgesetzes) mit ihren Vorkommen von
a. Flüssen der planaren Stufe mit Vegetation des Ranunculion fluitantis und des Callitricho-Batrachion sowie von feuchten Hochstaudenfluren als Biotope von gemeinschaftlichem Interesse („natürliche Lebensraumtypen“ im Sinne des Anhangs I der Richtlinie 92/43/EWG), […].Zentraler Bestandteil der Verordnung sind neben den Maßnahmen zum Schutz des Durchströmungsmoores die Schutz- und Pflegemaßnahmen der Wiesen und die Förderung der Brutflächen und des Nahrungsangebotes für die Großtrappen und Wiesenbrüter. Die folgenden Kapitel gehen auf diese zentralen Aspekte ausführlich ein, während die übrige schützenswerte Fauna und Flora in abschließenden Übersichten beschrieben wird.
== Das Grünland ==
Die einst flächendeckenden Bruchwälder nehmen heute nur noch einen minimalen Anteil der Gebietsfläche ein, der gesamte Waldanteil liegt bei 0,1 %. Neben den Wasserflächen bestimmt das Grünland mit 65 % Flächenanteil das Bild der Belziger Landschaftswiesen.
Die umfangreichen Meliorationsmaßnahmen der 1970er Jahre hatten den Grünlandanteil zugunsten von Ackerland reduziert und das restliche Grünland war zudem zur Erhöhung der Grünmassenerträge weitgehend in grasreiches, krautarmes Saatgrasland überführt worden. Erst die seit 1991 möglichen gezielten Wasserregulierungen der Naturschutzstation Baitz, Grünlandumbrüche und bereits in diesen Jahren einsetzende Pflegemaßnahmen führten zur Erholung der großflächig verschwundenen Wiesenpflanzen und zur allmählichen Wandlung des artenarmen Grünlandes in Frisch-, Feucht- und Riedwiesen.
=== Wiesentypen ===
Ein Schwerpunkt der Naturschutzverordnung liegt in der Erhaltung und Entwicklung nährstoffarmer, artenreicher Feuchtwiesen, Glatthaferwiesen und von Sandtrockenrasenflächen auf den Binnendünen. Die folgenden Wiesenbeschreibungen beruhen zum Teil auf einer Bestandsaufnahme, die Ute Dopichay Ende der 1990er Jahre in den Belziger Landschaftswiesen durchgeführt hat. Zur Einordnung der Wiesen siehe auch die Pflanzensoziologischen Einheiten nach Oberdorfer und die Einteilungen des Extensivgrünlands.
Honiggraswiesen (Holcetum lanati)
Diese Wiese aus dem bis zu einem Meter hohen Wolligen Honiggras (Holcus lanatus) kommt dominant an verschiedenen wechselnassen bis wechselfeuchten Moor- bzw. Anmoorstandorten vor. Mit kleinflächigen Ausbreitungen bei zunehmender Tendenz ist das Honiggras auch auf allen anderen Wiesen vertreten.
Rohrglanzgras-Bestände (Phalaris arundicanea-Bestände)
Die Wiesen aus verschiedenen Arten aus der Gruppe der Röhrichtpflanzen gründen weitgehend in Ansaaten der 1970er Jahre. Auf nährstoffreichen und zeitweise überfluteten, sehr moorigen Flächen finden sich ausgedehnte Bestände, die auf lange überfluteten Flächen mit einer deutlichen Zunahme des Flutenden Schwaden (Glyceria fluitans) teils großräumig in Flutrasen übergehen.
Wiesen-Fuchsschwanz-Bestände (Alopecurus pratensis-Bestände)
Der Wiesen-Fuchsschwanz ist ein ausdauerndes Obergras aus der Familie der Süßgräser und kommt auf verschiedenen Wiesenarten der wechselnassen bis wechselfeuchten Moor- bzw. Anmoorstandorte vor. Ausgeprägtere Bestände gibt es auf den Honigwiesen. An einigen Standorten entwickelt sich das Gras derart dominant, dass es als eigenständige Form der Wiesen-Fuchsschwanz-Bestände bezeichnet wird.
Rasen-Schmielen-Queckengrasland (Deschampsia cespitosa-Agropyron repens-Gesellschaft)
Diese Wiesengesellschaft auf wechselnassen bis wechselfeuchten Moor- bzw. Anmoorstandorten setzt sich mit wechselnder Dominanz aus verschiedenen Schmielgräsern und der Pionierpflanze aller Böden, dem Süßgras Gemeine Quecke, zusammen. Wie bei allen Wiesen – es gibt keine Wiesen in „Reinkultur“ – ergänzen weitere Gräser diese im Untersuchungsgebiet mäßig wüchsige Pflanzengesellschaft.
Rasenschmielenwiesen (Ranunculo-Deschampsietum)
Die Rasenschmielenwiesen bestehen dominant aus Schmielgräsern und sind auf mäßig entwässerten eutrophen Überflutungsmooren, die meist im Frühjahr überstaut sind, zu Hause (Dopichay S. 68). Sie zählen wie alle Feuchtwiesen zu den gefährdeten und geschützten Biotopen in Brandenburg. Da sie vom Vieh meist verschmäht werden, ist ihr wirtschaftlicher Wert gering. Charakteristisch ist die im Sommer aus dichten Horsten der Rasenschmiele aufgebaute Untergrasschicht mit einer eher schütteren Obergrasschicht aus den Blütenständen. Wiesen-Fuchsschwanz oder die Scheinähren des Wiesen-Lieschgrases (Phleum pratense) ergänzen die Schmielen flächendeckend.
Kriechhahnenfuß-Rispengrasland (Ranunculus repens-Poa pratensis-Gesellschaft)
Diese Gesellschaft auf frischen bis mäßig-feuchten Standorten setzt sich wesentlich aus dem Wiesen-Rispengras (Poa pratensis) und dem bodennah wachsenden Kriechenden Hahnenfuß (Ranunculus repens) zusammen. Unter den insgesamt Blühaspekt-armen Wiesen sticht diese Wiese mit zwei bis drei Zentimeter großen und goldgelb glänzenden Blüten des Kriechhahnenfußes heraus und stellt eine der wenigen ausgedehnteren Frühjahrs-Blütenflächen in den Belziger Landschaftswiesen dar.
Glatthaferwiesen-Fragmentgesellschaften (Arrhenatherion-Fragmentgesellschaften)
Die Wiesen aus robustem Glatthafer (Arrhenatherum elatius) verzeichnen im gesamten Gebiet ausgedehnte Bestände auf frischen bis trockenen Mineralstandorten. In der Fredersdorfer Flur wird der Glatthafer teils weitläufig vom bis zu 1,50 Meter hohen Wiesen-Fuchsschwanz (Alopecurus pratensis) mit seinen kriechenden Ausläufern dominiert, so dass sie hier auch als Ausprägung von Alopecurus pratensis beschrieben werden. Für die Landwirtschaft bedeuten beide Gräser wertvolle Bestandteile im Futtergrasanbau und bilden daher willkommene Wiesengemeinschaften.
Sandtrockenrasen
Die kleinflächigen Sandtrockenrasen- oder auch Sand-Magerrasengesellschaften bleiben weitgehend auf die Dünenbereiche beschränkt und spielen als flächenbestimmender Faktor und landwirtschaftlich keine Rolle. Die schwachwüchsigen Bereiche aus verschiedenen Gräsern und niedrigwüchsigen Sandspezialisten haben allerdings als besonderes ökologisches Nischenbiotop große Bedeutung für Flora und Fauna.
=== Weitere Wiesenflora und Randflora ===
==== Blühaspekt auf den Landschaftswiesen ====
Neben den bereits erwähnten Blühaspekten beleben die purpurroten Blütenstände des Blutweiderichs (Lythrum salicaria) insbesondere auf dem Rasen-Schmielen-Queckengrasland im Hochsommer großflächig das Bild. Eine hohe Blütenzahl und Blütenvielfalt („Blühaspekt“) erhöht das Aufkommen von Insekten und Spinnen und damit die Nahrungsgrundlage vieler Wiesenbrüter (vergleiche auch Blumenwiese). Weitere großflächige Blühaspekte liefern auf fast allen Belziger Landschaftswiesen im Frühjahr die Blüten der in Brandenburg gefährdeten Wiesen-Margerite (Leucanthemum vulgare) und im Hochsommer die Schafgarbe (Achillea millefolium). Wie auf fast allen Wiesen Europas locken auch hier die gelben Blüten des Löwenzahns (Taraxacum officinale) von April bis Oktober Insekten an. Durch das frühe Erscheinen der Blüten ist der Löwenzahn eine wichtige Bienenweide, die der Entwicklung der Bienenvölker im Frühjahr dient.
Beim Weißklee (Trifolium repens) sind deutliche Zunahmen zu verzeichnen, aber auch die Blütenfelder des Rot- (Trifolium pratense) und Schwedenklees (Trifolium hybridum) dehnen sich aus – eine Ausdehnung, die Naturschützer und Landwirte gleichermaßen begrüßen, da die Zunahme dieser blütenreichen Leguminose nicht nur den Wiesenbrütern dient, sondern auch die Futterqualität der Wiese verbessert. Vereinzelt bilden die rosaroten Kronblätter der Kuckuckslichtnelke (Lychnis flos-cuculi) leuchtende Farbenmeere. Auch die nach dem Bundesnaturschutzgesetz besonders geschützten und im Gebiet wieder beobachteten fünfzähligen, weißen Blüten des Körnchen-Steinbrech (Saxifraga granulatar), ferner Heidenelken (Dianthus deltoides) und, wenn auch noch vereinzelt, Prachtnelken (Dianthus superbus) tragen wieder zum Blühaspekt und damit zur Biotopbereicherung bei.
==== Uferzonen und Gehölze ====
Insgesamt beheimaten die Wiesen, Weiden und Ackerbauflächen gemeinsam mit den Restbeständen des Waldes und den Dünenbereichen rund 245 Pflanzenarten, von denen 22 auf der Roten Liste gefährdeter Arten Brandenburgs stehen. Den größten Artenreichtum weisen die Ränder und Ufer der Gräben und Bäche auf. Hier finden sich noch kleine Flächen mit der Sumpfdotterblume (Caltha palustris). Die Naturschützer hoffen, dass die Bestände der in Brandenburg seltenen feuchtigkeitsliebenden Pflanze mit der Entwicklung einiger Rohrglanzgras-Bestände zu Flutrasen steigen.
Weitere bemerkenswerte Bewohner der Uferzonen sind neben den Seggen der Wiesen-Goldstern (Gagea pratensis), Scharbockskraut (Ranunculus ficaria), sowie Hochstauden wie Wiesen-Kerbel (Anthriscus sylvestris), Kohldistel (Cirsium oleraceum), Sumpf-Kratzdistel (Cirsium palustre) oder sogar Wiesen-Alant (Inula britannica), Schwanenblume (Butomus umbellatus) oder der stark gefährdete Schlangen-Knöterich (Persicaria bistorta), der im Volksmund wegen seiner markanten Blütenform auch Zahnbürste heißt.
Für die mesotrophen Standorte mit vernässten Böden streben die Naturschützer gemäß Naturschutzverordnung insgesamt eine Entwicklung zu typischen Pflanzengesellschaften wie Seggensümpfen und Pfeifengraswiesen (Molinion caeruleae) mit einer artenreichen Arthropodenfauna (Gliederfüßer wie Insekten, Krebse, Spinnen, Milben) an. In den Randbereichen sollen Flechten-Kiefern-Wälder (Cladonio-pinetum), an den Bachufern standortgerechte, gebietsheimische Gehölze wie Erlen und Weiden und an ausgewählten Standpunkten Kopfweiden und Strauchgehölze gefördert werden.
=== Wiesen- und Landschaftspflege ===
„Zur Erhaltung und Verbesserung der von artenarmen, wüchsigen Feuchtwiesen dominierten offenen Wiesenlandschaft muss eine extensive, räumlich und zeitlich versetzte, an unterschiedliche Standorte angepasste Bewirtschaftung gewährleistet sein.“ (Dopichay S. 64)
Eine weitere standortbezogene Differenzierung der Maßnahmen im Grünland erfordern die speziellen Anforderungen des Schutzgebietes für die Großtrappen.
==== Naturnaher Ackerbau: Feldermosaik ====
Die Ackerflächen sind im Rückgriff auf die mittelalterliche Mehrfelderwirtschaft mit wechselnden Streifen Getreide, Erbsen, Lupinen, Raps, Klee und Kartoffeln angelegt. Das daraus entstehende Mosaik aus Rotations- und Dauerbrachen bietet den Großtrappen die ökologisch erforderlichen Brut- und Nahrungsflächen. Eine weitere Differenzierung der Maßnahmen erfolgt durch die drei Zonen mit unterschiedlichen Beschränkungen der Nutzung, die die Naturschutzverordnung vorsieht.
Zur Sicherung erster Pflegemaßnahmen hatten das Land Brandenburg und der Förderverein Großtrappenschutz e.V. bereits in den 1990er Jahren rund 850 Hektar Wiesenfläche aufgekauft, die in das NSG eingingen. Die Flächen werden ausschließlich an landwirtschaftliche Betriebe übergeben, die sich an die Vorgaben des Naturschutzes halten (Vertragsnaturschutz) und eine extensive Landnutzung betreiben. Dazu gehören in den Kerngebieten die Vermeidung von Chemikalien und Düngemitteln, die Einhaltung der optimalen Wasserstände des Durchströmungsmoores, kein Grünlandumbruch und keine Nachsaat, kein Schleppen und Walzen der Wiesen von April bis September. Die Mähhäufigkeit und Schnitttechnik der Wiesen und Weiden erfolgt zu festgelegten Terminen unter Einsatz von elektronischen Wildrettern, deren hochfrequente Töne die Tiere zum Verlassen des Gebiets treiben. Zusätzliche mechanische Wildretter durchkämmen wie eine große Harke bei jedem Durchgang den nebenliegenden, nächsten Mahdbereich.
==== Mahd und Zielkonflikte ====
Bewirtschaftung und Mahd der Wiesen und Weiden sind unerlässlich, um den Artenreichtum zu erhalten. Unterbleibt ein artgerechter Schnitt, führt die Sukzession bei Feuchtwiesen zur Ausbildung von Hochstaudenfluren, später Gebüschen und zur Rückkehr zu den ehemaligen Bruchwäldern. Eine regelmäßige Mahd ist in den Belziger Landschaftswiesen ferner deshalb unerlässlich, um in vom Rohrglanzgras (Phalaris arundinacea) und Wiesen-Fuchsschwanz dominierten und damit gefährdeten Wiesenflächen den Aufwuchs zu verringern bzw. Mineralstandorte auszuhagern (Dopichay, S. 70).
Ohne weiteren Schnitt nach der Beweidung wäre auch nicht die weitere Ausbreitung der Ackerkratzdistel (Cirsium arvense) zu verhindern, die bereits großflächig auftritt und in großen Mengen jede Wiese oder Mähweide unbrauchbar macht. Die Rinder fressen schmackhaftere Gräser und meiden die Hochstauden, was die Vermehrung des auch als „Ackerunkraut“ bezeichneten Korbblütlers nochmals befördert. Der Abbau des Artenreichtums durch dominanten Bewuchs dieser Pflanzen vermindert das Nahrungsangebot für die zu schützenden Wiesenbrüter. Auf der anderen Seite bieten gerade Pflanzen wie die bis zu 1,20 Meter hohe Ackerkratzdistel mit ihrer Zugänglichkeit für Insekten aller Art einen ganz besonders geeigneten Lebensraum und üben auch auf Spinnen und Tagfalter eine große Anziehungskraft aus. Auch das Rohrglanzgras stellt einen von Insekten und Spinnen bevorzugten Lebensraum dar und sollte bei Berücksichtigung ihrer Entwicklungszyklen von mehreren Jahren höchstens alle drei bis fünf Jahre gemäht werden.
Die Pflegemaßnahmen in den Landschaftswiesen versuchen diesen Zielkonflikten mit einer passenden Mähfrequenz und einer Verlagerung der Hochstauden in die Randzonen gerecht zu werden. Für die Landwirtschaft machen allenfalls drei Schnitte pro Saison betriebswirtschaftlich Sinn, was auf der einen Seite den bei jeder – noch so vorsichtigen – Mahd gefährdeten Wiesenbrütern entgegenkommt, zur Erhaltung der Wiesen selbst jedoch die erforderliche Untergrenze darstellt. Der notwendige Einsatz des schweren landwirtschaftlichen Gerätes mit Treckern wiederum verdichtet die Böden in einer den Wiesen abträglichen Form. Schonende breitreifige, aber teure Motorfahrzeuge wären im Verhältnis zu den Heuerträgen unwirtschaftlich. Auf dieser Ebene müssen die Pflegemaßnahmen ökologische und wirtschaftliche Interessenkollisionen ausgleichen.
Mit dem Mosaik aus Rotations- und Dauerbrachen, den zonalen Aufteilungen und den begleitenden Abschlüssen im Vertragsnaturschutz stellt sich der Naturschutz auf den Belziger Landschaftswiesen somit als Management von widerstreitenden Interessen auf unterschiedlichsten, sich teilweise überlagernden Ebenen dar, die durch die Einbindung in das Europäische Vogelschutzgebiet nochmals differenziert werden. Das Kerngebiet des Naturschutzgebietes allerdings steht unter einem einzigen, klaren Ziel: Schutz und Förderung der Großtrappe.
== Europäisches Vogelschutzgebiet ==
Die Belziger Landschaftswiesen gehören heute als SPA = Special Protection Area zum Europäischen Vogelschutzgebiet Unteres Rhinluch, Dreetzer See, Havelländisches Luch und Belziger Landschaftswiesen im Schutzgebietsystem Natura 2000. Zählungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ergaben insgesamt rund 160 Vogelarten, darunter 110 Wiesenbrüter. 30 dieser Vögel stehen auf der Roten Liste gefährdeter Arten Deutschlands.
Ein erheblicher Teil des Gebietes dient dem besonderen Schutz der Großtrappe und ist ohne Führung nur in den Randbereichen zugänglich. Zur Beobachtung der Trappen und vieler weiterer seltener Vögel hat die Naturschutzbehörde einen Beobachtungsturm bei Freienthal wenige Meter westlich der Plane errichtet. Im Brücker Ortsteil Baitz befindet sich die Naturschutzstation der Wiesen, der die Vogelschutzwarte Baitz angegliedert ist. Die Station verfügt im Garten über Volièren zur Pflege verletzter Greifvögel und unterhält tief in den Landschaftswiesen eine nicht-öffentliche Beobachtungsstation (kein Beobachtungsturm) für Trappen. Ihre zentrale Aufgabe sieht die Vogelschutzwarte in der Entwicklung und Umsetzung des Artenschutzprogramms Großtrappe im Gebiet der Belziger Landschaftswiesen. (Meckelmann/Eschholz)
=== Großtrappe ===
Der Bestand der Großtrappe war bis zum Jahr 2003 auf rund 150 Exemplare bundesweit geschrumpft, davon rund 30 in den Belziger Landschaftswiesen, die um 1800 von Trappen aus den Steppen Osteuropas besiedelt worden waren. Hier hatte sich der Bestand so gut entwickelt, dass die Bauern mehrere Bittschriften verfassten, die dem Adel zur Jagd vorbehaltenen Großtrappen abschießen zu dürfen. Die Industrialisierung der Landwirtschaft und insbesondere die maschinelle Mahd führte zur drastischen Bestandsabnahme durch Tötung der brütenden Hennen auf dem Gelege und Zerstörung der Nester.
Die intensiven Schutzmaßnahmen der Bruträume mit großflächig extensiver Landnutzung und angepassten Bewirtschaftungskonzepten haben in den drei Brandenburgisch/Sachsen-Anhaltischen Trappenschutzgebieten (neben den Landschaftswiesen Gebiete im Fiener Bruch und im Havelländischen Luch) zwischen 1955 und 2005 fast zu einer Verdoppelung des Bestandes von 55 auf 100 Exemplare geführt. In den Belziger Landschaftswiesen liegt die Zahl laut Auskunft von Norbert Eschholz, Leiter der staatlichen Vogelschutzwarte in Baitz, im März 2006 bei 37 Vögeln mit weiter steigender Tendenz. Diese Zahlen sind allerdings momentan nur unter Zuhilfenahme der künstlichen Bebrütung zu erreichen.
=== Wachtelkönig ===
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kehrte mit dem Wachtelkönig (Crex crex; auch Wiesenralle) ein in einigen Staaten Mitteleuropas vom Aussterben bedrohter und weltweit bedrohter Vogel in die Belziger Landschaftswiesen zurück. Nachdem die maschinelle Mahd des Niederungsgebietes den Vogel völlig verdrängt hatte, findet er inzwischen seine überlebensnotwendigen dicht bewachsenen Deckungsinseln und ein ausreichendes Nahrungsangebot im Urstromtal wieder. Pflege- und Schutzmaßnahmen für diese sehr seltene Rallenart gehören seither zu den Prioritäten der Naturschutzstation Baitz.
=== Weitere Vogelarten ===
Eher zu Gesicht bekommt man in den Feuchtwiesen den Schnepfenvogel Bekassine (Gallinago gallinago).
Weiter kommen vor: Große Brachvogel (Numenius arquata), Schilfrohrsänger (Acrocephalus schoenobaenus), Eisvögel (Alcedo attis), Ziegenmelker (Caprimulgus europaeus), Flussregenpfeifer (Charadrius dubius), Grauammer (Emberiza calandra), Raubwürger (Lanius excubitor), Goldregenpfeifer (Pluvialis apricaria), Bruchwasserläufer (Tringa glareola), Waldwasserläufer (Tringa ochropus), Wiedehopf (Upupa epops) und Kiebitz (Vanellus vanellus), dessen Männchen beim Balzflug im Frühjahr akrobatische Flugmanöver mit seitlich kippenden Sturzflügen vollbringt. Es wirft sich laut rufend in der Luft hin und her und trudelt senkrecht zu Boden.
Im Winterhalbjahr gesellen sich Watvögel und Tausende nordische Gänse auf der Rast hinzu, die zum Teil im oben wiedergegebenen Auszug der Naturschutzgebietsverordnung benannt sind. Ausgestorben sind von den ehemaligen Bewohnern der Belziger Landschaftswiesen Birkhuhn (Lyrurus tetrix), Sumpfohreule (Asio flammeus), Kornweihe (Circus cyaneus) und Rotschenkel (Tringa totanus). Dagegen konnten Dank eines Wiederansiedelungsprogramms für den in den 1970er Jahren ausgestorbenen Steinkauz (Athene noctua) neue Brutnachweise erbracht werden. Auch das metallisch-monotone „zi zi zi rideriderit“ der Grauammer (Emberiza calandra; Miliaria calandra) ist wieder öfter zu hören.
== Fauna der Gewässer, Säugetiere und Insekten ==
Verbunden mit dem kontinental getönten Klima bringen die unterschiedlichen Biotope und Zonen der Belziger Landschaftswiesen – über die Vogelwelt hinaus – eine vielfältige Fauna hervor. Die folgende Darstellung beschränkt sich im Wesentlichen auf das Vorkommen der nach den entsprechenden Richtlinien „besonders geschützten“ oder „streng geschützten“ Arten.
=== Fische und Rundmäuler ===
Aufgrund des nährstoffarmen Wassers mit hoher Fließgeschwindigkeit finden sich in den Bächen Arten, die für Fließgewässer im Flachland eher ungewöhnlich sind. Insgesamt sind 19 verschiedene Fischarten nachgewiesen, von denen 13 auf der Roten Liste Brandenburgs stehen. Zu den „streng geschützten“ Arten zählen der Gründling (Gobio gobio) aus der Familie der Karpfenfische, ferner die „fettige“ Bachschmerle (Noemacheilus barbatulus) mit ihrem hohen Nährwert („schmerl“ Mittelhochdeutsch = fettig) und der Neunstachlige Stichling (Pungitius pungitius) oder Zwergstichling, der hier seine bevorzugten Kleingewässer vorfindet.
Heimisch in den Wiesengewässern sind ferner der Schlammpeitzger (Misgurnus fossilis) und der im fortgeschrittenen Alter räuberische Rapfen (Aspius aspius). Im Flüsschen Plane lebt mit der Bachforelle (Salmo trutta forma fario) ein weiterer räuberischer Süßwasserfisch. Wie die Forelle liebt auch das „stark gefährdete“ und einzige in Deutschland stationär lebende Rundmaul (Cyclostomata), das Bachneunauge (Lampetra planeri), klare Bäche. Die geschlüpften und noch augenlosen Larven („Querder“) vergraben sich drei bis vier Jahre im Sand und nur das ins Wasser ragende Maul ist in diesem Stadium wahrzunehmen.
=== Krebse und Kröten ===
Vereinzelt gräbt auch wieder der größte in europäischen Gewässern heimische Krebs in den Uferböschungen der Plane seine Wohnhöhlen. Der bis zu 20 cm große Edelkrebs oder Europäische Flusskrebs (Astacus astacus) erreicht ein Alter zwischen 15 und 20 Jahren. Von den 50 bis 400 Eiern, die das Weibchen bis zu 26 Wochen unter dem eingeschlagenen Hinterleib trägt, entwickeln sich dank der Räuber und weiterer Feinde allenfalls 10–20 % zum Jungkrebs. Verschiedene Vertreter der Wirbellosen ergänzen die Bachfauna.
Aus der Gattung der Echten Kröten kommt im Naturschutzgebiet die nach der Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) besonders geschützte Kreuzkröte (Bufo calamita), ein Froschlurch, vor. Der spezifische Biotopverbund der Belziger Landschaftswiesen mit kleinflächigen Binnendünen und Nassflächen kommt ferner den Lebensraumbedürfnissen der Knoblauchkröte (Pelobates fuscus), ebenfalls ein Froschlurch und „besonders geschützt“, entgegen. Die erwachsenen Kröten sind weitgehend bodenbewohnende Landtiere, die lediglich in der Laichzeit Feuchtbiotope benötigen. In den sandig-lehmigen Böden des Urstromtals graben die Tiere mittels ihrer Fersenhöcker-„Schaufeln“ an den Hinterfüßen bis zu 60 cm tiefe Höhlen aus.
=== Säugetiere und Insekten ===
Die Jagd auf den Rotfuchs (Vulpes vulpes) wurde nach Darstellung von Jochen Bellebaum aufgrund seiner Bedrohung für die Wiesenbrüter bereits in den 1990er Jahren mit hohen Abschussprämien gefördert. Dennoch sind die Bestände wie oben angeführt in den Landschaftswiesen immer noch so hoch, dass der Fuchs nach wie vor eine starke Gefährdung für die Trappen darstellt und im Naturschutzgebiet weiter bejagt wird. Auch der Marderhund (Nyctereutes procyonoides) wurde bei vereinzeltem Auftreten in den Landschaftswiesen bejagt. Unter den Schutzstatus „Streng geschützt“ fallen hingegen Mauswiesel (Mustela nivalis) und Iltis (Mustela putorius). Der gleichfalls streng geschützte Fischotter (Lutra lutra) findet sich noch sehr vereinzelt und die Ansiedlung des Bibers (Castor fiber) gehört zu einem der Entwicklungsziele der Naturschutzverordnung. Rehe (Capreolus capreolus) sowie Mäuse (Mus) und weitere Kleinsäuger ergänzen die Klasse der Mammalia.
Von der übrigen artenreichen Fauna stechen in den Belziger Landschaftswiesen noch drei „streng geschützte“ Insekten besonders heraus, die Feldgrille (Gryllus campestris) und die beiden Libellen Gebänderte Prachtlibelle (Calopteryx splendens) und Gemeine Keiljungfer (Gomphus vulgatissimus). Die Großlibelle Keiljungfer gehört mit ihrer Flügelspannweite von 6 bis 7 Zentimetern zu den ersten Libellen des Frühjahrs und steckt an der Plane, am Belziger/Fredersdorfer sowie Baitzer Bach Reviere von 10 bis 20 Metern Länge ab.
== Naturereignis: Massenschlafplatz von Rohrweihen ==
Mit der Einbindung in den Biotopverbund der Havel-Nuthe-Nieplitz-Bereiche, in das Europäische Vogelschutzgebiet, in die nordwestlich und östlich anschließenden Niederungsbereiche im Baruther Urstromtal und in den Naturpark Hoher Fläming bilden die Belziger Landschaftswiesen eine weiträumig verflochtene Naturlandschaft, die bereits heute vielversprechende Entwicklungen und Renaturierungen aufweist. Der projektierte Naturpark Baruther Urstromtal, der talaufwärts östlich von Luckenwalde entstehen soll, wird weiter dazu beitragen, dass bedeutsame Ereignisse wie im Sommer 1999 im Kultur- und Naturraum Fläming/Havelland zur Regel werden. Hier kam es erstmals in der jüngeren Naturgeschichte der Landschaftswiesen zu einem herausragenden Massenschlafplatz von Rohr- und Wiesenweihen. Laut einem Bericht von Torsten Ryslavy ergaben Zählungen 108 Rohr- (Circus aeruginosus) und 18 Wiesenweihen (Circus pygargus) – eine bemerkenswerte Größenordnung für die europaweit besonders geschützten und in Deutschland vom Aussterben bedrohten Greifvögel.
== Quellen ==
=== Fachspezifische Aufsätze zu den Landschaftswiesen ===
Jochen Bellebaum: Fuchs und Marderhund in Brandenburgs Feuchtgebieten – Ergebnisse aus den 1990er Jahren. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 11, Heft 2, 2002, S. 200–204.
Ute Dopichay: Zustandsbeschreibung ehemaligen Intensivgrünlandes in den Belziger Landschaftswiesen mit Hinweisen zu Pflegemaßnahmen. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 8, Heft 2, 1999, S. 64–72.
Norbert Eschholz: Großtrappen (Otis: TARDA L, 1758) in den Belziger Landschaftswiesen. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 5, Heft 1, 1996, S. 37–40.
H. Meckelmann, Norbert Eschholz: Zehn Jahre Naturschutzstation Baitz. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 9, Heft 3, 2000, S. 114.
Torsten Ryslavy: Herausragender Massenschlafplatz von Rohr- und Wiesenweihen im Europäischen Vogelschutzgebiet (SPA) Belziger Landschaftswiesen im Jahr 1999. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 9, Heft 4, 2000, S. 136–139.
Bärbel Litzbarski: Das Europäische Vogelschutzgebiet (SPA) Belziger Landschaftswiesen. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 7, Heft 3, 1998, S. 182–184. (enthält eine Bestandstabelle)
=== Weitere benutzte Literatur ===
Jan Feustel: Zwischen Wassermühlen und Sumpfwäldern, Ein Reise- und Erlebnisführer in das Baruther Urstromtal. Hendrik Bäßler Verlag, Berlin 1999, ISBN 3-930388-11-1, siehe unter anderem Seiten 163ff
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Teil 3: Havelland. 1. Auflage. 1873. (Zitat nach der Ausgabe Nymphenburger Verlagshandlung, München 1971, ISBN 3-485-00293-3, Zitat Mönche Lehnin S. 38)
L. Lippstreu, N. Hermsdorf, A. Sonntag: Geologische Übersichtskarte des Landes Brandenburg 1 : 300.000. Potsdam 1997. (Erläuterungsteil auf der Rückseite)
Carsten Rasmus, Bettina Klaehne: Erlebnisführer Naturparks in Brandenburg: Ausflüge zu Fuß und mit dem Rad durch die Naturparks, Biosphärenreservate und den Nationalpark Unteres Odertal. KlaRas-Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-933135-05-2, S. 50f.
Paul Quade: Das Amt Belzig. In: Pestalozzi-Verein der Provinz Brandenburg (Hrsg.): Die Provinz Brandenburg in Wort und Bild. Verlag von Julius Klinkhardt, Berlin 1900, S. 437–444, Zitat S. 443.
Stephan Warnatsch: Geschichte des Klosters Lehnin 1180–1542. (= Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser, Band 12.1). Lukas Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-931836-45-2, S. 245. (Zugleich: Berlin, Freie Universität, Dissertation, 1999)
… (ebenso), Regestenverzeichnis. … Band 12.2 … ISBN 3-931836-46-0 Zitat: Eintrag Nr. 101, 1251, August 6
=== Quellen in Weblinks ===
Verordnung über das Naturschutzgebiet „Belziger Landschaftswiesen“ vom 24. Mai 2005 mit Kartenskizze
Naturpark Hoher Fläming
Der Brandenburger Landstreicher. (Memento vom 27. August 2006 im Webarchiv archive.today) Quelle für das Zitat von Mathias Freude zum Bestand der Großtrappen
Förderverein Großtrappenschutz
Förderverein Naturpark Baruther Urstromtal
=== Sonstige Quellen ===
Telefonische Auskünfte durch Norbert Eschholz, Leiter der staatlichen Vogelschutzwarte in Baitz, 29. März 2006.
== Nichtbenutzte weiterführende Literatur und Weblinks ==
=== Literatur ===
Johannes H. Schröder, A. Heinke (Hrsg.): Geowissenschaftliche Sammlungen in Berlin und Brandenburg – Einladungen zum Schauen. (= Führer zur Geologie von Berlin und Brandenburg. Nr. 8). Verlag Prog. J.H. Schröder TU Berlin, 2002, ISBN 3-928651-10-2.
Odette Dumke: Ökologische Untersuchungen zum Vorkommen der Großtrappe (Otis Tarda L.) in den Belziger Landschaftswiesen. unveröffentlichte Diplom-Arbeit. Universität Dresden, Fakultät Bau-, Wasser-, Forstwesen, 1994.
=== Weblinks ===
Land Brandenburg zu Naturschutzgebiet, Großtrappen (Memento vom 10. Februar 2013 im Webarchiv archive.today) 14. Juni 2005.
Großtrappe auf: naturfoto-online.de
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Belziger_Landschaftswiesen
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Berliner wissenschaftliche Luftfahrten
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= Berliner wissenschaftliche Luftfahrten =
Als Berliner wissenschaftliche Luftfahrten wird eine Serie von 65 bemannten und 29 unbemannten Ballonaufstiegen bezeichnet, die in den Jahren 1888 bis 1899 vom Deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt zur Erforschung der freien Atmosphäre durchgeführt wurden. Organisator der Fahrten war Richard Aßmann, Professor am Berliner Meteorologischen Institut, der auch die wichtigsten der eingesetzten Messinstrumente entwickelt hatte. Die Durchführung lag vor allem in den Händen des Militärluftschiffers Hans Groß und des Meteorologen Arthur Berson. 1894 stieg Berson mit dem Ballon Phönix bis in eine Höhe von 9.155 Metern – die größte, die ein Mensch bis dahin erreicht hatte.
== Vorgeschichte ==
=== Der Stand der Meteorologie in den 1880er Jahren ===
Die Meteorologie hatte im Verlaufe des 19. Jahrhunderts den Charakter einer lediglich beobachtenden und beschreibenden Wissenschaft verloren. Auf der Grundlage der klassischen Physik, vor allem der Partikel- und Kontinuumsmechanik und der mechanischen Wärmetheorie, war sie dabei, sich zu einer messenden und rechnenden Naturwissenschaft zu entwickeln, zu einer Physik der Atmosphäre. Die Grundzüge der atmosphärischen Thermodynamik waren in den 1880er Jahren bereits ausgearbeitet, die Beschreibung der Dynamik erfolgte aber durch einfache Ansätze wie beispielsweise das Barische Windgesetz.Die wissenschaftliche Wettervorhersage steckte am Ende des 19. Jahrhunderts noch in den Kinderschuhen. Das lag einerseits an der unzureichenden Kenntnis der atmosphärischen Prozesse, andererseits an einem Mangel verlässlicher Beobachtungsdaten, die außerdem fast nur am Erdboden gewonnen wurden, während über den vertikalen Aufbau der Atmosphäre nur vage Vorstellungen bestanden.
=== Frühere wissenschaftliche Ballonfahrten ===
Das Potential des Ballons zur Erforschung der freien Atmosphäre wurde schon früh erkannt. Bereits beim ersten Start eines Gasballons am 1. Dezember 1783 führte dessen Erfinder Jacques Charles ein Thermometer und ein Barometer mit. Schon im darauffolgenden Jahr stellte der Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier im Auftrag der Académie française ein Programm für wissenschaftliche Luftfahrten auf, das allerdings nicht verwirklicht wurde. In Deutschland war es Georg Christoph Lichtenberg, der schon 1784 fünfundzwanzig Thesen über die Nutzung des Ballons aufstellte, deren erste die Erforschung der Atmosphäre thematisiert.Die erste Ballonfahrt mit dem Ziel, meteorologische Beobachtungen auszuführen, unternahm am 30. November 1784 der amerikanische Arzt John Jeffries gemeinsam mit dem Berufsballonfahrer Jean-Pierre Blanchard. Eine erste systematische Untersuchung der freien Atmosphäre führte zwischen 1862 und 1866 der englische Meteorologe und bedeutende Pionier der Aerologie James Glaisher durch. Auf 28 Ballonfahrten maß er die Temperatur, den Luftdruck, die Luftfeuchtigkeit und die Windgeschwindigkeit bis in eine Höhe von fast 9.000 m. Da er seine Instrumente nicht ausreichend vor der Sonnenstrahlung schützte und er sie innerhalb des Ballonkorbs statt außerhalb anordnete, waren seine Temperaturmessungen besonders in größeren Höhen mit starken Fehlern behaftet. In den folgenden Jahren waren es vor allem französische Wissenschaftler wie Camille Flammarion, Gaston Tissandier und Wilfrid de Fonvielle, die wissenschaftliche Luftfahrten unternahmen. Jedoch blieben die Erforschungen der freien Atmosphäre bis in die 1890er Jahre isolierte Bemühungen vereinzelter Forscher.
=== Entwicklungen in Berlin ===
1885 wurde Wilhelm von Bezold zum Inhaber des neu geschaffenen Lehrstuhls für Meteorologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität und zum Direktor des Preußischen Meteorologischen Instituts in Berlin berufen. Er strukturierte das Institut tiefgreifend um und stellte zum 1. April 1886 drei wissenschaftliche Oberbeamte ein, darunter den Magdeburger Arzt und Meteorologen Richard Aßmann. Dieser arbeitete seit 1883 an einem Messgerät, das die Lufttemperatur auch unter dem störenden Einfluss der Sonnenstrahlung genau bestimmen konnte. Als Aßmann 1887 gemeinsam mit anderen führenden Berliner Meteorologen dem 1881 gegründeten Deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt beitrat, lernte er den Ingenieur Hans Bartsch von Sigsfeld kennen, der für die 1884 aufgestellte Luftschifferabteilung, die den Eisenbahntruppen des preußischen Heeres zugeordnet war, am selben Problem arbeitete. Gemeinsam entwickelten sie das Aßmannsche Aspirationspsychrometer, bei dem der Strahlungseinfluss durch Abschirmung und permanente Belüftung ausgeschaltet ist.Die von Glaisher aufgenommenen Temperaturprofile galten lange als gesichertes Wissen, waren aber vereinzelt auch angezweifelt worden, da sie theoretischen Erwägungen in wichtigen Punkten widersprachen. Aßmann und Sigsfeld sahen nun die Gelegenheit gekommen, Glaishers Resultate mit dem neuen Instrument kritisch zu überprüfen.
Am 2. Juni 1888 hielt Wilhelm von Bezold vor dem Deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt auf dessen 100. Sitzung eine Festrede zum Thema Die Bedeutung der Luftschiffahrt für die Meteorologie. Darin skizzierte er ein Programm zur Zusammenarbeit von Meteorologie und Luftschifffahrt bei der Erforschung der freien Atmosphäre, das von den Vereinsmitgliedern wohlwollend aufgenommen wurde. Seine Umsetzung dominierte die Vereinstätigkeit für mehr als ein Jahrzehnt. Bereits am 23. Juni 1888 fand die erste Fahrt mit Sigsfelds Ballon Herder statt.
== Finanzierung ==
Für die Durchführung des Unternehmens waren bedeutende Geldmittel erforderlich. Durch Spenden von Vereinsmitgliedern (Rudolph Hertzog, Werner von Siemens, Otto Lilienthal) konnte der Fesselballon Meteor angeschafft werden. Die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften gewährte einmalig einen Betrag von 2.000 Mark. Mehrmals stellten Privatpersonen (Hans Bartsch von Sigsfeld, Kurt Killisch-Horn (1856–1915), Patrick Young Alexander) ihre privaten Ballons zur Verfügung. Insgesamt war der Verein jedoch nicht in der Lage, die benötigten Mittel für den Bau und Betrieb eines geeigneten Ballons aufzubringen. Daraufhin verfasste Mitte 1892 ein „Ausschuss zur Veranstaltung wissenschaftlicher Luftfahrten“, bestehend aus Richard Aßmann, Wilhelm von Bezold, Hermann von Helmholtz, Werner von Siemens, Wilhelm Foerster, August Kundt und Paul Güßfeldt, eine Immediateingabe an Kaiser Wilhelm II., die von der Akademie der Wissenschaften unterstützt wurde. Der Kaiser gewährte die beantragten 50.000 Mark für den Bau und Betrieb des Ballons Humboldt aus seinem „Allerhöchsten Dispositionsfonds“ und nach dem Explosionsunglück des Humboldt weitere 32.000 Mark für den Bau des Phönix. Zur Finanzierung ergänzender Fahrten und für die Publikation der wissenschaftlichen Ergebnisse erfolgte 1895 nach erneuter Immediateingabe die Zahlung weiterer 20.400 Mark. 1897 spendete der Verleger Georg Büxenstein für den Bau des Registrierballons Cirrus II 1.000 Mark.
Eine starke immaterielle Förderung erfuhr das Unternehmen auch durch das preußische Militär, das ein ausgeprägtes Interesse an einer militärischen Nutzung des Luftraums hatte. Offiziere der Luftschifferabteilung übernahmen in den meisten Fällen die Führung der Ballons. Mehrmals wurde den Meteorologen gestattet, an militärischen Ausbildungsfahrten teilzunehmen. Premierleutnant Groß wurde zeitweise von seinen Dienstverpflichtungen freigestellt und war für die Konstruktion der für die Hauptfahrten verwendeten Ballons verantwortlich.
== Teilnehmer ==
Organisator der Berliner wissenschaftlichen Luftfahrten war Richard Aßmann. Neben seiner Position am Meteorologischen Institut war er seit Anfang 1889 auch Vorsitzender des Vereins zur Förderung der Luftschifffahrt. Aßmann sorgte für eine exzellente instrumentelle Ausstattung. Er nahm als Leiter des Projekts nur an drei bemannten Luftfahrten persönlich teil.
Sein engster Mitarbeiter am Meteorologischen Institut war seit 1889 Arthur Berson. Er nahm an 50 der 65 bemannten Luftfahrten teil. Er bestritt 31 Fahrten als verantwortlicher Observator und 9 als Ballonführer. Bei 10 Alleinfahrten war er beides in einer Person. Berson hatte auch großen Anteil an der wissenschaftlichen Bearbeitung der umfangreichen Messdaten.Der Premierleutnant der Berliner Luftschifferabteilung Hans Groß spielte als Konstrukteur der verwendeten Gasballons und in 32 Fällen als Ballonführer eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung der Luftfahrten. Seine stetigen Verbesserungen der vorhandenen Ballontechnik, z. B. die Einführung einer Reißvorrichtung zum schnellen Ablassen des Füllgases, die auch heutige Gasballons in fast unveränderter Form besitzen, machte die oftmals gefährlichen Unternehmungen zunehmend sicherer.
Neben Berson war auch Reinhard Süring, der spätere Direktor des Meteorologisch-Magnetischen Observatoriums Potsdam, als Observator (zehn Fahrten), Ballonführer (eine Fahrt) und dreimal als Alleinfahrer tätig. Als Observatoren beteiligten sich außerdem in fünf Fällen Otto Baschin, dreimal Richard Börnstein, je zweimal Victor Kremser, Hans Bartsch von Sigsfeld (davon einmal als Ballonführer) und Edmund Köbke sowie je einmal Hermann Stade (1867–1932), Börnsteins Assistent Becker, der Mediziner Braehmer und Abbott Lawrence Rotch, der Direktor des Blue-Hill-Observatoriums Boston.
Beteiligt waren ferner die Berufsluftschiffer Richard Opitz (1855–1892) und Stanley Spencer, der britische Luftfahrtpionier Patrick Young Alexander sowie eine Reihe von Militärluftschiffern wie Major Stephan von Nieber (1855–1920), der Kommandeur der Luftschifferabteilung, und Richard von Kehler.
== Technische Ausstattung ==
=== Ballons ===
Bei den 65 bemannten Freiballonfahrten kamen sechzehn verschiedene Ballons zum Einsatz, vom nur 290 m³ Gas fassenden Ballon Falke, der als „Schlechtwetterballon“ diente, wenn starke Winde oder Niederschläge die Gasbefüllung oder den Start eines großen Ballons verhinderten, bis zum 3.000 m³ großen Majestic des Briten Patrick Alexander. Etwa drei Viertel der Fahrten wurden mit den von Groß entworfenen Ballons M. W., Humboldt, Phönix, Sportpark Friedenau I und Sportpark Friedenau II durchgeführt. Als Traggas fand Wasserstoff oder das billigere Leuchtgas Verwendung, häufig auch ein Gemisch aus beiden.
Eine herausragende Bedeutung kam dem Ballon Phönix zu, der von Groß speziell für wissenschaftliche Luftfahrten konstruiert worden war. Er hatte genug Tragkraft, um auch Hochfahrten zu ermöglichen. Seine Hülle bestand aus zwei Lagen gummierten und vulkanisierten Baumwollstoffs. Sie enthielt zwei Ventile unterschiedlicher Größe, wobei das kleinere zum Ablassen von Füllgas beim Manövrieren während der Fahrt benutzt wurde, das größere zum Entleeren der Hülle nach der Landung. Als Reaktion auf die Explosion des Humboldt nach dessen sechster Fahrt hatte Groß den Phönix mit einer neu entwickelten Reißbahn ausgestattet, die vor dem Start mit der restlichen Hülle verklebt wurde. Durch das Ziehen der Reißleine konnte der Ballonführer die Hülle klaffend weit öffnen, was ihre rasche Entleerung bewirkte, ohne sie – im Gegensatz zu früheren Ausführungen – zu beschädigen. Zusätzlich wurde der Ballonstoff auf Vorschlag Bartsch von Sigsfelds regelmäßig mit 10%iger Calciumchloridlösung imprägniert, um ihn elektrisch leitfähig zu halten und eine Funkenbildung durch elektrostatische Entladung zu vermeiden.Zur sicheren Landung führten die meisten Ballons einen schweren Anker mit. Nach der Einführung der Reißbahn wurde dieser aber entbehrlich, so dass bei den späteren Fahrten oft auf ihn verzichtet wurde. In den meisten Fällen gehörte zur Ausstattung auch ein Schlepptau, das bei den kleineren Ballons etwa 100 m lang war, bei den größeren 150 m. Während der Hochfahrten atmeten die Ballonfahrer, um der akuten Höhenkrankheit vorzubeugen, über Schläuche Sauerstoff aus einer stählernen Gasflasche.
Der Fesselballon Meteor war aus gefirnisster Seide hergestellt und konnte bei Befüllung mit 130 m³ Leuchtgas eine Höhe von etwa 800 m erreichen. Der aus demselben Material hergestellte Registrierballon Cirrus war ein ausgedienter Militärfesselballon mit einem Fassungsvermögen von 250 m³. Auf seiner fünften Fahrt trug er die Messinstrumente in eine Höhe von fast 22 km. Cirrus II war aus gummierter Seide von weniger guter Qualität und hatte ein Volumen von 400 m³.
=== Messinstrumente ===
Das Forschungsprogramm sah vor, bei jeder Fahrt die Lufttemperatur und Luftfeuchtigkeit sowie die Strahlungsintensität in verschiedenen Höhen zu messen. Zusätzlich sollten Fahrtrichtung und -geschwindigkeit bestimmt sowie Wolkenbeobachtungen vorgenommen werden. Die Höhe wurde nach der barometrischen Höhenformel aus dem Luftdruck und der Temperatur berechnet. Zur Gewinnung der Messwerte wurden im Allgemeinen folgende Geräte mitgeführt:
ein von Otto Bohne in Berlin konstruiertes Aneroidbarometer,
ein Quecksilbergefäß-Barometer der Firma Rudolf Fuess in Berlin,
ein Aneroidbarograph von Richard Frères in Paris,
ein dreifaches Aspirationspsychrometer der Firma Fuess, bestehend aus einem trockenen und zwei im Wechsel befeuchteten Thermometern, die sich im stetigen Luftstrom eines Ventilators mit Federantrieb befinden,
ein Schwarzkugelthermometer der Firma Fuess.Weiterhin gehörten zur Grundausstattung ein Kompass, eine Taschenuhr und ein Momentapparat der Firma C. P. Goerz nach Ottomar Anschütz. Um die Temperatur ungestört von der Körperwärme der Passagiere und vom durch die Sonnenstrahlung aufgeheizten Korb messen zu können, war das Aspirationspsychrometer außerhalb des Korbs an einem Ausleger angebracht. Die Ablesung erfolgte mit Hilfe eines Fernrohrs. Zum Befeuchten des Psychrometers wurde der Ausleger etwa alle 30 Minuten kurzzeitig herangezogen.
Das Instrumentarium wurde gelegentlich erweitert oder modifiziert. So wurden bei Hochfahrten, die Lufttemperaturen unter dem Gefrierpunkt des Quecksilbers erwarten ließen, Alkoholthermometer verwendet.
== Verlauf ==
=== Überblick ===
Die ersten Luftfahrten, Aßmann nennt sie die vorbereitenden, dienten dem Test der Messinstrumente, insbesondere des Aspirationspsychrometers. Da Bartsch von Sigsfeld seinen Wohnsitz Ende 1888 nach München und Augsburg verlegte und den Herder mitnahm, war in Berlin zunächst kein geeigneter Ballon mehr verfügbar. Die Tests fanden ab 1889 in München statt. Aßmann musste sich auf einige Versuche mit dem Fesselballon Meteor beschränken. Mit Beginn des Jahres 1891 stand endlich mit dem M. W. ein Freiballon zur Verfügung, der zwar schwer war und deshalb niemals über eine Höhe von 2.000 Metern hinauskam, mit dessen Hilfe die Tests aber erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Erst als das Psychrometer 1892 in seiner ausgereiften Form vorlag, konnte mit der Ausführung systematisch angelegter Luftfahrten begonnen werden.
In den Jahren 1893 und 1894 fanden die 36 Hauptfahrten statt, davon 23 mit dem Phönix. Diese waren so angelegt, dass sie ein möglichst großes Spektrum von Wettersituationen sowie Tages- und Jahreszeiten überdeckten, um ein umfassendes Bild der physikalischen Verhältnisse der freien Atmosphäre zu erhalten. Neben Einzelfahrten wurden Simultanaufstiege mehrerer Ballons, zum Teil auch international abgestimmt, unternommen. Mit einem erheblichen persönlichen Risiko versuchten die beteiligten Meteorologen, allen voran Arthur Berson, möglichst hohe Atmosphärenschichten zu erreichen.
Die Hauptfahrten hatten ein umfangreiches Datenmaterial geliefert, das in den Jahren ab 1895 ausgewertet werden musste. Weitere Beobachtungen wurden bei gelegentlichen Beteiligungen an Militär- oder Sportfahrten vorgenommen, den ergänzenden Luftfahrten. Zur Absicherung der gefundenen Resultate fanden 1898 noch einmal rein wissenschaftliche Ballonfahrten statt.
Das im Allgemeinen rein meteorologisch ausgerichtete Programm wurde zuweilen für andere wissenschaftliche Untersuchungen erweitert. So führten Baschin und Börnstein mehrmals Messungen des vertikalen Potentialgefälles der Luftelektrizität aus. Am 18. Februar 1897 nahm Süring zur Erforschung der akuten Höhenkrankheit (Ballonfahrerkrankheit) Kaninchen als Versuchstiere mit in den Korb und entsprach damit einer Bitte des österreichischen Physiologen und Luftfahrtmediziners Hermann von Schrötter.
=== Vorbereitende Fahrten ===
Am 23. Juni 1888 fand die erste der Luftfahrten mit dem Ballon Herder des Militärluftschiffers und Vereinsmitglieds Hans Bartsch von Sigsfeld statt. Neben ihm nahmen der Berufsluftschiffer Opitz und der Meteorologe Victor Kremser am Aufstieg teil. Die Fahrt führte von der Schöneberger Gasanstalt, wo der Ballon gefüllt worden war, in eine Höhe von fast 2.500 m bis in die Nähe von Bunkenburg, heute Ortsteil von Lachendorf bei Celle. Sigsfeld erprobte dabei verschiedene Arten der Anbringung des Psychrometers am Korb.Durch die Anschaffung des Meteor versuchte der Verein, den Weggang Sigsfelds nach München und den damit eingetretenen Verlust des einzigen verfügbaren Ballons zu kompensieren. Der kugelförmige Fesselballon war aber nur bei absoluter Windstille verwendbar. Erst Anfang 1891 konnten wieder bemannte Freiballonfahrten stattfinden, als der Inhaber der Berliner Börsen-Zeitung, Kurt Killisch von Horn, sich von Groß den Ballon M. W. entwerfen ließ und diesen dem Verein für wissenschaftliche Fahrten zur Verfügung stellte. Bis November kam es zu fünf Fahrten. Besonders bemerkenswert war die vierte, einerseits, weil als Gast der amerikanische Meteorologe Rotch an der Fahrt teilnahm, andererseits, weil erstmals ein Simultanaufstieg erprobt wurde, indem zeitgleich zum M. W. auch der Meteor aufgelassen wurde. Nach der fünften Fahrt war der M. W. aufgrund von Schäden durch unsachgemäße Lagerung nicht mehr zu gebrauchen, so dass erneut kein Ballon zur Verfügung stand. Es hatte sich allerdings auch herausgestellt, dass der M. W. insgesamt zu schwer war, und, auch wenn sich nur zwei Personen im Korb befanden, lediglich in etwa 1.800 m Höhe aufsteigen konnte.
Insgesamt hatten die vorbereitenden Fahrten die hervorragende Eignung der Instrumente nachweisen können, so dass eine Fortsetzung des Programms erfolgversprechend war.
=== Hauptfahrten ===
Mangels eines Ballons fanden 1892 keine Fahrten statt. Das Jahr wurde von Aßmann dazu benutzt, private oder institutionelle Sponsoren für sein Programm zu finden. Ein Immediatgesuch an Kaiser Wilhelm II. war schließlich erfolgreich. 1893 konnte der Ballon Humboldt, wiederum nach Plänen von Hans Groß, gefertigt werden. Mit 2.514 m³ hatte er mehr als das doppelte Fassungsvermögen des M. W. und konnte deshalb größere Höhen erreichen. Der erste Aufstieg des Humboldt fand am 1. März 1893 in Anwesenheit der kaiserlichen Familie statt. Die Fahrt verlief ruhig, aber bei der Landung brach Aßmann sich das rechte Bein. Auch die weiteren Fahrten des Ballons waren von unglücklichen Pannen begleitet, die deutlich machten, welch großes Risiko die Wissenschaftler und Ballonführer eingingen. Nach der sechsten Fahrt am 26. April 1893 verbrannte der Ballon, als sich der Wasserstoff nach der Landung beim Entleeren der Hülle entzündete.Von besonderer Bedeutung war die zweite Fahrt des Humboldt, die als Hochfahrt geplant war. Man begnügte sich deshalb mit einem kleineren und leichteren Korb und beschloss, zu zweit statt zu dritt aufzusteigen. Der Ballon hob am 14. März bei strömendem Regen mit Groß und Berson an Bord ab. Obwohl er durch den Regen zusätzlich beschwert war, konnte Groß ihn auf eine Höhe von 6.100 m bringen. Da sie keinen Sauerstoff mitführten, litten die Aeronauten stark unter der dünnen Luft. Beim darauffolgenden Abstieg passierte das Malheur, dass die Ventilleine unter Zug geriet und der Ballon sich dadurch während der Fahrt selbsttätig entleerte. Groß hatte keine Möglichkeit, das mehr als einen Meter große Ventil wieder zu schließen, sodass der Ballon mit großer Geschwindigkeit sank. Vom Entdecken dieses Sachverhalts in 2.800 m Höhe bis zum Erreichen des Bodens vergingen nur neun Minuten. Trotzdem kamen beide Ballonfahrer mit leichten Blessuren davon. Rein wissenschaftlich war die Fahrt ein voller Erfolg. Berson hatte die Wolken beim Durchfahren ausgiebig studieren können, und die in großer Höhe gemessenen Temperaturen nährten weitere Zweifel an der Richtigkeit der von Glaisher dreißig Jahre zuvor gemessenen Werte.Nach zweieinhalb Monaten war der neue, verbesserte Ballon fertig, den man in Anspielung auf das Ende des Humboldt nach dem mythischen Vogel Phönix benannte. Vom 14. Juli 1893 bis zum 4. Dezember 1894 fanden Luftfahrten in schneller Folge statt. In die Serie von Tagesfahrten wurden immer wieder Nacht- und Frühfahrten eingeschoben. Die Nachtfahrt am 14./15. Juli ist auch als erste internationale Simultanfahrt anzusehen, denn am 15. Juli 1893 fanden in Absprache mit den Berliner Meteorologen auch in Stockholm durch Salomon August Andrée und in Sankt Petersburg bemannte Ballonfahrten unter Verwendung der von Aßmann empfohlenen Instrumente statt. Auch im August 1894 gab es gleichzeitige Fahrten mit Andrée in Göteborg und Michail Pomorzew in Sankt Petersburg.
Einige Male wurden auch Fahrten mit mehreren Ballons gleichzeitig durchgeführt, erstmals am 11. Mai 1894. Es sollte versucht werden, mit dem Phönix die größtmögliche Höhe zu erreichen, weshalb dieser mit teurem Wasserstoff statt mit dem üblichen Leuchtgas befüllt wurde. Begleitet wurde der Versuch durch Aufstiege des Militärballons Posen, des unbemannten Ballons Cirrus und des Fesselballons Falke. Tatsächlich konnte eine Höhe von fast 8.000 m erreicht werden. Nur durch das Einatmen von mitgeführtem reinen Sauerstoff konnten Groß und Berson verhindern ohnmächtig zu werden. Durch unterschiedliche Windrichtungen in den verschiedenen Höhen wurde der Posen in südliche Richtung in die Nähe von Rangsdorf getrieben, der Phönix aber gleichzeitig nach Norden in Richtung Greifswald.Als sich die Erfolge der Berliner wissenschaftlichen Luftfahrten herumsprachen, kam der britische Luftfahrtpionier und -förderer Patrick Young Alexander nach Berlin, um sich mit seinem Ballon Majestic an den Fahrten zu beteiligen. Er nahm unter anderem an der dreifachen Fahrt am 4. Dezember 1894 von Berlin aus teil. Berson startete an diesem Tag allein mit dem Phönix von Leopoldshall bei Staßfurt, einerseits weil es dort eine bequeme Versorgung mit Wasserstoff gab, andererseits, weil die größere Entfernung zum Meer bei südlicher Windrichtung eine längere Fahrt gestattete. Um das Erreichen einer möglichst großen Höhe zu erlauben, wurde der Korb um alles erleichtert, was nicht unbedingt erforderlich war. So wurde zum Beispiel auf den 40 kg schweren Anker verzichtet. Der für eine einzelne Person schwer zu handhabende Schleppgurt wurde entgegen den sonstigen Gepflogenheiten bereits vor der Fahrt ausgerollt. Gefüllt mit 2.000 m³ Wasserstoff gewann der Ballon schnell an Höhe, nach einer Stunde war bereits die Marke von 5.000 m erreicht. Nach gut zwei Stunden und häufiger zusätzlicher Sauerstoffatmung durch den Piloten kam der Ballon bei 9.155 m Höhe und einer Temperatur von −47,9 °C ins Gleichgewicht. Da der Ballast bis auf eine Notreserve verbraucht war, musste Berson trotz noch guten körperlichen Befindens nun absteigen. Er befand sich an dieser Stelle so hoch wie kein Mensch vor ihm. Nach fünfstündiger Fahrt landete der Phönix in der Nähe von Kiel.
=== Ergänzende Fahrten ===
Ende 1894 waren die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel erschöpft. Kaiser Wilhelm II., der den Aufstiegen mehrmals beigewohnt hatte, stellte noch einmal einen Betrag für ergänzende Fahrten und für die Publikation der Ergebnisse zur Verfügung. Das Geld wurde zunächst hauptsächlich für gelegentliche Registrierballonaufstiege verwendet. Daneben durfte mehrmals ein meteorologischer Beobachter an Militärfahrten teilnehmen. Die Frequenz der Aufstiege erhöhte sich, als der Verein zur Förderung der Luftschifffahrt sich eigene Ballons für Sportfahrten anschaffte, die auch von den Meteorologen genutzt wurden.
Auf der Konferenz der Direktoren meteorologischer Institute im September 1896 in Paris wurde die Internationale Kommission für wissenschaftliche Luftschiffahrt gegründet und Hugo Hergesell, der Direktor der Meteorologischen Landesanstalt Elsass-Lothringen, zu ihrem Präsidenten bestimmt. An den von der Kommission organisierten internationalen Simultanluftfahrten, von denen die erste bereits am 14. November 1896 stattfand, beteiligten sich die Berliner Meteorologen regelmäßig mit bemannten und unbemannten Ballons.
Nach den ersten vorläufigen Veröffentlichungen von Ergebnissen der Hauptfahrten, die eine Kritik an Glaishers Messmethodik enthielten, gab es nicht nur Zustimmung, sondern zum Teil erbitterten Widerspruch von Fachkollegen. Der angesehene schwedische Meteorologe Nils Ekholm warf den Autoren eine „verfrühte Verallgemeinerung“ vor. Er hielt die beträchtlichen Unterschiede in den gemessenen Temperaturprofilen der Londoner und Berliner Luftfahrten für real und forderte zusätzliche Vergleichsfahrten in England und Deutschland unter Verwendung von Glaishers und Aßmanns Instrumenten. Die Fahrten fanden am 15. September 1898 statt. Den Aufstieg in Crystal Palace hatte Patrick Alexander organisiert und finanziert. Berson unternahm die Fahrt gemeinsam mit Stanley Spencer im Excelsior. Gleichzeitig stieg Süring im Vereinsballon vom Sportpark Friedenau in Berlin auf. Beide Fahrten waren als Hochfahrten konzipiert und erreichten tatsächlich 8.320 bzw. 6.191 m Höhe. Während am Boden zwischen Berlin und London ein Temperaturunterschied von 7 Grad bestand, verschwand dieser in der Höhe von fünf- bis sechstausend Metern fast vollständig. Die tiefste im Excelsior gemessene Temperatur lag bei −34 °C, die einst von Glaisher in 8.000 m Höhe gemessene bei −20,6 °C. Die Ergebnisse bestätigten vollauf die vorherigen Schlussfolgerungen Aßmanns und Bersons.
== Ergebnisse ==
=== Wissenschaftliche Ergebnisse ===
Durch entscheidende Fortschritte in der instrumentellen Ausstattung und Messmethodik konnten erstmals systematisch angelegte Ballonfahrten durchgeführt werden, bei denen zu jeder Tageszeit und bei allen Witterungsbedingungen verlässliche Werte der Lufttemperatur und -feuchte gemessen wurden. Es konnte gezeigt werden, dass die bei früheren Luftfahrten gemessenen Temperaturwerte in großen Höhen stark fehlerbehaftet waren, was hauptsächlich auf einen ungenügenden Schutz der Thermometer vor der Sonnenstrahlung zurückzuführen war. Die Berliner Luftfahrten setzten damit Qualitätsstandards für die regelmäßige Sondierung der freien Atmosphäre mit Registrierballons und Wetterdrachen. Durch internationale Simultanaufstiege begründeten sie eine Synopse der freien Atmosphäre, die durch die Erschließung der dritten Dimension zu einer Verbesserung der Wetterprognosen führte.
Die Luftfahrten boten günstige Voraussetzungen, die Schichtung der Troposphäre zu studieren. Die gleichzeitige Messung von Temperatur, Druck und Luftfeuchte konnte mit Beobachtungen der horizontalen und vertikalen Windrichtung sowie der Wolkenform und -schichtung kombiniert werden. Dass das Projekt nicht durch die Entdeckung der Stratosphäre gekrönt wurde, liegt daran, dass die bemannten Fahrten nicht in diese Region vordrangen, und dass Aßmann den von den Registrierballons durchaus gemessenen Temperaturanstieg in Höhen über 10.000 m als einen Fehler durch unvollständige Abschirmung der Sonnenstrahlung auffasste. Erst durch die Fahrt auf 10.800 m Höhe, die Berson und Süring am 31. Juli 1901 mit dem Ballon Preussen unternahmen, und durch den gleichzeitigen Aufstieg eines Registrierballons kam Aßmann zu einer anderen Bewertung. Am 1. Mai 1902 legte er der Preußischen Akademie der Wissenschaften eine Arbeit Über die Existenz eines wärmeren Luftstromes in der Höhe von 10 bis 15 km vor. Drei Tage zuvor hatte bereits der französische Meteorologe Léon-Philippe Teisserenc de Bort in Paris über dieselbe Entdeckung berichtet. Man geht heute davon aus, dass die beiden Forscher miteinander abgestimmt haben, diese bahnbrechende Entdeckung gleichzeitig in ihren jeweiligen Heimatländern zu veröffentlichen.
=== Publikation ===
Unmittelbar nach Ausführung der einzelnen Luftfahrten wurden die Ergebnisse in Fachzeitschriften wie Das Wetter, Zeitschrift für Luftschifffahrt und Physik der Atmosphäre und Meteorologische Zeitschrift veröffentlicht. Allein von Aßmann und Berson stammen 12 bzw. 18 Artikel. Eine Zwischenbilanz nach 49 Fahrten gab Aßmann 1895 in der Meteorologischen Zeitschrift.Eine vollständige Publikation der Messdaten aller 94 bemannten und unbemannten Ballonfahrten und eine ausführliche wissenschaftliche Analyse und Diskussion derselben erfolgte in drei Bänden unter dem Titel Wissenschaftliche Luftfahrten im Jahre 1899 (Band 1) und 1900 (Band 2 und 3). Als Herausgeber traten Aßmann und Berson auf. Mitgewirkt haben außerdem Baschin, von Bezold, Börnstein, Groß, Kremser, Stade und Süring. Das Werk enthält nach einem geschichtlichen Überblick über meteorologische Beobachtungen bei früheren Ballonfahrten eine Beschreibung des eingesetzten Ballonmaterials, der verwendeten Instrumente und der Berechnungsmethoden. Sehr breiten Raum nimmt die detaillierte Beschreibung jeder einzelnen Fahrt in tabellarischen Übersichten, graphischen Darstellungen sowie ausführlichen Berichten des jeweiligen Ballonführers über den Fahrtverlauf und des Observators über die angestellten Beobachtungen ein. Dies füllt die Hälfte des ersten Bandes und den gesamten zweiten Band. Der dritte Band enthält die zusammenfassende Darstellung und wissenschaftliche Diskussion des Beobachtungsmaterials getrennt nach Lufttemperatur, Verteilung des Wasserdampfes, Wolkenbildungen, Geschwindigkeit und Richtung des Windes, Sonnenstrahlung und Luftelektrizität. Das Werk endet mit einer theoretischen Schlussbetrachtung von Bezolds.
Das erste Exemplar der Wissenschaftlichen Luftfahrten wurde Kaiser Wilhelm II. am 10. Juni 1900 durch von Bezold, Aßmann, Berson und Hauptmann Groß übergeben. In Anerkennung ihrer Leistungen ernannte der Kaiser von Bezold zum Geheimen Oberregierungsrat und Aßmann zum Geheimen Regierungsrat. Berson und Kremser erhielten den Roten Adlerorden IV. Klasse und Süring den Kronenorden IV. Klasse.
Die Wissenschaftlichen Luftfahrten wurden von der internationalen Gemeinschaft der Aerologen sehr positiv aufgenommen. Von Hugo Hergesell, dem Präsidenten der Internationalen Kommission für wissenschaftliche Luftfahrt, erschien 1901 eine zwanzigseitige Rezension. In der Wiener Luftschiffer-Zeitung würdigte Viktor Silberer, der Präsident des Wiener Aëro-Clubs, Wissenschaftliche Luftfahrten als das „das weitaus bedeutendste und umfangreichste Werk, das die aëronautische Literatur aller Nationen der Erde bis jetzt aufzuweisen hat“. Die Königlich-Niederländische Akademie der Wissenschaften verlieh Aßmann und Berson 1903 die Buys-Ballot-Medaille, die nur einmal pro Jahrzehnt für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Meteorologie vergeben wird.
== Literatur ==
Richard Aßmann, Arthur Berson (Hrsg.): Wissenschaftliche Luftfahrten, ausgeführt vom Deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt in Berlin, 3 Bände, Vieweg, Braunschweig 1899 (Band 1) / 1900 (Band 2 und 3).
Karl-Heinz Bernhardt: Zur Erforschung der Atmosphäre mit dem Freiballon – die Berliner wissenschaftlichen Luftfahrten (1888–1899). In: Eckart Henning (Hrsg.): Dahlemer Archivgespräche. Band 6, Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin 2000, S. 52–82.
Sabine Höhler: Luftfahrtforschung und Luftfahrtmythos. Wissenschaftliche Ballonfahrt in Deutschland, 1880–1910. In: Campus Forschung, Band 792, Campus, Frankfurt am Main / New York, NY 2001, ISBN 3-593-36840-4 (zugleich Dissertation an der Technischen Universität Braunschweig 1999).
Hermann Stade: 40 Jahre Berliner Verein für Luftschiffahrt, Berlin 1921.
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_wissenschaftliche_Luftfahrten
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Besselsche Elemente
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= Besselsche Elemente =
Die Besselschen Elemente sind geometrische Größen, die Friedrich Wilhelm Bessel einführte, um die lokalen Gegebenheiten bei einer Sonnenfinsternis an einem Beobachtungsort auf der Erde zu beschreiben. Neben Sonnenfinsternissen kann das damit verbundene Prinzip auch bei Stern- oder Planetenbedeckungen durch den Mond sowie den Transiten von Venus und Merkur vor der Sonne verwendet werden. Die bei Mondfinsternissen vorgenommenen Berechnungen ähneln der Berechnung der Besselschen Elemente, wobei in diesem Fall der Schatten nicht auf die Erde, sondern auf den Mond fällt.
Bei Sonnenfinsternissen kann beispielsweise basierend auf den Besselschen Elementen die Bedeckungsdauer an einem bestimmten Ort ermittelt werden, oder es ist der Pfad bestimmbar, auf dem der Kernschatten des Mondes die Erdoberfläche überstreicht. Dieses Berechnungsverfahren wurde 1829 durch Bessel entwickelt und später von William Chauvenet verfeinert.
Die grundlegende Idee des Verfahrens ist, dass die Besselschen Elemente die Bewegung des Schattens wiedergeben, den der bedeckenden Himmelskörper – bei Sonnenfinsternissen ist dies der Mond – auf einer gedachten Fundamentalebene verursacht. Bei dieser handelt es sich um die geozentrische Normalebene der Schattenachse, in der der Erdmittelpunkt liegt und die senkrecht auf der Achse des Schattenkegels steht. Letzteres ist die Gerade, die durch die Zentren des bedeckten und des bedeckenden Himmelskörpers geht.Zur Beschreibung der Bewegung des Schattens in dieser geeignet gewählten Ebene ist die Angabe vergleichsweise weniger Größen ausreichend – bei hinreichender Genauigkeit. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Schatten während des gesamten Finsternisverlaufs in dieser Ebene immer kreisförmig ist und keiner perspektivischen Verzerrung unterliegt. In einem zweiten Schritt werden die Werte für die Erdoberfläche errechnet, in dem die Schnittkurven der Schattenkegel mit der Erdoberfläche bestimmt werden, wobei erst dann die annähernde Kugelform der Erde, die Erddrehung sowie die Lage und Höhe des Beobachtungsorts berücksichtigt werden müssen.
== Geschichte ==
Dieses Verfahren, Stern- und Planetenbedeckungen sowie Sonnenfinsternisse zu beschreiben, wurde vom deutschen Wissenschaftler Friedrich Wilhelm Bessel in den 1820er Jahren ausgearbeitet. Die erste Arbeit Bessels zum Thema Sternbedeckungen findet sich in den Astronomischen Nachrichten Nr. 50 aus dem Jahre 1824, in der er einige Berechnungen auf Basis zuvor beobachteter Sternbedeckungen anstellte. Im Jahr 1829 veröffentlichte er eine verallgemeinernde Arbeit Ueber die Vorausberechnung der Sternbedeckungen in den Astronomischen Nachrichten Nr. 145. Noch im selben Jahr entwickelte er die Idee weiter, indem er das Verfahren mit dem Ziel der Anwendung für Planetenbedeckungen und Sonnenfinsternisse verallgemeinerte.Bis zu diesem Zeitpunkt wurden zur Berechnung zwei unabhängige Verfahren mit unterschiedlichen Zielen verwendet. Das erste Verfahren diente der Bestimmung der Gegebenheiten, wie sie sich einem Beobachter an einem konkreten Ort darstellten. Die hierbei verwendete Methode ging bereits auf Johannes Kepler zurück und war später von Jérôme Lalande und Johann Gottlieb Friedrich von Bohnenberger weiterentwickelt worden. Das zweite Verfahren, das auf Joseph-Louis Lagrange zurückzuführen ist, diente der Berechnung des Zeitpunktes der Konjunktion. Da sich dieses Verfahren auf den Erdmittelpunkt bezog und keine Aussage über lokale Gegebenheiten auf der Erdoberfläche machen konnte, wurde es zur Berechnung von Finsternissen weniger häufig angewandt als das erste. Es vereinfachte jedoch viele andere astronomische Berechnungen. Bessels Ansatz bestand nun darin, Lagranges Verfahren so weiterzuentwickeln, dass damit auch die Berechnung der lokalen Gegebenheiten möglich wurde, womit er eine Kombination beider Verfahren erreichte.Im zweiten Band seiner Astronomischen Untersuchungen veröffentlichte Bessel 1842 eine vier Abschnitte umfassende Abhandlung mit dem Titel Analyse der Finsternisse. Darin fasste er seine bisher veröffentlichten Arbeiten zu diesem Thema zusammen und rundete sie durch einige Ergänzungen ab. Diese Veröffentlichung diente als Grundlage für viele Astronomen, die sich später mit diesem Thema auseinandersetzten. Peter Andreas Hansen verwendete in seinem 1858 veröffentlichten Werk Theorie der Sonnenfinsternisse und verwandter Erscheinungen abweichend von Bessel die Schnittgerade der Ekliptik mit der Fundamentalebene als
x
{\displaystyle x}
-Achse. Bessels Variante, die Verwendung der Äquatorebene statt der Ekliptik, besaß jedoch einige Vorteile, wie 1863 der amerikanische Astronom William Chauvenet hervorhob. Er folgte in seinem Manual of Spherical and Practical Astronomy größtenteils dem Verfahren Bessels, entwickelte aber für einige Teilprobleme eigene Lösungsansätze. Chauvenets Darstellung war daraufhin die Basis für viele weitere Entwicklungen auf diesem Gebiet.Wenn auch die Berechnungen von Finsternissen nicht mehr manuell, sondern elektronisch erfolgen, haben die Besselschen Elemente ihre Bedeutung nicht verloren. Im Gegenteil, sie stellen das Bindeglied zwischen den Berechnungen des Zeitpunkts des Auftretens einer Finsternis sowie den Berechnungen der lokalen Gegebenheiten dar. Viele Computerprogramme sind auf eine der beiden Berechnungen spezialisiert, wobei die Besselschen Elemente sozusagen als Schnittstelle fungieren.
== Sonnenfinsternisse ==
Die an einem Ort auf der Erdoberfläche beobachtbare gegenseitigen Bedeckung von Gestirnen hängt von den Bahndaten des bedeckten entfernteren sowie des bedeckenden näheren ab. Diese Daten (Ephemeriden) werden üblicherweise als Winkel Rektaszension und Deklination angegeben. Diese Winkel beziehen sich als geozentrische Koordinaten auf den Erdmittelpunkt, so dass aus ihnen nicht direkt die Gestirnsbedeckung zu entnehmen ist, die an einem bestimmten Punkt der Erdoberfläche zu beobachten ist.
Um eine Bedeckung in einem Punkt auf der Erdoberfläche zu beschreiben, müssen die aus Tafeln entnommenen oder anderweitig bekannten Bahndaten der beiden Himmelskörper umgerechnet werden. Die Besselschen Elemente dienen der Beschreibung des Verlaufs sowie der Größe des Kern- und Halbschattens in der Fundamentalebene. Es ist einerseits nicht schwierig, den Verlauf des Schattens in dieser Ebene ausgehend von den Bahndaten der Himmelskörper zu beschreiben, zum anderen ist auch eine recht einfache Umrechnung auf einen Beobachtungspunkt möglich. Für letztere Umrechnung enthalten die Besselschen Elemente auch Angaben, wie die Fundamentalebene gegenüber dem Nullmeridian und der Äquatorebene verdreht ist.
Die Bedeckung der Sonne durch den Mond stellt im Hinblick auf die Beschreibung der Gegebenheiten auf der Erde den kompliziertesten Okkultationstyp dar, da sowohl der bedeckte Körper – die Sonne – als auch der bedeckende Körper – der Mond – nicht zu vernachlässigende Sehwinkel haben. Zudem muss die scheinbare Bewegung der Sonne während der Bedeckung berücksichtigt werden.
=== Definition der Besselschen Elemente ===
Zunächst wird ein rechtwinkliges Koordinatensystem eingeführt, das als fundamentales oder Besselsches Koordinatensystem bezeichnet wird. Dabei wird von der Schattenachse ausgegangen, der Verbindungsgeraden des Zentrums von Sonne und Mond. Die Parallele der Schattenachse, die durch den Erdmittelpunkt geht, stellt die
z
{\displaystyle z}
-Achse des Besselschen fundamentalen Koordinatensystems dar und folgt ständig dem Schatten, das Koordinatensystem dreht sich also mit der Richtung der Schattenachse. Die Fundamentalebene steht im Erdmittelpunkt senkrecht auf dieser Achse. In der Fundamentalebene wird die Position und Größe des Kern- und Halbschattens mittels der
x
{\displaystyle x}
- und
y
{\displaystyle y}
-Koordinate beschrieben. Die
x
{\displaystyle x}
-Achse ist dabei die Schnittgerade der Fundamentalebene mit der Äquatorebene und weist nach Osten, die
y
{\displaystyle y}
-Achse weist nach Norden.
Die ersten beiden Größen der Besselschen Elemente sind die Koordinaten
x
{\displaystyle x}
und
y
{\displaystyle y}
des Schnittpunkts der Schattenachse mit der Fundamentalebene. Die Richtung der Schattenachse – die der Richtung der
z
{\displaystyle z}
-Achse entspricht – wird durch die Deklination
d
{\displaystyle d}
und den Ephemeridenstundenwinkel
μ
{\displaystyle \mu }
angegeben. Der Radius des Halbschattenkegels in der Fundamentalebene wird durch
l
1
{\displaystyle l_{1}}
beschrieben, der des Kernschattenkegels durch
l
2
{\displaystyle l_{2}}
.
l
2
{\displaystyle l_{2}}
ist dabei für eine totale Finsternis negativ, für eine ringförmige positiv. Die Werte
x
{\displaystyle x}
,
y
{\displaystyle y}
,
l
1
{\displaystyle l_{1}}
und
l
2
{\displaystyle l_{2}}
werden in der Regel in Einheiten des Äquatorradius der Erde angegeben.
Neben diesen sechs Größen, die sich im Verlauf der Finsternis ändern, gibt es noch zwei weitere Größen, die als konstant betrachtet werden können: Die Größen
tan
f
1
{\displaystyle \tan f_{1}}
und
tan
f
2
{\displaystyle \tan f_{2}}
definieren die halben Öffnungswinkel des Halb- bzw. Kernschattenkegels.
=== Berechnung der Besselschen Elemente ===
Die für Sonnenfinsternisse verwendeten Besselschen Elemente gehen aus vom zeitlichen Verlauf der geozentrischen Positionen von Sonne und Mond, die über deren Ephemeriden verfügbar sind. Eine Möglichkeit zur Berechnung des Auftretens von Sonnenfinsternissen ist, die Positionen von Sonne und Mond sofort in das fundamentale Koordinatensystem umzurechnen. Dann kann recht leicht ermittelt werden, ob und wann die Schattenachse die Fundamentalebene innerhalb des Erdglobus durchstößt – was bedeutet, dass sich eine zentrale, also totale oder ringförmige Finsternis ereignet.
Es gibt andere Möglichkeiten, das Auftreten von Sonnenfinsternissen zu berechnen, beispielsweise über die Finsternis-Limite. Aber auch in diesem Fall müssen die Positionen von Sonne und Mond für den Finsternisverlauf in das fundamentale Koordinatensystem umgerechnet werden, um auf Basis der Besselschen Elemente lokale Gegebenheiten an jedem Ort der Erde berechnen zu können.Basierend auf den geozentrischen Koordinaten und den Entfernungen von Sonne und Mond können die Besselschen Elemente für einen bestimmten Zeitpunkt berechnet werden. Aus Deklination
δ
{\displaystyle \delta }
und Rektaszension
α
{\displaystyle \alpha }
sowie der Entfernung
r
{\displaystyle r}
lassen sich zunächst die Ortsvektoren von Sonne und Mond wie folgt bestimmen:
r
s
=
r
s
(
cos
α
s
cos
δ
s
sin
α
s
cos
δ
s
sin
δ
s
)
{\displaystyle \mathbf {r} _{s}=r_{s}{\begin{pmatrix}\cos \alpha _{s}\cos \delta _{s}\\\sin \alpha _{s}\cos \delta _{s}\\\sin \delta _{s}\end{pmatrix}}}
r
m
=
r
m
(
cos
α
m
cos
δ
m
sin
α
m
cos
δ
m
sin
δ
m
)
{\displaystyle \mathbf {r} _{m}=r_{m}{\begin{pmatrix}\cos \alpha _{m}\cos \delta _{m}\\\sin \alpha _{m}\cos \delta _{m}\\\sin \delta _{m}\end{pmatrix}}}
Als Einheit für die Entfernungen dient üblicherweise der Äquatorradius der Erde. In der Literatur wird die Entfernung häufig durch die Parallaxe ausgedrückt, die den Ephemeridentafeln entnommen werden kann. Da die Parallaxe
P
{\displaystyle P}
sich auf den Erdradius als Basis bezieht, kann die Entfernung
r
{\displaystyle r}
in Einheiten des Äquatorradius durch
r
=
1
/
sin
P
{\displaystyle r=1/\sin P}
berechnet werden.
Im Folgenden werden als erste der Besselschen Elemente die Deklination
d
{\displaystyle d}
und der Ephemeridenstundenwinkel
μ
{\displaystyle \mu }
berechnet, also die Äquatorialkoordinaten der Richtung der Schattenachse. Statt des Stundenwinkels wird hierbei zunächst die Rektaszension
a
{\displaystyle a}
berechnet, aus dieser kann der Stundenwinkel mittels der Formel
μ
=
θ
−
a
{\displaystyle \mu =\theta -a}
ermittelt werden, wobei
θ
{\displaystyle \theta }
der auf Greenwich bezogenen Sternzeit entspricht.
Zur Umrechnung in das fundamentale Koordinatensystem werden die Einheitsvektoren
i
{\displaystyle \mathbf {i} }
,
j
{\displaystyle \mathbf {j} }
und
k
{\displaystyle \mathbf {k} }
, die in Richtung der Koordinatenachsen dieses Koordinatensystems zeigen, mittels der beiden Größen
d
{\displaystyle d}
und
a
{\displaystyle a}
ausgedrückt:
i
=
(
−
sin
a
cos
a
0
)
;
j
=
(
−
cos
a
sin
d
−
sin
a
sin
d
cos
d
)
;
k
=
(
cos
d
cos
a
cos
d
sin
a
sin
d
)
{\displaystyle \mathbf {i} ={\begin{pmatrix}-\sin a\\\cos a\\0\end{pmatrix}};\quad \quad \mathbf {j} ={\begin{pmatrix}-\cos a\sin d\\-\sin a\sin d\\\cos d\end{pmatrix}};\quad \quad \mathbf {k} ={\begin{pmatrix}\cos d\cos a\\\cos d\sin a\\\sin d\end{pmatrix}}}
Da die Richtung der
z
{\displaystyle z}
-Achse der Differenz der Ortsvektoren vom Erdmittelpunkt zu Sonne und Mond entspricht, lässt sich der Einheitsvektor in Richtung der
z
{\displaystyle z}
-Achse auch wie folgt ausdrücken:
k
=
r
s
−
r
m
|
r
s
−
r
m
|
{\displaystyle \mathbf {k} ={\frac {\mathbf {r} _{s}-\mathbf {r} _{m}}{|\mathbf {r} _{s}-\mathbf {r} _{m}|}}}
Durch Gleichsetzen der beiden Darstellungen von
k
{\displaystyle \mathbf {k} }
lassen sich nun
d
{\displaystyle d}
und
a
{\displaystyle a}
und somit alle Einheitsvektoren des fundamentalen Koordinatensystems bestimmen.
Unter Verwendung dieser Einheitsvektoren können nun die Koordinaten von Sonne und Mond in diesem Koordinatensystem bestimmt werden. Aufgrund der Definition der Fundamentalebene sind die
x
{\displaystyle x}
- und
y
{\displaystyle y}
-Koordinaten von Sonne und Mond identisch. Diese stellen gleichzeitig den Schnittpunkt der Schattenachse mit der Fundamentalebene dar und sind die nächsten ermittelten Besselschen Elemente. Weiterhin wird die
z
{\displaystyle z}
-Koordinate des Mondes bestimmt, da diese für die Berechnung der Schattenradien benötigt wird.
x
=
r
m
⋅
i
=
r
m
cos
δ
m
sin
(
α
m
−
a
)
{\displaystyle x=\mathbf {r} _{m}\cdot \mathbf {i} =r_{m}\cos \delta _{m}\sin \left(\alpha _{m}-a\right)}
y
=
r
m
⋅
j
=
r
m
(
sin
δ
m
cos
d
−
cos
δ
m
sin
d
cos
(
α
m
−
a
)
)
{\displaystyle y=\mathbf {r} _{m}\cdot \mathbf {j} =r_{m}\left(\sin \delta _{m}\cos d-\cos \delta _{m}\sin d\cos \left(\alpha _{m}-a\right)\right)}
z
m
=
r
m
⋅
k
=
r
m
(
sin
δ
m
sin
d
+
cos
δ
m
cos
d
cos
(
α
m
−
a
)
)
{\displaystyle z_{m}=\mathbf {r} _{m}\cdot \mathbf {k} =r_{m}\left(\sin \delta _{m}\sin d+\cos \delta _{m}\cos d\cos \left(\alpha _{m}-a\right)\right)}
Die Winkel zwischen der Schattenachse und den Tangenten an Sonne und Mond, die die Kegelmäntel des Halb- und Kernschattens bilden, können mittels eines Hilfsdreiecks ermittelt werden. Dabei werden die Tangenten parallel verschoben, so dass sie durch den Mondmittelpunkt gehen (siehe Abbildung rechts). Hypotenuse beider Dreiecke ist die Verbindungslinie des Sonnen- und Mondmittelpunkts, die Gegenkatheten der gesuchten Winkel bilden die auf den parallel verschobenen Tangenten rechtwinklig stehenden Strecken durch den Sonnenmittelpunkt. In diesen rechtwinkligen Dreiecken ist jeweils die Länge zweier Seiten bekannt, zum einen die Entfernung zwischen Sonne und Mond, zum anderen die Länge der Gegenkathete, die beim Halbschatten der Summe aus Sonnen- und Mondradius entspricht, beim Kernschatten der Differenz dieser beiden Größen. Somit gilt:
sin
f
1
=
ρ
s
+
ρ
m
|
r
s
−
r
m
|
{\displaystyle \sin f_{1}={\frac {\rho _{s}+\rho _{m}}{|\mathbf {r} _{s}-\mathbf {r} _{m}|}}}
sin
f
2
=
ρ
s
−
ρ
m
|
r
s
−
r
m
|
{\displaystyle \sin f_{2}={\frac {\rho _{s}-\rho _{m}}{|\mathbf {r} _{s}-\mathbf {r} _{m}|}}}
Um die letzten beiden noch fehlenden Besselschen Elemente
l
1
{\displaystyle l_{1}}
und
l
2
{\displaystyle l_{2}}
zu errechnen, die Radien von Halb- und Kernschatten in der Fundamentalebene, wird der Abstand der Schnittpunkte der Tangenten mit der Schattenachse von der Fundamentalebene benötigt. Für den Halbschatten liegt dieser mit
V
1
{\displaystyle V_{1}}
bezeichnete Punkt auf der Schattenachse zwischen Sonne und Mond und stellt die Spitze des Halbschattenkegels dar. Der Schnittpunkt
V
2
{\displaystyle V_{2}}
liegt ebenfalls auf der Schattenachse und ist die Spitze – also der Endpunkt – des Kernschattens. Dabei gilt:
z
V
1
=
z
m
+
ρ
m
sin
f
1
{\displaystyle z_{V_{1}}=z_{m}+{\frac {\rho _{m}}{\sin f_{1}}}}
z
V
2
=
z
m
−
ρ
m
sin
f
2
{\displaystyle z_{V_{2}}=z_{m}-{\frac {\rho _{m}}{\sin f_{2}}}}
Mittels dieser Abstände der Punkte
V
1
{\displaystyle V_{1}}
und
V
2
{\displaystyle V_{2}}
von der Fundamentalebene lassen sich die Radien der Schattenkegel in dieser Ebene wie folgt ermitteln:
l
1
=
z
V
1
tan
f
1
{\displaystyle l_{1}=z_{V_{1}}\tan f_{1}}
l
2
=
z
V
2
tan
f
2
{\displaystyle l_{2}=z_{V_{2}}\tan f_{2}}
Wenn die Kegelspitze des Kernschattens vom Mond aus gesehen hinter die Fundamentalebene fällt, also eine totale Sonnenfinsternis vorliegt, ist
z
V
2
{\displaystyle z_{V_{2}}}
negativ, im anderen Fall positiv, was bei einer ringförmigen Sonnenfinsternis der Fall ist. Entsprechend der Konvention wird auch das Vorzeichen des Kernschattenradius
l
2
{\displaystyle l_{2}}
so gewählt, dass dieser im Falle einer totalen Sichtbarkeit negativ angegeben wird, bei ringförmiger Sichtbarkeit hingegen positiv. Die Größen
z
V
1
{\displaystyle z_{V_{1}}}
und
l
1
{\displaystyle l_{1}}
sind immer positiv.
Zur Berechnung wird ein Mondradius gewählt, der eine Mittelung der Unregelmäßigkeiten des Mondrandes darstellt (
ρ
m
=
0,272
5076
{\displaystyle \rho _{m}=0{,}2725076}
). Da aber die Totalität einer Finsternis nicht vorliegt, solange durch das tiefste Mondtal scheinende Sonnenstrahlen den Beobachtungsort noch erreichen, wird zur Berechnung der Totalitätszone und -dauer auch ein zweiter, kleinerer Wert (
ρ
m
=
0,272
281
{\displaystyle \rho _{m}=0{,}272281}
) benutzt.
=== Veröffentlichung der Besselschen Elemente ===
Die Besselschen Elemente sind zeitabhängig. Um eine Bedeckung zu beschreiben, müssen sie daher für einen Zeitraum angegeben werden, der beispielsweise zur vollständigen Beschreibung einer Sonnenfinsternis mehrere Stunden umfasst.
Es gibt verschiedene Varianten der Veröffentlichung der Besselschen Elemente einer Sonnenfinsternis. In manchen Fällen werden die Werte aller nicht als konstant anzusehenden Elemente (also
x
{\displaystyle x}
,
y
{\displaystyle y}
,
d
{\displaystyle d}
,
μ
{\displaystyle \mu }
,
l
1
{\displaystyle l_{1}}
und
l
2
{\displaystyle l_{2}}
) in stündlichen Intervallen für den gesamten Finsternisverlauf tabellarisch angegeben. Zwischenwerte können interpoliert werden.
Eine andere Variante ist, die Besselschen Elemente für eine Referenzzeit (
t
0
{\displaystyle t_{0}}
) anzugeben, beispielsweise die dem Maximum nächstliegende volle Stunde in Terrestrischer Zeit (TT), und zusätzlich die stündlichen Änderungen für alle nicht als konstant anzusehenden Elemente. Dies ermöglicht die Berechnung der Werte für andere Zeitpunkte des Finsternisverlaufs als lineare Funktion der Zeit.Die Angabe in polynomialer Form ermöglicht eine etwas genauere Näherung gegenüber der linearen Interpolation. Dabei werden für die veränderlichen Größen zusätzlich zum Wert zum Zeitpunkt
t
0
{\displaystyle t_{0}}
bis zu drei Polynomkoeffizienten angegeben. Die Berechnung des Werts zu einer bestimmten Zeit erfolgt dann in folgender Form:
∑
n
=
0
n
m
a
x
a
n
t
n
{\displaystyle \sum _{n=0}^{n_{\mathrm {max} }}a_{n}t^{n}}
Dabei entspricht
a
{\displaystyle a}
einer der veränderlichen Größen,
t
{\displaystyle t}
ist die Differenz zur Zeit
t
0
{\displaystyle t_{0}}
in Stunden.In der Praxis wird häufig auf die vom Goddard Space Flight Center der NASA in polynomialer Form veröffentlichten Besselschen Elemente zurückgegriffen. Bei den im Astronomical Almanac veröffentlichten Besselschen Elementen wird der Wert für
d
{\displaystyle d}
aus praktischen Gründen bereits unter Anwendung der in Frage kommenden Winkelfunktionen (Sinus sowie Kosinus) angegeben, zudem die Größen
d
′
{\displaystyle d'}
,
μ
′
{\displaystyle \mu '}
, die für den gesamten Finsternisverlauf näherungsweise als konstant anzusehenden stündlichen Änderungen der Größen
μ
{\displaystyle \mu }
und
d
{\displaystyle d}
.
=== Beispiel der Anwendung der Besselschen Elemente ===
In folgendem Beispiel werden zunächst die Besselschen Elemente für einen vorgegebenen Zeitpunkt berechnet, womit Position und Größe des Kern- und Halbschattenkegels in der Fundamentalebene zu diesem Zeitpunkt bekannt sind. Für praktische Anwendungen muss anschließend untersucht werden, wie Punkte an der Erdoberfläche relativ zu diesen Schattenkegeln liegen. Alle hierzu erforderlichen Größen sind durch die Geometrie der Erde vorgegeben. Im Beispiel wird untersucht, ob ein gegebener Ort innerhalb des Kernschattenkegels liegt.
==== Ermittlung der Besselschen Elemente für einen bestimmten Zeitpunkt ====
Die nebenstehende Tabelle enthält die Besselschen Elemente der Sonnenfinsternis vom 11. August 1999 in polynomialer Form. Ziel sei es nun, für 12:34:03 MESZ (entspricht 10:34:03 UT) die Position des Kernschattens in der Fundamentalebene zu berechnen.
Zunächst ist die Differenz zur Referenzzeit (11:00:00 TT) zu ermitteln. Hierbei ist noch die Differenz
Δ
T
{\displaystyle \Delta T}
zwischen TT und Universal Time (UT) zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt der Finsternis 63,7 Sekunden betrug:
t
=
10,567
5
−
11
,
0
+
63
,
7
3600
=
−
0,414
805556
{\displaystyle t=10{,}5675-11{,}0+{\frac {63{,}7}{3600}}=-0{,}414805556}
Die Koordinaten des Schnittpunkts der Schattenachse mit der Fundamentalebene für die gewünschte Zeit errechnen sich wie folgt:
x
=
0,070
042
+
0,544
3035
t
−
0,000
0406
t
2
−
0,000
0081
t
3
=
−
0,155
744523
{\displaystyle x=0{,}070042+0{,}5443035\ t-0{,}0000406\ t^{2}-0{,}0000081\ t^{3}=-0{,}155744523}
y
=
0,502
841
−
0,118
4929
t
−
0,000
1158
t
2
+
0,000
0017
t
3
=
0,551
972467
{\displaystyle y=0{,}502841-0{,}1184929\ t-0{,}0001158\ t^{2}+0{,}0000017\ t^{3}=0{,}551972467}
Analog errechnen sich Deklination und Stundenwinkel (die in der Tabelle fehlenden Werte für
n
=
2
{\displaystyle n=2}
oder
n
=
3
{\displaystyle n=3}
sind mit 0 anzusetzen):
d
=
15,327
34
−
0,012
035
t
−
0,000
003
t
2
=
15,332
33167
{\displaystyle d=15{,}32734-0{,}012035\ t-0{,}000003\ t^{2}=15{,}33233167}
μ
=
343,687
410
+
15,002
982
t
=
337,464
0897
{\displaystyle \mu =343{,}687410+15{,}002982\ t=337{,}4640897}
Ebenso lässt sich nun der Radius des Kernschattens in der Fundamentalebene für diesen Zeitpunkt berechnen:
l
2
=
−
0,003
6500
+
0,000
1163
t
−
0,000
0116
t
2
=
−
0,003
700238
{\displaystyle l_{2}=-0{,}0036500+0{,}0001163\ t-0{,}0000116\ t^{2}=-0{,}003700238}
Der Halbschattenradius kann auf die gleiche Weise berechnet werden, er wird allerdings für die folgende Berechnung nicht benötigt.
==== Prüfung, ob ein gegebener Punkt zu dieser Zeit in der Totalitätszone liegt ====
Im ersten Schritt wurden die Besselschen Elemente der Finsternis vom 11. August 1999 für 12:34:03 MESZ berechnet. Nun soll überprüft werden, ob der Stuttgarter Schloßplatz (48° 46′ 42,8″ N, 9° 10′ 47,7″ O) zu diesem Zeitpunkt in der Totalitätszone lag. Hierzu werden die Koordinaten des Schloßplatzes in das fundamentale Koordinatensystem umgerechnet. Sind diese Koordinaten bestimmt, kann leicht ermittelt werden, ob dieser Punkt innerhalb des Schattenkegels liegt, da die Schattenachse ja per Definition senkrecht auf der Fundamentalebene steht.
Zunächst sind hierzu die gegebenen geodätischen Koordinaten des Schloßplatzes (
ϕ
{\displaystyle \phi }
= 48,77855° und
λ
{\displaystyle \lambda }
= 9,17991°) einschließlich der ellipsoidischen Höhe (
h
{\displaystyle h}
= 295 m) in geozentrische Kugelkoordinaten (
ϕ
′
{\displaystyle \phi '}
und
ρ
{\displaystyle \rho }
) umzurechnen, wobei die Länge
λ
{\displaystyle \lambda }
unverändert bleibt. Hierfür werden die numerische Exzentrizität
e
{\displaystyle e}
des Rotationsellipsoids der Erde und zwei weitere, daraus abgeleitete, breitenabhängige Hilfsgrößen verwendet:
e
2
=
1
−
b
2
a
2
=
0,006
694380
{\displaystyle e^{2}=1-{\frac {b^{2}}{a^{2}}}=0{,}006694380}
Dabei ist
a
{\displaystyle a}
der Äquatorradius und
b
{\displaystyle b}
der Polradius.
C
=
1
1
−
e
2
sin
2
ϕ
=
1,001
899093
{\displaystyle C={\frac {1}{\sqrt {1-e^{2}\sin ^{2}\phi }}}=1{,}001899093}
S
=
(
1
−
e
2
)
C
=
0,995
191999
{\displaystyle S=\left(1-e^{2}\right)C=0{,}995191999}
Mit dem Äquatorradius
a
{\displaystyle a}
= 6.378.137 m lassen sich die geozentrischen Koordinaten wie folgt berechnen:
ϕ
′
=
arctan
(
a
S
+
h
)
tan
ϕ
a
C
+
h
=
48,587
7227
∘
{\displaystyle \phi ^{\prime }=\arctan {\frac {\left(aS+h\right)\tan \phi }{aC+h}}=48{,}5877227^{\circ }}
ρ
=
(
a
C
+
h
)
cos
ϕ
a
cos
ϕ
′
=
0,998
156295
{\displaystyle \rho ={\frac {\left(aC+h\right)\cos \phi }{a\cos \phi ^{\prime }}}=0{,}998156295}
Dabei drückt
ρ
{\displaystyle \rho }
den Abstand des Schloßplatzes vom Erdmittelpunkt in Einheiten des Äquatorradius aus,
ϕ
′
{\displaystyle \phi '}
ist der Winkel zwischen der Äquatorebene und dem vom Erdmittelpunkt zum Schloßplatz zeigenden Ortsvektor.
Als Hilfsgröße wird nun der Stundenwinkel
θ
{\displaystyle \theta }
des Beobachtungsorts gegenüber der
z
{\displaystyle z}
-Achse des fundamentalen Koordinatensystems ermittelt. Dabei ist zu beachten, dass bei den Besselschen Elementen der Stundenwinkel
μ
{\displaystyle \mu }
unter Annahme eines Ephemeridentags (entsprechend der Terrestrischer Zeit, früher: Ephemeridenzeit) berechnet wird. Da aber die tatsächliche Erdrotation nicht ganz regelmäßig ist, muss
μ
{\displaystyle \mu }
zunächst um den Zeitunterschied zwischen Terrestrischer Zeit und Universal Time korrigiert werden, der
Δ
T
{\displaystyle \Delta T}
entspricht. Zur Berechnung der entsprechenden Winkelkorrektur ist die siderische Taglänge maßgeblich, der Unterschied zur synodischen Taglänge (Sonnentag) wird durch den Faktor 1,002738 berücksichtigt. Eigentlich muss die geographische Länge des Beobachters (
λ
{\displaystyle \lambda }
) von
μ
{\displaystyle \mu }
abgezogen werden, da beide Winkel aber in entgegengesetzter Richtung gemessen werden, ist es eine Addition.
θ
=
(
μ
−
1,002
738
⋅
360
∘
86400
s
Δ
T
)
+
λ
=
346,377
8563
∘
{\displaystyle \theta =\left(\mu -1{,}002738\cdot {\frac {360^{\circ }}{86400\mathrm {s} }}\Delta T\right)+\lambda =346{,}3778563^{\circ }}
Damit lassen sich die kartesischen Koordinaten
ξ
{\displaystyle \xi }
,
η
{\displaystyle \eta }
und
ζ
{\displaystyle \zeta }
des Schloßplatzes im fundamentalen Koordinatensystem wie folgt ermitteln, wobei die Neigung der Fundamentalebene gegenüber dem geodätischen Koordinatensystem durch die Deklination
d
{\displaystyle d}
berücksichtigt wird:
ξ
=
ρ
cos
ϕ
′
sin
θ
=
−
0,155
501299
{\displaystyle \xi =\rho \cos \phi ^{\prime }\sin \theta =-0{,}155501299}
η
=
ρ
sin
ϕ
′
cos
d
−
ρ
cos
ϕ
′
sin
d
cos
θ
=
0,552
271870
{\displaystyle \eta =\rho \sin \phi ^{\prime }\cos d-\rho \cos \phi ^{\prime }\sin d\cos \theta =0{,}552271870}
ζ
=
ρ
sin
ϕ
′
sin
d
+
ρ
cos
ϕ
′
cos
d
cos
θ
=
0,816
780948
{\displaystyle \zeta =\rho \sin \phi ^{\prime }\sin d+\rho \cos \phi ^{\prime }\cos d\cos \theta =0{,}816780948}
Der Radius der Schnittfläche des Kernschattenkegels in der durch den Schloßplatz gehenden, zur Fundamentalebene parallelen Ebene liegt näher an Sonne und Mond und ist deshalb etwas größer als der Kernschattenradius in der Fundamentalebene. Er lässt sich auf Basis des in den Besselschen Elementen angegebenen Konuswinkels des Schattenkegels (
tan
f
2
{\displaystyle \tan f_{2}}
) und des Abstands des Schloßplatzes von der Fundamentalebene (
ζ
{\displaystyle \zeta }
) berechnen. Dabei ist zu beachten, dass der Kernschattenradius bei einer totalen Finsternis per Definition negativ angegeben wird.
l
2
,
ζ
=
l
2
−
ζ
tan
f
2
=
−
0,007
449262
{\displaystyle l_{2,\zeta }=l_{2}-\zeta \ \tan f_{2}=-0{,}007449262}
Der Abstand
r
{\displaystyle r}
des Schloßplatzes von der Schattenachse in derselben Ebene lässt sich wie folgt ermitteln:
r
=
(
ξ
−
x
)
2
+
(
η
−
y
)
2
=
0,000
385746
<
0,007
449262
{\displaystyle r={\sqrt {\left(\xi -x\right)^{2}+\left(\eta -y\right)^{2}}}=0{,}000385746<0{,}007449262}
Da der Abstand des Schloßplatzes in dieser Ebene kleiner ist als der Radius des Schattenkegels, lag der Schloßplatz also zum gegebenen Zeitpunkt innerhalb des Kernschattens. Weil es zu dieser Zeit in Stuttgart regnete, war allerdings auf dem Schloßplatz keine Beobachtung der verfinsterten Sonne möglich.Durch iteratives Durchführen dieser Berechnungen für einen Zeitraum lassen sich prinzipiell die Kontaktzeiten an einem bestimmten Ort ermitteln. Es gibt aber auch direkte Verfahren, um die Kontaktzeiten zu berechnen.
== Weitere Gestirnsbedeckungen durch den Mond ==
=== Sternbedeckungen durch den Mond ===
Bei Sternbedeckungen kann die Berechnung der Besselschen Elemente gegenüber Sonnenfinsternissen stark vereinfacht werden, da es ausreichend genau ist, den bedeckten Himmelskörper als unendlich weit entfernt anzusehen. Diese Annahme ermöglicht es, die Lichtstrahlen des entfernten Objekts, die das Erde-Mond-System erreichen, als parallel zu betrachteten. Damit ergibt sich, dass die Richtung der Schattenachse, also die
z
{\displaystyle z}
-Achse des Besselschen fundamentalen Koordinatensystems, während des gesamten Verlaufs der Bedeckung immer genau in Richtung des Sterns zeigt und damit durch die äquatorialen Koordinaten des Sterns von vornherein gegeben ist.
Eine weitere Vereinfachung gegenüber einer Sonnenfinsternis besteht darin, dass kein Kern- und Halbschattenkegel beschrieben werden muss, sondern dass es ausreicht, den „Schatten“ als senkrecht auf der Fundamentalebene stehenden Zylinder aufzufassen. Der Radius dieses Zylinders entspricht dem Mondradius, der 0,2725 des Äquatorradius der Erde entspricht. Die Angabe von variablen Schattenradien sowie Öffnungswinkeln erübrigt sich damit.Die Fundamentalebene wird analog zu den Sonnenfinsternissen gewählt, also die durch den Erdmittelpunkt gehende Normalebene dieser Schattenachse. Die Schnittlinie der Fundamentalebene mit der Äquatorebene ist die
x
{\displaystyle x}
-Achse und zeigt nach Osten, senkrecht auf dieser steht im Erdmittelpunkt die
y
{\displaystyle y}
-Achse und zeigt nach Norden. Wie bei Sonnenfinsternissen erfolgen alle Angaben in diesem Koordinatensystem in Einheiten des Äquatorradius.Anders als bei der Sonnenfinsternis wird als Bezugszeitpunkt
T
0
{\displaystyle T_{0}}
für die Besselschen Elemente häufig nicht eine volle Stunde, sondern der Zeitpunkt der Konjunktion in Rektaszension gewählt, also der Zeitpunkt, zu dem Stern und Mond dieselbe Rektaszension aufweisen. Zu diesem Zeitpunkt hat die
x
{\displaystyle x}
-Koordinate der Zylinderachse den Wert 0, so dass in Tabellen nur noch die
y
{\displaystyle y}
-Koordinate der Zylinderachse in der Fundamentalebene angegeben wird. Die Besselschen Elemente einer Sternbedeckung werden dann wie folgt festgelegt:
Für Prognosenberechnungen ist es ausreichend,
x
′
{\displaystyle x'}
und
y
′
{\displaystyle y'}
während des gesamten Verlaufs der Bedeckung als konstant zu betrachten.
=== Bedeckung der Planeten durch den Mond ===
Das Verfahren der Besselschen Elemente lässt sich auf beliebige Gestirnsbedeckungen anwenden, wenn beide Gestirne hinreichend genau kugelförmig sind. Es sind lediglich die Position und Größe der Sonne durch die des betreffenden Planeten zu ersetzen. Als Ausnahmen gab Bessel 1842 lediglich die Planeten Jupiter und Saturn an, da deren Abweichung von der Kugelgestalt damals messbar war. Um das Sichtbarkeitsgebiet für Bedeckungen von Planeten durch den Mond vorherzusagen, kann dasselbe vereinfachte Verfahren wie bei Sternbedeckungen angewandt werden (siehe oben).Sollen jedoch die Kontaktzeiten genau bestimmt werden, ist eine gegebenenfalls vorhandene Abweichung des Planeten von der Kugelform zu berücksichtigen und auch, welcher Teil der Planetenscheibe zum Zeitpunkt der Bedeckung von der Sonne angestrahlt wird. Dieses Verfahren wurde 1865 von Chauvenet beschrieben, da Bessels Verfahren für die zwischenzeitlich präziser gewordenen Beobachtungsmethoden nicht mehr genau genug war. Dabei wird der von der Sonne beschienene und von der Erde sichtbare Teil des Planeten direkt betrachtet und nicht in eine Fundamentalebene abgebildet.
== Transit der unteren Planeten ==
Beim Transit der unteren Planeten Venus und Merkur vor der Sonne ist der bedeckende Himmelskörper der Planet. Dieser kann die Sonne niemals vollständig bedecken, denn der Kernschatten ist viel zu kurz, um auf die Erde zu fallen. Auch für diese astronomischen Ereignisse werden Besselsche Elemente zur Berechnung der lokalen Gegebenheiten verwendet. Es kann dabei genau dasselbe Berechnungsverfahren wie bei Sonnenfinsternissen verwendet werden, der Planet übernimmt dabei die Rolle des Mondes.Da die Entfernung der unteren Planeten von der Erde wesentlich größer ist als die des Mondes, besteht bei Transiten die Möglichkeit einer vereinfachten Berechnung der Zeitpunkte des Ein- und Austritts der Planetenscheibe vor der Sonne. Dieses Verfahren kommt ohne die Umrechnung der Ephemeriden in das Besselsche fundamentale Koordinatensystem aus. Dabei macht man sich zu Nutze, dass die quadrierte oder zu höherer Potenz erhobene Parallaxe der Planeten so klein wird, dass sie vernachlässigt werden kann. Ausgehend von den auf den Erdmittelpunkt bezogenen Kontaktzeiten können auf diese Weise die entsprechenden Zeitpunkte an jedem Punkt der Erde berechnet werden. Das Prinzip dieser vereinfachten Berechnung geht auf Lagrange zurück und wurde von William Chauvenet verbessert, indem er die Erdabplattung berücksichtigte.
== Mondfinsternisse ==
Bei einer Mondfinsternis befindet sich ein irdischer Beobachter auf dem Himmelskörper, der den Schatten wirft. Somit sieht man von allen Orten auf der Erde genau denselben Finsternisverlauf, vorausgesetzt, der Mond ist sichtbar. Bei der Berechnung von Mondfinsternissen werden entsprechende Sehwinkel (polare Koordinaten) bestimmt, was der Ermittlung der Besselschen Elemente (kartesische Koordinaten in der Besselschen Fundamentalebene) ähnelt. Deshalb werden die für Mondfinsternisse benutzten Sehwinkel gelegentlich auch Besselsche Elemente genannt. Eine Fundamentalebene wird aber weder für die Erde noch für den Mond benutzt, und es handelt sich bei der Beschreibung von Mondfinsternissen in der Regel ausschließlich um polare Koordinaten.
Wie bei Sonnenfinsternissen bezieht sich das fundamentale Koordinatensystem auf die Schattenachse, die bei Mondfinsternissen aber immer durch den Erdmittelpunkt geht. Die Berechnung ähnelt der bei Sonnenfinsternissen. Rektaszension und Deklination der Schattenachse ergeben sich in diesem Fall direkt aus den entsprechenden Werten der Sonne, die
z
{\displaystyle z}
-Achse zeigt dabei aber von der Sonne weg. Somit gilt:
a
=
α
s
+
180
∘
;
d
=
−
δ
s
{\displaystyle a=\alpha _{s}+180^{\circ };\quad \quad d=-\delta _{s}}
Auf die gleiche Weise wie bei Sonnenfinsternissen kann der geozentrische Ortsvektor des Mondes in das fundamentale System umgerechnet werden. Über dessen
x
{\displaystyle x}
- und
y
{\displaystyle y}
-Komponente kann die Lage des Mondmittelpunkts in Bezug zur Schattenachse ermittelt werden. Da alle benutzen Winkel ihren Scheitelpunkt im Erdmittelpunkt haben, werden im Gegensatz zu Sonnenfinsternissen für die Umrechnung keine Längenangaben benötigt. Die Koordinaten
x
{\displaystyle x}
und
y
{\displaystyle y}
beziehen sich auf die Einheitskugel. Die daraus abgeleiteten Winkel werden in Bogensekunden angegeben. Die dabei verwendeten Formeln entsprechen bis auf die fehlende Einheitenumrechnung den bei der Sonnenfinsternis verwendeten.
x
=
cos
δ
m
sin
(
α
m
−
a
)
{\displaystyle x=\cos \delta _{m}\sin \left(\alpha _{m}-a\right)}
y
=
sin
δ
m
cos
d
−
cos
δ
m
sin
d
cos
(
α
m
−
a
)
{\displaystyle y=\sin \delta _{m}\cos d-\cos \delta _{m}\sin d\cos \left(\alpha _{m}-a\right)}
Daraus lässt sich der Winkelabstand des Mondmittelpunkts von der Schattenachse berechnen:
m
=
x
2
+
y
2
{\displaystyle m={\sqrt {x^{2}+y^{2}}}}
Die Größe der Radien von Halb- und Kernschatten werden ebenfalls als geozentrische Sehwinkel angegeben. Die Größen
f
1
{\displaystyle f_{1}}
und
f
2
{\displaystyle f_{2}}
beschreiben hierbei den Sehwinkel der Schattenradien in der Mondumlaufbahn. In nebenstehender Abbildung deutet die gestrichelte Linie die Mondumlaufbahn an. Der Winkel
π
m
{\displaystyle \pi _{m}}
ist der Sehwinkel des Erdradius vom Mond aus gesehen und entspricht somit der Parallaxe des Mondes. Da dieser Winkel ein Außenwinkel des Dreiecks
Δ
E
M
′
V
2
{\displaystyle \Delta EM'V_{2}}
ist, gilt für den Sehwinkel
f
2
{\displaystyle f_{2}}
des Kernschattens in der Mondumlaufbahn
f
2
=
π
m
−
v
2
{\displaystyle f_{2}=\pi _{m}-v_{2}\!\,}
,wobei
v
2
{\displaystyle v_{2}}
der halbe Öffnungswinkel des Kernschattenkegels ist.
Analog kann über das Dreieck
Δ
E
S
′
V
2
{\displaystyle \Delta ES'V_{2}}
eine weitere Winkelbeziehung hergeleitet werden: Der Außenwinkel
r
s
{\displaystyle r_{s}}
entspricht dem Sehwinkel des Sonnenradius von der Erde, der Winkel
π
s
{\displaystyle \pi _{s}}
der geozentrischen Parallaxe der Sonne. Somit gilt:
v
2
=
r
s
−
π
s
{\displaystyle v_{2}=r_{s}-\pi _{s}\!\,}
Aus beiden Winkelbeziehungen lässt sich nun durch Eliminierung des Konuswinkels
v
2
{\displaystyle v_{2}}
der gesuchte Winkel ermitteln:
f
2
=
π
s
+
π
m
−
r
s
{\displaystyle f_{2}=\pi _{s}+\pi _{m}-r_{s}\!\,}
In analoger Weise kann auch der geozentrische Sehwinkel des Halbschattenradius im Mondorbit ermittelt werden. Für diesen ergibt sich folgende Beziehung:
f
1
=
π
s
+
π
m
+
r
s
{\displaystyle f_{1}=\pi _{s}+\pi _{m}+r_{s}\!\,}
Um die Ermittlung der Kontaktzeiten der Finsternis zu unterstützen, werden aus den Größen des Kern- und Halbschattens und dem Mondradius drei weitere Hilfsgrößen abgeleitet. Dies sind die Sehwinkel für den Abstand des Mondmittelpunkts von der Schattenachse während eines bestimmten Kontakts, die aus den Sehwinkeln der Schattenradien und dem Sehwinkel
r
m
{\displaystyle r_{m}}
des Mondradius berechnet werden:
L
1
=
f
1
+
r
m
;
{\displaystyle L_{1}=f_{1}+r_{m}\!\,;}
Ein- und Austritt des Mondes für den Halbschatten
L
2
=
f
2
+
r
m
;
{\displaystyle L_{2}=f_{2}+r_{m}\!\,;}
Ein- und Austritt des Mondes für den Kernschatten
L
3
=
f
2
−
r
m
;
{\displaystyle L_{3}=f_{2}-r_{m}\!\,;}
Beginn und Ende der totalen FinsternisDie Größen
x
{\displaystyle x\!\,}
,
y
{\displaystyle y\!\,}
,
m
{\displaystyle m\!\,}
,
L
1
{\displaystyle L_{1}\!\,}
,
L
2
{\displaystyle L_{2}\!\,}
,
L
3
{\displaystyle L_{3}\!\,}
,
f
1
{\displaystyle f_{1}\!\,}
und
f
2
{\displaystyle f_{2}\!\,}
sowie
x
˙
{\displaystyle {\dot {x}}}
,
y
˙
{\displaystyle {\dot {y}}}
und
m
˙
{\displaystyle {\dot {m}}}
– die stündliche Änderungsraten für die korrespondierenden Größen – gelten als Besselsche Elemente einer Mondfinsternis. Sie werden für eine Referenzzeit angegeben, beispielsweise den Zeitpunkt der Mondopposition. Es gibt allerdings im Gegensatz zu Sonnenfinsternissen keine allgemein anerkannte Art und Weise der Angabe der Kenngrößen.Die bisher dargestellten Berechnungen verwendeten nur Winkel zur Schattenachse und kamen ohne Definition der Fundamentalebene aus. Wenn berechnet werden soll, wann bestimmte Mondkrater – also markante Punkte der Mondoberfläche – in den Kernschatten ein- oder austreten, ist dies möglich, wenn man die Fundamentalebene so wählt, dass sie durch den Mondmittelpunkt geht – in ähnlicher Weise wie für Punkte der Erdoberfläche bei Sonnenfinsternissen.
Bei Überprüfung der berechneten Kontaktzeiten und insbesondere Ein- und Austrittszeitpunkte bestimmter Mondkrater in den bzw. aus dem Kernschatten zeigen die auf diese Weise berechneten Daten keine brauchbare Übereinstimmung mit der Realität. Dies liegt zum einen daran, dass die Erde aufgrund ihrer Abplattung keinen ausreichend kreisförmigen Schatten wirft. Zum zweiten liegt es an der Erdatmosphäre, durch die sich die Schattenkegel vergrößern. Um diese Effekte zu kompensieren, ist es üblich, in die Formeln zur Berechnung der Größe des Halb- und Kernschattenkegels zwei Korrekturfaktoren einzuführen, wobei der Faktor 1,02 die Vergrößerung des Erdschattens durch die Wirkung der Erdatmosphäre um 1/50 und der Faktor 0,998340 die Abplattung der Erde im Mittelwert zwischen Äquator- und Poldurchmesser kompensieren soll:
f
1
=
1
,
02
(
0,998
340
π
m
+
π
s
+
r
s
)
{\displaystyle f_{1}=1{,}02\left(0{,}998340\ \pi _{m}+\pi _{s}+r_{s}\right)}
f
2
=
1
,
02
(
0,998
340
π
m
+
π
s
−
r
s
)
{\displaystyle f_{2}=1{,}02\left(0{,}998340\ \pi _{m}+\pi _{s}-r_{s}\right)}
André Danjon wies 1951 darauf hin, dass zur Berücksichtigung der Wirkung der Erdatmosphäre die beiden Schattenkegel nicht um den gleichen relativen Betrag von 1/50 zu vergrößern sind, sondern vielmehr eine Vergrößerung um denselben absoluten Betrag den tatsächlichen geometrischen Verhältnissen entspricht. Danjon geht von einer 75 Kilometer hohen Schicht der Erdatmosphäre aus, die absorbierend wirkt, was einer Vergrößerung des Erdradius bzw. der Parallaxe des Mondes um 1/85 entspricht. Der Faktor 1,01 kombiniert diese Vergrößerung mit dem Faktor für die Erdabplattung:
f
1
=
1
,
01
π
m
+
π
s
+
r
s
{\displaystyle f_{1}=1{,}01\ \pi _{m}+\pi _{s}+r_{s}}
f
2
=
1
,
01
π
m
+
π
s
−
r
s
{\displaystyle f_{2}=1{,}01\ \pi _{m}+\pi _{s}-r_{s}}
Finsternisgrößen für Kernschatten-Finsternisse, die nach der 1/50-Regel berechnet werden, sind im Vergleich zur Rechnung nach Danjon um etwa 0,005 zu groß, für Halbschatten-Finsternisse um rund 0,026.Aber auch auf diese Weise berechnete Daten zeigen noch keine besonders präzise Übereinstimmung mit der Realität. Dies wird vor allem darauf zurückgeführt, dass die Abplattung der Erdatmosphäre noch deutlich größer ist als die der Erdoberfläche. Es wird versucht, anhand der Beobachtungsdaten verschiedener Mondfinsternisse ein genaueres Korrekturverfahren zu entwickeln.
== Anmerkungen ==
== Literatur ==
P. Kenneth Seidelmann (Hrsg.): Explanatory Supplement to the Astronomical Almanac. University Science Books, Sausalito 2006, ISBN 1-891389-45-9
Robin M. Green: Spherical Astronomy. Cambridge University Press, Cambridge 1985, ISBN 0-521-23988-5
William Chauvenet: A Manual of Spherical and Practical Astronomy. J. B. Lippincott & Co, Philadelphia 1863, books.google.de
Jean Meeus: Elements of Solar Eclipses 1951-2200. Willmann-Bell, Richmond 1989, ISBN 0-943396-21-2 (Mit Rechenverfahren und den Besselschen Elementen aller Sonnenfinserisse im Zeitraum 1951 bis 2200.)
Jean Meeus: Transits. Willmann-Bell, Richmond 1989, ISBN 0-943396-25-5 (Mit Rechenverfahren und den Besselschen Elementen aller Merkur-Transits im Zeitraum 1600 bis 2300 und aller Venus-Transits -2000 bis 4000.)
Jean Meeus: Astronomical Tables of the Sun, Moon and Planets 3rd edition. Willmann-Bell, Richmond 2015, ISBN 978-1-942675-03-7 (Mit Rechenverfahren und den Besselschen Elementen für Bedeckungen heller Sterne im Zeitraum 2010 bis 2040.)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Besselsche_Elemente
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Blabbergraben
|
= Blabbergraben =
Der Blabbergraben ist ein Sandgeprägter Tieflandbach im brandenburgischen Landkreis Oder-Spree. Er verbindet fünf langgezogene, in einer glazialen Rinne der Beeskower Platte und in den Gemeinden Rietz-Neuendorf und Tauche liegende Seen und entwässert sie von Norden (Herzberger See) nach Süden (Drobschsee) in die Krumme Spree. Seine Länge beträgt inklusive der durchflossenen Seen 13,7 Kilometer.
In den Sommermonaten fällt er streckenweise trocken. Seinen ökologischen Zustand stuft die Flussgebietsgemeinschaft Elbe als „unbefriedigend“ ein. Zum Teil begradigt und bei Straßenunterführungen verrohrt, soll der Blabbergraben im Rahmen des „Gewässerentwicklungskonzepts (GEK) Krumme Spree“ nach der EU-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) möglichst naturnah zurückgebaut werden. Der Graben passiert mehrere Schutzgebiete. Die Drobschseerinne im Unterlauf ist als Naturentwicklungsgebiet ausgewiesen.
Das markanteste Bauwerk in seinem Lauf ist das Baudenkmal Lindenberger Viadukt, das die eingleisige Nebenbahn Königs Wusterhausen–Grunow über die rund 100 Meter breite und 25 Meter tiefe Glienicker Schlucht führt. Nördlich des Drobschsees passiert der Bach das Bodendenkmal Räuberberg mit Resten des Burgwalls einer deutschen Adelsburg aus dem 12./13. Jahrhundert. Heute ein Rinnsal, trieb er mindestens drei Wassermühlen an. Benannt ist der Graben nach der abgetragenen Blabbermühle, deren Name sich lautmalend auf das Geräusch der arbeitenden Mühle bezieht (plattdeutsch für plappern) und deren Gelände gleichfalls als Bodendenkmal unter Schutz steht. Der Schriftsteller Günter de Bruyn, der seit 1969 in der ehemaligen Blabberschäferei neben der Blabbermühle wohnte, hat der einsamen, siedlungsarmen Region am Blabbergraben 2006 in seinem Werk Abseits. Liebeserklärung an eine Landschaft ein literarisch-dokumentarisches Denkmal gesetzt.
== Geologie, Geografie und Klima ==
=== Niederung auf der Beeskower Platte ===
Der Blabbergraben liegt im Südwesten der Beeskower Platte, die in den Naturräumlichen Haupteinheiten Deutschlands als Nr. 824 in der Haupteinheitengruppe Nr. 82 Ostbrandenburgisches Heide- und Seengebiet geführt wird. Im Untergrund der Hochfläche überwiegen saaleeiszeitliche Grundmoränenflächen, die großräumig von flachwelligen Endmoränenbildungen der letzten Eiszeit überlagert werden. Das mittlere Höhenniveau des Plateaus schwankt zwischen 60 und 75 m ü. NN, die angrenzenden Niederungen liegen auf einer Höhe von etwa 38 bis 45 Metern. Die Kulturlandschaft der Hochfläche prägen weite Ackerflächen.
Der 13,7 Kilometer lange Graben verbindet und entwässert fünf langgezogene Seen in einer glazialen Rinne, die sich in die Platte eingeschnitten hat und teilweise mit nacheiszeitlichen Sedimenten gefüllt ist, von Nord nach Süd in die Krumme Spree zwischen Werder und Kossenblatt. Die Spree fließt in diesem Bereich von West nach Ost in der Brieschter Talung, die die Beeskower Platte von der südlich anschließenden Lieberoser Platte/Leuthener Sandplatte trennt. Aufgrund des stark mäandrierenden Verlaufs wird der Spreeteil zwischen dem Neuendorfer See und dem Schwielochsee/Glower See als „Krumme Spree“ bezeichnet.
=== Gemeinden und Ortsteile ===
Der Blabbergraben durchfließt von Nord nach Süd die Gemeinden Rietz-Neuendorf und Tauche. Dabei bildet er in weiten Teilen seines Laufs den Grenzfluss zwischen diesen Gemeinden und zwischen Ortsteilen innerhalb der Gemeinden, im Unterlauf den Grenzfluss zwischen der Stadt Storkow und Tauche. Im Einzelnen durchläuft er die Gemarkungen folgender Orte (a) und bildet die Grenze zu (b) – unter (c) folgen gegebenenfalls notwendige Kurzerläuterungen; die Teilstücke sind zur abgrenzenden Darstellung willkürlich gewählt und entsprechen keinen amtlichen Einteilungen:
Erstes Teilstück: a) im Westen Herzbergs (Rietz-Neuendorf); b) im Bereich des Herzberger Sees und südlich des Sees Grenze zu Glienicke (Rietz-Neuendorf).
Zweites Teilstück: a) im Osten Glienickes und im Westen Lindenbergs (Tauche); c) die Grenze wechselt hier mehrfach die Seite des Bachs. Nördlich des Lindenberger Sees und im Bereich des Sees ausschließlich auf dem Gebiet Lindenbergs.
Drittes Teilstück, ab Mitte des Lindenberger Sees: a) im Westen Lindenbergs; b) Grenze zu Ahrensdorf (Rietz-Neuendorf).
Viertes Teilstück: a) im Osten Ahrensdorfs; b) Grenze zu Lindenberg; c) im Bereich des Ahrensdorfer Sees wechselt die Grenze erneut die Grabenseite.
Fünftes Teilstück, ab Südende des Ahrensdorfer Sees: a) im Westen Görsdorfs (Tauche), dabei streckenweise im Görsdorfer Wohnplatz Premsdorf; b) Grenze zu Ahrensdorf; c) ab Mitte des Premsdorfer Sees verliert der Graben für eine längere Teilstrecke seine Grenzeigenschaft, da sich die Gemarkung Görsdorfs hier über sein Westufer ausdehnt.
Sechstes Teilstück, ab Blabbermühle: a) im Westen Görsdorfs; b) Grenze zu Schwenow (Gemeindeteil Limsdorfs, einem Ortsteil der Stadt Storkow).
Siebtes Teilstück, ab Südende des Drobschsees bis zur Mündung: a) im Westen Görsdorf; b) Grenze (leicht westlich des Grabens) zu Werder (Tauche).
=== Verlauf ===
f1 Karte mit allen Koordinaten der Siedlungsplätze und Wüstungen am Ufer und der durchflossenen Seen: OSM | WikiMap
Die Dorfkerne liegen abseits des Bachs, der Görsdorfer Kern beispielsweise rund 1,5 Kilometer östlich. Abgesehen von drei Wohnplätzen an seinem Ufer und einem Waldhotel am Herzberger See ist die nähere Umgebung des Blabbergrabens nahezu siedlungsfrei, arm an Besuchern und ruhig. „Da die Mühlen, wie man aus Erfahrung wusste, inzwischen wahrscheinlich Ruinen geworden waren, schien das einzig Sehenswerte der Gegend also die Abwesenheit von Mensch und Kultur zu sein“ notierte Günter de Bruyn über seine erste Begegnung mit dem Bach im Jahr 1968.
==== Quellbereich Herzberger See ====
Nach dem topographischen Landeskartenwerk der Landesvermessung und Geobasisinformation Brandenburg bildet heute ein rund 300 Meter langer Zulauf des Herzberger Sees ⊙ den Quellbach des Blabbergrabens. Seine Quelle liegt in einem hügeligen Waldgebiet nordöstlich des Herzberger Dorfkerns neben einem Bauernhof am Ende der Straße Am See. Der Quellbach fließt dem Ostufer des Herzberger Sees zu, in den er kurz unterhalb seiner Nordspitze mündet. Der Wasserstand des Sees liegt 66,1 m ü. NHN. Wie das nebenstehende Schmettausche Kartenwerk zeigt, lag die Quelle des Bachs 1767/1787 nördlich des Sees – ungefähr an der heutigen Landesstraße 42 – in einem rund 85 Meter hohen Hügelgebiet. Der alte Quellbach hatte eine Länge von rund einem Kilometer und mündete direkt in das Nordufer. Er ist heute nur noch rudimentär vorhanden und versickert rund 550 Meter vor dem Nordufer.Nach dem Passieren des 1,22 Kilometer langen, weitgehend bewaldeten Herzberger Sees tritt der Graben an dessen Südende aus. Um das Ökosystem des zunehmend verschlammten Sees zu stabilisieren, wurde 2011 im Rahmen der Seesanierung am Abfluss ein neues Regulierungsbauwerk errichtet. Das Wehr soll Wasser-Überschüsse, die aus den Niederschlägen in den Wintermonaten resultieren, möglichst lange im Seebecken zurückhalten. Kurz nach dem See unterquert der Bach die Bundesstraße 246, die Herzberg ⊙ und Glienicke ⊙ mit Storkow und Beeskow verbindet.
==== Oberlauf ====
Gesäumt von einem Waldstreifen fließt der Bach nach Süden und unterquert nach rund einem Kilometer in einem offenen Wiesengelände das 1898 erbaute, denkmalgeschützte Lindenberger Viadukt. ⊙ Die rund 95 Meter lange, vierbogige Brücke führt die eingleisige Nebenbahn Königs Wusterhausen–Grunow über die Glienicker Schlucht. Die auch als Glienicker Grund bezeichnete Senke wurde von der glazialen Rinne in einer Breite von rund 100 Metern bis zu 25 Meter tief in die Beeskower Platte geschnitten.
Durch den zunehmend versumpften Grund schlängelt sich der Bach weiter nach Süden und erreicht den ringsum lückenlos bewaldeten, 790 Meter langen Lindenberger See ⊙, den neben dem Blabbergraben noch ein etwa 2,2 Kilometer langes, namenloses Fließ speist, das auf einer Höhe von 90 Metern nordöstlich des Schlossparks Lindenberg entspringt. Am Südende des Sees durchfließt der Blabbergraben das Gelände der 1927 abgebauten Grundmühle ⊙, deren verbliebene Bauten unter dem Namen Grundmühle als Wohnplatz von Lindenberg geführt werden (siehe unten). Unmittelbar nach der ehemaligen Wassermühle überbrückt die Landesstraße 42 den Bach, die nach Süden nach Ahrensdorf und nach Nordosten nach Lindenberg führt.
==== Mittellauf ====
An der Straße tritt der Bach in den Naturpark Dahme-Heideseen ein. Zwischen einem Waldsaum im Westen und Offenland im Osten strömt er zum 920 Meter langen Ahrensdorfer See ⊙, der wie der fast unmittelbar folgende 1,33 Kilometer lange Premsdorfer See ⊙ komplett von einem reich strukturierten Mischwald umgeben ist. Zwischen den Seen führt einer der regionalen Hauptwanderwege über den Bach. Nach dem Verlassen des knapp 60 Meter hoch gelegenen Premsdorfer Sees wendet sich der Bachlauf nach Südwesten und unterquert die Landesstraße 422, die Ahrensdorf mit Görsdorf verbindet und die mittlere Bachregion großräumig an die Bundesstraße 246 in Beeskow oder Wendisch Rietz anbindet.
Im folgenden Abschnitt durchfließt der Blabbergraben ein lichtes Waldgebiet, in dem seine scharfe Reliefenergie zugunsten einer hügeligen Geländeform vorübergehend zurücktritt. Nach etwa 1,9 Kilometern stößt der Bach auf einer Höhe von 54 Metern auf das Gelände der ehemaligen Blabbermühle. ⊙ Das Gelände ist als Bodendenkmal ausgewiesen, die Mühlenbauten sind restlos abgerissen. Nach weiteren 200 Metern erreicht er die Blabberschäferei ⊙, den Wohnsitz des 2020 verstorbenen Günter de Bruyns.Aufgrund seines in diesem Teilabschnitt besonders geringen Gefälles lässt der Bach im Bereich der Mühle und Schäferei selbst in Sommermonaten, in denen er austrocknet, Tümpel und sumpfige Stellen zurück. Östlich neben der Blabberschäferei liegt beispielsweise ein kleiner See inmitten eines Bruchwalds. Im Mühlenbereich verengt sich die Grabenrinne am stärksten und weitet sich anschließend zum Drobschsee hin zu einem ausgedehnten Wiesengelände. Die reichhaltige Flora und Fauna dieser ehemals sumpfigen Wiesen ist verschwunden, da der Graben hier um 1980 herum vertieft und begradigt wurde, sodass die Flächen jetzt im Sommer auch hier oft trocken liegen. Rund 900 Meter nördlich des Drobschsees umfließt der Blabbergraben eine 58,1 Meter hohe Talsandinsel mit dem Bodendenkmal Räuberberg ⊙ (siehe unten).
==== Unterlauf am Drobschsee und Mündungsbereich ====
Kurz vor dem Eintritt in den Drobschsee ⊙ fließt der Blabbergraben rund 250 Meter westlich am Görsdorfer Wohnplatz Drobsch ⊙ vorbei, an dem sich wahrscheinlich die Drobschmühle befand (siehe unten). Das südlichste Gewässer der fünfteiligen Graben-Seenkette hat heute eine Länge von 1,2 Kilometern und endet gleichauf mit der Südspitze des westlich benachbarten Schwenowsees. Der zum großen Teil verlandete und weiter verlandende Drobschsee hatte noch in der Preußischen Uraufnahme von 1846 die doppelte Länge und reichte bis zur Krummen Spee. In der versumpften Rinne des ehemaligen Seeteils, dem Naturentwicklungsgebiet Drobschseerinne, fließt der Blabbergraben nach dem Seeaustritt weiter nach Süden und mündet nach 1,2 Kilometern zwischen Werder und Kossenblatt auf einer Höhe von 41 Metern ü. NN. in einen Altarm der Krummen Spree.
Im Drobschsee hat der Blabbergraben zuvor den Abfluss des Schwenowseegrabens aufgenommen. Der 7,92 Kilometer lange Schwenowseegraben entspringt östlich von Behrensdorf, einem Ortsteil von Rietz-Neuendorf, und fließt parallel zum Blabbergraben von Nord nach Süd in den Schwenowsee. Am unteren Ostufer tritt er aus dem Schwenowsee wieder aus und führt sein Wasser auf einem letzten, rund 280 Meter langen Teilstück dem Drobschsee zu. In seinem oberen Teil liegt auch der Schwenowseegraben streckenweise trocken.
=== Klima ===
Großräumig befindet sich das Gebiet des Blabbergrabens im Übergangsbereich zwischen ozeanischem Klima in Westeuropa und kontinentalem Klima im Osten. Kleinräumig sind teils hohe Trockenheit mit vorsommerlicher Dürre prägend. Für den nordwestlich gelegenen Ort Marienhöhe wurde beispielsweise für 1996 eine Jahresniederschlagsmenge von 350 mm angegeben. Für die nahegelegene Wetterstation Beeskow erfasste der Deutsche Wetterdienst im Jahresmittel der Periode 1961 bis 1990 einen Niederschlag von durchschnittlich 519 mm. Dieses Ergebnis fällt in das untere Zehntel der in Deutschland erfassten Werte. Nur an 5 % der Messstationen des Wetterdienstes wurden niedrigere Werte registriert.Für das am Oberlauf des Blabbergrabens gelegene Lindenberg gibt der Deutsche Wetterdienst für den Zeitraum 1906/07 bis 2013 eine Jahresmitteltemperatur von 8,8 °C (in den dreißig Jahren 1984 bis 2013 9,4 °C), eine mittlere jährliche Niederschlagsmenge von 557,8 mm und folgende Klimawerte an:
Temperatur: höchste 38,5 °C am 11. Juli 1959 und 9. August 1992; tiefste −28 °C am 11. Februar 1929
Wärmster Monat: 24,3 °C Juli 2006; kältester Monat: −12,1 °C Februar 1929
Wärmstes Jahr: 10,5 °C 2007; kältestes Jahr: 6,4 °C 1940
Niederschlagsjahressumme: größte 791,8 mm 2010; kleinste 344,2 mm 1911
Sonnenreichster Monat: 365,4 Std. Juli 2006; sonnenärmster Monat: 6,6 Std. Dezember 1913.
== Hydrologie ==
=== Hydrogeologie ===
Westlich des Blabbergrabens liegt die Scharmützelsee-Glubigseen-Rinne, deren Schmelzwasser ursprünglich wie die der Blabbergrabenrinne nach Süden Richtung Glogau-Baruther Urstromtal/Spreewald flossen, deren Abflussrichtung sich allerdings nacheiszeitlich nach Norden zum Berliner Urstromtal umgekehrt hat. Die hydrologische und hydrogeologische Abgrenzung zwischen den beiden Gewässersystemen ist unklar und wird im Rahmen des Projekts LITFASS untersucht. Die Langzeituntersuchung LITFASS (Lindenberg Inhomogenous Terrain-Fluxes between Atmosphere and Surface – a long term Study) ist ein Pilotprojekt des Deutschen Wetterdienstes am Meteorologischen Observatorium Lindenberg und „dient der Flächenmittelung der Flüsse zwischen Atmosphäre und Unterlage“ im Rahmen des BALTEX-Programms (Baltic Sea Experiment, kurz BALTEX, ist ein Programm zur Erforschung des Wasserkreislaufs im Einzugsgebiet der Ostsee).
=== Grundwasserscheide und Einzugsgebiet ===
Das 20 × 20 km² umfassende LITFASS-Untersuchungsgebiet am Blabbergraben liegt zwar nicht im Einzugsgebiet der Ostsee, soll aber dennoch wesentliche Aspekte für das BALTEX-Feldexperiment liefern. Untersuchungen zwischen 1995 und 1998 zur hydrologischen und hydrogeologischen Charakterisierung des LITFASS-Gebiets deuten darauf hin, dass sich zwischen dem Blabbergraben und dem Grubenmühlenfließ (auch Melangfließ genannt, Teil der Glubigseen-Rinne zwischen Springsee und Melangsee) eine unterirdische Wasserscheide (Grundwasserscheide) befindet. Die Auswertung des Hydroisohypsenplans von 1991 ergab für den Blabbergraben mit 53 km² ein größeres oberirdisches als unterirdisches (39 km²) Einzugsgebiet. Zur genaueren Erhebung werden im Rahmen des Projekts weitere Mess-Stellen eingerichtet. Pegelmessungen zwischen dem Frühjahr 1995 und Sommer 1996 zeigten zudem, dass der Mittellauf des Blabbergrabens überwiegend trocken fiel; 1997 und 1998 lag der mittlere Abschnitt permanent trocken. Neben einigen Waldsäumen und Wäldern am Grabenrand ist das Einzugsgebiet des Blabbergrabens weitgehend von landwirtschaftlichen Nutzflächen geprägt.
=== Zuflüsse, Abfluss und wasserbauliche Referenzgrößen der Hochwasser ===
Neben dem Grundwasser, insbesondere aus den durchflossenen Seen, wird der Blabbergraben hauptsächlich von Regenwasser gespeist. Über etwaige Einspeisungen der beiden zuführenden, zumindest streckenweise trockenliegenden Gräben, dem namenlosen Graben aus Richtung Lindenberg und dem Schwenowseegraben, liegen keine Angaben vor. Der Abfluss des Blabbergrabens zur Krummen Spree betrug in den 2010er Jahren am Mündungspegel:
MNQ (Mittlerer Niedrigwasserabfluss): 6 l/s (Liter pro Sekunde)
MQ (Mittlerer Abfluss): 160 l/s.Der mittlere Abfluss liegt mit 160 l/s im Rahmen vergleichbarer Brandenburger Bäche. Der Abfluss des Stobberbachs beträgt beispielsweise 170 l/s. Größere Zuflüsse wie die Löcknitz führen der Spree hingegen die zehnfache Wassermenge (1700 l/s) zu. Die wasserbaulichen Referenzgrößen der Hochwasser werden als Abflüsse mit einer gewissen Wiederkehrwahrscheinlichkeit (in Jahren: Jährlichkeit) für den Blabbergraben wie folgt angegeben:
HQ2 (Kleines Hochwasser; statistisch 2-jährlich zu erwartendes Hochwasser): 780 l/s
HQ10 (Mittleres Hochwasser; statistisch 10-jährlich zu erwartendes Hochwasser): 1100 l/s
HQ50 (Großes Hochwasser; statistisch 50-jährlich zu erwartendes Hochwasser): 1460 l/s
HQ100 (Sehr großes Hochwasser; statistisch 100-jährlich zu erwartendes Hochwasser): 1630 l/s.
== Ökologie ==
=== Anthropogene Belastungen und ökologischer Zustand ===
Signifikante anthropogene Belastungsquellen für den Blabbergraben bestehen nach Angabe der Flussgebietsgemeinschaft Elbe (FGG Elbe) in landwirtschaftlichen Aktivitäten (durch Versickerung, Erosion, Ableitung, Drainagen, Änderung in der Bewirtschaftung oder Aufforstung), Auswaschungen von Materialien und Bauwerken in Bereichen ohne Kanalisation, Regenwasserentlastungen sowie weiteren – nicht näher spezifizierten – „diffusen Quellen“. Den ökologischen Zustand beziehungsweise das ökologische Potenzial des Gewässers bewertet die FGG als „unbefriedigend“ („4“ auf fünfstufiger Skala). Der chemische Zustand nach der Oberflächengewässerverordnung (OGewV) wurde nicht klassifiziert. Die Bestimmungssicherheit der ökologischen Bewertung gibt die FGG mit „mittel“ an, das heißt, die „Bewertungsergebnisse liegen noch nicht für alle mit WRRL-konformen und durch die LAWA anerkannten Verfahren zu den relevanten Qualitätskomponenten vor.“ Die Auswirkung der Belastung auf den Wasserkörper sieht die FGG in der Nährstoffanreicherung (Eutrophierung), der Schadstoffbelastung und in der Habitatveränderung aufgrund von hydromorphologischen Veränderungen.
Für den Blabbergraben – wie für weitere Gewässer in ihrem Zuständigkeitsbereich – nimmt die FGG im „Entwurf der Aktualisierung des Bewirtschaftungsplans […]“ aus dem Jahr 2014 die Ausnahmeregelung für Fristverlängerung nach Art. 4 Abs. 4 WRRL oder weniger strenge Umweltziele nach Art. 4 Abs. 5 WRRL in Anspruch. Den Antrag begründet die FGG für den Blabbergraben mit der „zwingenden technischen Abfolge von Maßnahmen“ und mit der „zeitlichen Wirkung schon eingeleiteter beziehungsweise geplanter Maßnahmen“. Die vollständige Umsetzung der WRRL-Zielvorgaben durch den Abbau der Belastungen des Bachs will die Gebietsgemeinschaft, die von zehn deutschen Ländern gegründet wurde, bei Fristverlängerung spätestens im Jahr 2027 abschließen.Dem 3,5 Kilometer langen Bachabschnitt zwischen dem Premsdorfer See und dem Drobschsee, der um 1980 zum Teil vertieft und begradigt wurde, messen Rolf Scharf und Dietrich Braasch in einer Untersuchung über die sensiblen Fließgewässer in Brandenburg auf einer Skala von eins (höchster Schutzwert) bis fünf die Schutzwertstufe „fünf plus“ zu. Die Schutzwertstufe fünf beinhaltet/definiert „Fließgewässer mit eingeschränktem Schutzwert; der Biotoptyp ist häufig bis sehr häufig […]; es sind nur wenige, nicht gefährdete rheotypische Arten vorhanden; das Fließgewässer ist in einem kritischen Belastungszustand und/oder die Strömungsgeschwindigkeit ist minimal“. Rheotypische Organismen wie beispielsweise Eintagsfliegen stellen einen Indikator eines guten ökologischen Zustandes dar (siehe Restwassermenge). Um einen naturnäheren Zustand zu erreichen, regen Scharf/Braasch an, die offenen, begradigten Strecken zwischen den beiden Seen durch einseitige Erlenbepflanzung zu beschatten.
=== Teil des Gewässerentwicklungskonzepts Krumme Spree ===
Einen wesentlichen Bestandteil, den ökologischen Zustand des Bachs zu verbessern, bildet das „Gewässerentwicklungskonzept (GEK) Krumme Spree“. Es umfasst auf einer Fläche von 26.924 Hektar ein 99,5 Kilometer langes Gewässernetz, das aus der Krummen Spree, drei Seen (Groß Leuthener See, Kossenblatter See, Neuendorfer See) sowie sieben der Spree zufließenden Gräben und Bächen besteht, darunter der Blabber- und der Schwenowseegraben. Das Konzept zur naturnahen Entwicklung von Fließgewässern sieht im Rahmen der WRRL vor, dass die Gewässer „wieder sauberer, naturnäher und artenreicher werden. […] Im Mittelpunkt der Planung stehen Maßnahmen zur Verbesserung der Gewässerstrukturen und der ökologischen Durchgängigkeit.“ Als entscheidendes Kriterium bei der Beurteilung der Gewässer betont das Konzept ihre ökologische Qualität. Das limnologische Konzept wird im Auftrag des Landesumweltamts Brandenburg von privaten Planungsbüros erarbeitet und vom Cottbusser Referat RS5 – Wasserbewirtschaftung, Hydrologie, Hochwasserschutz – begleitet und koordiniert. An der Erarbeitung ist zudem eine projektbegleitende Arbeitsgruppe (PAG) aus Ämtern, Gemeinden und Verbänden beteiligt. Zur Wiederherstellung der ökologischen Durchgängigkeit des Blabbergrabens sieht das Konzept unter anderem folgende Maßnahmen vor:
Angepasste, modifizierte Gewässerunterhaltung: Laufstrukturierung, Anhebung der Gewässersohle im Bereich des Lindenberger Viadukts
Rückbau eines Rohrdurchlasses südlich des Lindenberger Viadukts
Rückbau der Verrohrung im Bereich der Grundmühle
Rückbau des Staus mit Errichtung einer Sohlgleite am Nordeingang zum Ahrensdorfer See
Otterdurchgängige Gestaltung der Verbindung zwischen dem Ahrensdorfer und Premsdorfer See.Als Zielkriterien der ökologischen Durchgängigkeit hebt ein beteiligtes Ingenieurbüro hervor: Fischmigration, Wanderung von Wirbellosen, Strömungskontinuität und Substratdurchgängigkeit (longitudinale und laterale Konnektivität im Biotopverbund).
=== FFH-, Natur- und Landschaftsschutzgebiete ===
Der Quellbach des Blabbergrabens, der Ahrensdorfer See und der Grabenteil bis zur Bundesstraße 246 sind Teil des Landschaftsschutzgebiets „Scharmützelseegebiet“. Die Schutzgebiets-Verordnung vom 11. Juni 2002 sieht als Schutzzweck unter anderem vor, die Funktionsfähigkeit des Wasserhaushaltes, insbesondere der Quell-, Stand- und Fließgewässer und ihrer Uferbereiche zu erhalten, zu entwickeln oder wiederherzustellen. Von der Landesstraße 42 am Südufer des Lindenberger Sees bis zur Mündung gehört der Bach zum Naturpark Dahme-Heideseen und zum Landschaftsschutzgebiet „Dahme-Heideseen“. Ziel der Unterschutzstellung ist unter anderem die Erhaltung eines „typischen Ausschnittes der südlichen Jungmoränenlandschaft innerhalb des Ostbrandenburgischen Heide- und Seengebietes mit ihrem Mosaik aus Seen, Fließgewässern, Mooren, Talsandebenen, Dünen, Hügeln der End- und Grundmoränen sowie den weiträumigen Waldgebieten.“Von der Blabbermühle bis zur Mündung wird die Schutzkategorie des Grabens weiter angehoben. In diesem Abschnitt ist sein Lauf in das Naturschutzgebiet „Schwenower Forst“ und gleichnamige FFH-Gebiet einbezogen. Innerhalb des Naturschutzgebiets ist die Drobschseerinne als Naturentwicklungsgebiet (früher: Totalreservat) ausgewiesen und als Zone 1 gesondert gekennzeichnet. Das der direkten menschlichen Einflussnahme entzogene, rund 39 Hektar große Gebiet umfasst den Südteil des Drobschsees und die vermoorte Blabbergrabenrinne bis zur Mündung. Die Lebensräume und Lebensgemeinschaften in dem Reservat sollen langfristig ihrer natürlichen Entwicklung überlassen bleiben. Insbesondere soll die Erhaltung der natürlichen Gewässer- und Vegetationsdynamik mit ihren Verlandungsstadien sichergestellt werden.Im Mündungsbereich des Blabbergrabens geht das Naturschutzgebiet Schwenower Forst nahtlos in das Landschaftsschutzgebiet „Krumme Spree“ und das FFH-Gebiet „Spree“ über, das die Flussaue der Krummen Spree im kohärenten europäischen ökologischen Netz Natura 2000 mit ihren „typischen Lebensräumen“ als landesweit „bedeutsames Fließgewässer mit herausragender Verbindungs- und Ausbreitungsfunktion für Fischotter, Biber und zahlreiche Fischarten“ schützt.
== Flora und Fauna ==
In den 1920er Jahren konnte man im Blabbergraben, schrieb Günter de Bruyn, Fische noch mit der Hand fangen. Im damals wasserreichen Fließ seien Plötzen und Hechte geschwommen. In den 2010er Jahren beschränkt sich die Fischfauna auf die Seen und die Drobschseerinne.
=== Pflanzen und Pflanzengemeinschaften ===
In den Wäldern am Graben dominieren Kiefern. Die Mischwälder in den mittleren Seebereichen sind mit Erlen, Birken und Eichen, Robinien, Douglasien, Weißbuchen, Lärchen und Fichten durchsetzt. Die naturnahen Uferbereiche der Seen verfügen stellenweise über ausgedehnte Röhrichtbestände. Seerosenteppiche nehmen weite Teile einiger Seeflächen ein. Erlen und Haselnussbüsche flankieren den Bachlauf in der mittleren Talung. Vom wiesenumgebenen Räuberberg leuchten im Frühjahr zwei ausgedehnte Farbteppiche mit himmelblauen Kronblättern des Frühlings-Gedenkemeins. Am Boden der Talsandinsel wachsen ferner Wiesen-Primeln und Buschwindröschen. Aus der Familie der Süßgräser bildet die Wald-Zwenke dichte Horste.Der Fließgewässerverlandungskomplex der Drobschseerinne ist von Erlen-Moor-, Bruchwäldern und feuchten Hochstaudenfluren geprägt. Die kalkliebende Laubwaldflora ist mit Arten wie Kamm-Wachtelweizen, Niedrige Schwarzwurzel, Schuppenwurzen, Wiesen-Primel und Gelbes Windröschen vertreten. Zudem gedeihen der in der Roten Liste gefährdeter Arten Deutschlands als „stark gefährdet“ eingestufte Sand-Tragant, Schwalbenwurz, Blutroter Storchschnabel, der „gefährdete“ Ährige Blauweiderich, die „gefährdete“ Wohlriechende Skabiose, Spießblättriges Helmkraut und das „gefährdete“ Duftende Mariengras. Die an den Hängen des Drobschsees und Schwenowsees ehemals reichen Vorkommen des gemäß Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) in Deutschland „besonders geschützten“ Leberblümchens konnten im Jahr 2013 nicht mehr nachgewiesen werden. Im Drobschsee gibt es Bestände der sehr seltenen Wassernuss. Die Wasserpflanze des Jahres 2011 wird in der Roten Liste gefährdeter Arten deutschlandweit als „stark gefährdet“ und in Brandenburg als „vom Aussterben bedroht“ geführt. Zur Biozönose des Grabens selbst liegen mit Stand 2015 keine Angaben vor.
=== Tiere ===
==== Fische, Amphibien, Libellen und Vögel ====
Zu den Hauptfischarten der durchflossenen Seen zählen Hecht, Barsche, Schleie, Karpfen, Silberkarpfen, Marmorkarpfen, Graskarpfen, Brasse, Rotauge (Plötze), Rotfeder und Wels. Im Ahrensdorfer, Premsdofer und Drobschsee kommen zudem die laut Roter Liste Brandenburg im Bestand zurückgehenden Zander und Aale vor. Vier Seen sind komplett, der Drobschsee im nördlichen Teil als Angelgewässer ausgewiesen. Aufgrund der nicht mehr vorhandenen Fischdurchgängigkeit, die gemäß Gewässerentwicklungskonzept und Managementplanung Natura 2000 zumindest partiell wiederhergestellt werden soll, gelangen die Fische allenfalls noch in stark wasserführenden Perioden in Teile des Blabbergrabens. Im angrenzenden Teil der Spree sind Steinbeißer nachgewiesen, die in der Roten Liste Brandenburg als „stark gefährdet“ eingestuft sind. Möglicherweise erreicht der Fisch, der langsam fließende Bäche, Flüsse und stehende Gewässer mit allerdings klarem sauerstoffreichem Wasser bevorzugt, den südlichen Blabbergrabenteil der Drobschseerinne.
Unter den Amphibien hebt der Steckbrief für das FFH-Gebiet Schwenower Forst „repräsentative regionale Schwerpunktvorkommen von Kammmolch und Rotbauchunke“ hervor. Beide Arten sind nach der Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) „streng geschützt“, die Rotbauchunke in Brandenburg „vom Aussterben bedroht“. Die Libellenfauna ist im Bereich der Spreeaue/des südlichen Grabenbereichs unter anderem mit der Asiatischen Keiljungfer vertreten. Die Libellenart aus der Familie der Flussjungfern ist nach der europäischen FFH-Richtlinie und nach dem deutschen Bundesnaturschutzgesetz „streng geschützt“. Im FFH-Gebietskomplex brüten gewässergebundene Vogelarten wie Bekassine, Fisch- und Seeadler, Kranich und die nach der Roten Liste „vom Aussterben bedrohte“ Rohrdommel. Graureiher staksen auf der Suche nach Beute mit gesenktem Kopf und gekrümmtem Hals auch im mittleren Blabbergrabenbereich wie am Ahrensdorfer See durch das seichte Wasser.
==== Säugetiere ====
In den Wäldern am gesamten Bachlauf sind Rehe, Wildschweine und Rotfüchse heimisch. Hinzu kommen verschiedene Arten aus der Gruppe der Fledermäuse und aus den Familien der Spitzmäuse, Echten Mäuse und Wühlmäuse. Herausragendes Schutzziel der FFH- und NSG-Gebiete am südlichen Blabbergraben ist der Fischotter. Das in Brandenburg „vom Aussterben bedrohte“ Tier des Jahres 1999 ist im Drobschsee, im Schwenowsee und in der Drobschseerinne wieder ständig präsent. Die otterndurchgängige Gestaltung der Verbindung zwischen dem Premsdorfer und Ahrensdorfer See, die das Gewässerentwicklungskonzept Krumme Spree vorsieht, zeigt, dass der an das Wasserleben angepasste Marder bachaufwärts bis in den mittleren Blabbergrabenteil wandert.Ein Revier des „streng geschützten“ Bibers erstreckt sich entlang der Spree von Werder bis zum Wehr in Kossenblatt und umfasst neben dem Hauptlauf zwei Altarme der Spree und wahrscheinlich die südliche Blabbergraben- beziehungsweise Drobschseerinne. Laut Managementplanung Natura 2000 im Land Brandenburg wurde kein Biberbau gefunden, wird aber „aufgrund der Dichte der Fraßspuren […] an der Einmündung des Schwenowsee-Abflusses vermutet.“ Bei wörtlicher Auslegung der unklaren Angabe „Einmündung des Schwenowsee-Abflusses“ würde es sich um die Mündung des Schwenowseegrabens in den Drobschsee handeln, da der Schwenowsee nur einen Abfluss hat. Wahrscheinlich ist die Einmündung des Schwenowsee-Abflusses, also des Blabbergrabens, in den Spreealtarm gemeint. Auf jeden Fall liegt der Biberbau im oder dicht am unzugänglichen Naturentwicklungsgebiet Drobschseerinne. Bei dem Nagetier handelt es sich um den autochthonen Elbebiber, der in der Region zwischen 1984 und 1989 aus der Elbepopulation wiederangesiedelt wurde. Da in Brandenburg mit etwa 1700 Elbebibern (Stand 2002) fast ein Drittel des derzeitigen Gesamtbestandes des Elbebibers lebt, kommt den Biberpopulationen im Gebietskomplex Krumme Spree laut Managementplanung nationale Bedeutung zu.
== Geschichte ==
=== Historische Beschreibungen ===
==== Ersterwähnung und Namengebung ====
Der Name Blabber ist urkundlich erstmals 1657 im Tauf-, Sterbe- und Trauregister der Kirchengemeinde Wulfersdorf belegt. Darin wird anlässlich einer Taufe am 1. Februar 1657 ein Pate aus „der Schäfferey bey der Blabbermühle“ erwähnt. Auch in den Folgejahren erscheinen in diesem Taufregister regelmäßig „Einwohner von Blabber als Täuflinge, Eltern oder Paten“, beispielsweise „Georg der Blabbermüller“ oder „die alte Schäferin aus der Blabber“. Der Bach selbst wurde als Blabber-Graben erstmals im Jahr 1745 schriftlich in der preußischen General-Designation und Beschreibung aller in der Chur Mark und incorporierten Landen belegenen und oder dieselbe berührenden Gewäßer, als Flüße, Fließe, Lücher, Bachen, Canale, Graben, Seen, Pfühle, Teiche usw. […] erwähnt. Über etwaige Vorgängernamen oder die Bezeichnung in der slawischen Zeit ist nichts bekannt.
Sicher ist, dass der Name von der Mühle auf den Graben übertragen wurde. Der Geograph Anton Friedrich Büsching führte 1775 in der Vollständigen Topographie der Mark Brandenburg die Schreibweise Plapper-Schäferey an, die auf die Etymologie des Namens Blabber hinweist. Der Name enthält das brandenburgische Verb „blabbern“ für „plappern, viel und unüberlegt reden“, das sich lautmalend auf das von der Mühle verursachte Geräusch bezieht; vergleiche die Redewendung „Sie hat ’n Maul wie ’ne Plappermühle“, das heißt, „sie spricht in einem fort.“
==== Borgstede 1788 und Berghaus 1855 ====
In seiner Statistisch-topographischen Beschreibung der Kurmark Brandenburg von 1788 beschrieb August Heinrich von Borgstede den Bach wie folgt:
Mit „die Trobsch“ meinte Borgstede den Drobschsee. Seine Längenangabe von lediglich ¼ Meile (¼ Preußische Meile = rund 1,9 Kilometer) bezog sich auf den Bachabschnitt bei Görsdorf und zählte die Seen, die zu seiner Zeit noch deutlich ausgedehnter waren, nicht mit. 1791 erwähnte der Geograph Anton Friedrich Büsching den Bach unter Cossenblatt mit dem Eintrag: „Er heißet auch der See Trobsch, und bekommt sein Wasser aus dem Blabbergraben […]. Seine Länge beträgt etwa ¼ Meile, er ist aber schmal.“ Büsching bezog die Viertelmeile auf die Länge des Drobschsees, was der Seelänge zu dieser Zeit in etwa entsprach. Die Preußische Uraufnahme von 1846 verzeichnete das Fließ als Blabber-Gr. Der Geodät und Kartograph Heinrich Berghaus widmete dem Blabbergraben 1855 im dreibändigen Landbuch der Mark Brandenburg und des Markgraftums Niederlausitz einen eigenen Abschnitt, in dem er schrieb:
=== Siedlungsgeschichte ===
Archäologische Funde und die Bodendenkmale der Gemeinde Tauche und Bodendenkmale der Gemeinde Rietz-Neuendorf weisen auf eine frühe, bereits urgeschichtliche Besiedlung der Region hin. Aus der Steinzeit (Paläolithikum, Mesolithikum und Neolithikum) und aus der Bronzezeit sind Siedlungen beziehungsweise Rast- und Werkplätze nachgewiesen. Im nahegelegenen Briescht hinterließen Rentierjäger aus der letzten Kaltphase in der Jüngeren Dryaszeit (um 10.000 v. Chr.) ein Silexinventar (vgl. Silex und Inventar), das der Ahrensburger Kultur zugerechnet wird. Die spärliche germanische Besiedlung des ostbrandenburgischen Seen- und Heidegebiets erfolgte erst in der älteren römischen Kaiserzeit gegen Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. Sie wird mit den Burgunden und der Przeworsk-Kultur in Verbindung gebracht. Zwei der wenigen spätkaiserzeitlich-völkerwanderungszeitlichen Siedlungen wurden bei Briescht und Wolzig entdeckt. Ab dem 4. Jahrhundert wanderten die germanischen Siedler aus dem Gebiet ab, ab dem 7. Jahrhundert rückten slawische Siedler nach.
Im 12. Jahrhundert wurde das Gebiet im Zuge der Deutschen Ostsiedlung aus dem Wettinischen heraus besiedelt und war Bestandteil der späteren Herrschaft Beeskow in der Markgrafschaft Lausitz. Storkow, gelegen an der Nordgrenze der Lausitz und Zentrum der benachbarten Herrschaft Storkow, wurde im Jahr 1209 ersterwähnt, die Burg Storkow wahrscheinlich um 1150 angelegt. Für die wettinischen Landesherren hatten Storkow und die Region eine große strategische Bedeutung bei der Eingliederung des Gebietes in das Heilige Römische Reich und für die Sicherung der Grenzen. Unter den Dörfern im Einzugsbereich des Blabbergrabens ist das 1208 erstmals verzeichnete Kossenblatt das älteste. Herzberg wurde 1432, Glienicke 1421, Görsdorf 1443, das zu Görsdorf gehörige Premsdorf 1460, Limsdorf 1393, Lindenberg 1284, Schwenow 1490 und Werder 1376 ersterwähnt.Nördlich des Drobschsees erhebt sich in der Bach-Talung das 58,1 Meter hohe Bodendenkmal Räuberberg, eine aus einem natürlichen Hügel herausgearbeitete Burg- oder Befestigungsanlage aus den ersten beiden Jahrhunderten der Deutschen Ostsiedlung mit den Resten eines Burgwalls. Frühere Annahmen, es handele sich um eine slawische Anlage, haben sich nicht bestätigt. Soweit die Adelsburg tatsächlich auf das 12. Jahrhundert zurückgeht, wäre sie eine der ältesten deutschen Befestigungsanlagen aus der Periode der Ostsiedlung in der Region. Zudem ist sie neben den Wassermühlen das einzige bekannte Zeugnis einer Besiedlung der Uferzonen des Blabbergrabens.
=== Wassermühlen ===
Neben den nachstehend angeführten drei Wassermühlen trieb der Blabbergraben möglicherweise zumindest eine weitere Mühle an. Das Historische Ortslexikon (HOL) verzeichnet im Zuge der Ersterwähnung Premsdorfs (Permßdorff, Prenißdorf) im Jahr 1460 „Dorf und Mühle.“ Diese Mühle wird in keinen weiteren Dokumenten erwähnt. Das kleine Breitgassendorf Premsdorf wird als sonstiger Wohnplatz der Gemeinde Tauche geführt und liegt auf der Gemarkung Görsdorfs am Südende des Premsdorfer Sees. Soweit es sich bei der 1460 eingetragenen Mühle um eine Wassermühle handelte, könnte diese also am südlichen Ausgang des Blabbergrabens aus dem See gelegen haben.
==== Grundmühle ====
Das Etablissement der ehemaligen Grundmühle liegt am Grabenausgang südlich des Lindenberger Sees an der Landesstraße 42 und gehört wie der See zur Gemarkung Lindenbergs. Das Anwesen ist nach wie vor bewohnt und auf Landkarten als Grundmühle benannt. Das Bestimmungswort Grund- im Namen bezieht sich auf den Grund als Boden-/Landschaftsgrund und meint eine „in der Niederung gelegene Mühle“.Bereits 1553 wurde eine namenlose Mühle am Lindenberger See verzeichnet, die 1603 als eingegangen und 1629 als abgerissen vermerkt ist. 1682 wurde die Mühle neu erbaut. 1745 ist sie mit einem Gang dokumentiert. 1801 erfolgte eine erste Bezeichnung als Lindenbergsche Mühle, 1820 dann als Grundmühle, unter der sie 1846 auch im Urmesstischblatt der Preußischen Kartenaufnahme aufgenommen wurde. 1818 hatte die Mühle sieben Einwohner und verfügte über zwei Feuerstellen, 1858 über ein Wohn- und ein Wirtschaftsgebäude bei acht Einwohnern. Für 1925 werden sieben Bewohner angegeben. 1927 wurde die Mühle abgebaut. 1931 und 1957 wurden die verbliebenen Bauten unter dem Namen Grundmühle als Wohnplatz von Lindenberg geführt.
==== Blabbermühle ====
Das Bodendenkmal Blabbermühle befindet sich zwischen dem Premsdorfer See und Drobschsee auf einer Höhe von rund 54 Metern am Westrand der Gemarkung Görsdorfs; der Görsdorfer Dorfkern liegt rund 1,5 Kilometer östlich. Die benachbarte und bewohnte, rund 200 Meter stromabwärts liegende ehemalige Blabberschäferei bildet den Görsdorfer Wohnplatz Blabber. Die 1518 erstmals erwähnte Wassermühle ist 1858 als Getreide-, Schneide- und Ölmühle mit zwei Wohn- und drei Wirtschaftsgebäuden und 20 Bewohnern dokumentiert. Der Mühlenbetrieb wurde in den 1920er Jahren eingestellt. Nachdem die letzten Besitzer das Anwesen noch bis etwa 1952 landwirtschaftlich nutzten und dann verließen, sind die Gebäude in den 2000er Jahren restlos abgetragen.
==== Drobschmühle ====
Die Drobschmühle lag wahrscheinlich nördlich des namengebenden Drobschsees, an dem noch der bewohnte Görsdorfer Wohnplatz Drobsch besteht. Die einzige schriftliche Erwähnung der Mühle (als Drobschmole) stammt aus einem Lehnsbrief aus dem Jahr 1376. Danach ist sie nach Angabe Günter de Bruyns „im Dunkel der Geschichte versunken“.Den Lehnsbrief hatten die von Strele, Herren zu Beeskow und Storkow, für die Ritter von Queiß ausgestellt. Danach wurden die Brüder Queiß unter anderem mit den Dörfern Schauen, Dahmsdorf, Wendisch-Rietz und Werder nebst Drobschmühle sowie mit Hebungen im Dorf Krausnick belehnt. Diese Angaben des Brandenburgischen Namenbuchs und Historischen Ortslexikons (HOL) beruhen auf der Chronik von Rudolf Hermsdorf aus dem Jahr 1934 Zwischen Dolgen und Scharmützel, in der Hermsdorf die Urkunde vom 19. August 1376 komplett wiedergibt. Darin heißt es:
Nach Angabe des Historischen Ortslexikons führt der Historiker Rudolf Lehmann – gleichfalls bezogen auf diese, oder zumindest eine ähnliche Urkunde aus dem Jahr 1376 – die Drobschmühle als „Mühle n[ördlich] Werder“ an.
== Der Blabbergraben in der Literatur – de Bruyns Abseits ==
Der Schriftsteller Günter de Bruyn, der seit 1969 in der ehemaligen Blabberschäferei wohnte, setzte dem Blabbergraben und seiner Umgebung in dem Werk Abseits. Liebeserklärung an eine Landschaft ein literarisch-dokumentarisches Denkmal. Das Buch erschien 2006 im Fischer Taschenbuch Verlag. Sehr ähnlich Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg verbindet de Bruyn akribisch recherchierte Wiedergaben aus historischen Dokumenten wie Kirchenbüchern oder Tagebüchern mit literarisch ausdrucksstarken Beschreibungen. Die bildhafte Sprache zeigt sich beispielsweise, wenn er das „Erwachen“ des Blabbergrabens nach einem trockenen Sommer, seine Erstarrung im Winter und sein Aufleben im Frühjahr ausmalt:
Der Literaturkritiker Andreas Isenschmid charakterisiert den Stil als „wohltemperierte Redlichkeit“, die den Autor „so überzeugend“ mache, wenn er der vermeintlichen Eintönigkeit unzählige Nuancen entlocke. Laut Christian Mariotte hingegen, der seine Rezension ironisch mit ‚Abseits‘ der Literatur teilüberschreibt, sind die „unendlich lange[n] Beschreibungen zum Selbstzweck geworden.“ Manche historische Angaben seien „peinlich genau“ und er fragt: „Ist es wirklich von Belang, dass der Neuendorfer See früher auch ‚als Prahm- oder Brahm-See bezeichnet wurde‘?“ Habe man die Tatsache akzeptiert, dass die Intensität des Beschriebenen großen Schwankungen unterlegen sei und dass auch der Mangel an Menschen, Reizen und Geräuschen ein Genuss werden könne, stelle sich doch die Frage, ob sich dieses ruhige und schöne Buch innerhalb oder abseits der Literatur ansiedele. Zu einfach mache es sich der Autor, wenn er siebzehn Seiten lang aus einer Kirchenchronik zitiere. Wer sich auf die Lektüre einlasse, werde zwar reichlich belohnt, zum Beispiel wenn de Bruyn auf eine einfache, unprätentiöse Art handschriftliche Zeugnisse auswerte. Im Grunde aber sei die „Lektüre dieses Buches wie ein Nachmittag in einem staubigen Heimatkundemuseum. […] Überhaupt freut man sich, wenn man aus dem Heimatkundemuseum an die frische Luft tritt und sich als Belohnung für die Geduld ein frisches Getränk im benachbarten Wirtshaus gönnt.“
== Literatur ==
Günter de Bruyn: Abseits. Liebeserklärung an eine Landschaft. Mit Fotos von Rüdiger Südhoff. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-596-16663-3.
K. Gutschmidt, H. Schmidt, T. Witkowski (Hrsg.): Die Gewässernamen Brandenburgs (= Brandenburgisches Namenbuch. Teil 10; Berliner Beiträge zur Namenforschung. Band 11). Begründet von Gerhard Schlimpert, bearbeitet von Reinhard E. Fischer. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1996, ISBN 3-7400-1001-0.
Managementplanung Natura 2000 im Land Brandenburg. (Managementplanung Natura 2000 für die FFH-Gebiete 37, 58, 221, 265, 337, 651). Bearbeitung: Ingenieur- und Planungsbüro LANGE GbR. Hrsg.: Ministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg (MUGV) und Stiftung Naturschutzfonds Brandenburg. Potsdam 2014 (PDF).
Rolf Scharf, Dietrich Braasch, Die sensiblen Fließgewässer des Landes Brandenburg, 5. Beitrag zu ihrer Erfassung und Bewertung – Landkreise Dahme-Spreewald und Oder-Spree, kreisfreie Stadt Frankfurt (Oder). In: Landesumweltamt Brandenburg (Hrsg.): Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg – Beiträge zu Ökologie, Natur- und Gewässerschutz. Jg. 9, Heft 2, 2000 S. 62–72.
Joachim Schölzel (Bearb.): Historisches Ortslexikon für Brandenburg. (HOL) Teil IX: Beeskow – Storkow (= Veröffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam. Band 25). Verlag Klaus-D. Becker, Potsdam 2011, ISBN 978-3-941919-86-0 (Nachdruck der Ausgabe: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1989, ISBN 3-7400-0104-6).
Sophie Wauer: Brandenburgisches Namenbuch. Teil 12: Die Ortsnamen des Kreises Beeskow-Storkow (= Berliner Beiträge zur Namenforschung. Band 13). Nach Vorarbeiten von Klaus Müller. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-515-08664-1.
== Weblinks ==
Blabber Graben (Fließgewässer) Wasserkörpersteckbrief Oberflächenwasserkörper des 2. Bewirtschaftungsplans nach Wasserrahmenrichtlinie (Kennung DE_RW_DEBB5827138_1253)
== Anmerkungen ==
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blabbergraben
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Carlton-Club-Treffen (1922)
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= Carlton-Club-Treffen (1922) =
Das Carlton-Club-Treffen von 1922 war ein Treffen der Parlamentsabgeordneten der britischen Conservative Party (Konservative Partei) am 19. Oktober 1922. Es fand im namensgebenden Carlton Club statt. Anlass war eine offene Diskussion um die Frage, ob die Partei die Koalitionsregierung mit dem von David Lloyd George geführten Teil der Liberal Party (Liberale Partei) über die nächste Unterhauswahl hinaus fortsetzen oder beenden solle. Während die Parteiführung um Austen Chamberlain für eine Fortführung der Koalition eintrat, machte sich eine Hinterbänkler-Gruppe um Andrew Bonar Law und Stanley Baldwin dafür stark, die anstehende Unterhauswahl als unabhängige Kraft zu führen. Die Hinterbänkler konnten sich durchsetzen und erzwangen so ein Ende der Koalition. Lloyd George trat daraufhin als Premierminister zurück, die Konservativen dagegen bildeten eine Regierung unter ihrem neuen Vorsitzenden Bonar Law.
Das Treffen hatte weitreichende Auswirkungen. Lloyd George, der die letzten Jahre die politische Bühne Großbritanniens dominiert hatte, hielt nie wieder ein politisches Amt. Eine mögliche Spaltung der Konservativen wurde dagegen ebenso verhindert wie die von Lloyd George, Lord Birkenhead und Winston Churchill betriebene Fusion aus moderaten Konservativen und Liberalen zu einer neuen Zentrumspartei. In der britischen Parteienlandschaft, in der sich aufgrund des Mehrheitswahlrechts traditionell zwei Parteien als Antipoden gegenüberstehen, bildete sich für die nächsten Jahre ein unbeständiges Dreiparteiensystem heraus, bestehend aus Konservativen, Liberalen und der Labour Party (Arbeiterpartei), wobei die Liberalen in dieser Phase als Gegenspieler der Konservativen schrittweise von der aufstrebenden Labour-Partei abgelöst wurden.
Das Carlton-Club-Treffen ist auch in der heutigen politischen Berichterstattung britischer Medien präsent und wird regelmäßig zitiert, um die Macht der konservativen Hinterbänkler herauszustreichen.
== Hintergrund ==
Seit ihrer klaren Niederlage bei der Unterhauswahl von 1906 hatte sich die Konservative Partei in jahrelanger Opposition befunden. Die sozialen Reformgesetze der regierenden Liberalen, die maßgeblich von Premierminister H. H. Asquith und seinem Schatzkanzler David Lloyd George vorangetrieben wurden, trafen auf den heftigen Widerstand der Konservativen. Vor allem das sogenannte „Volksbudget“ (ein Gesetzespaket mit umfangreichen Steuern auf Landeigentümer, um soziale Maßnahmen zu finanzieren), der nachfolgende Parliament Act 1911, der das Veto-Recht des konservativ dominierten Oberhauses (House of Lords) radikal beschnitt und die andauernde Home-Rule-Frage über die irische Selbstverwaltung sorgten für erbitterte Auseinandersetzungen. Die Konservativen vertraten die Interessen der Landbesitzer und definierten sich traditionell als entschiedene Gegner der irischen Selbstverwaltung – so nannten sie sich auch, um dies auszudrücken, ab 1912 offiziell die „Conservative and Unionist Party“. Die erbitterten Konflikte um das Veto-Recht des Oberhauses hatten schließlich auch zu innerparteilichen Verwerfungen der Konservativen geführt; eine Gruppe um Lord Halsbury forderte (erfolglos) eine totale Opposition um jeden Preis. Dieser rechte Flügel wurde wegen seiner kompromisslosen Haltung als „Ditchers“ oder auch als „Die-hards“ (abgeleitet aus der englischen Redewendung die in the last ditch, deutsch etwa Kampf bis zum bitteren Ende) bezeichnet. Die Halsbury-Gruppe konnte die Verabschiedung des Parliament Act nicht verhindern, agitierte jedoch erfolgreich gegen den aus ihrer Sicht allzu zögerlichen Parteiführer Arthur Balfour, der im November 1911 zurücktrat. Sein Nachfolger wurde Andrew Bonar Law.
Der Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 hatte zunächst zu einem Stillhalteabkommen in der Parteipolitik geführt, um nationale Einigkeit zu demonstrieren. Die Konservativen selbst bezeichneten dies als „patriotische Opposition“. Angesichts sich mehrender militärischer Niederlagen und wiederholter Rückschläge war dieses Abkommen jedoch zunehmend an seine Grenzen gestoßen. Vor allem die von Winston Churchill unnachgiebig betriebene „Dardanellenstrategie“ mit dem Ziel, das Osmanische Reich aus dem Krieg zu drängen und damit einen sicheren Seeweg zum Verbündeten Russland zu schaffen, war umstritten; die daraus resultierende fatale und verlustreiche Schlacht von Gallipoli hatte zu heftigen Auseinandersetzungen und schließlich zum Rücktritt des Ersten Seelords John Arbuthnot Fisher geführt. Dies und die sogenannte Munitionskrise von 1915 (ein Mangel an Artilleriegeschossen bei den britischen Truppen an der Westfront) sorgte auch für heftige Kritik der britischen Presse. Eine weitere Alleinregierung der Liberalen und ein Stillhalten der konservativen Opposition war unter diesen Umständen zunehmend unmöglich geworden. Deshalb wurde 1915 eine Koalition zwischen den von Premierminister Asquith geführten Liberalen und den Konservativen um ihren Parteiführer Andrew Bonar Law gebildet. Dazu wurde diese Regierung von Teilen der Labour-Partei unterstützt – obwohl Teile der Labour-Partei der Regierung fernblieben, da sie nicht ihre pazifistische Überzeugung verraten wollten.
Während die führenden Mitglieder der Konservativen bei der Regierungsbildung bereitwillig eigene Ambitionen zurückstellten und sich im Interesse der Sache in mehreren Fällen auch mit niederen Posten zufrieden gaben, zeigten viele Mitglieder in der Basis der Partei großen Ehrgeiz, woraus ein scharfer Wettbewerb um die wenigen zur Verfügung stehenden Posten resultierte. So wurde Bonar Law, der sich trotz seiner Rolle als konservativer Parteiführer mit dem Posten des Kolonialministers zufrieden gegeben hatte, mit Briefen geradezu bombardiert, in denen ehrgeizige Anhänger um ein subalternes Amt baten.Bis Ende 1916 war auch Premierminister Asquith ins Zentrum der Kritik gerückt; Asquith, der die Presse verachtete, lehnte es ab, sich mit ihr abzugeben und für seine Sache zu werben. Der mächtige Zeitungsmagnat Lord Northcliffe, Eigentümer von The Times und Daily Mail, arbeitete dagegen auf seine Absetzung hin. In der Presse wurde Asquith einerseits wegen seiner exaltierten Frau Margot (die einen Teil ihrer Schulzeit in Berlin verbracht hatte und auch im Krieg noch offen germanophil war), andererseits wegen seiner bekannt abwartenden Strategie, die er vormals selbst mit den Worten „Wait and see“ (Abwarten und schauen) beschrieben hatte, harsch kritisiert. Asquiths politische Gegner, zu denen Edward Carson und Alfred Milner zählten, warfen ihm Entscheidungsschwäche und Indifferenz vor; dies, andauernde langwierige Diskussionen und zahlreiche interne Intrigen machten einen schnellen Entscheidungsprozess im Kabinett unmöglich. Dagegen erwarb sich Lloyd George als Munitions- und nachfolgend als Kriegsminister eine Reputation für energisches und tatkräftiges Handeln. Mitte November 1916 fanden sich Carson, Lloyd George und Bonar Law zusammen und forcierten in der Folge eine Petition: Ein kleineres Kriegskabinett, bestehend aus vier Personen mit Lloyd George an der Spitze, sollte gebildet werden, Asquith diesem dagegen nicht angehören.Asquith weigerte sich, dies zu akzeptieren, woraufhin Lloyd George seinen Rücktritt einreichte. Da Bonar Law jedoch Lloyd George unterstützte und den Rücktritt aller konservativen Minister androhte, sah Asquith keine andere gangbare Option mehr und trat von seinem Amt zurück. Diese Entscheidung führte zur Spaltung der Liberalen Partei. Während der als Premierminister verdrängte Asquith mit seinen Anhängern in die Opposition ging, verblieb ein (kleinerer) Teil der Liberalen unter dem neuen Premierminister Lloyd George in der Koalition.
== Die „Coupon-Wahl“ 1918 ==
Diese Koalition gewann die Britische Unterhauswahl 1918, bei der erstmals allen Männern über 21 Jahren und Frauen über 30 Jahren das Wahlrecht gewährt worden war. Diese Wahl wird auch als „Coupon-Wahl“ bezeichnet – da die Regierung zuvor Schreiben (coupons) an bestimmte Politiker der Liberalen und Konservativen gesandt hatte, die sie als Anhänger der bestehenden Koalition auswies. Dies verschärfte die bereits bestehende interne Spaltung der Liberalen Partei und versetzte ihr einen schweren Schlag. Die Koalitionsregierung gewann bei der Wahl eine deutliche Mehrheit mit den Konservativen als Hauptgewinner, die Liberalen unter Asquith schrumpften dagegen zu einer Rumpfpartei. Auch die Koalitionsliberalen befanden sich nun deutlich in der Minderheit; die Koalition bestand zu drei Vierteln aus Konservativen und einem Viertel aus Liberalen auf der Seite Lloyd Georges, während Asquiths Liberale von der aufstrebenden Labour-Partei als die führende Oppositionspartei abgelöst worden waren. Diese hatte nach Beendigung des Krieges ebenfalls die Koalition verlassen. In Irland gewann die radikale Partei Sinn Féin, die für die Loslösung Irlands aus dem Vereinigten Königreich eintrat und keine Abgeordneten nach Westminster entsandte, auf Kosten der moderaten Irish Parliamentary Party erstmals 73 Sitze. Die Irish Parliamentary Party, die seit vielen Jahren im Unterhaus mit den Liberalen alliiert war, wurde bei der Wahl nahezu ausgelöscht.
Die schwierige Lage der Liberalen hatte sich auch durch die fällige Neuaufteilung der Wahlkreise verschärft, die der neuen Bevölkerungsverteilung Rechnung trug. Zahlreiche Sitze, in denen die Liberalen traditionell gewonnen hatten, waren aufgelöst und dafür mehrere neue Sitze mit einer konservativen Mehrheit kreiert worden. Im Ganzen stieg die Zahl der Abgeordneten im Unterhaus um 37 an; die neue Aufteilung gab den Konservativen dabei in den Landesteilen England, Schottland und Wales insgesamt 28 neue Sitze im Unterhaus verglichen mit der letzten Unterhauswahl im Dezember 1910, während Liberale und Labour gemeinsam auf nur insgesamt 8 neue Sitze kamen.Das neue Parlament unterschied sich jedoch nicht nur in seiner relativen Parteienstärke erheblich von seinem Vorgänger, auch die personelle Zusammensetzung der Parteien – insbesondere auch der Konservativen – hatte sich substantiell verändert. Stark vertreten in der konservativen Unterhausfraktion waren nun Geschäftsleute, die ihren Wohlstand oftmals auch dem Krieg verdankten. Der konservative Politiker J. C. C. Davidson, Privatsekretär Bonar Laws und 1920 bei einer Nachwahl ins Unterhaus gewählt, schilderte Lord Stamfordham, dem Sekretär von König Georg V., dass der altmodische Gentleman vom Land und die akademischen Berufe kaum noch repräsentiert seien, dafür jedoch ein hoher Anteil an profitgierigen, nüchternen Männern nun die Reihen der konservativen Partei aufgefüllt hätte. Auch Lloyd George äußerte bei einer Gelegenheit, er habe das Gefühl, nicht mehr zum Unterhaus zu sprechen, sondern zu einer Handelskammer auf der einen und zum Trades Union Congress auf der anderen Seite. Die neue Gruppe von konservativen Parlamentsabgeordneten zeigte sich wenig kompromissbereit und tendierte dazu, wirtschaftspolitische Fragen rein aus der Arbeitgeberperspektive zu sehen. Im gesellschaftlichen Klima der Nachkriegszeit, in dem Profitmacherei angesichts der großen Opfer des Krieges stigmatisiert war und die Spannungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen zunahmen, führte dies zu einem Ansehensverlust der Koalition in den unteren Schichten der Bevölkerung.
== Krisen der Koalitionsregierung ==
Die anfängliche Dankbarkeit gegenüber David Lloyd George als „dem Mann, der den Krieg gewonnen hatte“, war schnell zunehmender Ernüchterung gewichen. Der kurze wirtschaftliche Nachkriegsboom in Großbritannien war Ende 1920 deutlich abgekühlt. Bis Mitte 1921 wuchs die Zahl der Arbeitslosen von anfänglich 300.000 auf über zwei Millionen Menschen an. Es kam zu einer Serie von Streiks von Eisenbahnern und Bergleuten, die (vor allem nach der Russischen Revolution) die Angst vor dem Bolschewismus schürten. Dies und damit verbunden die Angst vor einer stärker werdenden, möglicherweise in den radikalen Sozialismus abdriftenden Labour-Partei war einer der Hauptgründe für das zunehmend widerwillige Festhalten an der Koalitionsregierung. Die Koalition war in der Bevölkerung zunehmend unbeliebt, mehrere Nachwahlen gingen für sie verloren. Hauptgewinner war die Labour-Partei, deren Wählerschaft sich hauptsächlich aus der Arbeiterklasse speiste und die sich sukzessive als führende Oppositionspartei konsolidieren konnte. Die Liberalen dagegen blieben weitgehend ihren Ideen (wie Freihandel und Home Rule) aus dem Viktorianischen Zeitalter verpflichtet und verloren zunehmend an Boden.
Viele Fehler wurden Lloyd George persönlich angelastet, gegen den die konservativen Hinterbänkler bereits seit vielen Jahren ein starkes Misstrauen hegten. Auch in den konservativen lokalen Parteiorganisationen wuchs die Unzufriedenheit. Diese Antipathie resultierte zum Teil aus Lloyd Georges führender Rolle während der Auseinandersetzungen um den Parliament Act 1911, zum Teil aber auch daraus, dass er im Ruf stand, ein selbstsüchtiger Politiker zu sein, der immer seine eigenen Interessen an vorderste Position stellte. Vor allem Lloyd Georges außenpolitische Initiativen erwiesen sich zumeist als Fehlschläge und waren Gegenstand zahlreicher interner Auseinandersetzungen. Das Scheitern der Konferenz von Genua und der irischen Verhandlungen fügten Lloyd Georges Prestige schweren Schaden zu. In Genua zeigte sich Lloyd George aufgrund weitgehender Differenzen zwischen der deutschen und französischen Delegation nicht in der Lage, einen diplomatischen Erfolg zu erzielen und konnte auch die parallel in Rapallo erzielte Verständigung zwischen Deutschland und Russland nicht verhindern. Während er selbst den Anglo-Irischen Vertrag als persönlichen Erfolg ansah, sorgte der Beginn einer terroristischen Kampagne Sinn Féins in der nordirischen Provinz Ulster für Unmut bei den Tories. Der in weiten Teilen der Konservativen Partei populäre Andrew Bonar Law trat aus gesundheitlichen Gründen im März 1921 vom Parteivorsitz zurück und schied aus der Regierung aus; ihm folgte Austen Chamberlain nach, der bei weitem keine so enge Kontrolle über die Hinterbänkler ausübte wie sein Vorgänger. Lloyd George verließ sich im Umgang mit der konservativen Partei auf einen engen Zirkel Vertrauter und gab sich keine Mühe, bei den Hinterbänklern für sich selbst und seine politischen Anliegen zu werben.
Im Juni 1922 erschütterte ein Korruptionsskandal das Oberhaus; mehrfach waren in den letzten Jahren Männer mit zweifelhafter Reputation geadelt worden, deren Ernennung als nicht statthaft galt, die jedoch große Summen an Vertrauensleute Lloyd Georges gespendet hatten. Aus allen Parteien wurden Forderungen nach einer Untersuchung laut. Lloyd George musste, obwohl er seine Praktiken verteidigte, im Unterhaus der Einsetzung einer royalen Kommission zustimmen, die sich eingehend mit der Zuerkennung von Adelstiteln beschäftigen sollte. Auch wenn Lloyd George damit die Angelegenheit zunächst entschärft hatte, trug sie zusätzlich zur allgemeinen Verärgerung vieler Konservativer bei und markierte einen weiteren Schritt im Niedergang der Koalition. Im Juli 1922 brach sich die allgemeine Unzufriedenheit in der Konservativen Partei Bahn. Eine Gruppe von Junior-Ministern um L.S. Amery konfrontierte die Minister der Koalition mit ihrer Forderung, die Koalition zu beenden, wurde jedoch von Lord Birkenhead in hochmütiger Weise abgekanzelt. Zudem spielte Lord Salisbury mit einigen Anhängern halböffentlich mit dem Gedanken, eine unabhängige Partei rechts von den Konservativen aufzubauen. Salisbury hatte bereits in den Auseinandersetzungen um den Parliament Act von 1911 eine führende Rolle gespielt und bildete mit etwa 50 Anhängern die auch als „Die-hards“ bezeichnete reaktionäre Gruppe, die nach wie vor viele innenpolitische Reformen ablehnte, welche die Liberalen um Asquith und Lloyd George in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf den Weg gebracht hatten. Vor allem auch in der irischen Frage opponierten sie gegen Lloyd George. Anfang August vertagte sich das Parlament in die übliche Sommerpause.In der Folge der kleinasiatischen Katastrophe, der Niederlage Griechenlands im Krieg mit der Türkei, kam es im September 1922 zur Chanakkrise, die erneut Lloyd Georges außenpolitischen Dilettantismus vor Augen führte. Lloyd George, Kolonialminister Churchill und Lord Birkenhead veröffentlichen im Alleingang und ohne vorherige Absprachen mit dem Kabinett und den Verbündeten Großbritanniens eine Erklärung, in der sie der Türkei mit einem Krieg drohten. Der konservative Außenminister Lord Curzon musste in schwierigen Konsultationen eine Kompromisslösung, den Waffenstillstand von Mudanya, aushandeln. Curzon, der im Kabinett regelmäßiges Opfer von Lloyd Georges beißendem Spott gewesen war und sich oft übergangen gefühlt hatte, hatte mehr als einmal dessen außenpolitische Fehler zu korrigieren. Curzon hatte mehrfach seinen Rücktritt eingereicht, ihn jedoch immer wieder zurückgezogen; nach der Chanakkrise entschloss er sich jedoch endgültig zum Rücktritt, da er sich erneut von Lloyd George düpiert sah. Zudem legte die Chanakkrise ein seit mehreren Jahrzehnten bestehendes Schisma der britischen Politik offen, denn seit den Tagen Benjamin Disraelis waren die Konservativen in Orientalischen Fragen wie dem bulgarischen Aprilaufstand protürkisch orientiert, während die Liberalen seit Gladstone antitürkische Ressentiments pflegten und Anhänger des Philhellenismus waren.In dieser Situation schrieb der zeitweilig genesene Andrew Bonar Law einen Leserbrief an die Londoner Times, der am 7. Oktober veröffentlicht wurde. Er vertrat die Ansicht, dass Großbritannien nicht als alleiniger Weltpolizist agieren könne, da die finanziellen und sozialen Konditionen des Landes dies unmöglich machen würden. Zahlreiche Unterstützer der Tories baten daraufhin Bonar Law, wieder in die aktive Politik zurückzukehren.
Am 10. Oktober kam das Kabinett überein, eine Unterhauswahl anzusetzen und diese erneut gemeinsam zu bestreiten. Am Folgetag hielt Austen Chamberlain in Birmingham eine Rede, in der er angesichts der nationalen Krise die Aufrechterhaltung der Koalition forderte, anderenfalls würde der gemeinsame Feind Labour gewinnen. Einen Tag später verteidigte Lloyd George öffentlich seine Außenpolitik, verbunden mit einem Angriff auf die Türkei, die er als blutlüstern beschrieb; zudem erinnerte er daran, dass die Türken bereits Tausende von Griechen und Armeniern ermordet hätten. Am 15. Oktober teilte Chamberlain dem konservativen Chief Whip Leslie Wilson mit, dass er sich entschlossen habe, ein Treffen aller konservativen Abgeordneten einzuberufen, um sich das Vertrauen als Parteiführer aussprechen zu lassen. Chamberlain sah sich und seinen Führungszirkel zu diesem Zeitpunkt als unentbehrlich an und zeigte sich überzeugt, dass seine internen Gegner nicht in der Lage sein würden, eine andere Regierung zu bilden.Als Ort wurde der Carlton Club ausgewählt; im Jahr 1832 von Tory-Peers gegründet, stellte dieser private Londoner Gentlemen’s Club den traditionellen gesellschaftlichen Treffpunkt für Mitglieder der Konservativen dar. In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Carlton Club als Hauptquartier der konservativen Partei fungiert und auch mehrfach als Ausgangspunkt für parlamentarische Initiativen von konservativen Hinterbänklern gedient. Im November 1911 war er Schauplatz bei der Wahl Bonar Laws zum neuen Parteivorsitzenden gewesen, während im März 1921 Austen Chamberlain bei einem im Club abgehaltenen Treffen der konservativen Unterhausabgeordneten einstimmig zum Nachfolger Bonar Laws gewählt worden war.In den nächsten Tagen kam es bei mehreren informellen Treffen zu einem Meinungsaustausch von Hinterbänklern der Tories, in denen sich jeweils eine Mehrheit gegen eine weitere Coupon-Wahl aussprach und bereits der Widerstand gegen die Parteiführung koordiniert wurde; bei einem dieser Treffen baten die Anwesenden Sir Samuel Hoare, E.G. Pretyman und George Lane-Fox darum, Bonar Law aufzusuchen und ihn zu überreden, die Partei aus der Koalition herauszuführen.
== Die Rolle Bonar Laws und die Nachwahl in Newport ==
Bonar Law wurde nun von mehreren Parteifreunden bestürmt, sich für eine der Seiten auszusprechen. Er zögerte lange, erklärte sich jedoch schließlich bereit, am Treffen teilzunehmen. Als ehemaligem Parteivorsitzenden kam ihm eine Schlüsselrolle zu, da, abgesehen vom schwankenden Curzon, die anderen Parteigrößen alle für eine Fortführung der Koalition unter den bestehenden Bedingungen votierten und eine neu formierte Regierung allenfalls von einem erfahrenen Politiker mit hohem Prestige gebildet werden konnte. Sein offener Brief an die Times hatte bereits implizit signalisiert, dass ein alternativer konservativer Parteiführer und Premierminister bereitstand.Parallel zu diesen Vorgängen kam es zu einer vielbeachteten Nachwahl im Wahlkreis Newport. Der konservative Kandidat, Reginald Clarry, einer der „Die-hards“, machte bei seinen Wahlkampfauftritten seine Abneigung gegen die von Lloyd George geführte Koalition deutlich und verspottete in einer Rede offen Lloyd Georges „stümperhafte Diplomatie“. Während allgemein ein Sieg des Kandidaten der Labour-Partei erwartet worden war, zeigte die Auszählung am Abend des 18. Oktober, dass mit Reginald Clarry der konservative Kandidat die Wahl gewonnen hatte, während der Kandidat der Liberalen deutlich abgeschlagener Dritter war. Die einflussreiche Londoner Times berichtete am Morgen des 19. Oktober auf ihrer Titelseite eingehend über die Nachwahl und ordnete sie als komplette Verdammnis der Koalitionsregierung und Rechtfertigung derjenigen Konservativen ein, die sich gegen die Koalition aussprachen.
== Das Treffen ==
Das anberaumte Treffen begann am 19. Oktober um 11 Uhr morgens unter großem Andrang der konservativen Abgeordneten. Etwa 290 von ihnen waren anwesend. Chamberlain wurde kühl, Bonar Law dagegen mit Jubel begrüßt. Lord Birkenhead wurde bei seinem Eintreffen mit lauten Unmutsbekundungen empfangen. Chamberlain eröffnete das Treffen und kritisierte, dass die öffentliche Kritik während der Chanakkrise Großbritanniens Einfluss und Prestige ernsthaften Schaden zugefügt habe. Er führte aus, dass der wahre Konflikt nicht zwischen Liberalen und Konservativen ausgetragen werde, sondern zwischen freiheitlichen Kräften und denen, die für den Sozialismus stünden. Es sei unmöglich, allein eine Mehrheit gegen die Labour-Partei zu erringen. Folglich sei es auch Wahnsinn, zu diesem Zeitpunkt eine Spaltung der Allianz mit den Liberalen herbeizuführen. Chamberlains Rede wurde mehrheitlich negativ aufgenommen.Unmittelbar nach Chamberlain sprach der aufstrebende Stanley Baldwin. Er kritisierte die mit der Partei nicht abgesprochene Kabinettsentscheidung über die nächste Wahl, drohte mit seinem Rücktritt aus der Regierung und damit, die kommende Wahl als unabhängiger konservativer Kandidat zu bestreiten. Baldwin beschrieb Lloyd George als eine dynamische Kraft, die jedoch die Konservativen ebenso spalten könne wie zuvor bereits die Liberalen: „Nehmen Sie Mr. Chamberlain und mich selbst. Er ist entschlossen, in die politische Wildnis zu gehen, wenn er dazu gezwungen ist, den Premierminister im Stich zu lassen, und ich bin vorbereitet in die Wildnis zu gehen, wenn ich gezwungen bin, bei ihm zu bleiben.“ Baldwins Rede fand viel Applaus. Es folgte der Abgeordnete E. G. Pretyman, der sich gegen eine Fortführung der Koalition aussprach; den aktuellen Herausforderungen könne am besten durch konservative Prinzipien begegnet werden. Er brachte eine Resolution ein, dass die anstehende Unterhauswahl als unabhängige Partei geführt werden solle. Dies wurde vom nächsten Redner, George Lane-Fox, unterstützt. Danach meldete sich F. B. Mildmay mit einer konzilianten Rede zu Wort, woraufhin sich Sir Henry Craik, einer der „Die-hards“, ebenfalls für einen Bruch mit Lloyd Georges Liberalen aussprach.Dann folgte Bonar Law, der vor einer Fortsetzung der Koalition warnte und prophezeite, es würde ansonsten zu einer Spaltung der Konservativen Partei kommen. In dieser Situation sei für ihn die Einheit der Partei wichtiger als die nächste Wahl zu gewinnen. Das Gefühl gegen eine Fortsetzung der Koalition sei mittlerweile jedoch so stark, dass die Partei gespalten und eine neue Partei geformt werde, wenn man Chamberlains Rat folge. Die als moderat geltenden Mitglieder würden gehen, der verbliebene Rest der Partei würde reaktionärer werden. Er zog eine Analogie zum Jahr 1846, als der Streit um die Korngesetze die Partei gespalten hatte: Eine Generation würde es dauern, ehe die Konservative Partei wieder zu dem Einfluss zurückfinden würde, der ihr zustehe. Der ehemalige Parteiführer Arthur Balfour sprach sich dagegen für die Fortführung der Koalition aus und nannte Pretymans Vorstoß unehrenhaft. Leslie Wilson, der Chief Whip und auch ein Junior-Minister in der Koalition, äußerte, dass er der Wählerschaft in seinem Wahlkreis nach Chamberlains Statement immer noch nicht sagen könne, ob es im Fall eines konservativen Wahlsieges auch einen konservativen Premierminister geben würde. James Fitzalan Hope, ein Unterstützer der Koalition, regte nun eine Vertagung an, Chamberlain drängte jedoch auf eine sofortige Entscheidung.Das Votum wurde offen abgehalten, mit Karten, auf denen der Name des jeweiligen Abgeordneten markiert war. Das Ergebnis war eindeutig, mit 187 zu 87 Stimmen, die sich für Pretymans Resolution aussprachen. Etwa ein Dutzend der anwesenden Abgeordneten hatte kein Votum abgegeben. Eine spätere Analyse der Abstimmung sah die stärksten Gegner der Koalition in sicheren konservativen Wahlkreisen, wie beispielsweise in Kent, Surrey, Sussex sowie besonders in Nordirland und London, wo jeweils fast alle (anwesenden) Abgeordneten gegen die Koalition stimmten. Die Unterstützer der Koalition waren dagegen in denjenigen umkämpften Wahlkreisen zu finden, wo die Tories sich mit den Liberalen auseinandersetzen mussten, vor allem in Schottland, East Lancashire sowie im englischen Südwesten. Die Gegner der Koalition setzten sich dabei sowohl aus der Gruppe der „Die-hards“ zusammen als auch aus den als sehr moderat geltenden Tories wie Baldwin, Hoare und Edward Wood.
Das Conservative Central Office, das Hauptquartier der Konservativen Partei, veröffentlichte nach dem Treffen ein detailliertes Kommuniqué, worauf sich die Times und andere Zeitungen in ihrer Berichterstattung am folgenden Tag stützten. In diesem Kommuniqué wurde lediglich eine beiläufige Äußerung Andrew Bonar Laws am Ende des Treffens ausgespart, in der er zugab, sich als Opportunisten zu sehen, den die Zerstörung der Liberalen Partei durch David Lloyd George nicht im geringsten beunruhige.
Die anwesenden Parlamentsmitglieder gaben in den nächsten Tagen ebenfalls in ihren Wahlkreisen Rechenschaft über das Treffen und ihr eigenes Abstimmungsverhalten ab.
== Unmittelbare Nachwirkung ==
Sofort nach dem Treffen reichten einige konservative Kabinettsmitglieder um Stanley Baldwin bei Premierminister Lloyd George ihren Rücktritt ein. Austen Chamberlain beriet sich dagegen zunächst mit seinen Unterstützern. Lloyd George fuhr im Verlauf des Nachmittags zum Buckingham Palace und gab König Georg V. seinen Rücktritt bekannt. In der Erwartung, es könne gegen sie keine Regierung gebildet werden, schlossen sich nun zahlreiche namhafte Kabinettsmitglieder – neben Chamberlain und Balfour auch Lord Birkenhead, Sir Robert Horne und der Earl of Crawford – Lloyd George an. Der König schickte daraufhin seinen Sekretär Lord Stamfordham zu Bonar Law und lud ihn dazu ein, eine neue Regierung zu bilden. Dieser lehnte zunächst mit dem formellen Hinweis ab, dass er kein Parteiführer sei. Am 23. Oktober wurde er jedoch einstimmig zum Parteiführer der Konservativen gewählt und bildete in den nächsten Tagen zur Überraschung vieler Beobachter eine neue Regierung, bei der er sich vor allem auf Curzon als Außenminister und Baldwin als Schatzkanzler stützte. Dazu berief er mehrere derjenigen Junior-Minister und Staatssekretäre aus der letzten Regierung, die gegen die Koalition gestimmt hatten. Zudem berief er mit Lord Salisbury den Anführer des aristokratischen rechten Parteiflügels, der „Die-hard“-Gruppe, als Lordpräsident des Rates (Lord President of the Council) in sein Kabinett. Da Chamberlain und seine Anhänger die Regierungsbildung boykottiert hatten, war Bonar Laws Kabinett nur mit wenigen erfahrenen Politikern besetzt. Der zusammen mit Lloyd George gestürzte Winston Churchill nannte die Regierung deshalb abschätzig „eine Regierung der zweiten Elf“.Lloyd George attackierte Bonar Law im nun beginnenden Wahlkampf bei seinem ersten Auftritt in Leeds; das Carlton-Club-Treffen nannte er „ein Verbrechen gegen die Nation“ und bezeichnete es als „reaktionäres Treffen“, das von Mayfair und Belgravia (vornehmen Londoner Stadtteilen, in denen traditionell konservativer Hochadel und Finanzmagnaten residiert hatten) aus vorangetrieben worden sei. Lord Birkenhead, der sich in seiner Partei nun weitgehend isoliert fand, folgte wenig später in ähnlicher Weise und nannte das Treffen eine Revolte der Parteimaschinerie und von „zweitklassigen Köpfen“, deren Mittelmäßigkeit ihn beängstige. Dagegen attackierten die Liberalen unter Asquith im Wahlkampf zwar die Konservative Partei, zeigten sich jedoch gleichzeitig befriedigt über den Sturz von Lloyd George. Bonar Laws Wahlmanifest versprach demgegenüber eine Abkehr von Unsicherheit und Rücksichtslosigkeit in der Außenpolitik, und einer Rückkehr zu Ruhe und Stabilität in der allgemeinen Regierungspolitik.
== Historische Signifikanz ==
Aufgrund der unbeständigen und im Fluss befindlichen Situation in der britischen Parteienlandschaft der Nachkriegsjahre hatten Zeitgenossen eigentlich eine Weiterführung der Koalition unter geänderten Bedingungen erwartet; die von den Konservativen gewonnene Unterhauswahl am 15. November 1922 führte jedoch zu einer Stabilisierung und machte eine Koalitionsregierung unwahrscheinlich. Im Ergebnis des Treffens wurde eine Spaltung der Konservativen Partei verhindert, die zuvor von Salisbury und einigen Unterstützern auf der einen Seite, von Lloyd George (mit dem Gedanken, eine Zentrumspartei zu formen;) auf der anderen Seite betrieben worden war. Durch den Fall der Koalition wurde zudem das bisherige britische Zweiparteiensystem (mit den Konservativen und den Liberalen als Antipoden) durch eine kurze Übergangsphase mit drei Parteien abgelöst, in der die Liberalen zunehmend von der Labour-Partei als führendem Gegenspieler der Konservativen verdrängt wurden. Lloyd George, einer der dominierenden Politiker der vergangenen Dekade, hatte nie wieder ein Amt inne. Auch die Liberale Partei stellte seither nie wieder den Premierminister. Das Treffen markiert das einzige Mal, in dem Hinterbänkler ihren Parteiführer und die Regierung stürzten. Deshalb nimmt es bis heute einen prominenten Platz in der britischen Parteigeschichte ein regelmäßig wird in der politischen Berichterstattung Bezug auf das Treffen genommen, um die Macht der konservativen Hinterbänkler herauszustreichen.Der Historiker Robert Blake sah im Carlton-Club-Treffen einen demokratischen Vorgang, der das verloren gegangene Vertrauen nicht nur der konservativen Parlamentsmitglieder, sondern weiter Teile der Partei in Austen Chamberlains Führung ausdrückte. Auch ein anderes Votum hätte demnach allenfalls eine aufschiebende Wirkung gehabt, da aufgrund der vorherrschenden Stimmung in der Partei ein späterer Parteitag letztlich ebenfalls Chamberlains Niederlage bewirkt hätte. Michael Kinnear bewertete das Treffen nicht als generelle Absage an eine Koalition, sondern lediglich als Willensbekundung der Konservativen Partei, im Falle einer Mehrheit nach der nächsten Wahl allein eine Regierung zu bilden. Chamberlains unstete Führung habe mehr als alles andere das Ergebnis des Carlton-Club-Treffens entschieden; wäre die Führerschaft der Konservativen auch nach 1921 im festen Griff Bonar Laws geblieben, hätte es laut Kinnear nicht zum Bruch kommen müssen. John Campbell sah das Ergebnis des Treffens als logische Folge der inneren Widersprüche der Koalition und ihrer Unpopularität; in dem Moment, als (mit Bonar Law als Nachfolger Chamberlains) eine echte Alternative auftauchte, sei sie zu Fall gebracht worden. Es habe lediglich Bonar Laws Rückkehr in die aktive Politik und Curzons Seitenwechsel benötigt, um die Masse der konservativen Partei hinter einer neuen Regierung zu versammeln. David Powell sah den Fall der Koalition ebenfalls als Folge der Unpopularität des Premierministers und der Widersprüche innerhalb der Koalition. Das Treffen im Carlton Club sei als Produkt längerfristiger Spannungen innerhalb der Konservativen Partei zu verstehen; dazu habe das weitverbreitete Misstrauen innerhalb der Partei gegen Lloyd George den Bruch der Koalition in ihrer bestehenden Form letztlich unvermeidlich gemacht. Eine weitere Kooperation mit den Liberalen wäre, so Powell, nur durch die vorherige Absetzung des Premierministers David Lloyd George möglich gewesen.
== Forschungsgeschichte ==
Das Carlton-Club-Treffen ist sehr gut dokumentiert und Gegenstand zahlreicher Publikationen, beginnend mit der Berichterstattung am folgenden Tag in der britischen Presse. Im Nachlass verschiedener Protagonisten des Treffens finden sich zahlreiche Unterlagen über das Treffen; vor allem der Nachlass Austen Chamberlains, in dem detailliert alle Wortmeldungen und eine Aufschlüsselung des Abstimmungsverhaltens aller Teilnehmer dokumentiert ist, ist als Quelle von Wert. Dazu können inzwischen die Tagebücher und Memoiren verschiedener Teilnehmer zur Auswertung herangezogen werden, woraus sich ein detailliertes Bild ergibt.
Beginnend in den 1950er Jahren wurde das Treffen in zahlreichen Biografien und Memoiren thematisiert. So veröffentlichte L. S. Amery 1953 seine dreibändigen Memoiren; im zweiten Band, My Political Life. Volume Two: War and Peace. 1914–1929. widmete er sich der Krise der Koalition und ihrem Ende, an dem er als parlamentarischer Unterstaatssekretär und Gegner von Lloyd George mitgewirkt hatte. 1955 gab Lord Beaverbrook als Nachlassverwalter den Anstoß für Robert Blakes Biografie über Andrew Bonar Law. Beaverbrook veröffentlichte dazu 1963 sein Buch The Decline and Fall of Lloyd George, in dem er schilderte, wie er als Zeitzeuge und am Rande Beteiligter Lloyd Georges Fall miterlebte. Robert Rhodes James benutzte 1969 als Herausgeber des Buches Memoirs of a Conservative: J. C. C. Davidson’s memoirs and papers, 1910–37 dessen eigene Listung des Abstimmungsverhaltens der Teilnehmenden als Quelle, die einige geringfügige Abweichungen im Vergleich zu Austen Chamberlains und Andrew Bonar Laws Nachlass aufweist. (Davidson sah ein Endergebnis von 185 zu 88 Stimmen.)Maurice Cowling schilderte den Niedergang der Koalition in seiner Studie The Impact of Labour 1920–1924: The Beginning of Modern British Politics 1971 unter dem Blickwinkel des Auftauchens der Labour-Partei als realistische Konkurrenz zu den beiden etablierten Parteien. Die durch Labour dargestellte Herausforderung habe dazu geführt, dass die Konservativen sich in ihrer Mehrheit dafür entschieden, Lloyd George zu stürzen und sich danach, als Verteidiger der bestehenden sozialen Ordnung, als eindeutigen Hauptgegner der Labour-Partei zu positionieren.1973 erschien Michaels Kinnears Buch The Fall of Lloyd George: The Political Crisis of 1922, das den Bruch der Koalition und das Carlton-Club-Treffen zum Thema hat. Darin wertete er auch Chamberlains Nachlass in Bezug auf das Abstimmungsverhalten der anwesenden Abgeordneten aus und stellte es Davidsons Aufzeichnungen gegenüber. Ebenfalls 1973 gaben Chris Cook und John Ramsden das Buch By-Elections in British Politics heraus, in dem John Ramsden im Kapitel „The Newport By-Election and the Fall of the Coalition“ die Auswirkungen der Newport-Nachwahl auf das Treffen und den Fall der Koalition analysierte. Darin kam er zum Schluss, dass das Ergebnis der Nachwahl zwar von lokalen Besonderheiten geprägt war, der Wahlsieg des konservativen Kandidaten Reginald Clarry jedoch großen Einfluss auf den Ausgang des Carlton-Club-Treffens hatte.John Campbell veröffentlichte 1977 das Buch Lloyd George: The Goat in the Wilderness 1922–1931, eine biografische Studie David Lloyd Georges in der Phase von 1922 bis 1931. These des Buchs ist die Dominanz des Politikers und „Phänomens“ David Lloyd George, der die politische Szenerie auch nach seinem Fall infolge des Carlton-Club-Treffens weiter dominiert habe; dabei schilderte er die innenpolitischen Errungenschaften der Koalition ebenfalls in günstigem Licht.
1979 veröffentlichte der walisische Historiker Kenneth O. Morgan sein Buch Consensus and Disunity – the Lloyd George Coalition Government 1918–1922, in dem er sich eingehend mit der Koalitionsregierung auseinandersetzte. Morgan argumentiert, es habe gute Gründe für die Fortführung der Koalition nach dem Ersten Weltkrieg gegeben und suchte die Koalition, entgegen ihrem schlechten Ruf, zumindest teilweise zu rehabilitieren.
Im Jahr 1984 veröffentlichte der Historiker John Vincent mit dem Buch The Crawford Papers: The journals of David Lindsay, 27th Earl of Crawford and 10th Earl of Balcarres, 1871–1940, during the years 1892 to 1940 eine editierte Fassung der Tagebücher des Earl of Crawford. In diesen findet sich ebenfalls ein detaillierter Bericht über das Treffen im Carlton Club, der verschiedentlich von nachfolgenden Historikern ausgewertet wurde.
2004 veröffentlichte David Powell British Politics, 1910–1935: The Crisis of the Party System. Er deutete die Jahre von 1910 bis 1935 als Schlüsselphase in der politischen Geschichte Großbritanniens und die zunehmenden und heftigen parteipolitischen Konflikte in dieser Zeit als immanente Krise des britischen Parteisystems; dabei beschäftigte er sich auch eingehend mit der Koalition und den Gründen für ihren Bruch.
== Literatur ==
Robert Blake: The Unknown Prime Minister: The Life and Times of Andrew Bonar Law, 1858–1923. Eyre and Spottiswoode, London 1955 (Nachdruck: 2010, ISBN 978-0-571-27266-2).
Robert Blake: The Conservative Party from Peel to Major. Faber and Faber, London 1997, ISBN 0-571-28760-3, S. 184–211.
John Campbell: Lloyd George: The Goat in the Wilderness 1922–1931. Jonathan Cape, London 1977, ISBN 0-224-01296-7, S. 17–46.
Maurice Cowling: The Impact of Labour 1920–1924: The Beginning of Modern British Politics. Cambridge University Press, Cambridge 1971, ISBN 0-521-07969-1, S. 108–237.
Michael Kinnear: The Fall of Lloyd George: The Political Crisis of 1922. Macmillan, London 1973, ISBN 1-349-00522-3.
John Ramsden: The Newport By-Election and the Fall of the Coalition. In: Chris Cook, John Ramsden (Hrsg.): By-Elections in British Politics. Macmillan, London 1973, ISBN 1-349-01709-4.
== Weblinks ==
The end of the 1922 coalition BBC-Radio 4-Diskussion zum 90. Jahrestag des Carlton-Club-Treffens. BBC News, 28. Oktober 2012
Alistair Lexden: The Carlton Club meeting and the fall of the Lloyd George Coalition Der offizielle Parteihistoriker der Konservativen, Alistair Lexden, über das Carlton-Club-Treffen. Conservative Home, 15. Februar 2019
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Carlton-Club-Treffen_(1922)
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Kastell Buch
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= Kastell Buch =
Das Kastell Buch, auch Kastell Rainau-Buch genannt, ist ein ehemaliger römischer Garnisonsort, der nahe am Rätischen Limes, einem UNESCO-Weltkulturerbe, zur Grenzsicherung errichtet wurde. Die Reste der Fortifikation liegen auf der Gemarkung des zur Gemeinde Rainau gehörenden Dorfes Buch im Ostalbkreis im östlichen Baden-Württemberg. Das Kastell bildet seit 1972 zusammen mit seiner antiken Zivilsiedlung (Vicus), dem dort entlangführenden Abschnitt des Limes sowie dem Limestor Dalkingen den Limes-Park Rainau. Bekannt wurde Buch außer durch das Limestor besonders durch seine kostbaren Funde.
== Lage ==
Die Garnison wurde topographisch günstig auf einem das Jagst- und das zulaufende Ahlbachtal beherrschenden Geländesporn errichtet. Von hier aus konnte nicht nur der nahe Limesabschnitt überwacht, sondern auch das rund 2,25 Kilometer nordöstlich vom Kastell in die Rätische Mauer eingebaute Limestor mitsamt dem Grenzverkehr kontrolliert werden. Daneben bot sich der Besatzung von der Anhöhe aus ein guter Blick über das weiter nördlich die römische Reichsgrenze querende Jagsttal. Der Limes läuft in diesem Bereich von Südwesten kommend in einem Minimalabstand von rund 1,15 Kilometern westlich des Kastells nach Nordosten. Anschließend beschreibt er von Norden nach Südosten einen leichten, rund zwei Kilometer umfassenden Bogen. Der nördlichste Punkt dieses Bogens an der Stelle, an der die Jagst römisches Gebiet verließ, war von der Befestigung rund 2,2 Kilometer entfernt und für die dort stationierten Soldaten gut einsehbar. Die antiken Geometer hatten den Bogen angelegt, um das Jagsttal besser überwachen zu können und um eine dort gelegene, wichtige Furt in das römische Gebiet einzubeziehen. Es wird vermutet, dass dort in der Flusssenke bereits in vorgeschichtlicher Zeit eine bedeutende Nord-Süd-Durchgangsstraße verlaufen ist. Das nordöstliche Ende des Limesbogens liegt rund drei Kilometer entfernt. Im Bereich eines dort vermuteten Wachturms knickt die Rätische Mauer in östliche Richtung ab, um nach 1,5 Kilometern für ein längeres Stück geradlinig nach Nordosten bis zum Kastell Halheim zu laufen.
Der Geländesporn, auf dem sich die Überreste der Bucher Befestigung befinden, wird an seiner Nordflanke durch die Niederung des Ahlbachs begrenzt. Der Bach fließt nordöstlich unterhalb der Befestigung der Jagst zu, die hier von Südosten heran- und nach Norden abfließt; heute liegt hier der Stausee Rainau-Buch. Im Talgrund, am Zufluss des Ahlbachs in die Jagst, befindet sich ein Teil des Vicus, der Zivilsiedlung des Kastells, sowie das Balineum, das Kastellbad. Die Westseite des Sporns flankiert der Langenbach-Taleinschnitt. Auch am Talhang auf der gegenüberliegenden Seite der Jagst wurden Reste antiker Bauten entdeckt.
Eine wichtige Heer- und Handelsstraße führte von Buch zum bedeutendsten Kastell des Rätischen Limes im heutigen Aalen, dem Kastell Aalen. Die Verlängerung der Straße zog sich von Buch aus zum nicht einsehbaren Limestor und darüber hinaus in die Germania magna (Großgermanien). Dort verlieren sich ihre Spuren gleich hinter der Grenze. Eine weitere Straße soll Buch mit dem Kastell Halheim verbunden haben. Zudem wurde ein Weg nach Südosten der Jagst entlang, der beim Bundesstraßenbau 1973 zerstört wurde, als römerzeitliches Überbleibsel angesehen. Nähere Untersuchungen fanden seinerzeit jedoch nicht statt. Bekannt ist hingegen eine Trasse zum südlichen und älteren Kastell Oberdorf am Ipf (Opia), das zum ehemaligen Alblimes gehörte. Es wird vermutet, dass die Aufgabe des Kastells Opia im Zusammenhang mit der Vorverlegung des Limes stand. In diesem Fall könnte die dortige Kastellbesatzung nach Buch verlegt worden sein. Im Umkreis von Buch konnte die Gewinnung und Verhüttung von Eisenerz nachgewiesen werden.
Zur Lage des Kastells
== Forschungsgeschichte ==
Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Überreste des Kastells im Gewann „Haldenäcker“ entdeckt. Insbesondere die Ellwanger Altertumsfreunde führten im Bereich der Garnison erste Untersuchungen durch. Sie berichteten, dass das Gewann damals noch durch sichtbare Mauern umfriedet war, von denen 1818 Steine für den Straßenbau ausgebrochen wurden. Als Beweis für die Anwesenheit der Römer galten ihnen Säulenfragmente, gebrannten Ziegel, Keramik und Münzen. Erste wissenschaftliche Grabungen fanden 1897 unter der Leitung des zuständigen Streckenkommissars der Reichs-Limeskommission, Ernst von Herzog (1834–1911) statt. Damals wurden Wehrmauern, Tore, Türme sowie die in Steinbauweise ausgeführten Innenbauten erforscht. Auch das Kastellbad im Jagsttal konnte untersucht werden. 1969 gruben die Forscher im „Mahdholz“ an der Limesmauer bei Schwabsberg nördlich von Buch und konservierten 1970 ein Steinturmfundament. 1974 wurde dort ein Limesturm aus Holz rekonstruiert, der als hölzerner antiker Bau nachgewiesen werden konnte. Diese Art der Rekonstruktion wurde durch den fortschreitenden Wissensstand überholt. Daher ersetzte man 2008 den Turm durch eine wissenschaftlich gesicherte Rekonstruktion auf Grundlage der Arbeiten von Dietwulf Baatz (1928–2021). Am Südrand von Schwabsberg wurde 1969 und 1974 die hölzerne Limespalisade angeschnitten. Die 1969 aus zwei Metern Tiefe gewonnenen Proben wurden 1975 durch den Dendrochronologen Ernst Hollstein (1918–1988) untersucht. Die von 1974 im Jahr 1976 durch den Dendrochronologen Bernd Becker (1940–1994) von der Universität Hohenheim.Im Zuge der Flurbereinigung untersuchte im Auftrag des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg Dieter Planck 1972 das Südtor – in Buch die Porta principalis dextra – ein kleines Stück der sich östlich anschließenden Wehrmauer sowie den dort befindlichen Zwischenturm. Außerdem führten die Archäologen einen Schnitt durch das Grabensystem aus, wobei der südlich am Kastell vorbeiführende Fahrweg verhinderte, dass damals alle Gräben erkannt werden konnten. Die 1972 untersuchten Mauern wurden nach der Ausgrabung sichtbar konserviert. 1973 und 1974 konzentrierten sich die Arbeiten auf das Limestor. In den 1982 aufgestauten Bucher Stausee versanken große Bereiche der Täler von Jagst und Ahlbach im Umfeld des Kastells. Zwischen 1976 und 1979 mussten umfangreiche Notgrabungen im Bereich des vor der Porta praetoria gelegenen ost- und südöstlichen Vicus durchgeführt werden, da die Neutrassierung der Bundesstraße 290 dieses Gebiet archäologisch zerstörte. 1975 und 1976 wurde das Kastellbad erneut untersucht und südlich davon kamen 1979 und 1980 zwei weitere Vicusbauten ans Licht. Ebenfalls 1979 konnten bei Planierarbeiten auf dem östlichen Uferhang der Jagst nordöstlich des Bades ein großer römischer Ziegelbrennofen entdeckt und ergraben werden. Die Archäologen nahmen ihn in das Grabungsschutzgebiet auf und schütteten ihn wieder zu. 1992 und 1999 untersuchte Harald von der Osten-Woldenburg Kastell und Teile der Zivilsiedlung geomagnetisch. Außerdem fand 1994 eine geoelektrische Untersuchung und im Winter 1996 eine Begehung mit dem Bodenradar statt, die den Kastellgräben galt.Weitere wichtige Ergebnisse für die Besiedlungsgeschichte, die 2002 durch den provinzialrömischen Archäologen Bernhard Albert Greiner veröffentlicht wurden, brachte die erneute dendrochronologische Aufarbeitung der in Buch während der Grabungen im Boden gefundenen Hölzer.
== Heutiger Zustand ==
Die Fundamente der Therme sowie zweier angrenzender Gebäude des Lagerdorfes (Vicus) wurden nach der Grabung 1979/80 konserviert und sind am Ufer des Stausees frei zu besichtigen. Im Zuge der Sanierung des Vicus-Areals 2001/02 wurden die äußeren Umrisse des Stabsgebäudes auf dem Erdboden durch eine Schwelle aus Kies nachgezeichnet. In der Mitte befindet sich ein Modell der Anlage im Maßstab 1:200. Die Kastellmauer wird neben den rekonstruierten Abschnitten im Süden durch einen Erdwall und eine Hecke angedeutet. Bäume zeigen die Lage der Zwischen- und Tortürme an. An sämtlichen Stationen befinden sich Schautafeln, die vor wenigen Jahren aufgrund des UNESCO-Welterbe-Status 2005 ergänzt wurden. Das ab 1972 schrittweise entstandene Freilichtmuseum am rätischen Limes wurde mit der Aufstellung der neuen Schautafeln in Limes-Park Rainau umbenannt.
== Baugeschichte ==
Dietwulf Baatz und Dieter Planck vermuteten wie bereits einige Forscher vorher, dass Buch der Nachfolger des älteren, aufgegebenen Kastells Opia am Alblimes war. Das Lager unterstand dem Befehlshaber der Ala II Flavia milliaria p.f. im Kastell Aalen. Zumindest der Vicus und die hölzerne Palisade des Limes wurden fast zeitgleich errichtet. Dies belegen dendrochronologische Auswertungen der ältesten Hölzer (Brunnen 2 und Latrine 8) aus dem Lagerdorf (absolute Datierung spätestens Mai/Juni 161 n. Chr.) und der in Schwabsberg geborgenen Eichenstämme der Palisade, die aus dem „Spätjahr 165, möglicherweise Frühjahr 166 n. Chr.“ stammten. Dieser Zeitraum deckt sich mit den untersuchten Limeshölzern aus dem Rotenbachtal bei Schwäbisch Gmünd. Dort wurde nahe dem Kleinkastell Kleindeinbach der Anfang der Palisade untersucht und das Fälldatum der verwendeten Bäume an dieser Stelle auf den Winter 163/164 n. Chr. festgelegt. Auch vom um 150/155 n. Chr. gegründeten Kastell Aalen ist genau dieses Datum vom Bau der großen hölzernen Vorhalle der Principia, dem Stabsgebäude, bekannt.
=== Umwehrung ===
Buch wurde als annähernd rechteckige, 2,1 Hektar große Anlage in genauer Nord-Süd/Ost-West-Ausrichtung leicht nach Norden hin abfallend errichtet. Mit ihrer Prätorialfront, der dem Feind zugewandten Seite, war das Kastell nach Osten, zum Jagsttal hin, ausgerichtet. Die 1,2 Meter breite steinerne Umwehrung aus einem örtlich vorkommenden Unterjura-Sandstein besaß abgerundete Ecken, in denen je ein an die Mauer gebauter Eckturm mit ebenerdigem Zugang stand. In den vier Himmelsrichtungen war außerdem je ein zweispuriges Tor mit Spina (Trennpfeiler), das von zwei Tortürmen flankiert wurde, in die Mauer eingelassen. Die beiden Durchfahrten des 1972 ausgegrabenen Südtors sind 4,00 beziehungsweise 4,30 Meter breit. Zwischen den vier Ecktürmen und Torbauten standen acht Zwischentürme. Auf der Lagerinnenseite lehnte eine drei Meter breite Erdrampe an der Umwallung, die an den Türmen und Toren unterbrochen war und auf der die Soldaten hinter einer steinernen Brustwehr patrouillieren konnten. Diese Rampe war zur Via sagularis (Lagerringstraße) hin durch Holzpfosten, die den Abrutsch verhindern sollten, begrenzt.
Als Annäherungshindernis lag vor der Bucher Befestigung ein Vierfachgraben mit abgerundeten Ecken, der an den vier Zufahrten mindestens teilweise aussetzte. Der innerste Graben war 5,65 Meter breit, der anschließende nur zwei Meter. Alle vier Gräben hatten einen von ihrer Mittellinie aus gemessenen Abstand von rund zehn Metern. Der äußerste Graben war mit zum Teil über zehn Meter der breiteste. Nach den geophysikalischen Untersuchungen scheinen die Gräben an der Südseite tiefer gewesen zu sein als die im Norden. Durch mögliche Erosion gibt es im Nord-Nordwesten nur wenige unvollständige bis gar keine Spuren des Annäherungshindernisses. An der Zufahrt zur Porta praetoria konnten die beiden mittleren Gräben nur über eine hölzerne Brücke überwunden werden. Auch an der Porta principalis sinistra könnte sich zwischen dem innersten und dem darauffolgenden Graben ein Übergang befunden haben. Die teils unklaren geophysikalischen Befunde sind nur durch zukünftige Grabungen zu sichern. Fraglich ist auch, ob alle vier Gräben in der bisher bekannten Form gleichzeitig existiert haben. Am nördlichen Zwischenturm in der Retentura (rückwärtiger Lagerbereich) ist ein auffallender Anbau mit ungefähr den gleichen Maßen wie denen des eigentlichen Turmes nachgewiesen. Am nördlichen Zwischenturm der Praetentura (Vorderlager) fand sich im Bereich der Lagerringstraße ein rund 15 Meter langer Mauerzug, der parallel zur Umwehrung verlief. Herzog fand hier eine Spatha. Dieser Schwerttyp war bei der römischen Kavallerie bereits seit der frühen Kaiserzeit in Gebrauch. Außerdem lagen an dieser Stelle rund 1600 weitere Waffenteile, davon mindestens 800 eiserne Geschossspitzen, der Rest bestand aus Pfeil- und Lanzenspitzen. Der Ausgräber vermutete deshalb, dass es sich bei dem Mauerzug um Reste eines Armamentariums (Waffenkammer) handelte. Dietwulf Baatz überlegte, ob die Waffen nicht auch einen Depotfund darstellen könnten, der in keinem Zusammenhang mit dem Mauerzug steht. Der aus dem 2. oder 3. Jahrhundert stammende Fund wurde auf das Limesmuseum sowie die Museen von Nürnberg, Wiesbaden, Mainz, Homburg und Stuttgart verteilt. Ein noch 0,60 Meter tiefer Brunnen wurde nahe der nordwestlichen Kastellecke zwischen Via sagularis und Erdrampe aufgedeckt.
=== Innenbebauung ===
Im Kreuzungspunkt der beiden Lagerhauptstraßen Via Praetoria (Ost-West-Achse) und Via principalis (Nord-Süd-Achse), befand sich die über der Via principalis errichtete 46,6 Meter lange rechteckige Vorhalle der Principia. Sie war ein für Kastelle dieser Zeit typischer Verwaltungs- und Mehrzweckbau für die Truppe. Die Bucher Vorhalle hatte je einen Zugang an den Stirnseiten und drei Eingänge an der Längsfront. Hinter der Halle schlossen sich in einem fast quadratischen Karree Verwaltungsräume beziehungsweise Waffenkammern für das Kastells an. In einzelne Zimmer unterteilt, gruppierten sich diese um einen offenen, rechteckigen Innenhof, in dem sich, von der Mitte aus etwas nach Südosten verschoben, ein Brunnen befand. Mittig in dem hinteren Teil des Verwaltungsgebäudes lag das Fahnenheiligtum (Aedes principiorum), in dem die Standarten der Einheit aufbewahrt wurden. In Buch ragt dieses Heiligtum mit seinem rechteckigen Grundriss leicht aus der Ostfassade des Stabsgebäudes heraus. Die Ausgestaltung dieser Heiligtümer mit halbrunden Apsiden war erst seit der Mitte des 2. Jahrhunderts aufgekommen. Dies könnte die Überlegungen des Ausgräbers Dieter Planck stützen, der die eigentliche Kastellgründung in die Jahre um 130, spätestens aber 140 n. Chr. legt. In Raum 5 an der Nordwestecke des Stabsgebäudes fand sich ein behelmter Minerva-Kopf mit einer Eulendarstellung. Er befindet sich im Landesmuseum Württemberg. Die Nordwand des Verwaltungsbaus weist schwankende Stärken auf. Herzog stellte fest, dass sich die rund 1,70 Meter bis 1,75 Meter starke Mauer in der Mitte auf 1,80 Meter verdickt. In dem dahinterliegenden langgestreckten Raum, von dem Herzog durch Befund glaubte, dass ihn einst eine hölzerne Trennwand teilte, fand sich Brandschutt, in dem viele kleinere Fundstücke lagen.
Nördlich des Stabsgebäudes, fast daran anschließend, wurden die Überreste eines großen rechteckigen steinernen Horreums (Getreidespeicher) aufgedeckt, dessen hölzerner Fußboden auf Pfählen ruhte, von denen sich sechs Pfostenlochreihen erhalten haben. Das durch Herzog nicht erfasste Praetorium, das Wohnhaus des Kommandanten, könnte auf jenem Fundament gestanden haben, das der Luftbildarchäologe Otto Braasch im August 1991 südlich des Stabsgebäudes entdeckte. Dort fanden bisher noch keine Ausgrabungen statt. Die Magnetogramm-Auswertungen von 1992 haben es ermöglicht, sich ohne Grabung auch ein recht genaues Bild von den in Holzbauweise errichteten Mannschaftsbaracken (Centuriae) und weiterer Einzelheiten zu machen. So wurde deutlich, dass die länglichen Baracken in der Praetentura von Norden nach Süden ausgerichtet waren und mindestens einmal vollständig erneuert wurden. In den Kopfbauten dieser Unterkünfte wohnten der Centurio und eventuell weitere Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. An der Prätorialfront standen links und rechts der Via praetoria zwei einfache Baracken, die Unterkünfte an der Via principalis waren als Doppelbaracken ausgeführt. In der Retentura wurden zwei große Doppelbaracken ausgemacht, die einander gegenüberliegend mit ihren Stirnseiten an die Via decumana angrenzten. Diese beiden Holzbauten waren rund 49 und 53 Meter lang und haben wohl zur Unterbringung der Pferde gedient. Spuren im Magnetogramm deuten auf Jauchegruben hin. Klarheit könnte auch hier nur eine Grabung schaffen.
Bei den Ausgrabungen und Feldbegehungen im Kastellinneren fanden die Archäologen eine Vielzahl von Militaria, darunter Bruchstücke von eisernen und bronzenen Maskenhelmen, die bei den standardisierten Reiterturnieren Verwendung fanden. Ein im Bereich der Principia gefundenes Bronzeblech zeigt ein von zwei Schlangen flankiertes menschliches Haupt. Es wird als Fragment eines Schildbuckels gedeutet. Viele Befunde weisen auf ein Ende der Besatzung um die Mitte des 3. Jahrhunderts hin. Eine Schlussmünze aus der Regierungszeit des Kaisers Gordian III. entstand in den Jahren 241/243. Da im Lagerdorf jedoch in mehreren Brunnen dendrochronologisches Material ans Licht kam, das vorbehaltlich in das Jahr 254 oder später weist, ist mit dem Ende der römischen Truppenpräsenz erst spätestens im Jahr 260 n. Chr. zu rechnen.
== Kastellbad ==
Die zum Lager gehörende Therme befand sich rund 100 Meter nordöstlich der Nordost-Kastellecke nahe der Ahlbachmündung in die Jagst. Diese Anlage wurde auch von der Zivilbevölkerung mitgenutzt. Mit vier Bauphasen konnten die Forscher eine komplexe Baugeschichte nachzeichnen. Das Bad, fast genau in Nord-Süd-Ausrichtung errichtet und mit ungefähr spiegelgleicher Raumanordnung, gehörte zum Reihentypus. In seiner räumlichen Ausrichtung folgte es nicht dem meist am Rätischen Limes vorgefundenen Bauschema, da der Eingang in Buch im Westen bzw. im Süden lag. Normalerweise wurden die Bäder von Norden kommend betreten. Die ursprüngliche Stirnseitenbreite der zentralen Gebäudeeinheit, die über die Zeiten weitgehend eingehalten wurde, betrug rund zehn Meter. Bei den Grabungen konnten nur noch geringe Reste des eigentlichen Fußbodens aufgedeckt werden.
=== Phase I ===
Da das Kastell wohl um 130/140 n. Chr. errichtet wurde, dürfte auch der Thermenbau nicht wesentlich später erfolgt sein. Der Ausgräber Planck könnte sich anhand der Funde die Erbauung in späthadrianischer Zeit vorstellen. Es war wahrscheinlich das erste Bauwerk außerhalb der Umwehrung, da der Vicus erst in den sechziger Jahren des 2. Jahrhunderts zusammen mit dem Bau der Holzpalisade des Limes entstand.
Man betrat den rechteckigen, unbeheizten Auskleideraum (Apodyterium) des Bades von Westen her. Danach gingen die Besucher in die östlich gelegene, ebenfalls rechteckige, Versammlungshalle (Basilica), den größten Raum der Anlage, der ebenfalls nicht beheizt war. In der Ostmauer der Halle befand sich rechts ein Kaltbad (Frigidarium), das die ungefähren Ausmaße des Apodyteriums besaß. Im Norden lag der Zugang zum kleinen und zum größeren Laubad (Tepidarium), die in der gleichen Raumflucht wie das darauffolgende Warmbad (Caldarium) lagen. Von dort konnte ein an die Westmauer angebautes kleines rechteckiges Badebecken betreten werden. Beheizt wurde die Therme von Norden.
=== Phase II ===
Mit der Errichtung des Lagerdorfes wurde das Bad in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts repräsentativ ausgebaut und vergrößert. Apodyterium, Basilica und Frigidarium brach man ab. An deren Stelle entstand quer zum eigentlichen Gebäudekomplex in Ost-West-Ausrichtung ein auf einem Steinfundament ruhender, rund 22 Meter langer Versammlungsraum, der wohl auch für die Kleiderablage benutzt wurde. Als südlicher Abschluss des Gebäudes lag davor ein sich über die gesamte Länge der Basilica erstreckender Portikus. Von dort aus betrat man das Bad. Nördlich der Basilica entstand ein großes, rund zehn Meter breites Frigidarium in der nordsüdlichen Flucht der älteren, unverändert gebliebenen Räume. Östlich des Kaltbads befand sich als Neubau ein kleines Schwitzbad (Sudatorium) und westlich ein fast spiegelgleiches Frigidarium. In den Phasen II und III, die in einigen Beschreibungen zusammengefasst werden, erreichte die Therme mit einer Ausdehnung von rund 44 Metern ihre größte Länge.
=== Phase III ===
Die Hypokaustheizung im Sudatorium wurde stillgelegt und der Raum als Frigidarium genutzt. Die Westmauer im bisherigen großen Frigidarium wurde nach Osten gerückt und das Bad damit verkleinert. Das gleichzeitig vergrößerte kleine Frigidarium wurde nach seiner Hypokaustierung als neues Sudatorium eingerichtet.
=== Phase IV ===
Da für einen Alamannenangriff zwischen 233 und 234 die Belege fehlen, wurde der Nord- und Südteil des Balineums wahrscheinlich erst beim im Frühsommer 254 n. Chr. vermuteten germanischen Überfall zerstört. Damals ging das Lagerdorf in einer Brandkatastrophe unter. Nur die Mauern im mittleren Bereich scheinen reparabel gewesen zu sein oder reichten einer vielleicht dezimierten Bevölkerung für den Wiederaufbau aus. Es gab auch Überlegungen, dass die Verkleinerung des Bades vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen notwendig war. Die bisherige Heizanlage, das Caldarium, und das kleine Badebecken gab es nicht mehr; ebenso die Basilica und den Porticus. Der übrige Bau wurde wie bisher weiterverwendet. Als neuer Auskleideraum entstand, an die Südfassade angelehnt, ein rund 10 × 10 Meter großer hölzerner Anbau. Als Letztes dieser Phase wurde etwas später auch das Sudatorium aufgegeben. In der stark verkleinerten, provisorisch wirkenden Form bestand die Therme mindestens bis zum Ende der römischen Herrschaft im Jahr 260 (Limesfall). Das Fundmaterial im Lagerdorf gibt Hinweise darauf, dass das Kastellbad möglicherweise sogar bis ins frühe 4. Jahrhundert benutzt wurde.
=== Funde ===
Das Bad barg eine Vielzahl interessanter Fundstücke: Fingerringe, Münzen, Gemmen, Haarnadeln, Tonscherben und Glasgefäße. Letztere sind ein häufiges Fundgut in römischen Badeanlagen, da in kleineren Salbgefäßen üblicherweise Parfüme und vor allem Öle zur Benutzung mit einem strigilis aufbewahrt wurden.
== Vicus und Brandgräberfeld ==
Der ausgedehnte Vicus, das Lagerdorf, erstreckte sich südlich und südöstlich des Kastells. Die Bebauung bestand im zweiten und dritten Jahrhundert fast durchwegs aus den für obergermanisch-rätische Limeskastelle typischen Fachwerk-Langhäusern mit einer Länge von bis zu 40 Metern. In den erhaltenen Strukturen dieser Bauten konnte eine Vielzahl von holzverschalten Kellern freigelegt werden. Für die Forschung wichtig waren auch die 13 aufgedeckten Brunnen, die ebenfalls fast alle eine Holzschalung aufwiesen. Nach Auffindung eines großen Ziegelbrennofens mit zugehörigem Fundmaterial nahm Planck an, dass die Dachziegel für diese Bauten vor Ort hergestellt wurden. Die geologischen Verhältnisse machten es möglich, dass die in den tiefsten dieser Brunnen erhaltenen Teile der hölzernen Verschalung durch Bernd Becker, dendrochronologisch untersucht werden konnten. Die damals gewonnenen Daten wurden zwischenzeitlich durch verfeinerte Methoden korrigiert. Einige der Brunnen bargen zum Teil äußerst wertvolle und seltene zivile und militärische Gegenstände.
Die aufgefundenen Gegenstände, darunter hochwertiger Schmuck aus Silber und Bronze, zeigen, dass Buch ein wohlhabendes Dorf gewesen sein muss, dessen Bewohner vermutlich durch Handel mit den Germanen zu Reichtum gekommen waren. Die sehr unterschiedliche Entwicklung der verschiedenen Kastelldörfer am Limes zeugt von ihrer Einzigartigkeit. Im Gegensatz zu den militärischen Bauten waren die zivilen Siedlungen weitgehend den Bedürfnissen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der dort lebenden Menschen angemessen. Die Dörfer entwickelten eine Eigendynamik, die dazu führte, dass die Bewohner von Buch bei ihren Holzhäusern blieben, während die Menschen an einem vergleichbaren Kastellplatz wie Jagsthausen in einem ähnlichen Zeitraum fast stadtähnliche Strukturen schufen. Warum die Entwicklung unterschiedlich verlief, lässt sich zumeist nicht mehr klären.
=== Phase I ===
Es konnte festgestellt werden, dass die für das Jahr 161 n. Chr. dendrochronologisch belegte Gründungszeit des Vicus in ihrer ersten Aufbauphase entlang einer um das Kastell geführten Lagerringstraße entstand und von Anfang an durchgeplant gewesen ist. Am äußeren Bogen dieser Straße wurden die Parzellen der zukünftigen Bebauung fächerförmig abgesteckt. Die Blickachse dieser Häuser war auf das Militärlager gerichtet. Vor den Gebäuden entstand ein umlaufender Portikus, der sich kurz vor dem Zusammentreffen der Ringstraße mit der östlichen Ausfallstraße des Kastells zu einem Doppelportikus verbreiterte.
=== Phase II (a, b und c) ===
Im Jahr 193 n. Chr. fand nach Ausweis der Befunde aus Brunnen 10 eine große Umbaumaßnahme im Dorf statt. Während die Straßenzüge unangetastet blieben, wurden mehrere Gebäude abgebrochen, Parzellen neu abgesteckt und deren Platz für Neubauten mit einem bis zu 30 Zentimeter hohen Kies-Lehm-Gemisch planiert. Bei dieser Neustrukturierung ist offensichtlich auch die Bauweise zumindest in Teilen vereinheitlicht worden, was sich besonders deutlich bei der Anordnung von Kellern und Brunnen zeigt. Waren diese zunächst uneinheitlich angeordnet, befanden sich die Keller nun in einem Abstand von rund 12 Metern zur Portikusfront, während die Brunnen eine Entfernung von rund 22 Metern zum Portikus aufwiesen. Einige Bewohner leisteten sich jetzt den Luxus von Hypokausträumen. Die Zweischiffigkeit des Portikus im Osten wurde aufgegeben. Er zeigte nun in seiner Gesamtheit ein einheitliches Bild. Nach Ausweis von im Winter 253/254 frisch geschlagenen Bauhölzern, die im Brandschutt von zwei Brunnen gefunden wurden, lässt sich zusammen mit den unter dieser Brandschicht gemachten Brunnen-Hortfunden der Untergang des Dorfes sehr genau datieren. Im Frühsommer 254 n. Chr. fand wohl ein germanischer Überfall auf die Siedlung statt. Zuvor hatten Bewohner noch Wertgegenstände, Hausrat und Militaria in ihren Brunnen deponiert. Die Angreifer zogen sich nach der Zerstörung wieder zurück oder konnten vertrieben werden.
=== Phase III ===
Wie großflächige, aus der Mitte des 3. Jahrhunderts stammende Planierungen über dem Brandhorizont zeigen, wurde der Bucher Kastellvicus von den Bewohnern nicht aufgegeben. Greiner konnte bei seinen Untersuchungen nachweisen, dass bei mehreren Brunnen die oberen zwei Meter der Holzverschalung ausgebaut wurden. Innerhalb eines Hypokaustraumes fanden sich Pfostenstellungen von späteren Einbauten, an der östlichen Lagerringstraße überbaute ein Pfostenbau mit steinverkeilten Pfosten Teile des Portikus und der Straße. Im Umfeld dieses Gebäudes und in angrenzenden Gruben wurden acht Kilogramm Schlacken gefunden, die aus Rohstahlluppen und Weicheisen bestanden und von einer Eisenmetallweiterverarbeitung zeugen. Von besonderer Bedeutung für diese späte Phase ist eine einzelne olivgrüne Glasscherbe eines dickwandigen Gefäßes, die von der provinzialrömischen Archäologin Brigitta Hoffmann als Zeugnis des 4. Jahrhunderts ausgewiesen wurde, auch auf spätrömische Münzen, Lesefunde vom Kastell- und Vicusareal ist an dieser Stelle hinzuweisen.Das Brandgräberfeld von Buch wurde bisher nicht entdeckt.
=== Chronologie des Vicus von Rainau-Buch ===
Die bisher bekannte Entwicklung des Kastelldorfs, wie sie sich nach den dendrochronologischen Untersuchungen darstellt.
=== Mansio ===
In unmittelbarer südlicher Nähe des Kastellbads wurden 1979/80 zwei Fundamente freigelegt, die mit größter Wahrscheinlichkeit als bauliche Einheit anzusehen sind. Planck fand auch die Nähe zur Kastelltherme als auffallend. Das Haus I wird als Wohnhaus mit repräsentativer Fassade angesehen, das in Buch aus dem Rahmen der sonst üblichen Zivilarchitektur fällt. Neben dem Fundgut und baulichen Einzelheiten wie Hypokausträumen werden die Bauten als Mansio, ein Gasthof mit Unterkunftsmöglichkeiten für Reisende, angesehen. Eine frühere Auffassung, dass dort das Wohnhaus des Kommandanten stand, das 1897 im Kastellbereich nicht gefunden wurde, ist spätestens seit der Luftbildentdeckung 1991 durch Braasch hinfällig. Allerdings gab es bis heute keine weiteren Grabungen im Kastell. Im Südwesten von Haus I schließt sich Haus II an, eine kleine Therme. Diese bestand aus einem großen Caldarium, einem Frigidarium sowie einem Raum mit Kanalheizung. Der Bau wurde erst in Phase II der Lagerdorfentwicklung errichtet. Das zeigen Reste ausgedehnter Holzbauten, die sich unter dem Bad befanden. Das Wissen um die Funktionalität der Kanalheizung überlebte im Gegensatz zum aufwendigeren Hypokaustum die Antike. So fanden sich im großen Saal der Kaiserpfalz Goslar Überreste einer solchen Heiztechnik. Gebräuchlich wurde die Kanalheizung in der Spätantike, was Hinweise auf die Zeitstellung des kleinen Bades in Buch gibt. Die beiden Gebäude sind durch die heutige Präsentation in situ durch Natursteine am Boden markiert.
Im Fundgut des angenommenen Mansio-Bereiches kamen vielen Inschriften sowie Tierpfotenabdrücke und Gewerbestempel auf den Ziegeln der Hypokausträume ans Licht. Außerdem fanden sich zahlreiche Tonwaren germanischer Herkunft wie Dreifußschalen, Töpfe und Teller.
=== Ziegelei ===
Auf dem jenseitigen Ufer der Jagst, gegenüber dem Kastellbad und der Mansio, wurde ein 4 Meter × 3,5 Meter großer Ziegelbrennofen aufgedeckt. Im Umfeld fanden sich zahlreiche Fehlbrände von Bau- und Dachziegeln. Die Forschung geht davon aus, dass es sich um jenen Ort handelt, an dem Ziegelmaterial für das Dorf hergestellt wurde.
== Brunnenfunde ==
In dem 1976 bis 1979 untersuchten Bereich zwischen Porta praetoria und Kastellbad, der später dem Bundesstraßenneubau geopfert wurde, fanden die Archäologen 14 Brunnen und Zisternen, aus denen sie zum Teil einzigartige Gegenstände bergen konnten. Daneben bot das während der Grabung gefundene Material wie Knochen, Leder und Pflanzen auch für verschiedene andere wissenschaftliche Disziplinen Untersuchungsgrundlagen für Jahrzehnte. Wie die Analysen zeigten, lagen während der Antike im Umfeld von Siedlung und Kastell Tannenwälder mit eingestreuten Eichen sowie Beerensträucher.
Etliche der aufgefundenen Brunnen wurden zu verschiedenen Zeiten gegraben und nach ihrer Aufgabe unterschiedlich weitergenutzt. Typisch ist die Sekundärverwendung als Abfallgrube. So fanden sich in Buch zahlreiche Überreste römischer Lederschuhe, was an den Befund aus Brunnen 2 im Ostkastell Welzheim erinnert. Doch wurden die Wasserspeicher auch als Schatzhorte genutzt, die in Notzeiten dorthin verbracht wurden. So tauchen wertvolle Gegenstände an den Kastellplätzen des Limesgebietes immer wieder auf. Die dendrochronologischen Untersuchungen ergaben, dass die ältesten Verschalungshölzer aus den Brunnen 2 im Winter 161 n. Chr. geschlagen worden sind. Die jüngsten dendrochronologischen Daten konnten in Brunnen 10 und 13 gewonnen werden. Hier lässt sich der Ausbau der Verschalung in das Jahr 254 n. Chr. oder später einordnen. Die Brunnen waren einst überdacht und mit Stroh, Schindeln oder Ziegeln gedeckt. Aus den Brunnen 7, 9 und 13 hoben die Ausgräber Ziegel- und Steinschutt, vermischt mit teils stark verbrannten Hölzern und hölzernen Gegenstände, was auf den Großbrand im Lagerdorf hinweist, der hier im Frühsommer 254 n. Chr. stattgefunden hat. Hier kann man an Brände denken, die nicht immer durch Feindeinwirkung entfacht worden sein müssen, in diesem Fall ist aufgrund der Fundkombination jedoch mit einem verheerenden germanischen Angriff zu rechnen. Insgesamt war die Verfüllung der Brunnen aber sehr unterschiedlich. Einige gaben kein zusätzliches Fundgut frei, in anderen lagen große Mengen an gebrauchten, zerbrochenen hölzernen Gegenständen. Die vielen in Brunnen aufgefundenen Kienspäne waren offensichtlich einst für die Beleuchtung der Häuser angefertigt worden.
Folgende Tatsachen machen eine Zerstörung der zivilen römischen Besiedlung von Buch durch ein kriegerisches Ereignis im Jahr 254 n. Chr. sehr wahrscheinlich:
In allen drei Brunnen, in denen auch Brandschutt gefunden wurde, machten die Ausgräber Hortfunde, die unter dem Schutt auf der Brunnensohle lagen. Solche Hortfunde sind vielfach im Zusammenhang mit Angriffen und Kriegen gefunden worden. Alle drei Brunnen waren demnach bis zum Frühsommer 254 in Gebrauch.
Vieles deutet darauf hin, dass die Brandschuttverfüllung von Brunnen 9 und 13 ebenfalls 254 stattfand.Nachdem das Lagerdorf zerstört worden war, kam der Schutt während der anschließenden Aufräumarbeiten in die Brunnen.
=== Brunnen 7 ===
Auf der Sohle von Brunnen 7, der 229 n. Chr. errichtet wurde, kam 1979 einer der umfangreichsten Schatzfunde am Rätischen Limes zutage. Dazu zählen 15 bronzene Gefäße, eine bronzene Statuette des Kriegsgottes Mars, ein kleiner bronzener Amor und 20 Eisengeräte. Von diesem Fund sind einige der Bronzen aus dem 1. Jahrhundert von besonderer Bedeutung, die augenscheinlich zusammengehören. Sie stammen mutmaßlich aus dem süditalienischen Kampanien und weisen aufgrund deutlicher Gebrauchsspuren auf eine sehr lange Nutzung hin. Der 9,9 Zentimeter hohe Mars aus provinzialer Herstellung in der Uniform eines Offiziers steht auf einem rechteckigen, 2,6 Zentimeter hohen Podest und trägt volle Bewaffnung. Neben Rundschild und Speer sind Beinschienen, ein Brustpanzer mit Feldbinde und befranste Lederstreifen (Pteryges) zu sehen. Der Helm, leicht in den Hinterkopf geschoben, weist auf griechische Vorbilder hin. Das Figürchen eines nackten geflügelten Amors steht in klassischer Kontrapost-Haltung auf einem vergoldeten runden Sockel in Form einer Säulenbasis. Er trägt mit beiden Händen über dem Kopf eine flachgewölbte vergoldete Schale, die verschiedenen Zwecken gedient haben könnte. Neben einem dekorativen Einsatz ist auch der Gebrauch als Lampe oder Kultgegenstand denkbar. Der vergleichsweise barocke Klassizismus dieses Stücks weist auf eine Entstehung im 2. Jahrhundert hin. Das kleine Kunstwerk ist 10,5 Zentimeter hoch. Bemerkenswert ist eine bronzene Opferschale, deren Handgriff in einen Hundekopf mündet und eine bronzene Schöpfkelle, zu der ein gleichgestalteter Seiher gehört. Der Seiher trägt die Herstellermarke Saturnius f[ecit] (Saturninus hat dies hergestellt). Zu den geborgenen Eisengerätschaften zählen eine Schere, Schlüssel, Spaten, Sensen und das Bruchstück eines Fenstergitters.
=== Brunnen 9 ===
In Brunnen 9, dessen Verschalungshölzer möglicherweise aus dem Jahr 229 n. Chr. stammen, wurde auf der 10,5 Meter tiefen Sohle neben Militaria eine rund zwölf Zentimeter hohe qualitätsvolle Holzplastik, einen buckligen, bärtigen Mann mit übergroßem erigiertem Phallus darstellend, geborgen. Die auf einem einfachen runden Sockel stehende Figur stemmt einen offensichtlich schweren, vielfach verschnürten Wollballen über dem Kopf und ist mit einem pelz- oder wollartigen, hüftlangen Mantel bekleidet. Als Unterbekleidung ragt unter der Gürtellinie eine Tunika hervor, die einen sehr einheitlichen, fast an einen Faltenrock erinnernden Wurf hat. Der Phallus mit deutlichen Brandspuren wurde nicht mit dem Männchen aus einem Stück geschnitzt, sondern einzeln hergestellt und mit der Figur verbunden. Die offenliegenden Augenhöhlen waren einst mit unbekanntem Material belegt.Neben dem großen Waffenhort im Kastellareal gab es verstreut Einzelfunde von Metallringen, die zu Kettenhemden gehört hatten. Brunnen 9 barg auf der 10,5 Meter tiefen Sohle zusammen mit einer kleinen Holzplastik ein fast vollständiges Kettenhemd des 3. Jahrhunderts und daneben einen ausgezeichnet erhaltenen Bronzehelm vom Typ Niederbieber, der offensichtlich als Halbfabrikat in den Boden kam. Diesem Helm, einer Spätform vom Typ Weisenau, fehlen verschiedene Einzelteile, die in weiteren Arbeitsschritten hätten angebracht werden müssen. Die entsprechenden Bohrungen in der Kalotte waren ebenfalls noch nicht vorhanden. Der halbfertige Helm macht deutlich, wie der Herstellungsprozess einer solchen Kopfbedeckung in den römischen Schmieden ablief. Die schwergepanzerten Helme vom Typ Niederbieber entstanden zum Ende des 2. Jahrhunderts und wurden bis zur Einführung neuer, spätrömischer Helmformen etwa um 260 n. Chr. getragen. Es wird angenommen, dass der Niederbieberhelm sowohl bei der Infanterie als auch der Kavallerie Verwendung fand.
=== Brunnen 13 ===
In Brunnen 13, der bereits 203 errichtet wurde und noch 254 in Gebrauch war, fanden sich auf der Sohle in sieben Metern Tiefe unter anderem ein vollständig erhaltener, 40 Zentimeter hoher bronzener Kessel (Durchmesser 70 Zentimeter), zwei Bronzeeimer mit Eisenhenkeln, Kannen, und Pfannen, von denen eine (25 Zentimeter Durchmesser) mit einer sternförmigen Attasche und einem Ring ausgestattet war. Von den Eisenfunden ist eine vollständige Waage mit einem 91 Zentimeter langen Waagebalken und drei verschiedene Messskalen (35, 68, 138 römische Pfund) besonders kostbar.Ein stark diskutierter Gegenstand aus Brunnen 13 ist eine trommelförmige, 14 Zentimeter hohe eiserne Feldflasche (Ampulla). Beim Standring, einem um den Hohlkörper gelegten Metallband, bei der Aufhängung für die Beriemung sowie dem runden Trinkstutzen wurde Bronze verwendet. Die Flasche fasste rund 1,3 Liter. Planck sah in dem Eisenblechbehältnis ein Objekt für duftende Essenzen und stellte fest, dass sie „in römischer Zeit sehr selten ist.“ Der Historiker und Experimentalarchäologe Marcus Junkelmann ordnete, wie Peter Connolly, die eiserne Flasche dem militärischen Gebrauch zu und gab an, dass ähnliche Objekte auch an anderen römischen Lagerplätzen aus dem Boden gekommen sind. Da dieser Teil der Ausrüstung römischer Soldaten unbekannt ist, könnten auch Schläuche, Flaschenkürbisse oder Holzflaschen zur Aufbewahrung der Posca, des im Feld standardmäßigen römischen Militärgetränks, gedient haben.
== Truppe ==
Anhand der geomagnetischen Prospektion konnten die Mannschaftsunterkünfte recht genau bestimmt werden. In jeder Baracke lebte eine Centurie mit rund 80 Mann. Sechs dieser Unterkünfte standen in Buch für eine Kohorte von 480 bis 500 Mann zur Verfügung. Dies entspricht der Mannschaftsstärke einer Cohors quingenaria peditata. In neuerer Zeit nimmt man jedoch an, dass eine Cohors quingenaria equitata, eine Einheit mit rund 756 Mann, davon 128 Reiter in Buch stationiert war. Dabei wird angenommen, dass die großen Baracken in der Retentura teilweise mit Mannschaften und Pferden belegt waren. Durch die mehrmalige Auffindung kavalleristischer Gegenstände und anderer Hinweise wird deutlich, dass die Besatzung eine teilberittene Einheit gewesen sein muss, wie sie vielfach am Rätischen Limes nachgewiesen ist. Es ist indes nicht überliefert, welchen Namen diese Truppe trug.
Der Name eines berittenen Offiziers ist bekannt; ein gewisser Paterclus war Decurio (Rittmeister) einer Turma (Schwadron).
1976 kam im Vicus das Bruchstück eines Militärdiploms aus dem Boden. Erhalten blieben Einzelheiten aus dem Lebenslauf des nach 25 Jahren ehrenvoll aus dem Militärdienst entlassenen Auxiliarsoldaten. Ein römischer Bürger mit dem Beinamen Provincialis vom Stamm der Licatier aus Bayerisch-Schwaben war 137 bis 141 n. Chr. Angehöriger des rätischen Heeres(Exercitus Raeticus)und bekam zwischen 162 und 166 n. Chr. seinen Abschied. Auf dem Fragment fehlt die Nennung der Buchener Einheit und wie Provincialis zu seinem vorzeitigen Bürgerrecht gekommen ist.
== Inschrift ==
Aus Buch stammt eine Statue mit Steininschrift für den Gott Merkur im Limesmuseum Aalen. Erhalten hat sich nur ein ruinöser Sockelbereich. Von der einstigen Statue blieben lediglich die beiden Füße erhalten. Am linken Fuß kann ein liegender Ziegenbock ausgemacht werden.
Text der Inschrift:
[Mer]curio de[o]
signum Iul(ius) [Pe-]
rvincus ex [vo-]
to suscepto v(otum) s(olvit) [l(ibens) l(aetus) m(erito)]Übersetzung:
Dem Gott Merkur. Das Abbild hat Julius Pervincus auf Grund eines Gelübdes gern, freudig und nach Gebühr eingelöst.
== Haustierhaltung und Ernährung ==
=== Tiere ===
Die Tiermedizinerin Veronika Gulde ermittelte anhand von 24.501 zwischen 1975 und 1980 aufgefundenen Tierknochen ein Profil der Haustierhaltung und fleischlichen Ernährung in Buch. Aus dem gesamten Knochenbestand zählte und ermittelte sie, welche Anteile an der Knochenzahl, dem Knochengewicht und an sicher bestimmten Einzeltieren auf bestimmte häufige Haustierarten fallen. In der folgenden Tabelle sind die aus dem Gesamtbestand zahlenmäßig am häufigsten vertretenen Knochen aufgelistet.
Die Tabelle macht deutlich, dass Rindfleisch bei der Ernährung von Soldaten und Zivilbevölkerung eine überragende Bedeutung gespielt hat, obwohl das Fleisch dieses Vielzwecktieres nicht sehr geschätzt war. Doch da es als Arbeitstier und Rohstofflieferant für Leder, Leim und Horn in großen Mengen benötigt wurde und sein Mist für die Düngung Verwendung fand, fielen bei der Schlachtung große Fleischmengen an, die nicht ungenutzt bleiben konnten. Kuhmilch besaß nicht den Stellenwert, den sie heute in der Ernährung hat, obwohl die Römer beispielsweise beliebte Käsespezialitäten herstellten, die weithin verkauft wurden. Außerdem war Käse vielfach im Marschgepäck aber auch bei der allgemeinen Ernährung des Militärs zu finden. Doch für die Käserei bevorzugte die römische Antike die Milch von Schafen und Ziegen. Der Anteil von Kühen, die eine wesentlich geringere Milchleistung erbrachten als heute, ist im Fundgut erheblich niedriger als der von männlichen Tieren. Insgesamt waren die geschlachteten Rinder meist älter als drei Jahre.
In der folgenden Tabelle sind die aus dem Gesamtbestand zahlenmäßig am häufigsten vertretenen Wildtierknochen aufgezählt:
Neben wenigen Knochen von Gans, Ente und Taube konnten etliche Wildvogelarten sowie mindestens 40 Hunde nachgewiesen werden, die eine große Formenvielfalt aufwiesen. Alle wesentlichen Waldsäugetiere, darunter – in sehr geringem Maße – heute verschwundene wie Elch und Braunbär wurden bejagt, einige Arten wie Biber sicher in der Hauptsache aufgrund ihres Pelzes. Große und kleine Hunde hat man als Wach- und Hütehunde sowie für die Jagd geschätzt. In den Kastelldörfern war mit einer nicht unerheblichen Zahl von Streunern zu rechnen. Über den Verzehr von Hundefleisch in der römischen Kultur gibt es keine schriftlichen Überlieferungen. Die Häufung von Hundeknochen in den ärmlicheren Stadtgebieten von Augusta Raurica (Augst/Kaiseraugst) deutet durchaus darauf hin, während in den bürgerlichen Vierteln Hunde sorgfältig bestattet wurden.Im Knochenmaterial von Buch fanden sich auch Reste eines kleineren Wolfes, der vielleicht beim Herumstreunen getötet wurde. Insgesamt machten die Wildtiere jedoch nur 2,3 % der Gesamtknochenmenge aus, wobei der Rothirsch mit 30 % den größten Anteil stellte, gefolgt von Feldhase (19,9 %) und Reh (16,7 %). Der Rothirsch (Cervus) war von allen Wildtieren der einzige wirklich wichtige Fleischlieferant.Einer der bemerkenswertesten Knochenfunde aus Buch war der Oberarmknochen eines Berberaffen. Es gab Überlegungen, das Tier als Maskottchen oder Überbleibsel eines Gauklerbesuchs im Vicus anzusehen.
=== Pflanzen ===
Die an verschiedenen Orten während der Grabungen genommenen Bodenproben gewähren einen guten Einblick in die pflanzliche Ernährung. Von mindestens 152 Pflanzenarten konnten 23 Kultur- und mögliche Nutzpflanzen nachgewiesen werden, darunter die drei Getreidearten Dinkel (Triticum), auch Spelt genannt (Spelta), Emmer (Far) und Gerste (Hordeum). Verschiedene Proben enthielten auch Unkrautsamen. Dinkel war offensichtlich die Hauptgetreideart im süd- und westdeutschen Raum sowie im Britannien der Kaiserzeit. Dort stand sein Anbau schon in einer alten Tradition. Viele Forscher glauben, dass die Römer den Dinkel erst bei ihrem Vormarsch nach Norden kennengelernt hatten. Emmer war, wie bereits Cato der Ältere und Plinius der Ältere berichteten, das klassisch-römische Getreide. Aus Far wurde ein Emmerbrei (Puls) hergestellt, der den Römern ursprünglich zur täglichen Ernährung diente. Erst in der Kaiserzeit wurde der Brei vom Brot als Grundnahrungsmittel aus seiner Spitzenposition verdrängt, behielt aber dennoch eine nicht unwichtige Rolle. Auch für die Herstellung von Opferbroten und -kuchen sowie für das Bestreuen der Opfertiere mit gesalzenem Far wurde Emmer verwendet. Gerste gehörte ebenfalls zu den wichtigsten damaligen Getreidesorten, besonders im Ernährungsplan der Pferde. An den von berittenen Truppen belegten Kastellplätzen wurden daher große Mengen davon in den Horrea gehortet. Für die Zubereitung menschlicher Nahrung mussten die Spelzen der Gerste zumeist durch Kochen weichgemacht werden, sodass das mühsame Entspelzen oder Darren entfiel. Das gekochte Hordeum wurde meist als Gerstenbrei (Polenta), der ursprünglich ein griechisches Nationalgericht war, gegessen. Außerdem wurde er in einigen Provinzen wie Rätien zum Brauen von Bier (Cervisia) verwendet.Die Nutzung von Wildpflanzen wird lediglich vermutet. Die Bucher Bevölkerung ernährte sich auch von kultiviertem und gesammeltem Obst, wie beispielsweise Zwetschgen (Prunum), und Gemüse. Beliebt waren importierte Feigen (Ficus). Daneben pflanzten und sammelten die Menschen unter anderem Feldsalat, Dill (Anethum), Koriander (Coriander od. Coriandrum) und wohl auch Winter-Bohnenkraut (Satureja). Vom Kümmel (Careum) wurde der Samen als Würze und die Wurzel für Speisen verwendet.
== Limesverlauf ab Kastell Buch ==
Nördlich des Kastells Buch verläuft der Limes zwischen den Wachtürmen Wp 12/77 und 12/79 in nordnordöstliche Richtung, passiert unmittelbar hinter dem Wp 12/80 die Jagst und knickt dort nach Osten ein. Diese Richtung behält er bis zum Wp 12/84, bei dem er erneut seinen Verlauf ändert, um im Folgenden bis zum Kastell Halheim bzw. dem Wachturm Wp 12/103 in nordöstliche Richtung zu ziehen. Vom Wp 12/77 (mit 487 m ü. NN) bis zum Wp 12/103 (mit 531 m ü. NN) steigt er insgesamt um rund 44 Höhenmeter an, wobei er in der Jagstsenke mit 438 m ü. NN seine tiefsten und auf der Halheimer Heide bei Wp 12/101 mit 531,2 m ü. NN seinen höchsten Punkt erreicht. Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen er besiedeltes Gebiet durchquert (Dalkingen, Röhlingen, Pfahlheim und Halheim), verläuft er in diesem Abschnitt überwiegend auf landwirtschaftlich genutzten Flächen.
== Denkmalschutz ==
Das Kastell Buch und die erwähnten Bodendenkmale sind als Abschnitt des Obergermanisch-Rätischen Limes seit 2005 Teil des UNESCO-Welterbes. Außerdem sind die Anlagen Kulturdenkmale nach dem Denkmalschutzgesetz des Landes Baden-Württemberg (DSchG). Nachforschungen und gezieltes Sammeln von Funden sind genehmigungspflichtig, Zufallsfunde an die Denkmalbehörden zu melden.
== Siehe auch ==
Liste der Kastelle am Obergermanisch-Raetischen Limes
== Literatur ==
Dietwulf Baatz: Der Römische Limes. Archäologische Ausflüge zwischen Rhein und Donau. 4. Auflage. Gebr. Mann, Berlin 2000, ISBN 3-7861-2347-0, S. 262f.
Stephan Bender: Der Postamentsockel vom Wp 12/81 bei Rainau-Dalkingen. In: Peter Henrich (Hrsg.): Der Limes vom Niederrhein bis an die Donau. 6. Kolloquium der Deutschen Limeskommission (= Beiträge zum Welterbe Limes, 6). Theiss, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8062-2466-5, S. 109–121.
Ernst Fabricius, Felix Hettner, Oscar von Sarwey (Hrsg.): Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches. Abt. A VI: Die Strecken 12 und 13. Petters, Berlin/ Leipzig 1935, S. 76–88 sowie Tafel 1, Tafel 2, Abb. 2 c und d und Kartenbeilage 2.
Bernhard A. Greiner: Rainau-Buch: stadtrömische Lebensart an den Grenzen des Reiches. In: Vera Rupp, Heide Birley (Hrsg.): Landleben im römischen Deutschland. Theiss, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8062-2573-0, S. 86–88.
Bernhard A. Greiner: Rainau-Buch II. Der römische Kastellvicus von Rainau-Buch (Ostalbkreis). Die archäologischen Ausgrabungen von 1976 bis 1979. Theiss, Stuttgart 2008/2010, ISBN 978-3-8062-2244-9. (Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg, Band 106)
Bernhard A. Greiner: Kohortenkastell, Bad und Kastellvicus bei Buch. In: Dieter Planck (Hrsg.): Die Römer in Baden-Württemberg. Römerstätten von Aalen bis Zwiefalten. Theiss, Stuttgart 2005, ISBN 3-8062-1555-3, S. 258–265.
Bernhard A. Greiner: Der Kastellvicus von Rainau-Buch. Siedlungsgeschichte und Korrektur dendrochronologischer Daten. In: Neue Forschungen zur römischen Besiedlung zwischen Oberrhein und Enns. Vorträge des wissenschaftlichen Kolloquiums vom 14. bis 16. Juni 2000 in Rosenheim. Greiner, Remshalden 2003, ISBN 3-935383-09-6, S. 83–89.
Veronika Gulde: Osteologische Untersuchungen an Tierknochen aus dem römischen Vicus von Rainau-Buch (Ostalbkreis). Theiss, Stuttgart 1985, ISBN 3-8062-0744-5.
Ernst von Herzog: Das Kastell Buch. In: Ernst Fabricius, Felix Hettner, Oscar von Sarwey (Hrsg.): Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches. Abt. B VI Nr. 67 (1898).
Dieter Planck: Der Limes zwischen Hüttlingen und Wald „Mahdholz“. In: Ders. (Hrsg.): Die Römer in Baden-Württemberg. Römerstätten von Aalen bis Zwiefalten. Theiss, Stuttgart 2005, ISBN 3-8062-1555-3, S. 258f.
Dieter Planck, Willi Beck: Der Limes in Südwestdeutschland. 2. völlig neubearbeitete Auflage. Theiss, Stuttgart 1987, ISBN 3-8062-0496-9, S. 133–140.
Dieter Planck: Rainau (AA) – Freilichtmuseum am rätischen Limes im Ostalbkreis. In: Philipp Filtzinger (Hrsg.): Die Römer in Baden-Württemberg. 3. Auflage. Theiss, Stuttgart 1986, ISBN 3-8062-0287-7, S. 486–499.
Dieter Planck: Das Freilichtmuseum am Rätischen Limes im Ostalbkreis. Theiss, Stuttgart 1983, ISBN 3-8062-0223-0.
Dieter Planck: Archäologische Ausgrabungen in Rainau. In: Ostalb-Einhorn 9, 1982, S. 156–160.
Dieter Planck: Brunnenfunde aus dem römischen Kastelldorf bei Buch, Gemeinde Rainau, Ostalbkreis. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 8, 1979. S. 115–120.
Dieter Planck: Untersuchungen im römischen Kastellbad Buch, Gemeinde Rainau, Ostalbkreis. In: Archäologische Ausgrabungen 1975. S. 56f.
Hans-Peter Stika: Römerzeitliche Pflanzenreste aus Baden-Württemberg. Theiss, Stuttgart 1996, ISBN 3-8062-1285-6.
Britta Rabold, Egon Schallmayer, Andreas Thiel: Der Limes. Theiss, Stuttgart 2000, ISBN 3-8062-1461-1.
Gabriele Seitz: Rainau Buch I. Steinbauten im römischen Kastellvicus von Rainau-Buch (Ostalbkreis). Theiss, Stuttgart 1999, ISBN 3-8062-1433-6, (Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg, 57)
Gabriele Seitz: Militärdiplomfragmente aus Rainau-Buch und Aalen. In: Fundberichte aus Baden-Württemberg. 7 (1982), S. 317 ff, doi:10.11588/fbbw.1982.0.26770.
Harald von der Osten-Woldenburg: Geomagnetische Prospektion des Kohorten-Kastells Rainau-Buch. Neue Erkenntnisse durch die Geophysik. In: Ellwanger Jahrbuch 34 (1991), S. 147–170.
Harald von der Osten-Woldenburg: Neue geophysikalische Prospektionen im Umfeld des Kohortenkastells Rainau-Buch, Ostalbkreis. In: Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg. Theiss, Stuttgart 2000, ISSN 0724-8954, S. 87–90.
Dieter Planck: Neue Ausgrabungen am Limes (= Kleine Schriften zur Kenntnis der römischen Besetzungsgeschichte Südwestdeutschlands. 12). Gentner, Stuttgart 1975, S. 19 ff.
Dieter Planck: Das Freilichtmuseum Schwabsberg-Buch, Ostalbkreis. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg. 2. Jg. 1973, Heft 3, S. 40–46. (PDF; 10,3 MB)
== Weblinks ==
Karte des Kastells Buch und seiner Umgebung auf: Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) (Hinweise)
Kastell Rainau-Buch; Internetseiten der Deutschen Limeskommission; abgerufen am 28. Oktober 2022.
Topographie des Kastells Rainau-Buch in der archäologischen Datenbank Arachne; abgerufen am 28. Oktober 2022.
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kastell_Buch
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Kastell Klosterneuburg
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= Kastell Klosterneuburg =
Das Kastell Klosterneuburg war ein Militärlager in der römischen Festungskette des Limes Pannonicus. Es gehörte zum westlichen Teil des pannonischen Limes, in dem es wiederum das am weitesten im Westen gelegene Lager war. Seine Reste befinden sich in der heutigen Gemeinde Klosterneuburg im Bezirk Tulln des österreichischen Bundeslandes Niederösterreich. Das Bodendenkmal ist seit 2021 Bestandteil des zum UNESCO-Weltkulturerbe erhobenen Donaulimes.
In seiner Frühzeit diente das Kastell als Kohortenlager der Hilfstruppen (Auxilia) und ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. Stützpunkt einer Reitereinheit. Sein tatsächlicher antiker Name war mangels Quellen bis vor kurzem unbekannt. Das Lagerareal ist heute fast vollständig durch das Stift Klosterneuburg und Wohngebäude der Altstadt überbaut. Die Festungsanlage durchlief mehrere Umbauphasen und wurde vom 1. bis ins späte 5. Jahrhundert genutzt. Aufgabe der Besatzung war es, einen Donauübergang und die Limesstraße von Vindobona nach Lauriacum zu überwachen. Im Umfeld des Kastells wurden noch eine Zivilsiedlung (vicus) und ein Gräberfeld entdeckt.
Im vorliegenden Artikel werden außer dem Kastell auch zwei bei Maria Gugging und bei Greifenstein vermutete Wachtürme behandelt.
== Lage ==
Die Stadt Klosterneuburg befindet sich rund 13 Kilometer westlich der Bundeshauptstadt Wien, am rechten Ufer der Donau, oberhalb des Donaudurchbruches zwischen Leopoldsberg und Bisamberg. Im Norden und Osten wird sie von den Auwäldern der Donau begrenzt. Im Süden und Westen schließen sich die Ausläufer der Berghänge des Wienerwaldes an:
Leopoldsberg,
Kahlenberg,
Buchberg,
Eichberg und
Freiberg.
Das Kastell wurde vor seiner Aufdeckung an den unterschiedlichsten Orten vermutet wie zum Beispiel bei Stockerau, das allerdings am linken Ufer der Donau liegt. Joseph Aschbach und Friedrich von Kenner glaubten, es sei mit Zeiselmauer identisch. Für Maximilian Fischer hingegen erschien die Lage in der Oberstadt für militärische Zwecke und als örtliche Handelsstation für die Stämme jenseits der Donau außerordentlich gut geeignet. Friedrich von Kenner kam schließlich, nicht zuletzt auf Grund der Auffindung eines Militärdiploms aus der Zeit des Kaisers Titus, zur Überzeugung, dass
„…eben am Fundort ein kleines Standlager der cohors I Montanorum sich befand, welches unter dem Oberbefehle des pannonischen Legaten stand“.Da sich die Funde in diesem Bereich immer mehr häuften, nahm für Karl Drexler
„…die Richtung des cardo gegen die heutige Bergstraße zu, während sich der decumanus von dem Hohlweg bei der Gertrudskirche gegen die Hundskehle zu erstreckte“.Auch Eduard Nowotny vermutete es schon immer in der Oberstadt und versuchte 1925 aus dem Katasterplan des Klosters Rückschlüsse auf den Grundriss des Kastells zu ziehen. Für ihn war es unwahrscheinlich, dass sich das Kastell in der Unterstadt befinden sollte. Nowotny steckte daher in der Oberstadt eine Kastellfläche ab, für die er sich jene von Eferding/OÖ als Vorbild nahm:
Nordwestfront: Stiftskellergarten,
Nordostseite: Stiftskirche,
Südostfront: Oberer Hauptplatz bei der Häuserfront im NO,
Südwestseite: Leopoldgasse und Fortsetzung bis zur Hundskehle.Mit diesen Abmessungen kam Nowotny auf eine Fläche von 540 x 640 römische Fuß, die der von Eferding sehr nahekam. Sie entsprach auch jener im bayerischen Weißenburg, dessen Kastell ebenfalls für eine cohors milliaria equitata (1000 Mann starke, teilberittene Einheit) ausgelegt war.
Heute weiß man, dass das Kastell unter dem ältesten Teil der Stadt liegt, dem Klosterareal in der „Oberstadt“, eine Felsterrasse zwischen dem Donauufer und dem Fuße des Buchberges. Diese wird nördlich noch durch den Kierlingbach und südlich durch den Weidlingbach begrenzt. Die einst aus südlicher Richtung von Vindobona heraufkommende Limesstraße durchquerte das Lager nicht, sondern lief direkt am Buchberg vorbei. Anschließend bog sie westlich ins Kierlingtal ab und führte von dort weiter nach Noricum. Im Kierlingtal verlief wahrscheinlich auch die Provinzgrenze zwischen Pannonien und Noricum. Möglicherweise lag sie westlich des heutigen Maria Gugging (siehe weiter unten). Auf Grund der vor Ort gefundenen Ziegelstempel steht fest, dass dieses Kastell zum Verwaltungsbereich der Provinz Pannonien gehörte.
== Name ==
In schriftlichen antiken Quellen gibt es keine präzisen Hinweise auf den antiken Namen Klosterneuburgs.
Auch spätere Untersuchungen konnten die unterschiedlichen Auffassungen über den antiken Namen von Klosterneuburg auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Während hinsichtlich der Zugehörigkeit von Klosterneuburg zur Provinz Pannonien keine Zweifel mehr zu bestehen scheinen, blieb sein römischer Name bis vor kurzem umstritten. Vorgeschlagen werden u. a. die Namen Asturis, Cannabiaca, Quadriburgium oder Arrianis, wobei in jüngster Zeit Arrianis der Vorzug gegeben wird.Versuchte man zunächst noch, das Kastell mit der in der Tabula Peutingeriana erwähnten Poststation Citium (nahe Tulln) gleichzusetzen, identifizierte man seit Theodor Mommsen das antike Klosterneuburg mit Asturis. Dieser Name stammt wahrscheinlich von einer römischen Heeresabteilung, die in der an der spanischen Nordküste gelegenen Region Asturien aufgestellt wurde.
Nachdem auch Wilhelm Kubitschek Klosterneuburg als „angeblich Astura“ verlautbart hatte, war es neben Herma Stiglitz und Hannsjörg Ubl vor allem Eduard Zenker, der sich sehr akribisch mit der Namensfrage des antiken Klosterneuburg auseinandergesetzt hat.
== Forschungsgeschichte ==
=== 18. und 19. Jahrhundert ===
Die ersten Berichte über römische Funde aus Klosterneuburg stammen laut Maximilian Fischer von Benedict Prill. Dieser vermerkte unter anderem, dass 1736 beim Bau des barocken Neustiftes, als man die alte Kanzlei samt ihrem „Briefturm“ abtrug, ein Gefäß mit römischen Silbermünzen aus der Zeit von Gaius Iulius Caesar bis Kaiser Decius entdeckt worden war. Beim Bau der sogenannten Alten Kaserne Anfang des 19. Jahrhunderts wurden erneut Münzfunde gemacht. Auch wurden vermutlich Gräber bei diesen Baumaßnahmen aufgedeckt. Im Jahr 1834 kamen beim Umbau des Stiftshofes drei mit Inschriften versehene Steine zum Vorschein. Nach der Kopie durch Maximilian Fischer wurden sie wieder vermauert. Eine große Anzahl von Funden erbrachte dann wieder der Ausbau des sogenannten ernestinischen Traktes in den Jahren 1834–1842. Hier wurden zahlreiche spätantike Ziegelstempel der OFARN-Gruppe mit der Aufschrift „OFARNVRSICINIMG“ geborgen. Stempel des Magister figlinarum Ursicinus wurden bis in die pannonische Provinz Valeria verschifft und wurden dort nicht nur an dem nie vollendeten Kastell Göd-Bócsaújtelep, sondern auch an Ländeburgi wie Dunakeszi gefunden. Die OFARN-Stempel lassen sich in die Zeit der Herrschaft der Kaiser Constantius II. (337–361) und Valentinian I. (364–375) datieren. Da sich die Stempelabkürzungen AR, ARN bzw. ARAN einstweilen jedoch nicht eindeutig erklären lassen, bleiben die bisherigen Übersetzungsvorschläge spekulativ. Vom selben Areal stammt auch eine Votivara (Weiheinschrift für Götter) des Quintus Attius und eine Tafel mit der Inschrift „Q. Aelii Valentis opus“. Zusätzlich konnten römerzeitliche Mauer- und Ziegelreste beobachtet werden. Einer der interessantesten römischen Funde gelang jedoch am 23. Juli 1838. Aus dem Schutt der Fundamentierungsarbeiten hinter der Hauptapsis der Stiftskirche konnten einige Bronzefragmente ausgelesen werden. Sie wurden von E. Stoy wieder zusammengefügt und entpuppten sich als römische Entlassungsurkunde (Militärdiplom) aus der Zeit des Titus (13. Juni 80 n. Chr.).
=== 20. Jahrhundert ===
Diese immer wieder auftretenden römischen Funde veranlassten vor allem Männer aus dem Kreis der Wiener Altertumsforschung, in Klosterneuburg aktiv zu werden. Hier sind vor allem Friedrich von Kenner, Wilhelm Kubitschek und Emil Polaschek zu nennen. Nach ihren Berichten wurden bei der Erweiterung des Stiftskellers 1904 römische Mauerzüge angeschnitten sowie Ziegel und eine Münze aus der Zeit Valentinians I. geborgen. Angeblich wurden vor 1936 auch einige antike Körper- und Brandgräber aufgefunden, dabei aber zerstört. An Fundobjekten ist sonst noch ein Topfbehältnis aus dem 1. oder 2. nachchristlichen Jahrhundert bekannt.
Ende Mai 1953 wurden auf Initiative des Bundesdenkmalamtes und unter der Leitung Karl Oettingers erstmals wissenschaftliche Grabungen auf dem Kastellareal durchgeführt. Sie hatten ursprünglich nur die nähere Erforschung der Pfalzresidenz der Babenberger und besonders ihrer Palastkapelle (Capella Speciosa) zum Ziel. Nachdem man aber auch auf römische Baureste gestoßen war, wurde auch das Österreichische Archäologische Institut (Herma Stiglitz, Adelheid Schmeller und Rudolf Egger) hinzugezogen. Das Grabungsteam konnte auf dem Stiftsplatz – im Bereich der Capella Speciosa – einen spätantiken Grabbau (Cella memoriae) aufdecken. Innerhalb der Capella befand sich auch ein mehrräumiger Komplex mit drei Rundapsiden (Apsis = halbrunder Vorbau, spätere Interpretation als Balineum/Lagerbad, siehe weiter unten). Südöstlich dieses Gebäudes wurde noch ein „Flachapsidenbau“ mit U-förmigem Grundriss freigelegt, der später von Hannsjörg Ubl als spätantiker „Hufeisenturm“ (aus der Wehrmauer hervorkragender Turm mit gerundeten, frontseitigen Korbbogen, siehe auch weiter unten) aus der Steinperiode II des Lagers gedeutet wurde. Unter diesem befanden sich noch Mauerreste des Vorgängerbaues (ein rechteckiger Zwischenturm). Die beiden Baustrukturen waren offensichtlich auch der dort entlanglaufenden südöstlichen Kastellmauer (Ausrichtung von Nordwest-Südost) angeglichen.
In den 1960er Jahren stieß man auf Teile der V-förmigen Gräben, Reste der Kastellmauer und auch immer wieder auf Bestattungsplätze mit Grabbeigaben.
In der Oberstadt wurde auch das Viertel um die Buchberg-, Raffael-Donner-, Jahn- und Franz-Rumpler-Gasse schon immer als Areal des römerzeitlichen Gräberfeldes von Klosterneuburg vermutet und durch diverse Funde bestätigt. Im Zuge der Untersuchungen in den 1970er Jahren konnte auch der in den Grabungen 1953/54 freigelegte sogenannte Flachapsidenbau im Bereich der Capella Speciosa neu interpretiert und als spätantiker Hufeisenturm, die weiter darunterliegenden quadratischen Mauerreste als sein älterer Vorgängerbau (Innenturm) erkannt werden (siehe unten).In den 1980er Jahren konnten in der Nordwest-Ecke des Kreuzgangs neben einem spätantiken Backofen auch die Reste von Kasernenbauten des ersten Steinlagers (Steinperiode I) nachgewiesen werden. Um interessierten Besuchern des Stiftes die römische Vergangenheit dieses Platzes näherbringen zu können, wurde geplant, die Grabung mit einer Betondecke zu überspannen. Die darunterliegenden Gebäudereste sollten konserviert und die Fundstätte so für jedermann zugänglich gemacht werden. Bei einer 1991 durchgeführten Notgrabung in der Buchberggasse 3b wurden wieder Teile eines römischen Gräberfeldes entdeckt. Nördlich dieses Grundstückes wurde dabei auch ein Rasterquadrat von 14,5 × 11 m abgesucht. In nur 80 cm Tiefe stieß man bereits auf den antiken Horizont. Spurrillen und das Fundmaterial in den seitlichen Wasserabzugsgräben bestätigten das Vorhandensein der südwestlichen Ausfallstraße des Kastells, die vermutlich von dort aus über das „Schwarze Kreuz“ in das Weidlingtal weiterführte.
1994 konnte wieder der Wehrgraben des Kastells angeschnitten werden. In seiner Verfüllung wurden zahlreiche Funde gemacht. Der Wehrgraben war dort 2,5 m tief und 2 m breit. Außerdem konnte in einer Rettungsgrabung des Bundesdenkmalamtes (Hannsjörg Ubl) der „Dreiapsidenbau“ (das Lagerbad) neu vermessen werden. Unter dem Stiftsplatz vermutete Ubl außerdem eine dichte römische Bebauung aus der frühen und mittleren Kaiserzeit. 1998 wurde ein Gebäude in der Leopoldstraße 17 zum Abriss freigegeben. Das Bundesdenkmalamt konnte in einer Humusschicht neben typisch römerzeitlichen Funden wie Keramik und Terra Sigillatascherben, darunter auch das Fragment eines Schuppenpanzers (lateinisch: Lorica squamata) bergen und sicherstellen. 1999 konnte etwa 1,85 m unter dem heutigen Straßenniveau eine zwei Meter breite Steinlage aus Bruchsteinen auf Schotterunterlagen ausgegraben werden. In einer Neuuntersuchung im Jahr 2000 wurde die Steinlage als massiver Unterbau einer Straße identifiziert.
=== 21. Jahrhundert ===
Von 2000 bis 2003 wurden unter anderem die Ausgrabungen am Rathausplatz wieder aufgenommen (Bundesdenkmalamt, Johannes-Wolfgang Neugebauer). In einer Tiefe von 2,6 m schnitt man erneut den schon 1999 beobachteten römischen Straßenzug an. Die fünf Meter breite Pflasterung war beidseitig mit Abzugsgräben begrenzt und einst wohl der Verbindungsweg zwischen dem westlichen Kastelltor und der entlang des Buchbergs vorbeiziehenden Trasse der Limesstraße. In der Antike wurde dieses Gebiet (entspricht der heutigen Markgasse) von einem Bach durchflossen und dabei stark durchfeuchtet, was einen massiven Unterbau für die Straße nötig machte. In der Albrechtsgasse 4–6, dem ehemaligen Schmiedehof des Stiftes (Parz. 192/4), wurde vom Bundesdenkmalamt (Hannsjörg Ubl) ein Suchschnitt angelegt. Ziel war es, die Südmauer des Kastells und auch die Ausdehnung der mittelalterlichen Residenz der Babenberger näher zu erkunden. 2001 wurde im rechten Winkel zu den Stiftsgebäuden ein Suchschnitt bis 4,7 m gegraben. Hier zeigten sich im Profil wieder die beiden Spitzgräben. 2002 wurde die schon von Hannsjörg Ubl (1935–2021) angesetzte Ausgrabung im Schmiedehof auch auf den Dechanteihof ausgeweitet. Dabei konnte eine nach Nordost-Südwest verlaufende Mauer angetroffen werden, die circa einen Meter tiefer auf römerzeitlichen Fundamenten aufsaß. Dieses Bruchsteinmauerwerk mit Kalkmörtelbindung gehörte zu einem Eckturm des ehemaligen Kastells Steinperiode I, der insgesamt zwei Bauphasen aufwies. Spuren des Holz-Erde-Lagers wurden nicht gefunden. Die 90 cm breite südliche Kastellmauer verlief in einem Viertelkreisbogen, die Ecken des Steinkastells waren nach klassischer Manier abgerundet. Der innerhalb der Mauer angesetzte Eckturm hatte einen rechteckigen Grundriss. In späterer Zeit wurde an die Lagerecke ein Fächerturm angebaut, der bis zu seiner Anschlussstelle an der Mauer ergraben werden konnte.
== Entwicklung ==
Leopoldsberg und Simonsberg wurden gegen Ende der Jungsteinzeit besiedelt. Streufunde aus dem Neolithikum deuten darauf hin, dass damals auch im engeren Stadtgebiet (Stiftsplatz, Josef-Brenner-Straße) Siedlungen bestanden. In der Bronzezeit stand auf dem Kumenberg bei St. Andrä, der bis ins Mittelalter bewohnt gewesen sein dürfte, eine Befestigung mit Wall und Gräbern. Siedlungsreste aus der Urnenfelderzeit (1200–700 v. Chr.) wurden im Stiftsbereich (Jungherrengarten), bei St. Gertrud und in der Martinstraße gefunden. Funde aus dem Kierlingtal beweisen, dass dieser Weg damals schon benutzt wurde.
Im 1. Jahrhundert n. Chr. wurde im Bereich der Oberstadt von den Römern ein Grenzkastell errichtet. Seine Besatzung war mit der Sperrung und Überwachung einer wichtigen Durchzugsstraße, die durch das Kierlingtal über den Hadersfelder Berg zum Greifensteiner Sporn verlief, betraut. In weiterer Folge sicherte es auch das westliche Glacis (Vorfeld) von Vindobona, die Limesstraße von Carnuntum nach Lauriacum, zwei wichtigen Legionslagern und einen Donauübergang, der an die vom Oberleiser Berg heraufführende Straße am Nordufer anschloss.
Nach diversen Umbauten im Kastell durch früh- und mittelkaiserzeitliche Einheiten im 1. – 3. Jahrhundert wurde im frühen 4. Jahrhundert die Grenzverteidigung an der Donau neu organisiert. Die Garnisonstruppe in Klosterneuburg zählte nun zu den Grenztruppen, den sogenannten Limitanei oder Ripenses. Die durch Bürgerkriege, germanische Einfälle und Abkommandierungen zu den mobilen Einheiten der Feldarmeen, den Comitatenses, personell immer mehr zusammengeschmolzene Truppe überließ schließlich am Ende des 4. oder Anfang des 5. Jahrhunderts der Zivilbevölkerung den größten Teil des Lagerareals. Dieses wandelte sich dadurch in ein ziviles, befestigtes Dorf (oppidum) um. Die Grabungen von 1953/1954 und 1977 erbrachten reiches Fundmaterial aus spätrömischer Zeit und damit den Nachweis, dass das gesamte Lagerareal zur Zeit der Ankunft Severins noch bewohnt war. Um die Mannschaftslücken in der Armee zu füllen, gestattete man immer mehr Stammesverbänden aus dem Barbaricum (Siedlungsgebiet der freien germanischen Stämme links der Donau), sich als Foederaten (Verbündete) südlich der Donau anzusiedeln, um dort die Grenzverteidigung des Imperiums zu übernehmen. So geschehen auch in Klosterneuburg, wo unter anderem die primitiven Lehmhütten der neuen Siedler (vermutlich Donausueben oder Markomannen) als letzter antiker Fundhorizont nachzuweisen sind. Ein Münzumlauf lässt sich noch bis in die Regierungszeit des weströmischen Kaisers Honorius (395–423) belegen. Die meisten Romanen (Einheimische, die nach römischer Art lebten) Klosterneuburgs wandern vermutlich im Jahr 488 auf Befehl Odoakers nach Italien ab. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts brennen auch die Lehmhütten nieder. Kastell und Stiftsplateau wurden nach Auswertung von Kleinfunden offensichtlich aufgegeben und verlassen. Entgegen früheren Annahmen konnte durch neuere Grabungen keine Siedlungskontinuität festgestellt werden, man fand keine Spuren menschlicher Aktivitäten während des 8. und 9. Jahrhunderts. Eine Wiederbesiedlung in großem Umfang erfolgte nach den bisherigen Erkenntnissen erst wieder im Hochmittelalter, im 10. oder wahrscheinlicher im 11. Jahrhundert. Der Gründer des Stiftes Klosterneuburg, Markgraf Leopold III., fand in den Ruinen des Kastells schon eine Siedlung vor als er beschloss, hier seine Residenz zu errichten. Archäologische Untersuchungen bewiesen, dass beim Bau der Babenbergerburg auch römische Quader verwendet wurden.
== Kastell ==
Die Befestigung erstreckte sich in schmaler, genau rechteckiger Form von Südwest nach Nordost von der heutigen Hundskehle bis an den Abhang zur Donau. Der mittelalterliche Teil des Stifts nahm etwa die Hälfte des römischen Lagerareals ein. Unter Kaiser Valentinian (364–375) wurden die bis dahin meist hölzernen Gebäude des Lagers durch Steinbauten ersetzt. Das Lager hatte abgerundete Ecken und war zusätzlich von einem doppelten Spitzgraben umgeben. Die Umwehrung des Lagers bildet ein mit seinem decumanus (Lagerhauptstraße) nach Nord-Ost-Süd-West lang gezogenes Rechteck auf einer leicht nach Norden zur Donau abfallenden Felsterrasse. Es bedeckte somit eine Fläche von annähernd 2,2 ha. Trotz der archäologisch noch nicht nachgewiesenen Nordfront des Lagers nahm Ubl seine Breite in Süd-Ost-Nord-West-Richtung mit annähernd 110 m an. Die Ausdehnung des Kastells ließ sich bis zur sogenannten Hundskehle (Straßenzug) bestimmen. Seine Ausdehnung konnte aber bis heute nicht exakt für alle Himmelsrichtungen festgestellt werden. Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich aber auch für die Steinlager I/II ein lang gezogener rechteckiger Grundriss in der Größe von circa. 2,2 ha annehmen.
Norden: Unbekannt geblieben ist bis dato der Verlauf der Nordseite des Lagers, wahrscheinlich lag sie parallel zur nördlichen Klostermauer.
Süden: Die südliche Lagerfront vermutete Ubl, im Zusammenhang mit einem schon von Eduard Nowotny dort untersuchten Mauerzug, an der Südwestmauer des Stiftskellers.
Westen: Die Westmauer dürfte exakt an der Abbruchkante des Stiftsplateaus zum Kierlingbach liegen, möglicherweise sind durch Erosion aber keine Reste von ihr mehr erhalten geblieben.
Osten: Die im Kreuzgang und südlich der Sebastianikapelle aufgedeckten römerzeitlichen Mauerstrukturen hatten, laut Ubl, dieselbe Ausrichtung wie die östliche Lagermauer. Ubl folgerte weiter daraus, dass die Achsen des Holz-Erde-Lagers und des Steinlagers I auch den Grundriss des spätantiken Lagers wesentlich mitgeprägt haben.Aufgrund der neuzeitlichen Verbauung und der damit verbundenen kleinräumigen Grabungen fehlt bis heute ein genaues Innenbauschema. Bekannt ist im Wesentlichen die Achsenausrichtung der Gebäude, die auch die mittelalterliche Verbauung bestimmt hat. Gut dokumentiert ist nur das Lagerbad (Saal und Dreikammeranlage mit Wannenapsiden) mit seinen mehreren Umbauphasen. Kasernenbauten wurden unter dem Kreuzgang und unter der Leopoldikapelle erkannt. Geringe Spuren der Innenbebauung konnten auch noch bei der Sebastianikapelle nachgewiesen werden, sie waren jedoch stark durch den mittelalterlichen Friedhof gestört. Im Osten des Areals konnte 1953/1954, etwas westlich vom ehemaligen Palastbau Leopolds VI., ein Eckturm entdeckt werden. Im 19. Jahrhundert beobachtete man etwas nördlich des etwas später aufgedeckten Hufeisenturms einen abgerundeten Mauerzug, der zu einer der Toranlagen (porta principalis dextra) des Kastells gehört haben könnte.
=== Baugeschichte ===
==== Holz-Erde-Periode ====
Im 1. Jahrhundert wurde zunächst ein Holz-Erde Kastell errichtet, dessen genaue Ausmaße allerdings nicht bekannt sind. Jüngste dendrochronologische Untersuchungen bewiesen, dass dies schon in der Mitte des 1. Jahrhunderts geschah. Türme, Tore und Innenbauten wie z. B. Magazine, Kasernen und Verwaltungsbauten waren Holzkonstruktionen mit lehmverputzten Wänden in Fachwerktechnik. Vereinzelte Befunde des Holz-Erde-Lagers des späten ersten Jahrhunderts deuten auf zwei Bauphasen. In dieser zweiten Bauphase wurde es nach der retentura (= rückwärtige Lagerfläche im Gegensatz zu praetentura) hin noch etwas vergrößert. Die Ursache für diesen schmalen, lang gezogenen Lagergrundriss könnte ein wohl Anfang des 2. Jahrhunderts erfolgter Truppenwechsel gewesen sein, nämlich als die cohors quingenaria durch eine cohors milliaria abgelöst wurde. Verfall, Brandkatastrophen oder auch feindliche Angriffe führten immer wieder zu Zerstörungen der Gebäude, die bis zum Jahr 100 n. Chr. mehrfach erneuert oder wieder aufgebaut werden mussten.
==== Steinperiode I ====
Um das Jahr 100 n. Chr. erfolgte auch (wahrscheinlich durch die cohors I Aelia sagittariorum) der Neubau der Kastellmauer in Stein. Ab diesem Zeitpunkt lässt sich auch im Innenbereich eine vermehrte Steinbautätigkeit feststellen, beispielsweise die Errichtung eines Nord-Süd-orientierten Kasernenbaus mit Pfeilerportikus. Die Kasernen erhielten Ziegeldächer. Auch später wurde das Lager immer wieder umgebaut. Diese Modernisierungsmaßnahmen lassen sich nach Ziegelstempelfunden auf das späte 2. und frühe 3. Jahrhundert datieren. Die Steinbauperiode ist auch durch mehrere Bauphasen der Befestigungsanlagen und Innenbauten gekennzeichnet. Kastellinnenbauten des 1. bis 4. Jahrhunderts wurden im Kreuzgang des Stiftes entdeckt, sie wurden teilweise konserviert. Ganz in der Nähe konnte ein Backofen aus dem 4. oder 5. Jahrhundert freigelegt werden. An der Ostflanke konnte, noch im Lagerareal, das Badehaus nachgewiesen werden. Die abgerundete südliche Ecke mit einem innen angesetzten Eckturm wurde östlich der Albrechtsgasse ergraben, dieser wurde später mit einem Fächerturm überbaut. Über die Längsseite des Kastells fehlen bis dato noch nähere Anhaltspunkte. Diese Abmessungen sind auch noch für eine Reihe anderer Auxiliarkastelle nachweisbar. In der Umgebung des Gräberfeldes am Buchberg konnte auch eine weitere Grabenanlage (Spitzgraben) entdeckt werden, die wohl einst ein Marsch- oder Übungslager umgab.
==== Steinperiode II ====
In der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts ist anhand der Verteilung der Ziegelstempel eine weitgestreute Bautätigkeit und im späteren 4. Jahrhundert sind Renovierungsarbeiten dokumentierbar. Dies waren aber noch nicht die letzten Umbauarbeiten im Lager Klosterneuburg. Im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts wurde eine Zisterne angelegt, deren Schacht mit Spolien vom mittelkaiserzeitlichen Gräberfeld am Buchberg (1.–3. Jahrhundert) abgestützt wurde. Aus derselben Zeitperiode konnten auch noch Veränderungen (Fund von zwei zu Torgewänden umgearbeiteten Meilensteinen und eines Altars als Torschwelle bei der Lagermauer im Osten) am östlichen Lagertor festgestellt werden. Um den südöstlichen Hufeisenturm zu umrunden, musste auch der Wehrgraben neu ausgehoben werden. Letzte Bautätigkeiten am Kastell Klosterneuburg lassen sich nach Befund von Ziegeln der sogenannten OFARN-Gruppe für das späte 4. Jahrhundert nachweisen. Danach verfiel die Anlage. Provisorisches Flickwerk in Trockenbautechnik an der Mauer sowie die Errichtung von Behausungen in primitiver Holz-Lehmbauweise im Lagerinneren lassen sich noch bis ins 5. Jahrhundert verfolgen.
=== Türme ===
Der Klosterneuburger Hufeisenturm stammt aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. und ist bislang einzigartig in Oberpannonien. In seiner Bauweise gleicht er stark norischen Exemplaren (vgl. hierzu auch Zwentendorf, Traismauer, Mautern an der Donau und Zeiselmauer). In seinen Abmessungen ist er mit dem „Hungerturm“ von Traismauer vergleichbar. Bei der Mehrzahl dieses Typs war die Breite der Mauer an der abgerundeten Vorderseite (Korbbogen) stärker als an den Seiten und der rückwärtigen Wand, so auch in Klosterneuburg. Der Turm ragte nicht komplett nach außen vor die Mauer, sondern reichte auch noch etwas in das Lagerinnere hinein. Das Klosterneuburger Exemplar weist einen sehr gedrückten Korbbogen auf. So entstanden beidseitig scharfe Eckkanten, die eigentlich durch diese Bauweise vermieden werden sollten. Diese Anomalie findet man sonst nur noch bei zwei Exemplaren in Pannonien vor (Visegrád, Szentendre).
Zusammengefasst handelt es sich hier um einen Zwischenturm mit u-förmiger Vorderfront, zum Teil über einen abgerissenen rechteckigen Zwischenturm errichtet:
Größe 6 × 10,60 m, Verhältnis 1:1, etwa 7,20 m der Lagermauer vorkragend,
Rücksprung circa zwei Meter,
Stärke der Mauer im frontseitigen Teil 1,40 – 1,60 m, zum Lagerinneren hin circa einen Meter,
Stärke der Rückseite 1,10 m, an den anderen Seiten 1,65 – 1,85 m,
Innenmaße 2,70 × 7,70 m.Die Fundamenthöhe liegt zwischen 1,20 m und 1,70 m, da der vordere Teil des Turmes in den älteren Kastellgraben hineingesetzt worden ist. Fundamentvorsprung im vorspringenden Teil außen und innen jeweils 0,10 m. Das aufgehende Mauerwerk (zweischaliges Gussmauerwerk) setzt sich aus quaderähnlichen Bruchsteinen, vermengt mit Ziegeln und ein wenig Mörtel zusammen. Die Blendmauern bestehen aus regelmäßig zugehauenen Quadern mit einer Länge von 0,30 m. Für den Gussmauerkern wurden unbearbeitete Bruchsteine verwendet. An der Rückseite befindet sich die 1,10 m breite Toröffnung mit einer zweiteiligen Schwelle.
Sein Vorgängerbau, ein leicht verzogener, rechteckiger Zwischenturm, datiert auf das frühe 2. Jahrhundert. Seine Ausmaße betragen 4,20 × 4,80 m, das Verhältnis zwischen seiner Breite und Tiefe beträgt 1:1,143. Die Stärke der Front- und Kastellmauer betrug circa 0,80 m, die der restlichen Turmmauern 0,65 m. Das Fundament setzt sich aus drei Lagen von Bruchsteinen zusammen, die unregelmäßig und ohne Mörtel verlegt wurden. Das aufgehende Mauerwerk besteht aus sorgfältig geschichteten Bruchsteinen mit Fugenstrich. In der Süd-West-Ecke des Turmes wurde in der Spätantike der Wall abgerissen und stattdessen anscheinend ein neues Gebäude angelegt.
=== Kastellbad ===
==== Befund ====
Das antike Gebäude wurde unmittelbar hinter der südöstlichen Kastellmauer bei den Grabungskampagnen in den Jahren 1953/1954 auf dem Stiftsplatz von Klosterneuburg entdeckt. Die Anlage (balineum) ist nach Nord-West/Süd-Ost ausgerichtet und teilt sich in drei beheizbare Räume (Gebäude A), daran anschließend im Nord-Osten ein unbeheizbarer Saal (Gebäude B).
Rudolf Egger deutete das Gebäude zunächst als frühchristliche Kirche mit Krypta (Gruft). Es hatte zwei Wannenapsiden, wurde bis in die Spätantike betrieben und (wie die Kasernen) dabei mehrmals umgestaltet. Nach Befund der Ziegelstempel fällt seine letzte Ausbaustufe in das späte 4. Jahrhundert.
Richtung Süd-Ost verbreitert sich A um circa einen Meter, wobei seine südwestliche Außenfront genau im rechten Winkel zur Lagermauer steht. Dieser Umstand könnte auch auf ein sich nicht ganz im Rechten Winkel befindliches Achssystem des Kastells hinweisen. Die Anlage dürfte aber ziemlich sicher als Badegebäude errichtet worden sein. Ungeklärt blieb, warum die Linien der beiden Hauptmauern so stark voneinander abweichen. Es fehlen bislang auch Hinweise auf Wasserzu- und -abflusseinrichtungen. Ein Schlitz an der Schwelle zu Raum III z. B. kann nicht die Öffnung für ein Wasserrohr gewesen sein, da er völlig glatte Wände aufweist. Außerdem gibt es keine Hinweise auf Wasserbecken. Wenn die Anlage tatsächlich als Badehaus verwendet wurde, so kann dies nicht von langer Dauer gewesen sein.
==== Gebäude A ====
Im Warmbadetrakt A befindet sich Raum I, der durch zwei Apsiden erweitert wird. Dieser wurde als Caldarium (Warmbad) erkannt. Vor der seitlichen Apsis liegt das Praefurnium (Heizraum), dies auch deswegen, da ansonsten der Platz für den Durchgang zwischen Lagerumwehrung und Badegebäude nicht mehr ausreichend gewesen wäre. Der daran anschließende Raum II wird als Tepidarium (mäßig warmer Raum) definiert, er wurde von Raum III aus mitbeheizt, dessen Praefurnium an der Nord-West-Seite liegt. Hier war auch der einzige Zugang zum Warmbadetrakt. Als Durchgang zum Kaltbadetrakt ist er eher als Tepidarium anstatt als Sudatorium (Schwitzbad) zu deuten. Dies deckt sich auch durch Vergleich mit anderen Bädern, die ihren Badeablauf reihenförmig organisiert hatten und mit drei (hintereinander angeordneten) warmen Baderäumen ausgestattet waren. Der Zweck der Schlauchheizung im Raum II ist nicht gänzlich geklärt. Möglicherweise wurde sie aufgrund funktioneller Schwierigkeiten in der ursprünglichen Anlage eingebaut. Rudolf Egger vermutet den Einbau nur zum Zweck für die Dauer der Bauarbeiten in Raum II. Als das Lager der Zivilbevölkerung überlassen wurde, ist wahrscheinlich Gebäude A noch durch den Apsidensaal erweitert worden.
==== Gebäude B ====
Gebäude B ist durch deutlich erkennbare Baufugen von Gebäude A separiert und muss erst in späterer Zeit angebaut worden sein. Vor dem Warmbadetrakt ist allerdings ein unbeheizter Bereich vorauszusetzen, in dem das Frigidarium (Kaltbad) und das Apodyterium (Umkleideraum) untergebracht waren. Entweder ist diese Baufuge im Bauablauf begründet, wenn die Warmbaderäume zuerst errichtet wurden, oder es ist noch ein Vorgängerbau für Gebäude B anzunehmen. Hierfür sind aber keine eindeutigen archäologischen Spuren vorhanden. Gebäude B ist aber eindeutig dem Lagerbad zuzurechnen. In der Apsis an der Süd-Ost-Seite ist wohl eine Piscina (Wasserbecken) untergebracht gewesen. Da auch keine Raumunterteilungen erkennbar waren, ist es als Mehrzweckraum zu interpretieren, welcher wohl die Funktionen eines Frigidariums und eines Aufenthaltsraumes in sich vereint hat. B wird in seinem Nordteil durch einen späteren Friedhof gestört. Sollten hier auch keine weiteren Anbauten mehr vorhanden sein, dürfte es auch noch als Apodyterium gedient haben.
==== Baumaterial ====
Die Mauern von A und B sind aus Bruchstein mit zugemischten Ziegelbrocken, circa 0,6 m stark, aufgezogen worden. In dem südwestlichen Teil fanden sich auch einige größere Quadersteine. Außerdem verwendete man für den älteren Bodenbelag von A und den Heizungsöffnungen Ziegel. So auch für die 0,45 m breite Trennmauer zwischen Apsis und Langraum von Gebäude B.
==== Bauphasen ====
Insgesamt konnten zwei Bauphasen bestimmt werden. Von der Zeitspanne her liegen sie nicht sehr weit auseinander. Das ältere Gebäude A wird – nach den dort aufgefundenen Ziegelstempeln zu urteilen – zeitmäßig in die Regierungszeit des Kaiser Valentinian I., oder in die von Kaiser Theodosius I. (379–395) zu setzen sein. Zwar fanden sich auch Dach- und Mauerziegel der frühen Kaiserzeit, doch konnten diese anhand von noch anhaftenden älteren Mörtelresten als eindeutig in Zweitverwendung stehend bestimmt werden. Rudolf Egger vermutet eine Feuerkatastrophe als Ursache des Endes von Phase I, da auch eine starke Brandschicht festgestellt werden konnte.
Die Phase II stimmt nach Art des Materials und Bauausführung fast vollkommen mit Phase I überein. Gebäude A dürfte nach seiner Sanierung fast unverändert weiterbenützt worden sein. Nur seine Böden – abgesehen von dem in der Ost-Apsis und von Raum I – hat man etwas angehoben, wodurch die Öffnungen zw. Raum I und II zugeschüttet wurden. Den Fußboden von A bildete aufgrund einer Holzascheschicht vermutlich ein Bretterbelag. Von den Öffnungen, die zu den Apsiden führten, blieben die Rundbögen der Heizungsanlage aber frei. Phase II ist wahrscheinlich ins frühe 5. Jahrhundert zu datieren, ihr Ende wurde wiederum durch Brand herbeigeführt.
Spätere kleinere Zu- und Umbauten betreffen vor allem die Warmräume. Die drei Heizöffnungen vom Tepidarium (II) ins Caldarium (I) werden nur von Ziegelplatten eingerahmt. Sie scheinen nachträglich eingefügt worden zu sein, da sie nicht – wie noch bei den Heißluftdurchlässen der ersten Bauperiode – als gemauerte Ziegelbögen ausgebildet wurden. Dies wohl auch im Zusammenhang mit dem Einbau des primitiven Schlauchheizungskanals in Raum II, dessen Praefurnium in Raum III liegt. Spätestens mit dem Verfall auch dieser Heizung im 5. Jahrhundert wurde das Gebäude nicht mehr als Badehaus genutzt.
=== Garnison ===
Für Klosterneuburg konnten bislang drei Einheiten der Hilfstruppen (Auxilia) durch Inschriften identifiziert werden. Außerdem lassen sich aufgrund von großen Mengen aufgefundener Ziegelstempel die Anwesenheit von Angehörigen der legio X Gemina im Lager nachweisen. Diese aber wohl nicht als Wachtruppe, sondern in erster Linie als Bauvexillationen und Ziegellieferantin. Im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Identifizierung von Klosterneuburg als Asturis wird auch manchmal versucht, die cohors prima Asturum (die erste Kohorte der Asturer) mit dem Kastell in Verbindung zu bringen. Die einzigen Ziegelstempel, die diese Truppe erwähnen, stammen jedoch aus dem norischen Kastell Zwentendorf. Bis dato waren auch keine Anhaltspunkte für eine Anwesenheit dieser Einheit in Klosterneuburg festzustellen.
== Vicus ==
Der vicus oder Lagerdorf von Klosterneuburg ist heute vollständig durch die Oberstadt überbaut. Von diesem konnten bisher weder dessen genaue Ausdehnung noch größere Gebäudereste bestimmt werden. In diesem Bereich aufgefundene Ziegelstempel lassen aber eine ähnliche Bauentwicklung wie beim Kastell vermuten. Über Bebauungsplan und sein Straßen- und Wegenetz ist bis dato ebenfalls nichts Genaues bekannt. Er umschloss das Kastell wohl bogenförmig von Ost nach West und ragte zumindest im Osten bis fast an den Wehrgraben heran. Flächenmäßig dürfte er somit die Ausmaße der mittelalterlichen Oberstadt erreicht haben. Eventuell streute er im Süden noch etwas gegen den Buchberg hin aus. Die Bevölkerung des Klosterneuburger vicus hat sich in seiner Glanzzeit im Großen und Ganzen wohl eines bescheidenen Wohlstandes erfreut, wie kümmerliche Reste aus den Häusern (Reste von Wandmalerei) und Importkeramik vermuten lassen.
Anzahl und Dichte der im späten 4. und frühen 5. Jahrhundert angelegten Gräber lassen auf eine noch homogene und durchaus lebensfähige Gemeinschaft in dieser Zeitperiode schließen. Ob diese allerdings noch im unbefestigten vicus oder schon hinter den Lagermauern lebte, konnte noch nicht festgestellt werden. Anhand der Funde ist nur erkennbar, dass die spätantike Bevölkerung Klosterneuburgs nicht mehr gänzlich aus Romanen, sondern auch schon stark durch germanischstämmige Neuzuwanderer geprägt war. Diese sind im alten Lagerdorf nicht mehr nachzuweisen. Sie lebten wohl schon alle im verfallenden Kastell selbst. Ihre Gräber sind allerdings noch nicht entdeckt. Wahrscheinlich bestatteten sie ihre Toten direkt im Lagerareal, wo nach alten Berichten immer wieder derartige Bestattungsplätze gefunden worden sein sollen.
== Bevölkerung ==
Über die Zusammensetzung der Bewohner des vicus von Klosterneuburg geben die in den Jahren 1982 bis 1983 aus einer Zisterne im Kuchlhof geborgenen Grabstelen Auskunft. Ihre einheitliche Machart und Material (Wienerwald- oder Greifensteiner Sandstein) lassen auch auf eine direkt hier ansässige Steinmetzwerkstatt schließen. Deren Inschriften und die darauf abgebildeten Porträts der Verstorbenen zeigen, dass hier zwischen Militärangehörigen (gleichgültig ob aktiv oder schon entlassen) und Zivilisten unterschieden wurde. Beide Gruppen lassen sich anhand der Namen gut voneinander abtrennen, da für die von indigenen (einheimischen) Stämmen abstammenden Dorfleute die typischen römischen Vor- und Familiennamen fehlen.
Zwei dieser Inschriftensteine gestatten auch einen Einblick in zwei Familien des Klosterneuburger vicus. Auf der Stele des Ulpius Avitus z. B. ist der Verstorbene mitsamt seiner Familie abgebildet. Neben dem Familienoberhaupt, einem Veteranen der cohors I Aelia Sagittarorium, der mit seinem Militärmantel (sagum) dargestellt wird, steht seine Frau in einheimischer Tracht, dazwischen ihre drei Kinder, ein Knabe und zwei Mädchen, links außen eine junge Frau, wohl die einzige Überlebende, die später auch den Grabstein anfertigen ließ. Außerdem werden ihre Namen genannt. Die Eltern, allen voran der Vater Ulpius Avitus, 75 Jahre, die Mutter Victorina, 40 Jahre, der Bruder Emeritus, acht Jahre, seine Schwestern Avita, zehn Jahre, und Superia, acht Jahre. Sie alle wurden im Auftrag der ältesten Tochter Victoria (deren Alter nicht genannt wird) begraben.
Der zweite Inschriftenstein einer weiteren Veteranenfamilie dürfte 50–70 Jahre später aufgestellt worden sein. Auf ihm werden allerdings keine kleinen Kinder erwähnt. Er dürfte auf das frühe 3. Jahrhundert zu datieren sein. Die auf ihm genannten Personen (die Mutter Crescentina, 50 Jahre, und deren beide Söhne Karinus und Crescens) tragen alle denselben Familiennamen, Septimius bzw. Septimia. Der Gedenkstein wurde wohl erst längere Zeit nach deren Tod gestiftet, vielleicht weil der Auftraggeber Septimius Karus, der Bruder der beiden Verstorbenen, erst den dafür nötigen Geldbetrag auftreiben musste. Außerdem war das Grab auch für seine Frau Victorina, den Vater Genialis und für die beiden Schwestern Quaetilla und Presentina vorgesehen.
== Gräberfelder ==
Die Gräberfelder lagen am Fuße des Buchberges, direkt neben den Ausfallstraßen und entsprachen somit der römischen Gesetzgebung, die anordnete, dass die Gräber außerhalb des bebauten Gebietes anzulegen waren. Bei der Grablege scheint es zwischen Militär- und Zivilpersonen keine klar erkennbare Trennung gegeben zu haben. Die ersten Brandbestattungen wurden direkt an der sich am Hang des Buchberges bis ins Kierlingtal hinziehenden Limesstraße (heute in etwa die Linie Buchbergasse–Babenbergergasse) angelegt. Hier verlief in der Antike wohl auch die Stichstraße zum Lagertor. Zentrum des frühkaiserzeitlichen Gräberfeldes dürfte der Bereich zwischen Raphael-Donner-Gasse und Gymnasium gewesen sein. Von hier müssen auch die Grabsteine des Kuchlhofes (siehe weiter oben) herstammen. Die Ausdehnung nach Westen ist noch nicht erfasst. Eine horizontale Stratigraphie von Westen nach Osten lässt sich aber feststellen. Während der systematischen Ausgrabungen von 1983/84 wurde man auf diese kaiserzeitlichen Brandbestattungen aufmerksam, die aber auch manchmal von spätantiken Gräbern überschnitten wurden. Mehrfach wurden auch Pferdebestattungen dokumentiert. Ab dem späten 3. Jahrhundert wurden die Toten in Klosterneuburg unverbrannt in simplen Grabgruben, Ziegel- oder Steinkisten mit deren Grabbeigaben bestattet. Im Südosten des Kastells, vom Buchberg abfallend, lag ein spätantikes Gräberfeld, dessen Süd-Ost-Grenze im Bereich des Evangelischen Pfarrhofes zu suchen ist. In der Spätantike wurden wohl auch im Lagerinneren selbst Gräber angelegt.
== Limesverlauf zwischen Kastell Klosterneuburg und Legionslager Vindobona ==
== Denkmalschutz und Fundverbleib ==
Auf dem Klosterplateau selbst sind keine Überreste des Kastells sichtbar. 1954 wurden die Mauerreste des Lagerbades stabilisiert, danach aber wieder zugeschüttet, einzig ein kleiner Grabungsschnitt im Norden des Kreuzganges wurde 1997 konserviert. Er zeigt Mauerzüge vom 1. bis ins 14. Jahrhundert. Am Stiftsplatz sind die Grundmauern der babenbergischen Capella Speciosa vor wenigen Jahren offengelegt und zu einem kleinen Schaugelände umgestaltet worden. Im Kuchlhof wurde eine römerzeitliche Zisterne zwar nicht zugeschüttet, aber abgedeckt. Ein römischer Inschriftenstein befindet sich im evangelischen Pfarramt, der andere in einem Haus in der Agnesstraße. Römische Funde und Inschriften sind gegen Voranmeldung im Stiftslapidarium zu besichtigen, andere Funde – vor allem die aus dem Vicus – werden im Stadtmuseum aufbewahrt und können nur nach Voranmeldung besichtigt werden.
Die Anlagen sind Bodendenkmäler im Sinne des österreichischen Denkmalschutzgesetzes. Nachforschungen und gezieltes Sammeln von Funden ohne Genehmigung des Bundesdenkmalamtes stellen eine strafbare Handlung dar. Zufällige Funde archäologischer Objekte (Keramik, Metall, Knochen etc.) sowie alle in den Boden eingreifenden Maßnahmen sind dem Bundesdenkmalamt (Abteilung für Bodendenkmale) zu melden.
== Siehe auch ==
Liste der Kastelle in Noricum und Oberpannonien
== Literatur ==
Alfred Schmeller: Die Ausgrabungen in Klosterneuburg. In: Hermann Fillitz (Red.): Beiträge zur Kunstgeschichte und Archäologie des Frühmittelalters. Akten zum VII. Internationalen Kongreß für Frühmittelalterforschung, 21.– 28. September 1958. Böhlau, Graz u. a. 1962, S. 291–324 (Anm.: der südliche U-Turm wird hier noch als „Flachabsidenbau“ bezeichnet).
Rudolf Egger: Die Anlage im Nordwesten der Capella Speziosa. In: Hermann Fillitz (Red.): Beiträge zur Kunstgeschichte und Archäologie des Frühmittelalters. Akten zum VII. Internationalen Kongreß für Frühmittelalterforschung, 21.– 28. September 1958. Böhlau, Graz u. a. 1962, S. 325–326.
Herwig Friesinger, Fritz Krinzinger: Der römische Limes in Österreich. Führer zu den archäologischen Denkmälern. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1997, ISBN 3-7001-2618-2, S. 236–240.
Kurt Genser: Die Entwicklung des römischen Limes an der Donau in Österreich, Salzburg 1975, S. 74–84.
Kurt Genser: Der österreichische Limes in der Römerzeit. Ein Forschungsbericht (unpublizierte Dissertation) Salzburg 1982, Teil II, S. 1113–1203.
Kurt Genser: Der österreichische Donaulimes in der Römerzeit. Ein Forschungsbericht (= Der römische Limes in Österreich 33). Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1986, ISBN 3-7001-0783-8, S. 402–423.
Hannsjörg Ubl: Neues zum römischen und babenbergischen Klosterneuburg. In: Jahrbuch Stift Klosterneuburg N. F. 11, 1979, S. 99–125.
Manfred Kandler, Hermann Vetters (Hrsg.): Der römische Limes in Österreich. Wien 1989, S. 166–173.
Wolfgang Pietsch: Eine Typologie der Lager- und Kastelltürme am norischen und pannonischen Limes, unpublizierte Diplomarbeit, Wien 1993, S. 180.
Hannsjörg Ubl: Das römische Klosterneuburg. In: Floridus Röhrig, Gustav Otruba, Michael Duscher u. a.: Klosterneuburg. Geschichte und Kultur. Band 1. Klosterneuburg/Wien 1992, S. 39–120.
Gudrun Wlach: Römische Badeanlagen in Österreich (unpublizierte Dissertation, Wien 1986), S. 158–164.
Österreichisches Bundesdenkmalamt: Fundberichte aus Österreich. Bände von 1958 bis 2003,
Reinhard Pohanka: Das römische Wien (= Geschichte Wiens Band 1). Pichler Verlag, Wien 1997, ISBN 3-85058-145-4.
Roman Igl: Klosterneuburg. Auxiliarkastell – vicus. In: Verena Gassner/Andreas Pülz (Hrsg.): Der römische Limes in Österreich. Führer zu den archäologischen Denkmälern, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2015, ISBN 978-3-7001-7787-6, S. 239–241.
== Weblinks ==
Lage Kastells auf Vici.org
Lage der Turmstelle St. Jakob-Heiligenstadt, Wien auf Vici.org
Lage der Turmstelle Oberdöbling, Wien auf Vici.org
Der römische Limes in Österreich
Stadtmuseum Klosterneuburg
Stift Klosterneuburg
Trailer „Der Römische Limes im Tullnerfeld“ auf YouTube
Österr. Städteatlas Geschichte der Stadt Klosterneuburg
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kastell_Klosterneuburg
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Hungersnot in Zentralkenia 1899
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= Hungersnot in Zentralkenia 1899 =
Die Hungersnot in Zentralkenia 1899 ist als eine verheerende Katastrophe in die Geschichte Kenias eingegangen. Sie breitete sich ab 1898 rasch in der Zentralregion des Landes um den Mount Kenya aus, nachdem es über mehrere aufeinanderfolgende Jahre hinweg nur geringe Niederschläge gegeben hatte. Heuschreckenplagen, Viehkrankheiten, die die Rinderbestände dezimierten, sowie der wachsende Lebensmittelbedarf durchreisender Karawanen von britischen, swahilischen und arabischen Händlern trugen ebenfalls zur Nahrungsknappheit bei. Mit der Hungersnot ging zudem eine Pockenepidemie einher, die ganze Landstriche entvölkerte.
Die Zahl der Opfer ist unbekannt, Schätzungen der wenigen europäischen Beobachter bewegten sich zwischen 50 und 90 Prozent der Bevölkerung. Betroffen waren alle in diesen Regionen lebenden Menschen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß.
Da die Hungersnot zeitlich mit der Etablierung der britischen Kolonialherrschaft zusammenfiel, sahen die Bewohner des zentralen Kenia sie nicht als Folge von natürlichen Ursachen. Sie verstanden sie vielmehr als Zeichen einer universellen Krise, die das Gleichgewicht zwischen Gott und der Gesellschaft störte und die sich ebenso in der Kolonialherrschaft manifestierte.
Die Hungersnot hatte eine soziale Neustrukturierung in der Region zur Folge. Sie erleichterte es der britischen Kolonialmacht und den europäischen Missionsgesellschaften, sich in Kenia zu etablieren, trug zur Ethnisierung bei und verursachte ein jahrzehntelanges kollektives Trauma in der Bevölkerung.
== Zentralkenia am Ende des 19. Jahrhunderts ==
=== Soziale Organisation ===
Zentralkenia war bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wegen seiner fruchtbaren Böden und des besonders im Hochland niederschlagsreichen Klimas eine dicht besiedelte Region. Neben dem Gebiet um den Victoriasee war es, mit (nach allerdings ungenauen Schätzungen) etwa einer Million Menschen, die bevölkerungsreichste Gegend Britisch-Ostafrikas. Während in dem hochgelegenen Gebiet zwischen dem Mount Kenya und den Ngong-Bergen vor allem Gemeinschaften der Kikuyu, Embu, Meru, Mbeere und Ogiek lebten, war die tiefer liegende und in die halbtrockene Steppe übergehende Region östlich davon vor allem von kambasprachigen Gruppen bewohnt. Südlich der Ngong-Berge und westlich der Nyandarua-Berge siedelten ebenfalls Kikuyu, Ogiek und Massai. Lebensgrundlage war im fruchtbaren Hochland in erster Linie der Ackerbau und in den kargen Steppen vor allem Rinderhaltung.
Anders als im 20. Jahrhundert auf Karten häufig dargestellt, lebten diese Gruppen nicht in fest voneinander abgegrenzten Territorien. Sie waren im Gegenteil kulturell und sozial eng miteinander verflochten. Ihre Sprachen waren – bis auf die nilotische Sprache Maa – Bantusprachen und daher eng miteinander verwandt. Neben der Sprache verband die Angehörigen der jeweils gleichen Sprachgruppe jedoch wenig, sie waren nicht durch eine gemeinsame politische Autorität und nur selten durch gemeinsame Rituale verbunden. Eine ethnische Identität, wie sie heute bekannt ist, war nicht ausgeprägt. Die Zugehörigkeit zu den Massai etwa konnte sich durch Umzug oder durch den Wechsel der Lebensgrundlage, z. B. von der Rinderzucht zum Ackerbau, ändern.
Die Menschen lebten vielmehr in kleinen Gemeinschaften, in Clans, Familien- oder Dorfverbänden organisiert. Solche Gruppen konnten sich auch aus Menschen mit unterschiedlicher sprachlicher Herkunft bilden. Oft entstanden sie um einen Patron, ein einflussreiches Familienoberhaupt, der es verstand, Menschen an sich zu binden, indem er ihnen Schutz in der Gemeinschaft bot. Meist identifizierten sich diese Gemeinschaften durch die Region, in der sie lebten, über den Gründer ihrer Gemeinschaft als gemeinsamen, auch erfundenen, Ahnen oder über ihre Lebensweise als Ackerbauern, Jäger oder Viehzüchter. Feindseligkeiten zwischen verschiedenen Einheiten derselben Sprachgruppe kamen ebenso häufig vor wie zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen.
=== Regionaler Austausch und Kontakt ===
Dennoch standen diese kleinen Gemeinschaften über sprachliche Grenzen hinweg in regem Kontakt. Sie heirateten häufig untereinander, trieben lebhaften Handel und beeinflussten gegenseitig ihre Lebensweise, besonders in Gebieten, in denen sie als Nachbarn zusammenlebten. Dieser Kontakt war überlebensnotwendig. Das ertragreiche Hochland fungierte als Kornkammer der gesamten Region. Waren einzelne Gebiete durch Dürren von Nahrungsmangel bedroht, unternahmen die Menschen Handelsreisen ins Hochland und tauschten Ziegen, Schafe und Rinder, Pfeilgifte und Tabak, Werkzeuge oder Waffen, Metalle, Salz und Heilkräuter, Honig oder auch ihre Arbeitskraft gegen Lebensmittel wie Hirse und Yams, Bohnen, Mais und Bananen. In Notzeiten kam es auch vor, dass ganze Familien ins Hochland auswanderten, dort auf dem Land eines wohlhabenden Bauern lebten und arbeiteten und so die Notzeit überstanden.
Daneben pflegten einzelne Regionen im Süden dieses Gebietes einen regen Kontakt mit den großen Karawanen, die von der ostafrikanischen Küste ins Inland zogen, um Elfenbein aufzukaufen. In Zentralkenia entstand eine Reihe von Handelsknotenpunkten, wo Zwischenhändler Lebensmittel von der lokalen Bevölkerung erwarben und an die großen Karawanen als Proviant für die Weiterreise verkauften.
=== Mangelnder Regen, Rinderpest und Heuschreckenplagen ===
Für weite Teile Ostafrikas waren die 1880er und 1890er Jahre eine Zeit unregelmäßigen und mangelhaften Niederschlags. Ursache der Trockenheit in Zentralkenia war letztlich ein starkes Auftreten des Klimaphänomens La Niña im Jahre 1898. Dieses Ereignis sowie ein sehr starkes Auftreten von El Niño 1896 und ein erneuter El Niño 1899 führten auch in anderen Teilen Afrikas zu Dürre und Hunger. In Zentralkenia kamen weitere belastende Faktoren hinzu. So vernichteten Heuschreckenschwärme in der 1890er Jahre die durch den fehlenden Regen bereits unzureichenden Ernten in den kargen ebenso wie in den fruchtbaren Gebieten.
Darüber hinaus hatte eine Rinderpest-Epizootie schon 1891 große Teile der Rinderbestände vernichtet. Diese ursprünglich aus Asien stammende Tierseuche war 1887 von italienischen Truppen mit indischen Rindern nach Äthiopien eingeschleppt worden und verbreitete sich von dort nach Ostafrika und schließlich bis in das südliche Afrika, wo es keine Immunität gegen die Krankheit gab. Rinderbesitzer in Kenia verloren bis zu 90 Prozent ihrer Viehbestände. In der gesamten Region hatte der Verlust der Rinder tiefgreifende Folgen. Ihr Fleisch wurde äußerst selten verzehrt. Sie galten als Prestigeobjekt und waren ein wertvolles Zahlungsmittel für den Brautpreis und für den Kauf von Lebensmitteln aus fruchtbaren Regionen. Besonders in pastoralen Gesellschaften fiel mit dem Verlust der Rinder für Kinder und junge Erwachsene ein wichtiger Nahrungsbestandteil weg, denn diese ernährten sich zum großen Teil von einem mit Kräutern versetzten Milch-Blut-Gemisch, das man aus Milch und dem aus der Halsschlagader des Rindes abgezapften Blut gewann.Unter den Auswirkungen hatten insbesondere die Massai zu leiden, in deren Gesellschaft die Rinderzucht ein zentrales Element war. Nachdem ihre wirtschaftliche Grundlage zerstört war, starben Tausende, ganze Gemeinschaften lösten sich auf. Überlebende suchten vor allem bei den benachbarten Kikuyu Zuflucht. Feindseligkeiten und die Anwendung von Gewalt nahmen in diesem Zeitraum drastisch zu. Die Rinderpest machte aus den stolzen und gefürchteten Massai Bettler, und sie versuchten, den sozialen Abstieg aufzuhalten, indem die Krieger in großem Stil Rinder und Frauen von umliegenden Gesellschaften raubten, um Haushalte neu aufzubauen.
=== Die Vorboten der Kolonialmacht ===
An den Katastrophen hatten die ersten Versuche der britischen Kolonialmacht, in Kenia Fuß zu fassen, einen nicht unbeträchtlichen Anteil. Ab 1889 errichtete die Imperial British East Africa Company eine Reihe von Verwaltungsposten entlang des bestehenden Handelsweges von der Hafenstadt Mombasa zum Victoriasee (der deutsche Einfluss endete 1890 mit der Übergabe Witus). Ihre Aufgabe bestand darin, die großen Handelskarawanen der Company, die bis zu tausend Personen umfassten, mit Nahrungsmitteln für die Weiterreise zu versorgen. Hierzu wurden große Mengen an Lebensmitteln bei der ansässigen Bevölkerung aufgekauft, mitunter ihr auch geraubt. Der Karawanenverkehr begünstigte zudem die Ausbreitung von bisher unbekannten Krankheiten wie der Rinderpest.
Der Einfluss der Briten blieb zunächst jedoch gering und beschränkte sich auf die wenigen Stationen und einen kleinen Umkreis. Erst durch den Eisenbahnbau änderte sich das. Nachdem Großbritannien 1895 die Verwaltung Britisch-Ostafrikas übernommen hatte, begann 1896 der Bau der Uganda-Bahn, die Mombasa mit Uganda verbinden sollte. Je weiter die fertiggestellte Strecke vorrückte, desto leichter wurde es für Europäer, das Inland zu erreichen. 1899 hatte die Bahnstrecke das 1896 als Depot für Baumaterial entstandene Nairobi und damit das südliche Kikuyugebiet im zentralen Kenia erreicht. Die Zahl der Europäer im Land änderte sich damit sprunghaft; Siedler und Verwaltungsbeamte, Missionare, Abenteurer, Geschäftsleute und Wissenschaftler reisten an.
Für die Afrikaner hatte der Eisenbahnbau noch eine weitere Dimension. Seit Beginn des Bahnbaus 1896 lockte er zahlreiche afrikanische Arbeiter auf die riesigen Baustellen. Sie verdingten sich hier als Arbeitskräfte, um mit dem Verdienst begehrte europäische Handelsgüter wie Baumwollstoffe und Kleidung, Tabaksdosen, Feuerwaffen oder Perlen erwerben zu können. Die meisten Bahnarbeiter waren indische Vertragsarbeiter, doch auch Afrikaner aus ganz Ostafrika arbeiteten hier. Viele von ihnen kamen aus dem zentralen Kenia. Diese, vor allem männlichen, Arbeitskräfte fehlten in der Landwirtschaft, was die Ernteerträge zusätzlich verringerte.
== Der Große Hunger ==
Als sich die Große Hungersnot, wie sie im Nachhinein genannt wurde, Ende der 1890er Jahre ausbreitete, waren davon alle Einwohner Kenias betroffen, die zwischen dem Mount Kenya und dem Kilimandscharo lebten. In den tiefer gelegenen östlichen Regionen waren schon Ende des Jahres 1897 die Ernten selbst in jenen Gebieten, die gewöhnlich Lebensmittelüberschüsse erzeugten, gering. Das Jahr 1898 begann mit weiteren trockenen Monaten und der Hunger griff auf südlich gelegene Regionen über. Eine Heuschreckenplage und ein erneuter Ausbruch der Rinderpest, der wiederum um die 30 Prozent der Rinderbestände vernichtete, verstärkten die Auswirkungen des unzureichenden Niederschlags. Bereits Mitte des Jahres 1898 starben viele Menschen vor Hunger. Der Regen in jenem Jahr kam spät und fiel erneut in geringeren Mengen als gewohnt. Jetzt vertrockneten schließlich auch die Ernten östlich des Hochlandes und im südlichen Kikuyugebiet auf den Feldern.
Der Nahrungsmangel hatte sich in Zentralkenia Mitte 1898 jedoch noch nicht vollständig ausgebreitet. Im Gegenteil verkauften Händler weiterhin Lebensmittelvorräte aus dem Hochland an durchziehende Karawanen oder an Zwischenhändler, um begehrte Waren wie Kleidung, Perlen, Waffen oder Kupfer- und Messingdraht (aus dem Schmuck gefertigt wurde) zu erwerben. Offenbar ging man davon aus, dass Nahrungsmittel nur punktuell unter den weniger wohlhabenden Menschen knapp waren und im Notfall durch den Handel aus dem zentralen Hochland weiterhin zu beschaffen seien. So berichtete der britische Missionar Harry Leakey von der Missionsstation Kabete in der Nähe von Nairobi: „Die Schrecken (der Hungersnot) wurden außerordentlich durch die Tatsache vermehrt, dass zu dieser Zeit eine riesige Karawane mit nubischen Truppen durch das Kikuyugebiet marschierte. Die Agenten des Lebensmittelzulieferers kauften große Mengen Getreide auf, und der Erlös in Messingdraht, Baumwollstoffen und Perlen erschien den unglücklichen Verkäufern luxuriös. Tatsächlich bedeutete er Unheil, denn als endlich nach zwei, wenn nicht drei vergeblichen Aussaaten genügend Regen kam, um etwas wachsen zu lassen, war kaum noch Saatgut in den Getreidespeichern.“Ob der Handel mit Lebensmitteln tatsächlich eine Ursache für die Nahrungsknappheit war, ist dennoch umstritten. Die Anthropologin Kershaw wies darauf hin, dass auch Gegenden, die keinen Handel mit den großen Karawanen betrieben, vom Hunger betroffen waren. Der Historiker Ambler beschreibt den Verlauf der Hungersnot als eine sich verschiebende Grenze, die sich mit den Flüchtlingen bewegte: Sobald die Hungermigranten in ein Gebiet einwanderten, das vom Hunger noch nicht betroffen war, entwickelte sich dort eine Lebensmittelknappheit. Diese produzierte weitere Flüchtlinge, die wiederum in neue Gebiete auswichen und auch dort für Nahrungsmangel sorgten.Das regenreiche Hochland zwischen dem Mount Kenya und den Nyandarua-Bergen blieb vom Hunger verschont. Hier fielen die Ernten zwar ebenfalls kleiner aus, doch es wurden weiterhin Lebensmittelüberschüsse produziert, die für Flüchtlinge aus den Hungergebieten das Überleben bedeuteten.
1898 näherte sich der Bahnbau dem Kamba-Gebiet und dem Hochland. Für die Ernährung der Bauarbeiter – auf manchen Baustellen bis zu 4000 Personen – wurden weitere große Mengen von Ziegen und Schafen, Bohnen, Mais und Getreide aus der Umgebung aufgekauft. Nachdem bereits zuvor viele Männer zu den entfernt liegenden Baustellen als Arbeiter gezogen waren, vergrößerte sich die Zahl der Lohnarbeiter auch unter Frauen noch deutlich, als die Baustellen in die nähere Umgebung rückten. Auch im wachsenden Karawanenverkehr arbeiten viele Männer als Träger, sodass zunehmend Arbeitskräfte in der Landwirtschaft fehlten. Durch die anhaltende Dürre waren die zu Hause Verbliebenen oft zu geschwächt, um zusätzliche Maßnahmen gegen den Hunger zu ergreifen.
Zu Beginn des Jahres 1899 hatte die Hungersnot einen Höhepunkt erreicht. Sie wurde nicht allein von einer Pockenepidemie begleitet, sondern auch vom Auftauchen des Sandflohs, der bis dato in Zentralkenia unbekannt war und sich schnell ausbreitete. Für die entkräfteten Menschen, denen der Umgang mit Sandflöhen nicht vertraut war, endete der Befall durch das Insekt, das sich durch die Haut ins Fleisch fraß, oft mit verkrüppelten Gliedmaßen, manchmal gar mit dem Tod.
=== Überlebensstrategien ===
==== Handel und Jagd ====
Angesichts der verdorrenden Ernten auf den Feldern und der schwindenden Vorräte war das wichtigste Mittel zum Überleben Vieh, insbesondere Rinder. Deren Milch und Blut verschaffte ohne Verzug und Mühe Nahrung. Wichtiger noch war, dass Rinder wegen ihres Wertes als Prestigeobjekte für Nahrungsmittel aus dem Hochland verkauft werden konnten. In der Not wurden Heiraten für ungültig erklärt, um Vieh, das als Brautpreis entrichtet worden war, zurückfordern zu können. In anderen Fällen wurden Mädchen überstürzt verheiratet, um Vieh in den Haushalt einzuführen. Trotz des großen Hungers wurde allerdings selten Vieh wegen des Fleischertrages geschlachtet, es war das Kapital einer Familie und wurde eher als Währung denn als Nahrungsmittel behandelt.
Handelsreisen ins Hochland, um dort Lebensmittel zu beschaffen, waren jedoch riskant. Sie dauerten mehrere Tage, für die Verpflegung notwendig war, und es mussten reißende Flüsse überquert werden. Vielerorts trieben Räuberbanden ihr Unwesen, die Reisende überfielen und ihrer Waren beraubten. Oft erreichten die vom Hunger geschwächten Reisenden ihr Ziel nicht und starben unterwegs.
Arme Familien, die über wenig oder kein Vieh verfügten, litten zuerst und am meisten unter dem Hunger und mussten täglich neu um das Überleben kämpfen. Viele der sonst Landwirtschaft betreibenden Familien wichen auf die Jagd als Nahrungsquelle aus und fingen mit Fallen Gazellen und Eidechsen, die sich in der Nähe der Wohnstätten aufhielten. Einzelne Männer taten sich in Gruppen zusammen und gingen gemeinsam auf die gefährliche Jagd nach Großwild wie Kaffernbüffel oder Elefanten – eine Überlebensform, die gemeinhin in Zentralkenia verachtet wurde. Frauen mit Kindern, Schwache und Alte, die zu Hause bleiben mussten, lebten von Wurzeln und Gräsern, wilden Früchten und Blättern. Man griff zu verzweifelten Maßnahmen, sich zu ernähren. Kleidungsstücke aus Leder und Kalebassen wurden tagelang weichgekocht, um sie essbar zu machen, und Holzkohle wurde zu Mehl verarbeitet.
==== Migration ====
Da es im regenreichen zentralen Hochland, im nördlichen Kikuyugebiet und rings um den Mount Kenya, keinen Nahrungsmangel gab, wanderten Tausende aus den benachbarten Regionen in dieses Gebiet. Viele starben bereits auf dem Weg oder kurz nach ihrer Ankunft. Die Überlebenden versuchten, als Arbeiter auf den Feldern in den weiterhin fruchtbaren Gebieten die Hungerszeit zu überdauern.
Eine entscheidende Überlebensstrategie war die Verpfändung von Frauen und Mädchen. Indem hungernde Familien ihre weiblichen Mitglieder an einen anderen Haushalt verpfändeten, der über Nahrung verfügte, waren sowohl die Männer, die dafür Lebensmittel erhielten, als auch die Frauen und Mädchen, die in gut versorgte Familien wechselten, gerettet. Trotz des unter Umständen äußerst traumatischen Erlebnisses für die beteiligten Frauen, die oft nicht nur ihre Familie, sondern auch ihr vertrautes kulturelles und sprachliches Umfeld verlassen mussten, war diese Methode sehr verbreitet. Tausende von Frauen und Mädchen, vor allem aus Massai- und Kamba-Gemeinschaften, wechselten zwischen 1898 und 1900 in zumeist kikuyusprachige Familienverbände über, die im zentralen und fruchtbaren Hochland lebten. Viele Frauen zogen auch in Eigeninitiative auf die Verwaltungsstationen oder zu den großen Bahnbaulagern und verdienten ihren Lebensunterhalt mit Prostitution, Kleinhandel und Bierbrauen.Neben den Frauen wanderten jedoch auch ganze Dorf- und Familienverbände aus den Hungerregionen ab. Manche Gegenden östlich des Mount Kenya und südlich des heutigen Nairobi schienen den europäischen Beobachtern, die erstmals das Land bereisten, entvölkert. Die Migranten suchten in der Regel in Regionen Zuflucht, die ihnen von Handelsreisen vertraut waren oder in denen sie durch Heirat oder Blutsbrüderschaften auf eine verwandtschaftlich-freundliche Aufnahme hoffen konnten. Die Hungerflüchtlinge wurden in den Gastgemeinschaften jedoch keineswegs nur freundlich empfangen. Sie erlebten das Außenseiterschicksal von Flüchtlingen, ihre Frauen und Kinder wurden häufig vergewaltigt und geraubt. Im weiteren Verlauf kam es vereinzelt auch zu Massakern, da die Gastgesellschaften – nicht grundlos – fürchteten, dass sich durch den Zustrom der Flüchtlinge auch ihre eigenen Nahrungsvorräte erschöpfen würden.
==== Kriminalität und Gewalt ====
Die Not führte dazu, dass sich vielerorts soziale Strukturen und moralische Bindungen auflösten. Selbst engste Beziehungen wurden zerrissen, um sich aus Verantwortlichkeiten zu befreien und das eigene Überleben zu sichern. Blutsbrüder beraubten einander, Männer verließen ihre Familien und Mütter ihre Kinder. In einer kleinen, verlassenen Hütte im Kambagebiet fanden Missionare 24 tote Kinder, die einander eng umschlungen hielten. Andere Kinder irrten allein, mit Geschwistern oder in größeren Gruppen umher und suchten nach Schutz und Nahrung. Junge Männer und selbst Frauen taten sich zu kleinen Banden zusammen und lebten vom Raub. Sie überfielen kleinere und größere Karawanen und Haushalte, die wegen der fehlenden Männer nicht mehr geschützt waren. Auch die Bahnbaustellen waren Ziel häufiger Überfälle, da die große Zahl der Arbeiter, die dort versorgt werden mussten, einen ergiebigen Vorrat an Lebensmitteln versprach.Die Banden umherziehender Marodeure machten das Leben in den Streusiedlungen zunehmend gefährlicher. Angriffe auf Flüchtlinge nahmen zu, insbesondere Frauen und Kinder wurden von Händlern gefangen genommen und an Karawanen als Sklaven verkauft. Selbst innerhalb von Familien kam es vor, dass hierarchisch höherstehende Personen Männer und Frauen aus dem Familienverband in die Sklaverei verkauften. Auch Gerüchte über Kannibalismus verbreiteten sich. Der Elfenbeinhändler John Boyes berichtete: „Einige meiner Männer haben grausige Geschichten von Leuten gehört, die in ihrer Verzweiflung angesichts des Nahrungsmangels einander töten und essen.“
=== Pockenepidemie ===
Die Lage verschlimmerte sich noch gravierend durch eine Pockenepidemie, die sich von Mombasa aus entlang der Bahnlinie ausbreitete. In Mombasa sammelte man jeden Morgen die Toten aus den Straßen auf, aber die dort ansässige Kolonialverwaltung unternahm keine Schritte, um die Ausbreitung der Seuche zu verhindern. Die Krankheit gelangte durch die gerade fertiggestellte Strecke der Uganda-Bahn schnell in das vom Hunger betroffene Zentralgebiet.
Die Pocken betrafen sowohl Hungernde als auch ausreichend Ernährte. Besonders verheerend wirkten sie sich im fruchtbaren Hochland aus, wo die Gemeinschaften von der Hungersnot weitgehend verschont geblieben waren. Die Seuche, die von den zahlreichen Hungerflüchtlingen eingeschleppt wurde, breitete sich in dem dicht besiedelten Gebiet – dessen Einwohnerzahl durch den Zustrom der Flüchtlinge noch gestiegen war – mit rasender Geschwindigkeit aus. Ganze Dörfer wurden in Kürze entvölkert.
Rachel Watt, die Frau eines Missionars, beschrieb die Situation in Machakos, rund 100 km östlich von Nairobi: „Wo auch immer man hinging, die Wege waren mit Leichen übersät. Bis aufs Skelett abgemagerte Babys wurden weinend neben den Leichnamen ihrer Mütter gefunden.“Viele Menschen suchten sich durch Amulette, Medizin und andere Zauber vor Krankheit und Tod zu schützen. Andere richteten ihren Zorn und ihre Verzweiflung gegen einzelne Menschen, namentlich verlassene Frauen oder Witwen wurden der Hexerei beschuldigt und für das Elend verantwortlich gemacht wurden. Einige Gesellschaften, wie etwa die Embu, verboten Fremden den Zuzug in ihr Siedlungsgebiet völlig, um die Ausbreitung der Pocken zu verhindern. In anderen Gebieten wiederum zwang man die zugezogenen Flüchtlinge, die Erkrankten zu pflegen.
=== Die Rolle der Kolonialverwaltung ===
Die Verwaltungsstationen der sich etablierenden Kolonialmacht und die Missionsstationen nutzen die Situation, um ihren Einfluss zu stärken. Durch den Zugang zu importierten Gütern waren sie, besonders nachdem die Bahnstrecke Nairobi erreicht hatte, nicht mehr von der lokalen Lebensmittelproduktion abhängig. Die Stationen wurden zu Anlaufstellen für viele Hungernde aus der Umgebung, da hier Nahrung vorhanden war, vor allem aus Indien eingeführter Reis. Nach der Fertigstellung der Bahn wuchsen die Stationen und Missionszentren in rasantem Tempo. Die hier residierenden Europäer hatten zuvor häufig den Mangel an Arbeitskräften, die zur Unterhaltung der Station nötig waren, beklagt. Wanderarbeiter zogen es vor, beim Bahnbau zu arbeiten, da man hier besser versorgt und bezahlt wurde. Dieses Problem des Arbeitskräftemangels löste sich, da Hunderte von Männern, insbesondere Massai, in die Nähe der Stationen zogen, um sich dort als Träger und Hilfspolizisten zu verdingen. Als Lohn wurde Reis ausgegeben. In den Regionen dieser frühen Stationen wird die Hungersnot daher auch als Yua ya Mapunga erinnert, die „Reis-Hungersnot“, da mit ihr dieses relativ teure und bis dahin weithin unbekannte Lebensmittel eingeführt wurde.
Zugleich begann ein von der Verwaltung und den Missionen organisiertes Hilfsprogramm, das von der britischen Regierung finanziert wurde. Im Kambagebiet und um Nairobi wurden Lager errichtet, die an erwachsene Personen täglich ein Pfund Reis ausgaben. Flüchtlinge strömten an diesen Orten zusammen. In Machakos gab der britische Beamte John Ainsworth im August 1899 täglich 500 Portionen aus, Ende des Jahres mehr als 1500. Insgesamt lebten zu diesem Zeitpunkt ungefähr 5000 Menschen in Zentralkenia von den Nahrungsspenden der Beamten und Missionare.
=== Das Ende des Hungers ===
Die letzten Monate des Jahres 1899 brachten starke Regenfälle und damit das Ende der Dürre, die Zentralkenia während der letzten beiden Jahre verwüstet hatte. Allerdings brachten sie noch nicht das Ende des Hungers. Für einige Gegenden bedeutete gerade diese Zeit noch einmal eine Periode des Leidens. Die Felder waren verwüstet und vom Unkraut überwuchert, nicht alle Überlebenden hatten noch Kraft, den Boden wieder für eine Aussaat vorzubereiten. Wo Ernten heranreiften, verführte der Hunger dazu, die unreifen Feldfrüchte zu verzehren, was weitere Krankheiten unter den geschwächten Menschen hervorrief.Auch wenn die Not durch den Regen nicht sofort beendet war, besserte sich die Versorgungslage doch relativ rasch. Europäische Stationen stellten Saatgut zur Verfügung, da viele Betroffene in der Not ihr eigenes Saatgut verzehrt oder verkauft hatten. Einige Wochen später konnten Überlebende erste Ernten einbringen.
== Folgen ==
=== Opfer ===
Alle Versuche, die Zahl der Opfer zu erfassen, basieren auf sehr ungenauen Schätzungen. Das ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass die Bevölkerung in Zentralkenia vor der Etablierung der Kolonialherrschaft nur sehr grob geschätzt werden kann. Die einzige systematische Untersuchung zu den Verlusten während der Hungersnot wurde in den 1950er Jahren von der niederländischen Anthropologin Gretha Kershaw durchgeführt und beschränkte sich auf ein kleines Gebiet in der Gegend von Nairobi. Sie ergab, dass von 71 erwachsenen Männern 24 die Hungersnot nicht überlebt hatten. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass diese Region zu den wohlhabenderen gehörte und sich durch den Zuzug der Europäer eine Reihe von Überlebensmöglichkeiten ergaben.Es sind eher Beschreibungen persönlicher Eindrücke von europäischen Beobachtern, die einen Eindruck vom Ausmaß der Opfer vermitteln. Im Oktober schrieb Francis Hall, der als britischer Beamter der Verwaltungsstation Fort Smith im südlichen Kikuyugebiet täglich Reis ausgab, an seinen Vater: „Wegen der Hungersnot und der Pocken begraben wir jeden Tag sechs bis acht Menschen. Man kann keinen Spaziergang machen, ohne über Leichname zu fallen.“ John Boyes, der sich im Kikuyugebiet einen gewissen Einfluss verschafft hatte, schrieb in einem Bericht, dass von einer Karawane von Hungerflüchtlingen, die er ins Hochland begleitete, täglich um die fünfzig Menschen starben.Die Todesrate war sicher in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich. Besonders hohe Verluste erlitten die Gebiete östlich und südlich des Hochlandes, wo viele Kamba, Massai, in geringerem Maße auch Kikuyu lebten. Territorial handelte es sich um die Gegenden der heutigen Provinz Central, um Nairobi, den südwestlichen Teil der Provinz Eastern sowie den südöstlichen Teil der Provinz Rift Valley. Die von Europäern beobachtete Entvölkerung insbesondere der tiefer gelegenen Gebiete kann sowohl auf eine hohe Todesrate als auch auf die Abwanderung der Menschen hinweisen. Ein häufiger Topos in Beschreibungen von Aufenthalten in Zentralkenia aus dieser Zeit sind die Wege, deren Ränder mit Leichen übersät sind. Ein britischer Siedler erinnerte sich an die Bahnlinie mit den Worten: „1899, als ich den Schienen folgte, kam ich nicht einmal bis Limuru. Die Bahnlinie war ein Berg von Leichen.“
=== Soziale und ökonomische Neuorientierung ===
Nach der großen Katastrophe lag das wichtigste Bestreben der Bevölkerung darin, Haushalte, Familien und Gemeinschaften wieder aufzubauen, die soziale Ordnung wiederherzustellen und eine lokale Wirtschaft in Gang zu bringen. Da der Handel inzwischen über die Eisenbahn abgewickelt wurde, brach eine Haupteinnahmequelle für den Lebensunterhalt weg. Die Menschen organisierten sich daher eher in kleinen verstreuten Haushalten und nicht mehr in größeren, um einen Patriarchen gruppierten Gemeinschaften. So war es einfacher, alle Mitglieder einer Familie mit dem Land, über das man verfügte, zu ernähren.Der Wiederaufbau vollzog sich buchstäblich in einem Leichenfeld. So erinnerte sich eine Frau an diese Zeit, die sie als Kind erlebte: „Nach der Hungersnot kam eine Jahreszeit der Hirseaussaat und die Hirse wuchs sehr rasch. Aber man konnte wegen der vielen Toten nicht auf den Feldern gehen. Man sah einen Kürbis oder einen Flaschenkürbis, aber man konnte ihn nicht erreichen, weil er auf einem Haufen von Leichen wuchs.“Nach den bitteren Erfahrungen zogen es viele Menschen vor, die halbtrockenen und tiefer gelegenen Steppen zu verlassen. Sie siedelten sich stattdessen im bewaldeten Hochland an, das sicheren Niederschlag und nach der harten Arbeit des Rodens sicheres Auskommen, dafür aber wenig Weideflächen für Viehhaltung bot. Durch die extreme Zunahme an unkultiviertem Boden wurde aus den trockenen Regionen wieder Buschland und damit auf lange Sicht ein Lebensraum für die Tsetsefliege. Das erschwerte die Wiederansiedlung von Viehzüchtern und die Neuformierung einer lokalen Viehwirtschaft in diesen Regionen.Soziale Gegensätze verschärften sich dauerhaft. Reiche Familien, die die Not überstanden hatten, ohne ihre Heimat zu verlassen, besetzten häufig das Land der Nachbarn, die ins Hochland migriert waren. Durch ihre privilegierte Lage waren sie imstande, Notleidende, Witwen und Waisen an ihren Haushalt zu binden, deren Arbeitskraft zur Bearbeitung von zusätzlichem Land zu nutzen und dadurch schnell einen beträchtlichen Wohlstand aufzubauen. Viele Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurückkehrten, fanden ihr Land besetzt vor, sie mussten Pächter werden oder als Lohnarbeiter ihren Lebensunterhalt verdienen. Der Verlust ihres Landes verhinderte jedoch, dass sie als Bauern an Erfolge vor der Hungersnot anknüpfen konnten. Noch in den 1930er Jahren wurden Streitfälle um Land vor Gericht gebracht, die ihren Ursprung in dieser Zeit hatten.
=== Festigung der kolonialen Herrschaft ===
Die britische Kolonialmacht ging aus der Hungersnot gestärkt hervor. Die Verwaltungsstationen hatten durch die Not der afrikanischen Bevölkerung Arbeitskräfte und eine große Gefolgschaft gewonnen, die meist auch nach Verbesserung der Lage weiterhin im Umkreis der Stationen wohnen blieben. Auch das Ansehen der Missionen hatte sich deutlich gebessert. Vor der Hungersnot war das Interesse am Christentum sehr gering und für die Missionen enttäuschend gewesen. Während der Hungersnot hingegen hatten viele Hungernde bei ihnen Zuflucht gefunden, aus denen eine erste Generation von afrikanischen Christen in Zentralkenia hervorging. In der Gegend um Nairobi hatte der Missionar Krieger die Menschen in der Nachbarschaft regelmäßig mit dem Fleisch von Wildtieren versorgt, die er bei Jagdunternehmungen erlegte. Missionar Bangert von der Missionsstation Kangundo sah im Rückblick die Hungersnot folglich auch als „eine wunderbare Gelegenheit, das Evangelium in die Herzen dieser Menschen zu bringen“.Die verstreut lebenden Haushalte identifizierten sich immer weniger mit den früher existierenden kleinen Gesellschaften. Sie ordneten sich stattdessen zunehmend in die Kategorien des Stammes ein, die die Kolonialmacht eingeführt hatte und nach denen das Protektorat administrativ aufgeteilt wurde. Die koloniale Verwaltung setzte Paramount Chiefs ein, die eine gesamte ethnische Gruppe vertraten, und über die sich die Menschen wesentlich einfacher kontrollieren ließen.1902 wurden große Teile des südlichen Kikuyugebietes und des Siedlungsgebietes der Massai enteignet und für den Verkauf an weiße Siedler bereitgestellt. Dabei handelte es sich zum großen Teil um Land, das durch Tod und Abwanderung während der Hungersnot entvölkert war. Als sich in den nachfolgenden Jahrzehnten die Bevölkerung Zentralkenias von den Verlusten erholte, wurde die Landknappheit zum bleibenden Problem, das sich bis zum Ende der Kolonialzeit noch verschärfte.
=== Ethnisierung der Beziehungen in Zentralkenia ===
Infolge der Hungersnot veränderten sich die Beziehungen unter den Gemeinschaften in Zentralkenia beträchtlich. Kikuyu entwickelten eine zunehmend feindselige Haltung gegenüber Massai. Diese hatten – da sie in trockeneren Regionen lebten und besonders vom Hunger betroffen waren – massiv im Gebiet der Kikuyu, Embu und Mbeere im Hochland Vieh, Frauen und Lebensmittel geraubt und dabei auch nicht vor Mord an Frauen und Kindern zurückgeschreckt. Da viele Massai als Hilfstruppen für europäische Verwaltungsstationen arbeiteten, hatten sie zudem an sogenannten Strafexpeditionen gegen Gruppen im Hochland teilgenommen, bei denen ebenfalls große Mengen an Vieh und Lebensmitteln von den Europäern beschlagnahmt worden waren.
Die hochgelegenen Regionen Kenias, von Kikuyu- und Embu-Sprechern und Mbeere bewohnt, waren zwar von der Hungersnot nicht direkt betroffen gewesen, litten aber an ihren indirekten Auswirkungen. Der Zustrom der Flüchtlinge erschien zunehmend als Gefahr, da auch hier die Lebensmittel knapp wurden und die rasche Ausbreitung der Pocken als eine Folge der Migration gesehen wurde. In Embu versuchten sich die Dörfer gegen die notleidenden Einwanderer zu schützen. Sie verboten den Zuzug, und die Krankheit wurde mehr und mehr als eine ethnische Charaktereigenschaft der zuziehenden Massai und Kamba gewertet.
Auch die Verpfändung von Frauen, die es in großem Maß gegeben hatte, führte nach Verbesserung der allgemeinen Versorgungslage zu Spannungen. Familien, die Frauen verpfändet hatten, waren daran interessiert, sie wieder in ihre Haushalte einzugliedern, um mit ihrer Arbeitskraft und ihrem reproduktiven Potential Gemeinschaften wieder aufzubauen. Das gestaltete sich häufig sehr schwierig, da die Frauen oft nur zögerlich zurückgegeben wurden. In vielen Fällen waren sie bereits verheiratet, in anderen Fällen als Sklavinnen verkauft worden. So entstand unter den Kamba und Massai die Ansicht, die Hochlandgesellschaften, besonders die der Kikuyu, seien Frauenräuber, die sich auf Kosten ihrer notleidenden Nachbarn bereichert hätten.
== Die Hungersnot im kollektiven Gedächtnis ==
Die Europäer waren zwar entsetzt über die Ausmaße der Hungersnot, sahen in ihr aber eher eine der vielen Katastrophen, unter denen Afrikaner bis zur Etablierung der Kolonialherrschaft gewöhnlich zu leiden hatten. Die tatsächliche Bedeutung der Hungersnot für die afrikanische Bevölkerung wurde erst in wissenschaftlichen Untersuchungen ab etwa 1950 erkannt. Die Anthropologin Gretha Kershaw, der kenianische Historiker Godfrey Muriuki und der amerikanische Historiker Charles Ambler, die für ihre Untersuchungen ausführliche Interviews und Feldforschungen in Kenia durchführten, machten durch ihre Forschungen offenbar, welches Trauma die Hungersnot in der kenianischen Bevölkerung ausgelöst hatte.
In Zentralkenia ging man davon aus, dass Wohlergehen ebenso wie Übel von den Ahnen als Strafe oder Unterstützung gesandt wurden. So wurde auch die Hungersnot als Zeichen der Vergeltung für ein begangenes Unrecht verstanden. Die Errichtung der Kolonialherrschaft, der Bau der Eisenbahn und die damit zunehmende Präsenz von Weißen in Zentralkenia, die zeitlich mit der Hungersnot zusammenfielen, sah man deshalb vorerst nicht als ein politisches Ereignis. Man verstand sie eher, ebenso wie die Hungersnot, die Rinderpest, den ausbleibenden Regen und die Pocken, als Teil einer universellen Krise und Abrechnung, deren Ursachen in eigenem Verschulden lagen. Selbst Jahrzehnte nach der Hungersnot sprachen die Überlebenden nur widerwillig und zögerlich über ihre Erlebnisse während dieser Zeit. Mit Schrecken erinnerte man sich nicht nur an die persönlichen Leiden, sondern auch an die Zerschlagung der sozialen Ordnung und an die Macht der Ahnen über die Lebenden.Bis heute ist die schwere Zeit dieser Hungersnot im kollektiven Gedächtnis der Kenianer verankert. Bei den Kikuyu wird sie als Ng’aragu ya Ruraya, „Der große Hunger“ bezeichnet, in den kambasprachigen Gebieten als Yua ya Ngomanisye, „Der Hunger, der überall hinkam“ oder auch „Der grenzenlose Hunger“.
== Quellen ==
John Boyes: King of the Wa-Kikuyu. A True Story of Travel and Adventure in Africa, London 1911.
Kenya Land Commission: Kenya Land Commission Report. 3 Bände, Nairobi 1934.
Paul Sullivan (Hrsg.): Francis Hall’s letters from East Africa to his Father, Lt. Colonel Edward Hall, 1892–1901. Dar-es-Salaam 2006.
Rachel S. Watt: In the Heart of Savagedom. London 1913.
== Literatur ==
Charles H. Ambler: Kenyan Communities in the Age of Imperialism. The Central Region in the Late Nineteenth Century. New Haven & London 1988.
Greet Kershaw: Mau Mau from Below. Athen 1997.
Godfrey Muriuki: A History of the Kikuyu 1500–1900. Nairobi 1974.
Bethwell A. Ogot (Hrsg.): Ecology and History in East Africa. Nairobi 1979.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hungersnot_in_Zentralkenia_1899
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Chemische Fabrik Kalk
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= Chemische Fabrik Kalk =
Die Chemische Fabrik Kalk GmbH (CFK) war ein Chemieunternehmen in Köln. Es wurde 1858 als Chemische Fabrik Vorster & Grüneberg, Cöln gegründet und 1892 in Chemische Fabrik Kalk GmbH umbenannt. Die CFK war zeitweise der zweitgrößte Sodaproduzent Deutschlands und mit bis zu 2400 Mitarbeitern einer der größten Arbeitgeber im rechtsrheinischen Kölner Stadtgebiet. Die Fabrikschornsteine des Hauptwerkes prägten jahrzehntelang die Silhouette des Stadtteils Kalk.
Nachdem versäumt worden war, die Fabrik zu modernisieren und neue Produkte einzuführen, beschloss der damalige Hauptgesellschafter BASF, das Werk zum 31. Dezember 1993 wegen Unwirtschaftlichkeit zu schließen. Nach dem Abriss der Produktionsanlagen und der Sanierung des Fabrikgeländes wurden dort das neue Polizeipräsidium Köln und das Einkaufszentrum Köln Arcaden erbaut. Seit der Stilllegung der Produktion existiert die Chemische Fabrik Kalk nur noch als Namensgeber für ein Handelshaus für Chemikalien und Düngemittel der K+S AG (vorherige Kali und Salz AG).
== Geschichte ==
=== 1858 bis 1891 ===
==== Das Chemiewerk Vorster & Grüneberg, Cöln ====
Am 1. November 1858 gründeten der Kaufmann Julius Vorster und der Chemiker und Apotheker Hermann Grüneberg die Chemische Fabrik Vorster & Grüneberg, Cöln. Vorster, der schon vorher eine Chemiefabrik besessen hatte, brachte 15.000 Taler in das Unternehmen ein; Grüneberg, der zu diesem Zeitpunkt noch studierte, konnte 5.000 Taler beisteuern. Die beiden Gesellschafter wählten als Standort für das Werk das rechtsrheinische Dorf Kalk, da die dortigen Bauflächen außerhalb der zweiten Kölner Rayonlinie lagen und somit eine Industrieansiedlung möglich war. Sie erwarben das Grundstück der ehemaligen Eisengießerei Biber & Berger. Drei Monate nach der Fertigstellung der Fabrik wurde mit der Produktion von Kalisalpeter begonnen, das als Oxidationsmittel zur Lebensmittelkonservierung sowie zur Herstellung von Schwarzpulver verwendet wurde. Der Kalisalpeter wurde aus russischer Pottasche und Natronsalpeter hergestellt, als Nebenprodukt wurde Soda gewonnen. Beschäftigt wurden in dieser Zeit zehn Mitarbeiter.Durch die gute Auftragslage konnte das Unternehmen schon 1860 expandieren und kaufte mehrere Grundstücke für die Erweiterung der Fabrikationsanlagen. Dies war notwendig, um die regionale Marktführerschaft als Kalianbieter zu erhalten, nachdem mehrere andere Unternehmen mit gleichem Produktionsschwerpunkt im näheren Umkreis gegründet worden waren. Da die Preise für russische Pottasche extrem stiegen, nutzte man ab 1860 Rübenpottasche, ein kostengünstiges Abfallprodukt der Zuckerherstellung, als Rohstoff für die Herstellung von Kalisalpeter und Soda. Im selben Jahr begann das Unternehmen mit der Produktion von Kaliumchlorid, das aus Steinsalzen auskristallisiert wurde.
Die Unternehmer kauften zur Steinsalzgewinnung eine alte Saline in Staßfurt bei Magdeburg. In diesem Gebiet waren 1856 Bergwerksarbeiter bei Bohrungen nach Steinsalz zufällig auf die weltweit ersten Kalisalzvorkommen gestoßen. Zunächst blieb dieses neue Mineral ungenutzt, doch schon 1857 ergaben chemische Untersuchungen im Auftrag der preußischen Regierung, dass es sich bei diesem Mineral um ein Doppelsalz handelt. Dieses Kalisalz besteht aus einer Verbindung von Kaliumchlorid und Magnesiumchlorid. Das Mineral wurde nach dem preußischen Oberbergrat Rudolf von Carnall, der die Bohrungen veranlasst hatte, Carnallit benannt. Die Vorräte waren schnell verbraucht, da die in Staßfurt ansässigen Bauern das Rohsalz unbearbeitet als Düngemittel nutzten.
In der Saline von Vorster & Grüneberg stieß man ebenfalls auf große Carnallitvorkommen. Grüneberg gelang es, ein neues Verfahren zu entwickeln, das die Düngemittelherstellung revolutionierte. Das Rohsalz wurde zunächst nach Kalk transportiert und dort in Holzbottichen mit Dampf gelöst, um es nach der Abkühlung auskristallisieren zu lassen. Das Zwischenprodukt bearbeiteten die Beschäftigten abermals mit Dampf. So entstand als Endprodukt reines Kaliumchlorid. Dies war die weltweit erste industrielle Verarbeitung roher Kalisalze. Um die Transportkosten zu reduzieren, entschlossen sich Vorster und Grüneberg in Staßfurt und in Leopoldshall, wo sie eine weitere Saline gekauft hatten, zwei weitere Kaliumchloridwerke zu errichten. Die Kaliumchloridgewinnung vor Ort war erheblich wirtschaftlicher als der Rohstofftransport zur Verarbeitung im Hauptwerk Kalk.
1860 schloss Grüneberg sein Studium mit der Promotion ab. Er forschte auf dem Gebiet der Agrikulturchemie und entwarf Tabellen für die Dosierung von Dünger. Diese waren für Landwirte über Jahrzehnte richtungweisend. Das Unternehmen erweiterte 1864 die Produktpalette um Stickstoff- und Phosphatdünger. Vorster & Grüneberg war damit die erste Großfabrik in Deutschland, die drei Hauptnährstoffe für Pflanzen, Stickstoff, Phosphor und Kalium chemisch herstellte. Ein Jahr später wurde für die Gewinnung von Kaliumcarbonat analog zur Soda-Herstellung erstmals das Leblanc-Verfahren angewendet. Zeitgleich errichtete Vorster & Grüneberg in Raderberg bei Cöln ein Zweigwerk für die Herstellung von Ammoniumsulfat. Das Ammoniumsulfat stellte der Betrieb aus Ammoniak unter Zugabe von Schwefelsäure her. Das Ammoniak war in Gaswasser enthalten, das bei der Herstellung von Stadtgas als bis dahin ins Abwasser entsorgtes Nebenprodukt anfiel. Da dieser Produktionszweig mit der bis dahin ungenutzten Rohstoffquelle sehr gewinnbringend war, bauten Vorster & Grüneberg in den Folgejahren weitere Ammoniakfabriken in Nippes bei Cöln, Düsseldorf, Essen, Dortmund, Hamburg, Leipzig, St. Petersburg sowie eine Salmiakfabrik in Moskau.
==== Umfirmierung zur Kommanditgesellschaft ====
Im Jahre 1867 erlitt das Unternehmen durch Fehlinvestitionen in England sowie den rückläufigen Absatz von Kaliumsulfat starke Verluste. Julius Vorster jr. wurde zu diesem Zeitpunkt in die Firmenleitung berufen. Auf seine Empfehlung wurde Magnesiumsulfat in die Produktpalette aufgenommen, um die Verluste zu reduzieren. Dieser Stoff war vornehmlich für den Export nach England bestimmt, da Textilhersteller ihn dort in großen Mengen zur Trocknung von Stoffen benötigten. Durch diesen neuen Absatzmarkt und die sich gleichzeitig positiv entwickelnden Absatzzahlen für Kaliumnitrat war die Finanzkrise im Jahre 1870 überstanden. Am 1. Oktober 1875 trat der zweite Sohn Vorsters, der Chemiker Fritz Vorster, als technischer Leiter in das Unternehmen ein. Er sollte sich um die Modernisierung und Erweiterung des Stammwerkes kümmern. Nach dem Tode des Firmengründers Julius Vorster 1876 wandelten die Besitzer das Unternehmen in eine Kommanditgesellschaft um.
Da der Absatz auf dem Düngemittelsektor aufgrund des Misstrauens der Bevölkerung gegenüber den modernen Kunstdüngemitteln weit hinter den Erwartungen zurückblieb, stellte die Unternehmensleitung 1878 Carl Johann Heinrich Scheibler als Leiter der Düngemittelabteilung ein. Scheibler entwickelte das kostengünstige Düngemittel Thomasphosphat, das auf Thomasschlacke basierte. Das Thomasphosphat ermöglichte auch ärmeren Bauern, ihre Felder zu düngen. Da die Städte ihr Gaswasser häufig selber nutzten oder gewinnbringend verkauften, wurden alle dezentralen Ammoniakfabriken ab dem Ende der 1870er-Jahre sukzessive stillgelegt oder verkauft. Das Stammwerk in Kalk hingegen wurde stetig erweitert, beispielsweise errichtete die CFK dort 1881 Produktionsstätten für Schwefel- und Salpetersäure. Carl Scheibler gründete 1885 unter dem Namen Düngerfabrik C. Scheibler & Co eine eigene Kommanditgesellschaft mit den Teilhabern von Vorster & Grünberg als Kommanditisten. Das Unternehmen beteiligte sich im In- und Ausland an der Produktion von Thomasmehl und erschloss damit einen sehr ergiebigen Markt.
=== 1892 bis 1945 ===
==== Gründung der Chemischen Fabrik Kalk GmbH ====
Kurz nach Inkrafttreten des GmbH-Gesetzes wurde die Personengesellschaft Vorster & Grüneberg am 1. Juli 1892 in die Chemische Fabrik Kalk GmbH umgewandelt – sie war eine der ersten Gesellschaften mit beschränkter Haftung in Preußen. Nach dem Tod des Unternehmensgründers Hermann Grüneberg am 7. Juni 1894 wurde sein Sohn Richard Grüneberg in die Geschäftsführung berufen – damit war die Leitung endgültig auf die zweite Generation übergegangen.
Kurz vor der Jahrhundertwende wurde die aufgrund des Konkurrenzdrucks defizitär gewordene Produktion von Kaliumcarbonat eingestellt. Als Ersatz wurde die Natriumcarbonatproduktion mittels des Ammoniak-Soda-Verfahrens deutlich erweitert. Im Jahre 1902 wurde die Düngerfabrik C. Scheibler & Co in die CFK eingegliedert, deren Leitung nach Scheiblers Tod im Jahre 1920 von seinem Sohn Hans Carl Scheibler fortgeführt wurde. Nachdem einige Jahre vorher schon das Kaliumchloridwerk in Staßfurt aufgrund des Preisverfalls des Endproduktes aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen worden war, verkaufte die CFK nach dem Tode des Werksleiters Kästner auch das Werk Leopoldshall. Um die Wasserversorgung des Hauptwerkes auch bei kurzfristigen Versorgungsengpässen der Stadtwerke sicherstellen zu können, wurde 1904 ein 43,60 Meter hoher Wasserturm mit 270 Kubikmetern Fassungsvermögen gebaut, in den ein Schornstein integriert wurde.
==== Statusbericht zum 50-jährigen Firmenjubiläum ====
Zum Zeitpunkt des 50-jährigen Firmenjubiläums am 1. November 1908 wurden folgende chemische Güter produziert:
Neben dem Hauptwerk unterhielt die CFK im Jahre 1907 noch die Ammoniak-Fabrik in Köln-Nippes und Düngerfabriken in Köln-Ehrenfeld und Euskirchen, ferner war sie Hauptgesellschafter der Kohlendestillationsanlage Ammonium GmbH in Weitmar bei Bochum. Zudem unterhielt das Unternehmen zahlreiche nationale und internationale Beteiligungen an Thomasschlackemühlen. Der gesamte Warenausstoß betrug 600.000 Tonnen. Für An- und Abfuhr der Rohstoffe und Güter wurden 67.755 Eisenbahnwaggons benötigt, für die das Unternehmen 1.463.000 Goldmark an Transportkosten an die Eisenbahngesellschaften zahlen musste. Zu diesem Zeitpunkt waren 1200 Mitarbeiter bei der CFK beschäftigt. Damit war die CFK das zweitgrößte Unternehmen in Kalk hinter der Maschinenbauanstalt Humboldt.
==== Vom Ersten Weltkrieg bis zur Weltwirtschaftskrise ====
Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges sank die Anzahl der Beschäftigten auf 70 Mitarbeiter, da die CFK keine kriegswichtigen Güter produzierte. Teile der Fabrikation mussten deshalb stillgelegt werden. Die Unternehmensleitung konzentrierte die Produktion auf Salpeter, da dieser als Grundstoff für die Sprengstoffherstellung benötigt wurde. Infolge der Wichtigkeit dieser Chemikalie stieg die Belegschaftsgröße schon im Dezember 1914 auf 504 Mitarbeiter an. 1916 richtete die CFK ein eigenes Versuchslabor für Sprengstoffforschung ein, in dem sie kurze Zeit später einen eigenen Sprengstoff entwickelte. Obwohl es an Arbeitskräften mangelte, gelang es dem Unternehmen im Bereich der Tierfutterherstellung, mit durch Ätznatron aufgeschlossenem Stroh einen neuen Absatzmarkt zu erschließen.
Nach Kriegsende mussten, bedingt durch den Versailler Vertrag, die Sprengstoffherstellung und -forschung eingestellt werden. In den 1920er-Jahren erhöhte sich die Nachfrage nach Dünger langsam, allerdings stiegen auch die Rohstoffpreise deutlich. Um diese Preissteigerungen zu relativieren, stellte die Chemische Fabrik Kalk die Düngerproduktion auf Kalkammonsalpeter um, einen Stickstoffdünger, der auf Nebenprodukten der sonstigen Fabrikation basierte. 1930 wurde unter dem Markennamen Scheibler’s Kampdünger (Kamp stand für Kalk-Ammon-Phosphor) ein nach aufwändigen Forschungen entwickelter Mineraldünger in das Programm aufgenommen. Der neuartige Zweikomponentendünger wurde von der Landwirtschaft angenommen, sodass der Umsatz stieg. Die Unternehmensleitung dachte darüber nach, das Hauptwerk nach Köln-Godorf zu verlagern, da im dicht besiedelten Industriestandort Kalk die Fabrik nicht mehr erweitert werden konnte. Dieser Plan wurde aber zurückgestellt.
==== NS-Zeit und Zweiter Weltkrieg ====
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bestimmten kriegsvorbereitende Maßnahmen das Handeln des Unternehmens, beispielsweise wurde die Produktion der Substanzen zur Herstellung von Sprengstoffen verstärkt. Ab 1937 wurden auch Frauen zur Industriearbeit eingesetzt. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1939, als die männliche Belegschaft zum Kriegsdienst einberufen wurde, wurden die Frauen zwangsverpflichtet. Durch den kriegsbedingten Arbeitskräftemangel setzte die CFK ab 1940 etwa 460 polnische oder sowjetische Zwangsarbeiter im Werk ein, für die als Unterkunft ein Barackenlager auf dem Werksgelände eingerichtet wurde. Die Fabrik stellte die Produktion des Kampdüngers 1940 ein, da kein Phosphor mehr zur Verfügung stand.
Schon 1942, bei den ersten Bomberangriffen der Alliierten auf Köln-Kalk, nahmen die Produktionsanlagen schweren Schaden. 1943 wurde der Schwefelsäurebetrieb komplett zerstört, ein Jahr später kam fast die gesamte Produktion zum Erliegen. Nachdem bei über 20 Bombenangriffen insgesamt 227 Sprengbomben und Luftminen sowie rund 3000 Brand- und Phosphorbomben das Werk zu 80 % zerstört hatten, verkündete Fritz Vorster jr., der Enkel des Firmengründers, am 6. März 1945 die Schließung. Zu diesem Zeitpunkt hatte die CFK nur noch eine Belegschaftsstärke von etwa 100 Mitarbeitern.
=== 1945 bis 1993 ===
==== Nachkriegsjahre und Wiederaufbau ====
Im August 1945, nur drei Monate nach Kriegsende, wurde in der Chemischen Fabrik Kalk zu Tauschzwecken Branntkalk produziert. Die aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Arbeiter des Werkes schlachteten zerstörte Betriebsteile aus, um die teilweise erhaltenen auszubessern. Einige Maschinen waren vor den Bombenangriffen in Sicherheit gebracht worden, sodass sie wieder zur Verfügung standen. Da im Jahre 1947 große Teile der Fabrik wieder aufgebaut waren, konnte die Produktion aufgenommen werden. Mit der Volldüngerproduktion wurde 1948 begonnen. Dem Kampdünger wurde Kalisalz zugemischt, er wurde deshalb als KAMPKA-Dünger verkauft.
Bereits 1950 hatte die Chemische Fabrik Kalk ihr altes Produktionsvolumen wieder erreicht. Der Marktanteil an der bundesweiten Sodaproduktion lag bei 20 %, ein Jahr später sank er auf 13 %. Im selben Jahr beteiligte sich ein großer deutscher Montanbetrieb, die Salzdetfurth AG, mit 25 % an der Chemischen Fabrik Kalk. Die Gesellschafter planten abermals eine Verlegung der Volldüngerproduktion in moderne Fabrikanlagen nach Köln-Godorf. Erneut wurde dieses Vorhaben nicht verwirklicht. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass es günstiger sei, das Werk Kalk weiterhin zu nutzen. 1956 verkaufte die CFK das bereits erworbene Gelände in Godorf. Die Salzdetfurth AG zog ihre Beteiligung allerdings nicht zurück, sondern erhöhte ihre Anteile 1957 auf 75 %.Zum hundertjährigen Firmenjubiläum am 1. November 1958 waren 1820 gewerbliche Arbeiter und 549 Angestellte im Unternehmen beschäftigt. Der Bedarf der Futtermittelbranche an hochprozentigen Phosphaten im Jahre 1960 konnte durch den Bau einer neuen Fertigungsanlage befriedigt werden, damit konnte ein neuer und Erfolg versprechender Markt erschlossen werden. Die KAMPKA-Dünger-Produktion lag im selben Jahr bei 417.000, die Soda-Produktion bei 170.000 Tonnen.
==== Die Übernahme durch die Salzdetfurth AG ====
1960 übernahm die Salzdetfurth AG alle Geschäftsanteile der Chemischen Fabrik Kalk GmbH und modernisierte Teile der Produktionsanlagen; beispielsweise leitete man stark schwefelhaltige Abgase ab 1965 über einen neu errichteten, 120 Meter hohen Schornstein, ab. Diese Höhe war nötig, da es bei Hochdruckwetter vorher oft zu Geruchsbelästigungen der Bevölkerung Kalks gekommen war, indem die stark riechenden Dämpfe auf Bodenhöhe gedrückt wurden. Durch den Bau konnte dieses Problem größtenteils beseitigt werden.
Ab Mitte der 1960er-Jahre wurden die Abfüll- und Verladeanlagen auf vollautomatischen Betrieb umgestellt. Diese Teilmodernisierungen konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fabrik, insbesondere die Soda-Produktion, technisch veraltet war. Nach dem Krieg war versäumt worden, größere Investitionen für Modernisierungen zu tätigen – auch fehlte es schon längerfristig an neuen Produktideen, sodass das Unternehmen keine neuen Absatzmärkte erschließen konnte. Im Jahre 1971 fusionierte die Salzdetfurth AG mit der BASF-Tochter Wintershall AG und der Burbach-Kaliwerke AG. 1972 wurde die Gesellschaft in die Kali und Salz AG umgewandelt. Anfangs war BASF der Mehrheitsaktionär, später übernahm sie auch noch die restlichen Anteile des Unternehmens.
==== Der Niedergang ====
Kurz nach der Übernahme durch die BASF begann die CFK, zusätzlich Blumen- und Gartendüngemittel zu produzieren, die über die COMPO GmbH, die 1967 von Salzdetfurth übernommen wurde, vertrieben wurden. Der Futtermittelhandel konnte nun individuelle Tierfuttermischungen ab Werk bestellen. Die Belegschaft vermutete, dass die BASF die Chemische Fabrik Kalk als Geschäftsfaktor nicht ernst nahm, da der Konzern keinerlei Investitionen in Modernisierungen vornahm.Die allgemeine Rezession Mitte der 1970er-Jahre führte wegen Absatzschwierigkeiten zu ersten Entlassungswellen im Werk. Anfang der 1980er-Jahre wurde mit der Herstellung von organischen Bromverbindungen versucht, auf dem Gebiet der Feinchemie neue Geschäftsfelder zu erschließen. 1985 stellte die Fabrik diese Produktion nach einem Großbrand der Bromlagerhalle wieder ein, 1988 wurde auch die Düngerproduktion beendet. Fortan kam es jährlich zur Stilllegung weiterer Betriebsteile aus wirtschaftlichen Gründen. Am 23. Dezember 1993 wurde die Produktion von Soda und Kaliumchlorid in den noch verbliebenen Betriebsteilen beendet. Für die letzten 693 Mitarbeiter wurde ein Sozialplan aufgestellt, nach dem die Mitarbeiter, die älter als 55 Jahre alt waren, in den Vorruhestand gehen konnten, jüngere wurden finanziell abgefunden.
=== Nachnutzung des ehemaligen Werksgeländes ===
Vom fast 40 Hektar großen Gelände sind inzwischen alle Gebäude abgerissen bis auf den denkmalgeschützten Wasserturm. Zu unterscheiden sind drei Flächenbereiche.
==== Hauptgelände ====
Die Abrissmaßnahmen endeten mit der Sprengung des hohen Schornsteins am 25. Oktober 1996. Da das Gelände hochgradig mit chemischen Substanzen wie beispielsweise Schwefel und Schwermetallen verseucht war, musste es vor einer Weiternutzung umfangreich saniert werden.
Nachdem das Terrain im Jahre 2001 endgültig gift- und gebäudefrei war, versah die Stadt Köln es mit einer neuen Straßenstruktur und einem direkten Anschluss zur Zoobrücke. Heute sind dort das Polizeipräsidium Köln (Fertigstellung am 22. Oktober 2001) und das Einkaufszentrum Köln Arcaden (Fertigstellung am 2. März 2005) angesiedelt. Der von einem Parkhaus umbaute hohe Wasserturm ist der architektonische Mittelpunkt der Köln Arcaden. Pläne, in diesem Turm ein CFK-Museum einzurichten, sind bisher nicht realisiert worden. Nach zweijähriger Bauzeit eröffnete im April 2009 im nördlichen Teil des Terrains das Wissenschafts-Erlebnis-Zentrum Odysseum. Im gleichen Jahr wurde die Kapazität des Polizeipräsidiums durch einen Erweiterungsbau annähernd verdoppelt und die Anlage des etwa 2,8 Hektar großen Bürgerparks Kalk abgeschlossen. Zudem errichtete die Baumarktkette Bauhaus im nördlichen Areal eine ihrer größten Filialen in Deutschland. Neben Bauhaus ist der Music Store eingezogen. Pläne auf dem westlichen Gebiet ein Musical-Theater zu bauen, wurden 2009 verworfen, anstatt dessen sollen dort Bürogebäude und Dienstleistungsbetriebe entstehen.
==== Verwaltungsgebäude ====
Die ehemaligen Bürogebäude südlich des Werksgeländes auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Kalker Hauptstraße wurden verkauft und einer anderen Nutzung zugeführt; in ihnen war das Generalsekretariat des Malteser Hilfsdienstes zu finden, ehe die Gebäude 2019 ebenfalls abgerissen wurden.
==== Mülldeponie ====
Die zwei Mülldeponien auf dem Werksgelände mit dem heutigen Namen Kalkberg und Kleiner Kalkberg lassen sich nicht wirtschaftlich abtragen, die Oberfläche wurde versiegelt. Die Nachnutzung der Fläche soll u. a. als öffentliche Grünfläche dienen. Durch für BASF glückliche Umstände fand sich mit der Stadt Köln ein Erwerber für diese Altlast, dem trotz der Setzungen am Alpincenter Bottrop und dem Unglück in Nachterstedt scheinbar nicht klar war, dass es keine gute Idee ist, eine Halde zu bebauen.
== Heutige CFK ==
Nach der Beendigung der eigenen Produktion mit Abriss des alten Werksgelände existiert die Chemische Fabrik Kalk GmbH nur noch als Händler für Chemikalien. Der Sitz der Verwaltung wurde in die Olpener Straße 9–13 in Köln-Kalk verlegt. Der Website-Auftritt ist eigenständig ohne Nennung des Mutterkonzerns K+S, während die Mailadressen der Mitarbeiter alle auf die Domain „@k-plus-s.com“ lauten.
== Soziales Engagement der Unternehmer ==
Die Firmengründer unterstützten schon zu Lebzeiten zahlreiche soziale Projekte und Institutionen. Nach ihrem Tod wurden die Finanzierungen von Stiftungen weitergeführt. Beispielsweise stellten die Stiftungen großzügige Zuschüsse für den Bau der Evangelischen Krankenhäuser Kalk und Weyertal sowie für das Syrische Waisenhaus in Jerusalem zur Verfügung. Zusätzlich überschrieben oder übergaben sie komplette Immobilien zur Einrichtung von Kindergärten oder Schulen und einer Volksbibliothek an die Stadt Kalk. Das letzte Wohnhaus von Hermann Grüneberg am Holzmarkt in der Kölner Altstadt übergab seine Witwe Emilie für die Einrichtung einer Trinkerheilanstalt an die Heilsarmee. Zu Ehren der Unternehmerfamilien benannte die Stadt Kalk zwei Straßen in Vorsterstraße und Grünebergstraße um.Richard Grüneberg, der Sohn des Firmengründers, überschrieb 1904 einen Erstbeitrag von 30.000 Mark an die Richard-Grüneberg-Stiftung. Diese Stiftung gewährte Beihilfen zur Erholung an die CFK-Mitarbeiter. Später richtete die CFK eine unternehmensseitig finanzierte Unterstützungskasse für die betriebliche Altersvorsorge der Mitarbeiter ein. In den 1950er-Jahren eröffnete die CFK das Erholungsgelände Haus Friede in Köln-Dünnwald, das von den Mitarbeitern und ihren Familien unentgeltlich genutzt werden konnte.
== Literatur ==
Heinrich Bützler: Geschichte von Kalk und Umgebung. Nachdruck nach dem Original von 1910, Edition Kalk der Buchhandlung W. Ohlert, Köln 2001, ISBN 3-935735-00-6.
Geschichts- und Heimatverein Rechtsrheinisches Köln (Hrsg.): Rechtsrheinisches Köln – Jahrbuch für Geschichte und Landeskunde. Band 32. Eigenverlag, 2007, ISSN 0179-2938.
Walter Greiling: 100 Jahre Chemische Fabrik Kalk 1858–1958. Eigenverlag CFK, Köln 1958.
Fritz Bilz: Veränderung der Industriearbeit in Köln-Kalk. Edition Kalk der Buchhandlung W. Ohlert, Köln 1997, ISBN 3-935735-02-2.
Fritz Bilz: Zwischen Kapelle und Fabrik. Die Sozialgeschichte Kalks von 1850 bis 1910. Köln 2008, ISBN 978-3-89498-190-7.
Stefan Pohl, Georg Möhlich: Das rechtsrheinische Köln. Seine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Wienand, Köln 2000, ISBN 3-87909-391-1.
Georg Roeseling: Zwischen Rhein und Berg – Die Geschichte von Kalk, Vingst, Humboldt/Gremberg, Höhenberg. Bachem-Verlag, Köln 2003, ISBN 3-7616-1623-6.
Artikel zum 150-jährigen Firmenjubiläum der CFK. In: Kölner Stadtanzeiger. 31. Oktober 2008; abgerufen am 4. November 2008.
== Weblinks ==
cfk-gmbh.com – Offizielle Website des Nachfolgers (Handelshaus)
hermann-grueneberg.de – Website über das Lebenswerk und den Nachlass des Firmengründers Hermann Grüneberg
gw-kalk.de – Geschichtswerkstatt Köln-Kalk
== Anmerkungen und Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chemische_Fabrik_Kalk
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Buxheimer Chorgestühl
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= Buxheimer Chorgestühl =
Das Buxheimer Chorgestühl ist ein zwischen 1687 und 1691 von Ignaz Waibl geschaffenes hochbarockes Chorgestühl in der Klosterkirche St. Maria im oberschwäbischen Buxheim. Infolge der Auflösung der Kartause im Zuge der Säkularisation kam es 1803 in gräflichen Besitz. Graf Hugo Waldbott von Bassenheim ließ es 1883 in München versteigern. Als das Gestühl 1886 erneut unter den Hammer kam, ersteigerte es der Direktor der Bank von England und schenkte es den Schwestern des St. Saviour’s Hospital im englischen London, die es bei der Verlegung des Hospitals nach Hythe in der Grafschaft Kent mitnahmen. Als das Krankenhaus in Kent aufgelöst wurde, konnte das Chorgestühl 1980 vom Regierungsbezirk Schwaben für 450.000 Pfund Sterling, das entspricht in etwa einem Preis von 1,05 Millionen Euro, zurückgekauft werden. Es wurde von 1980 bis 1994 aufwändig restauriert und steht seitdem wieder an dem ursprünglichen Aufstellungsort in der ehemaligen Kartause in Buxheim.
Das Gestühl ist hufeisenförmig aufgebaut und bestand ursprünglich aus 36 Stallen, von denen noch 31 erhalten sind. Den Hauptanteil der reichen figürlichen Ausstattung bilden die Statuen von Ordensgründern in den Rückwänden der Sitze, den Dorsalen, wobei der Schwerpunkt auf Orden von Eremiten liegt. Das Gesims wird von Skulpturen der zwölf Apostel dominiert.
== Geschichte ==
=== Vorgeschichte ===
Der Vorgänger des Chorgestühls von Ignaz Waibl war relativ einfach gestaltet, vergleichbar mit dem Gestühl, das noch in der ehemaligen Kartause Christgarten steht. Nachrichten über vorbarocke Gestühle gibt es nicht. Im Zuge der Erneuerung der Kartausenkirche gab der damalige Prior Johannes Bilstein den Bau eines neuen Chorgestühls in Auftrag, mit dem 1687 begonnen wurde. Bilstein war einer der bedeutendsten Prioren in Buxheim. Er wurde um 1626 in Köln geboren, legte am 22. Juli 1648 seine Profess in Danzig ab, wo er zunächst als Vikar tätig war. Bevor er 1678 Prior in Buxheim wurde, leitete er die Kartause in Schnals in Tirol (1661–1670) und die Kartause Karthaus bei Danzig (1670–1678). Gleichzeitig lernte er als Visitator und Konvisitator zahlreiche Kartausen kennen. Er bereiste neben der niederdeutschen auch die oberdeutsche Provinz, fuhr nach Österreich und Böhmen und in die spanischen Provinzen Katalonien und Kastilien. Inspiriert durch die Eindrücke, die er auf seinen vielen Reisen gesammelt hatte, ließ er in Danzig ein Chorgestühl anfertigen, das zu einem überaus kunstvollen Meisterwerk der Innenarchitektur wurde. Das 1677 vollendete Gestühl ist aus Eichenholz geschnitzt und besitzt einen bis dahin in Kartausen noch nicht gesehenen Reichtum an Figuren und Ornamenten. Neben italienischen Einflüssen ist das Gestühl des Chorherrenstifts in Sitten in der Schweiz erwähnenswert, bei dem Bilstein die Zwischenwangen mit Pflanzendekor und Engelsköpfen bewundert hatte und sie ähnlich in Danzig verwirklichen ließ. Das Buxheimer Chorgestühl ist also bereits das zweite Gestühl, das unter der Leitung von Johannes Bilstein gefertigt wurde. Übereinstimmungen mit dem Danziger Gestühl sind nicht zu übersehen.
=== Erstellung des Chorgestühls durch Ignaz Waibl ===
Für die Bildhauerarbeiten am neuen Chorgestühl beauftragte der Prior den Tiroler Bildhauer Ignaz Waibl, für die Schreinerarbeiten Meister Peter aus Memmingen. Dieser Meister erscheint in den Klosterarchivalien als Meister Peter, der Schreiner aus der Stadt, ist jedoch in keinem der noch vorhandenen Memminger Archivalien aufgeführt. Es wird daher davon ausgegangen, dass der Schreinermeister aus einem Dorf unweit der Stadt Memmingen gekommen ist. Warum Bilsteins Wahl auf Ignaz Waibl fiel, ist nicht bekannt. Ob die Entwürfe für das Chorgestühl von Waibl selbst stammen, lässt sich nur vermuten; das ikonographische Programm wurde von den Kartäusern vorgegeben.
Der Bildhauer richtete für sich und seine Gesellen eine Werkstätte in der Kartause ein. Aufgrund unterschiedlicher Qualität geht die Forschung von etwa fünf bis sieben Figurenschnitzern und einigen Gesellen aus, die für das Laubwerk zuständig waren. Johann Georg Dettelbacher aus Ochsenfurt ist der einzige von ihnen, der namentlich gesichert ist. Das Manuale des Priors Bilstein nennt mit Joseph und Johannes die Namen von zwei weiteren Bildhauern, die nicht näher bekannt sind. Privat und beruflich war Waibl mit dem Tiroler Bildhauer Andreas Etschmann verbunden. Es ist denkbar, dass beide zunächst in Buxheim und anschließend in Rot an der Rot zusammengearbeitet haben. Der Beginn der Arbeiten kann aufgrund von Rechnungen auf den Herbst 1687 datiert werden. In den Jahren zuvor hatte schon Prior Petrus von Schneit rund 200 Eichen in den klostereigenen Wäldern fällen und das Holz einlagern lassen. Dass für das Gestühl abgelagertes Holz verwendet wurde, ist vor allem an den Schwundrissen erkennbar, die bereits bei der Bearbeitung ausgespänt wurden und sich seitdem nicht veränderten.
Die beiden ersten Stühle waren im Februar 1688 fertig und wurden am 11. Februar mit 121 Gulden bezahlt. Auf der Rechnung erscheint der Name Ignaz Waibl in Zusammenhang mit dem Chorgestühl zum ersten Mal in den Buxheimer Archivalien. Schreinermeister Peter erhielt für die beiden Stühle 80 Gulden, weitere Stühle wurden ihm im Juli und November 1689 bezahlt. Bei der Rechnung im November ist vermerkt, dass die Schreiner an den 15 Stühlen ein Jahr und acht Monate gearbeitet haben. Ignaz Waibl wurde dafür mit 730 Gulden entlohnt. Das Gestühl mit 36 Stallen, je 15 an der Nord- und Südseite des Chores und 6 an der Westseite vor dem Kreuzganglettner, war 1691 fertig. Im Mai erhielt Waibl die Abschlusszahlung, im Oktober desselben Jahres schnitzte er noch das Portal des Gestühls, was ihm weitere 75 Gulden einbrachte. Der Schreinermeister Peter erhielt ebenfalls 1691 die letzte Zahlung. Schlossermeister Georg Eberhard der Jüngere aus Memmingen stellte im selben Jahr das Schloss, die Beschläge und die Türbänder für das Portal her und wurde dafür mit 60 Gulden entlohnt. Am 17. April bekam Johann Friedrich Sichelbein 7 Gulden und 12 Kreuzer für die Vergoldung und Fassung der Bänder.
Den Zelebrantensitz, auch Priorenstuhl genannt, der für den zelebrierenden Priestermönch bestimmt war, fertigte Ignaz Waibl zwischen 1699 und 1700 an. Aufgestellt wurde der Sitz an der Südseite des Chorgestühls.
=== Neuaufbau nach der Barockisierung der Kirche ===
Die barocke Umgestaltung der Kirche machte eine erste Veränderung des Chorgestühls notwendig. Johann Baptist und Dominikus Zimmermann bekamen den Auftrag, die gesamte Klosterkirche zu barockisieren. Das Gestühl musste 1709 für die Umbauarbeiten abgebaut und eingelagert werden. Der gotische Kreuzganglettner wurde um etwa 2,4 Meter nach Osten verlegt, was eine Verkürzung des Priesterchors und damit des Chorgestühls zur Folge hatte. Beim Wiederaufbau wurde auf insgesamt fünf Stühle und die dazugehörigen Pulte verzichtet, die Nordseite wurde auf zwölf, die Südseite auf dreizehn Stallen reduziert. Dabei ging die Symmetrie im architektonischen Aufbau der Dorsalfelder zwischen Nord- und Südseite verloren, die beim Chorgestühl in der Kartause Ittingen, das in der Nachfolge des Buxheimer Gestühls steht, noch vorhanden ist. Über die Skulpturen dieser fünf Stallen ist nichts überliefert.
Vor dem Umbau mussten die Mönche beim Betreten des Priesterchores zwei Stufen hinabsteigen. Diesen Höhenunterschied von etwa 27 Zentimetern entfernte man bei der Barockisierung durch Tieferlegung des Kreuzganges. Das Portal musste dabei um dasselbe Maß nach unten versetzt werden, was zum Verlust der von Waibl geschaffenen harmonischen Verbindung zwischen Portal und Gestühl führte. Über weitere Umbaumaßnahmen ist nichts bekannt, es kann jedoch angenommen werden, dass später nur kleinere Instandsetzungsarbeiten am Gestühl vorgenommen wurden.
=== Besitzwechsel durch Säkularisation, Versteigerungen und Schenkung ===
Aufgrund der Säkularisation kam Buxheim 1803 in den Besitz des Grafen Maximilian von Ostein, der die Kartäuser vorerst noch duldete. Nach seinem Tod 1809 wurde die ehemalige Reichskartause Eigentum der Grafen Waldbott von Bassenheim. Diese lösten den Konvent im April 1812 auf. Mit dem Tod des Grafen Friedrich Karl Waldbott von Bassenheim wurde die Kirche 1830 zur Gruftkirche. Da sein Sohn Graf Hugo Philipp Waldbott einen verschwenderischen Lebensstil pflegte, begann er ab 1850 mit der Veräußerung von Kartausenbesitz. Die ersten Verkaufsabsichten für das Chorgestühl sind für das Jahr 1882 belegt. Graf Hugo Philipp bot es dem bayerischen Gewerbemuseum in Nürnberg zum Kauf an. Die dortigen Verantwortlichen baten um fotografische Aufnahmen des Gestühls. Graf Hugo Philipp ließ mehrere Fotografien anfertigen und übersandte sie dem Museum. Ein Verkauf kam nicht zustande.Der Gesamtbesitz des Grafen wurde am 2. Mai 1883 gerichtlich gepfändet. Damit stand eine Zwangsversteigerung unmittelbar bevor, die auch das Gestühl im Priesterchor betroffen hätte. Um sie zu verhindern, entschloss sich Graf Hugo Philipp zur Versteigerung fast aller verkäuflichen ehemaligen Klosterbesitztümer. Dabei wurden außer dem Gestühl des Priesterchores das Gestühl des Brüderchores, die Bibliothek mit ihren 16.680 Büchern, Altäre, Gemälde und Silbergegenstände angeboten. Am 23. Juni 1883 kamen die Gegenstände in München an. Die Versteigerung des Chorgestühls fand am 14. September 1883 statt, erbrachte mit 42.100 Mark jedoch bei weitem nicht den erhofften Erlös. Der Zelebrantensitz blieb in der Kirche. Nur das Sitzmöbel des Zelebrantensitzes, das so genannte Hockerl, kam für 700 Mark unter den Hammer. Das Chorgestühl wurde an die holländische Händlerfirma Gebrüder Adelaar in Amsterdam verkauft und ging zunächst nach Brüssel. Nachforschungen nach dem Aufbewahrungsort blieben ohne Ergebnis. Möglicherweise war das Chorgestühl für eine Ausstellung in Amsterdam vorgesehen. Im Februar/März 1886 wurde eine Fotografie des Gestühls angefertigt, die das erzbischöfliche Museum in Utrecht 1938 dem Landesamt für Denkmalpflege übersandte. Eine Aufstellung in Holland ist archivalisch nicht gesichert.
In London tauchte das Gestühl 1886 wieder auf. Im August desselben Jahres wurde es in der Times als Versteigerungsobjekt bei Bonhams angeboten. Am 1. September 1886 ersteigerte Edward Howley Palmer, der Direktor der Bank of England, das Chorgestühl für 3500 Pfund und schenkte es den Schwestern des St. Saviour’s Hospital in London, die es mit schwarzem Lack überstreichen ließen. Danach stellten sie 18 der 31 Stallen in der Kapelle ihres Hospitals in Hufeisenform auf, je 7 Stühle an den Längswänden und je 2 Stühle neben dem Portal an der Westwand. Der Rest des Gestühls wurde auseinandergenommen, zersägt, angepasst und als Betpulte, Stühle oder Wandvertäfelungen verwendet. Die Fertigstellung konnte am 1. November 1888 gefeiert werden. Der Konvent in London nutzte das Chorgestühl in dieser Kapelle 75 Jahre lang.
=== Neubau in Hythe ===
Wegen einer Straßenregulierung in den Jahren 1963 bis 1964 mussten Kapelle und Hospital abgebrochen werden. Die Schwestern verlegten ihren Standort nach Hythe in der Grafschaft Kent. Die Priorin des Konvents, Reverend Mother Sladys Cathleen Bush, nahm Kontakt mit Buxheim auf. Sie besuchte mit ihrem Architekten die ehemalige Reichskartause im Oktober 1963, um sich ein Bild vom ursprünglichen Ort der Aufstellung des Chorgestühles zu machen. Sie beabsichtigte, in Hythe eine Kapelle nach den Maßen des Buxheimer Priesterchores zu errichten. Als die Kapelle im Jahre 1964 fertiggestellt war, begann man mit dem Einbau des Gestühls. Es wurden dabei Veränderungen gegenüber der Aufstellung in London vorgenommen. Im neuen Aufbau wurden die Längsseiten mit je acht Stallen und einer Pultreihe besetzt. Neben dem Eingangsportal wurde je eine Doppelstalle platziert. Die Rahmung des ursprünglichen Portals wurde als Hochaltar umgestaltet. Am 14. Juni 1965 wurde die Kapelle mit dem eingebauten Chorgestühl eingeweiht.
Im Jahre 1979 entschloss sich der Konvent zur Aufgabe des Hospitals und der Kapelle und zum Verkauf des Chorgestühls. Die Priorin Sladys Cathleen Bush sah es als beste Lösung an, das Chorgestühl an Buxheim zurückzugeben.
=== Die Rückkehr des Chorgestühls ===
Die Nachricht von dem bevorstehenden Verkauf und dem Wunsch der Priorin erreichte Peter Burman, damals Sekretär des Council for the Care of Churches. Bei einem internationalen Symposion für Konservierungsfragen berichtete er im Sommer 1979 von diesem Sachverhalt dem Leiter der Restaurierungswerkstätten des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege Dr. Karl-Ludwig Dasser, der sich sofort für das Gestühl interessierte. Zurück in München erhielt er vom Generalkonservator Michael Petzet die Genehmigung für Rückführungsverhandlungen. Der Buxheimer Salesianerkonvent unter Leitung von Pater Herbert Müller stimmte zu. Am 8. Dezember trafen sich Müller, Dasser und Burman mit der Priorin Cathleen Bush zu Verhandlungen in Hythe. Gleichzeitig wurden mit Professor John Withe, einem Mitglied des Reviewing Committee on the Export of Works of Art Kontaktgespräche geführt. Weil die Zeit für den Abbau des Gestühls knapp war, wurde das Auktionshaus Sotheby’s mit dem Verkauf zu einem Schätzpreis von 450.000 Pfund Sterling beauftragt. Die Firmenleitung bekundete, dass es ihre Meinung sei, dass das Kunstwerk an seinen Ursprungsort zurückkehren sollte. Der Freistaat Bayern, der durchaus Interesse an dem Gestühl hatte, konnte in so kurzer Zeit keine haushaltsrechtlichen Voraussetzungen schaffen, um den Kaufpreis zu bezahlen. Um eine erneute Auktion und damit unter Umständen die komplette Zerstückelung des Gestühls zu vermeiden, sagte schließlich auf Bitten Dassers trotz ungeklärter finanzieller Risiken Georg Simnacher telefonisch zu, dass der Bezirk Schwaben als Käufer auftreten werde. Die Kaufabsichtserklärung wurde wenig später unterschrieben. Am 16. Juli 1980 fand die Kaufverhandlung in München statt. Der Schätzpreis von 450.000 Pfund Sterling konnte nicht reduziert werden. Die Hälfte des Preises wurde mit der Lieferung, die andere Hälfte ein Jahr nach Vertragsabschluss fällig. Die Transportkosten betrugen 34.000 Englische Pfund. Über den Kauf fand am 28. Juli 1980 in Hohenschwangau eine Bezirkstagsversammlung statt. Der Erwerb wurde mit 20 zu 3 Gegenstimmen vom Bezirkstag gebilligt. Am 6. August wurde der Kaufvertrag unterschrieben. Aufgrund der Abwertung der D-Mark im Devisenhandel verteuerte sich das Chorgestühl von den veranschlagten 1,8 Millionen auf 2.065.441 DM.
Nach dem Kaufabschluss fuhren die Restauratoren des bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege Edmund Melzl und Christoph Müller nach Hythe und dokumentierten den Abbau. Das Chorgestühl musste zuerst in Canterbury zwischengelagert werden, da noch keine Ausfuhrgenehmigung nach dem britischen Denkmalrecht vorlag. Diese Zustimmung wurde nach Intervention des bayerischen Kultusministers in England beschleunigt und noch im Oktober 1980 erteilt.
Neben dem Land Bayern, das einen Zuschuss in Höhe von 690.000 DM aus dem Entschädigungsfonds gewährte, beteiligten sich die Bundesrepublik Deutschland mit 100.000 DM, die bischöfliche Finanzkammer Augsburg mit 100.000 DM, die Bayerische Landesstiftung mit 250.000 DM und der Landkreis Unterallgäu mit 50.000 DM. Aus der Privatwirtschaft kamen Spenden hinzu, so dass der Bezirk selbst 725.442 DM aufbringen musste. In der Gemeinde Buxheim wartete man ungeduldig auf die Ankunft des berühmt gewordenen Gestühls. Am 4. Dezember 1980 begrüßte die Gemeinde den mit Girlanden geschmückten Container auf einem Speziallastkraftwagen mit Glockengeläut und Blasmusik. Die Schulkinder hatten für den Empfang des Chorgestühls schulfrei und konnten zusammen mit den Erwachsenen im Klosterhof der ehemaligen Kartause die Ankunft feiern. Noch im Klosterhof begann der damalige Bezirkstagspräsident Georg Simnacher mit dem Auspacken des Gestühls. Der erste Heilige, der wieder auf Buxheimer Boden begrüßt werden konnte, war der heilige Jakobus der Ältere. Simnacher hielt ihn hoch und schrie in die Menge „Es isch wieder dau!“. In einem Interview für den Rundfunk sagte Simnacher danach „Dies ist eine Stunde des europäischen Verständnisses für Kunst und Denkmalschutz.“
=== Restaurierung und Wiederaufbau ===
Nach einem Verzicht des Freistaats Bayern auf ein Miteigentum wurde der Bezirk Schwaben alleiniger Eigentümer des Chorgestühls, das als Dauerleihgabe des Bezirks an seinen Platz in der Kirche zurückkehrte. Weil der Lettner aus liturgischen Gründen nicht wieder geschlossen werden sollte, wurde zunächst nur an einen Teilaufbau am ursprünglichen Platz gedacht. Zuerst wurden gemeinsam mit englischen Restauratoren die zwei Reihen zu je acht Sitzen, wie sie in Hythe aufgestellt waren, mit den dazugehörenden Pulten provisorisch aufgebaut und am 24. Mai 1981 geweiht. Bei einem anschließenden Festakt erhielt die Priorin Cathleen Bush das Ehrenbürgerrecht der Gemeinde Buxheim. Die nicht aufgebauten Teile des Gestühls wurden in der ehemaligen Magdalenenkapelle zwischengelagert.Restaurierung und Wiederaufbau erfolgten in zwei Phasen und begannen bereits im Frühjahr 1981 unter der Leitung von Edmund Melzl. Bevor der Bezirk Schwaben eine geregelte Finanzierung übernahm, wurden die Arbeiten aus Spendenmitteln finanziert, die der Heimatdienst Buxheim zur Verfügung stellte. In den Jahren 1981 bis 1986 bestand die Hauptarbeit im Entfernen des schwarzen Anstrichs. Das Gestühl wurde mit Hilfe von 3500 Litern Ethylalkohol von der Farbe befreit. Der erste Arbeitsabschnitt verursachte Kosten in Höhe von 880.000 DM. Von 1986 bis 1992 mussten die Arbeiten am Gestühl eingestellt werden, da die Kirche restauriert wurde.
Im Mai 1992 begann der zweite Abschnitt des Wiederaufbaus, für den als Anhaltspunkt lediglich die in den 1880er Jahren zu Verkaufszwecken angefertigten Fotografien herangezogen werden konnten. Mehr Teile als anfangs gedacht mussten nachgeschnitzt werden. Akanthusschmuck, Fruchtgehänge und Masken waren zu ergänzen oder ganz zu erneuern. Für elf Stühle musste ein neues Gebälk angefertigt werden. Von 25 Pulten waren nur noch 21 erhalten geblieben. Für diese Erneuerungen wurden 1991 Eichenholzblöcke aus dem Fränkischen Seenland bestellt und im Kreuzgang gelagert. Insgesamt wurden für die Rekonstruktion etwa zehn Kubikmeter Eichenholz benötigt. Ignaz Waibl hatte etwa achtzig Kubikmeter Holz verarbeitet. Mit den Fortschritten bei der Restaurierung wuchs auch der Wunsch, das gesamte Gestühl in der Fassung von 1883 wiederherzustellen, die wohl weitgehend mit der Aufstellung von 1711 übereinstimmte. Georg Simnacher führte Gespräche mit den Salesianern, die die ehemalige Klosterkirche der Kartäuser gottesdienstlich nutzten, und erhielt von ihnen im März 1993 die Zustimmung zur Schließung des Lettners. Jetzt war der Weg zur Rekonstruktion des gesamten Gestühls frei.
Mit dem Aufbau wurde am Portal zur Sakristei begonnen, das bereits ein Jahr zuvor in einfacher Form anhand alter Fotografien rekonstruiert worden war. Das von Waibl geschnitzte Sakristeiportal ist verschollen. Fotos belegen, dass das Gestühl unmittelbar an die Türstockverkleidung grenzte. Zuerst wurde also die Nordseite errichtet, danach die Südseite, im Spätsommer 1993 wurde mit der Westseite begonnen. Dabei wurde der bei der Restaurierung 1955/56 geöffnete Kreuzgang wieder geschlossen und zum Kreuzganglettner zurückgebaut. Der zweite Arbeitsabschnitt schlug mit 1.200.000 DM zu Buche und damit erreichten die Kosten der Wiederherstellung des Chorgestühls, an denen sich wieder mehrere kommunale Geldgeber und der Freistaat Bayern beteiligten, mit rund zwei Millionen DM die gleiche Höhe wie der Kaufpreis. Nach Abschluss der Arbeiten wurde das Chorgestühl am 24. Juni 1994 im Priesterchor feierlich benediziert. Begünstigt durch die hohe Luftfeuchtigkeit in der Kirche hat sich 2011 ein Schimmelpilz im Chorgestühl eingenistet. Es wird versucht eine Beschichtung zu finden, die eine weitere Ausbreitung des Pilzes verhindern soll.
== Beschreibung ==
Das Chorgestühl besteht aus 31 Sitzen und ist hufeisenförmig in Anlehnung an den Kreuzganglettner aufgestellt. Die Nordseite mit ihren zwölf Stallen hat eine Länge von 10,62 Metern, die Südseite mit dreizehn Stallen ist 11,35 und die Westseite mit sechs Plätzen 8,34 Meter lang. Das Gestühl ist dreistufig gegliedert und besteht aus den Sitzen mit Schulterringen, den darauf aufgebauten Dorsalen und dem nach oben abschließenden baldachinartigen Gebälk. Die Sitze sind bis zu den Schulterringen etwa 1,02 Meter hoch, wobei die Sitzhöhe zwischen 46 und 49 Zentimeter schwankt. Die Dorsale haben eine durchschnittliche Höhe von 1,42 Metern, das Gebälk ragt 47 Zentimeter empor. Ein Sitz hat eine Gesamtbreite von etwa 88 Zentimetern. Das Gestühl steht auf einem Laufboden von 38,5 Zentimeter Höhe.
=== Sitze und Pulte ===
Da nur wenige Reste erhalten waren, musste der einstufige Laufboden komplett neu angelegt werden. Die sichtbaren Teile bestehen aus Eichenholz, der Unterbau ist mit Fichtenkanthölzern versteift. Auf dem Holzboden stehen die Sitze. Zwischen zwei Stallenwangen, den Sitzwangen, sind die hochklappbaren Sitzbretter angebracht, die an ihrer Unterseite mit Miserikordien versehen sind, einer Stehhilfe für die Mönche. Die Rückwände sind aus glattem Holz. Die Sitzwangen bestehen aus Akanthusschnitzwerk, das oben in einer konsolenartig geneigten Halbfigur endet, die einem von vier verschiedenen Typen zugeordnet werden kann. Manche Halbfiguren sehen wie Putten mit angelegten Flügeln aus, es gibt einen Tuchtyp mit einem Kopftuch, das den ganzen Rücken bedeckt, einen Tuchtyp mit gekreuzten Armen und eine Gruppe, die durch eine Brustbinde gekennzeichnet ist. Auf den bis zu 44 Zentimeter tiefen Sitzwangen und den Rückwänden liegen Schulterringe.
Vor den Sitzen sind in einem Abstand von 68 Zentimetern Pulte aufgebaut, die zu mehreren Blöcken zusammengeschlossen sind. Um den Zugang zu den Sitzreihen zu ermöglichen, verfügen sechs Stallen über keine Pulte. An der Nordseite stehen zwei Blöcke zu je fünf, am Lettner zu je zwei Pulten. An der Südseite sind einmal fünf und einmal sechs Pulte aneinandergereiht. An den beiden Enden der Blöcke sind auf den schrägen Pultabdeckungen Putten dargestellt, die in Akanthusranken übergehen. Beim Eingangsportal sind es zwei betende Kartäusermönche in der für ihren Orden charakteristischen Variante der Prostratio. Wie die Dorsale sind die Pultvorderseiten architektonisch gegliedert. Die Sockel sind mit Akanthusranken verziert, die sich mittig zu teils bösartig aussehenden Blattmasken formen und dem Dämonischen Ausdruck verleihen. Auf den Sockeln erheben sich aus Blätterwerk Halbfiguren von Gebälkträgern, meist in Engelsgestalt. Die Felder zwischen ihnen sind mit verschiedenen geometrischen Formen geschmückt, mit je einem Engelsköpfchen im Zentrum. Die ersten und letzten Felder der Blöcke auf der Nord- und Südseite sind schmaler und haben eine leere Nische in der Mitte. Puttenköpfe und Akanthusranken füllen die Frieszone des Gebälks.
=== Dorsale ===
Direkt über den Sitzwangen stehen auf den Schulterringen die Hochwangen, bei denen sich an Nord- und Südseite zwei Typen von unterschiedlicher Höhe abwechseln. Die niedrigeren sind 1,42 Meter hoch und enden an der unteren Kante des Gebälks, so dass der Eindruck entsteht, sie würden das Gebälk tragen. Die höheren messen 1,57 Meter und reichen bis ins Innere des hohlen Gebälkkastens. In der Mitte der Hochwangen sind, frontal ausgerichtet, hermenartige Engelsfiguren zu finden, die in durchbrochen geschnitztes Akanthusrankenwerk übergehen. Zwischen den Hochwangen befinden sich die Dorsale, die Rückwände der einzelnen Stallen, mit Rundbogennischen, die einen architektonischen Aufbau haben. Die unterste Ebene bildet ein Sockel mit einer Namenskartusche. Über der Kartusche ist eine von einer Muschel bekrönte weitere Nische mit einer Putten- oder Akanthusblattkonsole für die Heiligenfigur angebracht, die dort aufgestellt ist. Diese Nische ist von Stützelementen, meist Säulen oder Pilastern, flankiert, die ein Gebälk mit einer abwechslungsreich gestalteten Giebelzone tragen. Die Zwickel zwischen Rundbogen und Hochwangen sind abwechselnd mit Puttenköpfen oder Akanthusblättern gefüllt.
Auf den Konsolen der Nischen stehen Skulpturen von Christus, Maria, Ordensgründern und Persönlichkeiten, mit denen einzelne Orden verbunden sind. Diese Figuren sind mit 47 Zentimetern nur etwa halb so groß wie die Statuen auf dem Gesims. Da nicht nur zahlreiche Heiligenattribute und drei Skulpturen abhandengekommen sind, sondern auch drei Namen in den Kartuschen fehlen, musste die Reihenfolge der heutigen Aufstellung mühevoll rekonstruiert werden. Immer noch gibt es mehrere Plätze auf der Nord- und Südseite, bei denen die Zuordnung eines bestimmten Heiligen fraglich erscheint.
==== Westseite ====
Der Eingang wird von Christus und Maria flankiert. Christus ist südlich des Portals, auf der Epistelseite, mit der Weltkugel in der linken Hand als Salvator mundi dargestellt. Seine Rechte ist zum Segnen ausgestreckt. Diese Stalle ist für den Prior bestimmt. Auf der Evangelienseite rafft Maria mit der Linken ihr überlanges Gewand etwas hoch, während die rechte Hand auf ihrer Brust ruht. Die Plätze neben Christus sind Elija und Paulus von Theben gewidmet. Der alttestamentliche Prophet Elija, der von den Karmeliten als ihr Ordensstifter verehrt wird, tritt mit seinem linken Fuß auf einen abgeschlagenen bärtigen Kopf. Dieses Attribut steht in Bezug zum Gottesurteil auf dem Karmel, als Elija nach seinem Sieg über die Propheten des Baal diese töten ließ (1 Kön 18,16–40 ). Der Platz des Paulus von Theben ist leer, seine Statue verloren gegangen, nur die Inschrift auf der Namenskartusche erinnert an ihn. Er war der erste Einsiedler und wurde zum Vorbild für die Pauliner. Die Statue von Johannes dem Täufer ist verschollen. Besondere Verehrung brachten ihm die Einsiedler vom heiligen Johannes entgegen, ein Orden, der 1575 von Papst Gregor XIII. bestätigt wurde. Der Name des Täufers auf der Kartusche zeigt an, dass er den Platz neben Maria innehatte, gefolgt von Antonius dem Großen, dem Vater des abendländischen Mönchtums, leicht zu erkennen am Antoniuskreuz auf seinem Umhang und dem Glöckchen in seinen Händen. Auf ihn berufen sich die Antoniter. Sie machten mit dem Läuten des Antoniusglöckchens bei Sammlungen für ihre Spitäler aufmerksam.
==== Südseite ====
Auf Paulus von Theben folgt auf der Südseite Basilius der Große, der als Vater des morgenländischen Mönchtums angesehen wird. Als einer der großen griechischen Kirchenlehrer wird er im bischöflichen Ornat mit dem Evangelienbuch dargestellt. Nach seinen Regeln leben die Mönche des griechischen Ritus. Nach der Inschrift auf der Kartusche soll im nächsten Dorsalefeld eine Skulptur des heiligen Augustinus stehen, der meist als Bischof mit einem flammenden Herzen als Attribut abgebildet wird. Die Statue zeigt ihn im Ordensgewand mit einem Buch ohne ein individuelles Attribut, das letzte Sicherheit geben könnte. Im dritten Feld ist der Benediktinerabt und Reformer Odo von Cluny zu sehen, der die Regeln für seinen Orden verschärfte. Neben ihm befindet sich Bruno von Köln, der Gründer der Kartäuser, in seiner Ordenstracht. Der Eremit Wilhelm von Malavalle hebt sich von allen anderen durch seine ungewöhnliche Kleidung ab. Er trägt einen Helm und einen Kettenpanzer unter einem Bußgewand aus Fellen. Seine Hände sind zum Gebet gefaltet. Er ist Vorbild für die Wilhelmiten, deren Orden an seinem Grab gegründet wurde. Die nächste Kartusche ist mit Stephan von Muret, dem Namen des Gründers der Grammontenser beschriftet. Die Skulptur kann ihm nicht mit letzter Sicherheit zugeordnet werden. Dargestellt ist ein Mönch, der mit dem rechten Zeigefinger einen Ring hält. Keine Zweifel gibt es bei Johannes von Matha, dem Mitbegründer der Trinitarier, der mit seinem Ordensgewand bekleidet ist. Auf dem Skapulier ist in Brusthöhe deutlich das Ordenskreuz erkennbar.
Bei der nächsten Stalle fehlt die Namenskartusche und so lässt sich nach Friedrich Kobler nicht belegen, wer dort vorgesehen war. Franz von Paola, der Gründer der Paulaner (Minimen), gehört zeitlich ins 15./16. Jahrhundert und passt nicht zwischen Johannes von Matha und Petrus Nolascus, die beide ins 12./13. Jahrhundert zu datieren sind, da die Personen in den beiden Längsreihen chronologisch von West nach Ost angeordnet sind. Gegen die These, dass es sich bei der Figur um diesen Ordensstifter handelt, spricht, dass seine Tonsur fehlt und er nicht durch einen Strick über dem Skapulier gegürtet ist. Petrus Nolascus ist Mitgründer der Mercedarier und kann durch das Wappen des Königreiches Aragon auf seinem Skapulier eindeutig identifiziert werden. Wegen fehlender Kartusche lässt Kobler die Besetzung der nächsten Nische offen. Zu sehen ist Birgitta von Schweden, die Gründerin des Birgittenordens, die ein Buch in ihren Händen hält. Unter ihrem Kopftuch wird die sogenannte Birgittenkrone sichtbar, die zur Ordenstracht der Birgittinen gehört. Neben ihr steht Kajetan von Thiene, Mitgründer der Theatiner, bekleidet mit einer gegürteten Soutane und einem Mantel mit einem Kragen. Auf ihn folgt im Messgewand und mit ausgebreiteten Armen Ignatius von Loyola, der Gründer der Jesuiten. Gemäß der Inschrift ist Philipp Neri, der den Orden der Oratorianer gründete, der letzte in der bei der Barockisierung verkürzten Reihe. Er trägt einen langen Mantel über der mit dem Zingulum gegürteten Soutane.
==== Nordseite ====
Der Kirchenvater Hieronymus nimmt den ersten Platz im Westen der Nordseite ein. Mit dem rechten Fuß auf einem Löwen stehend, dem er der Legende nach einen Dorn aus der Pranke gezogen hatte, wird er nicht, wie oft üblich, als Kardinal abgebildet, sondern als büßender Einsiedler. Er ist spärlich bekleidet, nur mit einem Tuch um seine Hüften, und schlägt als Bußübung mit der rechten Hand mit einem Stein auf seine Brust; mit der linken hält er seine Bibelübersetzung empor. Benedikt von Nursia, mit einem Buch in seiner Rechten, auf dem sich ein zersprungener Becher befindet, war Gründer der Benediktiner und wird ebenso wie Antonius der Große als Vater des abendländischen Mönchtums bezeichnet. Der Becher weist auf die Legende hin, in der berichtet wird, dass Mitbrüder den Heiligen wegen seiner strengen Zucht töten wollten. Als Benedikt den Becher mit vergiftetem Wein segnete, zersprang er und der Wein lief aus. Gemäß den Inschriften sollen auf den beiden nächsten Plätzen Romuald von Camaldoli, der Gründer der Kamaldulenser, und Robert von Molesme, Mitbegründer der Zisterzienser, stehen. Bei beiden Figuren gibt es leichte Unsicherheiten, da sie durch keine charakteristischen Attribute eindeutig bestimmbar sind. Anders ist die Lage bei Norbert von Xanten, dem Gründer der Prämonstratenser, der trotz fehlender Attribute an seiner Kleidung erkennbar ist, die auf sein Dasein als Regularkanoniker und auf seine Tätigkeit als Erzbischof von Magdeburg hinweist.
Ebenso eindeutig identifizierbar ist Guido von Montpellier, der Gründer der Brüder vom Orden des Heiligen Geistes, bekleidet mit Talar, Birett und einem Mantel. Auf Mantel und Talar ist als Ordenszeichen ein Patriarchenkreuz mit gespaltenen Enden zu sehen. Auf ihn folgt Dominikus von Caleruega, Gründer der Dominikaner, mit einem Hund als Attribut zu seinen Füßen.
Seine Mutter hatte geträumt, ihr Sohn wäre ein Hund mit einer Fackel im Maul, die die ganze Welt erleuchtet. Die Fackel an der Statue ist verloren gegangen. Das Dorsalefeld neben Dominikus ist leer; die Kartusche gibt an, dass es der Platz von Philippus Benitius ist, dem Generalprior der Serviten. In der nächsten Nische ist die Statue von Petrus de Murrone aufgestellt, einem Einsiedler, der 1294 zum Papst gewählt wurde und als Coelestin V. bereits nach wenigen Monaten sein Amt wieder niederlegte. Als Attribut hält er den abgelegten Papstmantel auf seinem rechten Arm. Er ist Gründer der später nach ihm benannten Coelestiner-Eremiten. Aufgrund der fehlenden Inschrift ist die Figur neben Petrus de Murrone nicht mehr ermittelbar. In der jetzigen Aufstellung ist der Platz mit Franz von Assisi besetzt, dem Gründer des Franziskanerordens. Er ist erkennbar an seinen Wundmalen. Laut Kartusche stellt die vorletzte Skulptur Johannes von Gott dar, den sich die Barmherzigen Brüder zum Vorbild nahmen. Seine Attribute sind verloren. Mit einer Flamme vor ihrer Brust als Zeichen der Gottesliebe steht Teresa von Ávila als Reformerin der Karmeliten am Ende der verkürzten Nordseite.
==== Skulpturenprogramm der Dorsalefelder ====
Bei der Auswahl der Heiligen wurden gemäß der Lebensweise der Kartäuser Einsiedler und Gründer von Eremitenorden bevorzugt. Stichvorlagen für die geschnitzten Figuren hat man bislang nicht gefunden. Eine Identifizierung aller Statuen inklusive ihrer Zuweisung auf die richtigen Plätze ist mit letzter Sicherheit nicht möglich.
Der architektonische Aufbau der Dorsalfelder wechselt von Feld zu Feld. Die einander gegenüberliegenden Dorsale bei der Nord- und Südseite hat Waibl mit großer Ähnlichkeit konzipiert, so dass von einem symmetrischen Aufbau des Gestühls gesprochen werden kann. Bei der Kürzung um fünf Stallen entfernte man nicht nur die letzten Stühle der beiden Reihen, sondern man nahm mitten im Gestühl eine Veränderung vor. Entweder stellte man den Sitz des Franz von Paola in die Südseite willkürlich ein oder man entfernte die ihm gegenüber liegende Stalle auf der Nordseite. Von Westen her sind bis zu dem Paar Dominikus von Caleruega und Johannes von Matha alle Dorsale symmetrisch, Franz von Paola hat kein entsprechendes Gegenüber, dafür gehören die Dorsale von Philippus Benitius und Petrus Nolascus zusammen, und alle folgenden sind unter dem Gesichtspunkt der Symmetrie ebenso um einen Platz verschoben.
=== Gebälk ===
Auf die Dorsalwände und die niedrigeren Hochwangen ist das mit Ornamenten und Figuren geschmückte Gebälk aufgesetzt. Sein Gewicht wird hauptsächlich von Zugankern getragen, die in der Wand des Priesterchores befestigt sind. Der untere Teil des Gebälks besteht aus drei Stufen. Darüber ist eine Frieszone angebracht, gefolgt von einem Kranzgesims. Beim Fries wechseln sich drei Ornamentformen ab, ein Draperietyp mit einem an zwei Seiten durch einen Knoten gerafften Tuch, ein Kartuschentyp mit Akanthusblättern und eine Variation eines Akanthusrankenornaments. Unter dem Gebälk sind zwischen den Hochwangen Girlanden aus Früchten, Blüten und Rankenwerk gespannt.
Auf dem Gesims sind auf der Nord- und Südseite je zur Hälfte die Skulpturen der zwölf Apostel auf kleinen Postamenten platziert. Statt Judas Iskariot gehört sein gewählter Nachfolger Matthias zu ihnen. Sie sind erkennbar an ihren Attributen, von denen etliche verloren gegangen waren und erneuert wurden. Die Bereiche zwischen den etwa einen Meter hohen Aposteln sind mit geschnitzten Engeln, von denen einige Musikinstrumente halten, und Rankenwerk ausgefüllt. Auf der Südseite beginnt die Aufstellung im Westen mit Petrus, der in seiner Rechten zwei Schlüssel als Attribut hält. Neben ihm steht sein Bruder Andreas, mit dem Rücken gegen ein großes Astkreuz, das nach ihm benannte Andreaskreuz, gelehnt. Mit dem Kelch in seiner linken Hand folgt der jugendlich aussehende Johannes. Die nächste Figur stellt Bartholomäus dar, der in der Rechten ein Messer trägt, während über seinen linken Arm die schon abgezogene Haut mit seinem Gesicht gelegt ist. Zwischen Johannes und Bartholomäus halten Engel das von drei Puttenköpfen umrahmte Jesusmonogramm IHS, bei dem der Buchstabe H mit drei Nägeln in einem Herz mit Seitenwunde verankert und mit einem Kreuz überhöht ist. Wegen der Walkerstange in seiner Rechten kann es sich beim nächsten Apostel nur um Jakobus den Jüngeren handeln, der seinen rechten Fuß auf einen Säulenstumpf setzt. Als Letzter in dieser Reihe steht Judas Thaddäus, der sich mit der linken Hand auf seine Keule stützt.
Im Westen der Nordseite steht Matthäus am Anfang der Apostelreihe. Als Attribut ist ihm ein Schwert beigegeben. Kleidung und Ausrüstung eines Pilgers mit Stab, Tasche, Pilgerhut und einer Muschel gehören zu Jakobus dem Älteren. Als Dritter ist Philippus mit dem Kreuzstab in seiner Linken zu sehen, gefolgt von Thomas mit einer langen Lanze. Zwischen ihnen präsentieren zwei Engel ein Marienmonogramm, das von einem Puttenkopf mit Flügeln bekrönt ist. Neben Thomas befindet sich Simon mit einer Säge in der Rechten, die von seinem Postament bis in Schulterhöhe reicht. Den Abschluss bildet Matthias mit einem Beil in der erhobenen linken Hand.
Andreas und Philippus sind die einzigen Apostel, für die eine graphische Vorlage bekannt ist. Es sind Kupferstiche aus dem Apostel-Credo-Zyklus von Hieronymus Wierix (1553–1619), die seitenverkehrt umgesetzt wurden.
Die Skulpturen der Westseite stellen Persönlichkeiten aus dem Alten Testament dar, je zwei zu beiden Seiten des Eingangsportals. Von Nord nach Süd sind es Melchisedech, Aaron, Mose und König David. Melchisedek hält Brote in seiner rechten Hand. Die Weinkanne in seiner linken ist verloren gegangen. Nach Gen 14,18 überreichte er als Priester und König von Salem Abraham Brot und Wein. Aaron trägt ein hohepriesterliches Gewand und hält ein Weihrauchfass in seinen Händen. Sein Bruder Mose präsentiert mit seiner linken Hand die Gesetzestafeln und König David ist als Psalmist an seiner Harfe zu erkennen. Allen Figuren gemeinsam ist eine bewegte Körperhaltung, verbunden mit lebhafter Gestik und einer Leichtigkeit im Auftreten. Bei vielen Figuren ist ein Fuß durch das Betreten von Steinen, Stufen oder eines abgebrochenen Säulenstücks erhöht.
=== Eingangsportal ===
Die beherrschende Figur der Westseite ist die des Erzengels Michael über dem Eingangsportal. Sie stammt von einem anderen Schnitzer als die übrigen Gesimsfiguren, wirkt schwerfälliger und mehr der Tradition verhaftet. Der Erzengel steht auf einem erhöhten Postamentaufbau und überragt die anderen Statuen trotz Tieferlegung des Portals bei der Barockisierung. Mit seiner rechten Hand zeigt er auf den Schild in seiner linken mit den Worten QUIS UT DEUS (Wer ist wie Gott?), der lateinischen Form des Namens Michael. Es bedeutet, dass Gott allein die Herrschaft gebührt. Auf dem Postament steht auf einer herzförmigen Fläche der Eigenname Gottes in hebräischen Buchstaben, das Tetragramm, umgeben von den Köpfen der vier Lebewesen, die nach der Offenbarung des Johannes Gottes Thron umstehen. Sie gleichen einem Löwen, einem Stier, einem Menschen und einem Adler und preisen die Heiligkeit Gottes. Ihr Lobgesang steht auf den Spruchbändern, die zwei Engel halten: Sanctus, sanctus, sanctus Dominus Deus Sabaoth. Das letzte Wort lautet abweichend von (Offb 4,8 ) nicht „omnipotens“, sondern „Sabaoth“ und weist so auf den Mess-Gesang der katholischen Liturgie hin. Auf der Frieszone des Portals, die ursprünglich mit der des Gestühls auf gleicher Höhe war, sind die vier Jahreszeiten dargestellt. In der Mitte trägt ein Atlant das Postament des Erzengels Michael. Links von ihm quellen aus zwei Füllhörnern Blumen und Getreideähren, Symbole für Frühling und Sommer, rechts verweisen Weintrauben auf den Herbst und ein Mönch, der seine Hände über einem Feuer wärmt, auf den Winter. Kunstvoll verschnörkelt ist mit der Zahl 1691 zwischen den Jahreszeiten das Datum der Fertigstellung des Chorgestühls eingefügt. Die Tür, die mit Engelsköpfen verziert ist, wird von zwei Cherubim flankiert. Abweichend vom erhöht aufgestellten Gestühl steht das Eingangsportal direkt auf dem Steinboden.
== Kunstgeschichtliche Einordnung ==
Die Hufeisenform der Chorgestühle entstand bei den Kartäusern zusammen mit der Entwicklung des Kreuzganglettners in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Als einziger Orden im deutschen Sprachraum behielten sie die Verbindung von Chorgestühl und Lettner bis in den Barock hinein bei. Ohne Ausnahme wurden die Stallen im Zellentypus errichtet, wobei Hochwangen für die Trennung der Mönche sorgten, um Ablenkung zu vermeiden. Bei einem Gestühl mit Hochwangen ist die Gestaltung der Dorsale nur bei frontaler Ansicht einsehbar. In der Schrägsicht rücken die rein ornamental gestalteten Hochwangen optisch zusammen und blenden die Rückwand aus. Wie in allen Kartausen ist das Gestühl einreihig aufgebaut, das Eingangsportal im Westen architektonisch mit dem Gestühl verbunden.
Für das Buxheimer Chorgestühl und sein ikonographisches Programm gibt es keine genauen Vorbilder. Dennoch sind zwei Gestühle erwähnenswert, die Einfluss auf seine Gestaltung hatten. Das eine ist das Chorgestühl der Danziger Kartause Marienparadies, angefertigt unter der Leitung von Prior Johannes Bilstein, der seine Erfahrungen vom Bau des Danziger Gestühls in Buxheim einbrachte. Zwischen den beiden Gestühlen gibt es Übereinstimmungen bei den Hochwangen, bei der Zierarchitektur der Dorsalfelder und der Üppigkeit von Ornamenten und Engelsköpfen. Als zweites kommt das Chorgestühl der Klosterkirche von Weißenau in Betracht, das den wichtigsten Teil des ikonographischen Programms, die Darstellung der Ordensgründer, vorwegnahm.
Zusammen mit den Stuckarbeiten aus der Werkstatt des Johann Schmuzer in Wessobrunn ist das Gestühl in Buxheim eines der frühesten Beispiele für die Entwicklung einer eigenständigen Akanthusornamentik im süddeutschen Raum. Mit den Werken, die nach ihm entstanden sind, gehört es zur figürlich ausgestatteten Gruppe der schwäbischen Akanthus-Chorgestühle. Zu ihnen zählen vor allem die hochwertigen Chorgestühle der Klosterkirchen von Rot an der Rot und Schussenried und das Gestühl des Kapitelsaals in Obermarchtal, an denen Bildschnitzer beteiligt waren, die schon unter Führung von Ignaz Waibl ihre Tätigkeit in Buxheim ausgeübt hatten. Die Akanthuschorgestühle lösten die schwäbischen Bildhauergestühle ab, die als Ornamentform das Knorpelwerk verwendeten. Das Chorgestühl der Kartause Ittingen wurde von einheimischen Meistern ebenfalls nach dem Vorbild Buxheims gefertigt. Der Ittinger Prior Christophorus Schmid ließ sich für sein Chorgestühl von Buxheim inspirieren, als er von 1686 bis 1693 als Konvisitator mit Johannes Bilstein die niederdeutsche Provinz der Kartäuser visitierte und des Öfteren in Buxheim zu Gast war. Kennzeichnend für das Buxheimer Gestühl und seine Nachfolger ist nicht nur das Ornament, sondern auch das seltene Programm der Gründer der wichtigsten religiösen Orden, das es außerhalb dieser Gruppe nur in Weißenau gibt.
== Brüderchorgestühl ==
Unter Prior Petrus Leickart wurde 1720 das Brüderchorgestühl angefertigt. Es bestand aus insgesamt 32 Stühlen, die in U-Form im Brüderchor aufgebaut waren. Je zehn Stühle waren an der Nord- und Südseite, zwölf vor der Empore aufgestellt, wobei ein Eingang in der Mitte freigelassen war. Ob der nördliche und südliche Abschnitt unter der Empore deshalb zugemauert wurden, kann heute nicht mehr geklärt werden. In den Rechnungsbüchern von 1720 wird im Zusammenhang mit dem Gestühl der Maler Gabriel Weiß genannt. Ob dieser jedoch für die gesamte Fertigung des Gestühls verantwortlich war, ist fraglich.
Erst bei der Versteigerung 1883 wurde das Brüderchorgestühl wieder erwähnt. Im Katalog ist Folgendes vermerkt: „302. ein Chorstuhl mit sechs Sitzen in weichem Holze, über den Sitzen eine Boiserie mit sieben caryatidenartigen Figuren versehen, die Brüstung mit zwei Theilen und drei Caryatiden rechts und links, auf den Enden Engelsköpfe mit Arabesken; 303. ein Chorstuhl ditto, Gegenstück zum Vorigen, von gleicher Schönheit und sonstiger Qualität wie jener; 304. ein Chorstuhl in weichem Holze mit 10 Sitzen, rückseitig oben Boiserie mit verkröpftem Gesimse; darüber die Sitze oben und unten durch vorspringende reich geschnitzte durchbrochene Abtheilungen getrennt; über dem Gesimse oben ein prachtvoll durchbrochen geschnittener Ornament-Aufsatz, der jedoch zum Theil beschädigt, aber leicht wieder herstellbar ist. Die Brüstung mit Pult vorne mit sechs grossen, getrennt durch sechs prächtig geschnittene Caryatiden, reich umrahmte Füllungen, an den Enden des Pultes je zwei ebensolche Nischen, die Seitenwangen und Enden der vier Pulte durch Laubköpfe mit Engelsbüsten geschmückt; 305. ein Chorstuhl, gleich dem Vorigen, jedoch mit ganz erhaltenem Aufsatze. Zwei Prachtwerke in ihrer Art und wenn nicht als Chorstühle, doch sehr leicht als Boiserie eines Salons verwendbar.“ Wer bei dieser Versteigerung das Brüderchorgestühl erwarb, ist nicht bekannt.
== Literatur ==
Sybe Wartena: Die Süddeutschen Chorgestühle von der Renaissance bis zum Klassizismus. Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität, München 2008, S. 404–414 (uni-muenchen.de [PDF; 5,9 MB; abgerufen am 14. Mai 2010]).
Wolfgang Braunfels (Hrsg.): Lexikon der christlichen Ikonographie. Band 1–8 (1968–1976). Herder Verlag, Freiburg im Breisgau u. a., ISBN 3-451-22568-9.
Michael Petzet (Hrsg.): Das Buxheimer Chorgestühl. Beiträge zur Bau- und Kunstgeschichte der ehemaligen Reichskartause Buxheim und zur Restaurierung des Chorgestühls (= Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege. Arbeitsheft 66). Lipp, München 1994, ISBN 3-87490-569-1.
Edmund Melzl: Jahrbuch der bayerischen Denkmalpflege. Sonderdruck. Band 56/57 (2002/2003). Deutscher Kunstverlag, München, S. 71–78.
Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Bayern III: Schwaben. Deutscher Kunstverlag, München 1989, ISBN 3-422-03008-5, S. 223–226.
Michael Müller (Hrsg.): Die Odyssee des Buxheimer Chorgestühls ist glücklich beendet. Das prachtvolle Chorgestühl ist zurückgekehrt. Eigenverlag, Buxheim 1980.
Michael Müller: Kartausenführer: Buxheim. Kartausenkirche mit Chorgestühl, Pfarrkirche, Annakapelle, Mönchszelle, Kreuzgang und Museum. Eigenverlag, Buxheim 1982.
== Weblinks ==
Offizielle Seite des Deutschen Kartausenmuseums. Abgerufen am 29. Januar 2019.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Buxheimer_Chorgest%C3%BChl
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Das entschleierte Christentum
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= Das entschleierte Christentum =
Das entschleierte Christentum, oder Prüfung der Prinzipien und Wirkungen der christlichen Religion (Le christianisme dévoilé, ou Examen des principes et des effets de la religion chrétienne) ist ein dem Baron d’Holbach zugeschriebenes antichristliches Buch, das vermutlich 1766 unter Pseudonym in Nancy veröffentlicht wurde.
In seinem religionskritischen Erstlingswerk weist Holbach auf Aspekte des christlichen Glaubens hin, die seines Erachtens widersprüchlich sind, und kritisiert besonders den moralischen und politischen Einfluss der christlichen Religion samt ihrem Klerus mit scharfen Worten. Die dargelegten Feststellungen finden zahlreiche Entsprechungen in Holbachs späteren Werken, enthalten jedoch nur latent atheistische Äußerungen und greifen noch hauptsächlich das Christentum im Gegensatz zur Religion im Allgemeinen an.
Anders als frühere religionskritische Veröffentlichungen hat Le christianisme dévoilé keine Analyse über den historischen Ursprung von Religionen oder das Projekt einer deistischen Alternativreligion zum Inhalt, sondern gibt sich unverblümt als antichristliche Propagandaschrift zu erkennen. Das Buch löste in philosophisch-aufklärerischen Kreisen lebhafte Reaktionen aus und wurde sofort nach seinem Erscheinen von den französischen Behörden beschlagnahmt.
== Verfasser ==
Le christianisme dévoilé wurde unter dem Namen „verstorbener M. Boulanger“ veröffentlicht. Schon Zeitgenossen zweifelten an der Autorschaft Nicolas Antoine Boulangers, der für seine posthum veröffentlichten philosophisch-historischen Werke bekannt war, und stellten Mutmaßungen über den wahren Autor an. So schreibt etwa Voltaire 1766 in einem Brief an den Materialisten Helvétius:
Voltaire, der auch selbst häufig Pseudonyme verwendete, war von den Verdächtigungen nicht ausgenommen. In seiner Korrespondenz von 1768 nennt er seinen kürzlich verstorbenen Freund Étienne Noël Damilaville (1723–1768) als Autor – wahrscheinlich, um den Verdacht von sich selbst abzulenken.Die Zuschreibung an Boulanger ist höchstwahrscheinlich auf die Ähnlichkeit des Titels zu dessen Werk L’antiquité dévoilée zurückzuführen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde Le christianisme dévoilé in mehrere von Boulangers Werkausgaben aufgenommen. Auch die These von Damilaville als Autor wurde hin und wieder geäußert. Der Schriftsteller und Kritiker Jean-François de La Harpe berichtete, dass Damilaville den Text teilweise von Diderot diktiert bekommen habe. Die Bücher habe Damilaville bei sich gelagert und für 10 Écus je Exemplar verkauft.Der Bibliothekar und Bibliograph Antoine-Alexandre Barbier widerspricht den Ausführungen La Harpes und stellt Holbach als Autor fest. Laut Barbier wurde das Manuskript Jean-François de Saint-Lambert anvertraut, der es bei dem Verleger Le Clerc in Nancy drucken ließ. Durch Indiskretion habe der Verleger beinahe den Verfasser des Buches und seinen Überbringer in Schwierigkeiten gebracht. Von Nancy seien die Exemplare nach Ferney gelangt, wo Voltaire die zwei ersten Exemplare Damilaville habe zuschicken lassen. Offiziere hätten dann die Bücher massenweise nach Paris gebracht.
Bereits vor Barbier hatte Sylvain Maréchal das Werk in seinem Dictionnaire des athées anciens et modernes Holbach zugeschrieben. Die Autorschaft Holbachs wurde zwei Jahrzehnte später von André Morellet bestätigt.Eine Untersuchung charakteristischer Stilmerkmale Holbachs durch Rudolf Besthorn ergab klare Entsprechungen. Die für Holbach typischen Wiederholungen und Verweise auf vorhergehende Zusammenhänge sind vorhanden, wenn auch nicht in dem Maße wie im 1770 veröffentlichten Système de la nature (System der Natur). Die sehr ähnlichen inhaltlichen Beziehungen zu den gesicherten Werken Holbachs, die bis zu wortwörtlichen Übereinstimmungen gehen, bestätigen dessen Autorschaft und lassen Boulanger, Voltaire und Damilaville auch aus stil- und inhaltskritischer Sicht als Urheber ausscheiden. Eine Mitautorschaft Diderots an dem Werk kann nicht nachgewiesen werden. Indirekte Äußerungen Diderots von 1762 deuten jedoch darauf hin, dass Diderot und Helvétius Kenntnis dieser und anderer Schriften Holbachs hatten, und den Verfasser mit Ratschlägen unterstützten.
== Datierung ==
Die früheste bekannte Ausgabe von Le christianisme dévoilé gibt auf dem Titelblatt 1756 als Erscheinungsjahr an. Dieses Datum ist entweder fehlerhaft oder zum Zweck der Irreführung fingiert, denn der als verstorbener Verfasser genannte Nicolas-Antoine Boulanger verstarb in Wirklichkeit erst drei Jahre später. Das dem Werk vorangestellte Vorwort ist mit „4. Mai 1758“ datiert. Außerdem wird im Buch das Werk Recherches sur l’origine du despotisme oriental zitiert, das erst 1761 erschien.Da im Erstdruck des Werks auf kein Ereignis nach 1761 Bezug genommen wird, liegt es nahe, das Erscheinungsdatum des Werks auf dieses Jahr zu verlegen. Diese Annahme deckt sich mit dem in Barbiers Dictionnaire des ouvrages anonymes et pseudonymes angegebenen Datum. Wahrscheinlicher ist jedoch eine Erstveröffentlichung im Jahr 1766, denn erst ab diesem Zeitpunkt findet das Werk in der philosophischen Korrespondenz und anderen Schriftstücken plötzlich häufig Erwähnung. Für das spätere Datum spricht auch, dass im Titelblatt eines Exemplars der Bibliothèque nationale das Datum von MDCCLVI (1756) durch nachträgliche Einfügung eines „X“ (10) auf MDCCLXVI (1766) korrigiert wurde. Eine Untersuchung der frühesten bekannten Ausgabe ergibt außerdem, dass die Wasserzeichen des Papiers mit 1762 oder 1763 datiert sind.Das Manuskript kann nicht vor 1762 fertiggestellt worden sein, da das zitierte Werk Boulangers, Recherches sur l’origine du despotisme oriental, erst ab Januar 1762 Erwähnung findet. Andererseits fällt auf, dass das andere von Boulanger hinterlassene Werk, L’antiquité dévoilée, mit keinem Wort erwähnt wird. Dieses Werk wurde im November 1765 als im Druck erschienen angezeigt. Daraus kann geschlossen werden, dass das Manuskript von Le christianisme dévoilé zwischen 1762 und Ende 1765 abgeschlossen und im Jahr 1766 veröffentlicht wurde.
== Aufbau ==
Dem Werk ist ein Vorwort in Form einer Antwort auf einen angeblichen Brief eines Lesers vorangestellt, das bereits die wichtigsten Punkte des Werks vorwegnimmt. Der Einleitung über die Notwendigkeit, die Religion einer kritischen Überprüfung zu unterwerfen, folgt in den ersten beiden Kapiteln ein Abriss über die Geschichte des Judentums und Christentums. Daraufhin werden die Glaubensinhalte des Christentums im Einzelnen behandelt und kritisiert. Besonders ausführlich geht Holbach anschließend auf die christliche Moral ein; das Kapitel über die christlichen Tugenden ist das längste des gesamten Werks. Nach einem Kapitel über die religiösen Pflichten und Handlungen folgt eine Darstellung der politischen Auswirkungen der Religion und der Priesterschaft. Die Schlussbetrachtung fasst die Grundgedanken der Schrift noch einmal zusammen und erörtert insbesondere die Aufgaben des aufgeklärten Herrschers.
Holbach führt in seiner Schrift eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Einwände gegen das Christentum an. Seine Argumente aus dem Bereich der praktischen Philosophie umfassen moralische Bedenken gegen den Gott der Bibel, handlungstheoretische Erwägungen, Einwände gegen die christliche Moral und die christlichen Tugenden sowie einige kritische Argumente aus dem Bereich der politischen Philosophie. Unter dem Gesichtspunkt der theoretischen Philosophie kritisiert Holbach die verfehlte Begrifflichkeit des christlichen Glaubens in Bezug auf die behaupteten Eigenschaften Gottes und stellt darüber hinaus sprachphilosophische sowie erkenntnistheoretische Überlegungen an.
Obwohl sich das Buch an eine nur durchschnittlich gebildete Leserschaft wandte, die möglichst schnell überzeugt werden sollte, gab Holbach in seinen Fußnoten zahlreiche Quellen an. Neben Werken der Geschichtsschreibung wird aus verschiedenen religionskritischen Schriften zitiert, darunter die Werke von Jean Meslier, Peter Annet (1693–1769), Thomas Woolston (1668–1733) und Anthony Collins. Der in Le christianisme dévoilé dargelegte Stoff ist größtenteils auch in anderen zeitgenössischen Schriften nachweisbar. Neu ist die Aufbereitung im Sinne einer möglichst schlagkräftigen Gesamtdarstellung, die auf taktische politische Erwägungen keine Rücksicht nimmt.
== Inhalt ==
=== Vorwort und Einleitung ===
Im Vorwort beantwortet Holbach den angeblichen Brief eines Lesers, welcher einerseits der Kritik an den christlichen Glaubensvorstellungen zustimmt, aber andererseits einwendet, dass das gemeine Volk eine Religion brauche, da es ansonsten durch nichts von Verbrechen abgehalten werden würde. Holbach entgegnet, dass nicht die Religion, sondern Gesetze das Volk zügelten, und stellt deshalb dem Kritiker die Frage, ob er etwa zu jenen „kleinmütigen Denkern“ gehöre, „die meinen, die Wahrheit könne schaden“. Alles deutet darauf hin, dass das Vorwort an Voltaire gerichtet ist, und dass Holbach dessen vorhersehbare Einwände gegen den Inhalt des Buchs von vornherein entkräften wollte.Holbach stellt in der Einleitung klar, dass die Anbetung eines Gottes nicht mit der zu erwartenden Belohnung oder Bestrafung durch diesen Gott begründet werden sollte. Vielmehr müsse der Mensch Vernunft anwenden, um die Ursachen seiner Wünsche und Befürchtungen zu ergründen, und nur wenige seien dazu bereit. Der Einzelne, ob arm ob reich, halte nur deshalb am Glauben fest, weil man ihn von Kindheit an so erzogen und unterrichtet habe; auf diese Weise hätten sich religiöse Ansichten über Jahrhunderte halten können:
Da die christliche Religion ihrem als grausam und bösartig beschriebenen Gott eine Vorbildfunktion attestiere, habe sie dem Volk nur Hass, Zwietracht und Gewalt gebracht. Auch Könige und Herrscher hätten durch das Christentum nichts gewonnen, da sie sich immer wieder dem Priestertum hätten fügen müssen. Umso wichtiger sei es, den Schleier des Christentums zu lüften und dessen Prinzipien zu ergründen.
=== Geschichte und Ursprung der judeo-christlichen Religionen (Kapitel 2 und 3) ===
Die Geschichte der jüdischen und christlichen Religion wird vom Verfasser kurz und in trockenen Worten beschrieben; das von Fontenelle (De l’origine des fables) und Boulanger (L’antiquité dévoilée) verfolgte Ziel, durch eine historische Analyse die menschlich-psychologischen Ursachen der Glaubensvorstellungen aufzudecken, interessiert ihn dabei nur am Rande. Holbach stellt den Ursprung des „jüdischen Volks“ – „in einer kleinen Gegend, kaum von den anderen Völkern beachtet“ – als betont banal und bedeutungslos dar, um ihm jede Glaubwürdigkeit abzusprechen. Zur wenig verheißungsvollen Ausgangssituation dieses Volks komme dessen Aberglaube und Ignoranz. Mose habe aus den Hebräern „besessene und wilde Monster“ gemacht, die andere Götter gehasst hätten und die, wie im 1. Buch der Könige berichtet, barbarisch gegen andere Nationen vorgegangen seien. Als Sklaven verschiedener Völker seien die Juden – stets ein Opfer ihrer Leichtgläubigkeit – hart und „wohlverdient“ behandelt worden, bevor sie unter der Vorherrschaft der Römer noch fanatischer geworden seien. Dies seien die Umstände gewesen, so Holbachs judenfeindliche Darstellung des Alten Testaments, unter denen das jüdische Volk seinen Messias erwartete.Der Ursprung des Christentums wird in ähnlich nüchternem und bisweilen sarkastischem Ton beschrieben. Ein armer Jude sei plötzlich aufgetaucht, der eine ignorante Anhängerschaft davon überzeugt habe, dass er der Sohn Gottes sei, und der schließlich von den anderen Juden hingerichtet wurde. Holbach betont die ägyptischen, phönizischen, platonischen und anderen Einflüsse der neuen „plumpen und zusammenhangslosen“ Religion – ein Thema, das in den folgenden Kapiteln immer wieder angesprochen wird. Zunächst hätten sich nur die Armen unter den Juden und Heiden von einem Gott, der den Reichen und Großen feindlich gesinnt war, angesprochen gefühlt. Erst die wohl oder übel zum Christentum übergetretenen römischen Kaiser hätten der Kirche zur Unabhängigkeit und schließlich zur Vorherrschaft verholfen. Der Gegensatz zwischen der von Christen gepredigten Nächstenliebe und ihrer fanatischen Grausamkeit erkläre sich durch die Übernahme des jüdischen Gottes, dessen furchtbares Wesen durch den Begriff der ewigen Höllenqual noch verschärft worden sei.
=== Offenbarungen und Glaubensinhalte des Christentums (Kapitel 4–8) ===
Holbach versucht zwischen Fakten und religiösen Mythen zu unterscheiden; erst im Anschluss an die historisch orientierte Darstellung der vorherigen Kapitel beschäftigt sich das Werk mit der Offenbarung. Von Anfang an bemüht sich der Autor, die Abwegigkeit der christlichen Glaubensinhalte aufzuzeigen, beginnend mit einer spöttischen Darstellung des biblischen Schöpfungsmythos: „Kaum hat dieser Adam das Licht der Welt erblickt, stellt ihm sein Schöpfer eine Falle …“; ähnlich absurd sei das Sühnopfer Jesu Christi. Eine auf einem derart willkürlich handelnden Gott begründete Moral müsse unsicher sein. Die Frage, inwieweit das Übel in der Welt mit der angeblichen Güte Gottes zu vereinbaren sei (Theodizeeproblem), sei nicht durch die Existenz eines Teufels oder durch die Unerklärbarkeit von Gottes Handeln zu beantworten:
Um eine Vorstellung von Gott zu haben, könne man nicht auf die Offenbarung zurückgreifen, denn diese könne nicht ihre eigene Richtigkeit beweisen. Zweifel an ihren Aussagen würden sich nicht mit der Begründung beiseiteschieben lassen, dass es sich um Mysterien handle, denn ein allgütiger Gott würde sich für jedermann klar ausdrücken. Dies sei offensichtlich nicht der Fall, da jeder die Bibel anders interpretiere, Theologen eingeschlossen. Tatsächlich biete das Christentum keine Vorteile gegenüber jedem anderen „Aberglauben, der das Universum verpestet“, wie zum Beispiel dem Glauben an Brahma oder Odin. Für Wunder gebe es keine ernsthaften Belege; sie seien nur erfunden worden, um die Menschen von Unmöglichem zu überzeugen. Die vagen Prophezeiungen des Alten Testaments habe man durch erzwungene Interpretationen und Allegorien zu erfüllen versucht. Märtyrer würden ebenso wenig beweisen, denn nicht nur der Fanatismus, sondern alle Gefühlsregungen hätten ihre Märtyrer.
Holbach stellt die Frage, inwiefern Eigenschaften wie Unendlichkeit, Ewigkeit, Allmacht oder Gerechtigkeit mit dem Gott der Bibel vereinbar seien. Die Dreifaltigkeit ließe sich nur durch forcierte Erklärungen biblisch begründen; die Dogmen der Menschwerdung und Auferstehung seien offensichtlich von anderen Religionen übernommen worden. Die Vorstellung einer Hölle sei nicht nur mit einem gütigen Gott unvereinbar, sondern diene auch dazu, Menschen unterwürfig zu machen und ihre Vernunft zu trüben. Im Übrigen würde nicht der Glaube an Himmel und Hölle die Menschen vor zügellosem Verhalten bewahren, sondern gute Gesetze und eine vernünftige Bildung. Engel, so Holbach, seien in der Phantasie der Christen das, was Nymphen, Laren und Feen in der Vorstellung der Heiden und Römer waren. Wiederum betont er die Parallelen zu anderen Glaubensvorstellungen: Der Glaube an Satan stamme von früheren Religionen, das Konzept des Fegefeuers von Platon.
=== Glaubenspraxis und heilige Schrift (Kapitel 9 und 10) ===
Nach der Erörterung der zentralen christlichen Glaubensinhalte geht Holbach kurz auf die „kindischen und lächerlichen Zeremonien“ der Christen ein. Die Taufe sei ein „für die Vernunft undurchdringliches Mysterium, dessen Wirksamkeit erfahrungsgemäß widerlegt wurde“, denn auch nach der Taufe werden offenbar Sünden begangen. Auch bei Transsubstantiation (Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi), Beichte, Gebet und Exorzismus sei „alles Mysterium, alles Magie, alles unverständlich“. Anschließend werden die Inhalte der heiligen Bücher kurz besprochen. Im Gegensatz zur von einigen modernen Theologen vertretenen biblischen Exegese, die bestimmte Passagen der Schrift als symbolisch interpretiert, nahm Holbach die Aussagen der Bibel wörtlich. Schon der Anfang der Bibel zeuge von einer „tiefen Unkenntnis der Gesetze der Physik“ und sei voller Widersprüche. Das gesamte Alte Testament sei eine „plumpe Sammlung, in die obskure und zusammenhanglose Offenbarungen eingestreut sind“. Holbach hält das Neue Testament kaum für glaubwürdiger und verweist auf eine Reihe von Stellen, in denen die Evangelien einander widersprechen. Angesichts eines solchen Buches sei es nicht verwunderlich, dass die Christen immer wieder darüber stritten, was ihr Gott von ihnen wolle:
=== Christliche Moral und Tugenden (Kapitel 11–13) ===
Holbach weist die Vorstellung zurück, dass ohne eine übernatürliche Offenbarung keine Moral möglich sei. In Wirklichkeit habe die Moral als notwendiger Bestandteil der Gesellschaft schon immer bestanden. Die Denker vorchristlicher Gesellschaften – Sokrates, Konfuzius oder die Gymnosophisten – stünden Jesus Christus in nichts nach und würden den christlichen Alleinanspruch auf Werte wie Gerechtigkeit, Patriotismus, Geduld oder Sanftmut widerlegen. Das Christentum sei weit davon entfernt, diesen Werten Heiligkeit zu verleihen, sondern mache sie im Gegenteil nur unsicher, weil ein launenhafter Gott unmöglich als solide ethische Basis dienen könne. Da auf Fanatiker die Vorstellung eines grausamen Gottes stets einen tieferen Eindruck als die eines wohlwollenden Gottes gemacht habe, habe das Christentum mehr Blutvergießen als jeder heidnische Aberglaube zu verantworten. Auch weltliche Herrscher hätten unter den eigenwilligen Moralvorstellungen der Christen zu leiden gehabt. Anstatt Verbrechen unter Berufung auf Gott zu verbieten, solle man eine „natürliche Moral“ lehren, die auf die Selbsterhaltung des Menschen und seinen Platz in der Gesellschaft hinweist.
Die christlichen Tugenden bezeichnet Holbach als wenig tauglich für den Menschen. Die Liebe zu einem ungerechten und furchterregenden Gott sei kaum möglich und, sofern befolgt, von Eifer begleitet: „Ein echter Christ muss sich darüber erzürnen, wenn gegen Gott versündigt wird“. Unter diesem Gesichtspunkt seien auch die Missionierungen und die damit verbundene Gewalt zu verstehen. Wenn weichherzige Gemüter eine romantische Hingebung zu Gott verspürten, dann betrachteten sie ihn nur von der gütigen Seite her und sahen über seine unangenehmen Eigenschaften hinweg. Nächsten- oder Feindesliebe sei wirklichkeitsfremd, denn man könne einen anderen Menschen nur lieben, wenn man ihn kenne und er zum eigenen Glück beitrage. Der Glaube sei nur zur Tugend erhoben worden, um vernunftbasiertes Denken zu verhindern und das Vertrauen in die christlichen Amtsträger aufrechtzuerhalten. Geblendet von der Hoffnung auf das ewige Leben würden Gläubige das gegenwärtige Glück aus den Augen verlieren; die katholische Tugend der Bescheidenheit würdige den Menschen herab und beraube ihn der Tatenkraft. Mit ähnlich scharfem Antiklerikalismus werden der Zölibat und das Verbot der Ehescheidung kritisiert. In der Gesamtbetrachtung, so Holbach, sei keine wahrhafte Moral mit der christlichen Religion vereinbar:
Das Gebet sei ebenfalls absurd, da es der behaupteten Unveränderlichkeit Gottes widerspreche; mit anderen Worten, das Gebet setze einen launischen Gott voraus. Religiöse Feiertage führten dazu, dass dringende Arbeiten unnötigerweise ruhten. Wie kaum ein anderer Kult mache das Christentum seine Anhänger durch Taufe, Beichte und die Androhung von Exkommunikation vom Priestertum abhängig. Anstatt einen nützlichen, aufgeklärten Bürger heranzubilden, impfe man den Menschen von Anfang an Voreingenommenheit ein, die immer nur den Priestern dienlich sei.
=== Politischer und gesellschaftlicher Einfluss des Klerus (Kapitel 14 und 15) ===
Nach den Betrachtungen über die christliche Ethik werden die politischen Folgen des Christentums untersucht. Holbach stellt fest, dass in allen christlichen Ländern zwei gegensätzliche Rechtsordnungen entstünden, die einander bekämpften; durch die Kirche entstehe ein „Staat im Staat“. Wegen der unabwendbaren Zwietracht zwischen den christlichen Konfessionen, zwischen Orthodoxen und Häretikern, habe immer die Politik einschreiten müssen. Stets habe die Kirche Fürsten und Herrscher in ihrem Sinne zu manipulieren gesucht. Dies führe zu einer Tyrannei, unter der das wissenschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Leben des Staates zum Erliegen komme. Ein aufgeklärter und gerechter Herrscher, der sich ernsthaft um das Wohlergehen seiner „Subjekte“ kümmert, habe es dagegen nicht nötig, den Aberglauben zu fördern.
Für Holbach ist der tyrannische Machtanspruch der Kirche auf die christliche Lehre zurückzuführen, die sich auf die unfehlbare göttliche Autorität gründet. In einem geschichtlichen Überblick erläutert er weiter, dass das von den frühen Bischöfen aufgebaute Vermögen zu Zwietracht und Machtstreben unter den Klerikern geführt habe, bis der Bischof von Rom schließlich den Thron bestieg und eine Theokratie aufbaute. Letztlich sei die katholische Religion nur erfunden worden, um die Macht des Priestertums zu sichern, und auch die Reformation sei ein gescheitertes Unterfangen, das sich nicht vom Aberglauben befreien konnte. Eine christliche Gesellschaft habe die Übel, die das Priestertum ihr zufügt, selber zu verantworten.
=== Schlusswort (Kapitel 16) ===
Das Schlusswort des Christianisme dévoilé richtet sich hauptsächlich an die Regierenden, was für damalige Werke durchaus üblich war. Holbach stellt klar, dass es im Interesse der politischen Amtsträger sei, sich von der christlichen Religion und ihrem Klerus zu lösen. Seine Definition der Religion aus politischer Sicht ähnelt Marx’ religionskritischen Thesen:
Es sei die Aufgabe des aufgeklärten Herrschers und nicht der Kirche, die Moral zu lehren und Gerechtigkeit walten zu lassen. Selbst wenn das Christentum einige Menschen von Verbrechen abhalte – was bezweifelt wird –, so seien diese Vorteile nichts im Vergleich zum immensen Schaden, den diese Religion angerichtet habe. Im Gegensatz zu Voltaire, der sein aufklärerisches Programm an den gebildeten Schichten ausrichtete, forderte Holbach eine öffentliche Bildung, die alle Menschen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft einschließt.Mit einem quasi-religiösen Appell schließt Holbach optimistisch, dass die Regierenden nichts von einem aufgeklärten Volk zu fürchten hätten, und dass letztlich Wahrheit und Vernunft triumphieren würden. Obwohl auch Holbach seine Hoffnungen letztlich auf einen aufgeklärten Monarchen setzt, löst er sich von Voltaires Plan, die Herrscher durch taktische Manöver auf die Seite der Aufklärung zu ziehen.
== Beschlagnahmung und Verfolgung ==
Am 1. September 1766 stellte der Pariser Polizeichef Sartine die Verbreitung des Buches in der Hauptstadt fest und beauftragte Joseph d’Hémery, den Vertrieb mit allen Mitteln zu verhindern.Im Frühjahr 1767 wurden 200 Exemplare des Buchs bei einer „Madame Le Jeune“ beschlagnahmt. 1768 wurde aktenkundig, dass ein gewisser Bacot das Werk zum Verkauf anbot. Der Kolporteur Lefèvre, der 1768 unter einer ganzen Reihe philosophischer Neuerscheinungen auch Exemplare von Le christianisme dévoilé besaß, wurde festgenommen und mehrmals verurteilt. Im Oktober 1768 verhaftete die Polizei den Handlungsgehilfen Josserand, den Trödler Lecuyer und dessen Frau wegen des Verkaufs von Büchern, „die den guten Sitten und der Religion widerstreiten“, darunter Le christianisme dévoilé. Der Fall bestätigt, dass auch in unteren Schichten das Buch mit Interesse aufgenommen wurde. Alle drei wurden zu dreitägigem Prangerstehen, Josserand zu Brandmarkung und neun Jahren Galeere, Lecuyer zu Brandmarkung sowie fünf Jahren Galeere und dessen Frau zu fünf Jahren Besserungsanstalt verurteilt. Trotz Lecuyers zahlreichen Vorstrafen war diese Bestrafung außergewöhnlich schwer und löste in philosophischen Kreisen Bestürzung aus.Le christianisme dévoilé zählt zu den Büchern, die der Klerus auf seinen Generalversammlungen (Assemblées du clergé) in den Jahren 1770 und 1775 verurteilte. Im August 1770 wurden per Gerichtsbeschluss mehrere Bücher und Broschüren zum Verbrennen verurteilt, darunter Exemplare von Holbachs Werk.
== Ausgaben ==
Nach dem mit 1756 datierten Exemplar erlebte das Werk 1767 fünf Neuauflagen, darunter möglicherweise einige ausländische Drucke. Für das 18. und 19. Jahrhundert sind zwölf weitere französischsprachige Ausgaben des Werks nachweisbar; die vorübergehend letzte stammt von 1834. Zum Teil wurde Le christianisme dévoilé in vermeintliche Gesamtausgaben von Boulangers Werk aufgenommen. Zu den anhand von erhaltenen Rechnungen identifizierten Verlegern zählt Marc-Michel Rey aus Amsterdam, der ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zum wichtigsten Verleger der französischen Aufklärer wurde.Eine erste englischsprachige Übersetzung durch den Amerikaner William Martin Johnson wurde 1795 in New York gedruckt. Die erste spanische Übersetzung erschien 1821, die erste russische 1924. Die bislang einzige deutschsprachige Übersetzung wurde 1970 zusammen mit zwei weiteren Werken Holbachs von Manfred Naumann herausgegeben.
== Rezeption ==
Die Erstausgabe des Buchs war offenbar schnell vergriffen oder die Verbreitung angesichts der Verfolgung durch die Behörden stark eingeschränkt, denn die unter Bachaumonts Namen veröffentlichten Mémoires secrets bezeichnen 1766 das Buch als „ein vor kurzem gedrucktes und sehr seltenes Werk“. Im Gegensatz dazu erschienen allein 1767 fünf Neuauflagen, die zusammen mit dem hohen Preis des Buchs – laut Diderot bis zu vier Louis je Exemplar – vom Erfolg beim französischen Publikum zeugen. Gleichwohl erreichte das Werk bei weitem nicht die Wirkung des späteren Système de la nature, mit dem die atheistisch-materialistische Bewegung ihren vorläufigen Höhepunkt fand.
=== Reaktionen aus Holbachs geistigem Umfeld ===
In einem Brief vom 24. September 1766 an Damilaville würdigt Voltaire den Inhalt des Buches. Er beglückwünscht nicht nur den Autor, sondern drückt ihm auch seine Wertschätzung aus:
Einige Wochen später berichtet Diderot in einem Brief an Voltaire von einem neu erschienenen Buch, bei dem es sich wahrscheinlich um Le christianisme dévoilé handelt. Er befürchtet, dass das Werk die Behörden zu willkürlichen Unterdrückungsmaßnahmen provozieren wird, und würdigt den Mut des Verfassers mit folgenden Worten:
Holbach selbst äußerte sich zu seinem Werk nur kurz in einem Brief an seinen Freund, den Anwalt Servan, und stellte fest, dass es ein „gewaltiges und wohlverdientes Aufsehen erregt“ habe. Ansonsten hielt sich Holbach im Hintergrund und verwies auch in späteren Werken nur selten auf sein Erstlingswerk.Anders als Voltaires Kampfansagen an die katholische Kirche hätten erwarten lassen, änderte sich seine Einschätzung des Werks bald zum Negativen:
Voltaires kritische Randnotizen, die er in seinem Exemplar des Buchs vermerkte, haben sich erhalten. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass er sich durch das Erscheinen des Werks irritiert fühlte, und nehmen seine Ablehnung von Holbachs explizit atheistischem Système de la nature vorweg. Diese Reaktion verdeutlicht die Spaltung zwischen Voltaire und den radikaleren Philosophen Diderot und Holbach, die im Gegensatz zu Voltaire sowohl den moralischen Nutzen des Gottglaubens als auch ein strategisches Bündnis zwischen Aufklärern und den herrschenden politischen Mächten zurückwiesen.
=== Weitere zeitgenössische Rezensionen ===
Der deutsche Diplomat und Schriftsteller Friedrich Melchior Grimm, ein langjähriger Teilnehmer an den in Holbachs Haus organisierten philosophischen Dîners, bezeichnete in seiner Rezension Le christianisme dévoilé als das „kühnste und schrecklichste Buch, das jemals irgendwo in der Welt erschien“. Er wies darauf hin, dass man zwar aus dem Buch nichts Neues lernen könne, es aber dennoch Interesse wecke.
Hingegen nahm die deutsche öffentliche Meinung das Werk sehr negativ auf. So schreiben die Göttingschen Gelehrten Anzeigen, das Buch sei „voll von Spöttereien, größtenteils ungezogenen Spöttereien, auch groben Schimpfworten; und durchweg mehr in dem Stil einer Pasquille, als einer ernsthaften Bestreitung geschrieben“. Johann Christoph von Zabuesnig äußerte sich folgendermaßen über das Buch:
„Das ganze entlarvte Christenthum ist eine gottlose Sammlung von Ungereimtheiten, Gotteslästerungen, Verwünschungen, und eben so abgeschmackten als anstößigen Vernunftschlüssen. Es herrschet darinnen ein finsterer und melancholischer Schwärmgeist, welcher alle Religion vernichten will. […] Eine so abenteurliche Misgeburt konnte nur in einem erhitzten Kopfe erzeuget werden. […] Gleichwohl ist dieses Werk mit Beyfalle aufgenommen worden; aber nur von jener Gattung Leute, welche sich eher durch die Werke einer wahnsinnigen Gottlosigkeit völlig zu verblenden, als durch vernünftige Schriften den Verstand aufzuklären suchen; von jener Gattung Leute, welche nur deßhalben einem Aufrührer Lob sprechen, weil auch sie an der Aufruhr mitschuldig sind.“
=== Apologetische Antworten ===
Der Theologe Nicolas-Sylvestre Bergier veröffentlichte 1769 als Antwort auf Holbachs Werk die zweibändige Apologie de la religion chrétienne, contre l’auteur du Christianisme dévoilé et contre quelques autres critiques, die im traditionellen Stil der katholischen Apologetik gehalten ist.Unter Bezugnahme auf Thomas von Aquin bekräftigt Bergier sein Vertrauen in die Vernunft. Es sei albern, behaupten zu wollen, dass das Christentum die Vernunft verbiete; diese sei auf jeder Ebene präsent. Was die Offenbarung betreffe, so gebe hier die Vernunft selbst zu verstehen, dass man deren Inhalte ohne weitere Prüfung glauben müsse. Dass diese Offenbarung nicht von allen Menschen gleichermaßen „vernommen“ werde, sei auf die unendliche und unerklärliche Natur Gottes zurückzuführen.Indem der Verfasser von Le christianisme dévoilé gegen die religiöse Tyrannei vorgehe, bereite er diejenige der weltlichen Gesetze vor, denn ohne Religion müssten diese notwendigerweise um ein Vielfaches strenger sein. Das Vorhaben, die Herrscher zur Einführung einer Gedankenfreiheit zu bewegen, sei zum Scheitern verurteilt, denn die nichtchristlichen Völker lägen weit hinter den christlichen zurück. Auch sei es falsch, dass das Christentum Völker zu Aufständen verleite, denn die habe es zu allen Zeiten gegeben. Selbst wenn das Christentum unnötig wäre, sollte es beibehalten werden, da es ansonsten durch eine schlechtere Religion ersetzt werden würde.Mehrmals wirft Bergier dem Verfasser vor, den christlichen Glauben falsch darzustellen, um ihn möglichst unerträglich erscheinen zu lassen. So etwa irre Holbach, wenn der christliche Gott für die Mehrheit der Menschen Höllenqualen vorsehe:
Eine weitere Verleumdung sei es, zu behaupten, dass das ewige Leben nur einer kleinen Zahl von Auserwählten vorbehalten sei, denn den heiligen Büchern zufolge sei das himmlische Glück eine Belohnung für gute Taten, insbesondere der Nächstenliebe. Bei der Betrachtung der Theodizee-Frage stützt sich Bergier teilweise auf Pierre Bayles Aussage, dass eine „unendliche Weite“ Gottes Handeln von dem der Menschen trenne. Der Mensch müsse seinen Mitmenschen Güte erweisen, weil seine Macht beschränkt ist; es sei absurd, vom allmächtigen Gott Vergleichbares zu erwarten.Hinter der Aufmerksamkeit, der in der Apologetik Holbachs späterem Système de la nature zuteilwurde, trat Le christianisme dévoilé zurück. Dennoch wurde es in den Jahren nach seinem Erscheinen des Öfteren kurz zitiert, so etwa vom Protestanten Jacob Vernes, dem Katholiken Jean-René Sigaud de la Fond, dem Jesuiten Claude-Adrien Nonnotte, dem Benediktiner Louis-Maïeul Chaudon und dem Aufklärungsgegner Antoine Sabatier de Castres.
=== Weiterer Einfluss und moderne Rezeption ===
Der Junghegelianer Bruno Bauer leitete den Titel seiner 1843 erschienenen religionskritischen Frühschrift Das entdeckte Christentum von Le christianisme dévoilé ab. Bauer zitiert darin mehrmals aus Holbachs Werken.Wulf Kellerwessel veröffentlichte 2009 in der Zeitschrift Aufklärung und Kritik eine detaillierte Untersuchung der Aussagen des Werks, in der er die Stärke von Holbachs Argumenten als sehr uneinheitlich beurteilt. Weniger überzeugend seien Holbachs „psychologische“ und personenbezogene Einwände; so etwa sei es empirisch zweifelhaft, ob die Liebe gegenüber dem Gott der Bibel, wie von Holbach behauptet, tatsächlich psychisch unmöglich sei. Auch sei die Kritik an der Kolonisierung und Zwangsmissionierung als Resultat der christlichen Moralvorstellungen weitgehend überholt. Schlüssiger seien hingegen Holbachs Hinweise auf sprachphilosophische und logische Ungereimtheiten, die für das Christentum ebenso wie für andere monotheistische Religionen gravierende Probleme darstellen würden. Kellerwessel fasst seine Eindrücke wie folgt zusammen:
„Damit erweisen sich die aufklärerischen Analysen in ‚Das entschleierte Christentum‘ mindestens in relevanten Teilen als rationale Durchdringungen problematischer Glaubensgehalte, und sind insofern bis heute als relevante Kritiken bestimmter Glaubensvorstellung [sic] aktuell.“Holbachs zeitloser Anspruch, religiöse Vorstellungen als Vorurteile zu entlarven, mache den Text „auch heute noch lesenswert und interessant.“
== Literatur ==
Moderne Ausgaben
Le christianisme dévoilé, ou Examen des principes et des effets de la religion chrétienne. Coda, Paris 2006, ISBN 2-84967-032-4
Das entschleierte Christentum, oder Prüfung der Prinzipien und Wirkungen der christlichen Religion. In Manfred Naumann (Hrsg.); Rosemarie Heise, Fritz-Georg Voigt (Übers.): Paul Thiry d’Holbach: Religionskritische Schriften, S. 51–171. Aufbau-Verlag, Berlin 1970Sekundärliteratur
Rudolf Besthorn: Textkritische Studien zum Werk Holbachs, S. 76–91. Rütten & Loening, Berlin 1969
Wulf Kellerwessel: Zur Religionskritik in Baron von Holbachs „Das entschleierte Christentum“. Aufklärung und Kritik 16, 1 (2009): 180–199, ISSN 0945-6627
Denis Lecompte: Le Baron d’Holbach et Karl Marx : de l’antichristianisme à un athéisme premier et radical, S. 328–460 (Bd. 1); 631–638, 663–698 (Bd. 2). Dissertation, Université Paris IV, 1980. Cerf, Paris 1984, ISBN 2-204-02207-1
Manfred Naumann: Zur Publikationsgeschichte des „Christianisme dévoilé“. In Werner Krauss / Walter Dietze (Hrsg.): Neue Beiträge zur Literatur der Aufklärung, S. 155–183. Rütten & Loening, Berlin 1964
Jeroom Vercruysse: Bibliographie descriptive des écrits du Baron d’Holbach. Minard, Paris 1971
== Weblinks ==
Digitalisat der französischen Ausgabe von 1766
Auszüge aus Voltaires kritischen Randnotizen zum Buch (französisch)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Das_entschleierte_Christentum
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Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde
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= Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde =
Als Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde (auch Gütergemeinschaft der Urgemeinde, Urgemeindliche Gütergemeinschaft oder urchristliche Gütergemeinschaft) wird das Einbringen alles Eigentums und Teilen der Erlöse mit den Bedürftigen bezeichnet, das die Apostelgeschichte des Lukas (Apg 2,44 ; 4,32 ) im Neuen Testament (NT) als Kennzeichen dieser ersten Gemeinschaft des Urchristentums in Jerusalem herausstellt.
Mit Bezug auf diese NT-Darstellung versuchten zahlreiche christliche Gruppen in der Kirchengeschichte, ihr Eigentum zu teilen und ganz oder teilweise gemeinsam zu verwalten. Die Forschung fragt vor allem, woher das Motiv des Kollektiveigentums stammt, wie die zugehörigen NT-Texte sie begründen, welcher Art sie war, welche historische Realität dahinter stand und welche Bedeutung sie heute haben kann.
== Neues Testament ==
=== Texte zur Gütergemeinschaft ===
Die Aussage „Sie hatten alles gemeinsam“ findet sich zweimal nahezu wortgleich in den Texteinheiten Apg 2,42–47 und Apg 4,32–35. Es sind formal, sprachlich und inhaltlich eng verwandte Summarien. Der Evangelist Lukas gilt als ihr gemeinsamer Autor.Im direkten Anschluss an das Pfingstwunder und die erste Predigt des Simon Petrus fasst Apg 2,42–47 die Hauptmerkmale der Jerusalemer Urgemeinde zusammen:
Das Wort koinonia („Gemeinschaft“) verwendet Lukas nur hier. Wie die Wendung hapanta koina („alles gemeinsam“) bestätigt, bedeutet es im NT nicht nur personale Harmonie, sondern auch soziale Verwendung des Eigentums. Die Verteilung von Verkaufserlösen an Bedürftige ist demnach konstitutiver Bestandteil dieser Gemeinschaft und hat denselben Rang wie die apostolische Lehre, die Mahlfeier (bei der Sakrament und Sättigung noch ungetrennt waren), das Gebet und die Mission. Dafür erfuhr die Urgemeinde laut Apg 2,47 die Sympathie des jüdischen Volkes.Diese Merkmale stellt der Text als Wirkung des im Pfingstwunder ausgeschütteten Heiligen Geistes und der ersten Petruspredigt dar. Diese verkündet zentral die Auferstehung Jesu Christi, des zuvor für die Schuld aller Gekreuzigten (Apg 2,36 ). Sie endet mit dem Aufruf (Apg 2,38.40 ): „Tut Buße und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes. […] Lasst euch erretten aus diesem verkehrten Geschlecht!“ Darauf folgt eine Massentaufe der Predigthörer. In ihrer Gütergemeinschaft zeigt sich, dass sie den versprochenen Geist empfangen haben und dem Umkehrruf folgen.Nach weiteren Missionserfolgen kommt Apg 4,32–35 auf das Thema Gütergemeinschaft zurück und erläutert deren Art und Ziel:
Demnach blieb Privatbesitz formell bestehen, aber jeder Getaufte verzichtete den anderen Gemeindegliedern gegenüber je nach Bedarf auf seine Besitzrechte. Den so erreichten Zustand des Gemeinbesitzes bezeichnet Lukas mit der Wendung hapanta koina analog zum damaligen hellenistischen Freundschaftsideal, so dass die Urgemeinde hier auch für Nichtjuden Vorbild war und sein sollte.Nach diesen Summarien folgen Beispiele (Apg 4,36–37 ): „Josef aber, der von den Aposteln den Beinamen Barnabas erhalten hatte […], besaß einen Acker und verkaufte ihn, brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füßen.“ Apg 5,1–11 erzählt, dass Hananias und Saphira zusammen ein Grundstück verkauften, aber etwas von dem Erlös für sich behielten und Hananias den Aposteln nur einen Teil davon überbrachte. Petrus habe ihn gefragt:
Mit dem Beschluss in seinem Herzen habe er nicht Menschen, sondern Gott belogen: „Als Hananias diese Worte hörte, stürzte er zu Boden und starb.“ Ebenso ergeht es seiner Frau, die Petrus danach mit ihrer Tat konfrontiert.
Die Beispiele kontrastieren das erwünschte Verhalten, den ganzen Erlös eines Grundstücksverkaufs der Gemeinde zu spenden, mit dem verurteilten Verhalten, etwas vom Erlös für sich zu behalten. Laut der Reaktion des Petrus waren Grundstücksverkauf und Spende freiwillig, aber das Unterschlagen eines Teils war für ihn ein Belügen Gottes, weil der Spender fälschlich vorgab, den vollen Erlös zu spenden. Damit brach er die vom Heiligen Geist bewirkte Gemeinschaft, die den Bedürftigen zugutekommen sollte. Demnach sollte der tatsächliche Verkaufserlös bei einer freiwilligen Spendenübergabe nicht verheimlicht werden oder eine vorher angekündigte Spende vollständig übergeben werden. Danach erwähnt die Apg die Gütergemeinschaft nicht mehr.
=== Texte zum Besitzausgleich zwischen Gemeinden ===
Nach Apg 6,1–7 gewährleistete die Gütergemeinschaft nicht immer, dass alle versorgt wurden: Bei der täglichen Nahrungsausteilung seien die Witwen der griechisch sprechenden Judenchristen übersehen worden. Eine Vollversammlung der Gemeinde habe die bisher von den Aposteln selbst geübte Nahrungsverteilung einem neu gewählten Gremium von sieben Diakonen übertragen.Weitere NT-Texte berichten von Kollekten aus anderen Gemeinden für die Urgemeinde. Sie zeigen, dass es dort weiterhin Mangel gab, so dass ein Besitzausgleich zwischen den Gemeinden eingeführt wurde. Apg 11,27–30 erwähnt eine solche Kollekte aus Antiochia. Nach Gal 2,10 wurde beim Apostelkonzil (um 48) eine fortlaufende Kollekte für die Urgemeinde vereinbart, die Paulus von Tarsus in den von ihm gegründeten Gemeinden einsammeln wollte. Denkbarer Anlass war eine Hungersnot in der Region um das Jahr 47/48. Das Beispiel der Jerusalemer Gütergemeinschaft kann die externe Spendensammlung angeregt haben.Paulus schilderte in Röm 15,25–29 die Übergabe dieser Sammlung „für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem“ (vgl. Apg 24,17) und schrieb über die Spender: „Sie haben’s willig getan und sind auch ihre Schuldner. Denn wenn die Heiden an ihren geistlichen Gütern Anteil bekommen haben, ist es recht und billig, dass sie ihnen auch mit leiblichen Gütern Dienst erweisen.“ Er verstand diese Armenkollekte also nicht als karitative Dienstleistung, sondern als theologische Pflicht der Heidenchristen, die den Judenchristen damit für die empfangene Heilsbotschaft danken und ihre bleibende Verbindung bekräftigen sollten.In 2 Kor 8,1–15 ermutigte Paulus die Gemeinde in Korinth, ihre früher begonnene Kollekte für die Urgemeinde fortzusetzen: „Denn ihr wisst, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen. […] Denn es geht nicht darum, dass ihr in Not geratet, indem ihr anderen helft; es geht um einen Ausgleich. Im Augenblick soll euer Überfluss ihrem Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluss einmal eurem Mangel abhilft. So soll ein Ausgleich entstehen, wie es in der Schrift heißt: Wer viel gesammelt hatte, hatte nicht zu viel, und wer wenig, hatte nicht zu wenig.“ Damit griff Paulus die Absicht der Gütergemeinschaft auf, den Mangel der Armen innerhalb der christlichen Gemeinschaft auszugleichen, und übertrug die Vorstellung des Besitzausgleichs zwischen reichen und armen Gemeindegliedern auf das Verhältnis aller Gemeinden untereinander.
== Wirkungen ==
Die Gütergemeinschaft der Urgemeinde (Apg 2/4) wirkte in der Christentumsgeschichte als Vorbild für christliche Minderheiten, die entsprechend zu leben versuchen und sich damit von den Großkirchen abgrenzen. Sie bildet einen kritischen Maßstab für das gesamte Verhältnis der Kirchen zu Armut, Eigentum und Besitz. Sie begründet darüber hinaus auch Gesellschaftskritik, da sie ein gleichberechtigtes Zusammenleben in gegenseitiger, verbindlicher Solidarität ohne Ausbeutung beinhaltet und damit das kommende Reich Gottes bezeugen und vorwegnehmen will.
=== Spätantike ===
Die Alte Kirche entwickelte eine Hierarchie und Ansätze zu einer Zweistufenethik, die den meisten Christen die Gebote Jesu erließ. Kirchliche Bischöfe waren zugleich Großgrundbesitzer. Das Teilen des Besitzes mit den Armen blieb dem Einzelnen als freiwillige Almosen überlassen. Als Gegenbewegung dazu entstand seit 300 das christliche Mönchtum, das meist auf Motive der Askese zurückgeführt wird. Otto Gerhard Oexle dagegen sieht die von der Gütergemeinschaft der Urgemeinde inspirierte Idee der Vita communis als Entstehungsgrund. Die Anachoreten folgten dem Vorbild des Antonius, der 305 seinen ganzen Besitz verschenkt und sich als Eremit in die Wüste zurückgezogen hatte. Pachomios gründete um 325 das erste christliche Kloster als Koinobion. Für ihn war die Urgemeinde ein bestimmendes Motiv, wobei er wohl noch keine Gütergemeinschaft einführte. Vertreter des koinobitischen Mönchtums beriefen sich stets auf Apg 2,44 und 4,32, um das asketische Modell abzulehnen und zunehmende Vergemeinschaftung als die richtige, mit der Christianisierung einhergehende Form des Zusammenlebens der Christen zu begründen. Eusebius von Vercelli (283–371) führte 340 für den Klerus seiner Stadt eine Lebens- und Gütergemeinschaft nach Apg 2 ein.Für viele Kirchenväter war die Gütergemeinschaft der Urgemeinde das Ideal des apostolischen Zeitalters, von dem aus sie Luxus, Bestechlichkeit, ungerechte Gewinne, das Zinsnehmen (als Wucher) und die Habgier kritisierten. Dabei entwickelten sie keine Wirtschaftstheorie. Der Presbyter Basilius der Große, der zuvor lange als Anachoret besitzlos gelebt hatte, übte 368 anlässlich einer schweren Hungersnot in Kappadokien in Predigten über Lukastexte des NT scharfe Kritik an den Reichen, die den Nahrungsmangel für Preiserhöhungen und Güterverknappung ausnutzten. Er verlangte den sofortigen und rückhaltlosen Einsatz ihrer Güter für das Gemeinwohl, das Senken der Preise und Kreditzinsen. Er organisierte aus laufenden Spenden eine geregelte Armenspeisung und errichtete nach dieser Soforthilfe eine Siedlung für Arme, die sie dauerhaft mit Nahrung und medizinischer Behandlung versorgte. Sein Grundgedanke war, dass alles Privateigentum Gott gehöre, so dass jeder Wohlhabende nur sein Treuhänder und Verwalter sei und alle Gewinnüberschüsse für die Armen zu mobilisieren habe. Diesem Patrozinium genannten Prinzip folgten Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa. Hieronymus legitimierte das koinobitische Mönchtum um 380 mit dem Hinweis, dass Judenchristen in Alexandria und anderswo noch jahrhundertelang Gütergemeinschaft praktiziert hätten. Johannes Cassianus schrieb über die Apg 2,44: „Die ganze Kirche lebte damals so, während sich heute nur wenige in den Klöstern finden, die dieses Leben führen.“ Damit idealisierte er das Urchristentum im Kontrast zur Kirche seiner Zeit.Als das Christentum zur Staatsreligion geworden war (380), wurde nur noch in abgesonderten Klöstern Gütergemeinschaft geübt. Die um 397 entstandene Augustinusregel paraphrasiert Apg 2: „Das ist es, was wir euch im Kloster gebieten. Das erste Ziel eures gemeinschaftlichen Lebens ist, in Eintracht zusammenzuwohnen und ein Herz und eine Seele in Gott zu sein. Deshalb nennt nichts euer eigen, sondern alles gehöre euch gemeinsam“ (Kap. 1). Für Augustinus von Hippo war die Gütergemeinschaft der Urgemeinde die Norm und der historische Ausgangspunkt für das Zusammenleben der Christen in Hausgemeinschaften (vita communis) und somit für den Zusammenhalt aller Christen. Diese Norm betonte er 407 in Predigten gegen die Donatisten, denen er eine egoistische, nur an der eigenen ethischen Vollkommenheit interessierte Haltung vorwarf.Auch die Regula Benedicti (6. Jahrhundert) verlangte die Aufgabe allen Privatbesitzes von angehenden Mönchen. Die Gütergemeinschaft begründet hier auch eine Gemeinwirtschaft und Pflicht zur streng geregelten, täglichen gemeinsamen Arbeit. Die Verwaltung des klösterlichen Gemeineigentums oblag allein dem jeweiligen Abt, war also an die Ordenshierarchie gebunden und beinhaltete keine Kirchenkritik.
=== Mittelalter ===
Die Bettelorden praktizierten eine rege Almosentätigkeit, bewegten viele Reiche zur Besitzabgabe und begrüßten zugleich die sich ausdehnende Zinswirtschaft. Ihre Konflikte mit dem Klerus beeinflussten die Universitäten und führten zur Bildung von Laienorden in vielen Städten. So trugen sie wesentlich zur Stabilisierung des mittelalterlichen Feudalismus bei.Die im 11. Jahrhundert gegründeten Franziskanerorden pflegten ebenfalls Besitzverzicht und Gemeinschaftsbesitz. Besonders die Minoriten verbanden dies stärker als ihre Vorgänger mit expliziter Kritik an ungleichen Besitz- und Machtverhältnissen in Kirche und Gesellschaft. Vorstöße, dem Klerus besitzlose Lebensweisen und der Kirche den Verzicht auf Reichtum nahezubringen, wurden jedoch von den Päpsten zurückgewiesen.Die Gütergemeinschaft der Bettelorden bewirkte im 13. Jahrhundert einen Streit der Scholastik um die Rolle des Privateigentums: Thomas von Aquin rechtfertigte Privatbesitz und seine Vererbung mit dem Naturrecht als mit der Gütergemeinschaft gleichberechtigte Form christlichen Lebens. Dagegen sah Johannes Duns Scotus das Gemeineigentum als Normalität an, gestand nur ein Gebrauchsrecht auf Güter als legitim zu, bestritt das Recht auf Privateigentum und deutete es als von den Fürsten erfundene Setzung.Kirchen- und gesellschaftskritische Formen der Gütergemeinschaft traten seit dem 14. Jahrhundert öfter auf. Um 1370 entstand in den Niederlanden die Bewegung der Brüder vom gemeinsamen Leben, die keinen neuen Orden bilden wollten. Vielmehr sahen sie ihre Gütergemeinschaft als direktes Gebot Jesu Christi, des alleinigen „Abtes“, für alle Regularkanoniker. Für sie war das Vorbild der Urgemeinde als apostolische Lehre allgemeinverbindliche Lebensform aller Christen, ob Kleriker oder Laien, die die Kirche nur verdeckt habe.
=== Reformationszeit ===
Seit dem 15. Jahrhundert gab es Vorstöße für eine radikale Reformation in Kirche und Gesellschaft, deren Vertreter öfter auch Gütergemeinschaft forderten und lokal oder regional zeitweise verwirklichten: etwa die tschechischen Taboriten (1420) und Hans Böhm (Pauker von Niklashausen) (1476).
Ab 1520 im Verlauf der Reformation unternahmen Gruppen der Täufer solche Versuche. Sie sympathisierten vielfach mit den deutschen Bauernaufständen und übernahmen zum Teil deren Forderungen für von ihnen reformierte Städte: etwa Nikolaus Storch, Thomas Müntzer und Hans Hergot in Sachsen und Thüringen. In Zollikon (Schweiz) gründete ein Kreis um Konrad Grebel, Felix Manz und Wilhelm Reublin nach ihrer Ausweisung aus Zürich 1525 eine kommunale Gütergemeinschaft. Die Täufer verbreiteten 1527 neben den Schleitheimer Artikeln eine Gemeindeordnung, die Gütergemeinschaft in künftigen Täufergemeinden etablieren sollte. Dazu gehörte die Forderung nach einem Sonderetat, aus dem im akuten Notfall die Armen zu versorgen seien. Der Bauernführer Michael Gaismair versuchte 1526 in Tirol erfolglos eine neue, christlich begründete Eigentumsordnung durchzusetzen. Hans Hut, ein Schüler Müntzers, versuchte die Gütergemeinschaft in Nikolsburg (Mähren) 1527 erfolglos gegen den gemäßigten Täufer Balthasar Hubmaier durchzusetzen. Hut verstand Gütergemeinschaft als Überwindung der Ursünde des Begehrens im Sinne des neunten und zehnten der Zehn Gebote. Seine Anhänger übten sie auch in ihren Familien und mit Flüchtlingen, die sie in ihre Häuser aufnahmen. Sie gründeten 1528 zunächst in Austerlitz, dann 1530 in Auspitz eine Gütergemeinschaft und vertraten zudem einen radikalen Pazifismus, der Verzicht auf bewaffnete Selbstverteidigung einschloss.
Infolge der inneren Konflikte um diese Themen gründete Jakob Hutter 1533 in Tirol die ersten Bruderhöfe als von Gütergemeinschaft bestimmte agrarische Wohnsiedlungen und arbeitsteilige Handwerksbetriebe mit eigenen Kindergärten und Schulen. Zwar musste Hutter schon 1535 nach Mähren fliehen; aber während andere Versuche bald wieder verschwanden, konnten die Hutterer ihre Gütergemeinschaften bis in die Gegenwart bewahren. Besonders 1556 bis 1578 unter Peter Walpot entstanden neue Bruderhöfe. Während der starken Verfolgung in der Gegenreformation wanderten sie nach Ungarn, die Walachei und später in die Ukraine aus. Im 19. Jahrhundert entstanden Bruderhöfe in den USA. Weitere Beispiele sind die Stäbler, Gabrieler und Philipper. Diese täuferischen Versuche waren meist als Vorläufer einer erwarteten Neuordnung der Gesamtgesellschaft gedacht, wollten diese aber nicht allgemein erzwingen. Nur das Täuferreich von Münster setzte Gütergemeinschaft und Polygamie mit einer neuen Verfassung als Pflicht aller Münsteraner Christen durch.Martin Luther warf den aufständischen Bauern 1525 vor, das Evangelium für soziale Veränderung zu missbrauchen und damit himmlische und irdische Gerechtigkeit (Zwei-Reiche-Lehre) zu verwechseln. Die in der Taufe gewährte Gnade Gottes sei unabhängig von der gesellschaftlichen Stellung. Die Gütergemeinschaft von Apg 4,32ff. sei freiwillig und rechtfertige keine Forderungen an andere. Dagegen wollten die Bauern ihr Eigentum behalten und Gemeinbesitz mit fremdem Eigentum schaffen. Der Augsburger Pastor Urbanus Rhegius stellte die Theologie der Täufer und ihre Lebensführung 1528 in einer vom Stadtrat angeforderten Polemik als widergöttliche Verführung der Gläubigen dar. Er deutete ihre Gütergemeinschaft als bloßes Mittel, untätigen Vagabunden materielle Sicherheit zu verschaffen, als Neid und getarnte Besitzgier. Ihre Armenhilfe deutete er als ungeregeltes Chaos, mit dem sie sich einer bürgerlichen Ordnung zu entziehen suchten. Der Reformator Johannes Brenz dagegen verteidigte 1528/30 die verfolgten Täufer: Sie hätten ebenso wenig wie frühere Mönche versucht, allen Christen Gütergemeinschaft aufzuzwingen; diese lasse sich nicht mit Aufruhr gleichsetzen. Nur tatsächlicher, nicht als künftige Absicht unterstellter Aufruhr dürfe bestraft werden. Bis 1525 wurden die Bauernaufstände, bis 1534 die meisten Täuferkommunen durch Massaker an zehntausenden ihrer Anhänger niedergeschlagen. Dennoch hielten die Täufer an ihrem Glauben und ihrer Lebensweise fest, der ein für sie lebensgefährlicher Angriff auf das mittelalterliche Corpus Christianum war.
=== Neuzeit ===
Weitere Gütergemeinschaften gab es bei verfolgten christlichen Minderheiten im 17. Jahrhundert, etwa bei den Levellers im englischen Bürgerkrieg (1642–1649). Deren Wortführer Gerrard Winstanley begründete die Forderung, alle englischen Adligen zu enteignen und die Feudalordnung durch Gemeineigentum abzulösen, direkt aus der ganzen Bibel, ohne sich auf kontinentale Theologen zu beziehen. Der Jesuit Jean de Labadie führte ab 1668 in mehreren Regionen Europas Hausgemeinschaften ein, die Einkommen und Besitz teilten. Seine Anhänger, die Labadisten, wanderten in die USA aus, kauften im Maryland eine Landfläche und gründeten dort 1683 eine Landkommune. Sie wurde von einem „Bischof“ autoritär geführt, der jedem die Tagesarbeiten zuteilte. Jeder Privatbesitz war verboten und der Konsum wurde rationiert. Diese Gemeinschaft soll 1725 an der Selbstbereicherung des Anführers gescheitert sein.Die englische Quäkerin Ann Lee gründete nach einem visionären Erlebnis, das sie um 1758 im Gefängnis hatte, eine Gruppe, die wegen ihrer ekstatischen Tänze Shaker genannt wurde. Die zunächst acht Personen wanderten 1770 in die USA aus und gründeten bei Albany (New York) eine zölibatäre, pazifistische, spiritualistische und missionarische Lebens- und Gütergemeinschaft. Die Gruppe nahm Waisenkinder und Obdachlose auf, die später oft Mitglieder wurden. Sie wuchs bis 1826 auf 18 Gemeinden mit etwa 6000 Mitgliedern an, schmolz aber bis 2000 wieder auf wenige Personen.Die um 1740 wahrscheinlich von einem Quäker gegründeten russischen Duchoborzen bildeten mit Erlaubnis von Zar Alexander I. ab 1801 eine straff organisierte Siedlungs-, Arbeits- und Gütergemeinschaft in Taurien. Sie bestraften Abtrünnige mit dem Tod und wurden daher 1839 nach Transkaukasien verbannt. Nach mehreren Verfolgungswellen wegen ihrer Kriegsdienstverweigerung erreichte Tolstoi, dass ihnen 1886 die Auswanderung nach Nordamerika erlaubt wurde. In seinen Spätschriften beschrieb Tolstoi die von ihm erhoffte Zukunftsgesellschaft als agrarische Gütergemeinschaft, die Staat, Armee, Privateigentum, Handel und industrielle Arbeitsteilung abschaffen würde. Er löste damit um 1900 die nicht von ihm gegründete Bewegung der Tolstojaner aus, die eine pazifistische Anarchie anstrebten.Im Pietismus hatte Philipp Jacob Spener in seinem Werk Pia desideria (1675) das Gemeineigentum nach Apg 2/4 als Ideal einer christlichen Lebensform genannt. Gottfried Arnold hatte dieses Ideal in seiner „Unparteiischen Kirchen- und Ketzer-Historie“ (1699) als Kritik an der bisherigen Kirchengeschichte entfaltet. Seitdem galt die urgemeindliche Gütergemeinschaft sozialreformerischen Pietisten wie Ernst Christoph Hochmann von Hochenau und Friedrich Christoph Oetinger als Vorbild. In seiner Schrift „Die güldene Zeit“ (1759) identifizierte Oetinger das erwartete tausendjährige Reich Jesu Christi mit der paganen Idee des Goldenen Zeitalters: Das 19. Jahrhundert werde eine demokratische Gesellschaftsordnung bringen, in der Geld, Staat und Privateigentum abgeschafft sein würden. Sein Werk inspirierte 1824 die Gründung der pietistischen Siedlung Wilhelmsdorf (Württemberg) als Gütergemeinschaft.Der vom Pietismus beeinflusste Württemberger Weber Johann Georg Rapp gründete 1805 in Pennsylvania, USA, den Harmonistenorden, der von 1814 bis 1824 unter dem Namen „New Harmony“ in Indiana, dann bis 1916 unter dem Namen „Ökonomie“ erneut in Pennsylvania bestand. Die ursprünglich etwa 800, zuletzt noch ca. 150 Mitglieder lebten ehelos und übertrugen alle Besitzrechte einem Vorstand unter Rapps Vorsitz. Die Kommune spaltete sich 1832 an Führungskonflikten und verwandelte sich ab 1840 allmählich in eine reine Produktionsgenossenschaft.In der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) gründete Joseph Smith 1831 den United Order of Enoch, dessen Angehörige in Gütergemeinschaft lebten. Der Orden beeinflusste die Ansiedlung der Mormonen in Missouri und Utah.
=== Ab 1920 ===
Inspiriert von den religiösen Sozialisten und den Hutterern, denen sie sich anfangs anschlossen, gründeten das Ehepaar Emmy und Eberhard Arnold 1920 in Sannerz (Hessen) den ersten „Bruderhof“. Die Bruderhöfer pflegten eine an der Bergpredigt orientierte Gütergemeinschaft. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden sie als Pazifisten verfolgt und bezogen Ausweichquartiere im Fürstentum Liechtenstein, in Großbritannien und Paraguay. Weitere Bruderhöfe entstanden später in den USA und Australien.Hans und Wally Klassen, aus Russland emigrierte Mennoniten und Tolstojaner, gehörten zur Kommune in Sannerz. Sie gründeten 1923 in Sonnefeld (Oberfranken) eine Siedlung, deren Mitglieder – meist Quäker – Gütergemeinschaft und strengen Vegetarismus übten und Waisenkinder aufnahmen.1943 gründete Chiara Lubich in Loreto (Marken) eine Lebensgemeinschaft von Frauen, die Armut, Keuschheit und Nachfolge Jesu im Alltag gelobten. Daraus ging die Fokolarbewegung hervor: eine zunächst katholische Laienbewegung, die heute überkonfessionell und interreligiös geworden ist. Ein Teil ihrer Mitglieder lebt ehelos in Wohngemeinschaften, die gewöhnlichen Berufen nachgehen, aber alles Gehalt in eine Gruppenkasse einzahlen. Überschüsse werden an eine Zentralkasse in Rom überwiesen, aus der überlebensnotwendige Güter gekauft und an Orte verteilt werden, wo sie fehlen.Nach 1945 entstanden in Europa eine Vielzahl evangelischer und ökumenischer Kommunitäten, die die urgemeindliche Gütergemeinschaft zum Vorbild nehmen und sich darum als Teil der Kirche, nicht als Sondergruppen (Sekten) abseits der Kirche verstehen. Frère Roger, der Gründer und erste Prior der evangelischen Communauté de Taizé, führte dort 1949 eine Gütergemeinschaft ein, die mit Ehelosigkeit und strengem Gehorsam verbunden war. Eine an Apg 2 angelehnte Lebensform im Rahmen der Großkirchen pflegt auch die 1961 gegründete ökumenische Jesus-Bruderschaft.
== Forschung ==
In der Forschung zum NT werden dessen Texte zur Gütergemeinschaft der Urgemeinde seit dem 19. Jahrhundert diskutiert. Gefragt wird nach ihrer Bedeutung im Eigenkontext, zeitgenössischen Analogien, biblischen Bezügen, ihrer etwaigen Organisationsform, Historizität, Wirksamkeit und aktuellen Bedeutung.
=== Antike Analogien ===
Gütergemeinschaft war lange vor dem Christentum eine in der Antike verbreitete soziale Utopie. Seit den Historien des Herodot (um 460 v. Chr.) schrieben einige antike Historiker vergangenen Naturvölkern, die noch kein Geld als Tauschmittel kannten, Gütergemeinschaft zu. Andere Autoren beschrieben diese als Teil von fiktiven, vorzeitlichen oder versunkenen Gemeinwesen, die ethische Ideale verwirklicht hätten. Solche in die Vergangenheit projizierten Utopien waren im Hellenismus als moralisches Gegenbild zur damaligen Gegenwart üblich.Besonders Pythagoras wurde oft eine ideale Philosophensozietät zugeschrieben, die auch Gütergemeinschaft geübt habe. In seinem Dialog Timaios (um 360 v. Chr.) führte Platon das überlieferte Sprichwort „Gemeinsam ist, was den Freunden gehört“ auf Pythagoras zurück. Aristoteles überlieferte das Sprichwort (Nikomachische Ethik 1159b): „Besitz der Freunde ist gemeinsam.“ Diese Wendung findet sich auch in den „Sprüchen des Sextus“ (≈180–200), die ein anonymer Autor aus älteren Quellen des Hellenismus (vor allem aus Platonismus und Stoa) zusammenstellte. Antonios Diogenes schrieb über Pythagoras (um 200): „Die Freunde aber liebte er über die Maßen, wobei er als erster die Auffassung vertrat, daß unter Freunden alles gemeinsam (ta ton filon koina) und der Freund ein alter ego sei.“ Iamblichos von Chalkis schrieb in seiner Schrift Über das pythagoreische Leben (um 300): „Ursprung der Gerechtigkeit ist nun Gemeinschaft, gleiches Recht und eine Verbundenheit, in der alle ganz wie ein einziger Leib und eine einzige Seele dasselbe empfinden und mein und dein gleich bezeichnen […]. Dies hat nun Pythagoras von allen Menschen am besten ins Werk gesetzt, indem er aus der Wesenart seiner Jünger die Bindung an Privateigentum völlig verbannte und dafür den Sinn für das Gemeinsame verstärkt.“Viele Forscher nehmen an, dass Lukas die antike Idealisierung der Pythagoreer kannte und sie seinen Sprachstil beeinflusste (u. a. koinonia, „ein Herz und eine Seele“, hapanta koina: „sie hatten alles gemeinsam“). Martin Hengel (1996), Gerd Theißen (2008) und andere Neutestamentler nehmen an, dass Lukas die Wendung hapanta koina wörtlich aus damals umlaufender hellenistischer Spruchweisheit übernahm. Laut Matthias Konradt (2006) übernahm er die Wendung aus der hellenistischen Freundschaftsethik. Laut Niclas Forster (2007) stilisierte er die Summarien in Apg 2/4 bewusst nach dem damals üblichen literarischen Muster idealer Gemeinschaften.Gütergemeinschaft gehörte zu einigen Varianten der antiken Utopie vom Goldenen Zeitalter. Römische Autoren wie der Dichter Vergil sahen dieses Zeitalter mit Kaiser Augustus angebrochen (Aeneis, 29–19 v. Chr.). Sie ließen das überlieferte Merkmal der Gütergemeinschaft jedoch fort, offenbar weil die Realität diesem zu deutlich widersprach. Dagegen betont Apg 2/4 die Gütergemeinschaft der Urgemeinde: eventuell in bewusstem Kontrast zur römischen Umwelt, so wie die lukanische Geburtsgeschichte Jesus mit kaiserlichen Hoheitstiteln als den (wahren) „Retter“ und Bringer des „Friedens auf Erden“ bezeichnet. Solche „antikaiserlichen Anspielungen“ gelten als Grundzug des lukanischen Doppelwerks.Auch im antiken Judentum war Gütermeinschaft bekannt. Einige Schriftrollen vom Toten Meer, die Gemeinderegel und die Damaskusschrift (entstanden um 180 v. Chr.), beschreiben eine endzeitliche Gemeinschaft von „Priestern“, die ihre Güter gemäß Ez 44,28 (Priester sollten besitzlos sein, um ganz für Gott zu leben) beim Eintritt in diese Gruppe abgeben sollten. Diese Texte enthalten weitere Parallelen zu Apg 2/4, etwa eine Wassertaufe als Aufnahmebedingung, ein Leitungsgremium von zwölf Laien und drei Priestern. Im Unterschied zu Apg 2/4 betonen sie das Zusammenwohnen in gemeinsamen Häusern, das Bilden eines festen Gemeindevermögens durch Einzahlen von Arbeitslöhnen in eine gemeinsame Kasse und ein fest organisiertes Fürsorgewesen. Ob es die beschriebene Gruppe gab und sie in der nahegelegenen historischen Siedlung Qumran lebte, ist umstritten.
Im 1. Jahrhundert stellten vom Hellenismus beeinflusste jüdische Autoren die vermuteten Essener analog zu den Pythagoreern dar. Flavius Josephus schrieb:
Philon von Alexandria schrieb:
Diese idealtypischen Beschreibungen gelten als literarische Kulturkritik. Obwohl kein direkter Einfluss auf Apg 2/4 nachweisbar ist, wird angenommen, dass Lukas Gütergemeinschaft über das damalige hellenisierte Judentum kennenlernte. Laut Martin Honecker enthält Apg 2/4 jedoch keinen prinzipiellen Protest gegen Reichtum und Privateigentum.
=== Biblische Bezüge ===
Das Bodenrecht der Tora geht von dem Grundsatz (Lev 25,23 ) aus: JHWH allein gehöre das Land Israel, die Israeliten hätten es nur „gepachtet“. Damit wird das Gebot des Erlassjahrs begründet, das verlangt, in Sklaverei geratene Israeliten in jedem 50. Jahr zu entlassen und jedem sein ursprüngliches von Gott gegebenes Erbteil zurückzugeben. Weil dieses Gebot in der Königszeit Israels (ca. 950–586 v. Chr.) missachtet wurde, ging es in die Zukunftsverheißung der exilisch-nachexilischen biblischen Prophetie ein (Jes 61,1–2 ). Diese Verheißung zitierte Jesus von Nazaret laut Lk 4,18–21 bei seinem öffentlichen Auftritt in der Synagoge von Nazareth und beanspruchte, sie zu erfüllen. Damals besaßen jedoch die Römer und von ihnen abhängige jüdische Großgrundbesitzer das Land Israel. Daher wird die Gütergemeinschaft der Urgemeinde als Versuch gedeutet, das verheißene endzeitliche Erlassjahr unter der Fremdherrschaft vorwegzunehmen und partiell zu verwirklichen.Den Ausdruck „ein Herz und eine Seele“ (Apg 4,32 ) verstehen viele Ausleger als Anspielung auf das jüdische Schma Jisrael (Dtn 6,5 ): „Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ Gerhard Jankowski (1995) folgerte: Die Urgemeinde habe für Lukas das hier umschriebene erste der Zehn Gebote gerade durch ihre Gütergemeinschaft verwirklicht. Denn indem niemand etwas sein eigen nannte, sondern alle über alles gemeinsam verfügten, hätten sie Gott wieder als alleinigen Eigentümer Israels (Lev 25,23 ) anerkannt. Deshalb berichte Lukas von Grundstücksverkäufen und hebe das Beispiel eines Leviten hervor: Dieser Priesterstamm durfte nach Dtn 18,1–2 ohnehin kein Land besitzen. Offenbar habe die Urgemeinde wie die Leviten alles Grundeigentum aufgegeben. Damit habe Lukas die Urgemeinde als Gegenentwurf zu dem auf Großgrundbesitz, Sklaverei und Militärgewalt gegründeten Imperium Romanum dargestellt. Dieser Gegenentwurf sei also nur in einer völlig anderen Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, auf die die Apg mit der Predigt der Auferstehung Jesu auch in Rom hingearbeitet habe.Für viele Neutestamentler spielt Apg 4,34 („Es gab auch keinen unter ihnen, der Not litt…“) deutlich auf das Toragebot Dtn 15,4 an: „Doch eigentlich sollte es bei dir gar keinen Armen geben …“ Für Lukas habe die Gütergemeinschaft der Urgemeinde also das Ziel des gebotenen Sabbatjahrs (Dtn 15) erfüllt, das einen allgemeinen Schuldenerlass für die Armen vorsah. Aber während für Dtn 15,11 („Die Armen werden niemals ganz aus deinem Land verschwinden…“) dieses Ziel unerreichbar blieb, habe Lukas diesen Vers, auf den auch Jesus hinwies (Mk 14,7 ), bewusst nicht aufgegriffen: „In der Gemeinde wird also die Israel gegebene Verheißung erfüllt, Dtn 15,4.“ Auch Michael Schäfers (1998) folgerte: Indem die Urgemeinde den Mangel der Bedürftigen laut Apg 4,34 behob, habe sie für Lukas die Utopie der Tora erfüllt, dass es im Volk Gottes keine Armen mehr geben soll. Ihre Gütergemeinschaft habe also die dauerhafte Überwindung der Armut im Sinne von Dtn 15,4 angestrebt. Sie gehe über die bloße individuelle Freigebigkeit hinaus, die Armut niemals habe beseitigen können. Nur wenn die Urgemeinde Gütergemeinschaft tatsächlich praktiziert habe, habe sie das Vorbild für das damalige Diaspora-Judentum sein können, das antike Quellen bezeugen.Meist wird die Gütergemeinschaft der Urgemeinde als Wirkung Jesu erklärt. Als direkte Einflüsse Jesu führte Jürgen Roloff 1988 an: seinen Besitzverzicht (Lk 6,24 ), seine entsprechende Forderung an seine Nachfolger (Lk 9,3 ; 10,4 ), seine Kritik am Reichtum (Mk 10,21–27 ; Lk 12,16–21 ; 16,13.19–31 ) und seine Warnung vor dem Sorgen (Mt 6,25–33 ). Die Urgemeinde sei dieser Verkündigung Jesu gefolgt. Mit ihrer Gütergemeinschaft habe sie seine Warnung vor dem Mammon als gottfeindlicher Macht zu beherzigen versucht und Besitz für das Miteinander, für Arme, nicht für eigene, von anderen trennende Interessen eingesetzt. Peter Stuhlmacher (2005) nahm an, dass in der Urgemeinde Jesu Gebote und der Dekalog weiter galten. Er deutete Apg 2/4 als Versuch der Urgemeinde, Jesu Gebot zur Besitzaufgabe (Lk 12,22–32 ; Mt 6,25–34 ) zu befolgen. Deshalb habe sie eine ganz auf die Gottesherrschaft ausgerichtete Lebensgemeinschaft gebildet.
=== Organisationsform ===
Die historisch-kritische Debatte zum Thema begann im 19. Jahrhundert im Kontext damaliger gesellschaftlicher Konflikte. Seit etwa 1830 wurde die Gütergemeinschaft der Urgemeinde zur Begründung für die Ziele des Frühsozialismus herangezogen und als Anstoß für eine umfassende Gesellschaftsreform oder soziale Revolution gedeutet: zum Beispiel von Félicité de Lamennais und Wilhelm Weitling.Friedrich Engels grenzte sich 1843 gegen die in Frankreich damals beliebte Gleichsetzung „Christentum ist Kommunismus“ ab: Zwar schienen „einige wenige Bibelstellen den Kommunismus zu begünstigen“, der „allgemeine Geist“ biblischer Lehren widerspreche diesem und jeder sonstigen „vernünftigen Maßnahme“ jedoch völlig. Er gestand aber zu, dass die Aufständischen im deutschen Bauernkrieg sich zu Recht auf die urchristliche Gütergemeinschaft berufen hätten: Ihre Unterdrückung und Rechtlosigkeit „stach sehr ab von dem Gemeinwesen der ersten Christen und von den Lehren Christi, wie sie in der Bibel niedergelegt sind“. Der Bauernführer Thomas Müntzer habe daher nur „logische Schlüsse“ aus Luthers Lehre gezogen, als er die „Eigentumsgemeinschaft“ und Demokratie als einzig richtige Gesellschaftsform für Christen aus der Bibel folgerte.Seit der Märzrevolution 1848 grenzten christliche Ausleger die Gütergemeinschaft der Urgemeinde gegen den Frühsozialismus ab: Apg 2,44/4,32 bedeute keine Aufhebung des Privateigentums durch eine andere, kollektive Besitzform. Der Diakon Heinrich Merz betonte 1849: Privatbesitz sei Recht und Pflicht, um Bedürftigen helfen zu können. Zwangsweise Enteignung würde Reiche nur arm und so Arme noch ärmer machen. Jeder habe nur das in die Gemeindekasse eingezahlt, was ihm möglich und aktuell nötig war, aber den Rest behalten: in dem Bewusstsein, dass „Alles von Gott und Alles für die Brüder“ da sei. Es komme also auf die innere Bereitschaft der Liebe an. Ähnlich betonte Gerhard Uhlhorn (1895): Es handele sich bei Apg 2/4 um freiwilliges, spontanes, ungeregeltes Almosengeben aus enthusiastischer Liebe der Anfangszeit.Der katholische Priester Wilhelm Hohoff proklamierte seit 1871: Die Gleichheit der Güter, also ein gesamtgesellschaftlicher Besitzausgleich, sei aufgrund der Nächstenliebe das Ziel des Christentums. Dieses sei daher mit dem Sozialismus vereinbar. Damit wurde er ein früher Vertreter des religiösen Sozialismus. Dagegen folgerten die meisten katholischen Ausleger aus dem NT im Anschluss an die Enzyklika Rerum Novarum (1891) keine Gesellschaftsreform, sondern die allgemeine Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Die Gütergemeinschaft deuteten sie als gesteigerte Form des Almosengebens oder als Sonderethik für eine ethisch vollkommene Minderheit. Theo Sommerlad (1903) deutete Apg 2,44 als „Einrichtung einer Armenunterstützung“ ohne feste Organisationsform. Die NT-Texte zeigten keine Spur eines Verbandes oder einer gemeinsamen Bewirtschaftung des Grundbesitzes.Der Marxist Karl Kautsky ordnete das Urchristentum seit 1895 als von einem antiken „Lumpenproletariat“, von mittellosen Armen, Kleinhandwerkern und mittelständischen Kaufleuten getragene Reformbewegung ein. Diese habe auf damalige Massenarmut mit gerechter Güterverteilung und gemeinsamer Güterverwaltung reagiert. Jedoch hätten die Urchristen die Produktionsmittel verkauft oder in Privathand gelassen und so die Armut nicht überwinden können. Weil sie sich auf einen „Kommunismus des Genießens“ und gemeinsamen Haushalt beschränkten, hätten sie ihr an der Familie orientiertes egalitäres Ideal mit zunehmender Ausbreitung des Christentums aufgeben müssen. Darum könnten Christen am Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft mitwirken, obwohl ihr Glaube mit dem wissenschaftlichen Sozialismus unvereinbar sei.Einige Marxisten kritisierten Kautzkys Thesen, andere griffen sie positiv auf. So schrieb Rosa Luxemburg 1905, gemäß der damaligen Verarmung der Bevölkerungsmasse hätten die Urchristen Gemeineigentum, Teilen der Reichen mit den Armen, soziale Gleichheit und damit Kommunismus verkündet, jedoch begrenzt auf die Besitzaufgabe der Getauften und die Lebensmittel, nicht die Produktionsmittel. Klassenherrschaft habe sich deshalb auch in der Kirche historisch durchgesetzt. Die dauerhafte Überwindung von Klassenherrschaft entspreche der Botschaft Jesu Christi. Der Antikommunismus heutiger Priester richte sich daher gegen seine Lehre. Gerade die ersten Apostel seien „die leidenschaftlichsten Kommunisten“ gewesen. Dazu zitierte sie Apg 4,32–35.Diese Ansicht lehnten die meisten Theologen und Kirchenvertreter in der Folgezeit ab. Ernst Troeltsch widersprach Kautsky ab 1908: Die Urchristen hätten keine sozialreformerischen Ziele gehabt und keine besonderen Klasseninteressen vertreten. Sie hätten Jesu Liebesgebot nur im eigenen Kreis umzusetzen versucht, dies allerdings anfangs durchaus radikal. Ihre Gütergemeinschaft habe nur die Verteilung von Konsumgut umfasst, nicht die Produktionsmittel. Es habe sich um einen auf interne Solidarität der Gläubigen gegründeten „Liebeskommunismus“ als Kommunismus der Konsumtion gehandelt. Der Kirchenhistoriker Hans von Schubert (1919) hielt die Kategorie des Liebeskommunismus für unpassend: Die Urgemeinde habe keinen Zwang ausgeübt, die Konsumgüter gemeinsam zu verwalten. Leonhard Ragaz dagegen knüpfte an Troeltsch an: Die Urgemeinde habe eine freie Genossenschaft gebildet und einen „Sozialismus der Freiwilligkeit“ angestrebt, der dem Geist Christi entsprochen habe. 1972 bejahte auch Ernst Bloch den Begriff Liebeskommunismus für die urgemeindliche Gütergemeinschaft. Heinz-Dietrich Wendland, Wilhelm Schneemelcher, Wolfgang Schrage, Jürgen Roloff und andere betonten dagegen, „Kommunismus“ sei mit „Liebe“ unvereinbar und keine für die urchristliche Gütergemeinschaft geeignete Kategorie. Dort gehe es weder um völlige Besitzlosigkeit noch Vergesellschaftung von Produktionsmitteln.Michael Schäfers (1998) zufolge praktizierte die Urgemeinde eine ihren Möglichkeiten und Zeitumständen gemäße Mischung aus individuellem Besitzverzicht und Sozialfürsorge mit dem Ziel, die Armut intern zu überwinden und gleiche Besitzverhältnisse zu schaffen. Deshalb habe sie das Privateigentum diesem Ziel untergeordnet und dienstbar gemacht, es aber nicht durch eine kollektive Besitzform oder ein kollektiv ausgeübtes Verfügungsrecht abgelöst. Der Prozess der freiwilligen Besitzabgabe habe einen Besitzausgleich angestrebt, hinter den private Besitz- und Verfügungsrechte zurückgetreten seien. Diesen prozessualen Besitzausgleich habe sie als Ausdruck der Nachfolge Jesu im Zeichen der Naherwartung verstanden und legitimiert.Peter Stuhlmacher (2005) folgerte aus den Unterschieden von Apg 2 zu antiken Texten, die fest organisierte Güter- und Versorgungsgemeinschaften beschreiben: „Es handelte sich in Jerusalem nur erst um eine vita communis auf der Basis geistlicher Spontaneität und Freiwilligkeit… das ganze Lebensinteresse war auf das Gebet und das im maranatha erflehte endzeitliche Kommen des Herrn ausgerichtet.“Jürgen Roloff (2010) zufolge reagiert die Gütergemeinschaft in beiden Summarien auf das Auferstehungszeugnis der Apostel und erweist seine Wirksamkeit (Apg 2,34; 4,33). So habe Lukas beide Aspekte unlösbar verbunden. Apg 2 stelle die Gütergemeinschaft als Resümee voran, Apg 4 beschreibe ihren konkreten Vollzug: „Wann immer es die Lage erfordert, verkaufen die Besitzer von Grundstücken und Häusern ihr Eigentum und liefern den Erlös bei den Aposteln ab. Diese verwalten die Gemeinschaftskasse, aus der bedürftige Gemeindeglieder bekommen, was sie brauchen (vgl. 6,1f.)“ Auf diese Weise habe Lukas eine zeitlich begrenzte Praxis, die ihm wahrscheinlich nur aus den überlieferten Einzelbeispielen bekannt gewesen sei, zum historischen Leitbild für die Kirche aller Zeiten erhoben. Weil die Apostel als Zeugen der Erscheinungen des Auferstandenen seine baldige Wiederkunft erwarteten, hätten sie vorhandene Mittel spontan für Bedürftige eingesetzt, aber keine langfristige Versorgung organisiert.
=== Historizität ===
Hans Conzelmann (1969) argumentierte literarkritisch gegen die Historizität der Gütergemeinschaft: Die Summarien stellten einen allgemeinen Verzicht auf Eigentum dar (Apg 2,44/4,32), die Beispielerzählungen dagegen schilderten den Verzicht als besondere Leistung Einzelner (Apg 4,36f.), also als Ausnahme. Auch antike Texte zur Gütergemeinschaft der Pythagoreer seien Idealbilder. Die Übereignung von Vermögen und Lohn beim Eintritt in die Gemeinde von Qumran (die Conzelmann als historisch annahm) zeige gerade, dass eine Gütergemeinschaft nur habe bestehen können, wenn auch die Produktion gemeinsam organisiert worden sei. Daher sei Apg 2/4 eine nachträglich idealisierte Darstellung; eine völlige Besitzgemeinschaft habe es „so nicht“ gegeben.Gerd Theißen (1989) dagegen nahm einen historischen Kern der Gütergemeinschaft an. Die Urgemeinde habe die hellenistische Parole „Allen ist alles gemeinsam“ wahrscheinlich als Reaktion auf den Konflikt zwischen Hebräern und Hellenisten (Apg 6,1ff.) übernommen, um die Konfliktparteien zum gleichberechtigten Miteinanderteilen zu verpflichten und einer autoritären Entwicklung vorzubeugen.Ulrich Luz (2005) argumentierte wie folgt für die Historizität: Zwar habe Lukas die Summarien bewusst so formuliert, dass darin Motive idealer Gesellschaftsformen und Freundschaftsethik in antiker Philosophie wie auch biblische Toragebote anklangen. Aber er habe die Gütergemeinschaft sicher nicht erfunden, da regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten in der Urgemeinde zuverlässig belegt seien, die an das letzte Mahl Jesu vor seinem Tod erinnerten. Solche religiösen Mahlzeiten hätten immer auch die soziale Existenzsicherung der Armen eingeschlossen. Da Palästina damals ständig von Hungersnöten bedroht war, viele ehemalige Jesusnachfolger aus Galiläa stammten, ihre Berufe als Fischer und Bauern in der Stadt nicht ausüben konnten, die Urgemeinde als Zentrum des Urchristentums oft von anderen Christen besucht wurde und auch eine Ortsgruppe der Essener in Jerusalem Gütergemeinschaft übte, sei irgendeine kommunitäre Lebensform der Urgemeinde höchstwahrscheinlich historisch.Jürgen Roloff (2010) nannte ähnliche und zusätzliche Argumente: Viele der ersten Mitglieder aus Galiläa hatten ihre Familienverbände, Wohnsitze und Berufe dort aufgegeben und konnten als Fischer und Bauern in Jerusalem kaum Arbeit finden. In dieser Lage mussten ortsansässige Christen mit für ihren Unterhalt aufkommen. Pharisäer hatten eine Armenfürsorge etabliert, indem sie bei der Mahlfeier in den Synagogen Geldspenden für Bedürftige auslobten und einsammelten. Diesem Beispiel seien die Jerusalemer Urchristen gefolgt.
=== Wirksamkeit ===
Die Gütergemeinschaft wurde oft als Ursache für die Verarmung der Urgemeinde dargestellt: Das Verkaufen von Grundbesitz und Konsumieren der Erlöse habe in den wirtschaftlichen Ruin geführt. Deshalb sei die Urgemeinde später auf materielle Hilfe von außen angewiesen gewesen, wie die Kollekte des Paulus zeige. Somit sei die Gütergemeinschaft zwangsläufig gescheitert und kein Modell für die Gegenwart. Diese Ansicht vertraten Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Adolf Stoecker (1881), Friedrich Lahusen (1890), Hans von Schubert (1919), Max Weber, Gotthilf Schenkel (1946), Werner Elert (1949), Martin Robbe (1967), Rudolf Bultmann (1968), Heinz Kreißig (1970), Barry Gordon (1989) und andere.Ihr widersprachen Walter Rauschenbusch, Vertreter des Social Gospel (1907), Leonhard Ragaz (um 1920), Harmannus Obendink (1949) und Hans Joachim Iwand (1964). Iwand betonte: Die Gütergemeinschaft sei vom Menschen aus betrachtet ebenso möglich oder unmöglich wie Gottes Menschwerdung. Wer an Jesus Christus glaube, könne die Gütergemeinschaft nicht ablehnen.Wolfgang Reinhardt (1995) betonte: Lukas habe Widersprüche zur anfänglichen Gütergemeinschaft bewusst nicht harmonisiert. Die Verarmung der Urgemeinde habe äußere, nicht innere Ursachen gehabt. Man solle nicht vom Scheitern der Gütergemeinschaft reden, weil schon Apg 11,27–30 ihre Wirkung auf andere Gemeinden zeige: „Vielmehr könnte man von einer Ausweitung des Modells auf die ganze Ökumene sprechen.“ Er zitierte zustimmend Klaus Haacker: „Das Beispiel der Urgemeinde hat also in Wirklichkeit Schule gemacht und ist in überregionale Aktionen des innerkirchlichen Lastenausgleichs umgesetzt worden.“ Die attraktive Armenversorgung sei Hauptgrund für das Wachstum des Urchristentums in der Antike gewesen.Martin Leutzsch (1999) zufolge bestätigen frühchristliche Texte (Didache, Apologie Justins, Lukian) die Wirksamkeit der Gütergemeinschaft. Auch außerchristliche antike Parallelen zeigten ihre Durchführbarkeit. Sie sei für Lukas laut Apg eine Erfolgsgeschichte, kein missglücktes Experiment gewesen.
=== Geltungsanspruch ===
1780 legte der Lübecker Chirurg Jakob Leonhard Vogel Apg 2/4 als gültigen Rechtsanspruch armer an reiche Christen und gemeinsames Verfügungsrecht aller Christen aus:
Martin Leutzsch sieht die meisten traditionellen Auslegungen als Versuche an, den Geltungsanspruch des lukanischen Vorbilds für heutige Christen abzuwehren. Er zählt dazu folgende Argumentationsweisen:
konsequente Historisierung: Die Gütergemeinschaft habe es nur in der besonderen, nicht wiederholbaren Situation der Urchristen (ihrer Naherwartung) gegeben.
konsequente Enthistorisierung: Sie sei nie historische Realität, nur ein ideales Konstrukt des Lukas gewesen.
Bestreiten des Vorbildcharakters: Von Gütergemeinschaft sei nur in der Apg die Rede, das Jerusalemer Modell sei schon im Urchristentum nur eines unter anderen.
religionsgeschichtlicher Vergleich: Die Gütergemeinschaft sei aus außerchristlichen Parallelen übernommen und folge nicht aus der Botschaft Jesu.
Begrenzung der Relevanz und Wirksamkeit: Die Gütergemeinschaft sei ein Gemeindemodell, kein Gesellschaftsmodell. Sie sei auch laut Apg selbst nicht von allen Urchristen, sondern nur unter der Leitung der erstberufenen Apostel praktiziert worden. Die Beteiligten seien dabei einem pfingstlichen Rausch verfallen gewesen. Sie habe zur Verarmung der Urgemeinde geführt.
== Literatur ==
Eberhard Arnold: Sie hatten alles gemein. In: Friedrich Siegmund-Schultze (Hrsg.): Die soziale Botschaft des Christentums für unsre Zeit dargestellt in Ansprachen von Männern und Frauen verschiedener Richtungen und Parteien. 2. Auflage, 1921, S. 22–26.
Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Alles gehört allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute. Beck, München 1984, ISBN 3-406-09289-6.
Friedrich W. Horn: Die Gütergemeinschaft der Urgemeinde. In: Evangelische Theologie 58, 1998, S. 370–383.
Hans-Josef Klauck: Gütergemeinschaft in der klassischen Antike, in Qumran und im Neuen Testament. In: Hans-Josef Klauck: Gemeinde – Amt – Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven. Echter, Würzburg 1989, ISBN 3429011825, S. 69–100.
Martin Leutzsch: Erinnerung an die Gütergemeinschaft. Über Sozialismus und Bibel. In: Richard Faber (Hrsg.): Sozialismus in Geschichte und Gegenwart. Königshausen & Neumann, Würzburg 1994, ISBN 388479731X.
José Porfirio Miranda: Der Kommunismus der Bibel. (spanisches Original: 1981) Edition ITP-Kompass, Münster 2014, ISBN 978-3-981-3562-6-7.
Hans-Dieter Plümper: Die Gütergemeinschaft bei den Täufern des 16. Jahrhunderts. Alfred Kümmerle, Göppingen 1972.
Hermann Schempp: Gemeinschaftssiedlungen auf religiöser und weltanschaulicher Grundlage. Mohr/Siebeck, Tübingen 1969, ISBN 3-16-529272-8.
Manfred Wacht: Gütergemeinschaft. In: Theodor Klauser (Hrsg.): Reallexikon für Antike und Christentum. Band 13, Anton Hiersemann, Stuttgart 1984, Sp. 47–79.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCtergemeinschaft_der_Jerusalemer_Urgemeinde
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Wissenschaftliches Werk Leonhard Eulers
|
= Wissenschaftliches Werk Leonhard Eulers =
Das wissenschaftliche Werk von Leonhard Euler ist das umfangreichste von einem Mathematiker jemals geschaffene. Es umfasst unter anderem grundlegende Resultate in den Bereichen Infinitesimalrechnung, Analysis, Mechanik, Astronomie, Geodäsie, Zahlentheorie, Algebra, Trigonometrie, Geometrie, Musiktheorie und Optik.
Zu Eulers berühmtesten Resultaten zählen die Lösung des Basler Problems, der Polyedersatz und die Eulersche Identität, wobei letztere eine enge Verbindung zwischen zahlreichen fundamentalen mathematischen Konstanten zieht. Für diese und andere Ergebnisse erhielt Euler auch posthum viele Ehrungen.
Eulers Forschung war sehr vielseitig. Er arbeitete in fast allen Bereichen der Mathematik und gilt als einer der produktivsten Mathematiker der Geschichte. Seine gesammelten Schriften der Opera omnia umfassen bisher 76 Bände. Insgesamt gibt es 866 Publikationen von ihm. Eulers Name ist mit einer großen Anzahl von Resultaten und wissenschaftlichen Themenbereichen verbunden.
Nach Leonhard Euler sind gleich zwei mathematische Konstanten benannt: die Eulersche Zahl
e
≈
2,718
28
{\displaystyle \mathrm {e} \approx 2{,}71828}
aus der Analysis (siehe Exponentialfunktion) und die Euler-Mascheroni-Konstante γ (Gamma) aus der Zahlentheorie, die manchmal nur als Eulersche Konstante bezeichnet wird und ungefähr gleich 0,57721 ist. Es ist nicht bekannt, ob γ rational oder irrational ist. Im Gegensatz dazu ist die Irrationalität der Zahl e bekannt und wurde zuerst von Euler gezeigt (siehe auch: Beweis der Irrationalität der eulerschen Zahl).
Eine breitere Leserschaft erlangte zudem seine populärwissenschaftliche Schrift Lettres à une princesse d’Allemagne von 1768, in der er in Form von Briefen an die Prinzessin Friederike Charlotte von Brandenburg-Schwedt, eine Nichte 2. Grades Friedrichs II., die Grundzüge der Physik, der Astronomie, der Mathematik, der Philosophie und der Theologie vermittelte.
Leonhard Eulers Werk beeinflusste viele Generationen an Mathematikern nachhaltig. So sagte Carl Friedrich Gauß: „Das Studium der Werke Eulers bleibt die beste Schule in den verschiedenen Gebieten der Mathematik und kann durch nichts anderes ersetzt werden“. Wegen der großen Zahl an Publikationen und Korrespondenzen zu anderen Mathematikern und Persönlichkeiten, ziehen sich Bestrebungen, ein Eulersches Gesamtwerk herauszugeben, bis in die heutige Zeit hinein. Durch die Herausgabe der Opera Omnia über die Euler-Kommission gilt dieses Unterfangen jedoch als weitestgehend umgesetzt.
== Mathematische Notationen ==
Euler führte in seinen zahlreichen Lehrbüchern mehrere Notationskonventionen ein. Durch die weite Verbreitung der Bücher setzten sich viele seiner Notationen nachhaltig durch. Er führte das Konzept der mathematischen Funktion ein und schrieb als erster f(x), um die Funktion f zu bezeichnen, die auf das Argument x angewandt wird. Der „formale“ von Euler verwendete Funktionsbegriff war ein wichtiger Meilenstein in Richtung der heutigen Definition:
Von ihm stammen auch die bis heute gebräuchlichen Notationen für die trigonometrischen Funktionen, der Buchstabe e für die Basis des natürlichen Logarithmus, der griechische Buchstabe Σ (Sigma) für Summen und der Buchstabe i zur Bezeichnung der imaginären Einheit; das Zeichen Δ (Delta) für die Differenz stammt ebenfalls von Euler. Die Verwendung des griechischen Buchstabens π zur Bezeichnung des Verhältnisses von Kreisumfang und -durchmesser (Kreiszahl) wurde ebenfalls von Euler popularisiert, obwohl sie ursprünglich auf den walisischen Mathematiker William Jones zurückgeht.
== Analysis und Funktionentheorie ==
=== Elementare Analysis ===
Euler kann als einer der Begründer der Analysis angesehen werden. Der Mathematikhistoriker Thomas Sonar beschreibt in seinem Buch 3000 Jahre Analysis (2011) Leonhard Euler als einen „echten Giganten für die Analysis“. Eulers Bedeutung für dieses Feld wird nicht nur über die Einführung eines rigorosen Funktionsbegriffs hervorgehoben. So sei er „ungeschlagener Meister“ im Umgang mit Potenzreihen, die er als „unendliches Polynom verstanden“ zu seinem ständigen „Arbeitspferd“ machte.Euler leistete Pionierarbeit bei der Verwendung analytischer Methoden zur Lösung von Problemen der Zahlentheorie. Damit vereinte er zwei ungleiche Zweige der Mathematik und führte ein neues Studiengebiet ein, die analytische Zahlentheorie.
==== Infinitesimalrechnung ====
Wegen anhaltender Forschung war die Infinitesimalrechnung im 18. Jahrhundert auf dem Vormarsch. Insbesondere Eulers Freunde, die Bernoullis, waren für einen Großteil der frühen Fortschritte auf diesem Gebiet verantwortlich. Dank ihres Einflusses wurde das Studium der Infinitesimalrechnung zum Hauptschwerpunkt von Eulers Arbeit. In seinem Werk Institutiones calculi differentialis (1755) beschäftigte er sich systematisch mit der Differentialrechnung. Euler wählte die Interpretation: „Kleiner als jede angebbare Größe“ für infinitesimale Größen. In den Institutiones calculi differentialis aus dem Jahr 1755 definiert Euler:
Euler betrachtet also das Rechnen mit unendlich kleinen Größen als „Nullenrechnung“. Für diese führte er eine „unendlich kleine“ Größe
ω
{\displaystyle \omega }
und eine „unendlich große“
Größe
i
{\displaystyle i}
(nicht zu verwechseln mit der imaginären Einheit) ein – und nutzte diese für Herleitungen korrekter Aussagen. So nutzte Euler mit
x
=
ω
⋅
i
{\displaystyle x=\omega \cdot i}
den für „eine zunächst beliebige Zahl
k
{\displaystyle k}
gültigen Ansatz“
a
x
=
(
1
+
k
x
i
)
i
,
{\displaystyle a^{x}=\left(1+{\frac {kx}{i}}\right)^{i},}
um die für die Eulersche Zahl
e
{\displaystyle \mathrm {e} }
geltende Reihe
e
=
∑
n
=
0
∞
1
n
!
{\displaystyle \mathrm {e} =\sum _{n=0}^{\infty }{\frac {1}{n!}}}
herzuleiten. Diese Formel liefert eine äußerst schnell konvergente Reihe für die Zahl
e
{\displaystyle \mathrm {e} }
, es gilt zum Beispiel
1
+
1
1
+
1
2
+
1
6
+
1
24
+
1
120
+
1
720
=
2,718
0
5
¯
≈
2,718
281828...
=
e
.
{\displaystyle 1+{\frac {1}{1}}+{\frac {1}{2}}+{\frac {1}{6}}+{\frac {1}{24}}+{\frac {1}{120}}+{\frac {1}{720}}=2{,}7180{\overline {5}}\approx 2{,}718281828...=\mathrm {e} .}
Vor dem Hintergrund zu Eulers Formel für
a
x
{\displaystyle a^{x}}
ist zu erwähnen, dass für
k
=
log
(
a
)
{\displaystyle k=\log(a)}
der Grenzwert
lim
n
→
∞
(
1
+
k
x
n
)
n
=
(
e
log
(
a
)
)
x
=
a
x
{\displaystyle \lim _{n\to \infty }\left(1+{\frac {kx}{n}}\right)^{n}=(\mathrm {e} ^{\log(a)})^{x}=a^{x}}
gültig ist, was seine
i
{\displaystyle i}
-Notation in die moderne Sprache eines mathematischen Limes einordnet.
==== Taylorreihen ====
Euler ist in diesem Kontext für die Entwicklung und häufige Verwendung von Potenzreihen bekannt. Diese können als „unendlich lange Polynome“ aufgefasst werden, aus denen sich eine Funktion aus ihrem lokalen Verhalten (d. h. unter Kenntnis all ihrer Ableitungen und einem Punkt) in manchen Fällen „global rekonstruieren“ lässt. Unter anderem gab er direkte Beweise für Taylorreihen der Exponentialfunktion
e
x
=
∑
n
=
0
∞
x
n
n
!
=
1
+
x
+
x
2
2
+
x
3
6
+
⋯
{\displaystyle \mathrm {e} ^{x}=\sum _{n=0}^{\infty }{\frac {x^{n}}{n!}}=1+x+{\frac {x^{2}}{2}}+{\frac {x^{3}}{6}}+\dotsb }
und der Arkustangensfunktion. Indirekte Beweise stammen von Newton und Leibniz aus der Zeit 1665 bis 1680. Ebenso entwickelte Euler die Sinus- und Kosinusfunktion in ihre Taylor-Reihen um den Entwicklungspunkt 0:
sin
(
x
)
=
∑
n
=
0
∞
(
−
1
)
n
x
2
n
+
1
(
2
n
+
1
)
!
,
{\displaystyle \sin(x)=\sum _{n=0}^{\infty }(-1)^{n}{\frac {x^{2n+1}}{(2n+1)!}},}
cos
(
x
)
=
∑
n
=
0
∞
(
−
1
)
n
x
2
n
(
2
n
)
!
.
{\displaystyle \cos(x)=\sum _{n=0}^{\infty }(-1)^{n}{\frac {x^{2n}}{(2n)!}}.}
Diese benutzte er, um mittels einfachen Einsetzens die Eulersche Formel für die Exponentialfunktion herzuleiten.
==== Unendliche Reihen ====
1736 fand er (ebenfalls durch Verwendung von Potenzreihen) den lange gesuchten Grenzwert für die unendliche Summe der reziproken Quadratzahlen:
∑
n
=
1
∞
1
n
2
=
1
+
1
4
+
1
9
+
⋯
=
π
2
6
.
{\displaystyle \sum _{n=1}^{\infty }{\frac {1}{n^{2}}}=1+{\frac {1}{4}}+{\frac {1}{9}}+\dotsb ={\frac {\pi ^{2}}{6}}.}
Summiert man also „alle“ (unendlich vielen) Kehrwerte der Quadratzahlen auf, ist das Ergebnis die Zahl
π
2
6
≈
1,644
93
{\displaystyle {\frac {\pi ^{2}}{6}}\approx 1{,}64493}
. Das bedeutet, dass für jede noch so kleine Zahl
x
>
0
{\displaystyle x>0}
(etwa
x
=
0,000
01
{\displaystyle x=0{,}00001}
) eine Quadratzahl
N
2
{\displaystyle N^{2}}
existiert, so dass für alle folgenden Quadratzahlen
N
2
<
M
2
{\displaystyle N^{2}<M^{2}}
gilt
π
2
6
−
x
<
1
+
1
4
+
1
9
+
⋯
+
1
N
2
+
1
(
N
+
1
)
2
+
⋯
+
1
M
2
<
π
2
6
.
{\displaystyle {\frac {\pi ^{2}}{6}}-x<1+{\frac {1}{4}}+{\frac {1}{9}}+\cdots +{\frac {1}{N^{2}}}+{\frac {1}{(N+1)^{2}}}+\cdots +{\frac {1}{M^{2}}}<{\frac {\pi ^{2}}{6}}.}
Da er für dieses Ergebnis bis dato nicht bekannte Manipulationstechniken für Potenzreihen verwendet hatte, wurde sein ursprünglicher Beweis nicht akzeptiert. Jedoch veröffentlichte Euler im Jahr 1743 einen anderen Beweis. Aus einer Verallgemeinerung dieses sogenannten Basler Problems leitete er eine geschlossene Darstellung für die geraden Bernoulli-Zahlen
B
2
k
{\displaystyle B_{2k}}
ab. Er zeigte beispielsweise, dass die Summe der Kehrwerte aller vierten Potenzen und sechsten Potenzen ebenfalls gegen rationale Vielfache entsprechender Potenzen von
π
{\displaystyle \pi }
streben.
1
+
1
2
4
+
1
3
4
+
⋯
=
π
4
90
,
{\displaystyle 1+{\frac {1}{2^{4}}}+{\frac {1}{3^{4}}}+\cdots ={\frac {\pi ^{4}}{90}},}
1
+
1
2
6
+
1
3
6
+
⋯
=
π
6
945
,
{\displaystyle 1+{\frac {1}{2^{6}}}+{\frac {1}{3^{6}}}+\cdots ={\frac {\pi ^{6}}{945}},}
und ganz allgemein
ζ
(
2
k
)
=
∑
n
=
1
∞
1
n
2
k
=
(
−
1
)
k
−
1
(
2
π
)
2
k
2
(
2
k
)
!
B
2
k
.
{\displaystyle \zeta (2k)=\sum _{n=1}^{\infty }{\frac {1}{n^{2k}}}=(-1)^{k-1}{\frac {(2\pi )^{2k}}{2(2k)!}}B_{2k}.}
Diese galt sehr lange als beste Methode für die Berechnung der Bernoulli-Zahlen
B
k
{\displaystyle B_{k}}
.Er nutzte die Identität
π
4
=
5
arctan
(
1
7
)
+
2
arctan
(
3
79
)
,
{\displaystyle {\frac {\pi }{4}}=5\arctan \left({\frac {1}{7}}\right)+2\arctan \left({\frac {3}{79}}\right),}
mit dem Arkustangens um eine schnell konvergierende Reihe für
π
{\displaystyle \pi }
herzuleiten. Unendliche Reihen wie zum Beispiel
1
+
1
2
−
1
4
−
1
5
+
1
7
+
1
8
−
⋯
=
2
π
3
3
,
{\displaystyle 1+{\frac {1}{2}}-{\frac {1}{4}}-{\frac {1}{5}}+{\frac {1}{7}}+{\frac {1}{8}}-\dotsb ={\frac {2\pi }{3{\sqrt {3}}}},}
1
−
1
3
3
+
1
5
3
−
1
7
3
+
1
9
3
−
⋯
=
π
3
32
,
{\displaystyle 1-{\frac {1}{3^{3}}}+{\frac {1}{5^{3}}}-{\frac {1}{7^{3}}}+{\frac {1}{9^{3}}}-\dotsb ={\frac {\pi ^{3}}{32}},}
oder auch
ζ
(
2
)
3
⋅
4
⋅
2
2
+
ζ
(
4
)
5
⋅
6
⋅
2
4
+
ζ
(
6
)
7
⋅
8
⋅
2
6
+
⋯
=
1
4
−
7
4
π
2
ζ
(
3
)
{\displaystyle {\frac {\zeta (2)}{3\cdot 4\cdot 2^{2}}}+{\frac {\zeta (4)}{5\cdot 6\cdot 2^{4}}}+{\frac {\zeta (6)}{7\cdot 8\cdot 2^{6}}}+\dotsb ={\frac {1}{4}}-{\frac {7}{4\pi ^{2}}}\zeta (3)}
mit der Riemannschen Zeta-Funktion
ζ
(
s
)
{\displaystyle \zeta (s)}
gehen ebenfalls auf Euler zurück. Es war Euler, der als erster divergente Reihen systematisch untersuchte.
==== Trigonometrische Funktionen ====
Euler ist der erste Autor, der die Winkelfunktionen auf einen Kreis mit Radius 1 bezieht und sie dadurch normiert. Das geschieht im sechsten Kapitel der Introductio. Insbesondere folgt nach dem Satz des Pythagoras dann sofort
sin
2
(
x
)
+
cos
2
(
x
)
=
1.
{\displaystyle \sin ^{2}(x)+\cos ^{2}(x)=1.}
Eine Reihe von Grundformeln der Trigonometrie wurden systematisch von Euler hergeleitet. Er benutzte die Additionstheoreme der trigonometrischen Funktionen und gab als erster einen einfachen und klaren Beweis der bekannten Formel von De Moivre. Dieser Beweis gilt auch aus heutiger Sicht als streng, falls man davon absieht, dass die vollständige Induktion formal nicht abgeschlossen wurde. Euler erhielt aus diesen Formeln die Entwicklung der trigonometrischen Funktionen in Potenzreihen, indem er dasselbe Verfahren wie im Falle der Exponentialfunktion benutzte.Auch die Partialbruchzerlegung des Kotangens war Gegenstand von Eulers Forschung. Diese diskutierte er unter anderem in einem Brief an Christian Goldbach vom 30. Juni 1742.Im Kontext mit seinen Studien über Funktionen einer komplexen Variablen, die teilweise von d’Alembert antizipiert wurden, gelangte Euler mittels einer schon von Johann Bernoulli verwendeten nicht-reellen Substitution zum Resultat
∫
0
∞
sin
(
x
)
x
d
x
=
π
2
.
{\displaystyle \int _{0}^{\infty }{\frac {\sin(x)}{x}}\mathrm {d} x={\frac {\pi }{2}}.}
In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Euler mittels mehrfacher Anwendung des Additionstheorems
sin
(
x
)
=
2
sin
(
x
2
)
cos
(
x
2
)
{\displaystyle \sin(x)=2\sin({\tfrac {x}{2}})\cos({\tfrac {x}{2}})}
auf die Funktionen
f
k
(
x
)
=
sin
(
x
2
k
)
{\displaystyle f_{k}(x)=\sin({\tfrac {x}{2^{k}}})}
die Produktformel
sin
(
x
)
x
=
∏
k
=
1
∞
cos
(
x
2
k
)
=
cos
(
x
2
)
cos
(
x
4
)
cos
(
x
8
)
⋯
{\displaystyle {\frac {\sin(x)}{x}}=\prod _{k=1}^{\infty }\cos \left({\frac {x}{2^{k}}}\right)=\cos \left({\frac {x}{2}}\right)\cos \left({\frac {x}{4}}\right)\cos \left({\frac {x}{8}}\right)\cdots }
generierte.
==== Exponentialfunktion und Logarithmus ====
Euler verwendete erstmals die Exponentialfunktion und Logarithmen in analytischen Beweisen und definierte sie erfolgreich für komplexe Zahlen. Dadurch wurde deren Anwendungsbereich stark erweitert. Damit fand er die enge Beziehung zu den trigonometrischen Funktionen. Für jede reelle Zahl
φ
{\displaystyle \varphi }
(im Bogenmaß) besagt die Eulersche Formel, dass die komplexe Exponentialfunktion die Gleichung
e
i
φ
=
cos
(
φ
)
+
i
sin
(
φ
)
{\displaystyle \mathrm {e} ^{\mathrm {i} \varphi }=\cos(\varphi )+\mathrm {i} \sin(\varphi )}
erfüllt. Ein spezieller Fall der obigen Formel ist als die Eulersche Identität
e
i
π
+
1
=
0
{\displaystyle \mathrm {e} ^{\mathrm {i} \pi }+1=0}
bekannt. Eulers Formel zieht Beweise der Additionstheoreme und die Formel von De Moivre nach sich. So gilt zum einen
(
cos
(
φ
)
+
i
sin
(
φ
)
)
n
=
(
e
i
φ
)
n
=
e
i
φ
n
=
cos
(
n
φ
)
+
i
sin
(
n
φ
)
.
{\displaystyle (\cos(\varphi )+\mathrm {i} \sin(\varphi ))^{n}=(\mathrm {e} ^{\mathrm {i} \varphi })^{n}=\mathrm {e} ^{\mathrm {i} \varphi n}=\cos(n\varphi )+\mathrm {i} \sin(n\varphi ).}
Auch bezüglich der Additionstheoreme bedient man sich der Multiplikativität der Exponentialfunktion. Zum andern haben wir demnach
cos
(
x
+
y
)
+
i
sin
(
x
+
y
)
=
e
i
(
x
+
y
)
=
e
i
x
e
i
y
=
cos
(
x
)
cos
(
y
)
−
sin
(
x
)
sin
(
y
)
+
i
(
sin
(
x
)
cos
(
y
)
+
sin
(
y
)
cos
(
x
)
)
.
{\displaystyle \cos(x+y)+\mathrm {i} \sin(x+y)=\mathrm {e} ^{\mathrm {i} (x+y)}=\mathrm {e} ^{\mathrm {i} x}\mathrm {e} ^{\mathrm {i} y}=\cos(x)\cos(y)-\sin(x)\sin(y)+\mathrm {i} (\sin(x)\cos(y)+\sin(y)\cos(x)).}
Zwei komplexe Zahlen sind genau dann gleich, wenn Real- und Imaginärteil übereinstimmen – zum Beispiel gilt also
cos
(
x
+
y
)
=
cos
(
x
)
cos
(
y
)
−
sin
(
x
)
sin
(
y
)
{\displaystyle \cos(x+y)=\cos(x)\cos(y)-\sin(x)\sin(y)}
.
==== Begründung der Variationsrechnung ====
Euler gilt neben Lagrange als einer der Begründer der Variationsrechnung. An verschiedene Problemstellungen und Ideen von Jakob und Johann Bernoulli anknüpfend, formulierte Euler schon sehr früh deren Hauptprobleme und entwickelte allgemeine Methoden zu deren Lösung. Dies geschah in seiner 1744 herausgebrachten Methodus inveniendi lineas curvas. Diese Spezialdisziplin (von den Brüdern Bernoulli ansatzweise initiiert) wurde von Euler erstmals konzipiert und systematisiert. Sie beschäftigt sich mit Extremwertproblemen allgemeinster Art. Im Gegensatz zur Differentialrechnung, bei der oft lokale Maxima oder Minima von Funktionen bestimmt werden, ist die Variationsrechnung durch Probleme charakterisiert, bei denen eine oder mehrere unbekannte Funktionen derart zu bestimmen sind, dass ein gegebenes, von diesen Funktionen abhängiges bestimmtes Integral extremale Werte annimmt.Nach Euler ist die in der Variationsrechnung gebräuchliche Euler-Lagrange-Gleichung benannt.
Von Carl Gustav Jacobi stammt folgende Einschätzung:
==== Integralrechnung ====
In seinem Werk Institutiones calculi integralis (1768–1770), erschienen in drei Bänden, beschäftigte sich Euler mit der Integralrechnung. Darin finden sich die Methoden der unbestimmten Integration in moderner Form erschöpfend dargestellt für die Fälle, in denen die Integration auf elementare Funktionen führt. Viele Methoden sind erst von Euler entwickelt worden, und noch heute ist die Eulersche Substitution, mit deren Hilfe gewisse irrationale Differentiale rationalisiert werden können, ein Begriff. Er fand einen Weg, Integrale mit komplexen Grenzen zu berechnen, womit er wichtige Teile der Entwicklung der komplexen Analysis vorwegnahm.
Es ist zu bemerken, dass ein Vorläufer der nach Laplace benannten Laplace-Transformation bereits 1766 von Euler in seiner Institutiones calculi integralis studiert worden war. Laplace hatte sie erstmals im Rahmen der Wahrscheinlichkeitstheorie angewandt.
==== Fourierreihen ====
Euler arbeitete auch im Bereich der Fourierreihen. Er leitete die für Werte
0
<
x
<
π
{\displaystyle 0<x<\pi }
gültige Formel
π
−
x
2
=
sin
(
x
)
+
1
2
sin
(
2
x
)
+
1
3
sin
(
3
x
)
+
1
4
sin
(
4
x
)
+
⋯
{\displaystyle {\frac {\pi -x}{2}}=\sin(x)+{\frac {1}{2}}\sin(2x)+{\frac {1}{3}}\sin(3x)+{\frac {1}{4}}\sin(4x)+\dotsb }
aus der Reihe
1
−
r
cos
(
x
)
1
−
2
r
cos
(
x
)
+
r
2
−
1
=
r
cos
(
x
)
+
r
2
cos
(
2
x
)
+
r
3
cos
(
3
x
)
+
⋯
{\displaystyle {\frac {1-r\cos(x)}{1-2r\cos(x)+r^{2}}}-1=r\cos(x)+r^{2}\cos(2x)+r^{3}\cos(3x)+\dotsb }
an der Stelle
r
=
1
{\displaystyle r=1}
her:
−
1
2
=
cos
(
x
)
+
cos
(
2
x
)
+
cos
(
3
x
)
+
⋯
{\displaystyle -{\frac {1}{2}}=\cos(x)+\cos(2x)+\cos(3x)+\dotsb }
Obwohl die Reihe zur Rechten nirgends konvergiert, lieferte beidseitiges Integrieren, nach Wahl der richtigen Integrationskonstanten, die heute als korrekt bekannte Eulersche Reihe.Dies ist ein typisches Beispiel der von Euler zugrunde gelegten „Allgemeinheit der Algebra“. Obwohl einige von Eulers Beweisen nach modernen Standards der mathematischen Strenge nicht akzeptabel sind, führten seine Ideen, wie eben demonstriert, zu vielen Fortschritten.
=== Transzendente Funktionen ===
Als Vorreiter auf diesem neuen Gebiet schuf Euler die Theorie der hypergeometrischen Reihen, der q-Reihen und der hyperbolischen trigonometrischen Funktionen.
==== Riemannsche Zeta-Funktion ====
Auch die Funktionalgleichung der Riemannschen Zeta-Funktion
ζ
(
s
)
{\displaystyle \zeta (s)}
, die Euler für die verwandte Funktion
ϕ
(
s
)
=
∑
n
=
1
∞
(
−
1
)
n
+
1
n
s
=
(
1
−
2
1
−
s
)
ζ
(
s
)
{\displaystyle \phi (s)=\sum _{n=1}^{\infty }{\frac {(-1)^{n+1}}{n^{s}}}=(1-2^{1-s})\zeta (s)}
in der Form
π
s
(
2
s
−
1
−
1
)
ϕ
(
1
−
s
)
+
(
2
s
−
1
)
cos
(
π
s
2
)
Γ
(
s
)
ϕ
(
s
)
=
0
{\displaystyle \pi ^{s}\left(2^{s-1}-1\right)\phi (1-s)+(2^{s}-1)\cos \left({\frac {\pi s}{2}}\right)\Gamma (s)\phi (s)=0}
angab, sowie einige deren Werte an negativen Stellen, waren Euler bereits bekannt. Dabei handelt es sich nicht um eine klassische Gleichung, wie etwa
2
x
+
2
=
0
{\displaystyle 2x+2=0}
, die nur vom Wert
x
=
−
1
{\displaystyle x=-1}
gelöst wird, sondern um eine Identität, d. h. die Gleichung stimmt, egal was eingesetzt wird. Beispielsweise ist
x
=
x
{\displaystyle x=x}
eine (triviale) Identität, und im Falle der Zeta-Funktion stellte Euler einen für alle
s
{\displaystyle s}
gültigen Zusammenhang zwischen den Werten
ζ
(
s
)
{\displaystyle \zeta (s)}
und
ζ
(
1
−
s
)
{\displaystyle \zeta (1-s)}
her. Diese vermutete er nach umfassenden numerischen Berechnungen, die auf der heute als richtig bekannten Darstellung
(
1
−
2
1
−
s
)
ζ
(
s
)
=
lim
x
→
1
−
∑
n
=
1
∞
(
−
1
)
n
+
1
x
n
n
s
{\displaystyle (1-2^{1-s})\zeta (s)=\lim _{x\to 1^{-}}\sum _{n=1}^{\infty }(-1)^{n+1}{\frac {x^{n}}{n^{s}}}}
beruhten. Die Riemannsche Zeta-Funktion spielt eine sehr wichtige Rolle in der Zahlentheorie und die Funktionalgleichung wurde von Bernhard Riemann, der erstmals einen strengen Beweis vorlegte, benutzt, um seine Theorie über Primzahlen aufzubauen.
==== Beta- und Gamma-Funktion ====
Bereits im Jahr 1729 entwickelte Euler unter Hilfenahme des binomischen Lehrsatzes die für natürliche Zahlen
m
,
n
{\displaystyle m,n}
gültige Formel
∫
0
1
x
m
(
1
−
x
)
n
d
x
=
1
⋅
2
⋅
3
⋯
n
(
m
+
1
)
⋅
(
m
+
2
)
⋯
(
m
+
n
+
1
)
.
{\displaystyle \int _{0}^{1}x^{m}(1-x)^{n}\mathrm {d} x={\frac {1\cdot 2\cdot 3\cdots n}{(m+1)\cdot (m+2)\cdots (m+n+1)}}.}
Daraus leitete er eine Integraldarstellung für die Fakultätsfunktion ab:
n
!
=
∫
0
1
(
−
log
(
x
)
)
n
d
x
.
{\displaystyle n!=\int _{0}^{1}(-\log(x))^{n}\mathrm {d} x.}
Diese Resultate führten zur Entdeckung der Beta- und Gammafunktion durch Euler, der ihre grundlegenden Eigenschaften studierte. In Korrespondenz mit Christian Goldbach im Jahr 1729 verallgemeinerte Euler zunächst die Fakultät und führte 1730 das Euler-Integral der zweiten Art ein, das für komplexe Werte
z
{\displaystyle z}
mit positivem Realteil die Euler-Gammafunktion darstellt:
Γ
(
z
)
=
∫
0
1
(
−
log
(
x
)
)
z
−
1
d
x
=
∫
0
∞
t
z
−
1
e
−
t
d
t
.
{\displaystyle \Gamma (z)=\int _{0}^{1}(-\log(x))^{z-1}\mathrm {d} x=\int _{0}^{\infty }t^{z-1}\mathrm {e} ^{-t}\mathrm {d} t.}
Bereits in einem Brief von 1729 an Christian Goldbach hatte Euler eine Formel für die halbzahlige Fakultät erwähnt in der Form:
(
1
2
)
!
=
π
2
{\displaystyle ({\tfrac {1}{2}})!={\tfrac {\sqrt {\pi }}{2}}}
. Das Integral erster Art stellt die Beta-Funktion für
x
,
y
>
0
{\displaystyle x,y>0}
dar:
B
(
x
,
y
)
=
∫
0
1
t
x
−
1
(
1
−
t
)
y
−
1
d
t
.
{\displaystyle \mathrm {B} (x,y)=\int _{0}^{1}t^{x-1}(1-t)^{y-1}\mathrm {d} t.}
Aus den besonderen Eigenschaften dieser Funktionen leitete Euler nicht nur Beziehungen zur Euler-Mascheroni-Konstanten ab, sondern gab auch die Produktformeln
Γ
(
z
)
=
1
z
∏
n
=
1
∞
(
1
+
1
n
)
z
(
1
+
z
n
)
−
1
{\displaystyle \Gamma (z)={\frac {1}{z}}\prod _{n=1}^{\infty }\left(1+{\frac {1}{n}}\right)^{z}\left(1+{\frac {z}{n}}\right)^{-1}}
und
1
Γ
(
z
)
Γ
(
−
z
)
=
−
z
2
∏
n
=
1
∞
(
1
−
z
2
n
2
)
=
−
z
π
sin
(
π
z
)
,
{\displaystyle {\frac {1}{\Gamma (z)\Gamma (-z)}}=-z^{2}\prod _{n=1}^{\infty }\left(1-{\frac {z^{2}}{n^{2}}}\right)=-{\frac {z}{\pi }}\sin(\pi z),}
wobei letztere als Eulerscher Ergänzungssatz (Euler reflection formula) bekannt ist. Die Beta-Funktion ist die Grundlage der Beta-Verteilung aus der Wahrscheinlichkeitstheorie. Die Gamma-Funktion taucht bei der Gamma-Verteilung auf, spielt aber auch in Funktionen- und Zahlentheorie unter anderem im Kontext vervollständigter L-Funktionen eine wichtige Rolle.
=== Elliptische Integrale ===
Eulers großes Interesse an elliptischen Integralen und elliptischen Funktionen geht auf seine frühen Jahre bei Johann Bernoulli zurück. Während seines Studiums an der Berliner Akademie erhielt Euler am 23. Dezember 1751 ein zweibändiges Werk von Giulio Fagnano mit dem Titel Produzioni Matematiche, das 1750 für seine formale Überprüfung veröffentlicht wurde. Diese Arbeit enthielt die Formel für die Verdoppelung der Bogenlänge der Lemniskate, deren Polarkoordinatengleichung
r
2
=
a
2
cos
(
2
θ
)
{\displaystyle r^{2}=a^{2}\cos(2\theta )}
, und deren algebraische Gleichung
(
x
2
+
y
2
)
2
=
a
2
(
x
2
−
y
2
)
{\displaystyle (x^{2}+y^{2})^{2}=a^{2}(x^{2}-y^{2})}
lautet. Euler wurde durch diese Arbeit enorm inspiriert und half, einen neuen Bereich algebraischer Funktionen zu schaffen.Euler war imstande, das heute als Additionstheorem für elliptische Integrale (erster Gattung) bekannte Resultat zu beweisen. Setzt man
R
(
t
)
=
1
+
m
t
2
+
n
t
4
{\displaystyle R(t)=1+mt^{2}+nt^{4}}
mit ganzen Zahlen
m
,
n
{\displaystyle m,n}
, so folgt aus der Gleichheit
∫
0
x
d
t
R
(
t
)
+
∫
0
y
d
t
R
(
t
)
=
∫
0
z
d
t
R
(
t
)
{\displaystyle \int _{0}^{x}{\frac {\mathrm {d} t}{\sqrt {R(t)}}}+\int _{0}^{y}{\frac {\mathrm {d} t}{\sqrt {R(t)}}}=\int _{0}^{z}{\frac {\mathrm {d} t}{\sqrt {R(t)}}}}
bereits
z
=
x
R
(
y
)
+
y
R
(
x
)
1
−
n
x
2
y
2
.
{\displaystyle z={\frac {x{\sqrt {R(y)}}+y{\sqrt {R(x)}}}{1-nx^{2}y^{2}}}.}
Dies wird Eulersches Additionstheorem (Euler addition theorem) genannt. Im Jahre 1753 entdeckte Euler viele Additionsformeln für elliptische Integrale, die gewöhnlich in direktem Bezug zum Additionstheorem stehen.
== Zahlentheorie und Kombinatorik ==
Eulers Interesse an der Zahlentheorie lässt sich auf den Einfluss von Christian Goldbach, seinem Freund in der Sankt Petersburger Akademie, zurückführen. Dabei ist Zahlentheorie im Grunde die Wissenschaft der natürlichen Zahlen
1
,
2
,
3
,
.
.
.
{\displaystyle 1,2,3,...}
und deren Eigenschaften. Eine zahlentheoretische Eigenschaft einer Zahl ist dabei zum Beispiel, ob sie durch eine andere Zahl geteilt werden kann oder durch wie viele Zahlen sie geteilt werden kann. Beispielsweise hatte Euler die Einsicht, dass eine ungerade Zahl größer als
1
{\displaystyle 1}
nur durch
1
{\displaystyle 1}
und sich selbst teilbar ist (eine Primzahl ist), wenn es bis auf Reihenfolge nur eine Möglichkeit gibt, sie als Summe von zwei teilerfremden positiven Quadratzahlen zu schreiben. Damit ist sie gleichzeitig darstellbar als
4
n
+
1
{\displaystyle 4n+1}
mit einer natürlichen Zahl
n
{\displaystyle n}
. (Gleiches gilt sinngemäß für die Quadratzahlen von Primzahlen, etwa
25
=
5
2
=
4
×
6
+
1
=
3
2
+
4
2
{\displaystyle 25=5^{2}=4\times 6+1=3^{2}+4^{2}}
). So besitzt in etwa die Zahl
1
000
009
{\displaystyle 1\ 000\ 009}
einen nicht-trivialen Teiler, ist also keine Primzahl, da
1
000
009
=
1
000
2
+
3
2
=
972
2
+
235
2
.
{\displaystyle 1\ 000\ 009=1\ 000^{2}+3^{2}=972^{2}+235^{2}.}
Aber im Falle
29
{\displaystyle 29}
gilt
29
=
5
2
+
2
2
=
4
×
7
+
1
{\displaystyle 29=5^{2}+2^{2}=4\times 7+1}
, die Zahlen
2
{\displaystyle 2}
und
5
{\displaystyle 5}
sind teilerfremd, und sonst gibt es keine weitere Möglichkeit zu einer Zerlegung in zwei nicht-triviale Quadrate. Also ist
29
{\displaystyle 29}
eine Primzahl. Zu beachten ist jedoch, dass auf der anderen Seite nicht jede Primzahl als Summe zweier Quadrate geschrieben werden kann. Lediglich die Primzahlen der Form
4
n
+
1
{\displaystyle 4n+1}
sind stets die Summe zweier Quadratzahlen. Viele von Eulers frühen Arbeiten zur Zahlentheorie basieren auf den Werken von Pierre de Fermat. Euler entwickelte einige von Fermats Ideen und widerlegte manche seiner Vermutungen.
Nach Euler sind verschiedene Zahlen und Zahlenfolgen benannt, siehe dazu Eulersche Zahlen (Begriffsklärung).
=== Elementare Zahlentheorie ===
Zum Beispiel widerlegte er Fermats Vermutung, alle Fermat-Zahlen seien ebenfalls Primzahlen, indem er zeigte, dass die Zahl
F
5
=
2
2
5
+
1
{\displaystyle F_{5}=2^{2^{5}}+1}
durch 641 teilbar ist.
Er trug wesentlich zur Theorie der vollkommenen Zahlen bei, die die Mathematiker seit Euklid fasziniert hatten. Euler bewies, dass die von Euklid gezeigte Beziehung zwischen (geraden) vollkommenen Zahlen und Mersenne-Primzahlen sogar eins zu eins ist, ein Ergebnis, das als Euklid-Euler-Satz bekannt ist. 1772 hatte Euler in einem Brief an Goldbach korrekt behauptet, dass
2
31
−
1
=
{\displaystyle 2^{31}-1=}
2.147.483.647 eine Mersenne-Primzahl ist. Sie galt bis 1867 als die größte gefundene Primzahl. Bereits 1732 konnte er die 19-stellige vollkommene Zahl
P
=
2
30
⋅
(
2
31
−
1
)
{\displaystyle P=2^{30}\cdot (2^{31}-1)}
konstruieren.
=== Algebraische Zahlentheorie ===
Er gab gleich mehrere Beweise für den kleinen Fermatschen Satz und war der erste, der einen Beweis publizierte (der von Leibniz im Jahr 1683 geführte Beweis tauchte erst 1894 auf). Sein erster Beweis wurde mittels Induktion geführt, was für die damalige Zeit ungewöhnlich war. Er führte auch die Eulersche Phi-Funktion ein. Mit Hilfe der Eigenschaften dieser Funktion verallgemeinerte er Fermats kleinen Satz zu dem, was heute als Satz von Euler bekannt ist.
Euler leistete wichtige Vorarbeit zu Lagranges Vier-Quadrate-Satz, indem er 1751 bewies, dass sich jede positive rationale Zahl als Summe vierer rationaler Quadrate schreiben lässt. Bereits zuvor, im Jahre 1748, hatte er in einem Brief an Goldbach die Identität
(
a
1
2
+
b
1
2
+
c
1
2
+
d
1
2
)
(
a
2
2
+
b
2
2
+
c
2
2
+
d
2
2
)
{\displaystyle (a_{1}^{2}+b_{1}^{2}+c_{1}^{2}+d_{1}^{2})(a_{2}^{2}+b_{2}^{2}+c_{2}^{2}+d_{2}^{2})}
=
(
a
1
a
2
−
b
1
b
2
−
c
1
c
2
−
d
1
d
2
)
2
{\displaystyle {}=(a_{1}a_{2}-b_{1}b_{2}-c_{1}c_{2}-d_{1}d_{2})^{2}}
+
(
a
1
b
2
+
b
1
a
2
+
c
1
d
2
−
d
1
c
2
)
2
{\displaystyle {}+{}(a_{1}b_{2}+b_{1}a_{2}+c_{1}d_{2}-d_{1}c_{2})^{2}}
+
(
a
1
c
2
−
b
1
d
2
+
c
1
a
2
+
d
1
b
2
)
2
{\displaystyle {}+{}(a_{1}c_{2}-b_{1}d_{2}+c_{1}a_{2}+d_{1}b_{2})^{2}}
+
(
a
1
d
2
+
b
1
c
2
−
c
1
b
2
+
d
1
a
2
)
2
{\displaystyle {}+{}(a_{1}d_{2}+b_{1}c_{2}-c_{1}b_{2}+d_{1}a_{2})^{2}}
erwähnt, womit sich das Problem auf Primzahlen reduzieren ließ. Nachdem Lagrange gezeigt hatte, dass sich jede positive ganze Zahl als Summe vierer ganzer Quadrate schreiben lässt, lieferte Euler kurz darauf einen einfacheren Beweis. Es gilt zum Beispiel
34
=
5
2
+
2
2
+
2
2
+
1
2
=
25
+
4
+
4
+
1.
{\displaystyle 34=5^{2}+2^{2}+2^{2}+1^{2}=25+4+4+1.}
Bemerkenswert ist eine weitere Idee Eulers, die aus seiner Beschäftigung mit der Partitio numerorum hervorging, den Satz von Lagrange zu beweisen. Dafür betrachtete er die Potenzreihe
(
1
+
q
+
q
4
+
q
9
+
q
16
+
⋯
)
4
=
∑
n
=
0
∞
A
4
(
n
)
q
n
,
{\displaystyle (1+q+q^{4}+q^{9}+q^{16}+\dotsb )^{4}=\sum _{n=0}^{\infty }A_{4}(n)q^{n},}
wobei für den Vier-Quadrate-Satz
A
4
(
n
)
>
0
{\displaystyle A_{4}(n)>0}
für alle n hinreichend ist. Diese Beweisidee deutete Euler in Briefen an Goldbach und in einigen Arbeiten (wie E394, E586) an. So schrieb er im August 1750: „Dieser Weg deucht mir noch der natürlichste zu sein, um zum Beweis […] zu gelangen“. Bei der betrachteten Potenzreihe handelt es sich um die vierte Potenz einer modifizierten Thetareihe – Jacobi ging später diesen Weg um den Satz von Lagrange rein analytisch zu beweisen.
Ebenso zeigte er Fermats Satz über die Summe zweier Quadrate. Dieser liefert ein Kriterium, wann sich eine positive ganze Zahl als Summe zweier ganzer Quadrate schreiben lässt. Beispielsweise gilt
13
=
3
2
+
2
2
=
9
+
4
{\displaystyle 13=3^{2}+2^{2}=9+4}
, jedoch gibt es für die Zahl
7
{\displaystyle 7}
keine Möglichkeit für eine solche Zerlegung.
Euler zeigte den großen Fermatschen Satz für die Fälle
n
=
3
{\displaystyle n=3}
und
n
=
4
{\displaystyle n=4}
. Er bewies, dass keine Quadratzahl größer als Null als Summe zweier Biquadrate größer als Null geschrieben werden kann, womit bereits folgt, dass die Gleichung
x
4
+
y
4
=
z
4
{\displaystyle x^{4}+y^{4}=z^{4}}
keine positiven ganzzahligen Lösungen besitzt. Im Fall
n
=
3
{\displaystyle n=3}
faktorisierte Euler
p
2
+
3
q
2
{\displaystyle p^{2}+3q^{2}}
zu
(
p
+
q
−
3
)
(
p
−
q
−
3
)
{\displaystyle (p+q{\sqrt {-3}})(p-q{\sqrt {-3}})}
. Durch die Verwendung dieser Variante der Gaußschen Zahlen und einer impliziten Annahme der eindeutigen Faktorisierung konnte Euler einen Beweis konstruieren, der die Unmöglichkeit des Falls
n
=
3
{\displaystyle n=3}
zeigte. Wie bei seinem Beweis für den Fall
n
=
4
{\displaystyle n=4}
beruhte der von Euler geführte Beweis in erster Linie auf Manipulationen algebraischer Symbole und Paritätsargumenten und führte wenig neue Methoden ein. Wie Generationen von Mathematikern nach ihm scheiterte Euler jedoch am allgemeinen Beweis des großen Fermatschen Satzes. Ein vollständiger Beweis wurde erst 1995 durch Andrew Wiles und Richard Taylor als Konsequenz des Modularitätssatzes für semi-stabile elliptische Kurven erbracht.Euler vermutete das Gesetz der quadratischen Reziprozität, das später durch Carl Friedrich Gauß bewiesen wurde. Dabei handelt es sich um eines der grundlegendsten Konzepte der Zahlentheorie.
=== Kombinatorik ===
Obwohl die Kombinatorik erst später zu einem neuen modernen Zweig der Mathematik wurde, haben Probleme des Zählens eine lange und frühe Geschichte. Euler betrachtete Probleme der Permutationen und Kombinationen und formulierte ein bestimmtes Problem wie folgt: Angesichts einer beliebigen Folge von
n
{\displaystyle n}
Buchstaben
a
,
b
,
c
,
d
,
e
,
…
{\displaystyle a,b,c,d,e,\dotsc }
, wie viele Möglichkeiten gibt es, sie neu anzuordnen, sodass keine wieder auf die ursprünglich besetzte Position zurückkehrt? In diesem Zusammenhang führte Euler die Notation
Π
(
n
)
{\displaystyle \Pi (n)}
ein, um die Anzahl der Permutationen der
n
{\displaystyle n}
Buchstaben
a
,
b
,
c
,
d
,
e
,
…
{\displaystyle a,b,c,d,e,\dotsc }
darzustellen, bei denen keiner seine ursprüngliche Position wieder einnimmt. Eine solche Permutation wird heute als fixpunktfreie Permutation bezeichnet.
Mit einem einfachen Argument bewies Euler mehrere Rekursionsformeln für
Π
(
n
)
{\displaystyle \Pi (n)}
, darunter die doppelte Rekursionsformel
Π
(
n
)
=
(
n
−
1
)
(
Π
(
n
−
1
)
+
Π
(
n
−
2
)
)
.
{\displaystyle \Pi (n)=(n-1)\left(\Pi (n-1)+\Pi (n-2)\right).}
Er gab auch die explizite Formel
Π
(
n
)
=
n
!
(
1
−
1
1
!
+
1
2
!
−
1
3
!
+
⋯
+
(
−
1
)
n
n
!
)
{\displaystyle \Pi (n)=n!\left(1-{\frac {1}{1!}}+{\frac {1}{2!}}-{\frac {1}{3!}}+\dotsb +{\frac {(-1)^{n}}{n!}}\right)}
an, die beweist, dass der Quotient aus fixpunktfreien Permutationen und allen
n
!
{\displaystyle n!}
Permutationen rapide gegen die Zahl
1
e
≈
0,367
879
{\displaystyle {\tfrac {1}{e}}\approx 0{,}367879}
konvergiert.Ebenfalls auf Euler geht der Pentagonalzahlensatz
∏
n
=
1
∞
(
1
−
x
n
)
=
∑
n
=
−
∞
∞
(
−
1
)
n
x
n
(
3
n
−
1
)
/
2
{\displaystyle \prod _{n=1}^{\infty }(1-x^{n})=\sum _{n=-\infty }^{\infty }(-1)^{n}x^{n(3n-1)/2}}
zurück, er zeigte ihn 1750. Daraus lässt sich eine Rekursionsformel für die Partitionen herleiten. Diese wurde von Percy Alexander MacMahon dazu verwendet, die Werte der Partitionsfunktion
p
(
n
)
{\displaystyle p(n)}
bis
n
=
200
{\displaystyle n=200}
zu berechnen. Dabei zählt die Funktion
p
(
n
)
{\displaystyle p(n)}
, auf wie viele Arten und Weisen sich
n
{\displaystyle n}
als Summe natürlicher Zahlen schreiben lässt. Zum Beispiel ist
p
(
4
)
=
5
{\displaystyle p(4)=5}
, denn
4
=
3
+
1
=
2
+
2
=
2
+
1
+
1
=
1
+
1
+
1
+
1
{\displaystyle 4=3+1=2+2=2+1+1=1+1+1+1}
. Es gilt
p
(
200
)
=
3.972.999.029.388
{\displaystyle p(200)=3.972.999.029.388}
. Der Pentagonalzahlensatz ist zudem ein Eckpfeiler zwischen der Kombinatorik und der Theorie der Modulformen.
In den 1780er Jahren befasste Euler sich mit griechisch-lateinischen oder Eulerschen Quadraten, in denen in jeder Zeile und auch in jeder Spalte jedes Element einer Menge G mit n Elementen und ebenso jedes Element einer Menge L mit n Elementen genau einmal vorkommen muss, und jedes Tupel (g,l) ∈ G×L muss im gesamten n×n-Quadrat genau einmal vorkommen. Euler fand Methoden zur Konstruktion von Eulerschen Quadraten mit ungerader oder durch vier teilbarer Größe n. Es gelang ihm jedoch nicht, auch für n ≡ 2 mod 4 Lösungen zu finden. Der Fall n = 6 ist als Problem der 36 Offiziere oder 36-Offiziere-Rätsel bekannt geworden, das Euler 1779 aufgab und das keine klassische Lösung besitzt.
=== Analytische Zahlentheorie ===
Euler verknüpfte die Natur der Primzahlverteilung mit Ideen aus der Analysis. Zum Beispiel bewies er, dass die Summe der Kehrwerte der Primzahlen divergiert. Dabei fand er die Verbindung zwischen der Riemannschen Zeta-Funktion und den Primzahlen; seine Entdeckung ist heute als Euler-Produkt-Formel für die Riemannsche Zeta-Funktion bekannt:
∑
n
=
1
∞
1
n
s
=
∏
p
P
r
i
m
z
a
h
l
1
1
−
1
p
s
=
1
(
1
−
1
2
s
)
(
1
−
1
3
s
)
(
1
−
1
5
s
)
⋯
,
{\displaystyle \sum _{n=1}^{\infty }{\frac {1}{n^{s}}}=\prod _{p\,\mathrm {Primzahl} }{\frac {1}{1-{\tfrac {1}{p^{s}}}}}={\frac {1}{\left(1-{\frac {1}{2^{s}}}\right)\left(1-{\frac {1}{3^{s}}}\right)\left(1-{\frac {1}{5^{s}}}\right)\cdots }},}
wobei sich das Produkt über alle Primzahlen erstreckt. Wie sich später herausstellte, hat diese Identität weitreichende Konsequenzen für Aussagen über die Verteilung der Primzahlen. Eulers Arbeiten auf diesem Gebiet führten zur Entwicklung des Primzahlsatzes.
=== Kettenbrüche ===
Auf der Grundlage früherer Arbeiten seiner Vorgänger begann Euler seine Forschungen zu Kettenbrüchen und veröffentlichte 1737 in einer Arbeit mit dem Titel De Fractionibus Continuis viele neue Ideen und Ergebnisse. Er bewies auch, dass jede rationale Zahl durch einen endlichen Kettenbruch dargestellt werden kann und fand eine unendliche Kettenbruch-Darstellung für die Zahl
e
{\displaystyle \mathrm {e} }
in folgender Form:
e
=
2
+
1
1
+
1
2
+
1
1
+
1
1
+
1
4
+
1
1
+
1
1
+
1
6
+
⋯
{\displaystyle \mathrm {e} =2+{\cfrac {1}{1+{\cfrac {1}{2+{\cfrac {1}{1+{\cfrac {1}{1+{\cfrac {1}{4+{\cfrac {1}{1+{\cfrac {1}{1+{\cfrac {1}{6+\dotsb }}}}}}}}}}}}}}}}}
Daraus (und aus einer ebenfalls unendlichen Darstellung als Kettenbruch für
e
2
{\displaystyle \mathrm {e} ^{2}}
) folgerte Euler die Irrationalität von
e
{\displaystyle \mathrm {e} }
und
e
2
{\displaystyle \mathrm {e} ^{2}}
. Er gab nicht-reguläre Kettenbrüche (also ohne ausschließlich Einsen in den Zählern der neuen Brüche) für die Kreiszahl
π
{\displaystyle \pi }
, wie in etwa
π
=
3
+
1
2
6
+
3
2
6
+
5
2
6
+
7
2
6
+
9
2
6
+
11
2
6
+
⋯
{\displaystyle \pi =3+{\frac {1^{2}}{6+{\cfrac {3^{2}}{6+{\cfrac {5^{2}}{6+{\cfrac {7^{2}}{6+{\cfrac {9^{2}}{6+{\cfrac {11^{2}}{6+\dotsb }}}}}}}}}}}}}
Er bewies zusätzlich ein Theorem, das besagt, dass die Lösung einer quadratischen Gleichung dann und nur dann reell ist, wenn sie eine periodische Kettenbruchentwicklung hat.
=== Die Euler-Mascheroni-Konstante ===
Euler entdeckte 1734 (möglicherweise früher) zuerst einen Zusammenhang zwischen dem Wachstum natürlicher Logarithmen und der harmonischen Folge. Obwohl die Terme
1
n
{\displaystyle {\tfrac {1}{n}}}
für größer werdende Werte
n
{\displaystyle n}
gegen 0 streben, gilt
1
+
1
2
+
1
3
+
1
4
+
⋯
=
∞
.
{\displaystyle 1+{\frac {1}{2}}+{\frac {1}{3}}+{\frac {1}{4}}+\dotsb =\infty .}
Also ist die Summe der Kehrwerte aller natürlichen Zahlen unbeschränkt. Zieht man jedoch von der harmonischen Folge
H
N
=
1
+
1
2
+
⋯
+
1
N
{\displaystyle H_{N}=1+{\tfrac {1}{2}}+\dotsb +{\tfrac {1}{N}}}
jeweils den Term
log
(
N
)
{\displaystyle \log(N)}
ab, so wird das unbeschränkte Wachstum weggehoben und die Differenz konvergiert gegen einen Wert, der heute Euler-Mascheroni-Konstante oder Eulersche Konstante genannt wird:
γ
=
lim
N
→
∞
(
1
+
1
2
+
1
3
+
⋯
+
1
N
−
log
(
N
)
)
≈
0,577
21.
{\displaystyle \gamma =\lim _{N\to \infty }\left(1+{\frac {1}{2}}+{\frac {1}{3}}+\dotsb +{\frac {1}{N}}-\log(N)\right)\approx 0{,}57721.}
Trotz dieser fundamentalen Definition sind die algebraischen Eigenschaften von
γ
{\displaystyle \gamma }
bis heute weitgehend ungeklärt. Es wird vermutet, dass
γ
{\displaystyle \gamma }
irrational ist, jedoch wurde bisher kein Beweis dafür gefunden. Im Jahr 1736 hatte er die Zahl
γ
{\displaystyle \gamma }
in seiner Arbeit E47 bereits auf 15 Stellen berechnet.
== Geometrie, Topologie und Graphentheorie ==
=== Geometrie ===
Die Mehrzahl seiner Entdeckungen in der Geometrie gelangen Euler durch die Anwendung algebraischer und analytischer Methoden. Das Lehrgebäude sowohl der ebenen wie auch der sphärischen Trigonometrie verdankt seine heutige Form – einschließlich der Notationsweise – Leonhard Euler. Seine – von Johann Bernoulli angeregten – Studien über geodätische Linien auf einer Fläche waren richtungsweisend für die später einsetzende Entwicklung der Differentialgeometrie. Von noch größerer Bedeutung waren seine Entdeckungen in der Flächentheorie, von der Gaspard Monge und andere Forscher in der Folge ausgehen sollten. In seinen späten Jahren schließlich nahm Euler seine Arbeiten über die allgemeine Theorie der Raumkurven exakt dort wieder auf, wo Clairaut 1731 aufgehört hatte – allerdings wurden sie erst postum gedruckt.In den Grundlagen der Differentialgeometrie lieferte er Beiträge für die Krümmung einer Kurve und leitete eine analytische Formel für die Radien der Schmiegekreise her. Außerdem entdeckte er die zwei Hauptnormalschnitte einer Oberfläche und die Hauptkrümmungen
κ
1
{\displaystyle \kappa _{1}}
und
κ
2
{\displaystyle \kappa _{2}}
. Eines seiner Ergebnisse, die sogenannte Euler-Gleichung, ergibt die Krümmung
κ
{\displaystyle \kappa }
eines beliebigen anderen Normalenabschnitts, der einen Winkel
α
{\displaystyle \alpha }
mit einem der Abschnitte mit der Hauptkrümmung einschließt, in der Form
κ
=
κ
1
cos
2
(
α
)
+
κ
2
sin
2
(
α
)
.
{\displaystyle \kappa =\kappa _{1}\cos ^{2}(\alpha )+\kappa _{2}\sin ^{2}(\alpha ).}
Es war Euler, der sich erstmals mit abwickelbaren Oberflächen (z. B. einem Zylinder oder einem Kegel) beschäftigte, d. h. Oberflächen, die ohne Verzerrungen wie Dehnung oder Reißen in eine Ebene verformt werden können. Eine Fläche wird als Regelfläche bezeichnet (z. B. ein Zylinder, Kegel, Hyperboloid oder hyperbolisches Paraboloid), wenn sie durch die Bewegung einer geraden Linie im Raum erzeugt werden kann.Es ist bekannt, dass Euler rein mathematisch die zuerst von Jakob Bernoulli und Christiaan Huygens studierte Kreisevolvente als günstigste Profilform der Flanken bei Zahnrädern eruiert hat. Diese Kurve liefert – sinnvoll verwendet – optimale mechanische Eigenschaften bezüglich Reibungsverlust, Geräuscharmut und Kraftübertragung (technisch realisiert wurde diese Entdeckung bzw. Erfindung Eulers erst im 19. Jahrhundert mit der Evolventenverzahnung). Weniger bekannt ist, dass Euler in dieser bereits 1762 entstandenen Arbeit E330 die heute nach Felix Savary benannte Gleichung antizipiert hat. Sie dient zur Bestimmung des Krümmungsradius einer Rollkurve und ermöglicht eine elegante Konstruktion deren Krümmungszentren.Innerhalb der elementaren Geometrie beschäftige sich Euler unter anderem mit einem Vorläufer des Doppelverhältnisses und den „Möndchen“ des Hippokrates. Letzteren widmete er zwei weit auseinander liegende Arbeiten E73 und E423. In einer kurzen Abhandlung E648 aus dem Jahre 1779 löste Euler das sog. Taktionsproblem des Apollonius. Dies verlangt die (elementar stets mogliche) Konstruktion eines (vierten) Kreises, der drei beliebig gegebene Kreise in der Ebene berührt. Dieses Problem wurde jedoch bereits vor Euler von François Viète, Isaac Newton und anderen gelöst. Kurz darauf verallgemeinerte er in E733 das Problem auf den dreidimensionalen Raum und fand die Konstruktion der Berührungskugel zu vier beliebig gegebenen Kugeln. Auch diese Konstruktion führt bloß auf eine quadratische Gleichung und kann somit elementar geleistet werden.
=== Topologie ===
In einem Brief vom 14. November 1750 aus Berlin an Christian Goldbach nach Sankt Petersburg kündigte Euler seine Entdeckung eines fundamentalen Zusammenhangs zwischen wichtigen Größen eines konvexen Polyeders an. Seine Entdeckung war die Formel
E
−
K
+
F
=
2
{\displaystyle E-K+F=2}
bezüglich Anzahl der Ecken (E), Kanten (K) und Flächen (F) eines konvexen Polyeders, eines planaren Graphen. Dieser Satz wird heute als Eulerscher Polyedersatz bezeichnet.
Acht Jahre nach seinem Brief, 1758, veröffentlichte er zwei Arbeiten zu dem Thema. Die erste enthielt seine Entdeckung, die zweite einen Beweisversuch. Eulers Beweis, in dem er die untersuchten Objekte in einzelne Tetraeder zerlegen wollte, enthielt jedoch nach heutigem Maßstab an Strenge einen Fehler. Diese Lücke wurde 1924 durch Henri Lebesgue hervorgehoben.Euler erhoffte sich mit seiner Arbeit alle Polyeder klassifizieren zu können, erreichte dieses Ziel jedoch nicht. Nach Veröffentlichung der beiden Arbeiten wandte er sich dem Thema nicht mehr zu.Die Konstante im Eulerschen Polyedersatz wird heute als Euler-Charakteristik des Graphen (oder eines anderen mathematischen Objekts) bezeichnet und steht mit dem mathematischen Geschlecht des Objekts direkt in Zusammenhang. Der erste lückenlose Beweis des Polyedersatzes gelang erst Adrien-Marie Legendre. Die Untersuchung und Verallgemeinerung dieser Formel, insbesondere durch Cauchy und L’Huilier, markiert den Beginn der (algebraischen) Topologie.
=== Graphentheorie ===
Im Jahr 1735 (1741 veröffentlicht mit der Arbeit Solutio problematis ad geometriam situs pertinentis) präsentierte Euler eine Lösung für das Königsberger Brückenproblem.
Die Stadt Königsberg in Preußen lag am Fluss Pregel und umfasste zwei große Inseln, die durch sieben Brücken miteinander und mit dem Festland verbunden waren. Das Problem besteht darin, zu entscheiden, ob es möglich ist, einen Weg zu wählen, der jede Brücke genau einmal überquert und zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Das ist nicht möglich, weil zu mindestens einem Landstück eine ungerade Anzahl an Brücken führt. Diese Bedingung ist bereits durch die zur zentralen Insel führenden Brücken erfüllt. Das Brückenproblem ist gleichbedeutend mit der Frage, ob es für den der Stadtkarte entsprechenden Graphen einen Eulerkreis gibt.
Diese Lösung gilt als der erste Satz der Graphentheorie, insbesondere der planaren Graphentheorie.
== Angewandte Mathematik ==
=== Numerik und Differentialgleichungen ===
==== Euler-Maclaurin-Formel ====
Im Jahr 1732 entdeckte Euler die Formel
∑
k
=
0
n
f
(
k
)
=
∫
0
n
f
(
t
)
d
t
+
f
(
0
)
+
f
(
n
)
2
+
∑
k
=
1
m
B
2
k
(
2
k
)
!
(
f
(
2
k
−
1
)
(
n
)
−
f
(
2
k
−
1
)
(
0
)
)
+
R
m
{\displaystyle \sum _{k=0}^{n}f(k)=\int _{0}^{n}f(t)\mathrm {d} t+{\frac {f(0)+f(n)}{2}}+\sum _{k=1}^{m}{\frac {B_{2k}}{(2k)!}}\left(f^{(2k-1)}(n)-f^{(2k-1)}(0)\right)+R_{m}}
mit den Bernoulli-Zahlen
B
k
{\displaystyle B_{k}}
und dem Restglied
R
m
=
1
(
2
m
+
1
)
!
∫
0
n
B
2
m
+
1
(
t
)
f
(
2
m
+
1
)
(
t
)
d
t
.
{\displaystyle R_{m}={\frac {1}{(2m+1)!}}\int _{0}^{n}B_{2m+1}(t)f^{(2m+1)}(t)\mathrm {d} t.}
Dabei bezeichnen
B
2
m
+
1
(
t
)
{\displaystyle B_{2m+1}(t)}
Bernoulli-Polynome. Diese wurde unabhängig von ihm von Colin Maclaurin gefunden und trägt heute den Namen Euler-Maclaurin-Formel. Die Formel stellt einen Zusammenhang zwischen Summen
f
(
0
)
+
f
(
1
)
+
⋯
+
f
(
N
)
{\displaystyle f(0)+f(1)+\cdots +f(N)}
und dem Integral
∫
0
N
f
(
x
)
d
x
{\displaystyle \int _{0}^{N}f(x)\mathrm {d} x}
her. Die hinteren Terme beinhalten die (höheren) Ableitungen von
f
{\displaystyle f}
an den Grenzstellen und sind bei geschickter (meist nicht zu hoher) Wahl von
m
{\displaystyle m}
meist schnell zu berechnen. Nützlich ist die Summenformel von Euler und Maclaurin dann, wenn die Summe sehr schwer, das Integral jedoch leicht zu berechnen ist. Zum Beispiel ist
1
1
2
+
1
2
2
+
1
3
2
+
⋯
+
1
N
2
{\displaystyle {\frac {1}{1^{2}}}+{\frac {1}{2^{2}}}+{\frac {1}{3^{2}}}+\cdots +{\frac {1}{N^{2}}}}
schwer allgemein zu berechnen, während die Rechnung
∫
1
N
1
x
2
d
x
=
[
−
1
x
]
1
N
=
1
−
1
N
{\displaystyle \int _{1}^{N}{\frac {1}{x^{2}}}\mathrm {d} x=\left[-{\frac {1}{x}}\right]_{1}^{N}=1-{\frac {1}{N}}}
deutlich einfacher zu vollziehen ist (siehe auch: Integralrechnung und Stammfunktion) – zu beachten ist, dass die Summenformel auf keine bestimmten Grenzen festgelegt ist und somit auch bei 1 statt 0 beginnen kann. Beginnt man alternativ an einem großen Startwert
N
{\displaystyle N}
, ist somit
1
N
2
+
1
(
N
+
1
)
2
+
1
(
N
+
2
)
2
+
⋯
{\displaystyle {\tfrac {1}{N^{2}}}+{\tfrac {1}{(N+1)^{2}}}+{\tfrac {1}{(N+2)^{2}}}+\cdots }
ungefähr gegeben durch
∫
N
∞
1
x
2
d
x
+
lim
M
→
∞
1
N
2
+
1
M
2
2
+
lim
M
→
∞
∑
k
=
1
m
B
2
k
(
1
N
2
k
+
1
−
1
M
2
k
+
1
)
=
1
N
+
1
2
N
2
+
∑
k
=
1
m
B
2
k
N
2
k
+
1
.
{\displaystyle \int _{N}^{\infty }{\frac {1}{x^{2}}}\mathrm {d} x+\lim _{M\to \infty }{\frac {{\frac {1}{N^{2}}}+{\frac {1}{M^{2}}}}{2}}+\lim _{M\to \infty }\sum _{k=1}^{m}B_{2k}\left({\frac {1}{N^{2k+1}}}-{\frac {1}{M^{2k+1}}}\right)={\frac {1}{N}}+{\frac {1}{2N^{2}}}+\sum _{k=1}^{m}{\frac {B_{2k}}{N^{2k+1}}}.}
Andersherum kann mit der Summenformel ein (schwer zu berechnendes) Integral über diskrete Summen angenähert werden. Dementsprechend praktischen Nutzen zog Euler aus dieser Formel, um unendliche Reihen, die langsam konvergieren, schnell numerisch anzunähern. So gab er gute Näherungen für die Werte
ζ
(
3
)
{\displaystyle \zeta (3)}
und
ζ
(
4
)
{\displaystyle \zeta (4)}
und fand
ζ
(
2
)
{\displaystyle \zeta (2)}
auf 20 Stellen genau:
ζ
(
2
)
=
∑
n
=
1
∞
1
n
2
≈
1,644
93406684822643647.
{\displaystyle \zeta (2)=\sum _{n=1}^{\infty }{\frac {1}{n^{2}}}\approx 1{,}64493406684822643647.}
Hätte Euler stattdessen für eine solche Präzision „naiv“ die Terme
1
n
2
{\displaystyle {\tfrac {1}{n^{2}}}}
summiert, wäre der Zeitaufwand mit 20 Sekunden pro Summand bei etwa 63 Billionen Jahren gelegen. Erwiesenermaßen etablierte Eulers ursprüngliche Methode der Berechnung von
ζ
(
n
)
{\displaystyle \zeta (n)}
für höhere Werte von
n
{\displaystyle n}
die numerische Mathematik als ein neues Forschungsgebiet.
==== Explizites Euler-Verfahren ====
Während des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts unternahmen Mathematiker ernsthafte Versuche, gewöhnliche Differentialgleichungen in Form von elementaren Funktionen und Quadraturen zu lösen. Als diese Methoden scheiterten, lösten sie Gleichungen mit Hilfe unendlicher Reihen und mit numerischen Methoden. Im Jahre 1768 entwickelte Euler ein einfaches Finite-Differenzen-Verfahren zur numerischen Lösung einer gewöhnlichen Differentialgleichung
d
y
d
x
=
f
(
x
,
y
)
{\displaystyle {\frac {\mathrm {d} y}{\mathrm {d} x}}=f(x,y)}
mit der gegebenen Anfangsbedingung
y
(
x
0
)
=
y
0
{\displaystyle y(x_{0})=y_{0}}
. Mit einer einheitlichen Schrittweite
h
{\displaystyle h}
zwischen den Punkten
x
0
,
x
1
,
x
2
,
…
{\displaystyle x_{0},x_{1},x_{2},\dotsc }
, konstruierte Euler die Punkte
x
n
+
1
=
x
0
+
(
n
+
1
)
h
=
x
n
+
h
,
{\displaystyle x_{n+1}=x_{0}+(n+1)h=x_{n}+h,}
mit
n
=
0
,
1
,
2
,
…
{\displaystyle n=0,1,2,\dotsc }
, und erhielt dann die Formel
y
n
+
1
=
y
n
+
h
f
(
x
n
,
y
n
)
=
y
n
+
h
y
n
′
+
O
(
h
2
)
.
{\displaystyle y_{n+1}=y_{n}+hf(x_{n},y_{n})=y_{n}+hy_{n}'+O(h^{2}).}
Hierbei bezeichnet
O
(
h
2
)
{\displaystyle O(h^{2})}
die O-Notation von Landau und bedeutet in diesem Falle, dass das Fehlerrauschen jenseits
y
n
+
h
y
n
′
{\displaystyle y_{n}+hy_{n}'}
im rechten Ausdruck im Wesentlichen durch die „winzige“ Zahl
h
2
{\displaystyle h^{2}}
nicht überschritten wird. Falls
f
(
x
,
y
)
{\displaystyle f(x,y)}
stetig ist, dann konvergiert die Folge der Euler-Polygonlinien gleichmäßig mit
h
→
0
{\displaystyle h\to 0}
zu der unbekannten Funktion
y
(
x
)
{\displaystyle y(x)}
auf einem ausreichend kleinen geschlossenen Intervall, das
x
0
{\displaystyle x_{0}}
enthält.
=== Euler-Winkel ===
Nach ihm sind auch die bedeutenden Euler-Winkel benannt. Es handelt sich dabei um ein Tripel aus Winkeln, mit denen die Orientierung (Drehlage) eines festen Körpers im dreidimensionalen euklidischen Raum beschrieben werden kann. Eine algebraische Beschreibung, mit der die Drehlage von beliebigen Punkten berechnet werden konnte, wurde erst ab 1775 von Euler in zunehmender Tiefe formuliert. In der ersten Arbeit zeigte er, dass die neun Elemente der Abbildungsmatrix (welche die Drehung beschreiben) wegen der Längentreue einer Bewegung nicht unabhängig voneinander sind, sondern durch nur drei voneinander unabhängige Winkel festgelegt werden, der Euler-Winkel.In der Aerodynamik von Flugzeugen werden bis heute die Euler-Winkel verwendet. Dabei ist es Praxis, ein erdfixes Koordinatensystem zu verwenden, um die Position und Orientierung eines Flugzeugs relativ zur Erde zu beschreiben. Da es sich bei dem Koordinatensystem nicht um ein kartesisches System handelt, ergeben sich in der Regel aber einige Probleme bei der Formulierung der Flugzeugdynamik. Durch weitere Differenzierung kann dem begegnet werden. Während die Position des Flugzeugs am besten mittels eines erdfixen Koordinatensystems beschrieben werden kann, werden die Komponenten des Trägheitstensors in der Bewegungsgleichung am besten mittels eines Koordinatensystems beschrieben, welches das Gravizentrum des Flugzeugs als Ursprung hat. Die Orientierung eines Flugzeugs relativ zur Erde kann nun mit den sogenannten Euler-Winkeln beschrieben werden. Daher ist es notwendig, die Transformation zwischen den beiden oberen Koordinatensystemen mittels der drei Eulerwinkel-Drehungen abzuleiten.
=== Lotterien ===
Euler beschäftigte sich auch mit Lotterien. 1749 trat ein italienischer Geschäftsmann namens Roccolini an Friedrich den Großen, den damaligen König von Preußen, mit dem Vorschlag heran, ein Lotteriesystem einzuführen, bei dem fünf Zahlen von 1 bis 90 gezogen werden sollten. Der König sandte den Vorschlag an seinen wissenschaftlichen Berater Euler mit der Bitte um eine mathematische Überprüfung bezüglich der Einführung einer staatlichen Lotterie in Deutschland. Auf den königlichen Wunsch hin interessierte sich Euler sehr für die Analyse der verschiedenen Aspekte des genuesischen Lotteriesystems und entwickelte ein verbessertes Lotteriesystem, nachdem er bei der Analyse dieses Glücksspiels kombinatorische Fragen angesprochen hatte. In der Folge wurde die Berliner Lotterie 1763 in Deutschland gegründet.Im selben Jahr, in dem Preußen sein erstes Lotto veranstaltete, verlas Euler vor der Berliner Akademie eine Arbeit mit einer detaillierten und allgemeinen Analyse dieses Lottos. Eulers Arbeit wurde posthum veröffentlicht. Eines der grundlegenden Ergebnisse, die Euler erzielte, bestand darin, eine Formel für die Gewinnwahrscheinlichkeit der Wette zu finden, bei der r aus t gezogenen Zahlen bei einer Gesamtzahl von n richtig erraten werden müssen. Seine Formel lautete:
∏
j
=
1
r
t
−
j
+
1
n
−
j
+
1
{\displaystyle \prod _{j=1}^{r}{\frac {t-j+1}{n-j+1}}}
Anhand dieser Wahrscheinlichkeitsberechnungen berechnete Euler drei praktische Szenarien für die Auszahlungen auf alle Wetten und berücksichtigte dabei die Möglichkeit, einen Gewinn für die Lotterieveranstalter zu erzielen.
=== Bevölkerungswachstum ===
Im Jahr 1907, fast 125 Jahre nach Eulers Tod, verwendete Alfred J. Lotka Eulers Arbeit Recherches générales sur la mortalité et la multiplication du genre humain um die Euler-Lotka-Gleichung zur Berechnung von Bevölkerungswachstumsraten abzuleiten. Dabei handelt es sich um eine grundlegende Methode, die in der Populationsbiologie und -ökologie bis heute verwendet wird.
== Physik ==
=== Mechanik ===
Eulers Abhandlungen zur Mechanik lassen sich, entsprechend seinem „Programm“, in folgende Bereiche einteilen: Grundlagen der Mechanik (Aufbau und Struktur der Materie, Kraft und Kraftmaß, Prinzipien der Mechanik), Mechanik materieller Punkte, Mechanik starrer, Mechanik biegsamer nicht elastischer, Mechanik elastischer, Mechanik flüssiger sowie Mechanik gasförmiger Körper. In Schriften wie Mechanica, sive motus scientia analytica exposita (1736), Découverte d’un nouveau principe de mécanique (1752) und Theoria motus corporum solidorum seu rigidorum (1765) wandte Euler dabei die Mathematik auf Fragen der Physik an. Laut Clifford Truesdell „tragen in der Tat nur wenige Werke so viel zur Mechanik bei“ wie die zweit genannte Arbeit.
==== Punktmechanik ====
Eulers Mechanikschrift von 1736 ist vorwiegend der Punktmechanik gewidmet. Die Besonderheit ihres Aufbaus ist, dass im Anschluss an die mechanischen Prinzipien, die nach Newtonscher Art formuliert sind, der jeweilige Objektbereich durch algebraische Zusatzannahmen definiert wird. Die Zusatzannahmen bestimmen die Art der Kraft-Funktion
F
(
d
m
,
s
,
v
)
{\displaystyle F(dm,s,v)}
.
Damit kommt Euler je nach Kraftfunktion auf unterschiedliche Differentialgleichungen, die zugleich den Gegenstandsbereich definieren: Punktmassen im Raum unter Einwirkung von Zentralkräften, Berücksichtigung von weiteren Reibungskräften, periodische Bewegungsabläufe usw.
So formuliert Euler auch die differentielle Keplergleichung als Folgerung aus allgemeinen Annahmen über die Zentripetalkraft. Euler deduziert die zentrale Differentialgleichung in der damals von Johann Bernoulli und John Keill eingeführten Darstellung durch eine Fußpunktkurve (engl. ‚pedal curve‘):
P
d
r
=
h
2
p
3
d
p
{\displaystyle P\,dr={\frac {h^{2}}{p^{3}}}\,dp}
.In der heutigen Fassung entspricht das einer Phasenraum-Darstellung, bestehend aus dem Größenpaar
(
r
,
p
)
{\displaystyle (r,p)}
des zentralen Radius
r
{\displaystyle r}
und des tangential gerichteten Bahnimpulses
p
{\displaystyle p}
. Auf diese Weise vereinheitlicht Euler verschiedene Themengebiete der Mechanik durch algebraische oder analytische Umformulierungen.
Im zweiten Teil der Mechanica (1736) werden entsprechend Bewegungen des mathematischen Pendels untersucht, erstmals auch mit endlicher Amplitude.
==== Mechanik starrer Körper ====
Euler bemerkte, dass die damals allgemein akzeptierten Prinzipien der Mechanik nicht ausreichten, um das Problem der Bewegung eines starren Körpers in voller Allgemeinheit zu lösen. Der Drehimpulssatz (um eine raumfeste Achse) findet sich – implizit formuliert – bereits in Eulers Manuskript von 1734 zu seiner Mechanica sowie in seiner 1738 verfassten, aber erst 1749 publizierten Scientia navalis. Zum ersten Mal hergeleitet wurde der Drehimpulssatz (bezüglicher einer raumfesten Achse) für Systeme diskreter Massenpunkte in einer Abhandlung Eulers über die Bewegung der Mondknoten, die Euler 1744 der Berliner Akademie der Wissenschaften präsentierte und 1750 publizierte. Am 3. September 1750 las er vor der Berliner Akademie ein Mémoire, in dem er das Prinzip „Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“ im Kontext der Eulerschen Gleichung der Starrkörper-Rotation als eigene und neue Entdeckung vorstellte. Jedoch erst 1775 publizierte Euler den Drehimpulssatz in seiner allgemein gültigsten Form als unabhängiges neues mechanisches Prinzip. Aus einer Idee Johann Bernoullis in dessen Werk Hydraulica und aus der Anwendung eines Schnittprinzips an einem infinitesimal kleinen Volumenelement gewann Euler den Impulssatz der Mechanik,
d
K
→
=
d
m
⋅
d
2
x
→
d
t
2
{\displaystyle \mathrm {d} {\vec {K}}=\mathrm {d} m\cdot {\frac {\mathrm {d} ^{2}{\vec {x}}}{\mathrm {d} t^{2}}}}
also das heute so geläufige „Kraft = Masse × Beschleunigung“, das auch als Grundgleichung der Translationsbewegung bekannt ist. Das Gesetz wird bis heute namentlich Newton zugeschrieben (als das 'Zweite Newtonsche Axiom'), findet sich in dieser Form dort aber nicht. Den differentiellen Charakter des Gesetzes für die drei räumlichen Dimensionen und seinen Unterschied zu den Gesetzen bei Drehbewegungen dargestellt zu haben (siehe unten den Eintrag zu 'Technische Mechanik') ist der Verdienst Eulers.
==== Strömungsmechanik ====
Historisch gesehen wurden im 18. Jahrhundert von Jean d’Alembert, Daniel Bernoulli, Alexis Clairaut und Joseph Lagrange beträchtliche Fortschritte in der theoretischen Strömungsmechanik erzielt. Unter diesen großen Mathematikern leistete Euler die grundlegendsten Beiträge zur Strömungsmechanik, indem er seine berühmten Bewegungsgleichungen, die Euler-Gleichungen der Strömungsmechanik, aufstellte.
Eulers Hauptwerk auf dem Gebiet der Strömungsmechanik beruhte im Wesentlichen auf der Kontinuumshypothese und den Newtonschen Bewegungsgesetzen. Seine Arbeit bildet die Grundlage der mathematischen Theorie der Strömungsmechanik, die von seiner Entdeckung der Variationsrechnung sowie partieller Differentialgleichungen umfasst war. Er leistete grundlegende Beiträge zur Hydrostatik und Hydrodynamik in der Zeit von 1752 bis 1761 und veröffentlichte 1757 mehrere wichtige Artikel in diesen Bereichen in der Mémories de l’Academie des Sciences de Berlin. Der erste dieser Artikel befasste sich mit den grundlegenden allgemeinen Konzepten, Prinzipien und Gleichgewichtsgleichungen von Flüssigkeiten. Die zweite und die dritte Arbeit beschäftigten sich im Wesentlichen mit der Massenerhaltungsgleichung (oder der Kontinuitätsgleichung) und den nichtlinearen Euler-Bewegungsgleichungen kompressibler Flüssigkeitsströmungen. Anschließend formulierte er die Bewegungsgleichungen und die Kontinuitätsgleichung für eine nichtviskose, inkompressible Flüssigkeitsströmung mit dem ersten Beweis des berühmten d’Alembertschen Paradoxons in einer nichtviskosen Flüssigkeitsströmung, die an einem starren Körper vorbeifließt.Außerdem arbeitete Leonhard Euler in der Mechanik auf den Gebieten der Turbinengleichung und der Kreiseltheorie, in der er neben den Eulerschen Gleichungen die Euler-Winkel einführte. Er gilt als der Entwickler der weltweit ersten Wasserturbine. Eine Rekonstruktion der Eulerschen Turbine zeigte, dass ihr Wirkungsgrad von 71 % nur wenig unter dem moderner Turbinen (Stand 2015) liegt. Auch das technisch realisierbare Prinzip des Flügelradantriebs und der Schiffsschraube ist Euler zu verdanken.
==== Technische Mechanik ====
Die erste analytische Beschreibung der Knickung eines mit einer Druckkraft belasteten Stabes geht ebenfalls auf Euler zurück; er begründete damit die Stabilitätstheorie. Er half bei der Entwicklung der Euler-Bernoulli-Balkengleichung, die zu einem Eckpfeiler des Ingenieurwesens wurde.
Die zu den Grundlagen der Elastostatik gehörende Biegedifferentialgleichung vierter Ordnung in der Form
k
⋅
w
⁗
(
x
)
=
q
(
x
)
{\displaystyle k\cdot w''''(x)=q(x)}
kann bereits in der Schrift Euler (1740) gefunden werden. Dabei sind w in der Bedeutung der Durchbiegung und q in der Bedeutung einer Streckenlast (‚differentiellen Querkraft‘) bereits in Eulers Original ersichtlich, und k, das heute allgemein das Produkt
k
=
E
⋅
I
{\displaystyle k=E\cdot I}
(Elastizitätsmodul mal Flächenmoment) bezeichnet, ist eine unbestimmte elastische Kraft.Bemerkenswert ist, dass Euler in dieser und anderen Schriften aus der Phase seines Schaffens zwischen 1734 bis 1740 Resultate zur technischen Mechanik entwickelt, die aus einer neuen und verallgemeinerten Theorie des Schwingungsmittelpunktes entstanden sind. Der Übergang zu elastischen Kontinua wird dabei als Variationsaufgabe am starren Körper verstanden und informell umgesetzt.Das gilt auch für eine detaillierte Auseinandersetzung mit mechanischen Problemen zur Verbesserung von Ankerwinden, die auch aus dieser früheren Phase der Veröffentlichungen stammt. In der für ihn typischen Herangehensweise, die rein technische Fragestellung auf das Grundlegende der physikalischen Prinzipien zu bringen, nahm Euler die Preisfrage der Pariser Académie des sciences von 1737 zum Anlass, um sich der technischen Verbesserung aller Einfachen Maschinen mit Drehwirkung zuzuwenden. Die mit dem zweiten Preis ausgezeichnete Auseinandersetzung Euler (1741) umfasst gleich mehrere Neuerungen für die damalige Mechanik:
das erste Auftreten der dynamischen Wellrad- oder Winden-Formel, einschließlich der Berücksichtigung von Reibungsverlusten.
auf der Grundlage dieser Formel eine umfassende Behandlung der Extremwert-Kriterien der Analysis zur technischen Realisierung der besten Maße einer Ankerwinde.
eine Beurteilung Eulers über den lückenhaften Zustand der damaligen Mechanik. Es ermangele ihr an zureichenden Prinzipien für die dynamische Beschreibung von Maschinen. Damit wandte Euler sich insbesondere momentaner Rotation in analytischen Begriffen zu.
eine allgemeine Untersuchung von Drehmomenten und ihr Zusammenhang zu dem von Euler so genannten ‚Moment der Materie‘, welches später das Trägheitsmoment
I
{\displaystyle I}
bedeuten wird. Damit verbunden tritt erstmals die Grundgleichung der Drehbewegung als betragsmäßiges Gesetz „Drehmoment = Drehbeschleunigung × Trägheitsmoment“ auf, kurz
M
=
α
⋅
I
.
{\displaystyle M=\alpha \cdot I.}
Die Schrift erklärt diesen Zusammenhang gleichfalls als ein neu entdecktes ‚Prinzip der Mechanik‘ und diskutiert die formal beachtliche ‚Analogie ‘ zum Grundgesetz der Translationsbewegung.nicht zuletzt das Bekenntnis Eulers zu einem ganzheitlichen Bild von den Wissenschaften, an deren Spitze mathematische Erkenntnisse stehen.Wenn nach Euler ein Unterschied zwischen Mathematik und ihren technischen Anwendungen bestehen würde, worauf auch manche Preisfragen der Königlichen Akademie hindeuten, so wäre dies ein künstlich hergestellter und ein für die Förderung des Zusammenhalts aller Wissenschaften unwesentlicher. Mechanik ist (nach damaligem Verständnis) angewandte Mathematik. Vielmehr sind die technischen Bereiche mit den theoretischen Methoden der Analysis und Geometrie zu verknüpfen, um in der technischen Konstruktion gesicherte Aussagen zu gewinnen. Eine technische Mechanik musste nach Eulers Verständnis zugleich auch allgemeine, mathematische Mechanik sein.Zur letztgenannten Neuerung formuliert Euler:
=== Astronomie ===
Abgesehen von der erfolgreichen Anwendung seiner analytischen Werkzeuge auf Probleme der klassischen Mechanik wandte Euler diese auch in der Astronomie an – diese Arbeiten wurden im Laufe seiner Karriere durch eine Reihe von Preisen der Pariser Akademie anerkannt. Zu seinen Errungenschaften gehören die genaue Bestimmung der Bahnen von Kometen und anderen Himmelskörpern, das Verständnis der Natur von Kometen und die Berechnung der Sonnenparallaxe. Seine Berechnungen trugen zur Entwicklung präziser Längengradtabellen bei.
Nach Victor J. Katz gilt es als gesichert, dass Euler der erste Mathematiker in Europa war, der das Kalkül der trigonometrischen Funktionen systematisch durchdrang. Er tat dies in Arbeiten, die ab 1739 erschienen. Die Bedeutung der trigonometrischen Funktionen wurde ihm einige Jahre später bewusst, als er anstrebte, bestimmte Differentialgleichungen zu lösen, insbesondere lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten. Die im Nachhinein offensichtliche Tatsache, dass die Rechnung mit trigonometrischen Funktionen ein Schlüssel zum Verständnis „periodischer Phänomene“, einschließlich der Bewegungen von Planeten und Satelliten, ist, scheint für die Astronomen vor Euler nicht offensichtlich gewesen zu sein. Euler war der erste, der sich mit der Formulierung und Lösung des Störungsproblems beschäftigte – dem Schlüsselproblem, das formuliert und gelöst werden musste, wenn das Newtonsche Gravitationsgesetz als Grundlage für die Planeten- und Mondtheorie etabliert werden sollte.Mit dem Kalkül der trigonometrischen Funktionen in der Hand konstruierte er eine Reihe von Mondtabellen. Diese wurden 1746 in seinem Opuscula varii argumenti veröffentlicht. Eulers erster Versuch, mit den planetarischen Störungen fertig zu werden, erfolgte als Reaktion auf den Preiswettbewerb der Pariser Akademie von 1748. Der Preis wurde ausgeschrieben für „eine Theorie von Jupiter und Saturn, die die Ungleichheiten erklärt, die diese Planeten in ihren Bewegungen gegenseitig zu verursachen scheinen, insbesondere über den Zeitpunkt ihrer Konjunktion“. Newton hatte in seiner Principia von „einer Störung der Umlaufbahn des Saturn in jeder Konjunktion dieses Planeten“ geschrieben, „die so empfindlich ist, dass die Astronomen darüber ratlos sind“. Als Reaktion auf die Ankündigung des Preisausschreibens der Pariser Akademie für 1748 schrieb Euler zwei Memoiren, die beide Mitte 1747 fertiggestellt wurden. In der ersten, die Euler der Berliner Akademie vorlegte, leitete er die Differentialgleichungen für das Problem der Störungen ab. Die zweite, eine Ableitung der Störungen des Saturn durch Jupiter, wurde im Wettbewerb eingereicht und mit dem Preis ausgezeichnet, obwohl Euler es versäumte, die scheinbare Verlangsamung des Saturn oder die Beschleunigung des Jupiter zu erklären. Eulers Preisaufsatz überzeugte mit den innovativen Methoden, die er zur Bewältigung planetarischer Störungen einführte.
=== Optik ===
In der Optik veröffentlichte er Werke zur Wellentheorie des Lichts und zur Berechnung von optischen Linsen zur Vermeidung von Farbfehlern. Er widersprach Newtons Korpuskeltheorie des Lichts in den Opticks, die damals vorherrschend war. Seine Arbeiten zur Optik aus den 1740er Jahren trugen dazu bei, dass die von Christiaan Huygens vorgeschlagene Wellentheorie des Lichts zur vorherrschenden Denkweise wurde, zumindest bis zur Entwicklung der Quantentheorie des Lichts.Fast die Mehrzahl von Eulers Schriften zur Optik, im ganzen sieben aus fünfzehn, sind Fragen der Dispersion gewidmet. Dabei beschäftigte ihn unter anderem wiederholt die Frage, ob Rot oder Violett die größere Frequenz hat. Euler wechselte diesbezüglich seine Ansicht dreimal, jedes Mal auf Grund einer theoretischen Betrachtung, zu der ihn ein neues Experiment, von dem er hörte, veranlasst hatte. In der Nova theoria hatte noch Rot die größte Frequenz, in zwei späteren Arbeiten korrigierte er diese Ansicht unter anderem auf Grund seiner Theorie der Beobachtungen von Farben dünner Schichten. Dann aber wird er durch eine Betrachtung über die Elastizität von Metalllamellen wiederum auf die erste, falsche Ansicht zurückgeführt, um dann schließlich zur richtigen zurückzukehren.
=== Ballistik ===
1745 übersetzte Euler das Werk New principles of gunnery des Engländers Benjamin Robins ins Deutsche. Es erschien im selben Jahr in Berlin unter dem Titel Neue Grundsätze der Artillerie enthaltend die Bestimmung der Gewalt des Pulvers nebst einer Untersuchung über den Unterscheid(sic) des Wiederstands(sic) der Luft in schnellen und langsamen Bewegungen. Seit Galilei hatten die Artilleristen die Flugbahnen der Geschosse als Parabeln angesehen, wobei sie den Luftwiderstand für vernachlässigbar hielten. Robins hat als einer der ersten Experimente zur Ballistik ausgeführt und gezeigt, dass die Flugbahn durch den Luftwiderstand wesentlich beeinflusst wird. Somit wurde dank Robins und mit Eulers Hilfe „das erste Lehrbuch der Ballistik“ geschaffen. Es wurde zum Beispiel in Frankreich (in französischer Übersetzung) als offizielles Lehrbuch in den Militärschulen eingeführt. Napoleon Bonaparte musste es als Leutnant studieren.
=== Schiffbau ===
Weniger bekannt sind Eulers Arbeiten zum Stabilitätskriterium von Schiffen, in denen er das bereits erworbene, aber wieder verlorengegangene Wissen von Archimedes erneuerte. Die Scientia navalis, das bis weit ins 19. Jahrhundert vorgreifende Hauptwerk über das Schiffsingenieurwesen, erschien während der ersten Berliner Jahre.Der erste Band definiert allgemeine Prinzipien der Hydrostatik und errichtet die erste Theorie der Trägheitsmomente ausgedehnter Körper, auf deren Grundlage das Stabilitätskriterium für Schiffsschwingungen analysiert wird. Im Ergebnis stimmen Eulers Ansatz über so genannte „rückführende Momente“,
|
M
→
|
=
h
|
F
→
G
|
⋅
sin
θ
,
{\displaystyle |{\vec {M}}|=h|{\vec {F}}_{G}|\cdot \sin \theta ,}
und Bougers Ansatz über die Schwingung um das so genannte Metazentrum überein.
== Algebra ==
In der Algebra beschäftigte sich Euler unter anderem mit der expliziten Gestalt von Einheitswurzeln. Diese treten als Lösungen der Gleichungen
x
n
−
1
=
0
{\displaystyle x^{n}-1=0}
auf. Im 18. Jahrhundert galt es als wegweisende Problemstellung, die Lösungen dieser Gleichungen algebraisch geschlossen durch „Radikale“ auszudrücken. Auch Euler hatte in diesem Bereich Erfolge und löste die Einheitsgleichungen bis
n
≤
10
{\displaystyle n\leq 10}
. Als technisch besonders schwierig gilt hierbei das Verfahren für
x
7
−
1
=
0
{\displaystyle x^{7}-1=0}
, das die Lösungen in Termen von Quadrat- und Kubikwurzeln ausdrückt.Euler studierte intensiv Diophantische Gleichungen der Form
y
2
=
a
x
3
+
b
2
{\displaystyle y^{2}=ax^{3}+b^{2}}
und
y
2
=
a
x
2
+
b
x
+
c
{\displaystyle y^{2}=ax^{2}+bx+c}
, wobei
a
,
b
,
c
{\displaystyle a,b,c}
ganzzahlig sind und
a
>
0
{\displaystyle a>0}
keine Quadratzahl ist. In größerer Allgemeinheit untersuchte er Gleichungen des Typs
A
x
2
+
2
B
x
y
+
C
y
2
+
D
x
+
E
y
+
F
=
0
,
{\displaystyle Ax^{2}+2Bxy+Cy^{2}+Dx+Ey+F=0,}
bei denen die Diskriminante
Δ
=
B
2
−
A
C
>
0
{\displaystyle \Delta =B^{2}-AC>0}
keine Quadratzahl ist.Euler arbeitete Näherungsmethoden für die Lösung numerischer Gleichungen aus und bearbeitete ferner – wahrscheinlich von Daniel Bernoulli angeregt – das Eliminationsproblem. So gelang ihm ein Beweis des bereits Newton bekannten Satzes, dass zwei algebraische Kurven vom Grad m bzw. n höchstens mn Schnittpunkte haben können. In diesem Zusammenhang gelangte er zum wichtigen Begriff der Resultante. In den beiden Abhandlungen E147 und E148 vom Jahre 1750 gab Euler eine stichhaltige Erklärung des sogenannten Cramerschen Paradoxons.1770 brachte er das Buch Vollständige Anleitung zur Algebra heraus. Er erarbeitete eine Methode zur Lösung von quartischen Gleichungen. Euler bemerkte ebenfalls, dass sich quintische Gleichungen im Allgemeinen nicht mehr durch Radikale (also geschlossene Verkettungen von Wurzelausdrücken) auflösen lassen. Dieses Resultat wurde jedoch erst später durch Niels Henrik Abel und Évariste Galois bewiesen.
== Logik ==
Euler wird auch die Verwendung geschlossener Kurven zur Veranschaulichung der syllogistischen Argumentation zugeschrieben. Diese Diagramme sind als Euler-Diagramme bekannt geworden. In den Briefen 101 bis 108 (an eine deutsche Prinzessin), die im Februar und März 1761 verfasst wurden, werden die heute als Venn-Diagramme bezeichneten Diagramme vorgestellt, obwohl das eine falsche Bezeichnung ist. Diagramme für mathematische Darstellungen in der Logik tauchten in einigen Abhandlungen des achtzehnten Jahrhunderts zu diesem Thema auf, und es ist möglich, dass Johann Heinrich Lambert sie kurz vor Eulers Briefen verwendete. In den Briefen 101 und 102 betonte Euler die Notwendigkeit einer disziplinierten Sprache bei der Darstellung allgemeiner Ideen und ihrer Erweiterung; er verwendete Kreise in Diagrammen, um verschiedene Formen von Syllogismen und hypothetischen Propositionen zu erklären.Ein Euler-Diagramm ist ein diagrammatisches Mittel zur Darstellung von Mengen und ihren Beziehungen. Euler-Diagramme bestehen aus einfachen geschlossenen Kurven (normalerweise Kreisen oder auch Ellipsen) in der Ebene, die jeweils Mengen darstellen. Jede Eulerkurve teilt die Ebene in zwei Bereiche oder „Zonen“: den inneren Bereich, der symbolisch die Elemente der Menge einschließt und darstellt, und den äußeren Bereich, der alle Elemente darstellt, die nicht zur Menge gehören (Komplement). Die Größen oder Formen der Kurven spielen dabei keine Rolle. Das Diagramm soll lediglich veranschaulichen, wie sie sich überlappen. Die räumlichen Beziehungen zwischen den von jeder Kurve begrenzten Bereichen (Überlappung, Eingrenzung oder keines von beiden) entsprechen mengentheoretischen Beziehungen (Schnittmenge, Teilmenge und Disjunktheit). Kurven, deren innere Zonen sich nicht schneiden, stellen disjunkte Mengen dar. Zwei Kurven, deren innere Zonen sich schneiden, repräsentieren Mengen, die gemeinsame Elemente haben (nicht-leere Schnittmenge): Die Zone innerhalb beider Kurven stellt dabei die Menge der Elemente dar, die beiden Mengen gemeinsam sind. Eine Kurve, die vollständig im Bereich einer anderen enthalten ist, stellt eine Teilmenge dieser dar.
Euler-Diagramme (und die allgemeineren Venn-Diagramme) wurden ab den 1960er Jahren im Zuge der Neuen Mathematik als Teil des Unterrichts in der Mengenlehre aufgenommen.
== Kartographie und Geodäsie ==
Großes Interesse legte Euler für astronomisch-geodätische und kartographische Fragen an den Tag, für deren Lösung bei der Petersburger Akademie der Wissenschaften auf Joseph-Nicolas Delisles Anregung eine neue wissenschaftliche Institution ins Leben gerufen wurde – das sogenannte Geographische Departement. Euler war dort als Delisles Helfer eine Reihe von Jahren tätig. Der Einblick in verschiedene Dokumente dieses Departements, vor allem in die Protokolle, brachte viele Einzelheiten über Eulers Tätigkeit auf dem Gebiet der Geodäsie und Kartographie zutage. So konnte z. B. festgestellt werden, dass Eulers Anstellung im Geographischen Departement durchaus seinen Wünschen und wissenschaftlichen Neigungen entsprach. Eulers erste Arbeit war die vom Senat angeforderte Karte von Russlands europäischen Grenzen. Am 2. September beriet sich Euler mit Delisle darüber, wie eine solche Karte am besten zu konstruieren sei. Euler beendete die Karte der europäischen Grenzen Russlands am 6. September 1736. Erst am 14. Oktober 1736 war die von Euler und Delisle gemeinsam begonnene Karte, nach Korrekturen des Adjunkten Wassili Jewdokimowitsch Adodurow, endgültig fertiggestellt.
== Mathematische Musiktheorie ==
Auch im Bereich der Musik beruhten Eulers Gedanken hauptsächlich auf der Mathematik: Er begründete eine auf mathematischen Gesetzen aufbauende Musiktheorie (unter anderem Tentamen novae theoriae musicae, 1739, Music mathématique, Paris 1865). Sein Modell des Tonnetzes wird noch heute bei Berechnungen zur reinen Stimmung verwendet. Obwohl seine Schriften über Musiktheorie nur einen kleinen Teil seiner Arbeit ausmachen (einige hundert Seiten, bei einer Gesamtproduktion von etwa dreißigtausend Seiten), spiegeln sie dennoch ein bereits früh gewecktes Interesse wider, das ihn sein ganzes Leben lang nicht mehr verlassen hat.Zum Verständnis von Eulers Musiktheorie muss bekannt sein, dass musikalische Intervalle in der sog. reinen Stimmung mit den Tonstufen Oktave, Quinte, Quarte und große Terz entsprechend den Frequenzverhältnissen 1:2, 2:3, 3:4 bzw. 4:5 zum Grundton aufgebaut werden. Im Gegensatz dazu steht die heute meist gebräuchliche gleichstufige Stimmung (wohltemperiert), bei der zwei Töne eines Halbtons stets das exakte Frequenzverhältnis
2
12
≈
1
,
059463
{\displaystyle {\sqrt[{12}]{2}}\approx 1,059463}
haben.
Der Musikwissenschaftler Martin Vogel stellt fest: „Eine durchaus brauchbare und für die Praxis geeignete Konsonanzgradberechnung wurde von Leonhard Euler aufgestellt.“ Er fährt fort, „daß ihre Ergebnisse mit den tonpsychologischen Testen weitgehend übereinstimmen. Für die praktische Arbeit des Komponierens und des Analysierens lassen sich aus ihr wichtige Folgerungen gewinnen“. „Euler geht davon aus, daß der Mensch in einer geordneten Welt leben will und daß das nicht gar zu anstrengende Erfassen dieser Ordnung sein Wohlbefinden steigert. … Euler folgerte weiter: Je einfacher ein Verhältnis sei, durch je kleinere Zahlen es ausgedrückt werde, desto deutlicher könne es wahrgenommen werden und desto angenehmer sei seine Wirkung.“ Euler versucht nun, diese Einfachheit genauer zu definieren und so in mathematische Formeln zu fassen, dass es dem Höreindruck möglichst gut entspricht. Dabei verwendet er Primzahltheorien.
Zunächst definiert Euler für Konsonanzen, d. h. Zusammenklänge, einen „Grad“. Dieser soll die „Schwierigkeit“ eines Zusammenklangs von Tönen mathematisch erfassen. Ein niedriger Grad spricht dabei für einen „annehmlichen“ – ein hoher Grad für einen „unannehmlichen“ Klang. Als Funktion verwendete Euler den Gradus suavitatis („Grad der Lieblichkeit, der Verträglichkeit“)
Γ
(
n
)
{\displaystyle \Gamma (n)}
, der rein abstrakt als eine zahlentheoretische Funktion interpretiert werden kann: Für eine natürliche Zahl n mit Primfaktorzerlegung
n
=
p
1
a
1
⋯
p
r
a
r
{\displaystyle n=p_{1}^{a_{1}}\cdots p_{r}^{a_{r}}}
ist er definiert durch
Γ
(
n
)
=
1
+
∑
j
=
1
r
a
j
(
p
j
−
1
)
.
{\displaystyle \Gamma (n)=1+\sum _{j=1}^{r}a_{j}(p_{j}-1).}
Der Gradus suavitatis stellt somit eine Bewertung der Primfaktorzerlegung natürlicher Zahlen dar und ist umso größer, je größer die auftretenden Primzahlen und je größer deren Exponenten sind. Zweiklänge werden nun wie folgt gradiert: Für das Verhältnis a:b, wobei bereits vollständig gekürzt wurde, d. h., a und b sind teilerfremd, setzt man
Γ
(
a
:
b
)
:=
Γ
(
a
⋅
b
)
.
{\displaystyle \Gamma (a:b):=\Gamma (a\cdot b).}
Euler nennt die Zahl
a
⋅
b
{\displaystyle a\cdot b}
(das kleinste gemeinsame Vielfache von a und b), den Exponenten von a:b. Damit hat zum Beispiel die reine Quinte einen Grad von 4, denn es gilt
Γ
(
2
:
3
)
=
Γ
(
2
⋅
3
)
=
(
2
−
1
)
+
(
3
−
1
)
+
1
=
4
{\displaystyle \Gamma (2:3)=\Gamma (2\cdot 3)=(2-1)+(3-1)+1=4}
. Dieses Prinzip lässt sich auf beliebige Akkorde erweitern, indem das kgV des Gesamtklangs verwendet wird. Für einen Dreiklang a:b:c, wobei a, b und c jeweils teilerfremd sind, hat man zum Beispiel
Γ
(
a
:
b
:
c
)
=
Γ
(
k
g
V
(
a
,
b
,
c
)
)
{\displaystyle \Gamma (a:b:c)=\Gamma (\mathrm {kgV} (a,b,c))}
. Eulers Argumente erklären zum Beispiel, warum ein Dur-Dreiklang (wie C-E-G, im Verhältnis 4:5:6) „fröhlicher“ klingt als ein Moll-Dreiklang (E-G-H, im Verhältnis 10:12:15). In seinem Schema hat der Dur-Dreiklang den neunten und der Moll-Dreiklang den vierzehnten Grad – der Moll-Dreiklang ist daher „trauriger“, weil „Freude durch die Dinge, die eine einfachere, leichter wahrnehmbare Ordnung haben, und Traurigkeit durch die Dinge, deren Ordnung komplexer und schwieriger wahrnehmbar ist“ vermittelt wird. Euler benutzte also das Prinzip des Exponenten, um eine Ableitung des Gradus suavitatis von Intervallen und Akkorden aus ihren Primfaktoren vorzuschlagen – man muss sich vor Augen halten, dass er dabei zunächst nur das Quint-Terz-System, d. h. die 1, die 2 und die Primzahlen 3 und 5, berücksichtigte. Die oben erwähnte Gradusfunktion, die dieses System auf beliebig viele Primzahlen ausdehnt, wurde später vorgeschlagen.Zu den Ergebnissen dieser Berechnungen konstatiert Vogel: „Mit den gängigen Intervallvorstellungen stimmt Eulers System nicht voll überein. Wer sich aber klar macht, wie diese Vorstellungen sich herausbildeten und wie schlecht fundiert die Theorie ist, auf die sie sich stützen, wird sich sagen, daß es eigentlich nicht anders sein kann, daß ein neuer Ansatz, der uns weiter bringen soll, nicht gleich in die alten Gleise einmünden darf. Eulers Grade entsprechen nicht durchweg den allgemeinen Vorstellungen, sie entsprechen aber recht gut dem Höreindruck.“Während die konventionelle Musiktheorie oftmals von einer klaren Grenze zwischen konsonanten und dissonanten Intervallen ausgeht, ergeben sich bei Euler nur noch graduelle Unterschiede, also feine Abstufungen zwischen verschiedenen Graden der Verschmelzung der beiden gleichzeitig erklingenden Töne. Damit nimmt er ein wichtiges Prinzip der Neuen Musik, z. B. von Schönberg, vorweg, wo die prinzipielle Grenze zwischen Konsonanz und Dissonanz nicht mehr gilt.Im Kapitel „Eulers Grenzen“ versucht Vogel plausibel zu machen, dass die Anwendung von Eulers Formeln auf drei- und mehrstimmige Akkorde zu keinen sinnvollen Ergebnissen führt. Dagegen betont Vogel für zweistimmige Akkorde (= Intervalle): „Im praktischen Umgang mit Intervallen erweist sich Eulers Einstufung jedoch als außerordentlich brauchbar. Diese Feststellung betont die praktische Seite. Die theoretische Begründung wäre schwierig, wenn nicht gar unmöglich.“Eulers Konsonanztheorie bedarf aber der Ergänzung durch seine Substitutionstheorie: Beim Hören von Musik, deren Intonation vom Ideal leicht abweicht, nehmen wir seiner Meinung nach in unserer inneren Vorstellung nach Möglichkeit nicht die Tonhöhen wahr, die tatsächlich erklingen, sondern diejenigen, die unserem Ideal eher entsprechen würden. „Das Ohr hört zurecht. Das Ohr hört ökonomisch. Es hört die dargebotenen Intervalle im Sinne der einfachsten Verhältnisse zurecht. Das Ohr erkennt das eigentlich gemeinte Intervall, so wie das Auge im Geometrieunterricht an der Tafel ein rechtwinkliges Dreieck hinnimmt und zurechtsieht, auch wenn sein Winkel nicht exakt ein rechter ist.“ Damit wird ein Vorwurf entkräftet, dem Eulers Konsonanzgrad-Berechnungen oftmals begegnen: „Eulers Lehre von den Schwingungsrhythmen ist oft mit dem billigen Einwand abgetan worden, daß dann eine leichte Verstimmung genüge, um aus der reinsten Konsonanz die rauheste Dissonanz werden zu lassen. Statt einer reinen Quinte 300/200 brauche man nur eine Verstimmung von 301/200 anzunehmen, um ein nicht mehr apperzipierbares Verhältnis zu erhalten. Einem solchen Einwand hat Euler, was seinen Kritikern meist nicht bekannt ist, mit seiner Substitutionstheorie vorgebeugt. Es sei genügend bewiesen, daß sich das geistig erfaßte Tonverhältnis oftmals von dem akustisch gegebenen Verhältnis unterscheide. In solchen Fällen sei die apperzipierte Proportion einfacher als die wirkliche. Die Differenz sei so klein, daß sie der Wahrnehmung entgehe. Das Ohr sei daran gewöhnt, als ein einfacheres Zahlenverhältnis gelten zu lassen, was nur wenig davon abweiche.“„Eulers These vom Zurechthören im Sinne der einfachsten Verhältnisse ist aber kein Freibrief für unreines Musizieren und schlechte Intonation. Euler läßt keinen Zweifel daran, daß ein möglichst hoher Grad an Reinheit anzustreben sei. Je leichter die Intervalle erfaßbar seien, desto weniger ermüde das Ohr und desto größer sei auch der Musikgenuß.“Das Prinzip des Zurechthörens liegt auch der Verwendung von temperierten Stimmungssystemen zugrunde, wie sie in der Musik oftmals verwendet werden, und zwar insbesondere bei Tasteninstrumenten.
Ein weiterer Ansatz von Eulers Musiktheorie ist die Definition sog. „Gattungen“, d. h. von möglichen Unterteilungen einer Oktave durch die Primzahlen 3 und 5. Diese repräsentieren aufeinanderfolgende Töne, die gewissen Frequenzverhältnissen folgen, und sind demnach Tonleitern. Euler beschreibt 18 solcher Gattungen, aufbauend auf den Primzahlen 3 und 5. Dabei wird wie folgt verfahren: Jedes Produkt
A
=
2
m
3
p
5
q
{\displaystyle A=2^{m}3^{p}5^{q}}
beschreibt eine Folge von Vielfachen einer Grundfrequenz – dabei werden alle möglichen Teiler von
A
{\displaystyle A}
genommen. Für
2
⋅
3
⋅
5
{\displaystyle 2\cdot 3\cdot 5}
hat man zum Beispiel die Verhältnisse 1:1, 1:2, 1:3, 1:5, 1:6, 1:10, 1:15, 1:30. Da die Zahl 2 jedoch (bis auf Oktave) nichts an den vorkommenden Klängen ändert (eine Frequenzverdopplung definiert einen Oktavsprung), spielt die Zweierpotenz keine Rolle für die Gattung.Euler stellte seine Gattungen in kompakten Tabellen vor, die musikalische und mathematische Notationen visuell nebeneinander stellen. Er zeigte damit, wie wichtig ihm beide waren und wie er versuchte, sie zusammenzubringen:
Dieses Prinzip wurde von Adriaan Fokker weiterentwickelt. Beispielsweise lässt sich der Fall
A
=
3
2
⋅
7
{\displaystyle A=3^{2}\cdot 7}
innerhalb einer Oktave auf die folgenden Verhältnisse normieren: 1:1, 8:9, 16:21, 2:3, 4:7, 32:63.
Die Gattungen 12 (bei Euler
2
m
.3
3
.5
{\displaystyle 2^{m}.3^{3}.5}
), 13 (bei Euler
2
m
.3
2
.5
2
{\displaystyle 2^{m}.3^{2}.5^{2}}
) und 14 (bei Euler
2
m
.3
.5
3
{\displaystyle 2^{m}.3.5^{3}}
) sind korrigierte Versionen der diatonischen, chromatischen bzw. enharmonischen Versionen aus dem Altertum. Die 18. Gattung (
2
m
.3
3
.5
2
{\displaystyle 2^{m}.3^{3}.5^{2}}
) ist die „diatonisch-chromatische“, „die allgemein in allen Kompositionen verwendet wird“, und die sich als identisch mit dem von Johann Mattheson beschriebenen System erweist. Euler sah später noch die Möglichkeit, Gattungen einschließlich der Primzahl 7 zu beschreiben. Euler entwickelte ein spezielles Diagramm, das Speculum musicum, um die diatonisch-chromatische Gattung zu veranschaulichen, und erläuterte die Wege in diesem Diagramm für bestimmte Intervalle, was an sein Interesse an der Graphentheorie, im Besonderen der Sieben Brücken von Königsberg, erinnert. Das Konzept erregte erneut Interesse als Tonnetz in der Neo-Riemannschen Theorie (Neo-Riemannian Theory), benannt nach dem Musiktheoretiker Hugo Riemann.
== Populäre Darstellungen und Themen ==
Besondere Bedeutung in der breiten Öffentlichkeit erlangte Eulers populärwissenschaftliche Schrift Lettres à une princesse d’Allemagne von 1768, in der er in Form von Briefen an die Prinzessin Friederike Charlotte von Brandenburg-Schwedt, eine Nichte Friedrichs II., die Grundzüge der Physik, der Astronomie, der Mathematik, der Philosophie und der Theologie vermittelte. Euler begann den ersten Brief mit einer Erklärung des Begriffs „Größe“ (la grandeur). Ausgehend von der Definition eines Fußes definierte er die Meile und motivierte die unterschiedlichen Maße durch praktische Beispiele. So sei es besser, den Abstand zwischen Berlin und Magdeburg mit 18 Meilen (in einer Übersetzung ist von 83 Englischen Meilen die Rede) statt 432.000 Fuß (43,824 feet) zu beziffern. Spätere Briefe beinhalteten Optik, Magnetismus, Elektrizität, aber auch Astronomie. Unter anderem schätzte Euler die Entfernung von Erde und Sonne auf „trente Millions de Milles“ (dreißig Millionen Meilen).Die ersten beiden Bände der 234 ursprünglich in Französisch verfassten Briefe erschienen 1768 in Sankt Petersburg und der dritte 1774 in Frankfurt. Die Briefe wurden später in Paris nachgedruckt, der erste Band 1787, der zweite 1788 und der dritte 1789. Die erste Ausgabe der 1787 in Paris veröffentlichten Lettres enthielt Eloge de M. Euler, einen sechsunddreißigseitigen Nachruf verfasst von Marquis de Condorcet, der dem Leser biografische Skizzen und Höhepunkte von Eulers Karriere bot. Obwohl Euler die Briefe auf Französisch verfasst hat, gilt es als gesichert, dass Condorcet einige redaktionelle Änderungen vorgenommen hat, da der Text vom Original abweicht.Euler widmete sich zusätzlich Aufgaben der Schachmathematik, zum Beispiel dem Springerproblem. Dieses behandelt die Frage, ob es möglich ist, dass die Springer-Schachfigur jedes Feld eines Schachbretts bei einem Rundlauf genau einmal passieren kann. Euler erwähnte das Problem bei einem Brief an Christian Goldbach im Jahre 1757. In den Jahren 1758–1759 verfasste er schließlich eine Arbeit über die Thematik, die 1766 in den Berliner Mémoires veröffentlicht wurde.Er gilt als Erfinder des griechisch-lateinischen Quadrats, einer Vorform des Sudoku. Hierbei handelt es sich (bei Ordnung n) um ein quadratisches nxn-Schema, in dessen Felder Elemente zweier (n-elementiger) Mengen
L
,
M
{\displaystyle L,M}
so eingetragen sind, dass in jeder Spalte und Zeile genau ein Exemplar jedes Elements auftaucht. Beispiele sind:
In seiner Arbeit Recherches sur une nouvelle espece de quarres magiques gibt Euler hunderte Beispiele solcher Quadrate und beschäftigt sich auch mit Quadraten, deren Diagonalen die geforderte Eigenschaft erfüllen. Am Ende behauptet er, ohne jedoch einen rigorosen Beweis vorzulegen, dass kein griechisch-lateinisches Quadrat der Größe 4k + 2 konstruiert werden kann. Erst um 1960 wurde gezeigt, dass sich Euler geirrt hatte. Es existieren stets griechisch-lateinische Quadrate, mit Ausnahme der Ordnungen 2 und 6. Für die algebraisch-algorithmische Konstruktion wurde u. a. auf Gruppentheorie, endliche Körper, projektive Geometrie und Blockpläne zurückgegriffen.
== Aufarbeitung des archivierten Nachlasses ==
=== Posthumer Publikationsprozess ===
Nach Eulers Tod veröffentlichte die Akademie von Sankt Petersburg bisher nicht erschienene Arbeiten Eulers in ihren Mémoires posthum. Wegen der großen Zahl an Dokumenten (in etwa 100 Aufsätze) wurde der Publikationsprozess erst 1830 für abgeschlossen erklärt. Doch es stellte sich bald heraus, dass Euler noch weitere Arbeiten verfasst hatte. Nachdem Paul Heinrich von Fuss als Nachfolger seines Vaters 1825 Sekretär der Sankt Petersburger Akademie geworden war, durchforschte er deren Archive und fand einige Pakete aus dem Briefwechsel Eulers u. a. mit den Bernoullis. Aus diesem erwuchs ein Verzeichnis über die Korrespondenzen in zwei Bänden unter dem Titel Correspondance mathématique et physique de quelques céleèbres géomètres du XVIIIème siècle. Diesem wurde eine Auflistung der Eulerschen Schriften beigefügt. Nachdem das Verzeichnis von Fuss’ Vater Nikolaus noch nicht 700 Nummern enthielt, wurde dieses nun auf 756 ergänzt. Für die weitere Vervollständigung wurden die Archive erneut durchsucht und man brachte ein noch nicht veröffentlichtes Werk unter dem Titel Astromania mechanica hervor.
=== Veröffentlichung eines Gesamtwerkes ===
==== Erste Versuche im 19. Jahrhundert ====
Die ersten Versuche, Eulers Gesamtwerk zu veröffentlichen, gehen auf die 1830er Jahre zurück. Es gab im Wesentlichen zwei Initiativen. Eine davon wurde von Paul Heinrich Fuss ins Leben gerufen. Obwohl Fuss von vielen prominenten Mathematikern, darunter Carl Gustav Jacobi, ermutigt wurde, wurde das Projekt schließlich aufgegeben, als sich herausstellte, dass es die finanziellen Möglichkeiten des Budgets der Akademie übersteigen würde. Das einzige Ergebnis der Initiative von Fuss und Jacobi war die Veröffentlichung von zwei Bänden der Commentationes arithmeticae im Jahr 1849, die 94 bereits veröffentlichte Artikel und fünf unveröffentlichte Manuskripte umfassen.
Zur gleichen Zeit unternahm eine Gruppe belgischer Mathematiker ein ähnliches Projekt. Sie waren insofern erfolgreicher als Fuss und Jacobi, als dass fünf Bände dieser Ausgabe tatsächlich gedruckt wurden. Diese Ausgabe wurde scharf kritisiert, insbesondere von dem belgischen Mathematikhistoriker Henri Bosmans, der sie als „sehr schlechtes Werk“ bezeichnete. In der Absicht, Eulers Werke einem großen Teil der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hatten die Herausgeber die Originaltexte teils willkürlich abgeändert, auch wenn das Original bereits in Französisch verfasst war. Als treibender Motor der Herausgeber wird die einfache Zugänglichkeit durch andere Mathematiker gesehen, auf die das Werk noch heute „stimulierend wirken“ sollte.
==== Beginn des 20. Jahrhunderts ====
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts startete die Russische Akademie der Wissenschaften mit dem Auftakt des zweihundertsten Jahrestages von Eulers Geburtstag eine neue Initiative zur Veröffentlichung von Eulers Gesamtwerk. Angesichts des Scheiterns früherer Versuche suchten die Russen nach Verbündeten, mit denen sie sich Arbeit und Kosten teilen konnten; die Institution, die ihnen in Bezug auf Euler in den Sinn kam, war die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin, in deren Dienst Euler 25 Jahre lang gestanden hatte. Die Berliner Akademiker waren anfangs von diesem Plan ziemlich begeistert. Aber als sich herausstellte, dass die Russische Akademie die Aufgabe auf Veröffentlichung des mathematischen und physikalischen Korpus aufteilen, und ersteren für sich beanspruchen wollte, schwand die Begeisterung. Die Preußische Akademie bat den angesehensten Physiker unter ihren Mitgliedern, Max Planck, um eine Einschätzung des Vorschlags. In einer berühmten Erklärung sagte Planck, dass es vielleicht stimmt, dass sich Mathematiker immer noch von Eulers Schriften inspirieren lassen, aber dass dies nicht im gleichen Maße auf Physiker zuträfe. Er vermutete, dass die Veröffentlichung von Eulers physikalischen Schriften „nicht im Interesse der Physik als Wissenschaft unserer Zeit“ liege und lehnte deshalb eine Beteiligung der Preußischen Akademie an der Finanzierung des Projekts ab. Da eine Gesamtausgabe für die Russische Akademie zu teuer war, endete auch diese Initiative mit einem Misserfolg.
==== Gustaf Eneströms Euler-Verzeichnis ====
In den Jahren 1910 bis 1913 legte der schwedische Mathematiker Gustaf Eneström ein Verzeichnis an, das alle Eulerschen Werke auflistet. Dieses weist 866 Nummern auf, die nach dem Prinzip E001, …, E866 geordnet sind.
==== Gründung der Euler-Kommission und die Opera omnia ====
Nach den gescheiterten Versuchen im 19. Jahrhundert war der 200. Geburtstag von Leonhard Euler im April 1907 für die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft der Anlass, erneut eine Gesamtausgabe von Eulers Veröffentlichungen in Angriff zu nehmen. Die Initiative war von dem Mathematiker Ferdinand Rudio ausgegangen, der am Zürcher Polytechnikum (der heutigen ETH Zürich) Professor für Mathematik war. In einer flammenden Rede bei der Feier zu Eulers 200. Geburtstag, die in Anwesenheit zahlreicher ausländischer Gelehrter in Basel stattfand, appellierte Rudio mit Geschick an den Schweizer Patriotismus und die internationale Solidarität: Für Eulers Heimatland „sei die Herausgabe seiner Werke eine Ehrenpflicht“, aber die Schweiz „brauche dazu die Unterstützung der beiden Länder, in denen Euler zu Ruhm und Ehre gekommen sei“, Deutschlands und Russlands:
Rudios Worte stießen überall auf starke Resonanz. Die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft setzte eine Euler-Kommission ein, die das Unternehmen durchführen sollte, und Rudio wurde zu deren Präsident gewählt. Die erste Aktion der jungen Kommission war ein Spendenaufruf. Ein Versprechen zur weiteren finanziellen Unterstützung kam außerdem von der Petersburger Akademie. Diese bot zudem an, „alle in ihren Archiven befindlichen Materialien, die zur bestmöglichen Ausführung des Unternehmens nötig sein sollten, zur Verfügung zu stellen“. So gelangte von 1910 bis 1912 in sieben Kisten der gesamte Euler-Nachlass als Diplomatenpost über die russische Botschaft in die Schweiz. Obwohl die Arbeit (unterstützt von bedeutenden Mathematikern wie Alexander Ljapunow) zunächst zügig voranging, wurde die Euler-Kommission durch die politischen Zerwürfnisse in Europa in Mitleidenschaft gezogen. Gegen das kommunistische System der Sowjetunion bestanden in der Schweiz erhebliche Vorbehalte, und zwischen 1918 und 1946 gab es zwischen den beiden Staaten keinerlei diplomatische Beziehungen. Trotzdem standen die Wissenschaftler weiterhin in erschwerter Verbindung. Während eine Bitte vom 28. Mai 1921 um Zeitaufschub wegen „kriegsbedingter Probleme“ von russischer Seite noch akzeptiert wurde, forderte die Petersburger Akademie 1930 die Manuskripte wieder zurück. Die Euler-Kommission weigerte sich, dieser Bitte nachzugehen, was einen regen Briefwechsel auslöste. Die Schweizer Seite versuchte zunächst mit unterschiedlichen Argumenten, die Rückgabe der Manuskripte immer wieder hinauszuzögern. Im Juli 1930 erklärte sich die sowjetische Akademie damit einverstanden, dass die Manuskripte noch „für einige Zeit“ in Zürich bleiben und bat um einen genauen Zeitplan für die Edition der ausstehenden Bände. Nachdem der Anfrage aus Russland, zumindest diejenigen Manuskripte zurückzugeben, die nicht mehr benötigt würden, von Andreas Speiser nicht nachgegeben wurde, wurde der Ton schärfer. So setzte die sowjetische Akademie am 5. Juni 1933 selbst eine Frist fest:
Obwohl die Kommission diesen Vorgaben zunächst zustimmte, musste sie bereits im nächsten Jahr feststellen, dass der Zeitplan nicht einzuhalten war. In einem erfolglosen Appell an Giuseppe Motta, den Leiter des Politischen Departements der Schweiz, schrieb Speiser, dass „diese Herausgabe […] mindestens zwanzig Jahre in Anspruch nehmen“ dürfte. Aufgrund weiteren Drucks aus Russland begann man nun zusätzlich mit dem Anfertigen von Abschriften und außerdem Photographien. Dies war 1938 abgeschlossen. Die endgültige Übergabe der Dokumente erfolgte jedoch erst am 15. Mai 1947 in Zürich. Die Euler-Kommission machte sich erfolgreich um die Veröffentlichung der Opera Omnia verdient.
Von den 81 vorgesehenen Bänden in vier Reihen sind mittlerweile (Stand 2018) 76 erschienen. Series I (Mathematik: 29 Bände) und Series III (Physik, Varia: 12 Bände) sind vollständig, von den 31 Bänden der Series II (Mechanik, Astronomie) stehen noch zwei aus (II/26 und II/27 zur Himmelsmechanik), die frühestens im Laufe des Jahres 2019 inhaltlich abgeschlossen werden sollten. In der Series IVA (Briefwechsel) sind von den 9 geplanten Bänden bisher 8 erschienen, darunter die beiden Doppelbände IVA/3 und IVA/4. Die Vernissage des neuesten Bandes IVA/8 war am 23. November 2018. Der letzte Band IVA/9 wird von einer Gruppe von Historikern unter der Leitung von Antonio Moretto bearbeitet.
=== Weitere Veröffentlichungen von 1950 bis 1980 in der Sowjetunion ===
Als der Euler-Nachlass nach Russland in das Archiv der Leningrader Akademie zurückkam, erhielten sowjetische Wissenschaftler neue Möglichkeiten für umfangreiche Forschungen und nutzten diese Gelegenheit energisch. Im Jahr 1958 berichteten Gleb K. Michailow (geb. 1929) und Wladimir Iwanowitsch Smirnow (1887–1974) erstmals über diese Aktivitäten. Außerdem wurde 1962 und 1965 in zwei Bänden eine sehr ausführliche, aber nicht kommentierte Liste des im Archiv der Akademie aufbewahrten Euler-Materials veröffentlicht. Der erste Band enthält eine Liste von 2.268 Briefen von und an Euler (ohne Annotationen), die im Petersburger Archiv aufbewahrt werden. Seit den 1950er Jahren widmete die Sowjetische Akademie und nun auch die Russische Akademie der Wissenschaften der Erschließung und Bearbeitung der Korrespondenz Leonhard Eulers, die in den ursprünglichen Plänen der Opera omnia Euleri nicht enthalten war, besondere Aufmerksamkeit. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin erschien die allgemeine Korrespondenz in drei Bänden und die Korrespondenz zwischen Euler und Christian Goldbach wurde veröffentlicht. 1963 erschien ein Band mit ausgewählten wissenschaftlichen Briefen, die Euler an 19 (junge) Wissenschaftler schrieb (alle Briefe wurden ins Russische übersetzt). Eine Liste von Eulers Briefen wurde in russischer Sprache von Adolf Pavlovič Jušskevič (1906–1993) und Vladimir Ivanovič Smirnov herausgegeben, die alle bekannten Briefe in Russland und außerhalb Russlands enthielt. Insgesamt enthält die Liste 2.654 Briefe von und an Euler sowie eine kurze Zusammenfassung.In den 1970er Jahren wurde die Zusammenarbeit zwischen der Euler-Kommission in Zürich und der Sowjetischen Akademie durch die Erweiterung der Euler-Ausgabe intensiviert. Die Korrespondenz und die wissenschaftlichen Notizen werden in einer neuen vierten Serie der Opera omnia Euleri gesammelt. Im Jahr 1975 erschien der erste Band dieser Reihe und enthielt eine überarbeitete Liste mit 2.892 Briefen der Korrespondenz.
=== Im digitalen Zeitalter ===
Eine große Anzahl der Eulerschen Primärquellen ist als Folge der Digitalisierung im Internet frei verfügbar. Eulers Opera omnia obliegen im Gegensatz dazu nicht der freien Nutzung, aber digitale Abbildungen der Originalversionen von über 95 Prozent seiner veröffentlichten Werke, die von den Originalseiten des 18. Jahrhunderts gescannt wurden, sind im sog. Euler-Archiv aufrufbar. Als Gründer dieser Website gelten die damaligen Studenten Lee Stemkoski und Dominic Klyve. Den Online-Dokumenten fehlen die Korrekturen und die Einführungen der Herausgeber der Opera omnia, aber sie sind für jeden mit einer Internetverbindung zugänglich, und die Herausgeber des Euler-Archivs fügen nach und nach Links zu Kommentaren und Übersetzungen hinzu. Es wird geschätzt, dass bis 2033 (Eulers 250. Todesjahr) die relativen Rollen der Ausgaben in print und digital zueinander besser eingeschätzt sein werden.
== Rezeption ==
Sein mathematisches Werk inspirierte viele Generationen von Mathematikern nachhaltig. Unter anderem beeinflusste er die Arbeit von Pierre-Simon Laplace, Joseph-Louis Lagrange, Carl Friedrich Gauß, Carl Gustav Jacobi, Niels Henrik Abel, Évariste Galois, Karl Weierstraß und Bernhard Riemann.Mathematikhistoriker heben die Bedeutung des Eulerschen Werkes bis in die Gegenwart hervor. Dirk Struik sieht in Eulers „Fruchtbarkeit“ eine „Quelle der Überraschung und Bewunderung“. Hinsichtlich des Eulerschen Werkes bemerkt er in seinem Abriss der Geschichte der Mathematik 1967, dass dessen Studium „nicht so schwer wäre, wie es scheint“, denn Eulers Latein sei „sehr einfach“ und seine Bezeichnungen „gleichen fast den heutigen“. Eulers Methode bestand darin, von einfachsten Beispielen ausgehend zu allgemeineren Zusammenhängen zu gelangen, wodurch die Darstellung im Gegensatz zum heute gebräuchlichen abstrakten Stil in die Breite ging; dementsprechend wurden auch Mängel an mathematischer Strenge moniert.
== Schriften ==
Leonhard Euler gilt als einer der produktivsten Mathematiker der Geschichte. Seine gesammelten Schriften der Opera omnia umfassen bisher 76 Bände. Insgesamt gibt es 866 Publikationen von ihm. Sein Gesamtwerk umfasst damit schätzungsweise ein Drittel des gesamten Korpus mathematischer, physikalischer und mechanischer Forschung innerhalb der letzten drei Viertel des 18. Jahrhunderts.Über die Hälfte des Eulerschen Gesamtwerks sind der reinen Mathematik (Algebra, Analysis und Geometrie) gewidmet. Und über ein Drittel entfallen auf die verschiedenen theoretischen und technischen Gebiete der Mechanik und Physik (einschließlich Himmelsmechanik / Astronomie).
=== Publikationen (Auswahl) ===
Mechanica sive motus scientia analytice exposita. 2 Bände, 1736 (E015, E016).
Tentamen novae theoriae musicae. 1739 (E033).
Einleitung zur Rechen-Kunst zum Gebrauch des Gymnasii bey der Kayserlichen Academie der Wissenschafften in St. Petersburg. 2 Bände, Academische Buchdruckerey, Sankt Petersburg; Band 1 1738, Band 2 1740. (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv Band 1, Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv Band 2).
Solutio problematis ad geometriam situs pertinentis. 1741 (E053).
Methodus inveniendi lineas curvas maximi minimive proprietate gaudentes sive solutio problematis isoperimetrici latissimo sensu accepti. 1744 (E065).
Introductio in analysin infinitorum. 2 Bände, 1748 (E101, E102).
Découverte d’un nouveau principe de Mécanique. In: Mémoires de l’académie des sciences de Berlin. Band 6, 1752, S. 185–217 (E177).
Institutiones calculi differentialis. 2 Bände, 1755 (E212).
Theoria motus corporum solidorum seu rigidorum. 1765 (E289).
Lettres à une princesse d’Allemagne. 3 Bände, 1768 (E343, E344, E417).
Institutiones calculi integralis. 3 Bände, 1768–1770 (E342, E366, E385).
Vollständige Anleitung zur Algebra. 2 Bände, 1770 (E387, E388, Band 2 Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv).
Scientia Navalis, 2 Bände, Petersburg 1749. (E110, E111.) Englische Übersetzung des lateinischen Originals von I. Bruce (2022), Naval Science (Zugriff: 18. Januar 2023).
=== Deutsche Übersetzungen und Ausgaben seiner Werke ===
Leonhard Euler’s vollständige Anleitung zur Integralrechnung. Hrsg. Joseph Solomon, 3 Bände, Wien 1828 bis 1830, Band 1, ETH-Bibliothek, Band 1, Archive, Band 2, Archive, Band 3, Archive.
Leonhard Euler’s Mechanik oder analytische Darstellung der Wissenschaft. 3 Bände, Hrsg. J. Ph. Wolfers, Greifswald 1848 bis 1853, Band 1, Archive, Band 2, Archive, Band 3, Archive.
Euler, Johann Bernoulli, Jacob Bernoulli: Abhandlungen über Variationsrechnung. 1. Teil, Ostwalds Klassiker 46, Leipzig 1894; Textarchiv – Internet Archive.
Euler: Zwei Abhandlungen über Sphärische Trigonometrie. Ostwalds Klassiker 73, Leipzig 1896; Textarchiv – Internet Archive.
Euler: Drei Abhandlungen über Kartenprojektion. Ostwalds Klassiker 93, Leipzig 1898; Textarchiv – Internet Archive.
Jakob Bernoulli, Leonhard Euler: Abhandlungen über das Gleichgewicht und die Schwingungen der ebenen elastischen Kurven. Ostwalds Klassiker 175, Leipzig 1910.
Euler: Vollständigere Theorie der Maschinen, die durch Reaktion des Wassers in Bewegung versetzt werden (1754). Ostwalds Klassiker 182, Leipzig 1911.
Euler: Drei Abhandlungen über die Auflösung der Gleichungen (1783, 1764, 1790). Ostwalds Klassiker 226, Leipzig 1928.
Euler: Einleitung in die Analysis des Unendlichen. Teil 1, Einführung Wolfgang Walter, Springer, 1983.
Euler: Zur Theorie komplexer Funktionen. Einleitung A. P. Juschkewitsch, Ostwalds Klassiker 261, Akademische Verlagsgesellschaft, 1983.
=== Opera Omnia ===
Euler veröffentlichte rund zwei Dutzend Bücher und 500 wissenschaftliche Aufsätze. Der deutsche Mathematiker Ferdinand Rudio (1856–1929) initiierte die Herausgabe von Eulers sämtlichen Werken. Zu Lebzeiten Rudios wurden mehr als 30 Bände publiziert. Bis 2013 sind über 70 Einzelbände erschienen, außerdem vier Bände aus dem umfangreichen Briefwechsel. Die Arbeiten erscheinen in der Originalsprache, meist Französisch oder Latein.
Die gesammelten Werke werden seit 1911 als Opera Omnia im Birkhäuser (Springer) Verlag herausgegeben durch die Euler-Kommission, die von Ferdinand Rudio gegründet wurde. Damals waren auch Adolf Krazer, Rudolf Fueter, Heinrich Weber, Paul Stäckel und Karl von der Mühll an der Herausgabe beteiligt. Zu den späteren Herausgebern von Einzelbänden gehörten Ludwig Schlesinger, Friedrich Engel, Andreas Speiser, Clifford Truesdell (Physik, Mechanik, der ganze Band 11-1 ist eine Geschichte der Elastizitätstheorie im 17. und 18. Jahrhundert, verfasst von Truesdell), Alexander Michailowitsch Ljapunow, Georg Faber, August Gutzmer, Carl Boehm, Constantin Carathéodory, Henri Dulac, Max Herzberger, Emile Cherbuliez, Charles Blanc und Eric Aiton (Physik). Hauptherausgeber nach Rudio waren Andreas Speiser (ab 1928), Walter Habicht (ab 1965) und seit 1985 Hans-Christoph Im Hof. Weitere Herausgeber waren unter anderem Emil Fellmann, Adolf Juschkewitsch, Henri Dulac, Pierre Costabel, René Taton, Wladimir Iwanowitsch Smirnow, Alot T. Grigorjan, Joachim Otto Fleckenstein, Johann Jakob Burckhardt, Gleb K. Mikhailov, Franz Lemmermeyer, Andreas Kleinert und Martin Mattmüller.
Die Edition besteht aus
Reihe 1: Mathematik, 30 Bände (vollständig). Erster Band war 1911 die Anleitung zur Algebra. Band 16 besteht aus zwei Teilbänden.
Reihe 2: Mechanik und Astronomie, 27 Bände in 30 Teilbänden (vollständig).
Reihe 3: Physik und Sonstiges, 12 Bände (vollständig).
Reihe 4a: Briefwechsel. Geplant: 9 Bände für die rund 3100 Briefe mit rund 300 Korrespondenten. Bisher erschienen: 8 Bände.
Reihe 4b: Notizbücher, Tagebücher und Unveröffentlichtes (geplant).
=== Briefe ===
Beim Briefwechsel sind im Rahmen der Opera Omnia erschienen:
Band 1 (Zusammenfassung Inhalte, Übersicht, 1975),
Band 2 (mit Johann I. und Nikolaus I. Bernoulli),
Band 5 (mit Clairaut, d’Alembert und Lagrange) und
Band 6 (mit Maupertuis und Friedrich II.).Außerdem sind außerhalb der Opera Omnia folgende Briefwechsel erschienen:
mit Goldbach (Akademie Verlag, Berlin 1965),
mit den Berliner und Petersburger Akademien (Akademie Verlag, Berlin, 3 Bände: 1959, 1961, 1976),
mit Tobias Mayer (American Elsevier, 1971).Paul-Heinrich Fuss veröffentlichte 1845 Teile des Briefwechsels von Euler mit Goldbach, Nikolaus Fuss, Johann I, Nikolaus und Daniel Bernoulli. Im Band 14 der Werkausgabe von Lagrange ist auch der Briefwechsel mit Euler.
Briefe an eine deutsche Prinzessin
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftliches_Werk_Leonhard_Eulers
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Krönungsmantel
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= Krönungsmantel =
Der Krönungsmantel oder Pluviale (lateinisch für Mantel) gehört zu den Reichskleinodien des Heiligen Römischen Reiches und ist das Hauptstück des Krönungsornates der römisch-deutschen Kaiser.
Die arabisch-normannische Arbeit aus einer sizilianischen Werkstatt des 12. Jahrhunderts wurde vom 13. Jahrhundert bis zum Ende des alten Reiches für die meisten Krönungen der römisch-deutschen Kaiser verwendet. Zusammen mit den anderen Krönungsinsignien wie Reichskrone, Reichsschwert und Reichsapfel wird der Mantel heute in der Weltlichen Schatzkammer der Wiener Hofburg ausgestellt.
== Gestalt, Ornamentik und Symbolik ==
Die äußere Gestalt des Krönungsmantels spiegelt die verschiedenen kulturellen Einflüsse wider, die das Sizilien des 12. Jahrhunderts prägten: die der lateinischen und der griechisch-byzantinischen Christenheit und des Islam. Sowohl im Stilempfinden der arabisch-muslimischen Bevölkerungsgruppe als auch in dem der normannischen Eroberer spielte die Freude an stilisierender Ornamentik eine wichtige Rolle.
Der Krönungsmantel ist ein halbrunder, bis zum Boden reichender, offener Umhang. Er wurde nach Art eines Chormantels auf beiden Schultern liegend getragen. Er ist 342 Zentimeter breit, besteht aus mit indischem Rotholz und Kermes rot gefärbter, geritzter Seide, dem so genannten Samit, und ist mit Goldfäden, über 100.000 Perlen und Emailplättchen reich bestickt. Insgesamt wiegt der Mantel elf Kilogramm.
Die ornamentalen Stickereien sind Manifestationen königlicher Macht: zwei spiegelbildlich dargestellte Löwen, jeder ein Kamel schlagend. Zwischen den beiden Löwen erhebt sich eine stilisierte Palme in der Art eines Lebensbaumes. Die ursprünglich altorientalischen Motive wurden der islamischen Kunst entlehnt. Die genaue Bedeutung des Bildmotivs ist nicht geklärt. Bekannt ist, dass der Löwe oft zur Darstellung der Macht des Herrschers verwendet wurde und das Wappentier der Hauteville war, der normannischen Königsdynastie von Sizilien. Die meisten Deutungen gehen davon aus, dass die Löwen, die zwei Kamele schlagen, den Sieg der Normannen über die Sarazenen symbolisieren, die Sizilien zuvor beherrscht hatten. Dagegen spricht allerdings, dass die symbolische Darstellung der Araber oder des Islam als Kamel in mittelalterlichen Quellen nicht belegt ist. Vermutet wurden gelegentlich auch astrologische Zusammenhänge. William Tronzo vermutet, dass die Stickereien Teil eines normannischen visuellen Vokabulars sei und dass dementsprechend die Darstellung auf dem Mantel, so zu deuten sei, dass das Kamel als Symbol schlechter Herrschaft vom Löwen besiegt werde.Dem Mantelsaum folgend, ist eine kufische Inschrift mit guten Wünschen für den Träger des Mantels aufgestickt. Obwohl sie gut lesbar ist, werfen Übersetzung und Deutung bis heute Fragen auf, die nicht restlos beantwortet sind. Eine mögliche Übersetzung lautet:
Die Inschrift ist in einer Form der arabischen Reimprosa, dem Sadschʿ, geschrieben, die vor allem im Koran Verwendung findet. Das genannte Jahr 528 der islamischen Zeitrechnung entspricht dem Jahr 1133 bzw. dem Jahr 1134 christlicher Zeitrechnung.Das Futter des Mantels besteht aus buntem, mit Gold- und Silberfäden durchwirktem italienischem Damast. Es wurde offenbar im 16. Jahrhundert auf Veranlassung des Rats der Reichsstadt Nürnberg, in der die Reichskleinodien damals aufbewahrt wurden, neu in den Mantel eingefügt. Der Rat beschloss, den Mantel für die Kaiserkrönung Karls V. in Aachen im Jahr 1520 neu unterfüttern zu lassen. Diese Arbeit wurde im Nürnberger Klarissen-Kloster ausgeführt.
Unter diesem neueren Futter befindet sich auch noch die ursprüngliche Fütterung, die aus zwei Teilen besteht. Den größten Teil des inneren Mantels bedeckt ein Seidenstoff mit eigenartig gestuften Ornamenten, verschlungenen Drachenleibern, dazwischen Vögel, Menschen, grüne Ranken und goldene Blumen auf goldleuchtendem Grund. Entlang der geraden Borte sind fünf Stücke aus Goldbrokat aufgenäht, die sicher gleichzeitig mit dem übrigen Mantel angefertigt wurden. Wie das Löwenmotiv auf der Außenseite, so konnten auch die Darstellungen auf dem ursprünglichen Innenfutter noch nicht befriedigend gedeutet werden.
== Bedeutung des Mantels in der Krönungszeremonie ==
Dem Anlegen des Mantels während der Krönungszeremonie kam im Mittelalter hohe symbolische Bedeutung zu.
Der Begriff der Investitur, der damals die Einführung in ein hohes kirchliches Amt oder in einen neuen Lehnsbesitz bezeichnete, geht auf das lateinische Wort investire für einkleiden zurück. Die Einkleidung eines Herrschers in neue, geistliche Gewänder (Paramente) hob ihn nicht nur für jedermann sichtbar aus der Masse der Untertanen hervor, sondern dokumentierte vor allem seinen Übertritt vom weltlichen in den geistlichen Stand. Denn das mittelalterliche Königtum war seit merowingischer Zeit von einer starken sakralen Aura umgeben.
In einer noch weitgehend schriftlosen, auf allgemeinverständliche Symbole angewiesenen Epoche dokumentierte das Anlegen der neuen Gewänder durch den Kaiser oder König dessen Eintritt in die geistliche, geheiligte Sphäre. Das Umlegen des Krönungsmantels war der Höhepunkt dieses Teils der Krönungszeremonie. Erst danach wurden ihm die Insignien seiner weltlichen Macht, zum Beispiel Zepter und Reichsschwert, verliehen.
Auch wenn spätestens seit der Zeit Friedrichs II. die Päpste den weltlichen Herrschern längst eine priestergleiche Würde abgesprochen hatten, blieb für die Laien die religiöse Symbolik der Einkleidung aber weiterhin von großem Gewicht.
== Geschichte ==
=== Entstehung und erste Erwähnungen ===
Dank der aufgestickten Inschrift gehört der Krönungsmantel zu denjenigen Reichskleinodien, deren Herkunft weitgehend gesichert ist. Die Übersetzung der Inschrift gelang 1728 erstmals dem Altdorfer Universitätsprofessor Johann Heinrich Schulze. Danach wurde der Mantel im Jahre 528 der islamischen Zeitrechnung geschaffen. Dies entspricht dem Jahr 1133/34 des Gregorianischen Kalenders. Daher ist die nicht selten verwendete Bezeichnung Krönungsmantel Rogers II. falsch, da diese den ersten Besitzer mit der späteren Funktion verbindet. Roger II. wurde bereits im Jahre 1130 zum König gekrönt – also vor der Herstellung des Mantels.Roger II. von Sizilien, aus der normannischen Dynastie Hauteville, war ein Mäzen der Künste und der Literatur. Er versammelte an seinem Hof in Palermo arabische und byzantinische Gelehrte, Dichter und Kunsthandwerker. Der Mantel wurde wahrscheinlich in der berühmten königlichen Werkstatt für Roger gefertigt, in der die normannischen Könige von Sizilien traditionell ihren Repräsentativschmuck fertigen ließen. Die im Palast des Königs oder in dessen unmittelbarer Nähe angesiedelten Hofwerkstätten, die mit den islamischen Tiraz-Werkstätten vergleichbaren Nobiles Officinae, bildeten eine einzigartige Produktionsstätte für Werke der Schatzkunst. Die Arbeiten dieser Werkstatt weisen eine Fülle von Materialien auf und eine erstaunliche Vielfalt von Motiven aus unterschiedlichsten Kulturen.
Diese Vielfalt ergab sich aus der damaligen ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung Siziliens aus Lateinern, Griechen und Arabern, ebenso wie aus dem Nebeneinander von römisch-katholischen, griechisch-orthodoxen, muslimischen (siehe auch Islam in Italien und Geschichte Siziliens) und jüdischen Gläubigen. Alle diese Volks- und Religionsgruppen waren in den königlichen Werkstätten vertreten. So schufen die griechisch-byzantinischen Handwerker Goldschmiedearbeiten und Textilien. Die Arbeiten mit Elfenbein, der Bronzeguss und eben die Stickerei waren die Domäne der sarazenischen Künstler. In der Architektur dieser Zeit wird die Zusammenarbeit dieser Bevölkerungsgruppen in dem Arabisch-byzantinisch-normannischen Baustil sichtbar.
Der kostbare rote Seidenstoff dürfte byzantinische Importware gewesen sein. Denn nach einem Bericht Ottos von Freising kamen erst 1147 erstmals byzantinische Seidenweber nach Sizilien, die bei einem Vorstoß der sizilianischen Flotte nach Griechenland gefangen genommen worden waren. Die verschiedenen verarbeiteten Stoffe des Mantels sind insgesamt handwerklich hervorragende Leistungen der Webkunst, die zugleich als besonderes Merkmal reiche figürliche Darstellungen bieten.
Ob und bei welchen Anlässen Roger den Mantel getragen hat, ist nicht bekannt. Aus dem Jahr der Entstehung des Mantels sind keine besonderen feierlichen Ereignisse überliefert. Die Gestaltung und die verwendeten Materialien legen zwar nahe, dass er als Repräsentationsgewand entstand, aber das prächtige Stück wird in den Quellen der normannischen Zeit nicht erwähnt.
=== Übergang in Reichsbesitz ===
Rogers Tochter und Erbin Konstanze von Sizilien heiratete 1186 den römisch-deutschen Kaiser Heinrich VI. Er vereinigte gegen den Widerstand der Bevölkerung, des Adels und des Papstes – Sizilien war päpstliches Lehen – das süditalienische Herrschaftsgebiet mit dem Reich und ließ sich 1194 im Dom von Palermo zum König von Sizilien krönen.
Den normannischen Kronschatz, dessen bekanntestes Stück der Krönungsmantel ist, ließ er nach Deutschland auf die staufische Burg Trifels in der Pfalz bringen. Für diesen Transport sollen 150 Maulesel nötig gewesen sein. Ob der Mantel bei dieser Gelegenheit nach Deutschland gelangte, ist nicht sicher, da er vor 1246 nie in Quellen erwähnt wurde.Als Nachfolger Heinrichs VI. könnte Philipp von Schwaben den Mantel erstmals bei einer Krönung zum römisch-deutschen König getragen haben. Dies lässt sich jedoch ebenso wenig belegen, wie die früher vermutete Verwendung bei der Kaiserkrönung Friedrichs II. im Jahre 1220 in Rom. Die neuere Forschung geht davon aus, dass Friedrich bei dieser Gelegenheit den in der Kathedrale von Metz aufbewahrten Mantel mit vier nimbierten Adlern trug. Die anderen Stücke der Reichskleinodien, die aus dem normannischen Schatz stammen – die Schuhe, die Strümpfe und die Alba – wurden bei dieser Gelegenheit wohl von Friedrich verwendet. Außerdem ließ er sich ein Paar Handschuhe aus roter Seide anfertigen, die heute ebenfalls zu den Reichskleinodien gehören.
Erstmals erwähnt wird der Mantel im Inventar der Burg Trifels aus dem Jahr 1246 als „kaiserlichen Mantel mit edlen Steinen“.Dass der Mantel stark von islamischer Kunst und Kultur geprägt war, stellte kein Hindernis dafür dar, ihn bei der Krönung des christlichen römisch-deutschen Kaisers zu verwenden. Dies hat wahrscheinlich mit seinem hohen Materialwert und der prachtvollen Ausführung zu tun, vor allem aber mit der Farbe des Mantels. Denn Purpur war bereits während des Römischen Reiches auf Grund seiner Seltenheit und Kostbarkeit nur dem Kaiser vorbehalten.
Im Laufe der Jahrhunderte ging das Wissen um die Herkunft des Mantels teilweise wieder verloren. In der deutschsprachigen Übergabeurkunde der Reichskleinodien an Kaiser Karl IV. aus dem Jahre 1350 wird der Mantel mit folgender Beschreibung erwähnt:
Daraus geht hervor, dass man damals den Mantel wie auch die Reichskrone fälschlicherweise auf den 1165 heiliggesprochenen Karl den Großen zurückführte.
=== Aufbewahrung in Nürnberg ===
Die weitere Geschichte des Mantels ist untrennbar mit der der anderen Reichskleinodien (siehe dort) verbunden.
Mit diesen wurde der Mantel während des Hoch- und Spätmittelalters an verschiedenen Orten im Reich aufbewahrt: Zunächst auf dem Trifels, später unter anderem in der Burg Karlštejn bei Prag, damals Hauptresidenz der Luxemburger-Dynastie, oder in der Reichsabtei Hersfeld.
Im Jahre 1423 erhielt die Freie Reichsstadt Nürnberg vom römisch-deutschen König Sigismund aus dem Haus Luxemburg das Privileg, die Reichskleinodien auf „ewige Zeiten, unwiderruflich und unanfechtbar“ aufzubewahren. Dies wurde notwendig, da auf Grund der Hussitenkriege der damalige Aufbewahrungsort in Prag nicht mehr sicher war. In einer im Chor der Nürnberger Heilig-Geist-Kirche aufgehängten Truhe wurden die Reichskleinodien bis kurz vor dem Ende des alten Reiches aufbewahrt. Einmal im Jahr wurden sie bei der sogenannten Heiltumsweisung öffentlich gezeigt.
Am 3. April 1764 wurde Joseph II. noch zu Lebzeiten und in Anwesenheit seines Vaters, Kaiser Franz I., in Frankfurt zum römisch-deutschen König gekrönt. Aus diesem Anlass wurde für Franz I. ein zweiter Krönungsmantel angefertigt, der dem ersten nachgebildet war. Die gelungene Ausführung dieser Arbeit belegt eine Schilderung des Augenzeugen Johann Wolfgang von Goethes in seinem Werk Dichtung und Wahrheit I,5:
Goethe irrte jedoch mit der Aussage, auch die Krone sei eine Nachbildung gewesen. Vielmehr trug Franz I. bei diesem Anlass die Mitrenkrone Kaiser Rudolfs II., die ein halbes Jahrhundert später zur Krone des Kaisertums Österreich wurde.
=== Aufbewahrung in Wien ===
Im Laufe der Koalitionskriege, die der Französischen Revolution des Jahres 1789 folgten, wurde Nürnberg 1796 von Truppen des Generals Jean-Baptiste Jourdan besetzt. Um die Reichskleinodien dem Zugriff der französischen Eroberer zu entziehen, hatte der Rat der Stadt bereits vorher ihren Abtransport nach Regensburg veranlasst, wo sie dem kaiserlichen Kommissär beim Reichstag übergeben wurden. Dieser ließ sie im Oktober des Jahres 1800 in einer geheimen Aktion nach Wien bringen.
Franz II., der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, ließ wenig später auch die in Aachen aufbewahrten Teile des Reichsschatzes in seine Residenzstadt holen. Damit wollte er verhindern, dass Napoléon Bonaparte sie für seine Kaiserkrönung im Jahr 1804 nutzen und so seinem Protektorat über den Rheinbund eine auf kaiserlichen Traditionen beruhende Legitimität verleihen könnte.
Auf Initiative des Nürnberger Oberbürgermeisters Willy Liebel ließ Adolf Hitler den Krönungsmantel und die anderen Reichskleinodien 1938 noch einmal nach Nürnberg verlagern, um eine symbolische Verbindung zur damaligen „Stadt der Reichsparteitage“ und den Vorstellungen von einem „Großdeutschen Reich“ herzustellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg veranlasste die amerikanische Militärregierung jedoch ihre Rückführung nach Wien. Seit 1946 werden sie wieder in der Weltlichen Schatzkammer der Hofburg aufbewahrt und ausgestellt.
== Literatur ==
Hermann Fillitz: Die Insignien und Kleinodien des Heiligen Römischen Reiches. Schroll, Wien u. a. 1954.
Ernst Kubin: Die Reichskleinodien. Ihr tausendjähriger Weg. Amalthea, Wien u. a. 1991, ISBN 3-85002-304-4.
Karl-Heinz Rueß (Red.): Die Reichskleinodien. Herrschaftszeichen des Heiligen Römischen Reiches (= Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst. Bd. 16). Gesellschaft für Staufische Geschichte, Göppingen 1997, ISBN 3-929776-08-1.
Wilfried Seipel (Hrsg.): Nobiles Officinae. Die königlichen Hofwerkstätten zu Palermo zur Zeit der Normannen und Staufer im 12. und 13. Jahrhundert. Skira, Milano 2004, ISBN 3-85497-076-5.
== Weblinks ==
Kaiserliche Schatzkammer Wien | Der Krönungsmantel
Erläuterungen zum Krönungsmantel und Detailfotos
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kr%C3%B6nungsmantel
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Pfeilerwertigkeit
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= Pfeilerwertigkeit =
Unter Pfeilerwertigkeit wird die Verwendbarkeit von Zähnen als Pfeilerzähne für festsitzenden oder herausnehmbaren Zahnersatz verstanden. Pfeilerzähne sind Zähne, die die Belastung von ersetzten Zähnen mittragen müssen. Die Pfeilerwertigkeit ist ein Ausdruck der zahnbezogenen Prognose, vor dem Hintergrund einer geplanten Einbeziehung in verschiedene prothetische Restaurationen. Für die Planung von langfristig haltbarem Zahnersatz sind die vorgesehenen Pfeilerzähne zu bewerten. Die Grenzziehungen zwischen Verwertbarkeit und Nichtverwertbarkeit von Zähnen sind schwierig und oft nicht eindeutig. Im klinischen Alltag ist eine angemessene Risikobewertung bei der Zahnersatzplanung unverzichtbar. Sie gehört zu den wichtigsten zahnärztlichen Kompetenzen und hilft, Misserfolge zu reduzieren.
== Nomenklatur ==
Neben der Bezeichnung Pfeilerzahn existieren noch weitere Begriffe für Zähne, die in Zahnersatzbehandlungen einbezogen werden. Dazu gehören neben dem Brückenpfeiler der Ankerzahn, der Zahnpfeiler, das Fixierelement (in der Zahntechnik), der Verankerungszahn (eher für Konstruktionselemente in der Kieferorthopädie) beziehungsweise der Stützzahn oder Klammerzahn (bei herausnehmbarem Zahnersatz für einen Zahn, an dem eine Klammer einer Klammerprothese angebracht wird).
== Grundwertigkeit der Zähne ==
Die Anzahl, die Länge und der Durchmesser der Wurzeln bestimmen zunächst die Grundwertigkeit eines gesunden Pfeilerzahnes. Die Grundwertigkeit wird in drei Klassen eingeteilt:
1 = beste Wertigkeit
2 = mittlere Wertigkeit
3 = eingeschränkte Wertigkeit
(Incisivi (Schneidezähne), Canini (Eckzähne), Prämolaren (kleine Backenzähne), Molaren (große Backenzähne)).
Beispielsweise sind die Zahnwurzeln der unteren Schneidezähne (32–42) sehr dünn und können deshalb keine so hohen Belastungen tragen wie vergleichsweise die unteren Eckzähne (33, 43), die längere und dickere Wurzeln aufweisen.
== Belastungswert der Zähne ==
Der Basler Hochschullehrer Gottlieb Vest hat eine eigene Einteilung der Pfeilerwertigkeit vorgenommen und hat diese als Belastungswert bezeichnet. Der niedrigste Wert liegt bei 1 (niedrigste Belastbarkeit), der höchste Wert bei 6 (größte Belastbarkeit). (Zahnschemata werden aus Sicht des Patienten geschrieben.)
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Der Belastungswert der zu ersetzenden Zähne muss nach Vest dem Belastungswert der Pfeilerzähne entsprechen, also mindestens gleich oder größer als dieser sein, um eine ausreichende Langzeitprognose einer anzufertigenden Brücke zu gewährleisten. Fehlen beispielsweise die unteren vier Frontzähne 32–42, die einen Belastungswert von 2 + 1 + 1 + 2 = 6 aufweisen, so genügen die beiden unteren Eckzähne 33 und 43, die einen Belastungswert von 5 + 5 = 10 aufweisen, als Pfeilerzähne zum Ersatz dieser Zähne. Fehlen jedoch die beiden Molaren 26 und 27 (Belastungswert 6 + 6 = 12), so genügen nach Vest die beiden endständigen Zähne 25 und 28 als alleinige Pfeilerzähne nicht (Belastungswert 4 + 4 = 8). Es sollte deshalb der Zahn 24 in einen Brückenzahnersatz mit einbezogen werden (Belastungswert 4 + 4 + 4 = 12).
== Kriterien für die Pfeilerwertigkeit ==
Im zweiten Schritt werden hinsichtlich der individuellen Verwertbarkeit eines Zahnes zusätzliche Faktoren überprüft.
=== Parodontaler Zustand ===
Der parodontale Zustand eines Zahnes bestimmt in hohem Maße die Pfeilerwertigkeit. Parodontale Erkrankungen machen oft einen Zahn auf Grund des Knochenabbaus der Alveolen nicht verwertbar. Durch Fortschritte in der Parodontologie ist in vielen Fällen eine parodontale Sanierung möglich, die die Verwendbarkeit wiederherstellt. Zahnfleischtaschentiefen von mehr als 6 mm reduzieren die Pfeilerwertigkeit erheblich, weil der Zahn nur noch begrenzt im Kieferknochen verankert ist. Nach Eduard Mühlreiter und Theodore Emile de Jonge-Cohen beträgt die durchschnittliche Wurzellänge zwischen 12 mm (untere Frontzähne) und 16 mm (obere Eckzähne).
=== Oberfläche des Desmodonts ===
Als Desmodont (Wurzelhaut) wird das Bindegewebe des Zahnhalteapparates (Parodontium) bezeichnet. Das Ante’sche Gesetz, aufgestellt 1926 durch den kanadischen Zahnarzt Irwin H. Ante, fordert, dass die Gesamtfläche des Desmodonts der im Knochen verankerten Wurzeln der Pfeilerzähne mindestens der (theoretischen) Gesamtfläche des Desmodonts der Wurzeln der zu ersetzenden Zähne entsprechen müsse. Ist dies nicht der Fall, würden die Pfeilerzähne überlastet und es käme in der Folge zu weiterem Knochenabbau an den Pfeilerzähnen. Antes Aussagen sind jedoch nicht evidenzbasiert und daher nicht unbedingt verlässlich. Es wird heutzutage eher als Empfehlung und nicht als ein ‚Gesetz‘ angesehen.Eine vereinfachte Regel besagt, dass die Anzahl der Pfeilerzähne der Anzahl der zu ersetzenden Zähne entsprechen müsse. Diese vereinfachte Regel berücksichtigt aber einen eventuellen Knochenabbau an den Pfeilerzähnen nicht.
Der Bonner Hochschullehrer Søren Jepsen hat die Durchschnittswerte der Wurzeloberflächen der Zähne bei gesundem Parodontium vermessen. Mit diesen Anhaltswerten lässt sich für die nach dem Anteschen Gesetz geforderte Summe der Wurzeloberflächen berechnen, ob sie derjenigen der zu ersetzenden Zähne entspricht. Der individuelle Fall muss anhand von Röntgenaufnahmen der noch vorhandenen Zähne mittels Halbwinkeltechnik beurteilt werden. Durch die vielen Wurzelvarianten der Weisheitszähne 18, 28, 38, 48 sind für sie keine Durchschnittswerte angegeben.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
=== Kronen-Wurzel-Relation ===
Durch parodontale Erkrankungen oder durch Überlastung einzelner Zähne (okklusales Trauma) kommt es zu einem Abbau des Alveolarknochens, in dem die Zähne verankert sind. Gleichzeitig können die Zahnwurzeln durch den gleichzeitig erfolgenden Zahnfleischrückgang sichtbar werden. Als Faustregel gilt, dass die Länge des sichtbaren Teils des Zahnes die Länge der im Knochen verankerten Wurzel nicht überschreiten darf, weil sonst die Hebelkräfte, die auf die Wurzel wirken, zu groß würden, was zu einer Zahnlockerung führen könnte.
=== Wurzelform ===
Eine günstige Wurzelform weisen Zähne mit gespreizten Wurzeln auf, wie sie in der Abbildung an den Molaren zu sehen sind. Ebenso erhöht sich die Pfeilerwertigkeit durch die Form der einzelnen Wurzel, die im günstigen Fall eine zylindrische Form aufweist (in der Abbildung der zweite Zahn von links – Eckzahn 23). Ungünstig sind konisch zulaufende und kurze Wurzeln.
=== Furkationsgrad ===
Als Bifurkation (bei zweiwurzligen Zähnen) oder Trifurkation (bei dreiwurzligen Zähnen) wird die Aufteilungsstelle der Zahnwurzeln bei mehrwurzeligen Zähnen bezeichnet. Beim parodontal gesunden Zahn liegen sie innerhalb des Kieferknochens und sind weder sicht- noch sondierbar. Bifurkation und Trifurkation werden in vier Furkationsgrade eingeteilt. Eine freiliegende Furkation, die durch parodontalen Knochenabbau entstanden ist, bildet einen potentiellen Entzündungsbereich, der oftmals schwer zu reinigen ist. Je nach Ausprägung kann eine freiliegende Furkation die Pfeilerwertigkeit reduzieren.
=== Hemisezierte oder prämolarisierte Zähne ===
Unter einer Hemisektion versteht man die Durchtrennung eines unteren Molaren mit einer Teilextraktion einer Zahnwurzel. Bei einer Prämolarisierung erfolgt ebenfalls eine Durchtrennung des Molaren, jedoch bleiben beide Wurzeln erhalten. Aus einem Molar werden dadurch zwei Prämolaren. Die Prämolarisierung ist eine Therapiemaßnahme zur Beseitigung einer freiliegenden Bifurkation. Dabei entsteht aus der Bifurkation ein Interdentalraum (Zahnzwischenraum), der einer Reinigung besser zugänglich ist. Ein hemisezierter oder prämolarisierter Zahn hat nur bei vollständiger Wurzellänge und einem hohen Erhaltungsgrad des verbliebenen Kronenrestes eine Pfeilerwertigkeit 3. Die prämolarisierten Zahnanteile sind in diesem Fall für die Versorgung mittels einer beziehungsweise zweier Kronen geeignet, jedoch nur eingeschränkt als Stützpfeiler für eine Brücke oder herausnehmbaren Zahnersatz.
=== Kippungsgrad ===
Gekippte Zähne sind nicht so belastbar wie gerade stehende Zähne. Die Sharpey-Fasern, an denen der Zahn in der Alveole (Zahnfach) aufgehängt ist, werden bei Belastung ungleichmäßig gedehnt und belastet. Durch eine Kippung können Schmutznischen entstehen, die zu Entzündungen führen können. Bei zu starker Kippung ist eine gemeinsame Einschubrichtung für den Zahnersatz schwer zu präparieren. Sie kann durch ein Ausgleichsgeschiebe überwunden werden. Alternativ kann der Zahn durch eine kieferorthopädische Behandlung wieder aufgerichtet werden. Eine Kippung von bis zu 30° ist tolerabel. Eine größere Kippung schränkt die Verwendbarkeit stark ein. Falls keine weiteren wertigkeitsmindernden Faktoren vorliegen, können solche Zähne als endständige Pfeilerzähne Verwendung finden. Zähne mit einem Kippungsgrad von mehr als 40° haben keine Verwertbarkeit als Pfeilerzähne. Optisch kann ein gekippter Zahn durch eine Krone zwar scheinbar aufgerichtet werden, jedoch trifft die Belastung immer auf einen gekippten Zahn.
=== Zahnbeweglichkeit ===
Die Zahnbeweglichkeit wird in vier Lockerungsgraden (auch Mobilitätsgraden) gemessen, wobei es vier verschiedene Klassifikationen gibt. Grad 0 und Grad 1 reduzieren die Pfeilerwertigkeit nicht, Grad 2 setzt eine umfassende Therapie des Zahnes voraus oder lässt nur eine Verwendbarkeit als Übergangsversorgung (Interimsversorgung) zu. Bei Grad 3 ist keine Pfeilerwertigkeit gegeben. Die Messungen selbst können unter Zuhilfenahme einer kalibrierten Parodontalsonde oder elektronisch (Periotest) durchgeführt werden.
==== Klassifikation in der Gesetzlichen Krankenversicherung ====
Die Zahnbeweglichkeit wird im Zahnstatus mit römischen Zahlen abgebildet.
==== Klassifikation nach Carranza und Takai ====
==== Klassifikation nach Lindhe und Nymann ====
=== Klopfschall ===
Die Zähne können durch Klopfen, beispielsweise mittels eines Instrumentengriffendes, hinsichtlich ihres Klopfschalls überprüft werden. Ein heller Klopfschall zeugt von einem mitschwingenden Knochen, in dem der Zahn fest verankert ist. Der gesunde Sharpey’sche Faserapparat koppelt den Zahn gut mit dem Kieferknochen, Anzeichen einer reduzierten Primärstabilität des Zahnes ist ein dumpfer Klopfschall. In diesem Fall ist der Periodontalspalt verbreitert, was auf eine reduzierte parodontale Befestigung des Zahnes und damit auf eine reduzierte Pfeilerwertigkeit schließen lässt. Das parodontale Gewebe ist entzündlich infiltriert, die Kopplung zwischen Zahn und Knochen ist nicht oder nur reduziert gegeben.
=== Endodontischer Zustand ===
Eine reizlose Pulpa (umgangssprachlich: „Zahnnerv“) ist Voraussetzung für eine hohe Pfeilerwertigkeit eines Zahnes. Dentin zählt zu den widerstandsfähigsten organischen Materialien. Es besteht aus mineralischen Nanopartikeln und dentalen Tubuli, die in ein dichtes Netz aus Kollagenfasern eingebettet sind. Die inneren Spannungen in der Nanostruktur helfen, die Entstehung und Ausbreitung von Rissen bei Belastung zu begrenzen. Wenn die winzigen Kollagenfasern schrumpfen, werden die eingebetteten Mineralpartikel zunehmend zusammengedrückt. Dabei sorgt die Art und Weise der Kompression dafür, dass die innersten Bereiche des Zahns weitgehend vor Rissen geschützt bleiben, so dass die empfindliche Pulpa nicht beschädigt wird.Ist der Zahn jedoch pulpitisch (entzündet) oder devital (abgestorben), muss er endodontisch behandelt werden, um (auch) eine entsprechende Pfeilerwertigkeit zu erlangen. Ein endodontisch behandelter Zahn ist spröder und damit bruchgefährdeter als ein vitaler Zahn. Das kann die Pfeilerwertigkeit reduzieren. Nach einer Wurzelkanalbehandlung muss die Wurzelkanalfüllung bis zum physiologischen Apex (Wurzelspitze) reichen und randständig sein. Periapikale Entzündungen (im Knochen im Bereich der Wurzelspitze) führen zu einer Nichtverwertbarkeit des Zahnes, solange die Entzündung nicht abgeheilt oder durch eine Wurzelspitzenresektion (Kappung der Wurzelspitze) beseitigt worden ist.
=== Kariöse Zerstörung ===
Das Ausmaß einer kariösen Zerstörung beeinflusst die Verwendbarkeit eines Zahnes als Pfeilerzahn. Ist die klinische Krone fast oder vollständig zerstört, muss sie durch Aufbauten rekonstruiert werden, die wiederum in den Zahnwurzeln fest verankert sein müssen. Die Aufbauten können durch Aufbaufüllungen mit und ohne Retentionsstifte, durch eine adhäsive Befestigung oder durch Stiftaufbauten befestigt werden. Der Durchmesser eines Wurzelstifts muss ein Drittel des Wurzeldurchmessers betragen, die Stiftlänge muss mindestens der Länge der zu ersetzenden Zahnkrone entsprechen. Nur dann ist eine ausreichende Retention des Stifts im Wurzelkanal gewährleistet. Stifte schwächen jedoch die Zahnwurzel, wodurch die Pfeilerwertigkeit reduziert wird. Die Pfeilerwertigkeit hängt dabei von der Art des Aufbaus ab; entscheidend ist hierbei, ob ein aus Gold gegossener Stiftaufbau, ein genormter Parapost-Titanstift mit Compositaufbau, ein Glasfaser- oder Kohlenstofffaserstift mit Compositaufbau oder eine rein adhäsiv befestigte Compositfüllung ohne Wurzelstift zur verwendet wird.
=== Ferrule-Effekt ===
Zähne mit stark aufgeweitetem Kanaleingang des Wurzelkanals und jene ohne Fassreifenpräparation sind als kritisch, ja als nicht hinreichend klinisch belastbar zu bewerten. Der Zerstörungsgrad muss einen ausreichenden Randschluss der künstlichen Zahnkrone zulassen. Es genügt nicht, wenn die künstliche Zahnkrone am Rand messerscharf abschließt. Der Kronenrand muss den Zahn bandförmig, in einer etwa 2 mm großen Breite, fest umfassen (Ferrule-Effekt), sonst ist der Zahn bruchgefährdet. Durch Anthony W. Gargiulo et al. wurde im Jahre 1961 die mittlere biologische Breite auf 2,04 mm bestimmt. Davon nehmen das Desmodont 1,07 mm und das Saumepithel etwa 0,97 mm ein. Ist der Zahn so weit zerstört, dass diese erforderliche Breite nicht erreicht wird, dann kann – eine ausreichende Wurzellänge vorausgesetzt – mittels einer chirurgischen Kronenverlängerung dieser Ferrule-Bereich („Fassreifen“) geschaffen werden. Bei der chirurgischen Kronenverlängerung wird hierzu der Knochensaum um den Zahn herum abgetragen, bis der Zahnrest etwa 3 mm freiliegt, denn der Kronenrand darf nicht unmittelbar an der Knochengrenze enden. Es muss ein Raum zur Ausbildung einer Zahnfleischpapille in biologischer Breite verbleiben. Durch die chirurgische Kronenverlängerung wird jedoch wiederum der im Kieferknochen verankerte Wurzelanteil verkürzt, wodurch wiederum die Pfeilerwertigkeit reduziert wird. Die Prognose verbessert sich, wenn ein Zahn Approximalkontakte (Kontakt zu Nachbarzähnen) aufweist, was bei endständigen Pfeilerzähnen nur nach einer Seite realisiert werden kann. Approximalkontakte dienen unter anderem der gegenseitigen Abstützung von Zähnen.
=== Retentionsform ===
Zur Verwertbarkeit eines Zahnes und zu dessen Pfeilerwertigkeit gehört, eine Retentionsform durch Zuschleifen (Präparation) des Zahnes herzustellen. Der Halt einer Krone an einem Zahn wird nicht allein durch das Befestigungsmaterial erreicht. Zusätzlich muss eine leicht konische Form (5°- bis 8°-Konuswinkel) für eine Retention der Zahnkrone sorgen. Ebenso ist die Größe der Retentionsfläche maßgeblich für den Halt einer Krone. Ist ein Zahn zu stark zerstört oder wurde bereits bei einer früheren Präparation zu konisch gestaltet oder ist der Kronenstumpf zu kurz, dann sinkt die Pfeilerwertigkeit erheblich. Es besteht insbesondere im Bereich der Molaren die Gefahr, dass sich die Krone vom Zahn löst. Die Gefahr ist im Unterkiefer besonders groß, da einerseits der Zahnersatz starr ist, andererseits der Unterkieferkörper sich bei der Mundöffnung und bei Belastung verwindet. Die Befestigung der Krone am Zahn muss dieser Kräftedifferenz dauerhaft widerstehen können. Die kontrahierten Musculi pterygoidei laterales (äußere Flügelmuskeln) stauchen den Unterkieferbogen mit der mandibulären Symphyse als Fixpunkt, wodurch sich der Unterkiefer um 0,1 bis 1,0 mm verformen kann.
=== Implantate ===
Die Pfeilerwertigkeit von Implantaten entspricht bei ausreichendem Knochenangebot zur Verankerung (zirkulär ≥ 2 mm), nach einer vollständigen Osseointegration (Verknöcherung), ausreichender Länge (≥ 10 mm) und ausreichendem Durchmesser (≥ 4 mm), derjenigen eines gesunden, natürlichen Eckzahnes (Grad 1). Je nachdem, welche Abstriche bei den genannten Kriterien gemacht werden müssen, kann die Pfeilerwertigkeit von Implantaten entsprechend sinken.
=== Milchzähne ===
Zum Erhalt eines stark kariösen Milchzahnes kann dieser als Platzhalter (für den noch ausstehenden Durchbruch des bleibenden Zahns) mit einer einfachen, konfektionierten Krone rekonstruiert werden, die nur wenige Monate bis Jahre bis zum Zahnwechsel verbleibt. Milchzähne sind jedoch als Pfeilerzähne grundsätzlich ungeeignet, da sie zu schwach ausgebildete Wurzeln besitzen. Zudem werden die Milchzahnwurzeln während des Zahnwechsels resorbiert. Eine Ausnahme kann ein persistierender Milchzahnmolar bei Nichtanlage des bleibenden Zahnes bilden. Bei entsprechender Indikation kann ein solcher Milchzahn eine künstliche Zahnkrone tragen. Er ist aber auf Grund der kurzen Wurzeln nicht geeignet, als Pfeilerzahn Verwendung zu finden.
== Weiche Kriterien für die Pfeilerverwendbarkeit ==
Zu den weichen Kriterien gehören solche, die an sich die Pfeilerwertigkeit nicht verändern. Die Pfeilerverwendbarkeit kann aber von solchen zusätzlichen Faktoren beeinflusst werden.
=== Mundhygiene ===
Es kann sein, dass ein Zahn eine gute Pfeilerwertigkeit aufweist, jedoch eine mangelhafte Mundhygiene des Patienten eine Verwendung verhindert, weil die gewählte Versorgungsform dann kaum Aussicht auf langfristigen Erfolg hat. Beispielsweise kann ein parodontal stark vorgeschädigter Zahn aufwändig einer ausreichenden Pfeilerwertigkeit zugeführt werden. Wenn jedoch die kontinuierliche Nachsorge und Pflege nicht gewährleistet sind, dann bildet die hergestellte Pfeilerwertigkeit nur eine Momentaufnahme.
=== Geplanter Zahnersatz ===
Die Pfeilerwertigkeit ist auch dadurch bestimmt, welcher Zahnersatz mit welcher Zielsetzung geplant ist. Ein Zahn kann beispielsweise eine ausreichende Pfeilerwertigkeit für eine Übergangsversorgung (Interimsversorgung) aufweisen. Derselbe Zahn kann aber für eine langfristige Zahnersatzversorgung ungeeignet sein. Ein Zahn kann auch im Rahmen einer Teleskopversorgung eine ausreichende Pfeilerwertigkeit aufweisen, weil diese bei einem Zahnverlust erweiterungsfähig ist. Die Gesamtversorgung mittels Zahnersatz würde durch den Verlust des Zahnes nicht gefährdet. Derselbe Zahn könnte aber für eine festsitzende Brückenversorgung keine ausreichende Pfeilerwertigkeit mehr besitzen. Bei einem Zahnverlust dieses Pfeilerzahns würde die Brückenversorgung zerstört.Bei der Planung einer Brücke oder einer Teilprothese ist die Statik zu ermitteln und welchen Kräften die Pfeilerzähne ausgesetzt sein werden. Die Pfeilerzähne sind dahingehend zu bewerten, ob sie den zu erwartenden Belastungen standhalten können, wobei eine fachgerechte Konstruktion vorausgesetzt wird.
=== Allgemeinerkrankungen ===
Ein generell erhöhtes Risiko von Knochennekrosen im Bereich des Alveolarfortsatzes, beispielsweise bei Zustand nach einer Strahlentherapie, nach einer Chemotherapie oder als Folge einer Bisphosphonatmedikation, kann die Pfeilerwertigkeit erniedrigen.
=== Jugendliche Zähne ===
Bei Jugendlichen ist das Pulpencavum (Zahnhöhle) weit. Es besteht die Gefahr der Pulpaeröffnung bei der Präparation (Beschleifen) der Zähne zur Aufnahme einer Krone, wodurch eine eingeschränkte Verwertbarkeit als Pfeilerzahn gegeben sein kann. Gegebenenfalls kann eine zahnsubstanzschonende Präparation, wie bei der Marylandbrücke (Adhäsivbrücke), einen jugendlichen Zahn für eine Brückenversorgung verwertbar machen. Dabei wird der Zahn nur auf der oralen (inneren) Seite präpariert (beschliffen). Der zu ersetzende Zahn wird mit einem oder zwei Flügeln am Nachbarzahn adhäsiv befestigt. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat hierzu die Richtlinien für die Zahnersatzversorgung 2016 erweitert: „Bei Versicherten, die das 14., aber noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet haben, können zum Ersatz von zwei nebeneinander fehlenden Schneidezähnen bei ausreichendem oralen Schmelzangebot der Pfeilerzähne eine einspannige Adhäsivbrücke mit Metallgerüst mit zwei Flügeln oder zwei einspannige Adhäsivbrücken mit Metallgerüst mit je einem Flügel angezeigt sein. Zum Ersatz eines Schneidezahns kann bei ausreichendem oralem Schmelzangebot an einem oder beiden Pfeilerzähnen eine einspannige Adhäsivbrücke mit Metallgerüst mit einem oder zwei Flügeln angezeigt sein. Bei einflügeligen Adhäsivbrücken zum Ersatz eines Schneidezahns sollte der an das Brückenglied der Adhäsivbrücke angrenzende Zahn, der nicht Träger eines Flügels ist, nicht überkronungsbedürftig und nicht mit einer erneuerungsbedürftigen Krone versorgt sein“.
=== Gegenbezahnung ===
Die Belastung, die ein Zahn tragen muss, hängt auch von der Gegenbezahnung ab. Ist beispielsweise in einem Kiefer eine Versorgung mit einer Brücke geplant und im Gegenkiefer befindet sich eine Teil- oder Totalprothese, dann ist die Beißkraft reduziert. Dies bedeutet, dass die Pfeilerzähne der Brücke weniger Belastung auffangen müssen als bei einer Gegenbezahnung durch gesunde Zähne oder Implantate. In diesem Fall können auch Zähne mit einer reduzierten Pfeilerwertigkeit als Brückenpfeiler Verwendung finden.
=== Patientenwünsche ===
Wenn Patienten Zahnersatzkonstruktionen wünschen, bei denen Zähne mit reduzierter Pfeilerwertigkeit verwendet werden sollen, dann ist eine vorherige Aufklärung über die möglichen Konsequenzen unabdingbar, die auf die reduzierte Verweildauer des Zahnersatzes hinweist. Zeitaufwändige und kostspielige Behandlungen sind in diesen Fällen nach kürzerer Zeit erneut zu erwarten. § 630e BGB, der durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten 2013 eingeführt wurde, präzisiert die Aufklärungspflicht des Zahnarztes. Der Patient muss über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufgeklärt werden, insbesondere über Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.
== Wirtschaftlichkeitsgebot ==
In Deutschland ist bei der Aufstellung eines Heil- und Kostenplans – unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebots der Gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 12 SGB V – die Pfeilerwertigkeit für die geplante Zahnersatzversorgung von entscheidender Bedeutung für die Erlangung eines Festzuschusses. Ist die Prognose des Zahnes fraglich, fällt der Zahn aus der Bezuschussungsfähigkeit heraus.
== Literatur ==
Peter Pospiech: Pfeilerwertigkeit. In: Peter Pospiech: Die prophylaktisch orientierte Versorgung mit Teilprothesen. Thieme, Stuttgart u. a. 2001, ISBN 3-13-126941-3, S. 146 ff. Eingeschränkte Vorschau (PDF) abgerufen am 8. Februar 2017.
Peter Pospiech: Der prothetische Pfeiler. In: Wehrmedizin und Wehrpharmazie, Band 57, Nr. 2/3, 2013, S. 63–66; wehrmed.de
Daniel Pagel: Die Prothetik im parodontal geschädigten Gebiss. Risikoeinschätzung und therapeutische Möglichkeiten. Spitta, Balingen 2014, ISBN 978-3-943996-34-0 (Auszug: Online. Abgerufen am 8. Februar 2017).
Michael G. Newman, Henry Takei, Perry R. Klokkevold, Fermin A. Carranza: Carranza’s Clinical Periodontology. 12. Auflage. Elsevier, St. Louis MO 2015, ISBN 978-0-323-18824-1.
== Weblinks ==
S1-Empfehlung: Festsitzender Zahnersatz für zahnbegrenzte Lücken, Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde – dgzmk.de, 1. August 2012; abgerufen am 11. Februar 2017.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pfeilerwertigkeit
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Dali’s Mustache
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= Dali’s Mustache =
Dali’s Mustache (amerikanisches Englisch, sprich: dɑːlɪs 'mʌstæʃ, Dalis Schnurrbart) ist ein absurd-humoriges Buch des surrealistischen Künstlers Salvador Dalí (1904–1989) und seines Freundes, des Photographen Philippe Halsman (1906–1979), das in erster Auflage im Oktober 1954 in New York erschien. In den 1980er und 1990er Jahren folgten übersetzte und leicht abgeänderte französische Ausgaben.
Das Buch, in dessen Prolog Dalí in wenigen Sätzen die Entwicklungsgeschichte und Bedeutung seines Schnurrbarts umreißt, trägt den Untertitel A Photographic Interview. Auf jeweils einer Seite wird an den Künstler eine kurze Frage gestellt. Dalí antwortet auf der folgenden Seite, wobei Halsman dieser Antwort durch seine photographische Umsetzung – absurde, ironische oder selbstironische Schwarzweißporträts von Dalí mit verschiedenen Verwendungen seines ikonischen Oberlippenbarts – eine zusätzliche Bedeutung hinzufügt.
== Entstehungsgeschichte ==
Halsman lebte und arbeitete seit 1940 – und bis zu seinem Tod – in den USA. In New York traf er 1941 zum ersten Mal Dalí, der sich nach früheren Besuchen in den USA mit seiner Frau Gala dort von 1940 bis 1948 aufhielt und in dieser Zeit neben der Malerei auch literarisch tätig war. Ab den 1940er Jahren verband diese beiden Künstler eine lebenslange Freundschaft.
Die Idee zu dem Buch kam von Richard „Dick“ Simon, einem der Gründer von Simon & Schuster, als Halsman ihm Photographien von Dalí zeigte, die für das Life Magazine bestimmt waren. Simon hatte Halsman bereits fünf Jahre früher den Vorschlag zu dem Buch The Frenchman: A Photographic Interview with Fernandel über den französischen Schauspieler Fernandel gemacht, das sehr gute Verkaufszahlen erreicht hatte.Halsman schlug Dalí das Projekt vor mit dem Hinweis, dass es zwar viele Bücher über Künstler gebe, dass es aber noch nie dagewesen sei – und dadurch eine ganz spezielle Hommage darstelle – ein ganzes Buch „einem Detail des Künstlers“ zu widmen. Dalí gefiel diese Idee und über Monate entwickelte sich eine Zusammenarbeit, zu der beide Künstler Ideen beitrugen und diese gemeinsam realisierten.
Die erste Auflage von Dali’s Mustache erschien im Oktober 1954 bei Simon & Schuster, New York, unter englischem Titel und in englischer Sprache. Es war Halsman, der das eigentümliche Französisch des Katalanen Dalí in der Einleitung übersetzt hatte. Die Rückseite des Buches trägt den Vermerk Warning! This book is preposterous.Bei den nachfolgenden Ausgaben, die in den 1980er und 1990er Jahren in Frankreich erschienen, wurde der englische Titel beibehalten, die Fragen und Antworten wurden ins Französische übersetzt, die Dalí/Mona-Lisa-Photographie mit Münzen wurde durch das Original mit den 10.000-Dollar-Scheinen ersetzt, und die Warnung auf der Rückseite lautete nun Attention! Livre absurde. Zusätzlich wurde am Ende des Buches eine Note de l’éditeur angefügt, in der technische Details zu ausgewählten Photographien angegeben werden (D’intérêt seulement pour les photographes).
== Inhalt ==
=== Widmungen ===
Beide Künstler widmeten das Buch ihren jeweiligen Ehefrauen (Dalí und Gala (Jelena Dmitrijewna Djakonowa) waren seit 1934 verheiratet, Halsman und Yvonne Moser seit 1936).
=== Vorwort (Salvador Dalí) ===
Im ersten Teil des Vorwortes (Preface) erläutert Dalí kurz in Ich-Form seine Entwicklungsgeschichte vom Kind zum Erwachsenen bis zu seiner „ersten amerikanischen Kampagne“. Das Vorwort enthält eine Schwarzweißphotographie, in der Dalí ein Exemplar der Zeitschrift Time vom 14. Dezember 1936 vor sich hält mit der Behauptung, dass er damals mit dem „kleinsten Schnurrbart der Welt“ in Erscheinung getreten sei, der aber bald, ebenso wie die Macht seiner Vorstellung, nicht aufgehört habe zu wachsen.
Im zweiten Teil – der Schnurrbart wurde zu einem bedeutenden Teil des Künstlers – ändert Dalí die personale Erzählsituation und schreibt nun über Dalí in der dritten Person. Er erwähnt Dalila, die auch die Macht der Haare gekannt habe und macht Referenz zu „Laporte“, dem „Erfinder“ der Magie Naturelle („Magia naturalis“), für den menschliche Bärte sensible Antennen darstellten, mit denen man schöpferische Inspirationen erhalten könne. Über Platon und Leonardo da Vinci und ihre „glorreichsten Gesichtsbehaarungen“ führt Dalí ins 20. Jahrhundert, in dem sich schließlich „das sensationellste Haar-Phänomen“ – Der Oberlippenbart von Dalí! – ereignete, dem dieses Buch gewidmet ist.
=== A Photographic Interview ===
Dali’s Mustache enthält 28 Schwarzweißphotographien, meist Porträts von Dalí mit verschiedenen Verwendungen seines ikonischen Oberlippenbarts.
Den Photographien vorangestellt – und ohne dass diese zu sehen sind – wird an Dalí eine kurze Frage zu seiner Person oder seinen Tätigkeiten gerichtet, die auf der folgenden Seite unter der Photographie beantwortet wird. Diese Antworten sind meist kurz, gelegentlich mehrdeutig kryptisch; einige erscheinen durchaus sinnvoll, andere sind völlig absurd, und in einem Fall antwortet Dalí gar nicht. Das Ergebnis von Halsmans photographischer Umsetzung fügt jeder Antwort eine zusätzliche Bedeutung hinzu.
Vier der Photographien sind Anspielungen auf Dalís Freude am finanziellen Erfolg – zwei davon offen mit amerikanischen Münzen oder Dollarnoten. Um 1942 hatte André Breton aus Dalís Vor- und Nachnamen das bissige Anagramm „Avida Dollars“ (deutsch: „hungrig auf Dollars“) geschaffen. Dalí machte aus seinem „Geldhunger“ keinen Hehl, sondern zeigte selbstironischen Humor, indem er für eine Photographie seinen Schnurrbart lächelnd in die S-Form des Dollarzeichens brachte.Eine andere Photographie zeigt die Mona Lisa mit Dalís Gesicht, Bart und je einen echten 10.000-Dollar-Schein in seinen kräftigen Händen haltend. Dies ist einerseits eine neue Interpretation/Verfremdung des bekannten Ready-mades L.H.O.O.Q. des französisch-amerikanischen Malers und Objektkünstlers Marcel Duchamp aus der Zeit des Dadaismus, das das weltberühmte Gemälde der Mona Lisa mit Schnurrbart und Spitzbart zeigt. Andererseits setzt sich Dali – unverwechselbar durch sein Markenzeichen, den Schnurrbart, sowie weitere Attribute – persönlich und als neue Ikone an die Stelle der „Kunstikone La Gioconda“.
=== Nachwort (Philippe Halsman) ===
Neben der Entstehungsgeschichte des Buches geht Halsman im Nachwort (Postface) anekdotisch auf die Schwierigkeiten ein, die sich bei einigen Aufnahmen ergaben:
Photographie Nr. 15: Inspiriert von Dalís Gemälde Die Beständigkeit der Erinnerung zeigt diese Aufnahme Dalís Gesicht auf der herabfließenden Taschenuhr. Es war die arbeitstechnisch anspruchsvollste Photographie der Serie und erforderte mehr als hundert Arbeitsstunden. Später wurde die Aufnahme für die Photographie eines Gemäldes gehalten – was sie nicht ist.
Photographie Nr. 18: Eine Fliege und Honig auf Dalís Schnurrbart war ein im Zeitrahmen unüberwindliches Problem: Wo findet man im kalten Winter von New York eine Fliege?
Photographie Nr. 21 Dalí, der mit einem Auge durch ein Loch im Käse blickt, wobei seine Bartspitzen durch zwei weitere Löcher in der Käsescheibe hervorstechen. Die Gruyère-Käsescheibe war fettig, hatte zu kleine Löcher, Assistenten mussten die Bartspitzen Dalís halten und der Künstler verlor einige Barthaare während dieses Vorgangs.Halsman erwähnt auch, dass mehr Photographien aufgenommen wurden als im Buch Verwendung fanden. Selbst seine Kinder wurden – nach seinen Angaben – von der „Mustachomania“ erfasst und machten eigene Vorschläge.
Abschließend gibt Halsman (in der französischen Ausgabe) sein Gespräch mit einer jungen Schauspielerin wieder, die ihm Fragen zu Dalí, zum Surrealismus und zur Bedeutung des Schnurrbarts in der ihr vorliegenden englischen Ausgabe stellt. Halsman erklärte ihr, dass Dalís Oberlippenbart ein Symbol sei und die „Message“ verbreite, das jeder in seiner Weise von sich glauben solle, verschieden, einzigartig und unersetzbar zu sein – worauf die junge Frau ausgerufen habe: „Ein Schnurrbart mit einer Message! Wie kann man nur so absurd sein?“ Halsman habe ihr darauf geantwortet: „Glauben Sie das wirklich, oder versuchen Sie nur, mir zu schmeicheln?“
=== Notizen des Herausgebers ===
Die Notizen des Herausgebers in der französischen Edition beziehen sich im Detail auf die technische Realisierung einiger ausgewählter Photographien („Comment furent faites certaines des photographies. D’interêt seulement pour les photographes“).
== Rezeption ==
Halsmans Photographien und Dali’s Mustache wurden in vielen Journalen und Büchern kommentiert. Im Katalog der Staatsgalerie Stuttgart wird festgestellt: „Es enthält einige der besten Photographien Dalís, Aufnahmen, die nach seinen eigenen Anweisungen entstanden.“Photographisch orientierte Zeitschriften beurteilen es als „einen großartigen Klassiker“ und als „ein herrlich raffiniertes Fotoalbum … und Sammlerstück“. Ein Exemplar der Originalausgabe, das Zeichnungen und eine Widmung von Dalí für Robert Schwartz enthält, einen US-Einwanderungsbeamten, der sich um V.I.P.s kümmerte, wurde 2012 für 6875 US-Dollar versteigert.Der Schriftsteller Michael Elsohn Ross nennt es „ein wildes, verrücktes kleines Buch“ und möchte durch dessen Darstellungen Studenten und Jugendliche anregen, mit den eigenen Haaren künstlerisch umzugehen (hair art).Der Ethologe, Publizist und dem Surrealismus zugeneigte Künstler Desmond Morris geht in seinem Buch The Naked Man: A Study of the Male Body (2008) auf Dalís Schnurrbart ein und vermutet, dass das Buch Dali’s Mustache das einzige Buch sei, dass je ausschließlich über die Gesichtsbehaarung einer einzelnen Person veröffentlicht wurde.
Das Salvador Dalí Museum in Saint Petersburg, Florida, hatte 1991/1992 eine Ausstellung mit Halsmans Photographien aus Dali’s Mustache.
== Hintergrundinformationen ==
=== Vom „kleinsten Schnurrbart der Welt“ zum „Markenzeichen“ ===
Mitte der 1920er Jahre war Salvador Dalí bartlos. Ende der 1920er oder Anfang der 1930er Jahre ließ er sich ein damals sehr populäres Menjou-Bärtchen stehen – er bezeichnete ihn selber als den „kleinsten Schnurrbart der Welt“ – der auch 1933, ein Jahr vor der Heirat mit Gala, auf einer Photographie dokumentiert ist. Dalí behielt diese Art des Schnurrbarts bis Ende der 1930er Jahre bei.
Die Arbeiten mehrerer Photographen – Philippe Halsman (1942), Irving Penn (1947), Alfredo Valente (ca. 1950) und erneut Halsman (1954) – zeigen, dass Dalí in den Vereinigten Staaten damit begann, seinen Bart immer länger wachsen zu lassen, bis er schließlich in den 1950er Jahren – Dali’s Mustache erschien 1954 – wie Fühler oder Antennen abstand und er – von Bartspitze zu Bartspitze – eine Gesamtlänge von 25 Zentimetern erreicht hatte.Der Haarstylist und Künstler Lluís Llongueras Batlle, ein langjähriger Freund von Dalí, der mit dem Surrealisten 1976 an dessen Werk The Face of Mae West zusammengearbeitet und dabei die 4,40 Meter mal 3,46 Meter große Perücke geschaffen hatte, berichtet in seinem an Anekdoten reichen Buch Todo Dalí (2003), dass er nicht nur Toupets und Haarteile, sondern auch falsche Schnurrbärte für Dalí hergestellt habe.Exzentrische, extrovertierte Auftritte waren typisch für Dalí und sein markanter Oberlippenbart wurde sein „Gimmick“, seine „Partikularität“ und sein inoffizielles Markenzeichen mit hohem Wiedererkennungswert. In den 1950ern wurde sein Schnurrbart zu einem ikonischen Bestandteil und „die Transformation von Dalí in seine öffentliche Erscheinung [sein Image] war nahezu komplett“.Im Rahmen der Fundraising-Kampagne von Movember führte MSN HIM 2010 eine Umfrage nach dem „berühmtesten Schnurrbart aller Zeiten“ (best-known mustache of all time) durch. Von 14.144 abgegebenen Stimmen entfielen 24 % (1. Platz) auf den Oberlippenbart von Dalí.In der Literatur finden sich bei Versuchen, Dalí und seinen Bart deuten und beschreiben zu wollen, Superlative, bemerkenswerte Umschreibungen und ungewöhnliche Interpretationen: Der Bart sei ein bedeutendes Teilstück seiner [Dalís] Uniform als exzentrischer Künstler, ein kurioses Markenzeichen, Dalís am leichtesten erkennbares Merkmal, ein übertriebenes […] Erscheinungsmerkmal seiner nach-1940-Identität, eine Pop-Ikone mit phallischen Obertönen, ein der Schwerkraft trotzendes, mächtig gewichstes Kunstwerk. Gertrude Stein, die Dalí persönlich kannte und verehrte, hielt den Bart „zweifelsfrei für sarazenisch“ und war der Meinung, „Dalí habe den schönsten Schnurrbart aller Europäer“.Mit zunehmendem Alter wurde der Bart wieder etwas kürzer. Eine der letzten Photographien des Künstlers – aufgenommen von Helmut Newton in Dalís Anwesen 1986, drei Jahre nachdem der Maler sein letztes Gemälde vorgestellt hatte – zeigt den 82-Jährigen mit ergrautem, herabhängenden Bart.
=== Inspirationen zum Bart ===
Beide, Salvador Dalí und Luis Buñuel, Freunde seit Studienzeiten, verehrten den Schauspieler Adolphe Menjou und Buñuel hatte dessen Schnurrbart 1928 einen Artikel in La Gaceta Literaria mit dem Titel Variations on Menjou’s Mustache gewidmet. Dalí – „Le surréalisme, c’est moi.“ – bezog Menjous Oberlippenbart mit der Aussage „La moustache d’Adolphe Menjou est surréaliste.“ in seine Sicht des Surrealismus ein. In dieser Zeit machte der junge Surrealist und Nichtraucher auch in Gesellschaft auf sich aufmerksam, indem er ein Zigarettenetui, das mehrere kleine, falsche Menjou-Bärtchen enthielt, aus der Tasche zog und sie mit den Worten „Schnurrbart? Einen Schnurrbart?“ anderen Personen anbot.
Wer oder was Dalí dazu inspirierte, seinen Bart in der später für ihn typischen Weise zu tragen, ist umstritten. In diesem Zusammenhang wird auf zwei andere bedeutende Spanier hingewiesen: Diego Velázquez, den Dalí verehrte, indem er dessen Gemälde in eigener Weise interpretierte, und Philipp IV. von Spanien, genannt Philipp der Große (Felipe el Grande) oder König der Welt (El Rey Planeta), der Gedichte verfasst und sich selber als Maler versucht hatte, während seiner Herrschaft ein Förderer von Kunst und Dichtung gewesen war und Velázquez als Hofkünstler an den spanischen Königshof geholt hatte. Salvador Felipe Jacinto Dalí i Domènech hatte denselben Vornamen und in Dalís Haus befindet sich noch heute – zwischen zwei von Dalí entworfenen Wandleuchtern – eine Photographie eines Velázquez-Gemäldes von Philipp IV.Dalí selber brachte Marcel Proust in die Diskussion, den er bereits als Jugendlicher gelesen hatte und dessen Schreibstil – lange Sätze, Metaphern – er selber praktizierte. Doch Dalí verglich nur: „Er [der Schnurrbart] ist der seriöseste Teil meiner Persönlichkeit. Es ist ein sehr einfacher ungarischer Schnurrbart. Mr. Marcel Proust verwendete dieselbe Pomade für seinen Schnurrbart.“
=== Dalís Oberlippenbart in Eigenpromotion, Werbung und Literatur ===
Der hohe Wiedererkennungswert von Dalís Oberlippenbart hat zu vielfachen, meist kommerziellen Verwendungen geführt.
In den 1960er Jahren war die Sängerin Françoise Hardy sehr bekannt und andere Berühmtheiten waren bestrebt, ihr nahe zu sein oder sich mit ihr zu zeigen. Jean-Marie Périer, ein bekannter Photograph der Musikszene dieser Zeit, machte im Oktober 1968 in Spanien auf Dalís Anwesen eine ganze Aufnahmenserie von Hardy und Dalí, bei denen der Künstler unter anderem die Sängerin sich selber anglich, indem er ihr mit ihren eigenen Haaren einen Dalí-Schnurrbart gestaltete.Für die gesammelten Schriften des literarischen Werks von Dalí wählte der Verlag Rogner & Bernhard 1974 als Titelseite eine Schwarz-Weiß-Aufnahme des Künstlers im Profil, bei der nur die Partie von Kinn bis Nase gezeigt wird, mit Dalís markantem Schnurrbart in der Mitte.Das Salvador Dalí Museum in Saint Petersburg verwendet eine stilisierte Version von Dalís ikonischem Schnurrbart auf seiner Website und als das Museum in neue Gebäude zog, wurde 2010 eine Werbekampagne gestartet, bei der ein riesiger, dreidimensionaler Dalí-Bart auf einem Billboard zu sehen war. Dieser lackierte Kunststoffbart, der eine Länge von 40 Fuß (etwa 12 Meter) und eine Höhe von 14 Fuß (etwa 4,2 Meter) hat, steht seit 2011 neben dem Museum und ist zu einer Touristenattraktion geworden.Als Werbekampagne für die italienische Civita Art School entwarf eine Werbeagentur in Rom unter dem Motto Artists born here unter anderem ein „Baby Dalí“, das allein durch seinen Schnurrbart als der Künstler wiederzuerkennen ist.In der fantastischen Novelle La Moustache de Dali von Kenan Görgün macht sich der Künstler Dalí über seinen Tod hinaus Gedanken zu seiner Kunst und seinem Schnurrbart.
== Literatur ==
Salvador Dali und Philippe Halsman: Dali’s Mustache. A Photographic Interview. Simon & Schuster, New York 1954; Neuauflage 1982 durch Salvador Dali, Yvonne Halsman, Jane Halsman Bello und Irène Halsman.
frz.: Dali’s mustache: Une interview photographique. Les Éditions Arthaud, Paris 1985. Neuauflage, Éditions Flammarion, Paris 1994, ISBN 2-08-012433-1.
== Weblinks ==
Halsmans Photographien von Salvador Dalí bei Magnum PhotosNicht alle dort gezeigten Aufnahmen wurden auch in Dali’s Mustache verwendet. Die Website zeigt auch die beiden Versionen der verfremdeten Mona Lisa – Goldmünzen/Halsmans Hände und Dollarnoten/Dalís Hände. Die Photographie mit der Gruyère-Scheibe fehlt hingegen.
== Kommentare und Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dali%E2%80%99s_Mustache
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Deeside Line
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= Deeside Line =
Die Deeside Line (auch als Deeside Railway bezeichnet) war eine Bahnstrecke in Schottland. Sie verlief in Aberdeenshire zwischen Aberdeen und Ballater weitgehend im Tal des namensgebenden Flusses Dee, der südlich von Aberdeen in die Nordsee mündet. Die Strecke wurde zwischen 1853 und 1866 in mehreren Etappen von drei kleineren Bahngesellschaften erbaut. 1876 übernahm die Great North of Scotland Railway (GNSR) die Strecke und baute sie in den 1890er Jahren teilweise zweigleisig aus. Ab 1894 ergänzte die GNSR das Zugangebot um Vorortzüge zwischen Aberdeen und Culter. Nach der Jahrhundertwende bis zum Ende der 1920er Jahre hatte die Deeside Line, die ab 1923 von der London and North Eastern Railway (LNER) betrieben wurde, ihr höchstes Verkehrsaufkommen. So fuhren an Wochentagen auf dem Vorortabschnitt zwischen Aberdeen und Culter teils mehr als 25 Zugpaare. 1937 stellte die LNER den Vorortverkehr ein. 1948 wurde das britische Eisenbahnnetz verstaatlicht, seitdem betrieb British Railways die Strecke. Nach einem Tiefstand mit drei Zugpaaren auf der Gesamtstrecke in den Nachkriegsjahren bedienten ab Ende der 1950er Jahre sechs Zugpaare an Werktagen die Deeside Line. 1966 legte British Railways im Zuge der sogenannten Beeching-Axt die Strecke still und baute sie in den Folgejahren ab. Die Trasse wird heute überwiegend für den Deeside Way genutzt, einen regionalen Rad- und Wanderweg. Bekannt wurde die Deeside Line aufgrund der landschaftlichen Schönheit sowie der regelmäßigen Nutzung durch die britischen Monarchen. Zwischen 1853 und 1965 fuhren alle in dieser Zeit herrschenden Monarchen regelmäßig mit dem Royal Train über die Deeside Line zur königlichen Sommerresidenz Balmoral Castle.
== Geschichte ==
=== Bau des ersten Abschnitts zwischen Aberdeen und Banchory ===
Der Erfolg der 1830 eröffneten Liverpool and Manchester Railway führte dazu, dass in ganz Großbritannien in den Folgejahren schnell ein ausgedehntes Netz in fast allen Landesteilen entstand und ein Boom für Eisenbahnaktien an den Börsen ausgelöst wurde. Dieser auch als Railway Mania oder „Eisenbahnfieber“ bezeichnete Boom hatte auch eine Vielzahl teils wirtschaftlich völlig unsinniger Streckenplanungen zur Folge, die wiederum mehrfach zu Wirtschaftskrisen und Zusammenbrüchen führten. Auch in Schottland entstanden schnell Komitees und Unternehmen, die Planungen für das neue Verkehrsmittel entwickelten. Die ersten Planungen zur Erschließung der Deeside entstanden 1845. Am 2. September dieses Jahres gründeten mehrere Aberdeener Geschäftsleute unter Führung des Lord Provost der Stadt ein erstes provisorisches Eisenbahnkomitee. Beteiligt waren auch Direktoren der Great North of Scotland Railway und der Aberdeen Railway. Das Komitee rief die Deeside Railway Company ins Leben, die eine Strecke von Aberdeen nach Banchory bauen sollte. Der veröffentlichte Verkaufsprospekt versprach, dass die Untersuchung des zu erwartenden Verkehrsaufkommens alle Erwartungen überschritten hätte („has exceeded all expectations“). Als Stammkapital wurden Aktien im Wert von insgesamt 100.000 £ ausgegeben, die bereits nach einer Woche vollständig gezeichnet waren. Dieser Erfolg bewog die Gesellschaft noch im gleichen Monat dazu, das Kapital auf 220.000 £ aufzustocken und die Streckenplanung bis Aboyne auszudehnen. Mit dem Deeside Railway Act erhielt die Gesellschaft für ihre Planungen nach dem zuvor ergangenen Parlamentsbeschluss am 16. Juli 1846 den Royal Assent. Zur Kostenersparnis beschloss die Gesellschaft jedoch, den Bau zunächst auszusetzen, bis die von Aberdeen als Anschluss in Richtung Arbroath laufende Strecke der Aberdeen Railway weitgehend fertiggestellt war, um dann deren Bauausrüstung übernehmen zu können. Sie gab der Aberdeen Railway zudem einen Kredit in Höhe von 16.000 £ zur Beschleunigung ihrer Arbeiten, nachdem diese aufgrund der durch das nachlassende Eisenbahnfieber in Großbritannien ausgelösten Wirtschaftskrise von 1847 in finanzielle Schwierigkeiten geraten war. Diese Verzögerung führte jedoch zu Protesten, und ein Jahr später forderten verschiedene Aktionäre eine Auflösung der Deeside Railway Company, nachdem weiterhin nicht mit dem Bau begonnen worden war. Die Aberdeen Railway übernahm daraufhin einen Teil der Aktien dieser Aktionäre. Sie verkaufte sie jedoch 1849 wieder, diesmal an eine weitere Gruppe lokaler Geschäftsleute.Die neuen Eigentümer beschlossen, die Strecke zunächst nur bis Banchory zu bauen. Dies erforderte einen neuen Parlamentsbeschluss, der den Royal Assent am 28. Mai 1852 erhielt. Das Gesellschaftskapital wurde nun auf 106.250 £ festgesetzt. Den ersten Spatenstich nahm Mrs. Kinloch, die Frau eines lokalen Grundbesitzers, gut einen Monat später am 5. Juli 1852 bei den Mains of Drum vor, etwa auf halber Strecke zwischen Aberdeen und Banchory.Der Streckenverlauf entlang des Dee-Nordufers bot baulich keine besonderen Schwierigkeiten und die Strecke konnte am 7. September 1853 eingeweiht werden. Der planmäßige Betrieb mit drei Zugpaaren begann am Folgetag. Die vier Monate vor Eröffnung bei Hawthorn bestellten Lokomotiven standen jedoch noch nicht zur Verfügung. Die Deeside Railway beauftragte daher die Scottish Central Railway mit dem Betrieb ihrer Strecke. Über die Abrechnung dieser Leistungen gab es jedoch bald Auseinandersetzungen, und nachdem die erste eigene Lokomotive ausgeliefert worden war, übernahm die Deeside Railway ab März 1854 selbst den Betrieb ihrer Strecke. In Aberdeen nutzte sie die Anlagen der Aberdeen Railway, zunächst deren provisorischen Endbahnhof in Ferryhill und ab 1854 den Bahnhof an der Guild Street südlich der Innenstadt auf der Fläche des heutigen Einkaufszentrums Union Square. Erste Planungen für einen eigenen Bahnhof an der Ecke Market Street/Palmerston Road südlich des Bahnhofs Guild Street waren bald wieder verworfen worden, die Deeside Railway richtete hier lediglich ihren Güterbahnhof ein.
=== Verlängerung nach Aboyne ===
Noch vor Inbetriebnahme ihrer Strecke entwickelte die Deeside Railway weitere Ausbaupläne. Zunächst zielten diese auf eine Verbindung von Banchory nach der westlich von Aberdeen gelegenen Kleinstadt Alford. Nachdem sich diese Planung als ungeeignet erwiesen hatte, wurde eine von der Strecke nach Banchory bei Coalford, westlich von Peterculter, abzweigende Trassenführung favorisiert. Die Great North of Scotland Railway plante jedoch ebenfalls eine Verbindung nach Alford und konnte sich im Parlament in London gegen die Deeside Railway durchsetzen.
Nach diesem Misserfolg wandte sich die Deeside Railway wieder ihrer Stammstrecke zu, die sich als sehr ertragreich erwiesen hatte. 1857 konnte sie eine Dividende von 8,5 % ausschütten. Die Pläne für die Verlängerung nach Aboyne wurden wieder aus der Schublade geholt, jedoch in der Trassenführung modifiziert. Statt entlang des Dee über Kincardine O’Neil wurde die Strecke nach Aboyne nördlich abseits des Dee-Tals über Torphins und Lumphanan im Verlauf der ursprünglich nach Alford geplanten Verlängerung geführt. Dies erforderte zwar längere Steigungsabschnitte und einen tiefen Einschnitt, bot aber günstigere Grunderwerbskosten und vermied zwei Brücken über den Dee, die bei der ursprünglichen Führung erforderlich gewesen wären. Die Deeside Railway gründete für die Verlängerung eine neue Gesellschaft, die nominell unabhängige Deeside Extension Railway. Das entsprechende Gesetz, der Deeside Railway Extension Act, erhielt den Royal Assent am 27. Juli 1857. Am 2. Oktober des gleichen Jahres folgte der erste Spatenstich, diesmal durch die Marchioness of Huntly. Zwar hatte der Inspektor des Board of Trade bei der Streckenbegehung vor Eröffnung noch einige Mängel festgestellt, die Strecke konnte dennoch wie geplant am 2. Dezember 1859 in Betrieb gehen. Die Züge verkehrten durchgehend von Aberdeen nach Aboyne, die Deeside Railway übernahm den durchgehenden Dienst im Auftrag der Extension Railway. Einmal pro Tag wurde in Aboyne Anschluss per Kutsche von und nach Ballater angeboten.
=== Weiterführung bis Ballater ===
Nachdem Königin Victoria und Prinzgemahl Albert 1848 erstmals den Sommer in Balmoral Castle verbracht hatten und von den schottischen Highlands begeistert waren, erwarb Prinz Albert das Schloss als Besitz der königlichen Familie. Dies führte dazu, dass der Tourismus in diesen Teil von Aberdeenshire erheblich zunahm. Bereits die Verlängerung bis Aboyne hatte einen erheblichen Ausflugsverkehr auf der Strecke der Deeside Railway zur Folge. Diese plante daher bald eine erneute Verlängerung. Erneut wurde dafür eine nominell unabhängige Gesellschaft gegründet, die Aboyne and Braemar Railway (A&BR). Ziel war Braemar, womit die Strecke direkt nördlich an Balmoral Castle vorbei führen sollte. Die Gründung der Gesellschaft erfolgte am 16. November 1864. In der parlamentarischen Debatte, die im Winter 1865 stattfand, wurden bereits weitere Verlängerungen diskutiert. Mögliche Ziele waren Blair Atholl oder, quer durch die Bergwelt der Cairngorms, Kingussie, beide an der heutigen Highland Main Line zwischen Inverness und Perth gelegen.Größte Landbesitzerin der Gegend war jedoch inzwischen Königin Victoria, die die Strecke nach Braemar, die direkt an ihrem Schloss vorbei führen würde, vehement ablehnte. Sie ließ ihren Solicitor Verhandlungen mit der A&BR aufnehmen, in denen dieser den Wunsch der Königin deutlich machte. Die Gesellschaft zog daraufhin ihre Gesetzesvorlage in der ursprünglichen Form zurück; die Verlängerung sollte nunmehr nur bis Bridge of Gairn führen, etwa zwei Kilometer nordwestlich von Ballater. Personenverkehr sollte lediglich bis Ballater erfolgen; der kurze Abschnitt bis Bridge of Gairn, wo erhebliche Holzabfuhr geplant war, war als sogenannte Tramway nur für den Güterverkehr vorgesehen. Für dieses geänderte Vorhaben erhielt die A&BR den Royal Assent am 5. Juli 1865. Mangels finanzieller Mittel verzichtete die Gesellschaft jedoch bald auf den Bau der Tramway. Daraufhin versuchte Colonel James Farquharson, der in Invercauld Castle bei Braemar ansässige, und an der Bahngesellschaft beteiligte Chief des Clans Farquharson, den Bau der Tramway in eigener Regie zu übernehmen und sie sogar bis zur Bridge of Invercauld, einer Brücke der heutigen A93 über den Dee, etwas östlich von Braemar, zu führen. Dies erwies sich jedoch als nicht finanzierbar, so dass Col. Farquharson lediglich den Abschnitt bis Bridge of Gairn in Angriff nahm. Bis 1869 war der Abschnitt bis Bridge of Gairn weitgehend fertiggestellt.Im gleichen Jahr übernahm jedoch Fürst zu Leiningen als Beauftragter von Königin Victoria Ballochbuie Forest, zwischen Braemar und Bridge of Gairn gelegen, von Col. Farquharson in Form eines Leasings für zehn Jahre, um die Abholzung dieses Waldgebiets in der Nähe von Balmoral zu verhindern. Alle Pläne zur Holzabfuhr waren damit obsolet geworden. Der weitgehend fertiggestellte Abschnitt westlich von Ballater bis Bridge of Gairn, dessen Bahndamm noch heute gut erkennbar ist, wurde nie planmäßig von Zügen befahren. Bereits 1873 wurde der Abschnitt wieder abgebaut und die Trasse für den Bau einer Wasserleitung nach Ballater genutzt. 1878 ging Ballochbuie Forest dauerhaft in den Besitz der Königin über.Der Bau der Strecke zwischen Aboyne und Ballater war dagegen unumstritten und bot mit Ausnahme eines kurzen Tunnels bei Aboyne keine besonderen baulichen Schwierigkeiten. Der erste Spatenstich fand am 7. September 1865 bei Ballater statt, ausgeführt durch Mrs. Farquharson, die Frau von Col. Farquharson. Nach gut einem Jahr Bauzeit wurde die Strecke bis Ballater am 17. Oktober 1866 eröffnet.
=== Übernahme durch die Great North of Scotland ===
Die Scottish North Eastern Railway (SNER), in der die Aberdeen Railway 1856 aufgegangen war, stritt seit Jahren mit der Great North of Scotland Railway (GNSR) über die Anlage eines gemeinsamen Durchgangsbahnhofs in Aberdeen. Zwischen der nordöstlich des Hafens liegenden Waterloo Station der GNSR und der Guild Street Station der SNER bestand lediglich über die Gleise der Hafenbahn eine nur mit komplizierten Rangiermanövern mögliche Verbindung. Schließlich entwickelte die SNER Pläne für den Bau einer Umgehungsstrecke westlich um Aberdeen herum in Richtung Kintore, um endlich Anschluss in Richtung Norden zu bekommen. Westlich von Peterculter sollte die geplante Strecke die Deeside Line kreuzen: Über diese hätten Züge der SNER dann auch von Kintore kommend den SNER-Bahnhof in Aberdeen erreichen können. Die Planungen erhielten 1862 auch den Royal Assent, allerdings mit der Maßgabe, dass die Strecke nicht gebaut würde, wenn die GNSR sich zur Anlage eines Gemeinschaftsbahnhofs in Aberdeen bereitfinden würde. Im Vorlauf der Planungen für die Umgehungsbahn nahm die SNER Verhandlungen mit der Deeside Railway mit dem Ziel auf, Betriebsrechte auf dieser zu bekommen. Beide Gesellschaften konnten sich jedoch zunächst nicht über die zu entrichtenden Entgelte einigen. In dieser Situation nahm John Duncan, der Chairman der Deeside Railway, Verhandlungen mit der GNSR auf. Diese bot an, die gesamte Strecke der Deeside Railway einschließlich der Verlängerung per Leasing zu übernehmen. Den Aktionären bot die GNSR eine garantierte Dividende von 6 % an, worauf die SNER rasch mit einem eigenen Angebot reagierte. Viele Aktionäre setzten dem beabsichtigten Leasing durch die GNSR erbitterten Widerstand entgegen, teils mit dem Ziel eines Leasings durch die SNER, teils mit dem Ziel eines weiteren unabhängigen Betriebs. Duncan hatte jedoch insgeheim einen Teil seiner Aktien für die Aboyne Extension der GNSR verkauft, die auch weitere Aktien der Deeside Railway erworben hatte. Damit war in der entscheidenden Generalversammlung am 13. Mai 1862 die Mehrheit für den Leasingvertrag gesichert. Der folgende parlamentarische Prozess zog sich über mehrere Jahre hin, letztlich konnte die GNSR 1866 die Strecke der Deeside Railway einschließlich der inzwischen bis Ballater erfolgten Verlängerung übernehmen. Duncan war schon zuvor 1864 in das Board of Directors der GNSR berufen worden, 1868 wurde er Chairman der Gesellschaft.
Die GNSR erhielt mit der Übernahme der Deeside Railway auch Betriebsrechte auf dem kurzen Abschnitt über die SNER zwischen Ferryhill und dem Bahnhof Aberdeen Guild Street. Fast zeitgleich jedoch wurde die SNER bereits von der Caledonian Railway übernommen. Diese einigte sich mit der GNSR rasch auf die Herstellung einer Verbindung in Aberdeen und den Bau eines gemeinsamen Bahnhofs, der 1867 eröffnet wurde. Das Gelände des ehemaligen SNER-Bahnhofs wurde für den Güterverkehr umgenutzt.
Das Leasing der Deeside Railway Company und der mit ihr verbundenen Strecke war der GNSR zunächst für 10 Jahre zugesprochen worden. Seit der Übernahme des Betriebs und der Durchbindung mit der GNSR hatte der Verkehr auf der Deeside Line erheblich zugenommen. Für die erforderlichen Investitionen, um Strecke und Rollmaterial dem gestiegenen Bedarf anzupassen, fehlten der Deeside Railway die nötigen Finanzmittel. In dieser Situation schlug die GNSR eine komplette Übernahme der Deeside Railway und der mit ihr verbundenen Gesellschaften vor. Die entsprechenden Verhandlungen wurden schnell abgeschlossen, nachdem die GNSR die Beibehaltung der relativ niedrigen Tarife der Deeside, den Einsatz neuen Rollmaterials sowie den Aktionären den Tausch ihrer Deeside-Aktien gegen GNSR-Aktien und eine garantierte Dividende für die ersten Jahre nach der Übernahme zugesagt hatte. Gesetzeskraft erhielt die Übernahme mit dem Royal Assent für den entsprechenden Great North of Scotland Railway (Further Rowers) Act am 13. Juli 1876.
=== Weiterer Ausbau der Strecke ===
Die Deeside Line war ursprünglich vollständig eingleisig errichtet worden. Ausweichmöglichkeiten entstanden zunächst in Banchory, Torphins und Aboyne, in späteren Jahren auch in Cults, Culter, Crathes, Lumphanan und Park. Zwischen 1891 und 1899 baute die GNSR den Abschnitt zwischen Aberdeen bzw. Ferryhill Junction und Park schrittweise zweigleisig aus. Nachdem der zweigleisige Ausbau 1894 Culter erreicht hatte, führte die GNSR einen Vorortverkehr zwischen Aberdeen und Culter ein. Für die Vorortzüge entstanden die zusätzlichen Halte Holburn Street, Pitfodels und West Cults, 1897 gefolgt von Bieldside. Der Vorortverkehr wurde in den Folgejahren ausgebaut.
1904 nahm die GNSR den Betrieb ihrer ersten Omnibuslinien auf. Zwischen Ballater und Braemar verkehrten ab dem 2. Mai dieses Jahres zwei werktägliche Fahrtenpaare mit Anschluss in Ballater an Züge von und nach Aberdeen. In Braemar errichtete die GNSR dafür ein eigenes Depot und Abfertigungsgebäude.Während des Ersten Weltkriegs wurde das Angebot auf der Deeside Line nur geringfügig reduziert, der erhöhte Holzbedarf sorgte für eine Belebung des Güterverkehrs.
=== Übergang an die LNER ===
Die Great North of Scotland Railway ging 1923 in Folge des Railways Act 1921 in der neuen London and North Eastern Railway (LNER) auf. Die LNER führte den Betrieb auf der Deeside Line zunächst weitgehend unverändert weiter. Ab 1928 verkehrten erstmals auch an Sonntagen Züge, vorwiegend jedoch auf dem Vorortabschnitt. Bis Ballater verkehrte lediglich ein Zugpaar. Im zu dieser Zeit noch stark religiös und konservativ geprägten Schottland waren Fahrten am Sonntag in weiten Kreisen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als verwerflich angesehen worden.Der Vorortverkehr bis Culter wurde von der LNER am 5. April 1937 eingestellt. Die zunehmende Konkurrenz der städtischen Straßenbahnen in Aberdeen und der diversen privaten Busunternehmen hatte die Nachfrage in den Jahren zuvor erheblich sinken lassen. Mit Ausnahme von Cults schloss die LNER auch alle Stationen zwischen Aberdeen und Culter. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs stellte die LNER den Sonntagsverkehr ein, der nach Kriegsende nicht wieder eingeführt wurde.
=== Stilllegung durch British Railways ===
Mit dem Transport Act 1947 verstaatlichte die damalige Labour-Regierung unter Clement Attlee das britische Verkehrswesen. Die LNER wurde mit den anderen Bahngesellschaften zu British Railways (BR) als Eisenbahnabteilung der British Transport Commission (BTC) zusammengeführt. Britisch Railways wurde in sechs Regionen aufgeteilt, mit der Scottish Region entstand erstmals eine das gesamte schottische Bahnnetz verwaltende Institution. Auf die Deeside Line hatte dies zunächst keine nennenswerten Auswirkungen. Lediglich bei den eingesetzten Lokomotiven kamen schrittweise neben früheren Klassen der GNSR und der LNER auch Lokomotiven anderer BR-Vorgängergesellschaften und Neubauten zum Einsatz. 1951 baute BR zudem das zweite Gleis zwischen Ferryhill Jct. und Park ab, das schon seit der Einstellung der Vorortzüge vor dem Krieg nicht mehr benötigt wurde. 1958 beschaffte BR versuchsweise einen Akkumulatortriebwagen und setzte ihn auf der Deeside Line ein, nachdem in Aberdeen und Ballater entsprechende Ladestationen gebaut worden waren. Vom Personal erhielt das neuartige Fahrzeug den Spitznamen „The Sputnik“. 1962 wurde der Akkutriebwagen durch Dieseltriebwagen ersetzt, nachdem er sich als sehr störanfällig erwiesen hatte. Ein Jahr zuvor wurde in Banchory der etwas günstiger zur Bebauung liegende Halt Dee Street in Betrieb genommen.
Ende der 1950er Jahre geriet British Railways in eine Krise. Hatte BR 1952 noch Gewinn gemacht, so belief sich der jährliche Verlust 1961 auf gut 86,9 Mio. Pfund Sterling. Richard Beeching, der neue BR-Vorsitzende, erhielt den Auftrag, Pläne zur Umstrukturierung des britischen Eisenbahnnetzes aufzustellen. Im März 1963 legte er seinen entsprechenden Bericht vor, der vor allem die Einstellung unrentabler Strecken vorsah. Die Umsetzung der Empfehlungen des Berichts wurde als Beeching-Axt bekannt und reduzierte das britische Eisenbahnnetz um gut 6000 km Strecken und 3000 Bahnhöfe. Die Deeside Line wurde ebenfalls als eine der einzustellenden Strecken aufgelistet. Bereits im Mai 1963 gab es in Aboyne eine erste Versammlung von lokalen Interessenvertretern und Gemeinden. In der Folge gründete sich das Deeside Railway Preservation Committee, das sich für den Erhalt der Strecke einsetzte. Das British Railways Board beabsichtigte ursprünglich bereits die Stilllegung zum 2. März 1964. Aufgrund der lokalen Widerstände wurde die Entscheidung bis nach einer Anhörung des zuständigen schottischen Transport Users’ Consultative Committee (TUCC) verschoben. Die Anhörung ergab ein Unentschieden zwischen den acht Mitgliedern des TUCC, woraufhin der damalige Verkehrsminister Tom Fraser entschied, die Strecke stillzulegen, da ja den Bedenken der Stilllegungsgegner mit der Einführung zusätzlicher Busverbindungen Rechnung getragen würde.Der Personenverkehr endete schließlich am 26. Februar 1966 zwischen Aberdeen und Ballater. Formell wurde die Strecke erst ab 28. Februar eingestellt, der 26. Februar war jedoch ein Samstag und der Sonntagsverkehr war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht wieder eingeführt worden. Wenige Monate später endete am 15. Juli 1966 der Güterverkehr zwischen Culter und Ballater. Ende des Jahres verkehrte schließlich am 30. Dezember 1966 der letzte Güterzug zwischen Aberdeen und Culter. In den folgenden Jahren wurde die Strecke schrittweise abgebaut, die letzten Gleise verschwanden Anfang der 1970er Jahre.
== Gegenwart und Zukunft ==
Weite Teile der Trasse blieben erhalten und wurden zum Deeside Way umgewidmet, einem Rad- und Wanderweg zwischen Aberdeen und Ballater, der weitgehend der Eisenbahntrasse folgt. Lediglich im Abschnitt zwischen Banchory und Aboyne führt der Deeside Way nicht entlang der alten Trasse, sondern direkt am Ufer des Dee.An einzelnen Stellen, wie etwa in Banchory, ist die Trasse mit Gebäuden überbaut worden. Viele Kunstbauten sind erhalten geblieben, ein Teil wurde jedoch im Laufe der Jahre abgerissen, so 1989 der Viadukt über den Beltie Burn. Ein Teil der erhaltenen Bauwerke steht unter Denkmalschutz, so etwa der Bahnhof Ballater, der Bahnhof Aboyne und die Milton of Crathes Railway Bridge.1996 wurde von Eisenbahnenthusiasten die Royal Deeside Railway mit dem Ziel gegründet, auf einem Abschnitt der Strecke wieder Gleise zu verlegen und als Museumsbahn zu betreiben. Sie führt seit 2010 auf einem etwa 1,5 Kilometer langen wiederaufgebauten Abschnitt zwischen Crathes und einem neuen Haltepunkt Riverside Halt östlich von Banchory Museumsverkehr durch.Der Erfolg der 2016 in Betrieb gegangenen Borders Railway südlich von Edinburgh, die auf der Trasse der im Zuge der Beeching-Axt stillgelegten Waverley Line neu entstand, beförderte Pläne zur Reaktivierung abgebauter Strecken auch in anderen Teilen Schottlands. Im April 2021 gründete sich im Nordosten Schottlands eine Initiative zum Wiederaufbau mehrerer stillgelegter Zweigstrecken. Im Kern soll rund um Aberdeen ein neues Netz für Personenverkehr aufgebaut werden, darunter auch der Abschnitt der Deeside Line bis Banchory. Züge sollen durchgehend zwischen Banchory und Fraserburgh bzw. Peterhead verkehren, beides Endpunkte von Strecken, die in der Beeching-Ära stillgelegt wurden. Unterstützt wird die Initiative von regionalen Politikern aller im schottischen Parlament vertretenen Parteien.
== Streckenbeschreibung ==
=== Verlauf ===
Die Deeside Line verließ den Bahnhof von Aberdeen gemeinsam mit der Strecke nach Dundee in Richtung Süden und trennte sich in Ferryhill Junction von ihr, kurz bevor die Strecke nach Dundee den River Dee überquert. Dieser ehemalige Betriebsbahnhof diente nach der Eröffnung der Strecke kurzzeitig als Endpunkt der Deeside Railway. Ab dort wendete sich die Bahnstrecke nach Südwesten und verlief bis Ballater entlang des Dee, wobei sie immer auf dessen Nordufer blieb. Lediglich zwischen Banchory und Aboyne verließ die Strecke das unmittelbare Tal des Dee und verlief einige Kilometer nördlich des Flusses. Dadurch besaß die Strecke wenige größere Kunstbauten, zu nennen sind lediglich ein kurzer Tunnel westlich des Bahnhofs Aboyne unter der A93 sowie ein fünfbögiger Viadukt bei Torphins über den Beltie Burn, einen Nebenfluss des Dee.
=== Betriebsstellen ===
==== Aberdeen ====
Der heutige Bahnhof von Aberdeen wurde 1867 eröffnet und ersetzte als Durchgangsbahnhof die früheren getrennten Kopfbahnhöfe der GNSR und der Caledonian Railway. Anfängliche Planungen für einen eigenen Bahnhof der Deeside Railway wurden nie umgesetzt, ab 1854 wurde der Kopfbahnhof Guild Street der SNER mitgenutzt. Der heutige Bahnhof trug in den ersten Jahrzehnten den Namen Aberdeen Joint Station. Ursprünglich war er mit lediglich drei Durchgangsgleisen ausgestattet, hinzu kamen je vier von Norden und Süden nutzbare Kopfgleise, letztere dienten auch den Zügen auf der Deeside Line. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg begann ein umfassender Umbau des Bahnhofs, die Durchgangsgleise wurden auf fünf aufgestockt. Infolge der drastischen Reduzierung des Streckennetzes rund um Aberdeen wurde die Zahl der Bahnhofsgleise in den 1970er Jahren deutlich reduziert. Nach einem nochmaligen Umbau in den 1980er Jahren verblieben lediglich fünf Bahnsteiggleise für den Personenverkehr. Anfang des 21. Jahrhunderts wurde der Bahnhof in das große, auf dem ehemaligen Güterbahnhof errichtete Einkaufszentrum Union Square einbezogen.
==== Ferryhill Junction ====
Im Bereich des Abzweigs der Deeside Line entstand der erste provisorische Bahnhof von Aberdeen. Nach Fertigstellung des SNER-Bahnhofs an der Guild Street diente Ferryhill als Vorbahnhof mit Abstellanlagen. Regulär fand hier kein Personenverkehr statt, jedoch nutzten die Hofzüge der britischen Monarchen jahrzehntelang die Gleise von Ferryhill, um dort Kopf zu machen.
==== Holburn Street ====
Der Haltepunkt wurde 1894 für den neu eingerichteten Vorortverkehr nach Culter eingerichtet. Er besaß zwei Außenbahnsteige an der hier zweigleisigen Strecke. Mit der Einstellung des Vorortverkehrs 1937 wurde der Haltepunkt ebenfalls geschlossen. Die Bahnsteigkanten blieben erhalten und flankieren den auf der Trasse der Deeside Line eingerichteten Fußweg. Die Deeside Line querte die namensgebende Holburn Street über eine Brücke, die nach Einstellung der Strecke abgerissen wurde. In ihrer Lage befindet sich inzwischen eine Fußgängerbrücke. 1906 wurde König Eduard VII. bei einem Besuch von Aberdeen in der Station empfangen und von dort mit der Kutsche durch die festlich geschmückten Straßen zur Einweihung des Marischal College der University of Aberdeen gefahren.
==== Ruthrieston ====
Ruthrieston wurde wenige Jahre nach Eröffnung der Deeside Line in Betrieb genommen. Geschlossen wurde die Station mit der Einstellung des Vorortverkehrs 1937. Zuletzt besaß die Station zwei Seitenbahnsteige, anfänglich vorhandene Gütergleise waren bereits früher entfernt worden. Die nördliche Bahnsteigkante ist erhalten geblieben.
==== Pitfodels ====
Pitfodels erhielt seinen Eisenbahnanschluss mit der Aufnahme des Vorortverkehrs 1894, die Station besaß zwei Seitenbahnsteige und ein kleines hölzernes Bahnhofsgebäude. 1937 endete der Vorortverkehr und die Station wurde geschlossen. Das Bahnhofsgebäude blieb erhalten und wird nach umfassender Sanierung für Wohnzwecke genutzt.
==== Cults ====
Der Aberdeener Vorort Cults besaß bereits seit Eröffnung der Strecke einen Bahnhof. Als einzige Zwischenstation zwischen Aberdeen und Culter wurde er nach Einstellung des Vorortverkehrs 1937 weiter von den durchgehenden Zügen nach Banchory und Ballater bedient. Das Bahnhofsgebäude und die Bahnsteigkanten der beiden Seitenbahnsteige sind erhalten geblieben.
==== West Cults ====
West Cults wurde mit der Einrichtung des Vorortverkehrs 1894 in Betrieb genommen, die Station besaß zwei Seitenbahnsteige und ein kleines Bahnhofsgebäude. Eine der Bahnsteigkanten ist erhalten geblieben. 1937 wurde die Station für den Personenverkehr geschlossen.
==== Bieldside ====
Der Vorort Bieldside erhielt seine Station 1897, wenige Jahre nach Einrichtung des Vorortverkehrs. Wie die übrigen Vorortstationen besaß die Station zwei Seitenbahnsteige und ein kleines Bahnhofsgebäude. Die Einstellung des Vorortverkehrs bedeutete auch das Ende für den Personenverkehr in Bieldside, die beiden Bahnsteigkanten sind jedoch erhalten geblieben.
==== Murtle ====
Der Bahnhof von Murtle entstand mit der Eröffnung der ersten Teilstrecke der Deeside Line 1853. Nachdem die Strecke zweigleisig ausgebaut worden war, besaß der Bahnhof zwei Seitenbahnsteige sowie einige Gütergleise. Mit der Einstellung des Vorortverkehrs 1937 wurde Murtle für den Personenverkehr geschlossen, Bahnsteigkanten und das kleine hölzerne Bahnhofsgebäude blieben erhalten.
==== Milltimber ====
Milltimber erhielt ein Jahr nach Eröffnung der Deeside Line einen Bahnhof, der ein Bahnsteiggleis und einige Gütergleise besaß. Mit dem zweigleisigen Ausbau der Strecke erhielt der Bahnhof zwei Seitenbahnsteige, die westlich des bisherigen Bahnhofs angelegt wurden, der lediglich noch dem Güterverkehr diente. 1937 endete der Personenverkehr mit der Einstellung des Vorortverkehrs von Culter nach Aberdeen, für den Güterverkehr blieb der Bahnhof noch einige Jahre in Betrieb.
==== Culter ====
Der Bahnhof von Culter wurde zusammen mit der Strecke bereits 1853 in Betrieb genommen. Wie der Nachbarbahnhof in Milltimber besaß er zunächst lediglich ein Bahnsteiggleis und ein paar Gütergleise. Der zweigleisige Ausbau führte auch in Culter zu einer Verlegung, der Bahnhof wurde für den Personenverkehr etwas nach Osten, in eine ortsnähere Lage verschoben. Ab 1894 diente Culter als Endbahnhof des Vorortverkehrs von Aberdeen. Hierfür besaß der Bahnhof Abstellgleise. Am Standort des ersten Bahnhofs verblieben die Gütergleise. Westlich führte eine Anschlussbahn vom Bahnhof zur Papierfabrik von Culter. Die Papierfabrik besaß eigene Werkslokomotiven und sorgte bis zur Schließung der Deeside Line für ein erhebliches Güteraufkommen.
==== Drum ====
Drum erhielt seinen Bahnhof 1854, ein Jahr, nachdem die Strecke bis Banchory in Betrieb gegangen war. Die Umgebung war ländlich geprägt und abseits größerer Siedlungen. Zunächst besaß die Station lediglich einen Bahnsteig und ein Kreuzungsgleis, erhielt aber bald einen zweiten Bahnsteig. Mit dem zweigleisigen Ausbau 1899 bekam Drum ein Stellwerk. 1951 baute British Railways das zweite Streckengleis ab, das nach der Einstellung des Vorortverkehrs nicht mehr benötigt wurde. Zeitgleich wurde Drum für den Personenverkehr geschlossen und das Stellwerk abgebaut, es blieb lediglich noch einige Jahre ein Gütergleis erhalten. Das Stationsgebäude dient heute als Wohnhaus, auch die Straßenbrücke über das Bahnhofsareal existiert noch.
==== Park ====
Der Bahnhof Park liegt nicht in der namensgebenden, etwa einen Kilometer westlich liegenden Ansiedlung, sondern in der Ortschaft Drumoak. Er wurde zusammen mit der Strecke erbaut und lag damals abseits größerer Siedlungen. Zunächst besaß der Bahnhof lediglich einen Bahnsteig und ein Gütergleis. 1894 erhielt er ein Kreuzungsgleis und einen zweiten Bahnsteig sowie zwei Stellwerke. Ab 1899 war Park Endpunkt des zweigleisigen Abschnitts ab Aberdeen. Der Bahnhof blieb bis zur Einstellung der Strecke 1966 in Betrieb, das Bahnhofsgebäude blieb bis heute erhalten. Um den Einzugsbereich des Bahnhofs zu erweitern, ließ die Deeside Railway Company 1854 südlich von Drumoak eine Brücke über den Dee errichten. Für die Nutzung der Brücke erhob die Bahngesellschaft eine Maut, dies wurde auch von den GNSR und LNER so beibehalten. Erst in den 1950er Jahren beendete British Railways diese Praxis, die Deebrücke war zu dieser Zeit die letzte Mautbrücke in Aberdeenshire.
==== Mills of Drum ====
Mills of Drum bestand lediglich aus einem Bahnsteig. Bereits 1863 wurde die 1853 zusammen mit der Strecke in Betrieb genommene Station wieder geschlossen, nachdem weiter westlich der Bahnhof Crathes für den Publikumsverkehr in Betrieb gegangen war.
==== Crathes ====
Da die Strecke über seine Ländereien führen sollte, konnte James Horn Burnett, 10th Baronet, der damalige Besitzer von Crathes Castle, 1853 den Bau eines privaten Haltepunkts und den fakultativen Halt aller Züge in Crathes durchsetzen. Zehn Jahre später wurde der private Haltepunkt in einen öffentlichen Bahnhof umgewandelt und geringfügig in Richtung Osten verlegt. 1891 erhielt der Bahnhof ein Stellwerk, das 1954 wieder außer Betrieb ging, die Weichen und Signale wurden seitdem örtlich bedient. Das Stationsgebäude und das Stellwerk sind erhalten geblieben. Seit Beginn der 2000er Jahre hat die Royal Deeside Railway westlich des alten Bahnhofs für ihren Museumsbahnbetrieb neue Gleisanlagen und einen neuen Bahnhof unter dem Namen Milton of Crathes eingerichtet.
==== Banchory ====
Der erste, 1853 als Endpunkt der Deeside Line erbaute Bahnhof von Banchory wurde bereits 1859 im Zuge der Verlängerung der Strecke nach Aboyne umgebaut und etwas nach Westen verlegt. Neben zwei Bahnsteigen an den Durchgangsgleisen besaß der Bahnhof noch einen Bahnsteig an einem aus Richtung Aberdeen erreichbaren Stumpfgleis. Auf der Südseite bestanden verschiedene Güterverkehrsanlagen. Zudem errichtete die Deeside Railway einen Lokomotivschuppen, der in späteren Jahren als Werkstatt genutzt wurde. 1902 wurde der Bahnhof umfangreich umgebaut und erweitert, die GNSR ließ auch ein neues Empfangsgebäude und einen neuen Lokomotivschuppen erbauen. Nach Stilllegung der Strecke wurden die meisten Gebäude in den 1970er Jahren abgerissen. Das Bahnhofsgelände wurde mit Wohngebäuden überbaut, erhalten blieb lediglich am Ostende des Geländes der inzwischen gewerblich genutzte erste Lokomotivschuppen.
==== Dee Street ====
Der Haltepunkt Dee Street wurde 1961 errichtet, um den Westteil von Banchory besser zu erschließen. Er erhielt lediglich eine kurze hölzerne Plattform als Bahnsteig, die über eine auf dem Bahndamm errichtete Holztreppe zugänglich war. Die Länge des von einer einzelnen Lampe beleuchteten Bahnsteigs betrug lediglich 29 Fuß (umgerechnet knapp neun Meter), damit war der Zu- und Ausstieg nur an einer Tür der zu dieser Zeit eingesetzten Triebwagen möglich.
==== Glassel ====
Die Station Glassel lag abseits größerer Siedlungen und bediente lediglich einige Farmen und Cottages. Sie besaß einen Bahnsteig am Streckengleis und ein Ladegleis für den Güterverkehr. Das Stationsgebäude ist erhalten und wird für Wohnzwecke genutzt.
==== Craigmyle House ====
In der Nähe dieses Landsitzes wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Eröffnung der Strecke ein Bahnsteig für dessen Bewohner und Gäste angelegt. Der Halt wurde nur in internen Fahrplanunterlagen und nicht in den öffentlichen Fahrplänen aufgeführt, die Personenzüge hielten lediglich auf Anforderung des Besitzers und seiner Gäste. 1887 endete die Bedienung dieses nichtöffentlichen Halts.
==== Torphins ====
Der Bahnhof der kleinen Ortschaft Torphins besaß Kreuzungsgleise und zwei Seitenbahnsteige, ergänzt um ein paar Gütergleise auf der Westseite des Bahnhofs. Zwei Stellwerke waren vorhanden und wurden 1966 zusammen mit dem Bahnhof und der Strecke geschlossen. Das Bahnhofsgelände wurde weitgehend beräumt und für Wohnzwecke neu bebaut. Erhalten ist noch das Wohnhaus des Stationsvorstehers.
==== Lumphanan ====
Der Bahnhof von Lumphanan besaß Kreuzungsgleise und zwei Seitenbahnsteige sowie einige Gütergleise auf der Südseite des Bahnhofs. Es gab ein Stellwerk, das 1966 zusammen mit dem Bahnhof und der Strecke geschlossen wurde. Das Bahnhofsgelände wurde weitgehend beräumt und teilweise für Wohnzwecke neu bebaut.
==== Dess ====
Die Station Dess lag abseits größerer Ansiedlungen und bediente lediglich einzelne Farmen und Cottages. Außer dem Streckengleis, auf dessen Westseite der Bahnsteig lag, existierte lediglich ein Ladegleis für den Güterverkehr. Das Stationsgebäude entsprach der auch in Glassel, Torphins und Lumphanan verwendeten Bauform. Es ist erhalten und wird für Wohnzwecke genutzt.
==== Aboyne Loch ====
Dieser auch als Aboyne Curlers Platform bezeichnete Halt bestand lediglich aus einem provisorischen Bahnsteig und wurde vor allem von Ausflugszügen und an Samstagen bedient. Im Sommer war der benachbarte Loch of Aboyne Ziel für Ausflügler aus Aberdeen, im Winter war der See ein Zentrum des Curlingsports, auf dem auch Wettbewerbe stattfanden, zu denen Sonderzüge verkehrten. Der Halt wurde 1939 infolge des Kriegsbeginns geschlossen und nach dem Krieg nicht wieder eingerichtet.
==== Aboyne ====
Der Bahnhof von Aboyne diente seit seiner Eröffnung 1859 bis 1866 als Endpunkt. Er erhielt daher neben einem Stationsgebäude und Güteranlagen auch einen Lokomotivschuppen. 1895 wurde der Bahnhof umfassend umgebaut und erhielt ein neues Stationsgebäude mit einem großen Bahnsteigdach für den Hausbahnsteig. Der Lokomotivschuppen und die auf der Südseite liegenden Güterverkehrsanlagen wurden abgebaut, neue Güteranlagen entstanden auf der Nordseite des Bahnhofs östlich des Empfangsgebäudes. Zwei Stellwerke wurden am West- und Ostende erbaut. Das Stellwerk am Westende wurde bereits 1920 wieder geschlossen, der Bahnhof wurde seitdem vom östlichen Stellwerk alleine bedient. Während die für den Güterverkehr genutzten Flächen beräumt und neu bebaut wurden, blieb das Bahnhofsgebäude erhalten. Es stand einige Jahre leer und verfiel, wurde aber in den 1980er Jahren saniert und wird seitdem als Teil eines Einkaufszentrums genutzt.
==== Dinnet ====
Der Bahnhof von Dinnet war der einzige Kreuzungsbahnhof zwischen Aboyne und Ballater und besaß zwei Durchfahrtsgleise mit Seitenbahnsteigen. Direkt westlich des Bahnhofsgebäudes trennte ein Bahnübergang die Bahnsteige von den weiter westlich liegenden Gütergleisen. Seit 1894 besaß der Bahnhof zwei Stellwerke, eines davon wurde 1928 geschlossen und die Funktionen im westlichen der beiden zusammengeführt. Das Stationsgebäude ist erhalten geblieben und dient der angrenzenden Dinnet Estate für Bürozwecke.
==== Cambus O’ May ====
Zehn Jahre nach Inbetriebnahme der Strecke ging 1876 die Station Cambus O’ May in Betrieb. Sie liegt in einem großen Waldgebiet direkt am Nordufer des Dee, in der Umgebung befinden sich lediglich einige Cottages. Neben dem Seitenbahnsteig am Streckengleis besaß die Station lediglich noch ein östlich abzweigendes Ladegleis, das für einen in der Nähe befindlichen Steinbruch genutzt wurde. In den letzten Jahren des Betriebs wurde der Halt lediglich noch bei Bedarf bedient. Das hölzerne Stationsgebäude blieb nach der Einstellung der Strecke erhalten und wird als Wochenendhäuschen genutzt, erhalten ist ebenso auch der Bahnsteig.
==== Ballater ====
Der Bahnhof in Ballater ging mit Fertigstellung der Strecke am 17. Oktober 1866 in Betrieb. Ursprünglich nur mit einfachen Abfertigungsgebäuden ausgestattet, erhielt er 1886 das heute noch bestehende, einstöckige und aus Holz erbaute Empfangsgebäude mit dem königlichen Salon für Queen Victoria. Aufgrund der Planungen für die Weiterführung der Strecke in Richtung Braemar wurden die Gleisanlagen baulich als Durchgangsbahnhof angelegt. Westlich des Bahnhofs überspannt eine von der A93 genutzte Brücke die Trasse der geplanten Strecke. Bis zur Stilllegung lag unter der Brücke noch ein Ausziehgleis bis zum westlich der Brücke gelegenen Streckenende. Neben dem mit einem großen hölzernen Dach überdeckten Hausbahnsteig war ursprünglich noch die Anlage eines weiteren Seitenbahnsteigs auf der nördlichen Seite des Bahnhofs vorgesehen. An dieser Stelle entstanden schließlich mehrere Gütergleise und Schuppen. Östlich des Empfangsgebäudes erhielt der Bahnhof noch einen weiteren Bahnsteig an einem Stumpfgleis. Für die Abstellung des Royal Train während der Aufenthalte der Monarchen in Balmoral verfügte der Bahnhof über mehrere Wagenschuppen, ebenso vorhanden waren ein bis zur Betriebseinstellung 1966 genutzter Lokomotivschuppen und eine Drehscheibe.
Alle britischen Monarchen nutzten den Bahnhof während der Existenz der Strecke für ihre Reisen von und nach Balmoral, oft mit Empfang und Verabschiedung mit militärischem Zeremoniell. Ebenso kamen diverse andere Herrscher bei Besuchsfahrten nach Balmoral in den Bahnhof, darunter Zar Nikolaus II. und Nāser ad-Din Schāh von Persien.
Nach Einstellung der Strecke wurden die Gleise bis Anfang der 1970er Jahre abgebaut. Seit 1994 stehen der Hausbahnsteig und das Empfangsgebäude unter Denkmalschutz. Das Ensemble ist in die Denkmallisten von Historic Scotland in der Kategorie B aufgeführt. Im Empfangsgebäude sind seitdem die örtliche Touristeninformation und ein Café eingerichtet. Das königliche Wartezimmer und der Hausbahnsteig werden als Museum genutzt. Auf dem Hausbahnsteig ist der Wagenkasten des Salonwagens von Queen Victoria als genauer Nachbau des im National Railway Museum befindlichen Originals aufgestellt. Im Mai 2015 brannte das Bahnhofsgebäude ab und wurde weitgehend zerstört. Der Wiederaufbau konnte im August 2018 abgeschlossen werden, seitdem wird das Empfangsgebäude wieder als Touristeninformation, Café und Museum genutzt.
== Verkehrsangebot ==
Die Deeside Line wurde von Beginn an im Personen- und Güterverkehr bedient. Zwar hatte die Bahngesellschaft kaum Vorsorge für den Güterverkehr getroffen und die Nachfrage deutlich unterschätzt, dies wurde jedoch schnell korrigiert. Der Personenverkehr bestand aus dem regulären Fahrplanangebot sowie einem vor allem in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sehr umfangreichen Zusatzangebot an Ausflugszügen (Excursion trains). Über Jahrzehnte verkehrten zudem Messenger trains, mit denen Queen’s Messengers bzw. King’s Messengers für die britischen Monarchen während ihrer Aufenthalte in Balmoral Castle die nötigen Depeschen, Dokumente und Briefe zwischen London und Balmoral transportierten. Bis zur Betriebseinstellung waren die regelmäßigen Fahrten des Royal Train eine Besonderheit der Strecke, hinzu kamen Sonderzüge für ausländische Monarchen und andere hochrangige Besucher.
Wiederholt wurde der Verkehr auf der Deeside Line durch die Witterungsbedingungen im Winter beeinträchtigt. Schneeverwehungen und Eis sorgten mehrfach für Betriebsunterbrechungen. Im Januar 1960 musste der Verkehr aufgrund starker Schneefälle über eine Woche eingestellt werden.
=== Regulärer Personenverkehr ===
Mit Betriebsaufnahme der Strecke zwischen Aberdeen und Banchory bot die Deeside Railway zunächst drei Zugpaare an Werktagen an, die alle Zwischenhalte bedienten. Ab Juni 1854 verkehrten vier Zugpaare. Bereits wenige Wochen nach der Eröffnung setzte die Deeside Railway Company einen ersten gesonderten Ausflugszug (Excursion train) ein, für den vergünstigte Rückfahrkarten angeboten wurden. Die Züge hatten von Beginn an nur Wagen der ersten und dritten Wagenklasse, was eine Besonderheit aller Bahngesellschaften in Nordostschottland war. Die zweite Klasse wurde nie eingeführt, erst mit der Abschaffung des europaweiten Dreiklassensystems im Jahr 1956 kam die zweite Klasse zur Anwendung. Sonntags verkehrten keine Züge. Schottland war zu dieser Zeit stark durch die Church of Scotland geprägt, die die Sonntagsruhe hochhielt. Vergnügungsausflüge an Sonntagen wurden in der damaligen Gesellschaft vielfach als verwerflich angesehen. Abgesehen von den auch an Sonntagen verkehrenden Messenger trains sollte die Deeside Line lediglich zwischen 1928 und 1939 regelmäßigen Sonntagsverkehr aufweisen.Die Verlängerung von Banchory bis Aboyne ging 1859 in Betrieb, drei der vier Zugpaare wurden bis Aboyne verlängert. Ein Jahr später stockte die Deeside Railway das Angebot im Sommer auf sechs Zugpaare bis Banchory und vier bis Aboyne auf, im Winter blieb es beim bisherigen Angebot. Im Sommer wurde das Angebot zudem im gesonderte Ausflugszüge ergänzt, die teils beträchtliche Wagenlängen erreichten – bei einer Gelegenheit soll ein solcher Excursion train aus 37 Wagen bestanden haben. 1866 wurde die Strecke bis Ballater verlängert, der neue Abschnitt wurde mit drei Zugpaaren Aberdeen – Ballater bedient. Je ein weiteres Zugpaar verkehrte bis Aboyne und Banchory. Die Züge bedienten in der Regel alle Unterwegshalte und benötigten zwischen 21/4 und 21/2Stunden für die Gesamtstrecke zwischen Aberdeen und Ballater.1880 führte die Great North of Scotland Railway erstmals einen beschleunigten Zug ein. Das in der Folge als „Deeside Express“ bezeichnete Zugpaar benötigte lediglich noch 1,5 Stunden und bediente nur vier Zwischenhalte. Es verkehrte nur im Sommer und verließ Aberdeen morgens gegen acht Uhr, ab Ballater fuhr der Zug am späten Nachmittag zurück. Im Winter 1884 führte der Fahrplan der Deeside Line insgesamt sechs Personenzugpaare, jeweils zur Hälfte zwischen Aberdeen und Banchory bzw. Ballater. In den Folgejahren blieb das Angebot weitgehend gleich, ab 1891 wurde ein Zugpaar ab Banchory bis Ballater verlängert. Im Sommer wurden jeweils mehr Züge eingesetzt, vor allem an Samstagen kamen noch Ausflugszüge hinzu.Nachdem die GNSR 1887 bereits Vorortverkehre auf der Strecke in Richtung Inverness zwischen Aberdeen und Dyce eingeführt hatte, setzte sie ab Juli 1894 auch auf der Deeside Line Vorortzüge zwischen Aberdeen und Culter ein, nachdem die Strecke auf diesem Abschnitt zweigleisig ausgebaut worden war. Sie richtete dazu drei neue Zwischenstationen ein, mit Bieldside folgte 1897 ein weiterer Zwischenhalt. Zehn Züge verkehrten zwischen Aberdeen und Culter, neun in der Gegenrichtung, die etwas über zwanzig Minuten benötigten. Die nur an Werktagen eingesetzten Züge wurden gut angenommen und die GNSR baute die Zugzahl in den Folgejahren aus. 1904 verkehrten bereits 19 Zugpaare, die umgangssprachlich als Subbies (von Suburban trains) bezeichnet wurden. Die durchgehenden Zugpaare nach Ballater hielten seitdem nicht mehr auf dem Vorortabschnitt. Neben den sommerlichen Ausflugszügen bot die GNSR inzwischen auch im Winter Ausflugszüge an, die bis nach Aboyne führten und vor allem von Zuschauern und Spielern der auf dem Loch of Aboyne stattfindenden Curling-Spiele und -Wettbewerbe genutzt wurden.1914 erreichte das Angebot auf der Deeside Line seinen größten Umfang. In diesem Jahr fuhren sechs Personenzugpaare und ein Expresszugpaar zwischen Aberdeen und Ballater. Vier weitere Personenzugpaare verkehrten bis Banchory, den Vorortabschnitt bis Culter bedienten 18 Zugpaare. An Samstagen verkehrten weitere Zugpaare bis Ballater und Banchory. In diesem Jahr setzte die GNSR im „Deeside Express“, der nachmittags Aberdeen verließ, einen Slip coach nach Banchory ein. Zwischen Aberdeen und Ballater konnte der Express so auf 11/4 Stunden beschleunigt werden, bedient wurden lediglich noch die Zwischenhalte in Torphins und Aboyne. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde der Betrieb des Expresszuges und damit auch des Slip coach eingestellt. Soweit bekannt, war es der einzige Wagenkurs dieser Art, der in Großbritannien je auf einer eingleisigen Strecke eingesetzt wurde. Im Ausflugsverkehr wurden inzwischen Touren angeboten, die ab Ballater mit Bussen durch die Cairngorms bis in das Speytal und von dort per Bahn über Craigellachie und Keith zurück nach Aberdeen führten.Während des Krieges wurde der Fahrplan der Deeside Line ansonsten nur geringfügig angepasst, lediglich der Abschnitt nach Ballater wurde um zwei Zugpaare reduziert. Nach dem Krieg setzte die GNSR zwar wieder ab 1920 den „Deeside Express“ ein, allerdings ohne den Slip coach nach Banchory. Auch die zusätzlichen Samstagszüge kehrten nicht zurück in den Fahrplan, gesonderte Ausflugszüge verkehrten seitdem ebenfalls kaum noch. Die LNER, in der die GNSR nach dem Grouping 1923 aufging, änderte zunächst wenig am Fahrplan. Zum 1. Juni 1928 nahm die LNER jedoch erstmals den regulären sonntäglichen Verkehr auf. Im Vorortverkehr gab es insgesamt neun sonntägliche Zugpaare zwischen Aberdeen und Culter, drei Zugpaare verkehrten bis bzw. ab Banchory und ein Zugpaar bediente die Gesamtstrecke. An Werktagen verkehrten 19 Vorortzugpaare, vier Zugpaare zwischen Aberdeen und Banchory sowie fünf Züge von und nach Ballater. Im Winter verkehrten an Sonntagen nur die Vorortzüge, ihr Betrieb endete aber bereits wieder mit Beginn des Winterfahrplans 1930/31. 1934 nahm die NER den Sommerbetrieb der Vorortzüge wieder auf, beendete ihn aber 1936 wieder. Ein Jahr später stellte die LNER zum 5. April 1937 den gesamten Vorortverkehr rund um Aberdeen ein, private Busunternehmen und die Straßenbahn von Aberdeen hatten zunehmend Fahrgäste abgezogen.Der Sonntagsbetrieb auf der Gesamtstrecke endete nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, auch der „Deeside Express“ verschwand zu diesem Zeitpunkt aus dem Fahrplan. Während des Krieges bedienten lediglich vier werktägliche Zugpaare die Gesamtstrecke. Nach Kriegsende gab es lediglich noch drei Zugpaare. British Railways übernahm die LNER und baute das Angebot im Sommer wieder leicht auf vier Zugpaare auf. 1958 wurde das Zugangebot mit der Einführung des neuen Akkutriebwagens auf sechs werktägliche Zugpaare zwischen Aberdeen und Ballater ausgebaut. Dieses Angebot blieb bis zur Einstellung der Strecke weitgehend unverändert. Die Gesamtentwicklung kann der nachfolgenden Tabelle entnommen werden (ohne zusätzliche, an einzelnen Tagen verkehrende Zugpaare).
=== Royal Trains ===
Seitdem Königin Victoria und ihr Ehemann, Prinz Albert, Balmoral Castle erworben hatten, verbrachten sie fast jedes Jahr den Spätsommer und Herbst dort. Nach dem Tod von Prinz Albert zog sich die Königin regelmäßig für längere Zeit nach Balmoral zurück und verbrachte im Frühjahr und Herbst jeweils mehrere Wochen bis Monate dort. Wie ihre Nachfolger nutzte sie für die Fahrten nach Balmoral Castle regelmäßig den Royal Train auf der Deeside Line. Königliche Besucher von Balmoral Castle nutzten die Strecke ebenfalls, wie auch andere Politiker und Staatsmänner.
Erstmals fuhr die Königin mitsamt ihrer Familie am 13. Oktober 1853, etwa einen Monat nach Eröffnung der Deeside Line, mit dem Royal Train ab Banchory zurück nach London. In Banchory und Aberdeen umlagerten Schaulustige die Bahnhöfe, die örtlichen Honoratioren und Ehrengarden standen jeweils bereit. Es war jedoch nicht die erste königliche Fahrt, zwei Tage zuvor hatte bereits Victoria, Duchess of Kent, die Mutter der Königin, in Banchory einen Sonderzug nach London bestiegen. Ab 1860 reduzierte sich die per Kutsche zurückzulegende Strecke auf den Abschnitt zwischen Aboyne und Balmoral. Obwohl der Abschnitt bis Ballater 1866 in Betrieb gegangen war und bereits am 20. und 24. September, einen Monat vor der regulären Betriebsaufnahme ein Royal Train für den Prince of Wales und seine Frau bis bzw. ab Ballater fuhr, fuhr Königin Victoria 1867 zunächst noch per Kutsche bis bzw. ab Aboyne. Ab dem Folgejahr fuhr der Royal Train mit der Königin jedoch regelmäßig bis bzw. ab Ballater. In Ballater entstanden in der Folgezeit gesonderte Abstellgleise und Wagenschuppen für die Wagen des königlichen Zugs. Ab 1861 verbat sich die um ihren Mann trauernde Königin jedoch umfangreiche Begrüßungen und Empfänge unterwegs, ihre Züge wechselten daher in Aberdeen nicht in der Aberdeen Joint Station die Fahrtrichtung, sondern im Vorbahnhof von Ferryhill. Letztmals fuhr Königin Victoria am 7. November 1900 in Ballater ab, wenige Monate vor ihrem Tod am 22. Januar 1901 in Osborne House.Ihr Sohn und Nachfolger, König Eduard VII., besuchte Balmoral nur einmal pro Jahr, zur Jagdsaison im Herbst. In Ballater inspizierte er bei der Ankunft eine vor dem Bahnhof angetretene Ehrengarde, seine Nachfolger behielten dies bei. Eduard VII. machte von Balmoral in größerem Umfang Ausflüge, für die der Royal Train bereitgestellt wurde. Die GNSR stellte während der Herrschaft von Eduard VII. mehrfach Wagen für den Royal Train, er fuhr damit bspw. zu den Pferderennen nach Doncaster oder von einer Fahrt mit der königlichen Jacht ab Invergordon zurück nach Ballater. Königin Alexandra, seine aus Dänemark stammende Frau, nutzte den Royal Train jährlich ab Ballater für Fahrten nach Dundee, von wo sie mit der königlichen Jacht zum Familienbesuch nach Kopenhagen fuhr. Am 11. Oktober 1909 fuhr König Eduard VII. letztmals ab Ballater zurück nach London. Während seiner Herrschaft fuhren mehr königliche Züge auf der Deeside Line als unter allen anderen Monarchen.König Georg V. trat 1910 die Nachfolge seines Vaters an und behielt dessen Reisegewohnheiten weitgehend bei. Erstmals fuhr er am 9. August 1910 als Monarch über die Deeside Line, mit 12 Wagen war es der längste jemals über die Strecke gefahrene Royal Train. Ab 1914 fielen seine Besuche jedoch dem Ersten Weltkrieg zum Opfer, Fahrten des Royal Train nach Schottland hatten in dieser Zeit nur Stützpunkte der Royal Navy, wie etwa Scapa Flow oder in Rosyth zum Ziel. Ab August 1919 kam Georg V. wieder regelmäßig im Spätsommer und Herbst nach Balmoral. Die Züge wechselten ab 1920 ihre Lokomotiven nicht mehr in Ferryhill, sondern im Bahnhof von Aberdeen. Wie sein Vater machte Georg V. zudem gelegentlich Fahrten ab Balmoral zu Zielen in Schottland, so 1929 nach Aberdeen zur Einweihung eines Museums. Seine letzte Fahrt fand am 27. September 1935 ab Ballater statt.Auch seine Söhne Eduard VIII. und Georg VI. fuhren mit dem Royal Train über die Deeside Line. Eduard VIII. verbrachte während seiner kurzen Regentschaft lediglich eine Woche im September 1936 in Balmoral, begleitet von seinem Bruder. Ein Jahr später trat dieser am 4. August seine erste Fahrt als regierender Monarch nach Balmoral an – allerdings ab Aberdeen mit dem Auto. Auch im Folgejahr nutzte Georg VI. die Straße, bis Aberdeen war er zudem per Schiff und nicht wie sonst üblich per Zug gefahren. Zur Beisetzung seines Cousins Arthur of Connaught fuhr Georg VI. am 15. September 1938 ab Ballater lediglich mit einem an einen regulären Zug angehängten Sonderwagen. Erst 1939 fuhr er am 1. August mit seiner Familie erstmals seit seiner Thronbesteigung mit dem Royal Train über die Deeside Line. Der Zweite Weltkrieg führte dazu, dass Georg VI. erst sechs Jahre später, am 25. August 1945, wieder mit dem Zug nach Ballater kam. In den Folgejahren verbrachten Georg VI. und seine Frau Elizabeth, ähnlich wie Königin Victoria, jeweils im Frühjahr und Herbst mehrere Wochen in Balmoral und nutzten zur An- und Abreise regelmäßig den Zug. Sein schlechter Gesundheitszustand führte dazu, dass Georg VI. seine letzte Rückreise nach London am 15. September 1951 kurzfristig per Flugzeug ab Aberdeen Airport antrat.
Königin Elisabeth II. blieb der Strecke mit dem Royal Train bis kurz vor der Einstellung im Februar 1966 treu, fuhr aber wie ihr Vater vor dem Krieg gelegentlich mit dem Auto ab Perth oder Aberdeen nach Balmoral, oft mit ihrem Mann, Prinz Philip, am Steuer. 1962 wurde der Royal Train letztmals mit einer Dampflokomotive bespannt. Ihre letzte Fahrt absolvierte Elisabeth II. am 15. Oktober 1965 ab Ballater.
Neben den britischen Monarchen nutzten auch andere Herrscher und Staatsmänner bei Besuchen in Balmoral die Deeside Line. Erster Gast dieser Art war Nāser ad-Din Schāh, der Schah von Persien. Er reiste am 19. Juli 1889 nach Balmoral und verließ es wieder am 22. Juli. 1896 besuchte der mit einer Enkelin von Königin Victoria verheiratete russische Zar Nikolaus II. seine britische Verwandtschaft. Die Beziehungen zwischen dem British Empire und dem Zarenreich waren zu dieser Zeit nicht besonders gut (The Great Game), auch galt der Zar vielen Briten als Willkürherrscher und Despot. Sein Sonderzug nach Ballater am 22. September und der Zug für die Rückfahrt am 3. Oktober unterlagen daher strengeren Sicherheitsbestimmungen als normale Fahrten des Royal Train.
=== Messenger Trains ===
Die regelmäßigen Aufenthalte von Königin Victoria in den Highlands machten eine schnelle Kurierverbindung zwischen London und Balmoral erforderlich, um ihr alle nötigen Depeschen und Briefe zu übermitteln und ihre Unterschriften unter Gesetzesakte und sonstige Dokumente einzuholen. In den ersten Jahren legte ein berittener Kurier dazu täglich von Perth, das per Nachtzug von London erreichbar war, den Weg über den Cairnwell Pass und Braemar nach Balmoral zurück, ein je nach Jahreszeit und Witterung riskanter Ritt. Die Deeside Railway schlug daher 1864 vor, morgens ab Aberdeen einen gesonderten Zug im Anschluss an den Nachtzug von London einzusetzen. Sie schloss schließlich mit dem Home Office einen entsprechenden Vertrag ab, der auch die Stellung einer Kutschenverbindung im Anschluss an die Züge umfasste. Am 8. Oktober 1865 verkehrte der erste Messenger train um 4:00 Uhr morgens ab Aberdeen und erreichte Aboyne um 5:25 Uhr. Mit Eröffnung der Streckenverlängerung verkehrten ab 1866 auch die Messenger trains bis Ballater.Eine der Lokomotiven der Deeside Railway, die für die Bespannung der Messenger trains vorgesehen wurde, erhielt als Farbgebung den Royal Stewart Tartan, den auch vom Königshaus verwendeten Tartan. Es sind allerdings keine Bilder bekannt, vermutet wird, dass lediglich die Wasserkästen den Tartan erhielten. Der Zug bestand in der Regel aus einem einzelnen Wagen, der ebenfalls eine besondere Farbgebung in Purpur und Gold erhalten haben soll. Nach einiger Zeit erhielten die Messenger trains weitere Wagen und konnten von Besuchern der Königin einschließlich mitgebrachter Dienerschaft genutzt werden. Ab 1870 finanzierte das General Post Office einen Sonntagszug für den Posttransport zwischen Ballater und Aberdeen, der ab 1871 auch durch die Queen’s Messengers genutzt wurde. Ab den 1880er Jahren verkehrten während der Anwesenheit der Königin sogar zwei Sonntagszüge ab Aberdeen, einer bereits früh um 3:30 Uhr, der andere am frühen Nachmittag. Die Messenger trains führten inzwischen seit 1878 auch einen gesonderten Wagen der 1. Klasse für reguläre Passagiere und hielten ab 1882 bei Bedarf zum Aussteigen an allen Unterwegsbahnhöfen. Sie wurden auch in Bradshaw’s Railway Time Tables aufgeführt und ab Ende der 1890er Jahre um einen Wagen für Passagiere der 3. Klasse erweitert. Da an Sonntagen sowie am frühen Morgen ansonsten kein Zugverkehr bestand und die Bahnhöfe nicht besetzt waren, waren besondere Regelungen für die Signalsicherung dieser Züge erforderlich. Der Gegenzug verließ Ballater am Nachmittag so, dass der am frühen Morgen des nächsten Tages in London ankommende Nachtzug in Aberdeen sicher erreicht werden konnte.
1883 kamen die Messenger trains aufgrund eines Rechtsstreits in den Fokus der Öffentlichkeit. Der Vater von Sir Robert Burnett, dem Besitzer von Crathes Castle, hatte seinerzeit der Trassenführung der Deeside Line über seinen Grund und Boden nur unter der Maßgabe zugestimmt, dass in der Nähe seines Schlosses ein Bahnhof errichtet würde, der von allen Zügen bedient werden musste. Dies wurde in einer feu charter gemäß dem damals feudalistisch geprägten schottischen Grundrecht festgelegt. Die GNSR hatte 1882 einen regelmäßigen Ausflugszug an Samstagen eingeführt, der nur mit gesonderten Fahrkarten genutzt werden konnte und in Crathes nicht hielt. Daraufhin klagte Burnett vor dem Court of Session in Edinburgh auf Erfüllung seines Rechts. Zunächst gewann die GNSR, letztlich entschied das House of Lords aber 1885, dass alle mit regulären Tickets nutzbaren Züge, also auch die Messenger trains, in Crathes zum Ein- und Aussteigen halten mussten. Lediglich die nur mit Sondertickets nutzbaren Ausflugszüge durften durchfahren. 1914 verzichtete Sir Thomas Burnett, der Bruder und Erbe von Sir Robert, auf dieses Recht.Bis zum Ersten Weltkrieg blieben die Fahrpläne weitgehend unverändert, die Züge verkehrten jeweils nur während der Anwesenheit des Monarchen in Balmoral Castle. Während des Krieges verzichtete König Georg V. auf Urlaubsreisen nach Balmoral und die Messenger trains verkehrten nicht. Ab 1919 kam er wieder regelmäßig nach Balmoral, wie auch seine ihm nachfolgenden Söhne Eduard VIII. und Georg VI., und die Messenger trains verkehrten jeweils während ihrer Aufenthalte. 1938 entschied das Home Office, auf die gesonderten Züge zu verzichten. Der Ausbau der A93 ermöglichte die Rückkehr zur Fahrt der Messengers über Perth, nun aber mit ab dort eingesetzten Automobilen. Der letzte Messenger train verkehrte daher im Herbst 1937.
=== Güterverkehr ===
In den ersten Jahren wurden die Güterwagen den im Fahrplan ausgewiesenen Personenzügen beigestellt. Ab 1856 setzte die Deeside Railway erstmals eigene Güterzüge ein. Über Jahre führte jedoch ein Teil der Personenzüge noch Güterwagen mit. 1884 waren im Fahrplan zwei Güterzugpaare ausgewiesen, eines bis Banchory, das andere bis Ballater. 1914 war wie auch beim Personenverkehr im Güterverkehr das umfangreichste Angebot zu finden. Zwei Güterzugpaare bedienten die Gesamtstrecke, ein weiteres verkehrte bis Culter, wo eine große Papierfabrik mit eigener Anschlussbahn für reges Wagenaufkommen sorgte. Weiteres Güterverkehrsaufkommen gab es durch Holztransporte, besonders während beider Weltkriege. 1940 waren lediglich 46.000 Tonnen Holz transportiert worden, dagegen stieg das Volumen bis 1943 um über das Vierfache auf 177.000 Tonnen.In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verlagerte sich der Güterverkehr jedoch rasch auf die Straße, befördert dadurch, dass British Railways bestimmte Frachten ablehnte oder mit hohen Preisen belegte. Vor allem der Viehtransport verschwand daraufhin bald von der Strecke, bereits vor dem Krieg war sein Anteil am Güteraufkommen erheblich zugunsten des Straßentransports zurückgegangen. Zuletzt wurde bis Ende 1966 noch die Papierfabrik in Culter bedient.
== Eingesetzte Fahrzeuge ==
Mit Ausnahme der letzten Jahre vor der Stilllegung wurden alle Züge auf der Deeside Line von Dampflokomotiven bespannt. Ab 1958 kamen zusätzlich Triebwagen zum Einsatz und zu Beginn der 1960er Jahre wurden die verbliebenen Dampflokomotiven durch Diesellokomotiven ersetzt. Bedingt durch die mehrfachen Betreiberwechsel und Neuordnungen der Betreibergesellschaften kam über die Jahre ihrer Existenz ein vielfältiger Fahrzeugpark zum Einsatz. Lediglich in den ersten Jahren waren die Fahrzeuge in Banchory stationiert, spätestens mit Übernahme durch die GNSR waren die Lokomotiven in der Regel im Depot Kittybrewster in Aberdeen beheimatet. Nach der Übernahme durch British Railways kamen auch Fahrzeuge aus dem früher der Caledonian Railway bzw. der LMS gehörenden Depot Ferryhill zum Einsatz. Ballater diente als Nebendepot (Sub-shed).
=== Fahrzeuge der Deeside Railway ===
Zunächst hatte die Deeside Railway Company geplant, die Scottish Central Railway (SCR) mit dem Betrieb ihrer Strecke zu beauftragen, beschaffte dann aber eigene Lokomotiven bei Hawthorn. Der Betrieb durch die SCR blieb daher eine kurze Episode. Im Februar und im August 1854 lieferte Hawthorn zwei Tenderlokomotiven der Achsfolge B1’, die die Betriebsnummern 1 und 2 erhielten und sich gut bewährten. Die Lokomotive Nr. 2 blieb 29 Jahre im Dienst. Im gleichen Jahr folgte eine weitere Tenderlokomotive dieser Achsfolge, jedoch vom Hersteller Isaac Dodds and Son aus Rotherham. Die von Dodds verwendete Steuerung erwies sich jedoch als Fehlkonstruktion und die Lokomotive erbrachte bis zu ihrer Ausmusterung 1868 nur geringe Leistungen und eine bereits erfolgte Bestellung eines weiteren Exemplars wurde storniert. Die Deeside Railway bestellte daher in den Folgejahren weitere Lokomotiven bei Hawthorn. Die Achsfolge B1’ wurde beibehalten, die 1857, 1859 und 1860 für die Verlängerung bis Aboyne gelieferten Lokomotiven wurden jedoch als Schlepptenderlokomotiven ausgeführt. 1864 konnte die Deeside eine Lokomotive des gleichen Typs gebraucht von der GNSR erwerben, die diese zusammen mit der Banff, Portsoy & Strathisla Railway 1863 übernommen hatte. 1866 folgte eine letzte Lokomotive dieser Achsfolge in etwas größerer Ausführung, die für die Beförderung des Royal Train auch einen deutlich größeren Tender erhielt. Als Farbgebung verwendete die Deeside Railway ein leuchtendes Blau mit schwarzen Absetzstreifen. Lokomotive Nr. 2 erhielt für einige Zeit für die Bespannung der Messenger trains und des Royal Train eine Farbgebung im Royal Stewart Tartan.Die Lokomotive Nr. 1 wurde bereits 1866 ausgemustert, die übrigen Hawthorn-Maschinen wurden noch von der GNSR übernommen. Sie erhielten neue Nummern und schrittweise die Farbgebung der GNSR. In den Jahren 1875 bis 1883 gingen sie außer Dienst.Zu den Wagen der Deeside Railway ist nicht mehr viel bekannt. Sie waren von der Firma Brown Marshall & Company in Birmingham hergestellt worden, es handelte sich um zweiachsige Abteilwagen. Wie die Lokomotiven waren sie leuchtend blau lackiert. Während die Wagen der ersten Klasse komplett geschlossen mit Fenstern ausgestattet waren und gepolsterte Sitze erhielten, besaßen die Wagen der dritten Klasse im Innenraum oberhalb der Sitze keine Abgrenzung zwischen den Abteilen. Heizungen oder Öfen waren nicht vorhanden. Güterwagen fehlten zu Beginn des Betriebs und die Gesellschaft ließ sehr bald in ihren eigenen Werkstätten in Banchory eine ausreichende Stückzahl an offenen und geschlossenen Wagen bauen.
=== Fahrzeugeinsatz der GNSR ===
Der Fahrzeugpark der Deeside Railway war zum Zeitpunkt der Übernahme des Betriebs durch die GNSR bereits ziemlich abgenutzt. Die GNSR ersetzte die Lokomotiven daher relativ bald durch eigene Maschinen. Von den Anfangsjahren abgesehen, in denen bis 1860 die Achsfolge 1’B dominierte, beschaffte die GNSR während ihrer gesamten Existenz fast ausschließlich Schlepptenderlokomotiven der Achsfolge 2’B, Hersteller waren vor allem Neilson & Company, Kitson & Company und Robert Stephenson & Company. Von den verschiedenen Baureihen der GNSR mit dieser Achsfolge kamen zunächst die Reihen L und C auf der Deeside Line zum Einsatz, später auch die Reihen T und V. Ab 1903 baute die GNSR in ihren neuen Werkstätten in Inverurie selbst einzelne Lokomotiven, darunter 1921 zwei Exemplare der Reihe F, die die letzten von der GNSR in Betrieb genommenen Lokomotiven waren. Diese Reihe, von der 1920 bereits sechs Exemplare durch die North British Locomotive Company gebaut worden waren, wurde durch die GNSR und in ihrer Nachfolge der LNER über viele Jahre bis Anfang der 1950er Jahre auf der Deeside Line eingesetzt. Ältere Exemplare wurden oft umfassend umgebaut und modernisiert. Zu den wenigen Ausnahmen der ansonsten einheitlichen 2’B-Flotte gehörten neun Tenderlokomotiven der Achsfolge C, die 1884 von Kitson & Co. geliefert wurden und, obwohl eigentlich für Rangierdienste beschafft, oft die Vorortzüge zwischen Aberdeen und Culter bespannten. 1893 lieferte Neilson & Co. zudem neun Tenderlokomotiven der Achsfolge B2’, die vorrangig auf der Deeside Line eingesetzt wurden. Sie bespannten zuletzt die Vorortzüge bis zu deren Einstellung 1937 und wurden dann ausgemustert. Die GNSR lackierte ihre Lokomotiven bis 1917 in einem hellen Grün mit Absetzstreifen in gelb und rot, lediglich die Rauchkammer war schwarz. Ab 1917 wurde eine einfachere, schwarze Farbgebung verwendet.
Weitere Tenderlokomotiven der GNSR hatten die Achsfolgen B und B’1. Sie wurden primär für den umfangreichen Rangierbetrieb in Aberdeen beschafft und kamen selten auf die Deeside Line. Ein 1905 durchgeführter Versuch mit zwei Dampftriebwagen von Andrew Barclay Sons & Co. aus Kilmarnock, die unter anderem im Vorortbetrieb nach Culter erprobt wurden, scheiterte. Die Fahrzeuge erwiesen sich als nicht tauglich und wurden nach einigen Jahren in Personenwagen umgebaut.Die GNSR übernahm mit der Deeside Railway auch ihren Wagenpark. Bis Ende der 1890er Jahre blieb es beim Einsatz kleiner zweiachsiger Abteilwagen im Personenverkehr, die früheren Bauarten der Deeside Railway wurden allmählich durch neuere Wagen ähnlicher Bauart der GNSR ersetzt. In den 1880er Jahren führte die GNSR erstmals dreiachsige größere Wagen ein, 1898 gefolgt vom erstmaligen Einsatz vierachsiger Drehgestellwagen. Diese kamen vorerst nur im „Deeside Express“ zum Einsatz. Nach 1906 ersetzte die GNSR schrittweise die älteren zwei- und dreiachsigen Wagen durch neue vierachsige Fahrzeuge. Ein 1898 beschaffter Salonwagen diente nach Umbau ab 1902 in den von der GNSR organisierten Royal Trains. Bereits 1891 führte die GNSR die mit Druckluft funktionierende Westinghouse-Bremse ein, abweichend von der ansonsten im britischen Eisenbahnnetz vorherrschenden Saugluftbremse. Bis Mitte der 1890er Jahre waren die Personenwagen der GNSR in einem hellen Braun lackiert, ab da verwendete die GNSR eine zweifarbige Lackierung mit einem cremefarbenen Fensterband und purpurroten Seitenwänden.
=== Fahrzeugeinsatz der LNER ===
Die London and North Eastern Railway (LNER) übernahm mit der GNSR insgesamt 122 Lokomotiven. Am Einsatzgebiet der Lokomotiven änderte sich über die Jahre wenig. Viele ehemalige GNSR-Lokomotiven blieben über 50 Jahre bis in die Zeit von British Railways im Einsatz, auch auf der Deeside Line. Farblich erhielten die früheren GNSR-Lokomotiven wie alle LNER-Lokomotiven zunächst wieder eine grüne Farbgebung, die jedoch ab 1928 auf Schnellzuglokomotiven beschränkt wurde. Die übrigen LNER-Baureihen erhielten wieder eine schwarze Lackierung, darunter auch alle auf der Deeside Railway eingesetzten Reihen. Zu Zeiten der LNER kamen lediglich zwei neue Baureihen auf der Deeside Railway zum Einsatz. Ab 1931 erhielt Aberdeen schrittweise bis zu 31 Exemplare der LNER-Klasse B12, einer kräftigen Schlepptenderlokomotive der Achsfolge 2’C, die ursprünglich von der Great Eastern Railway (GER) ab 1911 beschafft worden waren. Sie übernahmen bald auch Leistungen auf der Deeside Railway. 1946 erschienen die ersten Exemplare der LNER-Klasse B1 mit der gleichen Achsfolge, die seit 1942 nach einem Entwurf des LNER-Chefingenieurs Edward Thompson gebaut wurden, auf der Deeside Line. Sie waren die ersten neuen Lokomotiven seit über 25 Jahren. Allmählich verdrängten sie die älteren GNSR-Lokomotiven und wurden bis zur Umstellung auf Dieselbetrieb eingesetzt. Eine B1 bespannte am 30. Dezember 1966 mit dem Güterzug von Aberdeen nach Culter und zurück den letzten überhaupt auf der Deeside Line verkehrenden fahrplanmäßigen Zug.Die LNER setzte in den Personenzügen weiterhin die von der GNSR übernommenen Wagen ein, schrittweise wurden diese durch ältere, aus dem Dienst auf den Hauptstrecken zurückgezogene Wagen der LNER und anderer Vorgängergesellschaften ersetzt.
=== Fahrzeugeinsatz von British Railways ===
British Railways setzte zunächst weiterhin vor allem die LNER-Klassen B1 und B12 ein, brachte aber in den 50er Jahren auch weitere Baureihen zum Einsatz. Dazu zählten unter anderem die Tenderlokomotiven der BR-Standardklasse 4MT 2-6-4T, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre die meisten Personenzüge bespannte. Im Güterverkehr kamen diverse ältere Baureihen zum Einsatz sowie die ehemalige LNER-Klasse J36 und die ehemalige LMS-Klasse 5 „Black Five“.1958 beschaffte British Railways versuchsweise einen Akkumulatorentriebwagen (Battery Electric Multiple Unit, BEMU). Dazu hatten die BR-Werkstätten in Cowlairs einen 1956 in Derby hergestellten zweiteiligen Dieseltriebwagen umgebaut und zwei Ladestationen in Aberdeen und Ballater installiert. Mit der Einführung des neuen Triebwagens wurde auch der Fahrplan ausgeweitet, zunächst übernahm der Akkutriebwagen drei zusätzliche Zugpaare. Die übrigen drei Zugpaare übernahmen Dieseltriebwagen, am 5. Juli 1958 verkehrte der letzte planmäßig mit einer Dampflokomotive bespannte Personenzug. Als Reserve kamen bei Ausfall des Akkutriebwagens ebenfalls Dieseltriebwagen des Depots Kittybrewster zum Einsatz. Positiv vermerkt wurden die Laufruhe und die geringe Geräuschentwicklung des Akkutriebwagens. Technisch bereitete das Fahrzeug jedoch wiederholt Probleme und nach einer Serie von Pannen bis hin zu kleineren Bränden wurde der Akkutriebwagen 1962 durch einen weiteren Dieseltriebwagen ersetzt.Im Güterverkehr kamen ab Ende der 1950er Jahre ebenfalls Dieseltriebfahrzeuge zum Einsatz, nur gelegentlich verkehrten noch Dampflokomotiven. Eingesetzt wurden vorwiegend dieselelektrische Lokomotiven des Typs North British Type 2, der späteren BR-Klasse 21. Sie übernahmen in den letzten Jahren auch die Bespannung des Royal Train, in der Regel in Doppeltraktion. Gelegentlich kamen auch Lokomotiven der English Electric Type 1, der späteren BR-Klasse 20, zum Einsatz.Bis zur Umstellung auf Triebwagen kamen in den Personenzügen vorwiegend noch von der LNER übernommene Personenwagen zum Einsatz, teils auch bereits erste Exemplare der neuen BR-Einheitsserie vom Typ Mark 1.
== Literatur ==
Alfred Derek Farr: The Royal Deeside Line. David & Charles, Newton Abbot 1968, ISBN 978-0-715342-73-2.
Dick Jackson: Royal Deeside’s Railway. Great North of Scotland Railway Association, Huntly 1999, ISBN 0-90234-309-2.
W. Stewart Wilson: The Deeside Line. Stenlake Publishing, Catrine Ayrshire 2016, ISBN 184033763X.
== Weblinks ==
Railscot: Deeside Railway (englisch)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Deeside_Line
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Lokalanästhesie
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= Lokalanästhesie =
Die Lokalanästhesie (von lateinisch locus ‚Ort‘ und von „Anästhesie“ von altgriechisch ἀν- ‚nicht‘ und altgriechisch αἴσθησις ‚Wahrnehmung‘) oder örtliche Betäubung (auch lokale Anästhesie) ist die örtliche Schmerzausschaltung im Bereich von Nervenendungen oder Leitungsbahnen, ohne das Bewusstsein zu beeinträchtigen. Sie bewirkt durch gezielte Verabreichung von Anästhetika, meist Lokalanästhetika, die zeitweilige, umkehrbare Funktionshemmung von ausgewählten Nerven und führt dabei zu Empfindungslosigkeit und Schmerzfreiheit, teilweise auch zur Hemmung der aktiven Beweglichkeit in Teilen des Körpers.
Die Lokalanästhesie ermöglicht als Alternative zur Allgemeinanästhesie (Narkose) medizinische Prozeduren wie Operationen oder bestimmte Untersuchungen, für deren Durchführung die lediglich örtliche Schmerzausschaltung und Unterbindung von Bewegungen zwar notwendig, jedoch in diesem Umfang ausreichend ist.
== Ziele der Lokalanästhesie ==
Die Lokalanästhesie verfolgt vorrangig das Ziel der Schmerzausschaltung durch Unterbrechung der Schmerzleitungsfunktion von Nerven (afferente Fasern). Durch die Funktionsunterbrechung bestimmter A-Fasern erfolgt eine Empfindungsausschaltung (Berührungs- und Vibrationsempfindung, ebenfalls afferente Fasern). Die Funktionsunterbrechung von motorischen (efferenten) Nervenfasern bewirkt bei einigen Verfahren eine Ausschaltung der aktiven Beweglichkeit der betreffenden Muskeln.
Durch Schädigung von Nervenstrukturen (etwa des Nervus trigeminus) entstehen neuropathische Schmerzen. Als erste spezifische Behandlungsmaßnahme wird hier die therapeutische Lokalanästhesie (auch „Heilanästhesie“) angewandt. Das dazu verwendete Präparat muss frei von Vasokonstriktoren (etwa Adrenalin) sein. Bei einem Teil der Patienten wird dadurch eine Schmerzlinderung erzielt, die weit über die Wirkdauer der Anästhesie andauert und im Idealfall zum völligen Verschwinden der Beschwerden führt.
== Systematik ==
Man unterscheidet folgende Versionen der Lokalanästhesie:
Oberflächenanästhesie: Das Lokalanästhetikum wird auf die Körperoberfläche aufgebracht, wobei die sensiblen Nervenenden per Diffusion erreicht werden. Typische Anwendungsgebiete sind die Betäubung der Hornhaut und die Schleimhaut-Anästhesie, da die Lokalanästhetika in diese Gewebe leicht eindringen können. Oberflächenanästhesie der Haut ist nur sehr eingeschränkt mittels spezieller Cremes (EMLA) oder Elektrophorese möglich. Auch die Anwendung von Kälte zur Oberflächenbetäubung wird praktiziert.
Infiltrationsanästhesie: Bei der durch Heinrich Braun 1903 ausgebauten Infiltrationsanästhesie wird das Lokalanästhetikum direkt im Operationsgebiet flächig in das Gewebe injiziert. Die Wirkung beruht auf der Blockade sensibler Nervenenden und terminaler Nervenbahnen. Durch die Infiltrationsanästhesie werden aber auch die Eigenschaften des zu operierenden Gewebes verändert, außerdem werden relativ große Mengen an Lokalanästhetikum benötigt. Eine Sonderform ist die intradermale Anästhesie („Hautquaddel“). Die Tumeszenz-Lokalanästhesie ist ein spezielles Verfahren, bei dem das Lokalanästhetikum in einem großen Volumen eines Lösungsmittels in das Unterhaut-Fettgewebe eingebracht wird und sich dort großflächig verteilt. Es findet vor allem in der kosmetischen Chirurgie zur Fettabsaugung seine Anwendung, wird jedoch kritisch bewertet.
Regionalanästhesie: Als Regionalanästhesie werden Leitungsanästhesien von peripheren Nervenstämmen (periphere Regionalanästhesie) oder rückenmarksnahen Nervenwurzeln (rückenmarksnahe Regionalanästhesie wie Spinal- oder Epiduralanästhesie) bezeichnet. Eine weitere Variante ist die 1909 eingeführte intravenöse Regionalanästhesie nach Bier, bei der das (Lokal-)Anästhetikum in blutentleerte Venen von Armen (oder Beinen) eingespritzt wird und von dort in Nervenbahnen und -enden diffundiert und eine Betäubung der betreffenden Extremität ermöglicht.Der Begriff der Lokalanästhesie wird aus historischen und pharmakologischen Gründen der Regionalanästhesie übergeordnet. Die Nomenklatur der Einteilung ist jedoch nicht einheitlich: Manchmal werden nur Oberflächenanästhesie und Infiltrationsanästhesie unter dem Begriff der Lokalanästhesie zusammengefasst und die Regionalanästhesie getrennt geführt.
== Geschichte ==
Siehe auch: Regionalanästhesie#Geschichte
Dominique Jean Larrey (1766–1842) war ein französischer Militärarzt und Chirurg in der „Großen Armee“ von Napoleon Bonaparte und darüber hinaus sein Leibarzt. Larrey war einer der ersten Ärzte, der die lokalanästhetische Wirkung von Kälte (Kälteanästhesie) beobachtete. Nach der bei grimmiger Kälte ausgefochtenen Schlacht bei Preußisch Eylau am 7. und 8. Februar 1807 nahm er Amputationen vor, ohne dass einige der Verletzten Schmerzenslaute von sich gaben. Durch die Minustemperaturen waren die peripheren Nerven von Larreys Patienten taub, also weitgehend schmerzunempfindlich geworden. In den Jahren 1866/1867 verwendeten auch Benjamin Ward Richardson (1828–1912), ein Schüler von John Snow, und Johann Baptist Rottenstein Kälte (erzeugt durch Ätherspray bzw. Chloräthylspray) zur lokalen Betäubung.
In einem Selbstversuch mit dem späteren Psychoanalytiker Sigmund Freud erkannte der Wiener Augenarzt Carl Koller (1857–1944), dass Kokain bei Verkostung die Zunge betäubt und beschrieb dies 1884. Nach erfolgreichen Tierversuchen wendete er das Mittel 1884 erstmals für Augenoperationen am Menschen an: Auf das Auge träufelte er Kokain-Lösung, die die Hornhaut (Cornea) des Auges betäubte (Oberflächenanästhesie). Koller gilt somit als der Vater der Lokalanästhesie. Er bezeichnete sie als locale Anästhesirung.
Ab 1885 benutzte William Stewart Halsted Kokain zur tiefergehenden Infiltrationsanästhesie bei Zahneingriffen, 1888 entwickelte Maximilian Oberst die Leitungsanästhesie des Fingers (Oberst-Block).Der deutsche Arzt Carl Ludwig Schleich demonstrierte am 11. Juni 1892 auf dem Deutschen Chirurgenkongress in Berlin die Infiltrationsanästhesie mittels verdünnter Kokainlösung. Durch Einspritzen eines Anästhetikums in die Haut (und später auch Unterhaut) zu betäubende Gebiete konnten nun erstmals auch hautbedeckte Areale behandelt werden. Mittels Injektion von Kokainlösung hatte Themistocles Gluck bis 1887 bereits 21 größere Operationen in Lokalanästhesie durchgeführt.Als erste Regionalanästhesieverfahren führte August Bier (1861–1949) 1898 die Spinalanästhesie und 1908/1909 die intravenöse Regionalanästhesie ein. Verbessert werden konnte die Lokalanästhesie 1903 mit der von dem Leipziger Chirurgieprofessor Heinrich F. Braun entwickelten Zugabe von Adrenalin.Zu den moderneren Lokalanästhestika zu örtlichen oder regionalen Betäubung gehört das 1997 eingeführte Ropivacain (Naropin).
== Siehe auch ==
Lokalanästhesie (Zahnmedizin)
== Literatur ==
Heinrich Braub: Die Lokalanästhesie, ihre wissenschaftlichen Grundlagen und praktische Anwendung. Leipzig 1914.
Dieter Gross: Therapeutische Lokalanästhesie. Grundlagen – Klinik – Technik. Ein neuraltherapeutisches Praktikum. 3., unveränderte Auflage. Hippokrates, Stuttgart 1985, ISBN 3-7773-0727-0.
== Weblinks ==
Literatur von und über Lokalanästhesie im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lokalan%C3%A4sthesie
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Die Tat (Schweizer Zeitung)
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= Die Tat (Schweizer Zeitung) =
Die Tat war eine sozial-liberale Schweizer Zeitung, die von 1935 bis 1978 von der Migros herausgegeben wurde, zuerst als Wochenzeitung, dann als abends erscheinende Tageszeitung und schliesslich als morgens erscheinende Boulevardzeitung. Sie wurde vom Gründer der Migros, Gottlieb Duttweiler, ins Leben gerufen. Während die Wochenzeitung das Parteiorgan des Landesrings der Unabhängigen war, emanzipierte sich die Abendzeitung rasch von diesem und gewann hohes Ansehen auch ausserhalb der Schweiz, namentlich durch ihre Wochenendbeilage Die literarische Tat unter der Leitung von Max Rychner und Erwin Jaeckle und durch die Mitarbeit zahlreicher namhafter Journalisten. Der Niedergang der politischen Presse in den siebziger Jahren, verbunden mit wegen der Nähe zur Migros mangelnden Inserateeinnahmen, führte Ende März 1977 zur Einstellung der Abendzeitung. Der damalige Präsident der Migros, Pierre Arnold, versuchte den Titel als Boulevardzeitung weiterzuführen. Deren wirtschaftskritischer, scharfer Stil bewog ihn jedoch nach 16 Monaten, den Chefredaktor Roger Schawinski zu entlassen. An dessen Stelle setzte er, ohne Anhörung der Redaktion, Karl Vögeli ein, der einen gemässigteren Kurs des Blattes garantieren sollte. Der darauffolgende Proteststreik der Redaktion führte zur Einstellung der Boulevardzeitung Ende September 1978, nur anderthalb Jahre nach ihrer Einführung.
Die Schweizerische Nationalbibliothek hat Die Tat vollständig digitalisiert und 2016 online verfügbar gemacht.
== Die Wochenzeitung ==
In den ersten vier Jahren ihres Bestehens war die Tat eine Wochenzeitung. Die erste Nummer erschien am 12. November 1935 mit dem Untertitel «Wochenpost der sieben Unabhängigen». Er bezog sich auf die sieben Mitglieder der «Vereinigung der Unabhängigen», die 1935 ein Nationalratsmandat errungen hatten: Franklin Bircher, Gottlieb Duttweiler, Ulrich Eggenberger, Heinrich Schnyder, Willy Stäubli, Fritz Wüthrich und Balthasar Zimmermann.
Duttweiler schrieb, man wolle «ein einfaches, ernstes wöchentliches ‹Rechenschaftsberichts-Blättlein› der 7 Unabhängigen für ihre Freunde» machen. Inserate nehme man nicht auf, um die Presse nicht zu konkurrenzieren und unabhängig zu bleiben (es gab nur vereinzelte Inserate des im gleichen Jahr gegründeten, zur Migros gehörenden Reisebüros Hotel-Plan; damals noch so geschrieben). Die Tat wolle «sachlich referieren unter Vermeidung von Polemik» und auch «die Gegner kurz zum Wort kommen lassen». Als Motiv für die Gründung der Zeitung nannte er auch die Abwehr des Nationalsozialismus in der Schweiz, dem sich die Tat von Anfang an kompromisslos widersetzte.
Verantwortlicher Redaktor war zuerst Hermann Walder, der Rechtsanwalt der Migros, ab 19. November 1937 Eugen Theodor Rimli und ab 28. April 1939 Willy Aerni, der Geschäftsführer des Ende 1936 gegründeten Landesrings der Unabhängigen (LdU). Walder wechselte in die Redaktionskommission der Tat, wo er bis zur Trennung von Duttweiler im Oktober 1943 blieb, und Rimli schrieb nach seinem Rücktritt als verantwortlicher Redaktor weiterhin Artikel für die Zeitung (1940/1941 war er Chefredaktor der kurzlebigen ersten Boulevardzeitung der Schweiz, Actualis, danach gründete er den später in Stauffacher-Verlag umbenannten Fraumünster-Verlag Zürich und gab die Illustrierte Weltgeschichte und die Illustrierte Welt-Kunstgeschichte heraus). Aerni war nach der Gründung der Abendzeitung bis Ende Mai 1948 Chef der Administration und der Inseratenabteilung.
Gedruckt wurde die Tat in der alten Druckerei der Züricher Post in Räumen der Alten Universität an der St.-Peter-Strasse im Zentrum Zürichs. Anfang 1937, nach der Gründung des LdU, gab sich die Zeitung ein grösseres Format und einen Umfang von statt 4 nun 6 bis 8, ausnahmsweise auch 12 und 16 Seiten, änderte den Zeitungskopf unter Verzicht auf das «Die» in den intern «Schlengge» genannten sowie den Untertitel in «Wochenpost des Landesrings der Unabhängigen». Sie erschien fortan freitags statt mittwochs (nur gerade die erste Nummer war an einem Dienstag erschienen). Von nun an nahm sie auch Inserate auf.
Nach dem Entscheid der Migros, eine Tageszeitung herauszugeben, erschien am 29. September 1939 die letzte Ausgabe der Wochenzeitung Tat in der bisherigen Form. Bis zum Erscheinen des Brückenbauers (heute Migros-Magazin) am 25. September 1942 gab die Migros noch eine Tat (Wochenpost) mit anderem redaktionellem Auftrag heraus.
== Die Abendzeitung ==
Am 8. September 1939 kündigte die Tat auf den 1. Oktober die Umwandlung der Wochen- in eine Tageszeitung an. Duttweiler wollte sie erst Der Tag nennen, wobei die bisherige Wochenzeitung als Freitagsausgabe erscheinen sollte. Deswegen und wegen der Titeländerung, so der Bundesrat, handle es sich jedoch um eine Neugründung einer Zeitung, was gemäss einem Bundesratsbeschluss vom 8. September 1939 verboten sei. Duttweiler beschloss darauf, den Namen Die Tat beizubehalten und die Freitagsausgabe nicht als Fortsetzung des Wochenblatts erscheinen zu lassen. Darauf gab der Bundesrat grünes Licht für die Tageszeitung. Sie erschien erstmals am 2. Oktober 1939 (verfügbar bereits am Vorabend), nun mit dem Untertitel «Schweizerische unabhängige Tageszeitung», sechsmal wöchentlich abends, jeweils mit Datum vom nächsten Tag. Bis am 7. November 1939 war der Dienstag der erscheinungsfreie Tag, danach der Sonntag.
Duttweiler begründete die Notwendigkeit, die Tat zur Tageszeitung zu erweitern, damit, dass dem Landesring die übrige schweizerische Tagespresse verschlossen sei. Den neuen, grösseren Aufgaben, die sich der Bewegung des Landesrings stellten, könne jedoch nur eine Tageszeitung genügen, eine politische Bewegung ohne Tageszeitung sei «in unserem Land auf die Dauer nicht lebensfähig». Die Tat setzte auch als Tageszeitung ihren den Nationalsozialismus strikte ablehnenden Kurs fort. Sie wurde denn auch schon zwei Monate nach der Einführung in Deutschland und Ungarn verboten, weitere zwei Monate später auch in Italien.Verantwortliche Redaktoren bzw. ab 1943 Chefredaktoren waren 1939–1943 Max Rychner, 1943–1971 Erwin Jaeckle (ab 1962 und noch bis 1977 auch Leiter der Literarischen Tat) und 1971–1977 Walter Biel.
Die erste Redaktion bestand aus Max Rychner (Feuilleton, de facto jedoch wegen militärdienstbedingter Absenzen gleichzeitig Ausland bis 1943, danach Feuilleton bis 1962), Herbert von Moos (Ausland, zuvor Schweizer Zeitung und Schweizerische Republikanische Blätter, zugleich populärer Redaktor der «Völkerbundschronik» bei Radio Beromünster, ab Mai 1937 «Die Welt von Genf aus gesehen», ab 19. September 1939 «Weltchronik» genannt, auf Druck der deutschen Gesandtschaft und von Bundesrat Marcel Pilet-Golaz wegen seiner betont antinazistischen Haltung, formell jedoch wegen «Nachlässigkeit» bei Radio Beromünster entlassen und bei der Tat im Dezember 1940 «aus Gesundheitsrücksichten» zurückgetreten), Felix Moeschlin (Präsident des Schweizerischen Schriftstellervereins, Inland, bis 1942, danach Präsident der Redaktionskommission), Karl Gnädinger (Schriftsteller, Lokales, Pseudonym «Nepomuk», bis zu seinem Unfalltod 1943) und Charles La Roche (Wirtschaftswissenschafter, Wirtschaft, bis 1940, danach ersetzt von Hans Munz). Ständige Mitarbeiter waren Jean Rudolf von Salis (Auslandkommentare, bis zur Spaltung des Landesrings im Oktober 1943), Ernest Grosselin (Oberstdivisionär, Militär), Paul Gentizon (zuvor Korrespondent des Temps und der Gazette de Lausanne), Bernhard Diebold (Schriftsteller, Theaterkritik, bis 1945, zuvor Frankfurter Zeitung), Robert Oboussier (Musikkritik, 1939 bis zu seiner Ermordung 1957, zuvor Deutsche Allgemeine Zeitung) und Peter Meyer (Herausgeber der Architektur- und Kunstzeitschrift Das Werk).
Ende 1941 bezogen Redaktion, Administration und Druckerei der Tat neue Räumlichkeiten des im gleichen Jahr gegründeten Migros-Genossenschafts-Bundes (MGB) an der Limmatstrasse. 1943 führte der neue Chefredaktor Erwin Jaeckle verschiedene Änderungen ein. Er schaffte die Berner und Basler Lokalseiten ab und integrierte sie in den allgemeinen Teil, was ihm ermöglichte, den Berner Redaktor als Bundeshaus- und den Basler als Auslandredaktor einzusetzen. Dies wiederum erlaubte es Max Rychner, vom Ausland- in sein angestammtes Feuilletonressort zurückzukehren. Jaeckle führte überdies eine Frauenseite ein, publizierte als erster in einer Schweizer Zeitung regelmässig Ausschnitte aus der Weltpresse und lancierte 1944 die erste Radioseite in der Schweizer Presse. Eine Spezialität der Tat war von Beginn weg die tägliche aktuelle Bilderseite mit jeweils durchschnittlich acht Bildern als letzte Seite des Hauptblatts. Die Zeitung erschien ab 31. Juli 1943 mit einer neuen Schrift, die Titel in einer Antiqua statt Grotesk und mit schwarzen Negativbalken als Spaltenköpfe im politischen Teil. Ab 12. März 1944 erschien die Tat auch wieder sonntags und damit fortan siebenmal wöchentlich. Im Dezember 1952 zogen Redaktion und Administration an den Limmatplatz um, wo sich auch der Hauptsitz der Migros befindet.
Überragende Figur der Abendzeitung Die Tat war Erwin Jaeckle, der auch politisch tätig war (1942–1950 im Gemeinderat von Zürich, 1945 Präsident, 1947–1962 im Nationalrat für den Landesring der Unabhängigen). Duttweiler hatte ihn zu Beginn als Chefredaktor vorgesehen, aber Jaeckle wollte an seiner Habilitation arbeiten und schlug statt seiner Max Rychner vor, dessen Mitarbeiter beim Feuilleton des Bunds er zu dieser Zeit war. Schliesslich wählte er dennoch statt einer akademischen die journalistische Laufbahn und trat am 1. Januar 1943 in die Tat ein, wobei er zwei Bedingungen stellte: Er wollte aus Respekt vor dem 12 Jahre älteren, presseerfahrenen Max Rychner als Inlandredaktor und nicht als Vorgesetzter Rychners eingestellt werden, und er verlangte, dass die Redaktion nicht direkt Duttweiler, sondern einer Betriebskommission unterstellt sei, die als vermittelnde Stelle zwischen der Redaktion und Duttweiler stehen sollte. So geschah es. Die Betriebskommission drängte ihn jedoch kurz darauf, nachdem er verschiedene Verbesserungsvorschläge unterbreitet hatte, nun doch erster nomineller Chefredaktor zu werden, und Jaeckle stimmte nach längerem Abwägen zu. Unter seiner Leitung gewann die Tat als Tageszeitung grosses, über die Grenzen der Schweiz hinausgehendes Ansehen, ganz besonders durch die von Max Rychner und später von Erwin Jaeckle selbst betreute Wochenendbeilage Literarische Tat (bis Ende 1960 «Kunst – Literatur – Forschung»).
So wie sich Jaeckle kompromisslos gegen den Nationalsozialismus gewandt hatte, so bekämpfte er nach dem Krieg Verfemungen von aus seiner Sicht angeblichen Sympathisanten der Nationalsozialisten wie Hans Konrad Sonderegger, Gustav Däniker, Eugen Bircher und Robert F. Denzler oder Grock sowie «Säuberungen» oder Ausweisungen von Deutschen wie Bernard von Brentano und pochte auf die strikte Einhaltung des Rechts. 1945 verbot der Zürcher Regierungsrat aus Furcht vor Störungen ein Konzert Wilhelm Furtwänglers mit dem Tonhalle-Orchester Zürich, nachdem die Partei der Arbeit im Gemeinderat den Stadtrat interpelliert hatte, ob er das Konzert des «Preussischen Staatsrats» zuzulassen gedenke. Auch dies kritisierte Jaeckle heftig.Seine liberale Haltung zeigte sich auch darin, dass er die Verbote der kommunistischen und faschistischen Parteien während des Zweiten Weltkriegs ablehnte. Er war der Meinung, dass die Schweizer einer solchen Schutzmassnahme nicht bedurften, weil er ihre «ererbten Rechtsbegriffe für stark und unverrückbar» hielt. Entsprechend opponierte er auch dem sogenannten Jesuitenartikel, also dem seit 1874 in der schweizerischen Verfassung enthaltenen Verbot des Jesuitenordens und generell der Errichtung oder Wiedererrichtung von Klöstern. (Die entsprechenden Artikel wurden 1973 durch eine Volksabstimmung aus der Verfassung entfernt.) Anderseits befürwortete er die 1940 im Militärstrafgesetz eingeführte Todesstrafe für Landesverrat. (Sie wurde 1992 wieder abgeschafft.)
Als Nationalrat setzte sich Jaeckle erfolglos für ein unbeschränktes Waffenausfuhrverbot ein. Erfolg hatte er dagegen mit der Forderung, den Schweizer Wehrmännern, damit sie im Kriegsfall sofort kampfbereit wären, plombierte Taschenmunition für die Aufbewahrung zuhause abzugeben. Überhaupt war ihm eine starke Armee ein wichtiges Anliegen, wobei er sich vehement gegen die Eigenentwicklung von Flugzeugen stemmte. 1949 erreichte er eine Erhöhung der Beiträge an die im gleichen Jahr wie die Tat-Abendzeitung gegründete Pro Helvetia. 1952 leitete er mit einem – zunächst abgelehnten – Postulat die Aufhebung der weiteren Subventionierung der Holzverzuckerungs AG, der späteren Ems-Chemie, ein. Der Aufhebung der Subventionierung wurde dann am 13. Mai 1956 in einer Volksabstimmung zugestimmt.Jaeckles Verhältnis zum autoritären, eruptiven Gottlieb Duttweiler war nicht ohne Konflikte. So warf ihm dieser, der als Unternehmer eher an Wirtschaftsfragen interessiert war und nie Militärdienst geleistet hatte, vor, nie Vorstösse zu den grossen Landesproblemen zu machen. Jaeckle, der eher an kulturellen und als Offizier an militärischen Themen interessiert war, wies dies beleidigt zurück. Auch drohte Duttweiler bei den häufigen Auseinandersetzungen regelmässig mit der Einstellung der Zeitung. Jaeckle nannte er den seidenen Faden, an dem die Tat hänge.Nach dem Ausscheiden aus dem Nationalrat 1962 äusserte sich Erwin Jaeckle nur noch selten politisch und widmete sich nach dem im gleichen Jahr erfolgten Rücktritt von Max Rychner vermehrt der Leitung der Literarischen Tat, seinen schriftstellerischen Leidenschaften und genealogischen Studien seiner Familie. Ende Mai 1971 trat er in den Ruhestand, betreute aber noch bis zur Einstellung der Abendzeitung 1977 die Literarische Tat. Danach machte er kein Geheimnis aus seiner Verachtung für die neue Boulevardzeitung unter gleichem Namen.
1972 unterzog der neue Chefredaktor Walter Biel die Tat einem Redesign. Der Zeitungskopf wurde rot, nur die Wochenendausgabe blieb die «grüne Tat». Auf der Frontseite erschienen nun statt wie früher ausschliesslich Auslandnachrichten die wichtigsten Ereignisse aus allen Ressorts und eine bebilderte «Tagesschau». Das Layout wurde von vier auf fünf Spalten umgestellt.Die Tat erreichte in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs eine Auflage von über 40'000 Exemplaren, danach noch rund 35'000 Exemplare und war damit die drittgrösste politische Tageszeitung in der deutschsprachigen Schweiz. Sie war jedoch nie rentabel, unter anderem weil sie wegen der Nähe zur Migros keine Markenartikelinserate bekam. Der Niedergang der politischen Presse in den siebziger Jahren führte überdies bis 1976 zu einer Reduktion der Auflage auf nur noch rund 25'000 Exemplare. Die dadurch steigenden Verluste wollten die Nachfolger des 1962 verstorbenen Gottlieb Duttweiler bei der Migros, denen die Zeitung überdies «zu elitär» war und zu wenig Resonanz erzeugte, schliesslich nicht mehr tragen, obwohl sie 1974 noch beschlossen hatten, die Tat für mindestens fünf Jahre weiter herauszugeben. Charles Linsmayer und Alfred A. Häsler baten den Herausgeber in einer Petition noch, die von 153 Persönlichkeiten der Kultur, der Wissenschaft, der Politik und der Wirtschaft, darunter Friedrich Traugott Wahlen, Hans-Peter Tschudi und Siegfried Unseld, unterzeichnet wurde, wenigstens die Literarische Tat in geeigneter Weise fortzuführen. Sie wurden nicht erhört. Am 1. April 1977 erschien die letzte Ausgabe der Tat in der bisherigen Form. Biel wurde beim Migros-Genossenschafts-Bund Direktor für Wirtschaftspolitik.
== Die Boulevardzeitung ==
Der damalige Präsident der Verwaltungsdelegation der Migros, Pierre Arnold, wollte nun anstelle der Abendzeitung eine angriffige, aber sachliche «Boulevardzeitung von gehobenem Niveau» (ohne «Sex and Crime»). Wenige Jahre zuvor war allerdings ein Projekt mit ähnlichem Anspruch in Gestalt der Neuen Presse gescheitert. Arnold konnte die 26-köpfige Verwaltung äusserst knapp, mit 12 gegen 11 Mitglieder, von seinem Vorhaben überzeugen. Die neue Zeitung sollte den Fokus auf den Konsumentenschutz legen, wobei die Vorgabe war, in einem Jahr eine Auflage von 80'000 Exemplaren zu erreichen und in drei Jahren finanziell selbsttragend zu sein.Zu diesem Zweck stellte Arnold ein weitgehend neues, wesentlich grösseres Team unter dem Chefredaktor Roger Schawinski ein, darunter Kurt W. Zimmermann, Urs P. Gasche, Peter Knechtli (Basel), Hanspeter Thür (Ratgeber), Fredy Hämmerli sowie Gerd Klinner, der 1969–1972 bereits Redaktor der Abendzeitung gewesen war. Vom Impressum der Abend- in jenes der Boulevardzeitung übernommen wurden der stellvertretende Chefredaktor und Chef Reportagen und Berichte Ulrich Doerfel, der Auslandchef Herbert Tauber und der Chef Lokales Albin Minder. Vorgesehen war auch Lokalredaktor Silvio Kippe, der aber noch vor dem Erscheinen der neuen Zeitung ausschied. Um die wesentlich höhere Auflage und den Vierfarbdruck zu ermöglichen, musste in sehr kurzer Zeit eine Druckerei in Spreitenbach aufgebaut werden, die Limmatdruck AG, die dann allerdings den Grossteil des Tat-Defizits verursachte. Ursprünglich war geplant, die neue Tat bereits Ende 1976 herauszugeben, und zwar ebenfalls als Abendzeitung, wogegen sich Schawinski, bereits seit Anfang 1977 in den Diensten der Migros, aber erfolgreich wehrte.Am 4. April 1977 erschien die Tat zum ersten Mal in neuer Aufmachung, im Halbformat, und als erste überregionale Zeitung der Schweiz im Vierfarbendruck. Als montags bis samstags erscheinende Morgenzeitung stand sie in Konkurrenz zum Blick. Die Auflage betrug nach eigenen Angaben 70'000 verkaufte Exemplare, die Reichweite über 200'000 Leser. Bekannt wurde die Zeitung in der Folge unter anderem durch die Aufdeckung des sogenannten Chiasso-Skandals bei der Schweizerischen Kreditanstalt SKA (heute Credit Suisse), von der Tat «SKAndal» genannt.Der aggressive Stil der Zeitung, manchmal auch gegenüber der Migros, führte jedoch bald zu heftiger Kritik einer wachsenden Anzahl von Mitgliedern der Verwaltung, die sich auch auf zahlreiche Unmutsäusserungen der Genossenschafter beriefen. Dazu kam, dass die Defizite von jährlich 8 bis 12 Mio. Schweizer Franken die Vorgaben bei weitem überschritten und eine ausgeglichene Rechnung, wie von Arnold für eine mittlerweile auf fünf Jahre verlängerte Zeitspanne gefordert, nicht mehr erreichbar schien. Arnold verlangte schliesslich von Schawinski, dass er zwei, drei Aktivisten aus der Betriebsgruppe der linken SJU-Gewerkschaft entlasse, darunter vor allem Hanspeter Bürgin, die er als hauptverantwortlich für den wirtschaftskritischen, scharfen Kurs der Zeitung hielt. Als sich Schawinski weigerte, entliess ihn Arnold am 26. Juli 1978 fristlos. Der Redaktion gab er klare Richtlinien für ihre Arbeit vor, die einen Wechsel im Stil der Zeitung, aber nach seiner Auffassung keine eigentliche Kursänderung bewirken sollten. Bürgin verliess die Zeitung dann von sich aus.
Zum Chefredaktor a. i. ernannte Arnold den bisherigen stellvertretenden Chefredaktor Gerd Klinner. Dieser nahm die Aufgabe zunächst an, wies sie dann aber nach Rücksprache mit der Redaktion zurück, die ultimativ die Wiedereinsetzung Schawinskis als Chefredaktor verlangte. Pierre Arnold lehnte dies ab und forderte die Redaktion auf, neben Klinner zwei weitere Redaktoren zu benennen, die zusammen mit diesem eine Übergangs-Dreierchefredaktion bilden sollten. Die Redaktion wählte dafür Urs P. Gasche und Karl Biffiger. Sie forderte jedoch gleichzeitig ein Redaktionsstatut, das die Weiterführung des bisherigen Kurses garantieren sollte. Auf ein Redaktionsstatut, in das die Migros ihre «Richtlinien» integrieren wollte, konnte man sich in nun folgenden Gesprächen jedoch nicht einigen.
Am 19. September 1978 setzte Arnold, ohne die Redaktion zu konsultieren, den Bundeshausredaktor des Blicks Karl Vögeli als neuen Chefredaktor ein, mit dem Auftrag, die Richtlinien der Migros in der Redaktion durchzusetzen. Diese reagierte am 22. September 1978 «in völliger Verkennung ihrer Machtposition» (Schawinski) mit einem Streik, an dem alle 56 in der SJU organisierten redaktionellen Mitarbeiter teilnahmen, und protestierte gegen die ohne ihre Anhörung erfolgte Ernennung Vögelis. Eine Anhörung der Redaktion «vor allen wichtigen Fragen» stipulierte das Redaktionsstatut der Tat, das von der Migros allerdings nicht unterzeichnet (nach Ansicht der Redaktion aber immerhin «mündlich abgesegnet») worden war und an das sich Arnold deshalb nicht gebunden fühlte. Arnold habe auch mündlich und schriftlich zugesichert, den Kollektivvertrag 1972 (vorher «Badener Abkommen», heute Gesamtarbeitsvertrag) zwischen Journalisten- und Zeitungsverlegerverband anzuerkennen, in dem ebenfalls die Pflicht zur Anhörung der Redaktion vor wichtigen Entscheiden festgehalten ist. Als Nichtverbandsmitglied war die Migros allerdings auch an den Kollektivvertrag nicht gebunden. Fünf nicht in der SJU organisierte Redaktoren (darunter Klinner und Gasche von der Übergangschefredaktion, die inzwischen selbst gekündigt hatten) protestierten gegen den Streik und warfen den Streikenden vor, Arbeitsplätze, auch technische, zu gefährden.Damit erschien am Samstag, 23. September 1978, zum ersten Mal in der Schweizer Pressegeschichte eine Zeitung wegen eines Streiks der Redaktion nicht. Die Migros setzte der Redaktion schriftlich ein bis Freitagabend befristetes, später bis Samstagmittag verlängertes Ultimatum, die Arbeit wiederaufzunehmen. Werde der Aufforderung nicht nachgekommen, gelte das Schreiben als fristlose Kündigung. Die Redaktion liess das Ultimatum ungenutzt verstreichen. Darauf bestätigte die Migros umgehend die im Schreiben festgestellte fristlose Kündigung der gut 40 nicht zu einer Wiederaufnahme der Arbeit bereiten streikenden Redaktoren und schloss sie durch Auswechseln der Türschlösser aus. Die Redaktoren publizierten in der Folge während rund eines Monats in der Genossenschaftsdruckerei sieben Ausgaben einer Streikzeitung Die Wut in der Aufmachung der Tat und mit einer Auflage von 80'000 bis 100'000 Exemplaren. Am Montag, 25. September 1978, machte die Migros ihre Drohung war und stellte das Erscheinen der Zeitung ein. Vögeli wurde Leiter der Abteilung Neue Medien beim Migros-Genossenschafts-Bund.
Arnold wandte sich in einem unter anderem in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. September 1978 publizierten «offenen Brief an die schweizerischen Zeitungsleser» und rechtfertigte das Vorgehen der Migros. Die Ernennung eines Chefredaktors falle in die alleinige Kompetenz des Herausgebers. Bei einem Mitbestimmungsrecht der Redaktion würde sich kein ernsthafter Bewerber melden, weil er sich dem Risiko aussetzen würde, seinen derzeitigen Arbeitsplatz zu verlieren, wenn seine Bewerbung durch Indiskretionen bekannt würde. Solche Indiskretionen habe es bei der Tat in früheren Fällen gegeben.
Die streikenden Redaktoren führten die Herausgabe der Wut und verschiedene Aktionen zunächst weiter. Am 19. Oktober 1978 erklärte sich die Migros in einer Vereinbarung mit der Gewerkschaft VPOD, zu der die SJU als eine seiner Sektionen gehörte, bereit, die Löhne der fristlos gekündigten Redaktoren noch bis Ende Jahr zu bezahlen und auf Schadenersatzforderungen zu verzichten. Der VPOD verpflichtete sich seinerseits, die eingeleitete gerichtliche Beurteilung der Berechtigung der fristlosen Kündigungen zurückzuziehen und die Streikzeitung Die Wut, in der Adresse und Telefonnummer Arnolds publiziert worden waren, einzustellen.
== Redaktoren und redaktionelle Mitarbeiter ==
=== Verantwortliche Redaktoren der Wochenzeitung ===
Hermann Walder: 1935–1937 (Rechtsanwalt der Migros)
Eugen Theodor Rimli: 1937–1939 (zuvor Deutschland-Korrespondent verschiedener Schweizer Zeitungen, darunter der Weltwoche)
Willy Aerni: 1939 (Geschäftsleiter des LdU)
=== Abendzeitung ===
==== Verantwortliche Redaktoren und Chefredaktoren ====
Max Rychner: 1939–1943 (bis 1962 Leiter der 1960 in Die literarische Tat umbenannten Beilage «Kunst – Literatur – Forschung», zuvor Redaktor der Neuen Schweizer Rundschau, der Kölnischen Zeitung und des Bunds)
Erwin Jaeckle: 1943–1971 (zuvor stellvertretender Verlagsleiter des Atlantis Verlags und Mitarbeiter von Max Rychner beim Bund, erster nomineller «Chefredaktor», ab 1962 und noch bis 1977 auch Leiter der Literarischen Tat)
Walter Biel: 1971–1977 (davor seit 1959 Wirtschaftsredaktor der Tat)
==== Weitere bekannte zeichnende Redaktoren ====
Fritz René Allemann (Ausland, 1942–1946 Londoner, 1946–1947 Pariser Korrespondent, 1947–1949 Auslandchef, 1949–1960 Bonner, 1960–1967 Berliner Korrespondent, danach freier Mitarbeiter)
Roman Brodmann (Filmredaktor, 1943–1949)
Hans Fleig (ab 1948 Londoner Korrespondent, 1951–1961 Leiter Ausland)
Alfred Grütter (Bundesstadtredaktor, 1942 bis zu seinem Tod 1964),
Hans Munz (Wirtschaft, 1941–1944)
==== Weitere bekannte Redaktoren und redaktionelle Mitarbeiter ====
Erich Brock (Literaturkritiker), Elisabeth Brock-Sulzer (Theaterkritikerin, 1945–1977), Karl Heinrich David (Konzert- und Opernkritiker, 1944–1951), der spätere Zürcher Regierungsrat Alfred Gilgen (Medizin-Sonderseite), Henry «Heiri» Gysler (Lokales), Fritz Güttinger (Literaturkritiker), Alfred A. Häsler (Sonderaufgaben, 1958–1977), Gertrud Heinzelmann (Frauenseite), Gustav René Hocke (Römer Korrespondent), Robert Jungk (USA-Korrespondent, bis 1957), Charles Linsmayer (Literaturkritiker), Herbert Lüthy (Pariser Korrespondent, bis Ende 1950, danach freier Mitarbeiter), Georges-Henri Martin (Washingtoner Korrespondent), Hans Mayer (Literaturkritiker), Armin Mohler (Pariser Korrespondent 1953–1961), Walter Muschg (Literaturkritiker), Hans Neuburg (Kunstkritiker, 1967–1977), Hermann Scherchen (Musikkritiker), Edgar Schumacher (Militärisches), Adrien Turel (Literatur), Gösta von Uexküll (Londoner Korrespondent) und Ernst Walter (Kolumnist, Pseudonyme Pankraz Deubelbeiss und Atahaka).
Quelle:
=== Chefredaktoren der Boulevardzeitung ===
Roger Schawinski: 1977–1978 (zuvor Leiter der Sendung «Kassensturz» des Schweizer Fernsehens)
Gerd Klinner (a. i.): 1978 (zuvor beim Blick, 1969–1972 bereits Redaktionsmitglied der Abendzeitung Die Tat)
Karl Vögeli: 1978 (konnte die Stelle wegen der Einstellung der Zeitung nicht mehr antreten, zuvor Bundeshausredaktor des Blicks)
== Literatur ==
Ewald Billerbeck (Koordination) et al.: Liquidiert. Erstmals streikte in der Schweiz eine Zeitungsredaktion (= Politprint. Band 7). Lenos, Zürich 1978, ISBN 3-85787-060-5.
Erwin Jaeckle: Niemandsland der Dreissigerjahre. Verlag Hans Rohr, Zürich 1979, ISBN 3-85865-091-9.
Erwin Jaeckle: Erinnerungen an «Die Tat». 1943–1971. Verlag Hans Rohr, Zürich 1989, ISBN 3-85865-092-7.
Pirmin Meier: Lerne das Leben und lebe das Lernen. Ausblick auf den Autor, Publizisten und Privatgelehrten Erwin Jaeckle (1909–1997) zum 100. Geburtstag. Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur, Zürich 2009, ISBN 978-3-033-02135-8.
Roger Schawinski: Wer bin ich? Kein & Aber, Zürich 2014, Kapitel Tat, ISBN 978-3-0369-5693-0 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Ernst Bollinger: Die Tat. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 14. November 2022.
== Weblinks ==
Die Tat in e-newspaperarchives.ch (1935–1978, mit Lücken)
Publikationen von und über Die Tat im Katalog Swisscovery der Swiss Library Service Platform
Bestand: Die Tat – Dokumentation 1978 betr. Streik und Liquidation in den Findmitteln des Schweizerischen Sozialarchivs
Dennis Bühler: Mit Feldschlösschen und Cervelat für die Pressefreiheit. In: Republik vom 21. September 2018.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Tat_(Schweizer_Zeitung)
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Konzepte zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke
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= Konzepte zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke =
Konzepte zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke ermöglichen es, dem Gehirn für therapeutische Zwecke Wirkstoffe zuzuführen. Die Blut-Hirn-Schranke ist eine dynamische Grenzfläche, die über Influx (Zufluss, wörtlich: Einströmen) und Efflux (Abfluss) kontrolliert, welche Nährstoffe, Arzneistoffe, Drogen, Xenobiotika und sonstige Verbindungen dem Gehirn zugeführt werden können. Dadurch gewährleistet sie dem Zentralnervensystem (ZNS) ein optimales Milieu.
Ihre Schutzfunktion macht die Blut-Hirn-Schranke jedoch auch zu einer Barriere für viele potenzielle Wirkstoffe und vereitelt so deren Einsatz in medikamentösen Therapien. Etwa 98 % der potenziellen Neuropharmaka scheitern daran. So lassen sich nur relativ wenige neurologische und psychiatrische Erkrankungen wie beispielsweise affektive Störungen wie Depressionen, Epilepsie oder chronische Schmerzen mit kleinen lipophilen Wirkstoffen behandeln.Dagegen gibt es keine Therapie für neurodegenerative Erkrankungen wie die Alzheimer-Krankheit, Chorea Huntington und die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Für Gehirntumoren, Schlaganfälle, Rückenmarksverletzungen und Schädel-Hirn-Traumata sind keine effektiven medikamentösen Therapien bekannt. Auch bei im Kindesalter auftretenden Syndromen wie Autismus, lysosomalen Speicherkrankheiten, dem Fragiles-X-Syndrom oder Ataxie stellt die Blut-Hirn-Schranke eine Barriere dar, die bisherige medikamentöse Therapieansätze verhindert. Selbst bei Erkrankungen wie Multipler Sklerose kann die Progression der Erkrankung im Zentralnervensystem nicht gestoppt werden, da die verabreichten Medikamente nur in der Peripherie wirken. Prinzipiell könnten viele dieser Erkrankungen mit Wirkstoffen, beispielsweise auf Basis von Enzymen, Genen oder biotechnologisch hergestellten Proteinen, behandelt werden – wenn sie die Blut-Hirn-Schranke überwinden könnten. Eine Therapie ist aber nur möglich, wenn diese Substanzen in ausreichender, das heißt therapeutisch wirksamer Konzentration auch an den Wirkort – also das Zentralnervensystem – gelangen können. Es wird daher seit Jahrzehnten intensiv an Methoden geforscht, die einen Wirkstofftransport in das Gehirn unter Umgehung oder – idealerweise selektiver – Öffnung der Blut-Hirn-Schranke ermöglichen sollen. Eine Reihe von Strategien zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke wurde dabei entwickelt oder befindet sich noch im Entwicklungsstadium.
== Umgehen der Blut-Hirn-Schranke – intrathekale und intraventrikuläre Wirkstoffapplikation ==
Die naheliegendste Form des Wirkstofftransportes in das ZNS unter Umgehung der Blut-Hirn-Schranke stellt die Injektion direkt in den Liquor cerebrospinalis (intrathekal) oder direkt in die Hirnventrikel (intraventrikulär) dar. Der Wirkstoff wird dabei direkt in den Liquor injiziert. Angewendet wird dieses Verfahren beispielsweise als intrathekale Chemotherapie unter anderem mit dem Folsäure-Antagonisten Methotrexat (MTX), mit Cytarabin (AraC) und Cortisol; speziell bei Patienten mit akuter lymphatischer Leukämie und aggressiven Lymphomen. Die drei Wirkstoffe werden in der triple intrathecal chemotherapy zur Behandlung der Hirnhaut-Leukämie zusammen in den Liquor appliziert.Die intrathekale Wirkstoffapplikation ist – verglichen mit der intravenösen (systemischen) Gabe von Wirkstoffen – deutlich aufwändiger und für viele Patienten auch unangenehmer. Darüber hinaus bestehen bei derartigen Darreichungsformen aufgrund der deutlich erhöhten Infektions- und Verletzungsgefahr besonders strenge Anforderungen an Hygiene und technische Fertigkeiten des Anwenders. Durch die Injektion von Wirkstoffen mit Depotwirkung (slow release) können die Behandlungsintervalle auf längere Zeiträume – beispielsweise 14-täglich – gestreckt werden.
Weniger aufwändig ist die Verwendung eines Ommaya-Reservoirs, das unter die Kopfhaut implantiert wird. Einen ähnlichen Ansatz bieten implantierbare Medikamentenpumpen. Bei schweren Schmerzzuständen kann diese Methode beispielsweise für die Dosierung von Morphin gewählt werden. Auch zur Behandlung von Spastiken, beispielsweise bei Multipler Sklerose mit Baclofen, kann der Wirkstoff über eine solche Pumpe intrathekal appliziert werden. Die Methode wurde erstmals 1984 angewendet und ist seitdem etabliert.Intrathekal applizierte Wirkstoffe werden meist speziell für diese Darreichungsform formuliert. Sie dürfen beispielsweise keine Bakterizide und eine Reihe anderer Hilfsstoffe enthalten, die in intravenös applizierten Medikamenten übliche Zusatzstoffe sind.Für einige wenige Erkrankungen ermöglicht die intrathekale beziehungsweise die intraventrikuläre Wirkstoffapplikation eine wirksame Therapie. Für die Behandlung von Hirntumoren sind diese beiden Methoden zur Umgehung der Blut-Hirn-Schranke allerdings nicht geeignet. Die Ursache hierfür liegt in der auf nur wenige Millimeter begrenzten Diffusion der Wirkstoffe in das Parenchym des Gehirns.Eine experimentell und therapeutisch nutzbare Lücke in der Blut-Hirn-Schranke sind die in das Gehirn eintretenden Hirnnerven. So konnte gezeigt werden, dass beispielsweise Neurotrophine, Neuropeptide, Insulin, Zytokine und sogar DNA, die über die Nase verabreicht wurden, über den Riechnerv in das Zentralnervensystem gelangen können. Ebenso konnte man über diesen Weg erfolgreich Stammzellen in das Gehirn einschleusen.
== Überwindung der Blut-Hirn-Schranke für therapeutische Zwecke ==
Eine intakte Blut-Hirn-Schranke ist für jedes Wirbeltier lebensnotwendig. Für viele Wirkstoffe, die außerhalb des Zentralnervensystems ihre Wirkung entfalten sollen, ist die Retention an der Blut-Hirn-Schranke ein wichtiges Kriterium für die Zulassung, um die sonst zu erwartenden teilweise erheblichen Nebenwirkungen, insbesondere bei dauerhafter Einnahme eines Medikaments, sicher ausschließen zu können. Andererseits stellt die Blut-Hirn-Schranke bei der Behandlung neurologischer Erkrankungen für viele Verbindungen eine unüberwindliche Barriere dar.
=== Lipophilisierung ===
Das Diffusionsvermögen eines Moleküls durch die Endothelien der Blut-Hirn-Schranke wird vor allem durch seine Fettlöslichkeit (Lipophilie) und Größe bestimmt. Durch eine Modifizierung des Moleküls mit lipophilen Gruppen kann deshalb eine verbesserte Gehirngängigkeit erreicht werden. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Di-Acetylierung des Naturstoffes Morphin zu Diacetylmorphin (Heroin). Heroin (log P=1,12) zeigt gegenüber Morphin (log P=0,2) eine über 25fach höhere Aufnahme im Gehirn (siehe dazu: Tabelle 1).
Entsprechende Ergebnisse werden beim Brain-Uptake-Index (BUI) für radioaktiv markiertes Morphin, Codein und Heroin erhalten, das in die Halsschlagader injiziert wird. Für Morphin liegt der BUI unterhalb der Nachweisgrenze, bei Codein bei 24 % und für Heroin bei 68 %.Dieses Prodrug-Konzept kann selbst bei peptidischen Wirkstoffen zu einer Verbesserung der Gehirngängigkeit führen.Das Konzept versagt allerdings bei Molekülen mit einer molaren Masse größer als 500 g·mol−1, da solche Substanzen aufgrund ihrer Größe nicht mehr die Blut-Hirn-Schranke per Diffusion passieren können. Zudem geht mit der Lipophilisierung eine deutlich schlechtere Löslichkeit des Wirkstoffes einher. Bei der oralen Gabe können aber nur gelöste Wirkstoffe im Gastrointestinaltrakt aufgenommen werden. Die Lipophilisierung bewirkt natürlich auch eine erhöhte Aufnahme in anderen, nicht zerebralen, Zellen. Auch gegen Efflux-Transporter, die den eindiffundierten Wirkstoff wieder aus dem Endothel ausschleusen, ist die Lipophilisierung wirkungslos.
=== Ausnutzung der Transporter ===
Im Endothel der Blut-Hirn-Schranke sind mehrere Transportsysteme, um das Gehirn mit essentiellen hydrophilen Substanzen zu versorgen. Ein Ansatz, Wirkstoffe in das Gehirn schleusen zu können, ist die Ausnutzung dieser Transporter. Dies wird beispielsweise bei der Therapie der Parkinson-Krankheit angewendet. Daran erkrankte Patienten haben im Gehirn einen Mangel des Neurotransmitters Dopamin. Die Gabe von Dopamin wäre diesbezüglich wirkungslos, da Dopamin die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann. Verabreicht man dagegen Levodopa, eine nicht-proteinogene α-Aminosäure, so wird diese über den LAT1-Transporter dem Gehirn zugeführt und dort anschließend in Dopamin verstoffwechselt. Der LAT1-Transporter gehört zur Familie der LNAA-Transporter (large neutral amino acid).Auch das Antiepileptikum Gabapentin, das Antihypertensivum α-Methyldopa und die Zytostatika Melphalan und Acivicin können über LNAA-Transporter die Blut-Hirn-Schranke passieren.Die Obergrenze für die Ausnutzung der bestehenden Transportsysteme liegt bei einer molaren Masse von etwa 500 bis 600 g·mol−1.
=== Vektorisierung ===
Ein anderer Weg, um die Blut-Hirn-Schranke mit einem Wirkstoff zu überwinden, ist die Vektorisierung. Dieser Ansatz beruht auf der Beobachtung, dass einige Makromoleküle, wie Transferrin, Low Density Lipoprotein und Insulin über einen mehrstufigen, als rezeptorvermittelte Transzytose bezeichneten Prozess die Blut-Hirn-Schranke überwinden können. Über Rezeptoren, die sich an der Oberfläche der Endothelzellen der Hirnkapillaren befinden und in das Lumen der Blutgefäße hineinragen, werden die Makromoleküle in das Innere der Endothelzellen über Vesikel eingeschleust, um dann auf die andere Seite der Zelle (abluminale Seite) transportiert und ausgeschleust zu werden. Wird ein Wirkstoffmolekül an ein solches Makromolekül gebunden, kann die rezeptorvermittelte Transzytose zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke ausgenutzt werden.
Ein Beispiel hierfür ist der Transferrinrezeptor, der mit Hilfe gegen ihn gerichteter monoklonaler Antikörper zum Transport von Wirkstoffen durch die Blut-Hirn-Schranke genutzt werden kann. Dieser Rezeptor ist gewöhnlicherweise für den Transport von Eisen durch die Blut-Hirn-Schranke zuständig. Ein anderes Target ist der Insulinrezeptor, der auch von den Endothelzellen der Blut-Hirn-Schranke exprimiert wird. Mit beiden Vektoren wurden im Tiermodell verschiedene, auch größere, Peptide erfolgreich über die Blut-Hirn-Schranke geschleust. Speziell für die Therapie von neurodegenerativen Erkrankungen, für die nur geringe Wirkstoffkonzentrationen notwendig sind, ist die Vektorisierung ein vielversprechender Ansatz. Auch Zytostatika wie beispielsweise Doxorubicin wurden an Transferrinrezeptor-Antikörper gebunden.Das Phänomen der Transzytose ist jedoch nicht auf Makromoleküle beschränkt. Wenngleich der genaue Mechanismus nicht immer geklärt ist, so konnte gezeigt werden, dass auch kleine Peptide und niedermolekulare Substanzen auf diese Weise in die Zelle gelangen und diese passieren können. Eine Vektorisierung zum Zweck der Passage der Blut-Hirn-Schranke ist somit auch mit kurzen Peptidsequenzen möglich. Als Vektoren für Wirkstoffe, wie beispielsweise Doxorubicin, fanden unter anderem basische Protegrin-Abkömmlinge, wie beispielsweise Syn-B, und das aus der Homöodomäne von Antennapedia, einem Transkriptionsfaktor von Drosophila, abgeleitete Penetratin Anwendung. Ein anderer Peptid-Vektor ist das aus elf überwiegend basischen Aminosäuren bestehende und aus der Transduktionsdomäne des HI-Virus isolierte HIV-TAT (engl. Trans-Activator of Transcription). Ein Peptid mit ähnlichen Eigenschaften ist das aus 27 Aminosäuren aufgebaute Transportan, ein zellpenetrierendes Peptid.Mit transgenen Makrophagen können Proteine durch die Blut-Hirn-Schranke geschleust werden.
=== Kationisierung ===
Positiv geladene Moleküle (Kationen) können mit Hilfe der adsorptionsvermittelten Transzytose, auch kationischer Transport genannt, die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Bei der adsorptionsvermittelten Transzytose bewirken elektrostatische Wechselwirkungen zwischen der durch Glykoproteine negativ geladenen Zelloberfläche und positiv geladenen Molekülen eine unspezifische Bindung an die Oberfläche von Zellen, in deren Folge eine Aufnahme und ein Transport durch das Zytoplasma der Endothelien erfolgt. Die kationische Transzytose durch das Endothel der Blut-Hirn-Schranke ermöglicht einen höheren Grad des Stofftransportes als die rezeptorvermittelte Transzytose.Die Kationisierung von Antikörpern wurde in einer Reihe unterschiedlicher Studien und Anwendungsfeldern erfolgreich zur Passage der Blut-Hirn-Schranke eingesetzt. So beispielsweise, um β-Amyloidplaques sichtbar zu machen oder Mitochondrien zu targetieren.Eine positive Ladung weisen bereits Peptide und Proteine auf, deren isoelektrischer Punkt im Basischen liegt. Ein Ansatz, die Aufnahme nicht basischer Peptide und Proteine im Gehirn zu verbessern, ist, diese mit Hilfe von natürlich vorkommenden Polyaminen, wie beispielsweise Putrescin, Spermidin oder Spermin, chemisch zu modifizieren. Eine Alternative dazu ist die im Kapitel Vektorisierung beschriebene Konjugation von Wirkstoffpeptiden und -proteinen an basische Peptide wie Syn-B. Auch synthetische Polyamine, wie beispielsweise Polyethylenimin, können zum erleichterten Transport von Wirkstoffen und DNA durch die Blut-Hirn-Schranke eingesetzt werden.Der Effekt der Kationisierung ermöglicht zwar die Passage von Wirkstoffen und Diagnostika über die Blut-Hirn-Schranke, bewirkt aber gleichzeitig eine erheblich gesteigerte Aufnahme der applizierten Dosis in Leber und Nieren – mit den entsprechenden zu erwartenden Nebenwirkungen.
=== Nanopartikel ===
In den 1990er Jahren wurde in Versuchen mit Nanopartikeln, die aus biokompatiblen Polymeren aufgebaut sind, festgestellt, dass diese Partikel unter bestimmten Umständen in der Lage sind, die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Der Durchmesser dieser Partikel liegt üblicherweise bei 50 bis 300 nm. Die unfunktionalisierten, reinen Polymerpartikel sind in dieser Form nicht in der Lage durch das Endothel zum Gehirn transportiert zu werden. Der rezeptorvermittelte Transport ist nur durch eine spezielle Funktionalisierung, meist mit Polysorbat 80 oder Poloxameren, möglich. Als Polymere werden meist Polylactide (PLA), Polylactid-co-Glycolid (PLGA) und verschiedene Polycyanoacrylate, wie beispielsweise Polybutylcyanoacrylat (PBCA), verwendet, die pharmakologisch unbedenklich sind und für andere Anwendungen, beispielsweise als chirurgisches Nähmaterial, zugelassen sind. In die Partikel eingeschlossene Wirkstoffe können mittels rezeptorvermittelter Transzytose zum Gehirn transportiert werden.Die wesentlichen Voraussetzungen für die Hirngängigkeit der Nanopartikel ist – neben ihrer Größe – eine möglichst lange Zirkulationszeit im Blut und die passende Oberflächencharakteristik. Die Plasmahalbwertszeit wird meist durch eine PEGylierung erreicht und die Wechselwirkung am Endothel mit dem bereits beschriebenen Polysorbat.
Der genaue Transportmechanismus ist noch nicht endgültig geklärt. Der Polysorbat-Überzug der Partikel führt aber offensichtlich im Blutplasma zu einer Adsorption von Apolipoprotein E oder B an die Partikel. Dadurch werden die Nanopartikel als LDL-Mimetikum vom LDL-Rezeptor erkannt und in das Innere des Endothels transportiert. Danach wird der Wirkstoff entweder im Endothel freigesetzt, wodurch er per Diffusion zum Gehirn gelangen kann, oder die Partikel werden vollständig durch die abluminale Seite zum Gehirn ausgeschleust (Transzytose).Der nanopartikuläre Wirkstofftransport ist derzeit noch in der präklinischen Forschung. Im Tiermodell (Ratte) wurden vielversprechende Ergebnisse bei der Behandlung von transplantierten Glioblastomen erzielt. Dabei wurden die Partikel mit Doxorubicin beladen. Der Transport von Doxorubicin in das Gehirn konnte dabei um den Faktor 60 gesteigert werden. Die wegen der weitgehenden Undurchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke für Chemotherapeutika nur schwer zu realisierende Chemotherapie bei Gehirntumoren ist eines der Hauptziele bei der Entwicklung dieser nanopartikulären Wirkstoff-Träger-Systeme.Mit speziellen Liganden ist darüber hinaus die gewebe- beziehungsweise rezeptorspezifische Targetierung der Nanopartikel denkbar.Neben dem nanopartikulären Ansatz mit Polymeren sind auch nanoskalige Liposomen und Dendrimere als potenzielle Wirkstofftransporter in der präklinischen Erprobung.
Besondere Beachtung findet dabei auch die im Rahmen der gesamten Nanotechnologie stattfindende Diskussion über ihre Risiken.
=== Lösungsmittel und Tenside ===
Intravenös applizierte Verbindungen, wie Ethanol, Dimethylsulfoxid oder Glycerin, können zu einer lösungsmittelinduzierten Öffnung der Blut-Hirn-Schranke führen. Im Tiermodell (Küken) liegt dabei die Konzentration an Lösungsmittel oberhalb von 1 mg pro kg Körpergewicht. Diese Verbindungen stören vermutlich die Funktion der Zellmembran im Endothel, wodurch der Stofftransport durch transzelluläre Diffusion ermöglicht wird.
Werden kurzkettige Alkylglycerole, wie beispielsweise 1-O-Hexyldiglycerol, zusammen mit Marker-Substanzen in die Halsschlagader von Mäusen oder Ratten injiziert, so erhöht sich die Aufnahme dieser Marker im Gehirn signifikant. Größere Moleküle, die sonst nicht die Blut-Hirn-Schranke passieren, wie beispielsweise Methotrexat, Vancomycin oder Gentamicin, können – bedingt durch die Anwesenheit des Alkylglycerols – in das Gehirn diffundieren. Dieser Effekt wird bei der intravenösen Gabe von Alkylglycerol nicht beobachtet. Die amphipathischen Glycerole öffnen die Blut-Hirn-Schranke dabei für ungefähr 5 bis 120 Minuten. Die Konzentrationen der Alkylglycerole liegen im millimolaren Bereich. Offensichtlich bilden diese tensidähnlichen Verbindungen mit den Wirkstoffen, beziehungsweise Markern, vesikuläre Strukturen. Alkylglycerole sind weitgehend untoxisch und pharmakologisch unbedenklich.
Der Mechanismus der Überwindung der Blut-Hirn-Schranke ist größtenteils noch ungeklärt. Es handelt sich aber offensichtlich um einen Transport durch die Tight Junctions.Auch das Tensid Natriumlaurylsulfat erhöht bei der Injektion in die Halsschlagader die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke deutlich. Natriumlaurylsulfat ist ein pharmakologischer Hilfsstoff, der in verschiedenen Wirkstoffformulierungen zur Anwendung kommt. Die entsprechende Applikation solcher Formulierungen kann daher zu unerwarteten Ergebnissen führen. So bewirkte der Hilfsstoff Natriumlaurylsulfat in einer Formulierung mit Interleukin-2, dass die Blut-Hirn-Schranke bei Katzen für die Markersubstanz Meerrettichperoxidase überraschend durchlässig wurde. Ähnliche Effekte wurden auch mit dem Hilfsstoff Polysorbat-80 beobachtet. Hierzu genügen bei einer Maus schon Dosen im Bereich von 3 mg pro kg Körpergewicht. Kyotorphin, ein neurophysiologisch aktives Dipeptid, ist nicht in der Lage die Blut-Hirn-Schranke zu passieren und eine neurologische Wirkung zu zeigen. Nur in Verbindung mit Polysorbat-80 wird die neurologische Wirkung erreicht.
=== Efflux-Inhibierung ===
Viele Moleküle sind sowohl wegen ihrer Größe als auch ihrer Lipophilie in der Lage die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Sie werden aber nach dem Diffundieren in das Zytoplasma der Endothelien durch Efflux-Pumpen, wie beispielsweise P-Glykoprotein, wieder zurück in das Lumen transportiert. Eine Strategie, um diese Moleküle dennoch dem Gehirn zugänglich zu machen, ist das Ausschalten dieser Efflux-Transporter. Prinzipiell ist dies möglich durch:
Genregulation in der transkriptionalen oder translationalen Phase
Veränderungen der Membran-Targetierung nach der Synthese der Transporter in den Ribosomen
Unterbinden des Transportes durch Inhibitoren (Co-Drugs)Während die ersten beiden Methoden sich noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium auf der Ebene von Zellkulturen befinden, liegen bei den Efflux-Inhibitoren ausgiebige Erfahrungen am Tier und aus klinischen Studien am Menschen vor.Mittlerweile ist eine Reihe von Substanzen bekannt, die den Efflux – speziell durch P-Glykoprotein – inhibieren.Mäuse, bei denen das MDR1-Gen abgeschaltet (Knockout) wurde, so dass im Endothel kein P-Glykoprotein produziert wird, zeigen für eine Reihe von Wirkstoffen eine signifikant erhöhte Aufnahme im Gehirn über die Blut-Hirn-Schranke. Im Vergleich zum Wildtyp der Maus stieg beispielsweise das Konzentrationsverhältnis Gehirn zu Blut bei den HIV-Protease-Inhibitoren Nelfinavir, Indinavir und Saquinavir um den Faktor 7 bis 36 an. Bei den Taxanen Docetaxel und Paclitaxel erhöht sich die Konzentration im Gehirn um den Faktor 7 bis 28 und bei Digoxin um den Faktor 10. Bei Verapamil wird die Aufnahme im Gehirn um den Faktor 8,5 verbessert.Bei Wildtypen von Mäusen und Ratten, denen selektiv wirkende P-Glykoprotein-Inhibitoren, wie beispielsweise Valspodar (PSC 833, ein Ciclosporin-Derivat), Elacridar (GF120918) und Zosuquidar (LY335979), verabreicht wurden, konnten vergleichbare Ergebnisse erhalten werden. Bei Ratten, denen Ciclosporin verabreicht wurde, erhöht sich die Konzentration von Verapamil im Gehirn um den Faktor 9,6.Verapamil – ein als Calciumantagonist zugelassenes Arzneimittel – ist im Tierversuch selbst ein wirksames Co-Drug, das die Aufnahme bei nachfolgend applizierten Wirkstoffen im Gehirn deutlich erhöhen kann. Dies wurde im Tiermodell unter anderem bei zytostatischen Vincaalkaloiden nachgewiesen. Eine ähnliche Wirkung zeigen Procyanidine.Nachteilig bei dem Ansatz der Efflux-Inhibierung ist, dass die verabreichten Inhibitoren – speziell der ersten Generation, wie Verapamil und Ciclosporin – selbst pharmakologisch aktiv sind und so eine Reihe von unerwünschten Nebenwirkungen haben. Bei der zweiten und dritten Generation von P-Glykoprotein-Inhibitoren sind diese Effekte deutlich reduziert. Außerdem wird bei allen Zellen – die P-Glykoprotein exprimieren – selbiges inhibiert. So sind bei der systemischen Gabe von Efflux-Inhibitoren auch die apikale Seite der Darm-Epithelien, der Gallenkanälchen (Bilis canaliculi), der Nierenkanälchen und der Plazenta, sowie an der luminalen Seite die der Hodenkanälchen betroffen.BCRP (Brustkrebs-Resistenz-Protein, Breast Cancer Resistance Proteine), der zweitwichtigste Efflux-Transporter der Blut-Hirn-Schranke, hat offensichtlich kaum einen Einfluss auf den Transport von Wirkstoffen. Dies wurde bei Versuchen an Knockout-Mäusen festgestellt, bei denen das BCRP-codierende ABCG2-Gen abgeschaltet wurde.Die Efflux-Inhibierung wird insbesondere in der Krebstherapie verfolgt, da viele Krebszellen im Therapieverlauf P-Glykoprotein stark exprimieren und sich dadurch der Wirkung von Zytostatika weitgehend entziehen können. Die Tumoren sprechen dann nicht mehr auf die verabreichten Zytostatika an.
== Öffnen der Blut-Hirn-Schranke für therapeutische Zwecke ==
Das Öffnen der Blut-Hirn-Schranke für therapeutische Zwecke ist, neben den beiden zuvor gezeigten Prinzipien, eine weitere Strategie, um Wirkstoffe dem Gehirn zuzuführen, die normalerweise nicht in der Lage sind die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Das Ziel dieser Verfahren ist eine möglichst reversible Öffnung oder zumindest Lockerung der Tight Junctions, um einen parazellulären Wirkstofftransport in das Gehirn zu ermöglichen.
Mit dem zunehmenden Verständnis des molekularen Aufbaus der Blut-Hirn-Schranke – und hierbei vor allem der Tight Junctions – wurden neue Wege und Verfahren zur pharmakologischen, aber auch physikalischen, Öffnung der Blut-Hirn-Schranke entwickelt. Die meisten dieser Verfahren befinden sich noch in der präklinischen Erprobung.
Beim Öffnen der Blut-Hirn-Schranke besteht allgemein die Gefahr, dass für das Gehirn toxische Plasmaproteine eindiffundieren und dann chronische Neuropathologien auslösen können.
=== Tight-Junction-Modulation ===
Verbindungen, die einen Einfluss auf die Tight Junctions haben, werden als Tight-Junction-Modulatoren bezeichnet. Durch die Fortschritte im Bereich der genomischen Wirkstoffentwicklung, des High-Throughput Screening, der kombinatorischen Chemie und der Bioinformatik, wurde eine Reihe von Substanzen entwickelt beziehungsweise identifiziert, die in der Lage sind unmittelbar die einzelnen Peptide der Tight Junctions und Adherens Junction zu targetieren und damit den Zell-Zell-Kontakt der Endothelien zu modulieren.Modulatoren, die unmittelbar die Tight Junctions targetieren, leiten sich beispielsweise von den Enterotoxinen der Bakterien Vibrio cholerae und Clostridium perfringens ab. Vibrio cholerae – ein Cholera-Erreger – bildet unter anderem das Zonula-Occludens-Toxin (ZOT, Zonula occludens = Tight Junction). ZOT ist ein aus 399 Aminosäuren aufgebautes, 45 kDa schweres Protein, das im Darm mit einem Oberflächenrezeptor – dem ZOT-Rezeptor – der dortigen Endothelien interagiert und dadurch eine intrazelluläre Signalkaskade auslöst, die noch nicht vollständig aufgeklärt ist. Es wird unter anderem das Enzym Proteinkinase A aktiviert, das den Abbau der Tight Junctions katalysiert.
An Einzellagen zerebraler Endothelien bewirkt ZOT in vitro eine deutliche Reduzierung des transendothelialen elektrischen Widerstandes (TEER), die reversibel ist. Für die Markermoleküle Saccharose, Inulin, Paxlitaxel und Doxorubicin wird die parazelluläre Permeabilität signifikant erhöht.
Auch das 12 kDa schwere aktive ZOT-Fragment ΔG sowie die aus nur sechs Aminosäuren (im Einbuchstabencode: FCIGRL) bestehende aktive ZOT-Domäne (AT1002) binden an den ZOT-Rezeptor.Das aus 44 Aminosäuren bestehende OCC2-Peptid bindet selektiv an die zweite Domäne des Tight-Junction-Proteins Occludin, wodurch ebenfalls der parazelluläre Transport erleichtert wird.Bradykinin, ein aus neun Aminosäuren aufgebautes gefäßerweiternd wirkendes Oligopeptid, bindet an die B2-Rezeptoren der luminalen Seite der Endothelien. Als Folge davon steigt die Konzentration an freien intrazellulären Calcium-Ionen und der mit den transmembranen Tight-Junction-Proteinen Occludin und Claudin verbundene Aktin-Myosin-Komplex wird aktiviert, wodurch die Tight Junctions geöffnet werden.
=== Osmotische Öffnung der Blut-Hirn-Schranke ===
Kurz nach der Entdeckung der Tight Junctions wurde 1970 die These aufgestellt, dass die Einwirkung von hyperosmotischen Lösungen auf die Endothelzellen die Blut-Hirn-Schranke öffnen könne. 1980 wurde diese Methode erstmals angewendet und 1984 wurde durch elektronenmikroskopische Aufnahmen der experimentelle Beweis für diese These erbracht. Elektronendichte Marker waren durch die Tight Junctions in das Gehirn diffundiert.Über die Arteria carotis interna werden hyperosmolare Lösungen, beispielsweise von Mannitol oder Arabinose infundiert. Der unterschiedliche osmotische Druck zwischen den Endothelzellen und der infundierten Lösung bewirkt einen Flüssigkeitsverlust in den Endothelzellen, der zu deren Schrumpfung führt. Durch die Schrumpfung entstehen Zugkräfte zwischen den Zellen, was zu einer Öffnung der Tight Junctions und somit zur Öffnung der Blut-Hirn-Schranke führt.Aufgrund des Konzentrationsgradienten zwischen intravasalem und interstitiellem Raum fließt in größerer Menge Wasser aus dem Plasma ins Gehirn zurück (bulk flow). Dadurch werden im Wasser gelöste Moleküle in das Gehirn eingeschwemmt, wobei ein Ödem entsteht.Die durch die Schrumpfung der Endothelzellen bewirkte Öffnung der Tight Junctions beträgt etwa 20 nm. Dadurch können Moleküle mit einem hydrodynamischem Durchmesser von ebenfalls etwa 20 nm in das Gehirn eindiffundieren.
Die Öffnung der Blut-Hirn-Schranke ist bei dieser Methode reversibel. Zehn Minuten bis spätestens zwei Stunden nach der Infundierung ist sie wieder vollständig hergestellt. Die Einwirkungszeit der hyperosmolaren Lösung beträgt etwa 30 Sekunden. Durch eine Vorbehandlung mit einem Na+/Ca2+-Kanalblocker kann die Öffnungsdauer der Blut-Hirn-Schranke verlängert werden.
Das Verfahren wurde im Tiermodell mit einer Vielzahl von wasserlöslichen Wirkstoffen, Peptiden, Antikörpern, Enzymen und viralen Vektoren für die Gentherapie getestet. Eine Reihe von klinischen Studien zur Therapie von Gehirntumoren in Kombination mit Chemotherapeutika werden in verschiedenen Kliniken durchgeführt. Die Ergebnisse sind für diese Anwendung vielversprechend.
=== Ultraschall ===
Die Blut-Hirn-Schranke lässt sich durch fokussierten Ultraschall öffnen. Dieser Effekt wurde erstmals 1956 nachgewiesen. Die Öffnung der Blut-Hirn-Schranke konnte durch die Anfärbung des Gehirns mit Trypanblau – einem Vitalfarbstoff, der normalerweise die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann – und durch radioaktiv markiertes Phosphat nachgewiesen werden. Mikroskopisch konnten keine Veränderungen am Endothel beobachtet werden. Die Anwendung des Ultraschalls führte allerdings zu Hirnverletzungen. 1960 wurde dann erstmals die Blut-Hirn-Schranke mit nur einer geringen Schädigung des umliegenden Parenchyms durch Ultraschall geöffnet. Alle diese Versuche wurden mit hochintensivem fokussiertem Ultraschall, mit Leistungen im Bereich von 4000 Watt/cm², durchgeführt. Dabei entstehen Kavitationsblasen, die das Gewebe irreversibel zerstören können.
Fokussierender Ultraschall mit MikrobläschenDie Öffnung der Blut-Hirn-Schranke mit Ultraschall und gleichzeitig applizierten Mikrobläschen (Microbubbles) kam 2001 zum ersten Mal zur Anwendung. Der Ansatz dabei ist, dass keine Kavitationsblasen generiert werden müssen, sondern injizierte Mikrobläschen die Funktion der sonst durch die hohe Ultraschallleistung erzeugten Kavitationsblasen übernehmen. Dadurch kann die Leistung des Ultraschalls deutlich reduziert werden; es besteht keine Gefahr mehr den behandelten Schädel, beziehungsweise das umliegende Gewebe, zu überhitzen. Die Technik ist mittlerweile so weit entwickelt, dass bei der Öffnung der Blut-Hirn-Schranke keine Apoptose, keine Ischämie oder sonstige Langzeitschädigung im Gehirn nachzuweisen sind. Wenige Stunden nach der Behandlung ist der alte Zustand der Blut-Hirn-Schranke wiederhergestellt.Der Fokus des Ultraschalls kann auf beliebige Areale im Gehirn gerichtet werden. Dadurch kann die Blut-Hirn-Schranke selektiv, auf bestimmte Hirnareale begrenzt, geöffnet werden. So können applizierte Wirkstoffe gezielt in diese Areale diffundieren. Die behandelten Areale lassen sich durch eine simultan laufende Magnetresonanztomographie (MRT) genau verfolgen. Dabei dringt das für die MRT verwendete Kontrastmittel, beispielsweise Gadopentetat-Dimeglumin, nur durch die geöffneten Areale der Blut-Hirn-Schranke in das Gehirn ein. Diese Bereiche werden dadurch im MRT deutlich sichtbar hervorgehoben. Das hochpolare Gadopentetat-Dimeglumin ist nicht in der Lage die ungeöffneten Bereiche der Blut-Hirn-Schranke zu passieren.
Im Tiermodell Maus werden bei der Anwendung von fokussiertem Ultraschall mit Mikrobläschen Frequenzen im Bereich von 0,5 und 2 MHz mit kurzen Pulslängen im Millisekundenbereich und Wiederholfrequenzen im Bereich von 1 Hz, über einen Zeitraum von weniger als einer Minute angewendet. Der optimale Frequenzbereich liegt unterhalb von 1 MHz.
Die akustische Leistung beträgt weniger als ein Watt. Die verwendeten Mikrobläschen sind meist zugelassene Kontrastmittel aus der kontrastmittelverstärkten Sonographie. Sie haben typischerweise einen Durchmesser von 3 bis 4,5 µm, bestehen beispielsweise aus Humanalbumin und sind mit Perfluorpropan oder ähnlichen Schwergasen gefüllt.
MechanismusDer Mechanismus zur Öffnung der Blut-Hirn-Schranke durch die Anwendung von fokussiertem Ultraschall, zusammen mit Mikrobläschen, ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Die Wechselwirkung von Ultraschall und Mikrobläschen spielt dabei eine große Rolle und führt in vivo zu einer Reihe von biologischen Effekten. Eine wesentliche Rolle scheinen dabei Scherkräfte zu spielen, die durch Mikroströmungen erzeugt werden. Diese Mikroströmungen selbst kommen von Oszillationen der Mikrobläschen im Ultraschallfeld. Von den Endothelien selbst ist wiederum bekannt, dass sie auf Scherkräfte dynamisch reagieren können und Scherkräfte eine kritische Größe für die Homöostase sind. Elektronenmikroskopische Aufnahmen von Kapillargefäßen so behandelter Versuchstiere zeigen sowohl einen transzellulären als auch einen parazellulären Transport von entsprechenden Markermolekülen (Meerrettichperoxidase). Bei dem transzellulären Transport handelt es sich im Wesentlichen um Transzytose. Der parazelluläre Transport wird durch einen komplexen Desintegrationsprozess initiiert, bei dem die Tight Junctions ihre Funktion verlieren.Die so geöffnete Blut-Hirn-Schranke ist durchlässig für niedermolekulare Chemotherapeutika, wie beispielsweise Doxorubicin und Antikörper, wie Trastuzumab. Auch die prinzipielle Machbarkeit des Transports von Genen in das Gehirn wurde mit dieser Methode im Tiermodell nachgewiesen. Das Verfahren zur Öffnung der Blut-Hirn-Schranke mit Ultraschall und gleichzeitig applizierten Mikrobläschen ist noch ein sehr junges Verfahren. Bisher wurde es nur an Versuchstieren erprobt. Bis zu einer möglichen Zulassung des Verfahrens am Menschen vergehen erfahrungsgemäß noch viele Jahre.
Die für die Bildgebung in der Diagnostik verwendete nicht-fokussierte Ultraschallstrahlung (Sonographie) beeinflusst die Integrität der Blut-Hirn-Schranke – auch bei der Gabe von Kontrastmitteln – nicht.
== Literatur ==
A. G. De Boer, W. Sutanto: Drug Transport Across the Blood-brain Barrier. CRC Press, 1997, ISBN 90-5702-032-7
D. J. Begley u. a.: The Blood-brain Barrier and Drug Delivery to the CNS. Informa Health Care, 2000, ISBN 0-8247-0394-4
P. Ramge: Untersuchungen zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke mit Hilfe von Nanopartikeln. Shaker Verlag, 1999, ISBN 3-8265-4974-0
== Weblinks ==
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Konzepte_zur_%C3%9Cberwindung_der_Blut-Hirn-Schranke
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Einküchenhaus
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= Einküchenhaus =
Das Einküchenhaus war ein Reformmodell städtischer Wohnbebauung, bei dem eine zentral bewirtschaftete Großküche innerhalb eines Mehrparteienhauses die Küchen der einzelnen Wohnungen ersetzte. Das Konzept ging zurück auf Vorstellungen der Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin Lily Braun. Mit der Grundidee der Befreiung der Frau von der Hausarbeit war es am Anfang des 20. Jahrhunderts ein ausdrücklicher Gegenentwurf zu der im Massenwohnungsbau angelegten Etablierung der isolierten Kleinfamilie. Einküchenhäuser, manchmal auch Zentralküchenhäuser genannt, fanden bis in die 1950er Jahre vereinzelte und unterschiedlich geprägte Umsetzungen in verschiedenen europäischen Großstädten. Als Schlüsselwerke einer Idee des modernen Wohnens wurden einige dieser Bauten 2009 für die Nominierung zum Europäischen Kulturerbe (European Heritage Label) vorgeschlagen, ausdrücklich als ein über verschiedene Staaten verteiltes Netzwerk gemeinsamer europäischer Architektur.
== Das Konzept des Einküchenhauses ==
Die grundsätzliche Idee hinter den Einküchenhäusern war die Einrichtung einer Zentralküche innerhalb eines Mehrparteienhauses oder Häuserkomplexes bei gleichzeitigem Fehlen von privaten Küchen in den einzelnen Wohnungen. Stattdessen waren diese durch einen Speiseaufzug und ein Haustelefon mit der zumeist im Keller oder Erdgeschoss liegenden Versorgungseinrichtung verbunden. Die Ausstattung bestand in vielen Fällen aus zeitgenössisch modernen Gerätschaften. Die Gemeinschaftsküche wurde durch bezahltes Personal bewirtschaftet, bei dem Mahlzeiten und Speisen bestellt werden konnten. Viele der Häuser verfügten zudem über zentrale Speisesäle, je nach Gestaltungskonzept waren die Wohnungen auch mit Anrichten und einfachen Gaskochern für Notfälle ausgestattet.
In fast allen realisierten Einküchenhäusern gab es zudem weitere Gemeinschafts- und Serviceangebote, wie zum Beispiel Dachterrassen und Wäschekeller, in manchen Fällen auch Läden, Bibliotheken und Kindergärten. Zu der Anfang des 20. Jahrhunderts neuartigen Wohnungseinrichtung gehörten Zentralheizung, Warmwasserversorgung, Müllschlucker und Zentralstaubsaugeranlagen mit häuslichem Rohrsystem, den Bewohnern standen in unterschiedlicher Weise Dienstleistungsangebote zur Verfügung.Ursprünglich als Reformidee im Arbeiterwohnungsbau gedacht, bei der die Kosten der Gemeinschaftseinrichtungen durch Einsparungen im Wohnungszuschnitt und durch zentrale Bewirtschaftung aufgehoben würden, lagen den verwirklichten Projekten unterschiedliche Eigentums- und Organisationsformen zugrunde. Sowohl auf privatwirtschaftlicher wie auf genossenschaftlicher Basis boten Einküchenhäuser dem besser situierten Bürgertum ein alternatives Lebensmodell inmitten der Stadt. Im Gegensatz zu anderen Reformkonzepten am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, wie zum Beispiel der Gartenstadtbewegung, wurde der Zusammenhalt der Bewohner nicht durch Abschirmung, sondern durch sozialen Austausch mit der sie umgebenden städtischen Umwelt bewirkt.Die wenigen tatsächlich ausgeführten Einküchenhäuser wurden begleitet von einer intensiven Diskursgeschichte sowohl in der Politik wie in der Architektur, doch in der Praxis scheiterten diese Zentralwirtschaftsprojekte meist schon nach kurzer Zeit. Die Wohnungen wurden dann mit Einzelküchen ausgestattet, Gemeinschaftsräume teilweise anderweitig belegt, einige Einrichtungen, wie zum Beispiel zentrale Waschküchen, aber auch beibehalten und insbesondere vom genossenschaftlichen Wohnungsbau übernommen. Äußerlich unterscheiden sie sich im Stadtbild nicht von anderen Häusern, so dass sie weitgehend als vergessene, gescheiterte Reformexperimente gelten.
== Historische Voraussetzungen ==
=== Die Wohnungsfrage im 19. Jahrhundert ===
Während der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem damit einhergehenden massiven Bevölkerungszuwachs in den Städten fand ein radikaler Bruch mit den vorindustriellen Wohnweisen statt. Die in die Industriezentren ziehende Landbevölkerung verließ ihre in Großfamilien angelegten Wohn- und Versorgungsstrukturen. In den Städten stießen sie auf zunehmende räumliche, soziale und gesundheitliche Probleme, die unter dem Begriff Wohnungselend zusammengefasst wurden. Stadterweiterungen und Massenwohnungsbau wurden spekulativ über den Markt geregelt, da die gesellschaftlichen Umbrüche in eine Liberalisierung der Wirtschaftsordnung gebettet waren. Die Wohnungsknappheit und Wohnungsnot betraf fast alle Stadtbewohner, doch nahezu unlösbar schien sie für unständige, also nicht fest angestellte und den Arbeitsort häufig wechselnde, schlecht bezahlte Arbeiter und ihre Familien. Die Probleme waren Gegenstand einer steten Kritik seitens der Organisationen der Arbeiterbewegung, aber auch sozialpolitisch engagierter Verbände, Wissenschaftler und Wohnungsreformer. Die Wohnungsfrage wurde zu einem der zentralen politischen Themen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
Das Grundproblem bestand darin, die Diskrepanz zwischen den Wohnkosten und den Einkommen der Arbeiterschaft zu verringern. Reduziert man die Aspekte der Wohnungsfrage auf eine sozialistische und eine bürgerliche Etikettierung, unterschieden sich die Positionen schon im Ansatz. Für die Arbeiterbewegung war die Wohnungsnot eine Klassenfrage, die nicht im Kapitalismus, sondern erst mit der Aneignung der Produktionsmittel durch kollektive Wohnformen zu lösen sei. Dem gegenüber stand die Position der Wohnungs- und Sozialreformer, die ein sittliches, gesundheitliches und moralisches Problem im Wohnungselend sahen. So sollten bezahlbare und in sich abgeschlossene Kleinwohnungen geschaffen werden, in der nach bürgerlichem Vorbild eine familiäre Arbeitsteilung stattfände, nach der der Mann der Erwerbsarbeit nachgehe und die Frau für die Hausarbeit zuständig sei. Dabei kam der Wohnung zusätzlich die Funktion eines Erziehungsprogramms für das Proletariat zu:
Lösungen des Problems wurden in der Subvention von Kapitalkosten beim Wohnungsbau, der Bildung von Genossenschaften bis hin zu Mietkaufstrategien von Eigenheimen gesehen. Die Sozialdemokratie hingegen entwickelte bis weit nach der Jahrhundertwende keine eigenen Wohnkonzepte, die von der Frauenbewegung und insbesondere von Lily Braun eingebrachten Modelle zum Einküchenhaus lehnte sie ab. Nach dem Wandlungsprozess zur demokratisch-sozialistischen Reformpartei schloss sie sich den bereits entwickelten Vorgaben an, modifiziert durch die Forderung nach einer staatlichen Wohnungspolitik. In der Praxis setzte sich die abgeschlossene Wohnung für die Kleinfamilie durch, für die Zuwanderer vom Land und das Proletariat war sie mit der privaten Sphäre und der selbstbestimmten Ausstattung und Organisation die sichtbar bessere Wohnform.
=== Die Ideale der Utopischen Sozialisten ===
Eine Vorlage für das Konzept von Einküchenhäusern bot das utopische Ideal einer Gemeinschaft, die der frühsozialistische Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier (1772–1837) mit dem Modell der Phalanstère erdacht hatte. Den Begriff schöpfte Fourier aus dem griechischen Wort Phalanx (‚Kampfeinheit‘) und dem lateinischen Monasterium (‚klösterliche Gemeinschaft‘), und ebendiese Wirtschafts- und Lebensgemeinschaften sollten, entgegen dem kapitalistischen Wirtschaftssystem, die Arbeitsteilung und Spaltung zwischen Produktion und Konsum überwinden. Die Familienhaushalte wären in Gemeinschaftshäusern mit kollektiver Infrastruktur aufgelöst, es sollte öffentliche Küchen, Speisesäle, Schulen, Festsäle, Erholungsräume, Geschäfte, Bibliotheken, Musikräume und Bereiche für Kinder und Alte geben. In den Modellen mitgedacht war die Gleichstellung der Frau und eine freie Sexualität.
Der französische Fabrikbesitzer Jean-Baptiste Godin (1817–1889), ebenfalls Anhänger des Frühsozialismus, griff Fouriers Entwurf auf und realisierte ab 1859 mit dem Familistère in der französischen Gemeinde Guise, neben seiner Eisengießerei und Ofenfabrik, eine Gemeinschaftswohnanlage. Sie bot Platz für 1500 Menschen und bestand aus drei Wohnkomplexen, Schulgebäuden, einer Kinderkrippe, einem Badehaus und einem Theater. Hinzu kamen die Gebäude des Économats, einem Wirtschaftshof mit Küchen, Sälen, Restaurants, Schankwirtschaft, Läden, Schweinestall und Hühnerhof. Im Gegensatz zu Fourier strebte Godin nicht die Auflösung der Familie an, wie er schon mit der Namensgebung nachdrücklich betonte. Theoretisch waren Frauen den Männern gleichgestellt, doch, da man ihnen die schwere und schmutzige Arbeit in der Fabrik nicht zutraute, blieben viele von ihnen ohne Arbeit. In der Folge wurden schon bald in die Wohnungen individuelle Küchen eingebaut. 1880 übertrug Godin den Gesamtkomplex einschließlich Fabrik in eine Genossenschaft, die bis 1960 bestand.Bereits 1816 gründete der britische Unternehmer Robert Owen (1771–1858) bei seiner Baumwollspinnerei in New Lanark, Schottland, eine pädagogische Einrichtung zur Besserung seiner Angestellten, die Institution for the formation of Character. Er entwickelte dabei ein Musterkonzept für Industriedörfer, in denen Wohnungen ohne Küchen gebaut wurden. Statt derer wurde die Zubereitung von Speisen und ebenso das Essen selbst zentral und kollektiv organisiert. 1825 verkaufte Owen die Fabrik in Schottland und ging in die Vereinigten Staaten, um seine Ideen weitreichender umzusetzen. Im Staat Indiana gründete er die Siedlung New Harmony, die Platz für etwa 1000 Bewohner bot. Doch die Umsetzung scheiterte sowohl an ökonomischen Schwierigkeiten wie an personellen Problemen:
Schon drei Jahre später verkaufte Owen die Siedlung wieder. Gegner der frühsozialistischen Utopien sahen die Nicht-Machbarkeit bestätigt. Karl Marx analysierte das Scheitern der frühen sozialistischen Systeme als nicht radikal genug und zugleich zu radikal, weil sie den Sprung in einen idealen Endzustand verlangten, diesen aber inselhaft beschränkt statt gesamtgesellschaftlich dachten, sie „erblicken auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm eigentümliche politische Bewegung.“
=== Die Kollektivierung der Hauswirtschaft ===
Trotz ihres Scheiterns hatten die Frühsozialisten erhebliche Wirkung auf die ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden Konzepte utopischer Siedlungen mit zentralisierter Hauswirtschaft und den Versuchen ihrer Umsetzung. In den USA und in Europa entwickelte sich ein Netzwerk verschiedener reformerischer und revolutionärer Richtungen, die Neuorientierung der Arbeitsteilung, der Hauswirtschaft und der Wohnformen anstrebten. Darunter waren Vertreter der Arbeiterbewegung, der sozialistischen und bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland, der Anarchisten, der Feministinnen und der Settlement-Bewegung in den USA, Anhänger der Architekturreform und der Gartenstadtbewegung in Großbritannien und Deutschland.In Boston plante die Feministin Melusina Fay Peirce (1836–1923) ab 1868 eine Hausfrauen- und Produktions-Kooperative. Sie gestaltete dabei sowohl die baulichen wie die konzeptionellen Hintergründe und prägte für ihre Anlage den Begriff cooperative housekeeping. In einer auf Nachbarschaftshilfe aufgebauten Gemeinschaft von 36 um einen Hof gruppierten Häuser sollten in einer zentralen Arbeitsstätte bezahlte Dienstleistungen wie Kochen, Waschen und Nähen angeboten sowie eine kommunale Küche eingerichtet werden. Das Projekt scheiterte binnen kurzem an dem Widerstand der Ehemänner der beteiligten Frauen. Peirce entwickelte ihre Erfahrungen und Erkenntnissen weiter und veröffentlichte 1884 die Schrift Co-operative Housekeeping: How not to do it and How to do it.
Das Konzept der Haushaltskooperative wurde von der feministischen Schriftstellerin Marie Stevens Howland (1836–1921) aufgegriffen und um 1890 von Mary Coleman Stuckert weiterentwickelt, die versuchte, in Denver ein Modell städtebaulicher Reihenhäuser mit zentralen Gemeinschaftsräumen, zentraler Küche und einer kooperativen Kinderbetreuung zu etablieren. Auch die Architektin Alice Constance Austin (1868–unbekannt) orientierte sich an Peirce, als sie ab 1910 in Palmdale, Kalifornien, mit dem Projekt Llano del Rio einen kompletten städtebaulichen Plan auf kooperativer Basis mit zentralisierter Hauswirtschaft entwarf. Die Kommune bestand von 1915 bis 1918. Einfluss auf die europäische Einküchenhausbewegung wird auch der amerikanischen Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman (1860–1935) zugeschrieben, die um 1900 ihre radikalen Konzepte der Neuerung von Geschlechterbeziehungen, Familie und Haushalt sowohl in theoretischen Abhandlungen wie in Romanen ideenreich beschrieb.
Erste deutsche, schriftlich festgehaltene Überlegungen zur kollektiven Hausarbeit finden sich im Werk der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831–1919). In ihrer Veröffentlichung Der Jesuitismus im Hausstande von 1873 führte sie aus, dass die Hauswirtschaft aufgrund der historischen Entwicklung von Industrialisierung und Arbeitsteilung immer mehr an Inhalten verliere und die Tendenz auf Zentralisierung weise:
Auch August Bebel skizzierte in seiner als Klassiker der Emanzipationstheorie bezeichneten, 1878 herausgegebenen Schrift Die Frau und der Sozialismus ein Bild von Gesellschaft, in der der Privathaushalt aufgelöst, Essenzubereitung, Besorgung von Kleidung und Erziehung von Kindern in kollektiven Einrichtungen außerhalb von Wohnungen organisiert und der großen Verschwendung an Zeit, Kraft, Heiz- und Beleuchtungsmaterial sowie Nahrungsmitteln ein Ende bereitet werden sollte.
Als weiterer Vater der Idee des Zentralhaushaltes gilt der russische Anarchist Pjotr Alexejewitsch Kropotkin.
In der Diskursgeschichte der Einküchenhäuser wird über Jahrzehnte in verschiedenen Abhandlungen, unter anderem von Lily Braun und Henry van de Velde, auf Kropotkin Bezug genommen. Dennoch wird dieser Hintergrund vielfach nicht benannt, um „jegliche Verbindung mit der unfeinen Vergangenheit der Einküchenhäuser“ zu überspielen. Es ist vor allem Kropotkins einprägsame Kritik am Einzelhaushalt, die weit verbreitet zitiert wird:
Kropotkins Einfluss entstand nicht allein aus seinen theoretischen Ausarbeitungen, sondern auch durch seine Rolle als Mittler in verschiedenen Kreisen. So war er häufiger Gast im Chicagoer Hull House von Jane Addams, hatte Kontakte zu englischen Kunstreformern, dort traf er mit Lilly Braun zusammen, zur Deutschen Gartenstadtgesellschaft und erheblichen Einfluss auf Ebenezer Howard, dem Begründer der Letchworth Garden City.
=== Der Einfluss des Hull House Chicago ===
Einen besonderen Einfluss auf die Konzepte des Einküchenhauses hatte das 1889 von Jane Addams (1860–1935) und Ellen Gates Starr (1859–1940) gegründete Hull House in Chicago, das die amerikanische Settlement-Bewegung mitbegründete. Es handelt sich dabei um eine der ersten Einrichtungen der Gemeinwesenarbeit und stand inmitten eines Einwandererviertels. Von hier aus wurde sowohl unmittelbare Hilfe wie auch kulturelle Bildung für die in der Nachbarschaft lebenden Einwanderer und Flüchtlinge angeboten. Gleichzeitig war es ein Forschungszentrum für soziale Belange, auf deren Grundlage insbesondere Frauen sozialpolitische Reformen einforderten. Neben der Sozial- und Gemeinwesenarbeit diente das Haus sowohl Arbeiterinnen wie berufstätigen Intellektuellen, zumeist Immigrantinnen, als Unterkunft. Mit der Zielsetzung, die Lebensbedingungen der Frauen zu verbessern, richtete man eine Zentralküche ein, aus der die etwa 50 Bewohnerinnen wie auch Menschen aus der Nachbarschaft versorgt wurden. Die Frauen hatten die Wahl, das Essen in ihre Wohnungen zu bestellen oder im gemeinschaftlichen Speisesaal einzunehmen. Dieser war zugleich Treffpunkt und Ausgangspunkt für vielfältige kulturelle und politische Aktivitäten.
Das Engagement der Frauen umfasste den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und geregelte Löhne ebenso wie die Forderungen nach Einführung der Schulpflicht für die Kinder, wirksamen Kinderschutz und Einführung des Frauenwahlrechts. Die Hilfsangebote verstanden sich als Hilfe zur Selbsthilfe auf der Grundlage eines gegenseitigen Lernens, das insbesondere durch die verschiedenen Herkünfte und Kulturen der Frauen befruchtet wurde. Als wesentliche Erleichterung des alltäglichen Lebens, nicht nur im Hull House, sondern im gesamten Stadtviertel, konnte die Wasserversorgung über Hausleitungen und die von Jane Addams initiierte Müllabfuhrregelung angesehen werden. Nach dem Tod der Gründerin 1935 wurde das Projekt als Jane Addams Hull House Association weitergeführt, seit 1962 ist es Dachorganisation für mehrere Gemeinwesenhäuser in Chicago. Das Ursprungsgebäude wird als College für Sozialarbeit von der University of Illinois at Chicago genutzt.
== Diskursgeschichte – Wohnungsreform und Frauenarbeit ==
Lily Braun (1865–1916), die als Mittlerin zwischen der sozialistischen und der bürgerlichen Frauenbewegung galt, brachte ab Ende des 19. Jahrhunderts in Referaten und Reden ihre Vorstellungen über die Zentralisierung der Hauswirtschaft und genossenschaftlich organisierte Einküchenhäuser ein. Sie bedachte damit sowohl die Situation der proletarischen Frauen, denen mit der Industrialisierung die außerhäusliche Fabrikarbeit aufgezwungen war, wie die der bürgerlichen Frauen, die den Zugang zur Erwerbstätigkeit anstrebten. Wirtschaftsgenossenschaften seien eine der Grundlagen für die Befreiung der Frauen, denn, schrieb sie, Kropotkin zitierend, „sie von dem Kochherd und dem Waschfaß befreien, heißt solche Einrichtungen treffen, die ihr gestatten, ihre Kinder zu erziehen und am sozialen Leben Theil zu nehmen.“
=== Lily Brauns Modell des Einküchenhauses ===
Im Jahr 1901 veröffentlichte Lily Braun die Schrift Frauenarbeit und Hauswirtschaft, in der sie ihr Modell des Einküchenhauses skizzierte. Sie berief sich in ihren Grundannahmen auf August Bebels Ausführungen zur Industrialisierung der Reproduktionsarbeit, auf Kropotkins Kritik am Einzelhaushalt und an dem Beispiel des Hull House in Chicago. Im Konkreten stellte sich Lily Braun einen Häuserkomplex inmitten eines Gartens mit 50 bis 60 Wohnungen vor, die statt einer Küche jeweils nur einen kleinen Raum mit Speiseaufzug und einen Gaskocher für Notfälle haben:
Zur Zentralküche sollten zudem Vorratsräume und Waschküche mit selbsttätigen Waschmaschinen gehören. Je nach Neigung würde das Essen in der eigenen Wohnung oder in einem gemeinsamen Speisesaal eingenommen, der zugleich als Versammlungsraum und Spielzimmer für Kinder dienen könnte. Die Haushaltung sollte unter der Regie einer bezahlten Wirtschafterin stehen, unterstützt von ein bis zwei Küchenmädchen.
Die Organisation und Finanzierung sollte über Genossenschaften und den Fonds der Arbeiterversicherungen gewährleistet werden. Braun rechnete vor, dass der Aufwand auch für Arbeiterfamilien im Bereich des Möglichen läge, da die Ersparnisse durch den Wegfall der Einzelküche, sowohl bei der Miete wie bei der Beköstigung, in die Finanzierung der Zentralküche und Gemeinschaftsräume fließen könne.Die politische und soziale Wirkung ihres Konzeptes sah Lily Braun in mehrfacher Hinsicht als bedeutend an. Es wäre die Lösung der Wohnungsprobleme der Proletarier, durch die Befreiung der Frau von der Hausarbeit werde allgemein die Frauenemanzipation vorangetrieben und als umfassende Familien- und Lebensreform ermögliche die kollektive Wirtschaftsführung ein von Hausarbeit befreites Familienleben. Zudem wäre mit diesem Modell eine Ernährungsreform möglich, die den „schädlichen Dilettantismus in der Küche“ beende und für eine ausgewogene Ernährung sorge, und schließlich beinhalte es eine Erziehungs- und Bildungsreform, die Kindererziehung werde durch geschultes Personal verbessert:
Aber nicht nur für die proletarischen Frauen, auch für die Familien der bürgerlichen Kreise böte das Modell des Einküchenhauses Lösungen. So könnten durch die Professionalisierung von Haus- und Heimarbeit Hausfrauen- und Dienstbotenfrage gelöst werden.
=== Die Kritik der Sozialdemokratie ===
Lily Brauns Essay rief vielfachen Widerspruch hervor, ihr Modell des Einküchenhauses wurde in der Presse als „Zukunftskarnickelstall, Kasernenmassenabfütterung und verstaatlichte Mutterfreuden“ bezeichnet.
Innerhalb der Sozialdemokratie griff der Vorschlag in zwei kontrovers geführte Grundsatzdebatten ein, neben der der Wohnreform auch die des Arbeitsschutzes, die unmittelbar verbunden war mit der Frage nach der Berufstätigkeit von Frauen. In Fortführung von August Bebels Theorien um die Frauenemanzipation hatte Clara Zetkin formuliert, dass Benachteiligung nicht allein als biologisches oder rechtliches, sondern vor allem als wirtschaftliches Problem verstanden werden muss, mit der Konsequenz der Forderung des Rechts auf Arbeit für Frauen. Diese Auffassung wurde innerhalb der SPD nicht unumschränkt geteilt, vor allem männliche Genossen fürchteten die Konkurrenz durch die Vergrößerung der industriellen Reservearmee und einer damit verbundenen Lohndrückerei. Ein weiteres Gegenargument war zudem die Sorge um die zerstörerischen Folgen der Frauenarbeit für die leibliche Gesundheit von Frauen und Familien. Die Lösung dieses strittigen Problems aber war, wie auch die Wohnungsfrage, in eine unbekannte Zukunft verschoben worden, die erst nach der zu erreichenden Vergesellschaftung der Produktionsmittel gefunden werden konnte. Die SPD nahm damit eine deutliche Abgrenzung zu den „Kopfgeburten“ der utopischen Sozialisten vor. Brauns Modell des Einküchenhaus aber hole den „überwundenen Utopismus des 19. Jahrhunderts“ wieder hervor, um „die Rezepte für die Garküche der Zukunft auszuspintisieren“.
Auch die sozialdemokratische Frauenbewegung lehnte die Idee ab. Clara Zetkin unterzog den Vorschlag in mehreren Aufsätzen in der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Gleichheit einer umfassenden und vernichtenden Kritik: Die zentralisierte Hauswirtschaft sei sowohl für Massenarbeiter wie für Facharbeiter nicht realisierbar, da sie in ihren Arbeitsbedingungen den kapitalistischen Konjunkturschwankungen unterworfen seien und sich nicht längerfristig finanziell binden können. Wenn überhaupt, dann sei das Modell nur für eine Arbeiteroberschicht materiell möglich, in diesen Familienverhältnissen aber seien die Frauen eben gerade nicht berufstätig. Da für die arbeitenden Frauen der ärmeren Haushalte das Einküchenhaus nicht bezahlbar sei, hebe sich das Modell in seinen Voraussetzungen selber auf. Zudem fände in der Zentralküche die Ausbeutung der dort angestellten Wirtschafterin und Küchenmädchen statt, zumal der Personalbedarf in der Berechnung viel zu niedrig angesetzt sei. Aus alledem werde abermals deutlich, dass eine Haushaltsgenossenschaft erst eine Errungenschaft des realisierten Sozialismus sein könne. Genossin Brauns Vorschlag erwecke falsche Hoffnungen und hieße, „die Arbeiterklasse in ihrer Energie lähmen, statt sie zu stärken.“Ab 1905 setzte sich innerhalb der Sozialdemokratie eine von Edmund Fischer formulierte Position durch, nach der auch von der Arbeiterbewegung die „Rückführung aller Frauen ins Haus“ zu fordern sei. Staatsküchen und Hauswirtschaftsgenossenschaften blieben ein utopischer Traum: „Die sogenannte Frauenemanzipation widerstrebt der weiblichen Natur und der menschlichen Natur überhaupt, ist Unnatur und daher undurchführbar.“ Diese „patriarchale Lösung“ wird in der Rückschau vielfach als Symptom für den Niedergang der offensiven Frauenbewegung innerhalb der SPD angesehen. Damit verbunden war die endgültige Ablehnung wohnkultureller Alternativen, die die Frauen von der Hausarbeit befreit hätten.
=== Die Kritik der Frauenbewegung ===
Die Vereine der Frauenbewegung, ab 1893 vereint im Bund Deutscher Frauenvereine (BDF), befassten sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im Schwerpunkt vor allem mit Fragen der Bildung und Erwerbstätigkeit. Am Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch trug die Diskussion den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung, das Gegensatzpaar Berufstätigkeit und Zölibat einerseits, lebenslängliches Nur-Hausfrauen-Dasein und Ehe andererseits war dem wachsenden Problem der Koordinierung von Haus- und Erwerbsarbeit gewichen. Zur zentralen Fragestellung wurde die Stellung von Frauen in den Familien. In dieser Diskussion griff Maria Lischnewska, die dem radikalen Flügel zugerechnet wurde, Lily Brauns Idee des Einküchenhauses auf, die außerhäusliche Erwerbsarbeit der Frau sah sie als Grundlage einer anzustrebenden partnerschaftlichen Ehe, erst die von Hausarbeit und ökonomischer Abhängigkeit befreite Frau könne Ehefrau und Mutter sein, private Hausarbeit wie auch ineffektive private Haushalte seien abzuschaffen.
Käthe Schirmacher nahm eine Gegenposition zu Lischnewska ein, indem sie die Hausarbeit als gesellschaftlich notwendige, produktive Berufsarbeit ansah und deren ökonomische, rechtliche und soziale Anerkennung sowie deren Entlohnung forderte. Auch Elly Heuss-Knapp lehnte eine „sozialistische Lösung“ der Frauenfrage ab und wandte sich gegen die Einküchenhauslösung, auch wenn sie den technischen Fortschritt und die verbesserte Infrastruktur im Haushalt begrüßte. Diese würden jedoch nicht bei der Reduzierung der Hausarbeit zu Buch schlagen, da die emotionale und geistige Beanspruchung der Hausfrau zunehme. Derartige Leistungen aber wären weder über den Markt, noch genossenschaftlich zu erbringen.
In diesem Sinne lehnte die Mehrheit der BDF-Frauen das Einküchenhaus ab. Erfolgversprechender in der Debatte um die Doppelarbeit der Frau war eine Orientierung an der Systematisierung der Arbeit im Einzelhaushalt und deren Rationalisierung durch technische Neuerungen. Ein Teil der Frauenbewegung wandte sich vor allem der Organisierung und Ausbildung der Hausfrauen zu.
== Erste Realisierungsversuche ==
Trotz der vehementen Kritik und Ablehnung gründete Lily Braun 1903 eine Haushaltungsgenossenschaft GmbH, um damit ihre Einküchenhausidee zu verwirklichen. Der Architekt Kurt Berndt entwarf ein entsprechendes Haus für den Olivaer Platz in Berlin-Wilmersdorf, in dem rund um eine zentrale Küche „helle, luftige, einfache Wohnungen von beliebiger Größe mit Badezimmer, Gaskochgelegenheit, Zentralheizung, Gas- und elektrischer Beleuchtung sowie Personenaufzügen in dem gleichwertig ausgestatteten Vorder- und Gartenhaus“ vorgesehen waren. Doch musste das Projekt bereits 1904 wegen mangelnder Unterstützung und fehlender Finanzierung aufgegeben werden. Keine der Arbeiterorganisationen wollte zu dieser Zeit mit einem Gemeinwirtschaftsmodell experimentieren und sich dem Reformismusvorwurf aussetzen. In der Folgezeit war es die Privatwirtschaft, die die Idee aufgriff und die ersten Einküchenhäuser in Europa realisierte.
=== Kopenhagen 1903 ===
Als das erste europäische Einküchenhaus gilt Centralbygningen in Frederiksberg (einer eigenen Gemeinde, die eine Enklave in Kopenhagen bildet), das der ehemalige Schuldirektor Otto Fick als Bauherr 1903 im Forchhammersvej 4-8 errichten ließ. Es wurde als „soziale Veranstaltung kleinen Stils“ bezeichnet, war erklärtermaßen für berufstätige, verheiratete Frauen eingerichtet und als Privatunternehmen organisiert, an dem sowohl Mieter wie Personal durch Einlagen und, nach der Jahresbilanz, entsprechend am Gewinn beteiligt waren. Das fünfgeschossige Mietshaus mit Drei- und Vierzimmerwohnungen, jeweils ohne Küchen, verfügte über Zentralheizung, Heißwasserleitungen und Zentralstaubsauger. Von der im Untergeschoss gelegenen Zentralküche führten elektrisch betriebene Speiseaufzüge zu Anrichteräumen in den Wohnungen, dort lagen sie hinter Tapetentüren verborgen. In der Küche angestellt waren ein Küchenleiter, fünf Gehilfinnen und ein Maschinist und Heizer.Der Bau wurde von der deutschen Fachpresse mit Interesse aufgenommen. Das Zentralblatt der Bauverwaltung gab 1907 eine umfangreiche Beschreibung der Einrichtung und Funktionsweise heraus und stellte dazu nachdrücklich fest: „Die Wohnungen sind vollständig voneinander getrennt, […] so daß die in sich abgeschlossene kleine Welt des Familienlebens unberührt bleibt.“ Die Kulturzeitschrift Die Umschau veröffentlichte im selben Jahr einen begeisterten Bericht:
Die Zentralkücheneinrichtung in Kopenhagen bestand bis 1942.
=== Stockholm 1906 ===
Nach dem Vorbild des Kopenhagener Centralbygningen errichteten die Architekten Georg Hagström und Fritiof Ekman 1906 den Komplex der Hemgården Centralkök in Stockholm-Östermalm. Es bestand aus sechzig Zwei- bis Fünfzimmerwohnungen und einer Zentralküche und Bäckerei im Erdgeschoss. Die Essensversorgung erfolgte über Speiseaufzüge, zudem bestand eine Verbindung zu den Dienstleistungseinrichtungen über ein Haustelefon. Zum Service gehörten eine Wäscherei, ein Wohnungsreinigungsdienst, eine Schuhputzerei und ein zentraler Postversand. Für das angestellte Personal waren Dienstbotenzimmer eingerichtet. Das Haus galt als eine Einrichtung für gut situierte Familien, die sich die Dienstboten teilten (auf Englisch: „collectivize the maid“). Das Einküchenhaus bestand bis 1918, anschließend wurden in die Wohnungen moderne Küchen eingebaut und die Gemeinschaftsräume in Party- und Hobby-Räume umgewandelt.
=== Berlin 1908 und 1909 ===
Im Jahr 1907 gründete sich in Berlin die Zentralstelle für Einküchenhäuser G.m.b.H. aus der sich ein Jahr später die Einküchenhaus-Gesellschaft der Berliner Vororte m.b.H. (EKBV) abspaltete. Deren Programm war darauf ausgelegt, die Errichtung häuslicher Zentralwirtschaftssysteme voranzutreiben. Zu diesem Zweck brachte die Gesellschaft 1908 eine Broschüre unter dem Titel Das Einküchenhaus und seine Verwirklichung als Weg zu einer neuen Heimkultur heraus. Darin stellte sie dar, dass diese Gebäudetypen ein neues Wohnverhalten der Mieter ermöglichen und soziale Konflikte lösen sollten. Ausdrücklich griff man die bisherige Debatte um Lily Brauns Idee auf, grenzte sich aber zugleich von genossenschaftlichen Lösungsversuchen ab. Die Technifizierung und Zentralisierung der wirtschaftlich rückständigen Haushalte könne nur über eine formell kapitalistische Organisationsweise verwirklicht werden. Dabei legte die Gesellschaft Berechnungen vor, nach denen das Leben im Einküchenhaus nicht teurer sei als in einem normalen Mietshaus, „nicht gerechnet die großen idealen Werte, die gewonnen werden.“ Angesprochen waren „hauptsächlich die Angehörigen der sog. freien Berufsstände, die sich danach sehnen, aus der Wohnungsunkultur, aus der Dienstbotenkalamität herauszukommen, oder bei denen die Frau für eigene Berufstätigkeit meist auf intellektuellem oder künstlerischem Gebiet frei sein will.“
Mit den Ausbauplänen der Gesellschaft war eine Erweiterung auch auf Arbeiterkreise vorgesehen. Zudem strebte man für das Zentralwirtschaftssystem eine eigene Lebensmittel- und Landwirtschaftsgüterproduktion an, die den Einküchenhäusern trustartig angeschlossen sein sollten.
Ab dem 1. Oktober 1908 konnte das von dem Architekten Curt Jähler errichtete erste Berliner Einküchenhaus am Lietzensee in Charlottenburg an der Kuno-Fischer-Straße 13 bezogen werden. Es war ein fünfgeschossiges Wohnhaus mit einem Vorderhaus und kleinem Vorgarten, zwei Seitenflügeln und einem Quergebäude. Ausgestattet war es mit Zentralheizung und Warmwasserversorgung, die Zwei- bis Fünfzimmerwohnungen verfügten über Bäder, Anrichteräume mit Speiseaufzügen und Haustelefonen. Die Zentralküche befand sich im Untergeschoss und bestand bis 1913. Berichtet wurde, dass das Wohnen in diesem Hause für eine durchschnittliche Familie um 15 Prozent teurer gewesen sei als bei einer konventionellen Bewirtschaftung, die Kreise aber, die sich diese Kosten leisten könnten, würden schon aus Prestigegründen nicht auf ein Dienstmädchen verzichten.Am 1. April 1909 waren die Einküchenhäuser Lichterfelde-West fertiggestellt, für deren Ausführung der Architekt Hermann Muthesius gewonnen werden konnte. Es handelte sich dabei um zwei freistehende dreigeschossige Miethäuser, ein Eckhaus an der Potsdamer Straße 59 (heute Unter den Eichen Ecke Reichensteiner Weg) mit L-förmigen Grundriss, in dem ausschließlich Dreizimmerwohnungen angelegt waren, und ein rechteckiges Haus quer zur Ziethenstraße (heute Reichensteiner Weg) mit Zwei- bis Vierzimmerwohnungen. Das Konzept war gegenüber dem Haus am Lietzensee mit einem „reicheren kulturellem Programm“ modifiziert worden. Beide Häuser verfügten über je eine Zentralküche im Keller, von der aus Speiseaufzüge die Mahlzeiten in die Wohnungen transportierten. Einen gemeinsamen Speisesaal gab es nicht. Gemeinschaftlich genutzt wurden stattdessen Dachterrassen, ein Kindergarten war angeschlossen. Die Wohnungen hatten Notküchen, eingerichtet mit Gasherden, Warmwasserleitungen und Haustelefonen. Ein großzügiges Grundstück und Vorgärten umgaben die Gesamtanlage. Die Zentralküche musste 1915 aufgegeben werden, die Häuser wurden 1969/1970 im Zuge der Verbreiterung der Straße Unter den Eichen abgerissen.Ebenfalls zum 1. April 1909 bezugsfertig waren die Einküchenhäuser Friedenau in der Wilhelmshöher Straße 17–20. Es ist ein Gebäudekomplex des Architekten Albert Gessner, der sich aus drei Häusern zusammensetzt, zwei sind symmetrisch um einen Straßenhof mit überdachter Gartenhalle gebaut, das dritte schließt sich von der Straße wegführend an. Es sind Putzbauten mit Walmdächern, Arkaden, Loggien und Balkonen, die sich am Landhausstil anlehnen. Ausgestattet waren die Häuser mit teils offenen, teils überdachten Dachterrassen und angeschlossenen Duschräumen, einem Turnraum mit Geräten, einem Speicher für Möbel, Mottenkammern, Fahrradräumen, Dunkelkammern für Fotoarbeiten, Waschküche, Trockenböden, Bügelräumen und einer Zentralstaubsaugeranlage. Im Kellergeschoss des Hauses Nr. 18/19 lag die Zentralküche, die Essensversorgung war über insgesamt neun Speiseaufzüge vorgesehen, die in den Kellerräumen wiederum mit einer Gleisanlage verbunden waren. Zudem richtete man einen Kindergarten ein, der von einer Reformpädagogin geleitet wurde. 1917/1918 musste die Zentralküche aufgegeben werden.Die Häuser der Wilhelmshöher Straße stehen unter Denkmalschutz. Sie werden zudem als historische Gebäude genannt, da hier in den 1930er und 1940er Jahren bis zu ihrer Verhaftung vier Mitglieder der Widerstandsgruppe der Roten Kapelle gelebt haben, in der Nr. 17 Erika Brockdorff und ihr Ehemann Cay Brockdorff, in der Nr. 19 Adam Kuckhoff und seine Frau Greta Kuckhoff.
Obwohl die Einküchenhäuser großen Anklang fanden und die Wohnungen schon vor Fertigstellung fest vermietet waren, schlug das Unternehmen fehl. Die Einküchenhaus-Gesellschaft meldete bereits im Mai 1909 Konkurs an. Als Gründe werden Organisationswiderstände und Kapitalmangel angegeben. Die Zentralküchen wurden von den Bewohnern während einer Übergangszeit in kooperativer Selbsthilfe aufrechterhalten. Positive Rezeption fanden die Häuser durch den Architekten Stefan Doernberg, der 1911 einen Aufsatz über das Einküchenhausproblem veröffentlichte. Er stellte fest, dass der Betrieb sich rentierte und der Versuch mit „kinderarmen hochgebildeten Mietern unter fachmännischer interessierter Leitung“ auf kapitalistischer Basis gelungen sei. Er schloss mit der Aufforderung, dass seine Kollegen Architekten die soziale und wirtschaftliche Bedeutung ihres Berufs erkennen und zu ähnlichen Taten schreiten mögen.
== Diskursgeschichte – Gemeinwirtschaftlicher Wohnungsbau ==
Nach dem Ersten Weltkrieg bestimmten Knappheit und Mangel auch die Baupolitik, die Beseitigung des Massenwohnelends wurde als eine vordringliche Aufgabe angesehen. Die Bestrebungen nach Sozialisierung oder Senkung der Bodenpreise, nach Übernahme des Wohnungsbestandes in die kommunalen oder genossenschaftlichen Verwaltungen scheiterten an den brüchigen politischen Verhältnissen der jungen Weimarer Republik. Strategien der Problemlösung zur Wohnungsnot wurden vor allem in der Rationalisierung des Wohnungsbaus gesehen. Dabei stellten sich die avantgardistischen Architekten den reformerischen Programmen entgegen und strebten einen neuen Volkswohnungsbau an. Doch blieb dieser bis etwa 1924 in der Theorie und in zahlreichen Broschüren, Richtlinien und Stellungnahmen stecken, während die alten Institutionen des Wohnungsbaus bereits die zukünftige Politik des Aufbaus in den Schemen Kleinhaus und Wohnung im Grünen festlegten. Dennoch fand das Modell Einküchenhaus punktuell Eingang in die Beiträge von Gesellschaftswissenschaftlern und Architekten, insbesondere unter dem zugespitzten Gesichtspunkt der Sparsamkeit.
=== Ökonomiat als volkswirtschaftliches Modell ===
Im Jahr 1919 veröffentlichte die promovierte Volkswirtin Claire Richter eine historisch ausgearbeitete Studie unter dem Titel Das Ökonomiat. Hauswirtschaftlicher Betrieb als Selbstzweck. Mit dem Begriff Ökonomiat bezeichnete sie das Modell des Einküchenhauses, um dessen Bedeutung als Wirtschaftsform hervorzuheben. Nach einer umfassenden Darstellung der Geschichte der Zentralhauswirtschaft, von Fourier bis zur damaligen Gegenwart, befasste sie sich mit dem volkswirtschaftlichen Nutzen der weiblichen Arbeitskraft. Sie dokumentierte die enorme Verschwendung, die die privaten Haushalte aller gesellschaftlichen Schichten verursachten und angesichts wirtschaftlicher Krisen unterbunden werden müssten. Die Zentralisierung der Hauswirtschaft sah sie als gangbaren Weg, Mittel und Ressourcen zu sparen, durch den Charakter des Selbstzwecks unterscheide sie sich so von allen „Anstaltcharakter tragenden Großhaushalten wie Erziehungs- und Krankenanstalten Altersversorgungs- und Armenhäusern“. Mit ihrer Schrift wandte sie sich insbesondere an die Institutionen der Wohnungsreform, um eine „subjektive Einsicht bei den objektiv betroffenen Reformern und Unternehmern“ herzustellen.1921 gründete Claire Richter gemeinsam mit der sozialdemokratischen Frauenrechtlerin Wally Zepler und dem Architekten Robert Adolph den Lankwitzer Verein für gemeinnützige Einküchenwirtschaft, der sich sowohl auf politischer wie auf praktischer Ebene für die Etablierung von Einküchenhäusern einsetzte. Unterstützung fand das Anliegen unter anderem bei der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Marie Juchacz. Im Oktober 1921 organisierte der Verein in Berlin eine Kundgebung unter dem Motto Soziale Einküchenwirtschaft – eine Zeitforderung und verabschiedete eine Resolution, mit der der Bau gemeinnütziger Einküchenhäuser im Rahmen des staatlichen Wohnungsbaus gefordert wurde. Darin wurde festgestellt,
Der Verein arbeitete zudem ein Projekt für ein Gelände am Lankwitzer Stadtpark aus, bei dem für 42 Einfamilienhäuser die Einzelküchen durch eine Zentralküche ersetzt werden und eine horizontale Hängetransportanlage die Verbindungen herstellen sollte. Die Organisation sowohl der Verwaltung wie der Führung der Küche war als Genossenschaft gedacht. Dies war das erste Einküchenhaus-Modell in Einfamilienbauweise. Es kam nicht zur Ausführung, Gründe dafür sind nicht dokumentiert.
=== Reformkonzepte der Architektur ===
Nur punktuell fand das Modell des Einküchenhauses Eingang in die Strategien der Stadtplanung der 1920er Jahre, während im Siedlungsbau die Einrichtung umfangreicher Infrastrukturen wie Waschhäuser und Läden voranschritt. Die Architekten Peter Behrens und Heinrich de Fries stellten fest, dass neben der Baurationalität die „Rationalität der Organisation des Gemeinschaftslebens“ am besten im System der Einküchenhäuser zu verwirklichen sei, doch fand dieser Gedanke keine Umsetzung von ihnen. Hermann Muthesius, der 1908 für die Einküchenhaus-Gesellschaft der Berliner Vororte das entsprechende Gebäude in Berlin-Lichterfelde errichtet hatte, lehnt die Idee als Notbehelf nunmehr ab. Der österreichische Architekt Oskar Wlach setzte sich für die Realisierung von Einküchenhäusern ein. Er sah darin die Entwicklung einer neuen Wohnform, die zwischen der Einzelwirtschaft in einem Mietshaus und der kommunalen Betreuung in Heimunterkünften liegt: „Diese Mitteltype hat die Individualisierung im Eigenheim mit der Ökonomie einer vereinheitlichten Bewirtschaft und den Annahmlichkeiten gemeinsamer Tagträume zu verbinden.“ Auch Henry van de Velde war ein Befürworter der Zentralküche, architektonisch stände diese ohnehin im typologischen Kontext des städtischen Mietshauses, da dessen Aussehen nicht von der Küche beeinflusst sei. Doch das Einküchenhaus trage den Keim einer vollständigeren Gemeinschaft in sich, „denn wir werden uns nicht lange mit dem Haus begnügen, in dem nur die Küche gemeinschaftlich ist“.Der Architekt und Stadtplaner Fritz Schumacher, ab 1908 Baudirektor und von 1923 bis 1933 Oberbaudirektor in Hamburg, hatte sich bereits 1909 intensiv mit dem Für und Wider des Einküchenhauses auseinandergesetzt. Er sah darin die Möglichkeit des Fortschritts in der Großstadtkultur und insbesondere für die Emanzipationsbestrebungen der Frauen. Seine fürsprechenden Argumente waren die Einsparmöglichkeiten in der Raumgestaltung, die Förderung geistiger Interessen der von der Kleinarbeit entlasteten Frauen, die Befreiung des Kochberufs vom Dienstbotencharakter und die Verbesserung der Esskultur durch Fachkräfte. Als Gegenargumente führte er den Verlust der Individualität an, den Verlust des materiellen und ideellen Rückhalts im Haushalt, insbesondere wenn die Frau nicht berufstätig ist, und die steigende Entwertung des Eigenheims. Überliefert ist zudem die etwas anekdotenhafte Bemerkung Schumachers, zu bedauern sei „der Wegfall des Privilegs mancher Hausherren, mit der Ehefrau ein kochendes Sondertalent im Hause zu haben“. 1921 versuchte Schumacher seine Vorstellungen von Einküchenhäusern bei Bau der Dulsberg-Siedlung in Hamburg umzusetzen, scheiterte aber an den Widerständen des Senats.
=== Die Rationalisierung der Hauswirtschaft ===
Ab Mitte der 1920er Jahre wurde die Diskussion um das Einküchenhaus eingeholt von der Rationalisierung der Einzelhaushalte und insbesondere der Standardisierung der Küchen. Ein großer Erfolg der Frauenbewegung war die direkte Einbeziehung von Frauenorganisationen in Institutionen des Wohnungsbaus. Als eines der wirkungsvollsten Projekte der Zeit galt die Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen, initiiert von der Reichstagsabgeordneten Marie-Elisabeth Lüders. Gefördert wurden Versuchssiedlungen der Klassischen Moderne wie Stuttgart-Weißenhof, Dessau-Törten und Frankfurt-Praunheim, die unter den Aspekten von Hauswirtschafts- und Familientauglichkeit von Architekten, Ingenieuren und Vertreterinnen der Hausfrauenverbänden untersucht wurden. Die „Befreiung der Frau vom Küchenmief“ verlagerte sich in die Ausgestaltung der modernen Küchen nach den Grundsätzen einer rationellen Hauswirtschaft. Dabei wurden Grundriss und Einrichtung unter dem Gesichtspunkt der reibungslosen Arbeitsabläufe ausgewählt, als Urtyp gilt die 1926 von der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky entwickelte Frankfurter Küche.
Die Stärken der Rationalisierung der Einzelhaushalte gegenüber der Zentralisierung der Hauswirtschaft führte Schütte-Lihotzky in einem Aufsatz von 1927 aus: Das Konzept des Einküchenhauses kranke daran, dass eine stabile Lebenshaltung der Bewohner die Voraussetzung sei, da die Finanzierungsanteile für Zentralküche, Zentralheizung und weitere gemeinschaftliche Einrichtungen unter allen Umständen aufgebracht werden müsse, aber von denjenigen, die binnen kurzer Zeit arbeitslos werden können, nicht gewährleistet wird.
Die Umorientierung auf das Rationalisierungskonzept geschah umfassend und schnell, die standardisierte Küche hatte nicht nur den Vorteil der optimierten Arbeitsabläufe, die eine Haushaltsführung nach wirtschaftlichen Grundsätzen ermöglichte, sondern konnte im Massenbau kostengünstig umgesetzt werden. Das Modell des Einküchenhauses war diesem Konzept unterlegen und galt sowohl im genossenschaftlichen wie im Massenwohnungsbau als gescheitert. „In den Montageketten des Zeilenbaus und in den Anspruch (übergeordneter) Funktionalität der Form der Standardwohnung, ist verschwunden, was wir als soziales Leben und sozialen Raum in den Höfen, Galerien, Bewohnerversammlungen, Speisen- und Lesesälen der Einküchenhäuser kennengelernt haben. Dieses soziale Leben fällt nun unter Verschwendung.“
== Genossenschaftliche Einküchenhäuser ==
=== Letchworth 1909 ===
Die Gartenstadtbewegung war zugleich Parallele wie Gegenkonzept zum städtischen Einküchenhaus, in dem sie die „ideale Gemeinschaft“ außerhalb der Städte anstrebte. Gemeinsam ist beiden Reformkonzepten die Sicht auf die Architektur: eine anders gebaute Umwelt werde anderes soziales Verhalten prägen. Doch im Unterschied zum Ziel der Schaffung eines Eigenheims innerhalb der Gartenstadt, stand das Einküchenmodell der Bildung von Individualbesitz am Kleinhaus entgegen. Dennoch plante Ebenezer Howard innerhalb von Letchworth Garden City, der ersten realisierten Gartenstadt in Europa, den Bau eines Einküchenhauskomplexes. Unter der Leitung des Architekten Clapham Lander entstand in den Jahren 1909/1910 die Kooperative Homesgarth (heute Solershot House), ein Komplex zwei- bis dreigeschossiger Häuser mit 24 Wohnungen ohne Einzelküchen, in dessen Mitte ein Gemeinschaftsbereich mit Zentralküche, Esssaal und Aufenthaltsräumen angelegt war. Es sollte ein um einen Hof gelegener geschlossener Block werden, das Projekt wurde jedoch nur zur Hälfte realisiert.
Organisiert war das Haus auf genossenschaftlicher Basis. Der Einkauf von Lebensmitteln und Brennmaterial wurde gemeinschaftlich vorgenommen, die Kosten für die Zentraleinrichtungen so wie für das Küchen- und Dienstpersonal auf die Bewohner umgelegt. Obwohl man sich von den Frühsozialisten abgrenzen wollte und einen Ausgleich zwischen kollektiven und familiären Belangen suchte, wurde Homesgarth vielfach mit den kommunitären Experimenten Fouriers verglichen.
=== Zürich 1916 ===
Ein als Einküchenhaus geplantes, aber in letzter Konsequenz nicht ausgeführtes Projekt ist das sogenannte Amerikanerhaus in Zürich an der Idastrasse. Der Sozialreformer Oskar Schwank gründete 1915 die Wohn- und Speisehausgenossenschaft und ließ 1916 das Gemeinschaftshaus in Anlehnung an Godins Familistère in Guise bauen. Neben der Zentralküche und dem Speisesaal im Erdgeschoss waren im Innenraum, rund um einen Hof, über die Stockwerke Laubengänge angelegt. Im Laufe des Baugenehmigungsverfahrens aber musste Schwank die Pläne ändern, in den Wohnungen Einzelküchen einrichten lassen und die Zentralküche zu einem Restaurant umfunktionieren. Dennoch galt es aufgrund seiner Bauweise bis in die 1940er Jahre als Kollektivmodell, da die breiten Laubengänge, der Hof und das Restaurant, Ämtlerhalle genannt, für die kommunikativen Aktivitäten der Bewohner genutzt wurden. Das Gemeinschaftsleben in diesem Haus ist 1976 von dem Sozialwissenschaftler Peter Trösch durch Bewohnerbefragungen untersucht und veröffentlicht worden. Dies gilt als beachtenswert, da es eines der wenigen Zeugnisse vom Alltagsleben in kollektiven Einrichtungen der 1920er Jahre ist. Als Thema nur angerissen ist dabei der Aspekt der Wirkung der Architektur: „Wenn das Haus ein Gemeinschafts- und produktives Kommunikationsgefühl unter den Bewohnern aufkommen ließ, […] so lag das sicherlich an der Bauart, die, anders als beim Kopenhagener Haus, dem Typus des Laubengang-Innenhofhauses folgte.“ Das Gebäude selbst blieb nach der Fertigstellung im genossenschaftlichen Besitz der am Bau beteiligten Handwerker. 1946 ging es als Ämtlerhalle AG in das Eigentum der Zürcher Löwenbräu über, seit 1992 steht es unter Denkschutz.
=== Berlin 1921 ===
Nach dem 1. Weltkrieg baute die Freireligiöse Gemeinde Berlin ein Einküchenhaus in der Pappelallee 15 im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Es diente Kriegsversehrten die nicht für sich selbst sorgen konnten, als Heimstatt. Der Sozialbau war zur Straßenfront nicht als Wohnheim erkennbar. Die Küche war als Großküche gebaut; im Wohnheim gab es einen Essensaufzug zur Verteilung des Essens in die Geschosse. Später entwickelten sich die Wohneinheiten in normale Wohnungen.
=== Hamburg 1921 ===
Der Dulsberg war ehemaliges Ackerland im Nordosten Hamburgs, das ab etwa 1910 für die stadterweiternde Bebauung vorgesehen war. Ab 1919 wurde diese mit einem reformierten Bebauungsplan unter der Leitung des Stadtbaudirektors Fritz Schumacher umgesetzt. Der erste realisierte Wohnblock umfasste die sogenannte Dulsberg-Siedlung, Bauherr war die Stadt, vertreten durch die Baudeputation. Schumacher konzipierte diese zehn Wohnblöcke zunächst als Einküchenhäuser, vorgesehen war in jedem Block „eine kleine Wirtschaft“ für die gemeinsame Versorgung. Diese sollte entweder genossenschaftlich oder als freies Unternehmen geführt werden. Die Senats- und Bürgerschaftskommission für Wohnungsfragen lehnten den Vorschlag jedoch ab:
Schumacher konnte eine ansatzweise Umsetzung der Pläne nur für einen der insgesamt zehn Blöcke umfassenden Siedlung durchsetzen. Im östlichen Abschnitt zwischen Elsässer Straße 8–10 und Memeler Straße wurde 1921 mit einem dreigeschossigen Backsteinbau ein Ledigenheim mit Zentralküche und Wirtschaftsräumen konzipiert. Die Grundidee des Einküchenhauses, die Auflösung des herkömmlichen Haushalts zugunsten einer kollektiven Wirtschaftsform, aber war damit nicht erreicht. Das Haus wurde einige Jahre als Studentenwohnheim genutzt, anschließend zu einem normalen Wohnhaus mit Einzelküchen umgebaut.
=== Wien 1923 ===
Der Heimhof an der Pilgerimgasse in Wien gilt als eines der bekanntesten Einküchenhäuser. Er wurde in den Jahren 1921 bis 1923, als Projekt des kommunalen Wohnungsbaus des Roten Wiens, nach Plänen des Architekten Otto Polak-Hellwig errichtet. Bauträger war die Gemeinnützigen Bau- und Wohnungsgenossenschaft Heimhof, die auf eine Initiative der Sozialreformerin Auguste Fickerts zurückging und bereits seit 1911 ein Haus für alleinstehende, erwerbstätige Frauen betrieb. Der Kern der Anlage war ein dreigeschossiger Trakt in der Pilgerimgasse, mit 24 Kleinwohnungen für Ehepaare und Familien, in denen beide Partner einem Beruf nachgingen. Die zentrale Küche und ein gemeinsamer Speisesaal bildeten das Herzstück der Anlage. Von hier aus führten Speiseaufzüge zu den Wohnungen, die statt mit Einzelküchen mit sogenannten Wirtschaftsnischen ausgestattet waren, in denen die Zubereitung kleinerer Speisen möglich war. Die Angestellten der Zentralhauswirtschaft waren Gemeindebedienstete, die auch die Säuberung der Wohnungen und die Besorgung der Wäsche übernahmen. Dazu war eine Wäscherei im Untergeschoss eingerichtet. Weitere Kollektiveinrichtungen waren Lesestuben, Warmwasserbäder, Dachgarten und Sonnenterrassen. Die Versorgung und Betreuung der Kinder während der Arbeitszeiten der Eltern wurde als „ausgezeichnet“ beschrieben.1924 geriet die Genossenschaft in finanzielle Schwierigkeiten, die Gemeinde Wien übernahm das Haus in ihr Eigentum, die Verwaltung blieb bei der Genossenschaft. Nach Plänen des Architekten Carl Witzmann wurde der Heimhof 1925 von einem freistehenden Gebäude zu einem geschlossenen Block mit insgesamt 352 Wohnungen erweitert. Den Kindergarten integrierte man im Blockinneren. Während seiner Bestehenszeit erfuhr der Heimhof sehr unterschiedliche Kritiken, so wurde 1923 auf einer Wiener Gemeinderatssitzung geäußert:
Hingegen begrüßte eine Architekturzeitung aus dem Jahr 1924, nach einer sehr ausführlichen positiven Beschreibung, das Projekt als zukunftsweisend:
Doch auch in Wien blieb das Einküchenhaus ein isoliertes Experiment. Bereits 1934, zu Beginn des Austrofaschismus, wurde die zentrale Küchenbewirtschaftung aufgehoben. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1938 kam es zur endgültigen Auflösung der Genossenschaft und deren Gemeineinrichtungen. Die Wohnungen stattete man nun mit kleinen Küchen und Bädern aus, ohne die Infrastruktur verloren sie ihre Attraktivität, wurden als Notunterkünfte genutzt und verwahrlosten. In den 1990er Jahren fand eine umfassende Renovierung des Heimhofs statt. Geblieben ist von dem Haus ein Stummfilm des österreichischen Regisseurs Leopold Niernberger aus dem Jahr 1922 mit dem Titel Das Einküchenhaus. Er erzählt die Geschichte einer berufstätigen Mutter, die die Vorzüge des Heimhofes kennen und schätzen lernt.Seit 2021 erforscht das neu gegründete interdisziplinäre Forschungskollektiv „Einküchenhaus. Verein zur Erforschung emanzipatorischer Wohnmodelle“ basierend auf den beiden Wiener Einküchenhäuser die Potenziale und Grenzen (internationaler) historischer, kollektiver Wohnbaukonzepte und stellt Bezüge zum aktuellen Wohnbaudiskurs her.
=== Amsterdam 1928 ===
Wenig Beachtung im deutschsprachigen Diskurs um gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbau oder moderne Architektur fand Het Nieuwe Huis in Amsterdam, das 1927/28 nach einem Entwurf des Architekten Barend van den Nieuwen Amstel (1883–1957) im Stil der expressionistischen Amsterdamer Schule errichtet wurde. Seine Entstehung geht auf die Organisation Amsterdamsche Coöperatieve Keuken (ACK) zurück, die bereits seit 1912 bei der Wohnungsbaugenossenschaft Samenleving den Bau eines Einküchenhauses für Alleinstehende und kleine Familien anregte. Im Zuge einer ab 1917 umgesetzten Stadterweiterung übernahm die von Gemeinde- und Staatsbeamten gegründete Genossenschaft Samenleving die Bebauung von sieben Häuserblöcken am Roelof Hartplein, wo schließlich das in Zusammenarbeit mit der ACK projektierte Het Nieuwe Huis entstand. Während die Vermietung in der Händen von Samenleving blieb, gründete man für den Betrieb des Hauses die heute noch bestehende Coöperatieve Woonvereniging Het Nieuwe Huis.
Neben den ursprünglich 169 Appartements und dem Restaurant verfügte das Gebäude über eine Bibliothek mit Lesesaal, ein Postamt, vier Ladengeschäfte im Erdgeschoss, Dachterrassen, Haustelefonanlage, Speiseaufzüge sowie eine Fahrradstation im Keller. Den Bewohnern standen Dienstleistungsangebote zur Verfügung, darunter die Erledigung von Hausarbeiten und Besorgung von Einkäufen. In den Anfangsjahren waren dafür 35 Mitarbeiter mit eigener Direktion im Haus beschäftigt. Im Gegensatz zu den vorher bestehenden, nach Geschlechtern getrennten, Arbeiter- oder Frauenheimen (niederländisch tehuizen), stellte Het Nieuwe Huis durch seinen gemischten Charakter in Amsterdam ein Novum dar, was dem Haus auch die spöttische Bezeichnung De Laatste Kans (deutsch Die letzte Chance) einbrachte.
Die Kosten für die Zentraleinrichtungen und das Dienstpersonal wurde auf die Bewohner verteilt, dadurch war die Miete letztlich höher als ursprünglich vorgesehen. Auch die Verteilung der Mahlzeiten erwies sich als problematisch. 1937 fanden unter Beteiligung des Architekten van den Nieuwen Amstel einige Umbauten statt, bei denen unter anderem die im Dachgeschoss gelegene Küche durch 19 zusätzliche Wohnungen ersetzt und in das Erdgeschoss verlegt wurde. Seitdem verfügt der weitgehend im Originalzustand erhalten gebliebene Komplex über 188 Appartements. 2004 wurde das Gebäude als Rijksmonument unter Denkmalschutz gestellt.
== Diskursgeschichte – Neues Bauen und Funktionalismus ==
Mit der erfolgreichen Verbreitung des Siedlungsbaus, der Konzipierung von großangelegten Wohnungsbauprogrammen wie das Neue Frankfurt und der Errichtung von Wohnstätten wie die Hufeisensiedlung in Berlin-Britz, die Jarrestadt in Hamburg-Winterhude oder der Karl-Marx-Hof im Wiener Bezirk Döbling, schien die Geschichte des Einküchenhauses als Alternative zur Kleinwohnung beendet. Doch fand das Modell ab Ende der 1920er Jahre Aufnahme in den funktionalistischen Richtungen des Neuen Bauens. Neuartige Wohnformen für den soziologisch beschriebenen Typus des modernen Großstadtmenschen fanden ihre Entsprechung in Wohnbauten mit Apartments und Split-level-Wohnungen, deren Räume auf verschiedenen Ebenen und um halbe Etagen versetzt angeordnet sind. In den dem Einküchenhaus folgenden Formen wurden diese zu Service-Einrichtungen, die Gemeinschaftsflächen ersetzten zentrale Restaurants als Begegnungsbereiche.
Der ideologische Hintergrund unterschied sich weitreichend, sowohl zu seinen Vorgängern wie untereinander. So war das Narkomfin in Moskau als Kommunehaus für eine sozialistische Lebensweise angelegt, das Ledigenheim der Werkbundsiedlung Breslau ein architektonisches Ausstellungsstück, das Boardinghouse des Westens in Hamburg ein gewinnorientiertes Mietshaus, das Kollektivhuset in Stockholm ein soziologisches Projekt und das Londoner Isokon Building ein Experiment für kollektives Wohnen.
Die konzeptionelle Debatte in der Nachfolge um Zentralküchen und Gemeinschaftseinrichtungen nahm Walter Gropius während des Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM) in Frankfurt 1929 und nachfolgend in Brüssel 1930 wieder auf. Auf beiden Kongressen stellte er sein Konzept des Wohnhochhauses den Siedlungs- und Kleinhausbauten entgegen und begründete dies damit, dass eine vernünftige Stadtentwicklung nicht denkbar sei, wenn alle Bewohner im Eigenheim mit Garten wohnten:
Neben den städtebaulichen und architektonischen Ausarbeitungen stellte Gropius auch gesellschaftspolitische Grundannahmen vor. Die Entlastung von der Hausarbeit sei die Voraussetzung für persönliche Selbstständigkeit, entsprechend gelte insbesondere für die Frauen nach der Auflösung der Großfamilie der Großhaushalt als erstrebenswertes Ziel. Der Staat übernehme die aus der Familie vertriebenen früheren Funktionen, indem er Kinderheime, Schulen, Altersheime und Krankenhäuser zentral organisiere. Die restlichen Kleinfamilienfunktionen könnten, unter Zuhilfenahme weitgehender Mechanisierung der Wohnungsbewirtschaftung und der Zentralisierung zum Großhaushalt, im Wohnhochhaus beherbergt werden.1931 legte Walter Gropius seinen Entwurf für die Wohnhochhäuser am Wannsee vor, eine Planung von fünfzehn elfgeschossigen Häusern im Stahlskelettbau mit insgesamt 660 Wohnungen, die einer Vielzahl von Familien auf einem relativ kleinen Streifen Land eine „Wohnung im Grünen“ mit Ausblick über Havel und Wannsee bieten sollten. Die Wohnungen selbst wären mit kleinen Funktionsküchen eingerichtet, die Gemeinschaftseinrichtungen benannte Gropius als Café und Gesellschaftsraum mit Dachterrasse, Bibliothek und Leseraum, Sport- und Baderaum. Eine Verwirklichung des Projekts scheiterte sowohl an der Weltwirtschaftskrise wie an den damaligen deutschen Baugesetzen. Der in den 1960er Jahren in Deutschland betriebene Wohnhochhausbau hingegen wird als leere Formhülse des Gropius-Konzepts bezeichnet.
== Umsetzungen durch das Neue Bauen ==
=== Moskau 1928 ===
Das Narkomfin ist ein sechsstöckiger Wohnblock in Moskau, gebaut zwischen 1928 und 1932 als Kommunehaus für die Beamten des Finanzministeriums. Die Architekten Moissei Ginsburg und Ingnatij Milinis entwarfen das Gebäude im Rahmen des staatlich geförderten Experimentalbauprogramms. Unterstützt wurde ihr Projekt durch die Farbgestaltung des deutschen Bauhausavangardisten Hinnerk Scheper. Es war ausgerichtet auf eine neue Art des Wohnens der Sowjetbürger, die Gleichberechtigung und Kollektivität fördern sollte und nur einen kleinen Rückzugsraum für persönliche Bedürfnisse vorsah. Entsprechend waren im Haus Wohnungstypen mit „minimaler Individual- und maximaler Gemeinschaftsfläche“ angelegt, zum einen Wohnungen von bis zu 100 m² auf einer Ebene, zum anderen 37 m² große Split-level-Einheiten, die sich über zwei Stockwerke erschlossen. Statt eigener Küchen standen Etagenküchen sowie eine Zentralküche zur Verfügung. Diese lag neben weiteren Gemeinschaftseinrichtungen wie Sportsaal, Waschhaus und Bibliothek in einem Zusatzblock, erschlossen durch eine hausinterne „gläserne Straße“. Auf dem Dach des Komplexes befanden sich ein Garten und Sonnenterrassen, zudem war ein Penthouse aufgesetzt, das der damalige sowjetische Finanzminister Nikolai Miljutin bewohnte.
Das Gebäude gilt als richtungsweisend für den sowjetischen Konstruktivismus. Ein geplanter zugehöriger zweiter Wohnblock und ein Kindergarten kamen jedoch nicht mehr zur Ausführung. 1932 verfügte Stalin den
Zusammenschluss von Architekten in einer Dachorganisation. Die russische Avantgarde, die bis dato als künstlerischer Ausdruck der Revolution galt, wurde nicht zugelassen und mit Bauverboten belegt: visionäre Bauexperimente wurden als Verschwendung angesehen und brächten keinen Gewinn für die Kommunalka. Die Gemeinschaftseinrichtungen des Narkomfin unterlagen einer Umnutzung, das Gebäude zerfällt seither. Im Jahr 2006 nahm es der World Monuments Fund auf die Liste der gefährdeten Bauten, internationale Denkmalschützer setzen sich für seinen Erhalt ein.
=== Breslau 1929 ===
Das Ledigenheim, Haus 31 der Werkbundsiedlung Breslau, war eines von 37 Projekthäusern, die 1929 im Rahmen der Werkbundausstellung Wohnung und Werkraum errichtet wurden. Geschaffen von dem Architekten Hans Scharoun, umfasste es 66 mit Minimalküchen ausgestattete Split-level-Wohnungen, Gemeinschaftsflächen und ein zentrales Restaurant. Ausgerichtet war es auf den „nomadisierenden Großstadtmenschen“, Ledige oder Ehepaare ohne Kinder, und bot hotelartigen Service für die vorübergehende Bleibe des „Weltbürgertums“. Der Panzerkreuzer Scharoun, wie das Haus auch spöttisch genannt wurde, galt als erster Bau mit Wohnungen über zwei Ebenen, der zudem Einfluss nahm auf Moisei Ginzburgs Ausführungen beim Narkomfin in Moskau. Das Haus wurde später zum Park Hotel Scharoun umgebaut.
=== Altona 1930 ===
Das Boardinghaus des Westens am Schulterblatt im heutigen Hamburg-Sternschanze entstand 1930 in der damals selbständigen Stadt Altona auf einem Grenzgrundstück zu Hamburg. Es ist ein sechsstöckiges Gebäude mit streng gegliederter Fassade und einem den Gehweg überkragenden turmartigen Erkervorbau und wurde von der Architektengemeinschaft Rudolf Klophaus, August Schoch und Erich zu Putlitz als Einküchenhaus gebaut. Der Eigentümer C. Hinrichsen strebte allerdings nicht das gemeinschaftliche Zusammenleben der Mieter an, sondern das individuelle Wohnen mit dem Service eines Hotels. Die Wohnungen waren verschiedener Größe und ohne Küchen, sie konnten mit und ohne Bedienung oder Reinigung auf längere oder kürzere Zeit gemietet werden. Im Erdgeschoss befanden sich Restaurants und Läden. Die Wohnform galt als mondän und teuer, sie scheiterte binnen weniger Jahre. Bereits 1933 wurden Kleinwohnungen eingerichtet, 1941 erfolgte eine Umwandlung zum Verwaltungsgebäude.
=== Stockholm 1935 ===
Das Kollektivhuset in Stockholm ist als sechsgeschossiger Bau des Funktionalismus zwischen 1932 und 1935 von dem Architekten Sven Markelius errichtet worden. Die fünfzig Wohnungen waren klein und ohne Küchen, der Schwerpunkt lag auf den Gemeinschaftseinrichtungen von Zentralküche, Speiseraum, Kindergarten und Dachterrasse. Alltagsarbeiten wurden durch Speiseaufzüge, Abwurfkanäle für Schmutzwäsche und Reinigungsservice erleichtert. Das Kollektivleben der berufstätigen Ehepaare und Familien, die der schwedischen intellektuellen Elite angehörten, erfuhr als Pilot-Wohnprojekt des schwedischen Wohlfahrtsstaats verstärkt öffentliche Aufmerksamkeit. Die Kinderbetreuung unterlag dem antiautoritären Erziehungskonzept der Soziologin Alva Myrdal und wurde durch pädagogische Untersuchungen und Studien begleitet. Nach zehn Jahren galt das Projekt als gescheitert, da die Gemeinschaft sich zerstritten hatte.
=== London 1933 ===
Das Isokon Building des Architekten Wells Coates in London gilt ebenfalls als Experiment des kollektiven Wohnens. Initiiert wurde es durch das Ehepaar Molly und Jack Pritchard, die zugleich Bauherren und Bewohner des Hauses waren. Es umfasste 34 Wohnungen, ausgestattet mit kleinen Teeküchen. Die Versorgung erfolgte in der Hauptsache über eine Zentralküche, die mit einer „stummer Diener“ genannten Transporteinrichtung mit den einzelnen Einheiten verbunden war. Zudem gab es einen organisierten Reinigungs-, Wäsche- und Schuhputzservice. Die Bewohner galten als linke Intellektuelle, unter ihnen waren zeitweise Marcel Breuer, Agatha Christie, Walter Gropius, László Moholy-Nagy, Michael Rachlis und James Stirling. Weiterhin zeitweise Adrian Stokes, Henry Moore sowie die kommunistischen Agenten Arnold Deutsch und Melita Norwood. 1972 wurde das Haus verkauft und verfiel, im Jahr 2003 konnte es als Architekturdenkmal gerettet und als Apartmentanlage restauriert werden. Es wird seither von beruflichen Spezialisten („key workers“) des öffentlichen Dienstes bewohnt.
== Weiterentwicklung in den Unités d’Habitation ==
Ab 1922 arbeitete der französische Architekt Le Corbusier an Konzepten und Plänen von Großwohneinheiten, die er mit Immeubles-Villas als Gebäude-Stadt bezeichnete. Er sah darin ausdrücklich Gegenstücke zum „sklavischen Individualismus“ und der „Zerstörung des Gemeinsinns“ durch die englische und deutsche Gartenstadtbewegung und beschrieb sie als „hundert Villen, in fünf Lagen übereinander geschichtet“. Die einzelnen Einheiten sollten doppelstöckig sein, hätten Gärten, aber keine Küchen. Die gewöhnlichen Dienstleistungen wären wie ein Hotel organisiert, technische Einrichtungen wie Heißwasserleitungen, Zentralheizung, Kühlung, Staubsauger und Trinkwasserreinigung ersetzten die menschliche Arbeitskraft. Die Dienstboten kämen herein wie in eine Fabrik, um ihre Acht-Stunden-Arbeit zu verrichten.
In der Weiterentwicklung entwarf Le Corbusier ab 1930 mit der Ville Radieuse, der vertikalen Stadt, unter Bezugnahme auf das russische Narkomfin-Gebäude. Die Großgebäude enthielten das Konzept eines funktionellen Stadtsystems, gegliedert in Nutzungszonen mit Wohn-, Produktions-, Transport- und Versorgungsbereichen, mit hängenden Gärten begrünt und einer Zentralisierung von Dienstleistung und Hauswirtschaft.Eine teilweise Umsetzung fanden Le Corbusiers Konzepte in den Unités d’Habitation, die zwischen 1947 und 1964 in den vier französischen Städten Marseille, Nantes, Briey und Firminy sowie in Berlin realisiert wurden. Es handelt sich um 17- bis 18-geschossige Hochhäuser im Stahlbeton-Skelettbau mit jeweils mehr als dreihundert Wohnungen. Geplant waren für alle fünf Projekte umfassende infrastrukturelle und kulturelle Einrichtungen wie Kindergärten, Dachterrassen mit Schwimmbassins, Trainingsbahnen und Aussichtstürme, Sportsäle, Unterrichtsräume, Studiobühnen, Freilichttheater, Restaurants und Bars. Auf halber Höhe der Gebäude, im siebten und achten Stockwerk, waren als „rue intérieure“ bezeichnete interne Straßen mit Ladenzeilen und Dienstleistungseinrichten geplant. In diesem Umfang wurde nur die Cité radieuse 1947 in Marseille verwirklicht. Die weiteren vier Gebäude mussten aufgrund von Finanzierungsproblemen Abstriche machen. So sind im Berliner Corbusierhaus unter anderem die gemeinschaftlichen Dacheinrichtungen den technischen Aufbauten der Fahrstühle und Lüftungsanlagen gewichen, die Dachfläche steht den Bewohnern nicht zur Verfügung.Im Gegensatz zur Planung waren die Wohneinheiten der Unité d’Habitation mit Küchen ausgestattet. Le Corbusier verließ bei der Realisierung das ursprünglich als Eingriff in die gesellschaftliche Entwicklung gedachte Konzept. Statt neuer sozialer Inhalte in der Wohnform wurden die Großwohnanlagen zu abstrakten Organisationsschemen einer funktionellen Stadt.
== Forschungsstand ==
Im deutschsprachigen Raum gilt die Geschichte der Einküchenhäuser nach den umfangreichen Debatten von Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts als weitgehend vergessen. Eine kurzzeitige Wiederentdeckung gab es Anfang der 1970er Jahre, als die Studentenbewegung die Ideen des kollektiven Wohnens in die Hochschuldiskussionen trug. In dieser Zeit sind einige Veröffentlichungen entstanden, die den historischen Stoff wieder bekannt gemacht haben und zur Argumentation für die eigenen Wohngemeinschaftsexperimente herangezogen wurden. Im Jahr 1981 promovierte der Architekt und Soziologe Günther Uhlig zu dem Thema Kollektivmodell Einküchenhaus. Wohnreform und Architekturdebatte zwischen Frauenbewegung und Funktionalismus und legte mit seiner Promotionsschrift eine Diskursanalyse der die Entwicklung begleitenden zeitgenössischen Veröffentlichungen vor. Er schuf damit zugleich ein Standardwerk, auf das sich die weiteren Veröffentlichungen berufen. Eine darüber hinausgehende Arbeit gaben die Professorin für Stadtplanung Ulla Terlinden und die Soziologin Susanna von Oertzen im Jahr 2006 mit dem Buch Die Wohnungsfrage ist Frauensache! Frauenbewegung und Wohnreform 1870 bis 1933 heraus. Sie erweiterten Uhligs Forschung um die Auswertung von Quellen aus Schriften der Frauenbewegung und stellten die Einküchenhäuser in den Gesamtzusammenhang der Beteiligung von Frauen an der Entwicklung der Wohnungsbaugeschichte.
Die meisten englischsprachigen Veröffentlichungen zum Thema kommen aus Skandinavien. Insbesondere der Architekt Dick Urban Vestbro, Professor an der Universität Stockholm, bearbeitete in vielen Publikationen die gesamteuropäische Geschichte der Einküchenhäuser wie auch deren Einfluss auf heute bestehende alternative Wohnformen mit zentraler Küche, insbesondere in Schweden. Eine entsprechende Forschung zu den Entwicklungen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz ist nicht bekannt. Das Thema der Co-housing-Bewegung in den Vereinigten Staaten und deren enge Verknüpfung mit europäischen Modellen ist ausführlich von der amerikanischen Stadthistorikerin Dolores Hayden erforscht worden. Sie hat ihre Ergebnisse in zahlreichen Schriften veröffentlicht.
Anlässlich einer Tagung der International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) im November 2009 hat die Architektin Anke Zalivako mit einem Kurzstatement unter dem Titel Vom Kommunehaus zu den Unité d’Habitation – ein europäisches Erbe? ein „Netzwerk von Wohngebäuden mit zentralen Serviceeinrichtungen“ zur Nominierung zum Europäischen Kulturerbe (European Heritage Label) vorgeschlagen und damit die europaweite kulturelle Verbindung einiger Einküchenhauser der Moderne dargelegt. Der vorgeschlagene Verbund umfasst Bauten in sechs Staaten und besteht aus dem Heimhof in Wien, dem Ledigenheim in Breslau, dem Narkomfin in Moskau, dem Isokon Building in London, dem Unité d’Habitation in Marseille und dem Corbusierhaus in Berlin.
== Liste der Einküchenhäuser ==
Die folgende Tabelle gibt eine zusammenfassende Übersicht über die Gebäude, die zwischen 1903 und 1965 in europäischen Städten als Einküchenhäuser konzipiert waren. Die Spalte Bestand führt auf, bis zu welchem Jahr die Einrichtung der zentralen Küche jeweils bestanden hat, die Angabe Planungsstadium besagt, dass ursprüngliche Entwürfe nicht umgesetzt wurden.
== Literatur ==
Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin (Hrsg.): Berlin und seine Bauten. Teil IV: Wohnungsbau. Band B: Die Wohngebäude – Mehrfamilienhäuser. Berlin 1974, ISBN 3-433-0066-4.
Lily Braun: Frauenarbeit und Hauswirtschaft. Expedition der Buchhandlung Vorwärts, Berlin 1901.
Florentina Freise: Asketischer Komfort. Das Londoner Servicehaus Isokon. Athena-Verlag, Oberhausen 2009, ISBN 978-3-89896-321-3.
Hartmut Häußermann, Walter Siebel: Soziologie des Wohnens. Juventa Verlag, Weinheim/ München 1996, ISBN 3-7799-0395-4.
Dolores Hayden: Redesigning the American Dream: Gender, Housing, and Family Life. W.W. Norton & Company, New York 1984. (Neuauflage 2002, ISBN 0-393-73094-8)
Hermann Hipp: Wohnstadt Hamburg. Mietshäuser zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2009, ISBN 978-3-89479-483-5.
Staffan Lamm, Thomas Steinfeld: Das Kollektivhaus. Utopie und Wirklichkeit eines Wohnexperiments. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-10-043924-4.
Claire Richter: Das Ökonomiat. Hauswirtschaftlicher Großbetrieb zum Selbstzweck. Berlin 1919.
Ulla Terlinden, Susanna von Oertzen: Die Wohnungsfrage ist Frauensache! Frauenbewegung und Wohnreform 1870 bis 1933. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-496-01350-8.
Günther Uhlig: Kollektivmodell „Einküchenhaus“. Wohnreform und Architekturdebatte zwischen Frauenbewegung und Funktionalismus 1900–1933. (= Werkbund Archiv. 6). Anabas Verlag, Gießen 1981, ISBN 3-87038-075-6.
== Weblinks ==
Jens Sethmann: 100 Jahre Einküchenhäuser. Gescheitertes Reformexperiment. In: Mieter Magazin des Berliner Mietervereins, Januar/Februar 2008
Hiltraud Schmidt-Waldherr: Emanzipation durch Küchenreform? Einküchenhaus versus Küchenlabor. In: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft. Heft 1/1999, S. 57–76; online unter Demokratiezentrum Wien (PDF; 181 kB)
Dick Urban Vestbro: History of cohousing – internationally and in Sweden. (Memento vom 22. Februar 2014 im Internet Archive) November 2008. (PDF; 1,3 MB)
Anke Zalivako: Vom Kommunehaus zu den Unité d’Habitation – ein europäisches Erbe? Kurzstatement anlässlich des ICOMOS-Workshops „European Heritage Label und Weltkulturerbe“ am 20./21. November 2009 in Berlin; in: kunsttexte.de Januar 2010 (PDF; 192 kB)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Eink%C3%BCchenhaus
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Erdfunkstelle Fuchsstadt
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= Erdfunkstelle Fuchsstadt =
Die Erdfunkstelle Fuchsstadt ist eine Erdfunkstelle im unterfränkischen Landkreis Bad Kissingen auf dem Gebiet der Gemeinde Fuchsstadt. Sie wurde von der Deutschen Bundespost gebaut und wird heute vom US-amerikanischen Unternehmen Intelsat betrieben. Die Erdfunkstelle Fuchsstadt dient als Bodenstation für die Kommunikation mit Nachrichtensatelliten und ermöglicht unter anderem satellitengestützte Telefongespräche, Internet-Verbindungen und Fernsehsendungen. Bis in die 1990er Jahre war Fuchsstadt ein bedeutender Knotenpunkt des weltweiten Kommunikationsnetzes; diese Bedeutung ist verloren gegangen, weil inzwischen der ganz überwiegende Teil des kontinentalen und interkontinentalen Nachrichtenaustauschs über Glasfaserkabel abgewickelt wird.
An der Erdfunkstelle stehen 50 Parabolantennen, darunter zwei Antennen vom Typ A mit einem Durchmesser von 32 Metern und etwa 25 weitere mit jeweils mehr als 9,3 Metern. Die Erdfunkstelle ist damit eine der größten Satelliten-Kommunikationsanlagen der Welt. Sie ist die erste Erdfunkstelle von Intelsat in Europa und zugleich die größte der sechs, die das Unternehmen betreibt. Mit ihren großen Parabolantennen ist sie im Saaletal weithin sichtbar.
== Lage ==
Die Erdfunkstelle liegt zwischen der Bundesautobahn 7 und Hammelburg im Tal der Fränkischen Saale auf einem ebenen Plateau auf 192 Meter Höhe über NN. Das Plateau wird auf drei Seiten von der 15 Meter tiefer liegenden Fränkischen Saale umflossen. Nach Südosten hin schließt sich in 1,5 Kilometer Entfernung Fuchsstadt und im Westen in zwei Kilometer Entfernung Hammelburg an. Das Areal der Erdfunkstelle ist etwa 105.000 Quadratmeter groß und wird bis zur Fränkischen Saale und Fuchsstadt hin von landwirtschaftlich genutzten Flächen umgeben. Im Norden und Süden schließen sich Höhenzüge an, die sich in West-Ost-Richtung, entsprechend der Hauptrichtung der Fränkischen Saale, erstrecken. Die umliegenden Berge überragen das Plateau der Erdfunkstelle um bis zu 150 Meter. Diese Höhenzüge bewirken eine sehr gute natürliche Abschirmung ohne in den Hauptstrahlungsrichtungen zu den Satelliten zu stören.
== Geschichte ==
=== Planung ===
Gegen Ende der 1970er Jahre begann die Deutsche Bundespost ihre Planungen, um ihre zwei Erdfunkstellen in Raisting und Usingen zu ergänzen. Aufgrund des rasch steigenden Bedarfs an Satellitenfunkeinrichtungen mit einem jährlichen Zuwachs von 20 bis 25 Prozent wurde eine weitere Erdfunkstelle notwendig. Bei der Suche nach einem geeigneten Standort musste berücksichtigt werden, dass sich keine funktechnisch störenden Industrieobjekte in der Nähe befanden, möglichst eine natürliche Abschirmung des Geländes durch umliegende Hügel bestand und keine Beeinflussung durch das terrestrische Richtfunknetz entstand. Die Anbindung an das Verkehrsnetz sollte möglichst kostengünstig erfolgen, das Gelände in einer weitgehend erdbebensicheren Region liegen und auch die Forderungen des Umweltschutzes mussten berücksichtigt werden. Die intensiven Voruntersuchungen fanden bis zum Frühjahr 1981 statt.Die Ingenieure fanden im Saaletal bei Fuchsstadt innerhalb einer Saaleschleife eine landwirtschaftlich genutzte Fläche, die ideale Bedingungen aufwies. Die Deutsche Bundespost begann dort mit den Vorbereitungen für den Bau der Anlage.
=== Bau ===
Bereits im Sommer 1983, nach dem Abschluss des Planfeststellungs- und Genehmigungsverfahrens, wurden die Zufahrtsstraße und die Kabelkanäle zwischen dem Betriebsgebäude und den Antennenstandorten fertig gestellt. Im Oktober 1983 begann die Errichtung des Betriebsgebäudes, das in seiner Größe auf den geplanten Endausbau der Erdfunkstelle mit fünf Antennen ausgerichtet war. Siemens wurde beim Bau Generalunternehmer. Für den Stahlbau war MAN als Unterauftragnehmer vorgesehen, ANT war Unterauftragnehmer für die Empfangseinrichtungen und den Bau der Antennenanlagen. Im April 1984 entstand der Betonsockel für Antenne eins und am 24. Mai 1984 wurde Richtfest gefeiert. Zwei Kilometer nordöstlich der Erdfunkstelle wurde ein Sendemast gebaut. Ende Oktober 1984 war der Reflektor der Antenne eins mit 32 Metern Durchmesser und einem Gewicht von etwa 100 Tonnen auf dem Drehkreuz montiert. Er war vor Ort am Boden zusammengebaut und mit einem Spezialkran auf den Antennensockel gehoben worden. Die Gesamthöhe beträgt 42 Meter. Im selben Jahr wurde auch mit dem Bau der Antenne zwei begonnen. Am 1. Juli 1985 wurde die Antenne eins nach der Einmessung der nachrichtentechnischen Einrichtungen in Betrieb genommen. Im Herbst 1985 folgte Antenne zwei. Beide Antennen sind weitgehend identisch mit den beiden im Jahre 1981 in Raisting errichteten Antennen, sowohl vom äußeren Erscheinungsbild als auch bezüglich der wesentlichen technischen Merkmale.
Die Kosten für die beiden ersten Antennen und die nachrichtentechnischen Einrichtungen beliefen sich auf 78 Millionen Deutsche Mark. Für den Bau der Betriebsgebäude wurden weitere 30 Millionen Mark aufgebracht. Die Gesamtkosten betrugen zu diesem Zeitpunkt etwa 120 Millionen Mark.Zunächst waren fünf Parabolantennen der Klasse A mit jeweils 32 Metern Durchmesser geplant, die nach und nach errichtet werden sollten. Aufgrund der fortschreitenden technischen Entwicklung wurden die Antennen drei und vier kleiner gebaut bei gleichzeitig besserer Signalqualität. Wegen der Schließung durch die Deutsche Telekom in den 1990er Jahren kam es nicht mehr zum Bau der fünften Antenne.
=== Betrieb ===
Am 26. Juli 1985 erfolgte die erste Verkehrsaufnahme durch Antenne eins über Satellit mit der Erdfunkstelle Ceduna in Australien. Antenne zwei wurde am 11. November 1985 in Betrieb genommen. Am 19. Januar 1991 entschied die Deutsche Telekom wegen angeblicher Überkapazitäten im Bereich des Satellitenfunks die Erdfunkstelle Fuchsstadt zu schließen. Trotz dieses Beschlusses wurden am 18. Juni 1991 die Antenne drei und am 7. Juni 1994 die Antenne vier mit jeweils 18 Meter Spiegeldurchmesser in Betrieb genommen. Weitere kleinere Antennen folgten.
Neben dem täglichen Betrieb gab es mehrere Ereignisse, bei denen die Anlage eine wichtige Rolle spielte. Die USA nutzten sie während des Golfkriegs 1991/1992 für ihre Kommunikationen. Es folgten die Satellitenübertragung der Fußball-Weltmeisterschaft von 1998 in Frankreich, der Australian Open im Tennis und der Olympischen Spiele in Nagano 1998.
=== Stilllegung ===
Im Jahr 2000 wurde die Erdfunkstelle Fuchsstadt, die mehr als 40 Personen beschäftigt hatte, von der Telekom geschlossen. Dem voraus ging die Zusammenarbeit der Telekom mit der France Télécom, wobei sich beide Firmen darauf einigten jeweils eine ihrer Erdfunkstellen stillzulegen. France Telecom entschied sich, die Station in Pleumeur-Bodou zu schließen und Bercenay-en-Othe zu behalten. Die Entscheidung der Telekom, ob Raisting oder Fuchsstadt geschlossen werden sollte, fiel schließlich auf Fuchsstadt, da sich der damalige Niederlassungsleiter Walter Ral für Raisting starkgemacht hatte. Nach der förmlichen Stilllegung wurde Fuchsstadt im Jahr 2000 noch für Übertragungen von den Olympischen Sommerspielen aus Sydney genutzt. Danach wurde die Erdfunkstelle endgültig abgeschaltet. Antenne vier wurde abgebaut und in der Erdfunkstelle Raisting wiederverwendet.
=== Übernahme durch Intelsat ===
Die zweite aktive Phase der Erdfunkstelle begann am 1. April 2002 mit der Übernahme durch den Konzern Intelsat, des zweitgrößten kommerziellen Satellitenbetreibers, der mehr als 50 Satelliten betreibt. Die Einrichtung wurde am 3. Juni 2002 in Anwesenheit des Vorstandsvorsitzenden von Intelsat feierlich ihrer neuen Bestimmung übergeben. Am Anfang beschäftigte Intelsat in der Erdfunkstelle etwa zehn Personen. Inzwischen sind es mehr als 30 Beschäftigte bei steigender Tendenz, wovon etwa die Hälfte bereits früher für die Telekom in der Erdfunkstelle gearbeitet hatte. Am 20. März 2002 genehmigte das Landratsamt Bad Kissingen den Bau von zwei neuen Antennen auf dem Antennenfeld vier.
In den ersten Wochen baute Intelsat neue technische Komponenten ein. Außerdem wurde der Zugang zum erdgebundenen Leitungsnetz verbessert. Noch im Frühjahr 2002 begann man mit dem Bau zweier 13-Meter-Antennen, die im Juni in Betrieb genommen wurden. Die Planung von Intelsat zielte von Anfang an darauf, die Erdfunkstelle auszubauen, um mehr Kapazitäten für ihre Kunden bereitzustellen. Zunächst hatte Intelsat eine Genehmigung erhalten, die Erdfunkstelle auf 15 Antennen zu erweitern. In den Folgejahren wurden weitere Antennen genehmigt. So konnte die Erdfunkstelle bis zum Jahr 2009, beeinflusst durch die steigende Nachfrage nach Satellitenkommunikation, auf über 40 Antennen ausgebaut werden. Die neuen Antennen haben einen Durchmesser von 4,3 bis 16,4 Meter, es entstanden aber auch kleinere, mit bis zu vier Meter Durchmesser. Für weitere drei Antennen, die bei Bedarf errichtet werden können, liegen bereits Baugenehmigungen vor. Im Juli 2009 wurde die Errichtung von sieben weiteren Antennen, vier mit 16,4 und drei mit 9,3 Meter, genehmigt, so dass der Bestand an Antennen von über neun Meter nach dem Ausbau auf über 30 ansteigen wird.
Der Betrieb der Erdfunkstelle ging auch nach der Übernahme von Intelsat im August 2004 durch vier Private-Equity-Firmen weiter. Im November 2004 wurde eine vorher in Raisting installierte Überwachungs- und Steuerungsanlage für Intelsat-Satelliten eingebaut. Die Antennenfelder eins, zwei und vier wurden eingezäunt und videoüberwacht. Die Klimatisierungsanlagen zum Ableiten der entstehenden Wärme wurden von 14 auf 150 erhöht und drei zusätzliche Dieselaggregate zur Notstromversorgung installiert. Auch unter Intelsat beziehungsweise deren Nachfolger gab und gibt es sportliche Höhepunkte wie Übertragungen der NBA, NASCAR-Autorennen und der Formel 1. Insgesamt investierte Intelsat im zweistelligen Millionenbereich in die Erdfunkstelle.
== Aufbau der Anlage ==
Die gesamte Anlage ist in mehrere Bereiche unterteilt. Sie besteht aus dem Betriebsgebäude, vier Antennenfeldern mit mehr als 40 voll beweglichen Parabolantennen und dem Sendemast. Zurzeit werden 23 große Parabolantennen zum Senden und Empfangen von Signalen ins All beziehungsweise aus dem All genutzt. 20 davon wurden von Intelsat in den letzten Jahren mit überwiegend einheitlichen Größen errichtet (9,3, 13 und 16,4 Meter Durchmesser). Zwei der drei älteren Antennen haben einen Durchmesser von 32 und die dritte von 18 Metern. Weitere Antennen von 4,2 bis 6,3 Meter Durchmesser dienen ebenfalls zum Senden und Empfangen von Signalen. Weitere kleinere Parabolantennen, mit Größen bis vier Meter, können nur zum Empfang von Signalen genutzt werden, wobei die meisten von Intelsat stammen.
Die Antennen über zehn Meter Durchmesser werden überwiegend im Frequenzbereich des C-Bandes und die kleineren, einschließlich der 9,3-Meter-Antennen, im Ku-Band-Bereich genutzt, um mit den geostationären Satelliten von Intelsat in Kommunikation treten zu können. Diese Satelliten befinden sich in etwa 36.000 Kilometer Höhe und bedienen Europa, Nord- und Südamerika, Afrika und große Teile von Asien.
=== Betriebsgebäude ===
Beim Betriebsgebäude handelt es sich um mehrere miteinander verbundene Gebäudekomplexe, in denen über 30 Personen beschäftigt sind. Das Betriebsgebäude besteht aus sechs, nach Funktionen gegliederten Baukörpern und umfasst eine Betriebsfläche von etwa 7.000 Quadratmetern. Darunter befindet sich die zentrale Betriebswarte, von wo aus alle wichtigen Funktionen überwacht und fernbedient werden. Die Überwachungs- und Steuerungsanlage von Intelsat-Satelliten ist in einem besonders gesicherten Gebäudeteil untergebracht.
Die Fassade des Gebäudes wurde aus Naturstein errichtet und mit ziegelgedeckten Satteldächern versehen. Das Betriebsgebäude ist mit den Antennenfeldern durch Kabelkanalanlagen verbunden.
=== Stromversorgung ===
Die Erdfunkstelle wird durch zwei 20-kV-Leitungen vom Umspannwerk Fuchsstadt mit Strom versorgt. Um bei einem Stromausfall die Stromversorgung der gesamten Erdfunkstelle aufrechtzuerhalten, befinden sich im Betriebsgebäude vier stationäre Dieselmotoren, die getrennt in Notstrom und unterbrechungsfreien Strom zugeschaltet werden können. Drei der vier Dieselaggregate mit angeschlossenem Generator wurden unter Intelsat errichtet. Der Generator aus der Entstehungszeit der Erdfunkstelle liefert eine etwas geringere Leistung.
Um Auswirkungen von Spannungsschwankungen aus dem öffentlichen Elektrizitätsnetz – etwa bei Umschaltungen oder Gewittern – auf empfindliche Teile der elektrischen Anlagen zu verhindern, sind diese über einen Schutzmechanismus gesichert: die Energie wird über ein 2900 Kilogramm schweres Schwungrad gepuffert, das sich mit 3300 Umdrehungen in der Minute dreht. Mit diesem Schwungrad wird elektrischer Strom erzeugt, der den empfindlichen elektronischen Anlagenteilen der Erdfunkstelle zur Verfügung steht.
=== Antennenfelder ===
Die Erdfunkstelle enthält fünf Antennenfelder, von denen vier mit Antennen ausgestattet sind und einen Abstand von etwa 500 Metern voneinander haben. Innerhalb der vier Antennenfelder befindet sich das Betriebsgebäude, das mit dem Antennenfeld eins verbunden ist. Die vier Antennenfelder sind eingezäunt und videoüberwacht.
Antennenfeld 1
Beim Antennenfeld 1 handelt es sich um das Hauptareal der Erdfunkstelle. Hier befindet sich die erste Antenne der Erdfunkstelle aus dem Jahr 1984 mit einem Durchmesser von 32 Metern. Die Antenne besteht aus einem Haupt- und einem Fangreflektor, die durch ein automatisches Nachführsystem auf den Satelliten ausgerichtet werden. Die Antenne kann Windgeschwindigkeiten bis zu 180 Kilometern pro Stunde aushalten. Die Antenne ist im Gegensatz zu den etwas älteren Antennen in Raisting mit einer neuartigen, hyperbolisch gekrümmten Stütze für den Hilfsreflektor ausgestattet, außerdem fehlt die hintere Reflektorverkleidung. Der Antennensockel ist dreistöckig. Im untersten Betriebsgeschoss befindet sich die zentrale Klimaanlage. In den beiden anderen Geschossen sind die Einrichtungen zur Steuerung der Antenne und der Sendetechnik untergebracht. Ein weiterer Betriebsraum in der Stahlkonstruktion der Antenne ist mit einer eigenen Klimaanlage ausgestattet.
Zwei Antennen haben Durchmesser von 16,4, zwei weitere von 13 Metern. Weiterhin befinden sich dort neun Antennen mit 9,3, je eine mit 11, 8,1, 4,6 und zwei mit 4,2 Meter Durchmesser. Jeweils zwei dieser Antennen werden von Shelterboxen – Containern mit darin installierter Technik – kontrolliert. Außerdem stehen mehr als zehn weitere Antennen mit Durchmessern bis zu vier Metern ohne Shelterboxen zur Verfügung.
Antennenfeld 2
Dort befinden sich eine 32-Meter-Antenne aus dem Jahr 1985, vier weitere Antennen mit jeweils 16,4 Metern Durchmesser sowie eine 8-Meter-Antenne und mehrere kleinere Antennen. Die 32-Meter-Antenne ist baugleich mit der Antenne auf Feld eins. Die Antenne wurde, wie das Gegenstück auf Feld eins im Jahr 2005 neu angestrichen. Die vier 16,4-Meter-Antennen werden von zwei innerhalb des Feldes befindlichen Shelterboxen kontrolliert.
Antennenfeld 3Dieses Antennenfeld enthält eine Antenne aus dem Jahr 1991 mit 18 Meter Durchmesser. Eine weitere Antenne mit 13 Metern Durchmesser ist geplant.
Antennenfeld 4Dort stand eine Antenne mit 18,3 Metern Durchmesser und einem Gesamtgewicht von 23 Tonnen. Diese wurde nach der Stilllegung abgebaut und nach Raisting gebracht. Gegenwärtig stehen dort drei Antennen mit 16,4, zwei mit 13, zwei mit 9,3, eine mit 8 Meter Durchmesser und weitere kleinere Antennen. Innerhalb des Antennenfeldes befinden sich mehrere Shelterboxen, die für den Betrieb der Antennen notwendig sind.
Antennenfeld 5Ursprünglich waren fünf Antennenfelder mit jeweils einer 32-Meter-Antenne geplant. Wegen der bereits im Jahre 1991 beschlossenen Schließung der Erdfunkstelle kam es nicht zum Bau einer fünften Antenne durch die Telekom. Dieses Antennenfeld wurde im Jahre 2002 ebenfalls von Intelsat übernommen. Auf diesem Feld sollen auch künftig keine Antennen errichtet werden.
SendemastDer Sendemast befindet sich zwei Kilometer nordöstlich der Erdfunkstelle auf dem Längberg (310 Meter über Normalnull). Der Sendemast dient dazu, Hörfunk und Fernsehen auszusenden, aber auch richtfunkbasierte Telekommunikation, wie beispielsweise die Übertragung von Telefongesprächen, von und zur Erdfunkstelle in das Umfeld zu leiten. Die Höhe des Turmes und die darauf befindliche Antenne wird bestimmt durch die Notwendigkeit, die Signale störungsfrei in einem großen Umkreis senden und empfangen zu können.
Bei dem Sendemast handelt es sich um einen modifizierten Fernmeldetyp (FMT) 16 mit vier Plattformen, aber ohne Betriebsgeschoss. Der Turmschaft selbst ist 111 Meter hoch, mit dem aufgesetzten Mast hat der Sendemast eine Gesamthöhe von 137,5 Metern. Die Plattformen befinden sich in 79, 85, 92,5 und in 100 Meter Höhe. Die unterste Plattform hat einen geringeren Durchmesser als die drei anderen. Auf den einzelnen Plattformen befanden sich mehrere Spiegel, die überwiegend nach der Stilllegung durch die Telekom abgebaut wurden.
== Aktuelle Situation ==
Trotz der insolvenzbedingten Übernahme von Intelsat befindet sich die Erdfunkstelle ständig im Ausbau. Im Jahre 2007 wurden im Antennenfeld eins drei weitere Antennen mit Durchmessern von 4,5 bis 9,3 Metern errichtet. Eine weitere Antenne befindet sich derzeit im Gründungsbau. Das Fundament hierzu ist fertig und es befinden sich darin die Leitungen und Befestigungen für die spätere Antenne. Von Seiten der lokalen Bevölkerung wurde der Ausbau der Anlage oft kritisiert, der inzwischen den ursprünglich geplanten Endausbau aus dem Jahr 2002 von 17 Antennen deutlich übersteigt.
=== Strahlung ===
Die Bundesnetzagentur stellt für jede Antenne ein für die Nutzung notwendiges Zertifikat aus. Daneben werden separate Standortbescheinigungen ausgestellt, in denen festgelegt ist, wo die Grenzen der einzelnen Antennen für den Höhenabstand zu Wohnbauten und Gelände liegen. Innerhalb dieser Grenzbereiche kann ein längerer Aufenthalt durch Strahlenbelastungen zu gesundheitlichen Schäden führen. Sehr hohe Energien treten im Zentrum jedes Antennenreflektors auf.
Jede Antenne in Fuchsstadt weist einen Elevationswinkel von mindestens acht Grad auf. Hierdurch soll eine genügende Überhöhung zum umliegenden Gelände und zur Bebauung gewährleistet werden. Der festgelegte Sicherheitsabstand in Hauptstrahlrichtung liegt für Antenne eins bei 140, bei der zweiten Antenne bei 245 und bei der dritten Antenne bei 236 Metern. Für die Antennen vier und fünf, die als erste unter Intelsat errichtet wurden – zwei 13-Meter-Antennen auf dem Antennenfeld vier – beträgt der Sicherheitsabstand 1.425 Meter. Die großen Unterschiede bei den Sicherheitsabständen hängen von der unterschiedlichen Größe der Antennen und den verwendeten Sendeleistungen ab.
=== Kritik ===
In den Gemeinderatssitzungen der Gemeinde Fuchsstadt wurde die Einhaltung der Strahlungswerte der einzelnen Antennen angesprochen, deren Hauptstrahlrichtungen teilweise über bebautes Gebiet weisen. Teile des Gemeinderates und der Bürgerschaft forderten deshalb vom Betreiber der Erdfunkstelle einen Nachweis für die Unbedenklichkeit der Antennen. Günter Zorbach, Leiter der Erdfunkstelle und früherer Telekom-Manager, verweist bei diesen Anliegen auf die Standortbescheinigungen der Bundesnetzagentur, wonach die Anlage allen Sicherheitsstandards entspricht und versichert, dass die von den Antennen ausgehende elektromagnetische Strahlung außerhalb der für jede Antenne festgelegten Grenzbereiche für den Menschen nicht gefährdend sei.Kritiker werten jedoch die Tatsache, dass die Antennen aufgrund von Störeinflüssen untereinander in einem Mindestabstand aufgestellt werden, der dem zweifachen Spiegeldurchmesser entspricht, als Indiz dafür, dass die Antennen auch ihr direktes Umfeld mit Strahlen belasten. Zorbach argumentiert hier damit, dass dieser seitliche Abstand nur erforderlich sei, damit zwei Antennen sich nicht gegenseitig stören, wenn sie auf der gleichen Frequenz senden. Die Gemeinde hat es bisher unterlassen, die Strahlenbelastungen im Umfeld der Anlage von neutralen Gutachtern untersuchen zu lassen. Sie konnte aber auch die von Zorbach vorgelegten Strahlendiagramme nicht vollständig interpretieren.
== Siehe auch ==
Liste geostationärer Satelliten
== Weblinks ==
Offizielle Internetpräsenz von Intelsat
Pressebericht von Intelsat – Oktober 2006 (PDF; 1,12 MB)
Telcom Report von Siemens (PDF; 2,30 MB)
Erdfunkstelle Fuchsstadt bei YouTube
Erdfunkstelle Fuchsstadt
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Erdfunkstelle_Fuchsstadt
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Femeiche
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= Femeiche =
Die Femeiche (früher Rabenseiche, Ravenseiche oder Erler Eiche genannt) in Erle im nordrhein-westfälischen Kreis Borken ist mit einem Alter zwischen 600 und 850 Jahren eine der ältesten Eichen Deutschlands. Die Stieleiche (Quercus robur) steht in der Nähe der Pfarrkirche. Unter der Eiche wurden nachweislich bis zum 16. Jahrhundert Femegerichte abgehalten. Sie gilt als der älteste und bekannteste Gerichtsbaum in Mitteleuropa. Seit über 100 Jahren ist die durch Blitzeinschläge, Stürme, Einflüsse des Menschen und ihr hohes Alter gezeichnete Eiche als Naturdenkmal eingetragen. Der Stamm ist seit etwa 250 Jahren hohl und besteht nur noch aus Splintholz. Die Stammhülle, die von Stangen zusammengehalten wird, umschließt einen Hohlraum mit einem Durchmesser von beinahe drei Metern.
== Standort ==
Der Ort Erle liegt am Rande des Westmünsterlands, auf der Schwelle vom fränkischen Rheinland zum sächsischen Hamaland, in einer typischen Heidelandschaft innerhalb des Naturparks Hohe Mark-Westmünsterland, drei Kilometer südöstlich von Raesfeld an der Bundesstraße 224. Die Eiche steht südwestlich der Ortsmitte am Rande eines Neubaugebietes direkt neben dem ältesten Haus von Erle, dem alten Pastorat, auf etwa 60 m Höhe über Normalhöhennull.
== Beschreibung ==
Der Stamm der Eiche ist völlig ausgehöhlt und bis auf drei Stammteile, die sich in etwa vier Meter Höhe vereinen, zerstört. Die Eiche ist entgegen der Hauptwindrichtung stark nach Südwesten geneigt. Durch den schrägen Wuchs wurden die Saftflussbahnen auf der geneigten Seite am Wurzelhals gequetscht, so dass etwa ein Drittel des Stammumfangs abstarb. Die abgestorbenen Stammpartien wurden bei der Sanierung 1965 entfernt. Der Stamm besteht nur noch aus den äußeren Teilen des Splintholzes mit Kambium, Bast und Rinde, die zum Teil nach innen eingerollt ist. Das Kernholz ist nicht mehr vorhanden. Die früheren großen Äste sind nur noch in Ansätzen zu erkennen. Weil sie überlang und kopflastig geworden waren, brachen sie vor Jahrhunderten durch Sturm und Blitzschlag heraus. Von dem immer morscher gewordenen tragenden Stamm brachen weitere Äste ab.
Der Reststamm bildet eine Sekundärkrone, die von mehreren, teilweise auf Steinplatten ruhenden Holzstangen gestützt wird, ohne die der Baum umstürzen würde. Die tief angesetzte, einseitig ausladende Sekundärkrone besteht aus mehreren verzweigten Ästen. Sie ist im Sommer gut belaubt und hat einen reichen Blüten- und Fruchtansatz. Der Baum war im Jahr 2005 elf Meter hoch und hatte einen Kronendurchmesser von acht Metern.
=== Stammumfang ===
1989 betrug der Umfang des Stammes, in einem Meter Höhe gemessen, zwölf Meter. Die Eiche liegt mit diesen Maßen nach dem Deutschen Baumarchiv, dem der Stammumfang in einem Meter Höhe als wichtigstes Auswahlkriterium dient, über dem unteren Grenzwert der national bedeutsamen Bäume (NBB). Vollständig erhalten hätte der Stamm einen Umfang von etwa 14 Metern. Damit handelt es sich um die dickste Eiche in Deutschland. Nur die einstmals stärkste Eiche Deutschlands, die Dagobertseiche im hessischen Dagobertshausen, deren letzte Reste um 1900 verschwanden, hatte im Jahr 1851 mit 14,86 Metern, auf einem Meter Höhe gemessen, einen größeren Umfang. Der Durchmesser des Stammes in Brusthöhe (BHD) wurde 1892 mit etwa 4,5 und der Umfang des Stammes in Mannshöhe 1902 mit 12,5 Metern angegeben. 1927 betrug er 14 Meter.
=== Alter ===
Zur Altersangabe der Eiche gibt es stark voneinander abweichende Angaben. Da das älteste Holz aus dem Zentrum des Stammes fehlt, ist weder eine Jahresringzählung noch eine Radiokohlenstoffdatierung möglich. Das Alter der Eiche kann deshalb nur anhand des Stammumfangs und der geschichtlichen Überlieferungen grob geschätzt werden.
Die Eiche ist den neuesten Erkenntnissen nach vermutlich zwischen 600 und 850 Jahre alt. Damit wäre sie die älteste Eiche in Deutschland. Das Deutsche Baumarchiv schätzte das Alter der Eiche im Jahr 2008 auf 600 bis 850 Jahre, wobei die 600 Jahre von Bernd Ullrich stammen und die 850 Jahre vom Deutschen Baumarchiv. Diese Angabe basiert auf einem jährlichen Umfangszuwachs bei alten Eichen von etwa 1,8 Zentimetern, der sich anhand langjähriger Untersuchungen von Stammumfängen und dem rekonstruierten Stammumfang der Femeiche von 14 Metern ergab. Jahresringzählungen bei bis zu 450-jährigen Eichen der Region ergaben jährliche Umfangszuwächse von 1,5 bis 1,7 Zentimetern. Anhand dieser Werte wäre die Eiche etwa 800 bis 900 Jahre alt.
Andere Altersangaben liegen zwischen 1000, 1300 und 1500 Jahren. Diese Schätzungen basieren überwiegend auf der geschichtlichen Überlieferung. Böckenhoff schrieb 1966: „Da man Freistühle an ausgezeichnete Stellen setzte, sie alsdann nicht mehr verrückte, müßte die Eiche, als man den Stuhl aufstellte, wohl zur Zeit Karls des Großen, schon ein mächtiger Baum gewesen sein. Demnach wäre sie heute etwa 1500 Jahre alt.“ Ein Grund für das hohe Alter der Eiche könnte sein, dass sie als erste in der Region ihre Blätter entfaltet. Der Eichenwickler, ein Laubschädling, konnte ihr bisher nichts anhaben, da er sich erst nach dem Austrieb der übrigen Eichen entwickelt.
== Naturdenkmal ==
Die Femeiche mit der Nummer I.J. 1 ist seit 1. Juli 1996 als Naturdenkmal ausgewiesen und aufgrund einer Verordnung des Kreises Borken für den Schutz von Naturdenkmalen bei der Unteren Landschaftsbehörde (ULB) gelistet, die auch für die Pflege zuständig ist. Bauliche Anlagen, Abgrabungen und Aufschüttungen in ihrer Umgebung sind untersagt. Die Eiche erhält dadurch den größtmöglichen Schutz. Der Baum kam 1975 durch die kommunale Neugliederung zum Kreis Borken. Zuvor gehörte er zum Amt Dorsten im Kreis Recklinghausen, wo er seit 12. April 1954 in der Naturdenkmalliste geführt wurde. Erstmals geschützt wurde die Eiche um 1900.Das Kuratorium Nationalerbe-Bäume der Deutschen Dendrologische Gesellschaft hat im Oktober 2021 die Erler Femeiche als zwölften Nationalerbe-Baum ausgerufen. Die Femeiche ist damit der erste Nationalerbe-Baum im Westmünsterland und in Nordrhein-Westfalen.Mit der am 16. Juni 1871 gepflanzten Piuseiche ist in Erle seit 1996 ein weiterer Baum als Naturdenkmal eingetragen.
== Geschichte ==
Der alte Name Rabens- beziehungsweise Ravenseiche und der Name der Gegend Aßenkamp deuten auf eine Verbindung zur germanischen Mythologie hin. Der Rabe ist das Symbol des germanischen Toten- und Kriegsgottes Odin und die Asen waren ein germanisches Göttergeschlecht. Die Landschaftsarchitektin Anette Lenzing hat daraus in ihrem Buch Gerichtslinden und Thingplätze in Deutschland die Vermutung abgeleitet, die Femeiche sei möglicherweise bereits zu germanischer Zeit als Gerichtsstätte (Thing) benutzt worden. Es ist allerdings nicht gesichert, ob es sich tatsächlich um die heutige Femeiche handelte oder ob an gleicher Stelle eine Vorgängereiche stand. Nach einer Sage saß der Gott Odin selbst als Richter unter der Eiche, seine beiden Raben, Hugin und Munin, hockten in den Zweigen des Baumes.
=== Femegerichte ===
Unter der Eiche tagte der Freistuhl, das Erler Femgericht, „den vryen Stoel tum Aßenkampe“, welcher am Ende des Mittelalters seine größte Macht ausübte. Von einem Freistuhl, einer großen Steinplatte aus hielten die freien Grafen mit sechs Schöffen nach dem Recht Kaiser Karls des Großen Gericht über Schwerverbrechen wie Mord, Raub, Brandstiftung und Meineid; ein Schuldspruch zog stets den Tod am Strang nach sich. Das Gericht unterstand bis 1335 dem Stuhlherrn von Heiden und war für das Gebiet der Kirchspiele Erle, Raesfeld, Alt-Schermbeck und die nördlich von Lippe liegenden Dorstener Stadtteile Rhade und Holsterhausen zuständig. Im Jahr 1335 verpfändete der Stuhlherr seine Freigrafschaft dem Grafen von Cleve. 1375 war der Burgherr der Burg Raesfeld Inhaber der Freigrafschaft.
Überliefert ist, dass 1441 der Freigraf Bernt de Duiker unter der Eiche Gert von Diepenbrock und zwei seiner Knechte wegen Schöffenmord verfemte und sie in Abwesenheit für vogelfrei erklärte. Der Bericht über die Gerichtsverhandlung ist der älteste schriftliche Nachweis der Eiche. In einem Schreiben im Stadtarchiv von Bocholt aus dem Jahr 1441 heißt es: „Bernd die Ducker, Freigraf zu Heiden verfehmt den Gerd Deipenbroik und dessen Knechte, und fordert alle Freischöpfen des H. R. Reichs auf, dieselben an den ersten Baum aufzuhängen, weil sie zwei Freischöpfen ermordet hatten.“ Dort ist auch die Rede vom „Vrygenstole tor Ravenseick“ und dem „Vryenstoel ten Hassenkampe by Erler“.Im Jahr 1442 wurden die Befugnisse der Femegerichte durch den Reichstag stark eingeschränkt, so dass sie an Bedeutung verloren. Eine weitere Gerichtsverhandlung ist von 1543 überliefert. Unter der Eiche wurde bis zum Jahr 1589 Femegericht abgehalten. Im 16. Jahrhundert musste das Femegericht mit dem Erstarken der Landeshoheit des Fürstbischofs von Münster einen Großteil seiner Zuständigkeiten abgeben und wurde Ende des 18. Jahrhunderts aufgelöst. Die Steinplatte des Freistuhls wurde an der Brücke bei Dorsten als Denkmal aufgestellt; 1945 warfen britische Soldaten sie in den Fluss.
=== Geschichtliche Überlieferungen ===
Die Hauptkrone der Eiche brach vermutlich im 17. Jahrhundert heraus; im Lauf der Jahrhunderte bildete sich die heutige Krone. Durch das Fehlen des Mittelstammes drang Wasser ein, so dass Pilze das Holz zersetzten und sich die Höhlung bildete. Nachdem der Baum von Pilz befallen war, ließ der Pfarrer de Weldige dem kranken Baum um das Jahr 1750 mit scharfem Gerät zu Leibe rücken und das morsche Mittelstück herauskratzen, um ihm das Überleben zu sichern. Es entstand ein schmaler, mannshoher Eingang. In der Pfarrchronik von Erle steht:
In der Dorfchronik von Erle wird über mehrere Begebenheiten in der hohlen Eiche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts berichtet. Landrat Devens heftete am 5. Juli 1814 im Innern der Eiche dem damals 81-jährigen Pastor Lohede den Roten Adlerorden an. Der Kronprinz von Preußen, der spätere König Friedrich Wilhelm IV., ließ am 26. September 1819 während eines Manövers in der Erler Heide 36 voll ausgerüstete Infanteristen in der Eiche aufstellen, so groß war die entstandene Höhlung. Vorher nahmen der Kronprinz und seine Generäle von Haacke und von Thielemann in der Eiche an einem gedeckten Tische ihr Frühstück ein. Wenn der Bischof von Münster zur Firmung in Erle weilte, wurde die Eiche festlich geschmückt und darin ein Umtrunk eingenommen. Am 1. Juni 1832 wurde der Bischof Kaspar Maximilian Droste zu Vischering nach der Firmung unter Gesang zur festlich geschmückten Eiche geleitet und erfrischte sich dort mit einem Glase Wein. Ein weiteres Mal wurde der Bischof Kaspar Maximilian Droste zu Vischering am 16. Juli 1842 feierlichst empfangen, nachdem er in der Gemeinde Raesfeld am Tage vorher 150 Kinder gefirmt hatte. Auch soll der Bischof Johann Georg Müller am 11. Juli 1851 bei einer Firmung mit seinem Hofkaplan den Landdechanten von Droste-Senden und neun Geistliche an einem runden Tisch in der Eiche zwei Stunden lang bewirtet haben. Damals fanden auch Festlichkeiten wie Hochzeiten und Firmungen in und unter der Eiche statt.
=== Sicherungsmaßnahmen ===
In einem Brief vom 11. November 1892 des Königlichen Landrats und Geheimen Regierungsrats des Kreisausschusses Recklinghausen an den Pfarrer Karthaus von Erle bei Dorsten ist die Rede von einer Sanierung:
1892 erhielt die Eiche daraufhin mehrere Stützbalken, um ein Umfallen zu verhindern. Die Stammteile hielten zusätzlich zwei Eisenringe zusammen. Die Arbeiten führte von Buerbaum, Gartenarchitekt in Düsseldorf, gemeinsam mit dem Forstmeister Joly aus. Über die Stützbalken schreibt Albert Weskamp 1902: „[…] Seit dem Jahre 1892, wo die Stützbalken tiefer in die Erde eindrangen, so daß eine fast meterhohe Spalte auf der Neigungsseite fast ganz in der Erde verschwand, beträgt der Neigungswinkel nur noch 60 Grad.“ Ob schon vor 1892 Stützbalken vorhanden waren, ist nicht bekannt. Im Jahr 1897 sangen der Überlieferung nach 40 Mitglieder des Forstvereins im Hohlraum der Eiche ein Lied. 1927 brach der Wipfel, so dass sich die Höhe des Baumes reduzierte, die vorher 18 Meter betrug.
=== Sanierung ===
Bevor der Baumpfleger Michael Maurer 1965 die Eiche aufwendig sanierte, berichtete er im Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck über den Zustand des Baums:
Ziel der Sanierung war, dass der Jahreszuwachs außen den Holzabgang im Inneren des Stammes überstieg, so dass die Stammschalen nicht dünner wurden. Der letzte verbliebene Eisenring, der inzwischen eingewachsen war und den Saftfluss verhindert hatte, wurde entfernt. Um den Saftfluss im Bereich der ehemals tief eingewachsenen Eisenringe zu fördern, schnitten die Baumpfleger die Zellschicht der Rinde ein und entfernten im Stamm das gesamte morsche und pilzbefallene Holz, dexelten den Rest ab, glätteten es und behandelten es mit pilztötenden Mitteln. Es blieben drei Fragmente übrig, die sich in vier Meter Höhe vereinigen. Das dürre Holz im oberen Teil des Baumes wurde entfernt, die Schnittflächen überzog man mit Lackbalsam. Die Holzstützen aus dem Jahr 1892 wurden durch sechs neue ersetzt, um die Sekundärkrone zu schützen. Zusätzlich erhielt der Baum zur Verbindung der Stammteile Gewindestäbe mit Überrohren und das rindenlose Holz eine wasserabweisende Beschichtung.
Der festgetretene Boden um die Eiche wurde bis in 40 Zentimeter Tiefe ausgehoben und durch neue Erde, Humus und Baumfutter, einen Spezialdünger mit Langzeitwirkung, ersetzt. Darüber kam eine Kiesschicht zur besseren Belüftung und Bewässerung. Bohrungen bis zum Schwemmkies in vier Meter Tiefe sollten der Bodenverdichtung entgegenwirken. Das Betreten des Wurzelbereiches wurde untersagt, um zu vermeiden, dass der Boden erneut verdichtet wird. Die Sanierungskosten, die der Landkreis Recklinghausen übernahm, beliefen sich auf rund 20.000 Deutsche Mark.
=== Weitere Maßnahmen ===
Ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Schutz angebrachter Zaun wurde während der Sanierung 1965 entfernt. 1986 und 1987 wurde der Stamm erneut behandelt, wobei der Kies gegen wasserspeicherndes Lavagranulat ausgetauscht wurde. Seit April 1994 schützt den Baum eine neue Umzäunung, um Kletterversuche und Beschädigungen der Äste und Zweige zu unterbinden. Bei einem Sturm im Mai 2000 erlitt die Eiche einige Schäden. Die Krone musste zurückgeschnitten werden; den Rest tragen drei neue Stützen. Zur Erinnerung an die Femegerichte unter der Eiche wurde im Sommer 2006 außerhalb des Zaunes eine Skulptur aus Granit aufgestellt, die einen Gerichtstisch mit einem Henkerseil und einem Schwert darstellen soll. 2008 sollte eine erneute Pflege die Krone der Tragkraft des Stammes anpassen.
== Hörbuch ==
Seit dem Jahr 2009 gibt es ein interaktives Hörbuch mit dem Titel Die Femeiche aus dem Genre Mysterythriller, das von der Gemeinde Erle und der Femeiche handelt, jedoch mit der realen Geschichte der Femeiche und des Dorfes nichts zu tun hat.
== Siehe auch ==
Liste markanter und alter Baumexemplare in Deutschland
Liste der Eichen Europas mit einem Stammumfang ab zehn Metern
== Literatur ==
Bernd Ullrich, Stefan Kühn, Uwe Kühn: Unsere 500 ältesten Bäume: Exklusiv aus dem Deutschen Baumarchiv. BLV Buchverlag, München 2009, ISBN 978-3-8354-0376-5.
Stefan Kühn, Bernd Ullrich, Uwe Kühn: Deutschlands alte Bäume. BLV Verlagsgesellschaft, München 2007, ISBN 978-3-8354-0183-9.
Anette Lenzing: Gerichtslinden und Thingplätze in Deutschland. Karl Robert Langewiesche Nachfolger, Heiligenhaus 2005, ISBN 3-7845-4520-3.
Uwe Kühn, Stefan Kühn, Bernd Ullrich: Bäume, die Geschichten erzählen. BLV Buchverlag, München 2005, ISBN 3-405-16767-1.
Christian Pakenham: Bäume: Die 72 größten und ältesten Bäume der Welt. Christian Verlag, München 2005, ISBN 3-88472-673-0.
Hans Joachim Fröhlich: Alte liebenswerte Bäume in Deutschland. Cornelia Ahlering Verlag, Buchholz 2000, ISBN 3-926600-05-5.
Norbert Stuff: Die Femeiche in Raesfeld-Erle: nach über 1000 Jahren vital wie ein junger Baum. Westmünsterland 2000.
Gerd Buskamp: Erle: Erinnerungen unter der Femeiche. Sankt Augustin 2000 (Kleerbaum.de [abgerufen am 11. April 2009]).
Hans Joachim Fröhlich: Wege zu alten Bäumen, Band 4, Nordrhein-Westfalen. WDV-Wirtschaftsdienst, Frankfurt 1992, ISBN 3-926181-18-4.
ADAC Verlag (Hrsg.): Der Große ADAC Natur-Reiseführer Deutschland. ADAC Verlag, Turnhout/Belgien 1991, ISBN 3-87003-390-8.
Hermann-Josef Schwingenheuer: Die Erler Eiche seit 1882 (Eine Wort- und Bilddokumentation). In: Heimatbund Herrlichkeit Lembeck und Stadt Dorsten e. V. (Hrsg.): Heimatkalender. 1982, S. 37–46.
Hartwig Goerss: Unsere Baum-Veteranen. Landbuch, Hannover 1981, ISBN 3-7842-0247-0.
Aloys Bernatzky: Baum und Mensch – Mit Beiträgen von Michael Maurer. Waltemar Kramer, Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-7829-1045-1.
Jos. Böckenhoff: Die alte Eiche und der Freistuhl zu Erle bei Dorsten. In: Heimatbund Herrlichkeit Lembeck und Stadt Dorsten e. V. (Hrsg.): Heimatkalender. 1966.
Michael Maurer: Die Femeiche in Erle – Ein Vorschlag für ihre Erhaltung. In: Heimatbund Herrlichkeit Lembeck und Stadt Dorsten e. V. (Hrsg.): Heimatkalender. 1965.
F. Boerner u. a.: Nr. 58: Jahrbuch 1953/1954 (= Mitteilungen der deutschen dendrologischen Gesellschaft). Darmstadt Selbstverlag der deutschen dendrologischen Gesellschaft.
H. F. Schwingenheuer: Das Femegericht unter der Erler Eiche. In: Heimatbund Herrlichkeit Lembeck und Stadt Dorsten e. V. (Hrsg.): Heimatkalender. 1932.
Paul Joly: Die Erler Eiche. In: Heimatbund Herrlichkeit Lembeck und Stadt Dorsten e. V. (Hrsg.): Heimatkalender. 1925, S. 46–49.
Albert Weskamp: Geschichte des Dorfes Erle und seiner Eiche. Westfälische Vereinsdruckerei, Münster 1902, urn:nbn:de:hbz:6:1-56646.
Joseph Niesert: Beiträge zu einem Münsterischen Urkundenbuche aus vaterländischen Archiven. gedruckt mit Coppenrathschen Schriften, Münster 1823 (Google Books).
== Weblinks ==
Die Erler Femeiche: Vom Gerichtsplatz zum Touristenmagnet. Westmünsterland – Kreis Borken, abgerufen am 7. April 2009.
Die Femeiche in Erle bei Raesfeld. Ausflug-am-Sonntag.de, abgerufen am 8. April 2009.
Femeiche. Gemeinde Raesfeld, abgerufen am 8. April 2009.
Michael Kleerbaum: Erle. dorf-erle.de, abgerufen am 18. April 2009.
Hans Joachim Fröhlich: Femeiche in Erle. In: Wege zu alten Bäumen (Textauszug). Denkwerkstatt Glockenturm, 1992, S. 21, abgerufen am 13. April 2009.
Die ältesten Eichen Deutschlands: Werden Eichen 1000 Jahre alt? In: Quarks & Co. WDR-Fernsehen, 27. April 2004, abgerufen am 1. Mai 2009.
Christiane Frost: Ein Garten in Norddeutschland: Die Eiche (Quercus). 6. Januar 2002, abgerufen am 2. Mai 2009.
Femeiche im Verzeichnis Monumentaler Eichen. Abgerufen am 10. Januar 2017..
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Femeiche
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Forschungsreaktor Haigerloch
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= Forschungsreaktor Haigerloch =
Der Forschungsreaktor Haigerloch war eine deutsche Kernreaktor-Versuchsanlage. Sie wurde während der Endphase des Zweiten Weltkriegs Anfang 1945 in einem Felsenkeller im hohenzollerischen Haigerloch gebaut.
In diesem letzten Großversuch des Uranprojekts mit dem Namen B8 wurde eine nukleare Kettenreaktion durch Neutronenbeschuss von Uran in schwerem Wasser herbeigeführt und beobachtet. Die Kritikalität der Kettenreaktion wurde nicht erreicht; die Anlage war auch nicht für einen Betrieb im kritischen Zustand ausgelegt, und die heute für sie oft verwendete Bezeichnung Reaktor trifft deshalb nur eingeschränkt zu. Spätere Berechnungen ergaben, dass der Reaktor etwa die eineinhalbfache Größe hätte haben müssen, um kritisch zu werden.
Die US-amerikanische Spezialeinheit Alsos fand die Anlage am 23. April 1945 und demontierte sie am folgenden Tag. Die beteiligten Wissenschaftler wurden gefangen genommen und die verwendeten Materialien in die Vereinigten Staaten ausgeflogen. Heute befindet sich am ehemaligen Standort des Reaktors das Atomkeller-Museum.
== Vorgeschichte ==
=== Vorangegangene Reaktorversuche ===
Das Hauptziel des deutschen Uranprojekts im Zweiten Weltkrieg war die technische Nutzbarmachung der im Jahr 1938 von Otto Hahn und Fritz Straßmann experimentell erforschten und von Lise Meitner theoretisch erklärten Kernspaltung. In einer Reihe von Reaktorversuchen, genannt „Großversuche“, wollte man die theoretischen Überlegungen zur Energiegewinnung aus Uran praktisch erproben. Hierzu beschoss man Natururan in schwerem Wasser als Moderator mit Neutronen und beobachtete die sich dabei ergebende Vermehrung der Neutronen. Die Forscher des Uranprojekts bezeichneten ihr Entwicklungsziel nicht als Reaktor, sondern als „Uranmaschine“ oder „Uranbrenner“.
Unter Leitung des Nobelpreisträgers Werner Heisenberg wurden am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin-Dahlem von 1941 bis 1944 insgesamt sieben Großversuche mit Namen B1 bis B7 durchgeführt. Dabei untersuchten die Physiker mit wachsendem Erfolg Platten aus Uranmetall verschiedener Dicke auf ihre Reaktivität.
In einer zweiten Versuchsanstalt in Leipzig wurden von Heisenberg und seinen Mitarbeitern in den Jahren 1941 und 1942 vier weitere Versuche L1 bis L4 mit in schwerem Wasser gelösten Uranoxid unternommen. Nach zwei kleineren Unfällen wurde diese Forschungsrichtung abgebrochen und seitdem ausschließlich Gussuran verwendet. Die Unfälle bei diesen Versuchen stellen – sensu lato – die ersten überlieferten „Reaktorunfälle“ der Geschichte dar – Jahre bevor an eine kommerzielle Nutzung der Kernspaltung überhaupt nur zu denken gewesen wäre.
Parallel dazu arbeitete in der Versuchsstelle Gottow bei Berlin unter der Leitung von Kurt Diebner eine weitere Gruppe an ähnlichen Versuchen. In ihren drei Versuchen G1 bis G3 wurden 1942 und 1943 mit guten Resultaten Uranwürfel statt Platten eingesetzt; als Moderator wurde dabei neben schwerem Wasser auch Paraffin verwendet. Die Heisenberg- und die Diebner-Gruppe standen in Konkurrenz um die knappen Materialien. Im Paraffin wirkt sowohl der Wasserstoff als auch der Kohlenstoff der enthaltenen Kohlenwasserstoffe als Moderator. Noch heute werden die Neutronen aus kleineren Neutronenquellen oft mit Paraffin abgebremst. Versuche Kernreaktoren mit organischen Stoffen zu kühlen/moderieren kamen jedoch bisher nicht über das Versuchsstadium hinaus.
=== Verlagerung der Forschungen ===
Im Jahr 1943 waren alle größeren deutschen Städte von alliierten Bombenangriffen bedroht. Daher beschloss man, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in eine ländlichere Gegend auszulagern. Die Anregung, dafür die Hohenzollerischen Lande zu nutzen, ging wahrscheinlich auf den Leiter der Fachsparte Physik im Reichsforschungsrat Walther Gerlach zurück, der an der Universität Tübingen studiert hatte, dort auch Ende der 1920er Jahre Professor gewesen war und daher die Gegend kannte. Für den süddeutschen Raum sprach auch, dass er bis dahin von Luftangriffen weitgehend verschont geblieben war. Außerdem favorisierten die beteiligten Wissenschaftler Süddeutschland, um im Falle einer Niederlage nicht in sowjetische Gefangenschaft zu geraten.In der Folge wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in das von Haigerloch 15 Kilometer entfernte Hechingen ausgelagert und dort in den Textilbetrieben Grotz und Conzelmann sowie im Brauereigebäude des ehemaligen Franziskanerklosters Sankt Luzen untergebracht. Die Verlagerung erfolgte in mehreren Schritten; etwa ein Drittel des Instituts zog bis Ende 1943 nach Hechingen, im Laufe des Jahres 1944 folgten Carl Friedrich von Weizsäcker und Karl-Heinz Höcker aus Straßburg und schließlich Heisenberg selbst. Parallel dazu wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie mit Otto Hahn und Max von Laue in das nahe gelegene Tailfingen (heute Albstadt-Tailfingen) verlagert.Im Januar 1945 waren vom Uranverein nur noch Karl Wirtz, Kurt Diebner und einige Techniker in Berlin geblieben. Wirtz war gerade dabei, den bis dahin größten deutschen Reaktorversuch im immer noch intakten Dahlemer Institutsbunker aufzubauen, als die Rote Armee bis auf 80 Kilometer vor Berlin vorstoßen konnte. Daraufhin beschloss Gerlach am 27. Januar 1945, den fast abgeschlossenen Versuchsaufbau abzubrechen. Er fuhr umgehend nach Berlin, um alle Wissenschaftler und Materialien nach Süddeutschland zu evakuieren.
== Vorbereitungen ==
=== Der Felsenkeller ===
Bereits am 29. Juli 1944 war der zufällig entdeckte Kartoffel- und Bierkeller des Haigerlocher Schwanenwirts für monatlich 100 Reichsmark als neuer Standort des Berliner Forschungsreaktors angemietet worden. Der Felsenkeller war Anfang des 20. Jahrhunderts für einen Tunnelbau der Hohenzollerischen Landesbahn angelegt worden. Er war im schmalen Eyachtal in den Berg unter der dortigen Schlosskirche getrieben und gegen Bombenangriffe durch eine 20 bis 30 Meter dicke Felsschicht aus Muschelkalk geschützt.Das etwa 20 Meter lange und etwa drei Meter hohe Tunnelstück besaß einen trapezförmigen Querschnitt, wobei die Decke etwa vier Meter und der Boden etwa fünf Meter breit waren. Der Tunnel war auf seiner gesamten Länge durch hölzerne Stützbalken abgestützt, die in einem Abstand von zwei Metern angebracht waren. Ein kleiner zweiteiliger Vorbau verbarg den Eingang.Im hinteren Teil des Felsenkellers wurde für den Reaktor eine drei Meter tiefe zylindrische Grube ausgehoben, an der Kellerdecke wurde ein Transportkran installiert und in der verlassenen Bierstube auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ein Dieselgenerator aufgebaut. Bis Ende 1944 waren die Umbauarbeiten im Felsenkeller, der als „Höhlenforschungsstelle“ getarnt wurde, so weit fortgeschritten, dass dort mit dem Aufbau des Reaktors begonnen werden konnte.
=== Transport der Materialien ===
Am 31. Januar 1945 verließen Gerlach, Wirtz und Diebner an der Spitze eines kleinen Konvois die Hauptstadt. Ihnen folgten mehrere Lastwagen, die mit einigen Tonnen schwerem Wasser, Uran, Graphit und technischer Ausrüstung beladen waren. Nach einer nächtlichen Fahrt auf eisglatter Autobahn hielt der Konvoi am folgenden Tag etwa 240 Kilometer südlich von Berlin im thüringischen Stadtilm, wohin Diebners Arbeitsgruppe im vorangegangenen Sommer verlagert worden war. Gerlach glaubte, dass Diebners Laboratorium fortgeschrittener wäre als das von Heisenberg und beschloss kurzerhand, die Materialien dort abzuladen. Sehr verärgert über die Änderung des Plans kontaktierte Wirtz Heisenberg in Hechingen, der sofort zusammen mit von Weizsäcker nach Stadtilm aufbrach und nach abenteuerlicher Reise mit Fahrrad, Eisenbahn und Auto drei Tage später dort eintraf.Vor Ort versuchte Heisenberg Gerlach davon zu überzeugen, die Materialien doch nach Haigerloch zu schaffen. Die beiden fuhren am 12. Februar 1945 nach Hohenzollern, um die Lage vor Ort zu inspizieren. Wirtz blieb indessen in Stadtilm, um sicherzustellen, dass die Materialien nicht in Diebners Experimenten verwendet wurden. Nachdem sich Gerlach in Haigerloch vergewissert hatte, dass der Felsenkeller als neuer Standort des Reaktors besser geeignet war, stimmte er der erneuten Verlagerung zu. Wieder wurden Lastwagen beschafft und am 23. Februar 1945 brach der Physiker Erich Bagge mit einem neuen Konvoi von Haigerloch auf, um die Materialien von ihrem Lager in Stadtilm abzuholen.Vier Wochen nach der Abreise aus Berlin kamen Ende Februar 1945 schließlich 1,5 Tonnen Uran, 1,5 Tonnen schweres Wasser, 10 Tonnen Graphit und eine geringe Menge Cadmium in Haigerloch an. Das Uran war in Sankt Joachimsthal im Sudetenland abgebaut worden und stammte von der deutschen Degussa. Das schwere Wasser war von Norsk Hydro in Norwegen produziert worden. Zudem war von dem Physiker Fritz Bopp aus Berlin eine 500 Milligramm schwere Radium-Beryllium-Probe als Neutronenquelle eingeflogen worden. Bei Diebner in Stadtilm verblieben über zehn Tonnen Uranoxid sowie geringe Mengen an Uranmetall und schwerem Wasser.
== Der Forschungsreaktor ==
=== Die Anlage ===
Als die Materialien in Haigerloch eingetroffen waren, wurde umgehend mit dem Wiederaufbau der Versuchsanlage begonnen. An der Konstruktion und an den Experimenten arbeiteten führend von Weizsäcker und Wirtz. Heisenberg selbst leitete das Projekt von Hechingen aus, er fuhr oft mit dem Fahrrad zwischen den beiden Städten hin und her. Weitere vor Ort am Projekt beteiligte Wissenschaftler waren neben Bagge und Bopp unter anderem Horst Korsching und Erich Fischer.Die äußere Hülle des Reaktors bestand aus einem Betonzylinder, in den ein Kessel aus Aluminium mit 210,8 Zentimetern Durchmesser und 216 Zentimetern Höhe eingesetzt wurde. Der Aluminiumkessel lagerte auf Stützbalken aus Holz, die auf dem Boden lagen, der Zwischenraum wurde mit normalem Wasser aufgefüllt. In den Aluminiumkessel wurde ein weiterer Kessel aus einer sehr leichten Magnesium-Legierung mit einem Durchmesser von 124 Zentimetern und der gleichen Höhe eingesetzt. Der Magnesiumkessel war bereits im Großversuch B6 verwendet worden, der Aluminiumkessel war erstmals im Großversuch B7 zum Einsatz gekommen. Beide Kessel wurden von der Berliner Firma Bamag-Meguin hergestellt.Zwischen den beiden Kesseln lag eine 43 Zentimeter dicke und 10 Tonnen schwere Graphitschicht, die als Neutronenreflektor und Abschirmung diente. Graphit als Reflektor war erstmals im vorangegangenen Großversuch B7 zum Einsatz gekommen; bei noch früheren Versuchen hatte man ihn nicht verwendet, weil die Neutronen-Absorption in Graphit von Walther Bothe 1941 zu hoch eingeschätzt worden war. Der Deckel des inneren Kessels bestand aus zwei Magnesiumplatten, zwischen denen sich ebenfalls eine Graphitschicht befand.An diesem Deckel wurden an 78 Aluminiumdrähten insgesamt 664 Würfel aus Natururan mit fünf Zentimetern Kantenlänge und je 2,4 Kilogramm Gewicht befestigt. 40 Drähte hielten jeweils neun Würfel, die übrigen 38 Drähte je acht Würfel. Die Uranwürfel mit einem Gesamtgewicht von 1,58 Tonnen wurden mit Hilfe des Krans in das innere Gefäß eingelassen, durch den Deckel wurde die gesamte Anordnung verschlossen. In dem sich so ergebenden kubisch-flächenzentrierten Gitter waren die Uranwürfel jeweils in den Ecken und in den Flächenmittelpunkten eines gedachten Raumwürfels angeordnet. Die Uranwürfel hatten dabei einen Abstand von 14 Zentimetern.Das Schema mit den versetzten Uranwürfeln war erstmals 1943 von Diebner im Großversuch G3 in der Versuchsanlage des Heereswaffenamtes in Gottow verwendet worden. In den Berliner Versuchen waren bisher Uranplatten eingesetzt worden, jedoch mit schlechteren Ergebnissen. Ursprünglich wollten die Physiker eine Konstruktion aus hängenden Uranzylindern, vergleichbar heutigen Brennstäben, erproben. Die Zeit reichte aber für eine Herstellung solcher Zylinder nicht mehr aus und die Forscher entschlossen sich daher, Diebners Entwurf zu kopieren. Idealerweise hätten die Würfel eine Kantenlänge zwischen sechs und sieben Zentimetern haben sollen, die Wissenschaftler mussten jedoch die kleineren Würfel aus Diebners letzten Experimenten mitverwenden und schnitten daher die Uranplatten auf die gleiche Größe zu.In das Zentrum des Reaktors konnte durch einen sogenannten Kamin die Radium-Beryllium-Neutronenquelle eingebracht werden. Ebenfalls durch den Kamin wurde während des folgenden Versuchs das schwere Wasser, das in drei großen Tanks am Ende des Tunnels gelagert war, in das innere Reaktorgefäß eingefüllt. Außerdem befanden sich im Deckel Kanäle, durch die Neutronendetektoren eingeführt wurden. Damit konnte unter Ausnutzung der zylindrischen Symmetrie die räumliche Neutronenverteilung in der gesamten Anordnung gemessen werden. Die Aufbauarbeiten am Reaktor wurden in der ersten Märzwoche 1945 abgeschlossen.
=== Ziele des Versuchs ===
Im Großversuch B8 sollte durch Neutronenbeschuss von Uran eine Kernspaltungskettenreaktion herbeigeführt und beobachtet werden. Die Haigerlocher Versuche waren Grundlagenforschung. Ihr Zweck war, aus den Messungen die damit verbundenen kernphysikalischen Kenngrößen, wie zum Beispiel Wirkungsquerschnitte, so weit wie möglich zu bestimmen. Diese Erkenntnisse waren für friedliche Nutzungen der Kernspaltung nötig, aber auch für militärische Nutzungen zumindest hilfreich. Mindestens einige Beteiligte hofften auch, eine Kritikalität der Anlage zu erreichen und so – vermeintlich erstmals – eine selbsterhaltende Spaltungs-Kettenreaktion nachzuweisen. Sie konnten nicht wissen, dass dies bereits im Dezember 1942 Enrico Fermi und seinen Mitarbeitern am Kernreaktor Chicago Pile 1 in den Vereinigten Staaten gelungen war.
Die Anlage hatte aber keine Einrichtungen, einen kritischen Zustand zu regeln und wieder abzuschalten. Es waren weder Kontrollstäbe vorgesehen noch gab es eine Möglichkeit, das einmal eingefüllte schwere Wasser schnell wieder abzulassen. Falls die gemessene Neutronenflussdichte und damit die Kernreaktionsrate zu stark angestiegen wäre, plante man, den Versuch vor Erreichen der Kritikalität durch schnelles Herausziehen der Neutronenquelle und Beenden der Schwerwasserzufuhr abzubrechen. Zur Begrenzung der Leistung im Fall der Kritikalität verließ man sich auf den Dopplerkoeffizienten, der die Neutronenmultiplikation bei steigender Temperatur automatisch verringert hätte. Wäre die Anlage entgegen allen Erwartungen außer Kontrolle geraten, hätte man das Cadmiumstück, das als Neutronenabsorber wirkt, durch den Kamin in den Reaktor eingeworfen und so die Kettenreaktion unterbrochen. Jedoch auch schon bei sehr hoher Neutronenmultiplikation der unterkritischen Anordnung hätten sich die Physiker dabei einer hohen Strahlendosis ausgesetzt, denn die Anlage besaß nach oben hin keine genügende Strahlenabschirmung.Die Möglichkeit der militärischen Nutzung ihrer Arbeiten war den Beteiligten bewusst, denn Heisenberg hatte dem Heereswaffenamt bereits Ende 1939 mitgeteilt, dass Uran-235 ein starker Atomsprengstoff sein müsse. Auch von Weizsäcker hatte frühzeitig auf die Verwendbarkeit als Waffe hingewiesen, ebenso darauf, dass in Uranreaktoren ein neues spaltbares Element – später als Plutonium bekannt – entstehen müsse. Die Haigerlocher Versuche hätten grundsätzlich zu einer Bestätigung dieser Vermutungen führen können, jedoch war den Wissenschaftlern auch klar, dass zur Entwicklung einsatzbereiter Waffen noch viele Jahre aufwendiger Forschungsarbeit nötig gewesen wären.
=== Der Großversuch B8 ===
Beim entscheidenden Versuch Anfang März 1945 war auch Heisenberg im Keller anwesend, der „dabeisaß und ständig rechnete“. Nachdem der Reaktor geschlossen und die Neutronenquelle eingelassen worden war, wurde das schwere Wasser vorsichtig in das innere Reaktorgefäß eingefüllt. In regelmäßigen Abständen wurde die Wasserzufuhr unterbrochen und die Vermehrung der Neutronen an den Sonden verfolgt. Durch Antragen des Kehrwerts der gemessenen Neutronenintensität gegen die Menge an eingefülltem schweren Wasser – eine Idee Heisenbergs – konnten die Wissenschaftler den Wasserstand vorhersagen, bei dem der Reaktor kritisch werden würde.Es trat jedoch keine Kritikalität ein, selbst nachdem das gesamte verfügbare schwere Wasser eingefüllt worden war. Die Neutronendichte war in der gefüllten Anordnung im Vergleich zur Leermessung auf das 6,7-fache angestiegen. Dieser Wert war zwar doppelt so hoch wie beim vorangegangenen Versuch, aber immer noch nicht genug, um eine selbsterhaltende nukleare Kettenreaktion zu erreichen. Der Neutronen-Multiplikationsfaktor lag bei k=0,85; der Kritikalität hätte k=1 entsprochen. Spätere Berechnungen ergaben, dass die Anlage etwa die eineinhalbfache Größe hätte haben müssen, um kritisch zu werden.Eine Vergrößerung der Anordnung war jedoch unter den gegebenen Umständen nicht möglich, da weder Zeit noch genügend weiteres Uran und schweres Wasser zur Verfügung standen. Bereits im November 1943 war die Schwerwasser-Fabrik von Norsk Hydro in Rjukan durch britische Bomber zerstört worden, im September 1944 waren auch die Degussa-Werke in Frankfurt am Main durch ein Bomberkommando schwer getroffen worden.In einem letzten Anlauf, den Reaktor doch noch kritisch werden zu lassen, wollte Heisenberg die Reste an schwerem Wasser und Uran, die in Stadtilm verblieben waren, nach Haigerloch schaffen. Zudem wollte er alle Theorie in den Wind schlagen und Uranoxid in den Graphitschild einbringen. Wirtz hatte während der letzten Messungen festgestellt, dass Graphit doch einen besseren Moderator abgeben würde als bisher angenommen. Sie konnten jedoch im mittlerweile zusammenbrechenden deutschen Kommunikationsnetz keinen Kontakt mehr mit Stadtilm herstellen.Genauere Einzelheiten über die Anlage und den Ablauf des Versuchs können heute nicht mehr festgestellt werden, da der Originalbericht unter den später in die USA gebrachten Dokumenten der Gruppe nicht mehr verfügbar ist. Allerdings existiert eine von Heisenberg und Wirtz nachträglich, vermutlich um 1950, geschriebene gründliche Gesamtdarstellung aller acht Großversuche. Bei einer späteren Analyse zweier Uranwürfelfragmente aus Haigerloch durch das Institut für Transurane am Forschungszentrum Karlsruhe stellte sich heraus, dass das Uran nur mit relativ wenig Neutronen bestrahlt worden war; Plutonium konnte nicht nachgewiesen werden.
Dies weist darauf hin, dass die Forscher nicht kurz vor einer nuklearen Kettenreaktion standen. Von der Möglichkeit, eine Atomwaffe herzustellen, waren sie noch weit entfernt gewesen.
== Verfolgung und Zerstörung ==
=== Die Alsos-Mission ===
Die Alliierten hegten schon lange den Verdacht, dass die deutschen Forscher an einer Atombombe arbeiteten. Ziel der 1943 im Rahmen des Manhattan-Projekts unter General Leslie R. Groves gegründeten US-amerikanischen Spezialeinheit Alsos war es, die deutschen kerntechnischen Forschungsanlagen offenzulegen und sicherzustellen sowie die führenden Wissenschaftler gefangen zu nehmen. So sollte nicht nur das eigene Atomwaffenprogramm vorangetrieben werden, sondern auch eine Verwendung des Wissens durch die Sowjetunion und die anderen späteren Besatzungsmächte verhindert werden. Militärischer Leiter der Mission war Oberstleutnant Boris Pash, das wissenschaftliche Team wurde von dem niederländischstämmigen Physiker Samuel Goudsmit geführt.Den US-Amerikanern war bis Ende 1944 nicht genau bekannt, wie weit die deutsche Forschung vorangeschritten war. Die Alsos-I-Mission im Winter 1943/44 in Italien war weitgehend erfolglos verlaufen. Erst Ende November 1944 wurden während der Alsos-II-Mission in Frankreich in Weizsäckers Büro an der Universität Straßburg Briefe von anderen Mitgliedern des Uranvereins gefunden, aus denen man schließen konnte, dass Deutschland keine Atombombe hatte und auch in absehbarer Zeit keine herstellen würde. Es wurden aber auch Unterlagen entdeckt, die auf ein verdächtiges Forschungslabor in der zukünftigen französischen Besatzungszone in Hechingen hindeuteten. Um den französischen Truppen zuvorzukommen, erwogen Groves und Pash, die Anlage mit Fallschirmjägern aus der Luft anzugreifen oder durch Bombenangriffe zu zerstören. Der Physiker Goudsmit konnte die beiden jedoch überzeugen, dass das Uranprojekt diesen Aufwand nicht wert sei, und so entschloss man sich für eine Landoperation.Die ersten Spezialeinheiten der Alsos-III-Mission überquerten zusammen mit der 7. US-Armee am 26. März 1945 den Rhein. Sie konnten am 30. März 1945 in Heidelberg die Physiker Walther Bothe und Wolfgang Gentner aufgreifen, die dort an ihrem Zyklotron arbeiteten. Dort erfuhr Goudsmit, dass die Kernforschungsanlagen des Uranprojekts nach Haigerloch bei Hechingen und in die zukünftige sowjetische Besatzungszone nach Stadtilm verlagert worden waren. Pash beschloss, zunächst Stadtilm aufzusuchen, um der sowjetischen Armee zuvorzukommen. Sie schafften es, etwa drei Wochen vor den sowjetischen Streitkräften dort einzutreffen, Diebner war jedoch mit seinen Mitarbeitern und Materialien bereits in Richtung München in die zukünftige amerikanische Besatzungszone geflohen. Nun mussten sie nur noch verhindern, dass der Haigerlocher Reaktor in französische Hände fiel.
=== Die Zerstörung der Anlage ===
Die französische Armee kam am 22. April 1945 nach Haigerloch, das unterirdische Atomlabor wurde von ihnen jedoch nicht bemerkt. Die Alsos-Mission traf im Rahmen der Operation Harborage einen Tag später in der französischen Besatzungszone ein, fand die Apparatur und demontierte sie am folgenden Tag. Erst jetzt stellten die US-Amerikaner fest, dass die deutschen Forschungen um mehr als zwei Jahre hinter ihren eigenen zurücklagen. Es wurde ihnen nun auch offenbar, dass das gesamte deutsche Uranprojekt im Vergleich zum Manhattan-Projekt auf einem sehr kleinen Maßstab angesetzt war:
Die deutschen Wissenschaftler hingegen glaubten, dass ihre Arbeiten fortgeschrittener als die der US-Amerikaner seien, und zeigten sich zunächst unkooperativ. Die Uranwürfel und das schwere Wasser waren aus der Anlage entfernt und gut versteckt worden. Nach stundenlangen Verhören konnte man Wirtz und von Weizsäcker jedoch die Nennung der Verstecke mit dem falschen Versprechen entlocken, dass sie ihre Versuche nach dem Krieg unter dem Schutz der Alliierten wieder aufnehmen dürften. 659 der 664 Uranwürfel wurden vergraben in einem Acker neben der Schlosskirche gefunden, das schwere Wasser war in den Keller einer alten Mühle geschafft worden. Die wissenschaftlichen Unterlagen, darunter die streng geheimen Kernphysikalischen Forschungsberichte, hatte von Weizsäcker in einer Senkgrube hinter seinem Haus in Hechingen versteckt.Die Materialien und wissenschaftlichen Berichte wurden von den US-Amerikanern sichergestellt und über Paris in die Vereinigten Staaten ausgeflogen. Die Teile der Reaktoranlage, die nicht abtransportiert werden konnten, wurden durch mehrere kleine Sprengungen zerstört. Eine größere Sprengung im Felsenkeller hätte vermutlich die darüber liegende barocke Schlosskirche schwer beschädigt. Der damalige Pfarrer konnte dies verhindern, indem er den US-Amerikanern die Kirche zeigte und so Pash überzeugte, lediglich kleinere Sprengungen durchzuführen.Ein französisches Einsatzkommando unter der Leitung des Physikers Yves Rocard, das auf der Suche nach der Anlage kurz nach den US-amerikanischen Truppen nach Hechingen kam, fand dort nur noch ein Uranstück aus einem Labor in der Größe eines Würfelzuckers vor. Dennoch sollen Teile aus dem Haigerlocher Forschungsreaktor, etwa die hochreinen Graphitziegel, im ersten französischen Kernreaktor ZOÉ wiederverwendet worden sein.
== Folgen ==
=== Weitere Entwicklungen ===
Die Wissenschaftler der beiden Kaiser-Wilhelm-Institute wurden von den US-Amerikanern in ihren Büros und Wohnungen in Hechingen und Tailfingen verhaftet. Heisenberg selbst wurde einige Tage später in Urfeld am Walchensee aufgegriffen, wo er ein Haus besaß und die letzten Kriegstage mit seiner Familie verbrachte, Gerlach und Diebner wurden in und bei München aufgefunden. Die zehn führenden Köpfe des Uranprojekts (Bagge, Diebner, Gerlach, Hahn, Heisenberg, Korsching, von Laue, von Weizsäcker und Wirtz, dazu der Physiker Paul Harteck) wurden in der Operation Epsilon von Juli 1945 bis Januar 1946 im britischen Farm Hall interniert. Dort erfuhren sie im August 1945 von den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki und so auch von den Fortschritten der US-Amerikaner in der Nukleartechnik und deren Folgen. Die deutschen Wissenschaftler waren tief erschüttert, aber gleichzeitig auch erleichtert:
Die zehn Forscher kehrten nach der Internierung in ihre Heimat zurück, wo sie – mit Ausnahme Diebners – angesehene Positionen im Wissenschaftsbetrieb einnehmen konnten. Durch das Kontrollratsgesetz Nr. 25 wurde es Deutschland in den Nachkriegsjahren zwar untersagt, weitere Entwicklungen eines Kernreaktors voranzutreiben, Heisenberg dachte aber bereits 1950 wieder über einen deutschen Reaktor nach.
Es sollte bis 1957 dauern, bis der erste Kernreaktor auf deutschem Boden, der Forschungsreaktor München, in Betrieb ging. Im selben Jahr sprachen sich die meisten Mitglieder des Uranprojekts zusammen mit anderen führenden deutschen Kernphysikern im Göttinger Manifest gegen eine militärische Nutzung der Kernenergie in Deutschland aus.
Heute befindet sich im Felsenkeller das 1980 eröffnete Atomkeller-Museum, in dem neben einem Nachbau des Reaktors auch zwei der fünf verbliebenen Uranwürfel ausgestellt sind. Einer der beiden Würfel war von Heisenberg mitgenommen und Anfang der 1960er Jahre von spielenden Kindern am Flüsschen Loisach in der Nähe seines Wohnorts wiedergefunden worden.
=== Weiterverarbeitung der Ereignisse ===
In dem zweiteiligen deutschen Fernsehfilm Ende der Unschuld aus dem Jahr 1991 wird die Entwicklung des Uranprojekts von der Entdeckung der Kernspaltung 1938 bis zu den Versuchen in Haigerloch und der folgenden Internierung der Wissenschaftler 1945 dokumentarisch beleuchtet. Einige der Filmszenen wurden am Originalschauplatz im Haigerlocher Felsenkeller gedreht. Für Buch und Regie erhielt Drehbuchautor Wolfgang Menge zusammen mit Regisseur Frank Beyer 1991 den Deutschen Fernsehfilmpreis.Das Theaterstück Kopenhagen von Michael Frayn aus dem Jahr 1998 handelt von einem fiktiven Treffen von Heisenberg mit Niels Bohr und seiner Frau Margarete zu einem unbestimmten Zeitpunkt nach Ende des Krieges. Zum Ende des ersten Aktes reflektiert Heisenberg über die Arbeiten am Haigerlocher Forschungsreaktor, die fehlenden Sicherheitsmaßnahmen und das Bestreben, erstmals die Kritikalität zu erreichen. Das Drei-Personen-Stück erhielt im Jahr 2000 den Tony Award für das beste Theaterstück. Ein reales Treffen der beiden Männer hatte während des Krieges 1941 in Kopenhagen stattgefunden, jedoch ist aus den heute noch vorhandenen Dokumenten nicht ersichtlich, was damals gesagt wurde und konkret wie es gemeint war und interpretiert wurde. Heisenbergs späterer Erinnerung nach, versuchte er „codiert“ zu sprechen, da er befürchtete, Bohr würde von deutschen Besatzungstruppen überwacht und ausspioniert. Bohr scheint ihn missverstanden zu haben, oder Heisenbergs Behauptungen waren eine nachträgliche Schutzbehauptung.Der Roman Das Klingsor-Paradox des mexikanischen Autors Jorge Volpi aus dem Jahr 1999 handelt von der Suche zweier Wissenschaftler nach dem mutmaßlichen engsten wissenschaftlichen Berater Hitlers mit Decknamen Klingsor. In einer Rückblende begleitet man einen der beiden Protagonisten dabei, wie er als fiktiver Teil der Alsos-Mission zusammen mit Goudsmit und Pash in Heidelberg, Hechingen und Haigerloch das deutsche Atomprogramm aufdeckt. Letztendlich erweist sich Klingsor – das personifizierte Böse – als nicht greifbar. Der Bestseller erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem 1999 den spanischen Literaturpreis Premio Biblioteca Breve.Im Computerspiel Undercover: Operation Wintersonne von dtp entertainment aus dem Jahr 2006 schlüpft der Spieler in die Rolle eines britischen Physikers, der die Aufgabe hat, in einer Geheimoperation das deutsche Atombombenprogramm zu infiltrieren. Im Verlauf des Point-and-Click-Adventures gelangt der Spieler in ein fiktives unterirdisches Forschungslabor in Haigerloch, die Anlage ist jedoch verlassen und der „Bombenprototyp“ ist gestohlen.
== Literatur ==
Jeremy Bernstein, David Cassidy: Hitler's uranium club: the secret recordings at Farm Hall. 2. Auflage. Copernicus Books, New York NY 2001, ISBN 0-387-95089-3 (englisch).
Per Fridtjof Dahl: Heavy Water and the Wartime Race for Nuclear Energy. Institute of Physics, Philadelphia PA u. a. 1999, ISBN 0-7503-0633-5 (englisch).
Egidius Fechter: Humbug in der Höhlenforschungsstelle. Zum Atomkeller-Museum Haigerloch. EF Verlag, Haigerloch 2013, ISBN 978-3-00-038583-4.
Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. 7. Auflage. Piper, München u. a. 2008, ISBN 978-3-492-22297-6 (Serie Piper 2297).
Dieter Hoffmann (Hrsg.): Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder Die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe. Rowohlt, Berlin 1993, ISBN 3-87134-082-0.
Robert Jungk: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher. Scherz & Goverts, Stuttgart 1958 (Neuauflage: Heyne 2000, ISBN 3-453-04019-8).
Rainer Karlsch: Hitlers Bombe. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005, ISBN 3-421-05809-1.
Thomas Powers: Heisenbergs Krieg. Die Geheimgeschichte der deutschen Atombombe. Hoffmann und Campe, 1993, ISBN 3-455-08479-6.
Paul Lawrence Rose: Heisenberg und das Atombombenprojekt der Nazis. Pendo, Zürich u. a. 2001, ISBN 3-85842-422-6.
Michael Schaaf: Heisenberg, Hitler und die Bombe. Um weitere Interviews und Dokumente erweiterte Neuausgabe. GNT-Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-86225-115-5.
Mark Walker: Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe. Siedler, Berlin 1992, ISBN 3-442-12835-8.
Karl Wirtz: Im Umkreis der Physik. Kernforschungszentrum Karlsruhe, Karlsruhe 1987, ISBN 3-923704-02-X.
== Weblinks ==
Atomkeller-Museum. Stadt Haigerloch, abgerufen am 19. Oktober 2016 (Bilder und Hintergrundinformationen zum Forschungsreaktor).
Haigerloch und Hechingen – die Wiege der deutschen Atomforschung? hechingen4you.de, abgerufen am 19. Oktober 2016.
Geheimdokumente zum deutschen Atomprogramm 1938–1945. Deutsches Museum, abgerufen am 19. Oktober 2016.
Christian Gödecke: Jagd auf das deutsche Atom-Phantom. In: einestages. Spiegel Online, 22. April 2010, abgerufen am 19. Oktober 2016.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Forschungsreaktor_Haigerloch
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Fourteenth Street Bridge
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= Fourteenth Street Bridge =
Die Fourteenth Street Bridge (auch Ohio Falls Bridge oder Pennsylvania Railroad Bridge) ist eine eingleisige Eisenbahnbrücke über den Ohio zwischen Louisville in Kentucky und Clarksville in Indiana. Namensgeber ist die Lage der Zufahrt zur Brücke im Stadtraster von Louisville, entlang der 14. Straße (engl. Fourteenth Street), deren Fläche aber ausschließlich durch den Bahndamm eingenommen wird. Sie führt über die Stromschnellen Falls of the Ohio, die heute größtenteils unterhalb des Wasserspiegels der Staustufe McAlpine Locks and Dam liegen.
Erste Planungen zum Bau einer Brücke aus den 1830er-Jahren gehen auf den Politiker James Guthrie zurück. Nach mehreren erfolglosen Anläufen konnte das Projekt aber erst über 30 Jahre später, nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, realisiert werden. Die erste Eisenbahnbrücke über den Ohio in Kentucky wurde schließlich vom Brückenbauingenieur der Louisville and Nashville Railroad (L&N), Albert Fink, entworfen und verband dort ab 1870 die Eisenbahnnetze des Mittleren Westens mit denen der Südstaaten. Finks eingleisige Fachwerkbrücke war fast 50 Jahre lang in Betrieb, konnte aber das Anfang des 20. Jahrhunderts auf bis zu 300 Züge täglich angestiegene Verkehrsaufkommen nicht mehr bewältigen. Die Pennsylvania Railroad (PRR) sah sich als damaliger Eigner daher zum Neubau eines zweigleisigen Stahl-Überbaus gezwungen, den man bis 1919 bei laufendem Betrieb errichtete. Im Jahr 1976 ging die insolvente Nachfolgegesellschaft Penn Central zusammen mit der Brücke in den Besitz der staatlichen Auffanggesellschaft Conrail über. Die Louisville and Indiana Railroad (LIRC) erwarb 1994 die Brücke und betreibt sie heute nur noch eingleisig für den Güterverkehr zwischen Louisville und Indianapolis.
== Geschichte ==
=== Falls of the Ohio ===
Die Falls of the Ohio liegen etwa 980 Flusskilometer vom Ursprung des Ohio bei Pittsburgh entfernt und waren bis zum Bau eines Kanals eine natürliche Barriere für den Schiffsverkehr, die nur bei ausreichend hohen Pegelständen für etwa zwei Monate im Jahr passierbar war. Aufgeschlossene harte Gesteinsbänke aus den fossilreichen devonischen Kalksteinen der Jeffersonville Limestone Formation bildeten auf einer Strecke von drei Kilometern im Flussbett Stromschnellen aus, wo der Ohio Felsen und Kalkklippen erodierte und dabei einen Höhenunterschied von etwa acht Metern überwand. Durch den Zwangsstopp für Reisende entlang des Flusses und das nötige Umsetzen von Fracht, auf dem Weg von der Ostküste Richtung Westen bis zur Vereinigung mit dem Mississippi bei Cairo und weiter in Richtung Golf von Mexiko oder Westküste, entwickelten sich hier Siedlungen, aus denen später die Städte Louisville auf der Kentucky-Seite sowie Clarksville und Jeffersonville auf der Indiana-Seite hervorgingen.Auf der Kentucky-Seite ließ sich 1820 der neu ernannte Staatsanwalt des Jefferson County und spätere Politiker James Guthrie im heutigen Louisville nieder. Er setzte sich als Präsident der Betreibergesellschaft des späteren Louisville and Portland Canal für eine Möglichkeit zur Umschiffung der Stromschnellen ein, die entlang des Kentucky-Ufers ab 1826 gebaut und 1830 für den Schiffsverkehr freigegeben wurde. Guthrie war zudem als Mitglied des Senats von Kentucky treibende Kraft bei der Entwicklung von Louisville und wollte sie insgeheim zur Hauptstadt des Bundesstaates ausbauen. Dazu setzte er sich unter anderem für die Errichtung des Jefferson County Courthouse und einer Brücke über die Falls of the Ohio ein. Beide Vorhaben kamen durch die Wirtschaftskrise von 1837 in Finanzierungsprobleme und konnten erst Jahre später fertiggestellt werden. Das Brückenprojekt kam über die Grundsteinlegung 1836 nicht hinaus und auch ein neuer Versuch zur Finanzierung in den 1850er-Jahren scheiterte.
=== Brücke von Albert Fink 1870 ===
Nachdem Guthrie 1853–1857 Finanzminister unter Präsident Franklin Pierce gewesen war, wurde er Vizepräsident der Louisville and Nashville Railroad (L&N) sowie 1860 deren Präsident. Zur Realisierung der lange geplanten Brücke, die die beiden hier durch den Ohio getrennten Eisenbahnnetze des Mittleren Westens und der Südstaaten verbinden sollte, gründete die L&N zusammen mit der Jeffersonville, Madison and Indianapolis Railroad (JM&I) die Louisville Bridge Company. Leitender Ingenieur der L&N war der aus Deutschland emigrierte Bauingenieur Albert Fink. Er entwarf eine 1,6 km lange Fachwerkbrücke aus Guss- und Schmiedeeisen, die eine integrierte Drehbrücke über dem Kanal aufwies und auf 27 bis zu 32 Meter hohen Steinpfeilern ruhte. Besonderes Merkmal waren die von ihm patentierten Fink-Träger mit obenliegendem Gleis, die keinen Untergurt besaßen. Diese frühe Form der Fachwerkträger fand unter anderem noch bei der Wabash Bridge (1871) und der Verrugas-Brücke (1873) Anwendung, wurde aber später durch geschlossene Fachwerke verdrängt.
Die Bauarbeiten begannen am 1. August 1867 und waren Anfang 1870 abgeschlossen, wobei 56 Arbeiter ums Leben kamen und 80 weitere verletzt wurden. Der erste Zug überquerte die 26 Fachwerkträger der damals längsten Eisenbrücke der USA am 18. Februar 1870. Die etwas über acht Meter breite Eisenbahnbrücke besaß zusätzlich an den Außenseiten je einen zwei Meter breiten Fußweg, von denen der östliche ab November 1870 der Öffentlichkeit zur Verfügung stand.
Die JM&I kam 1871 unter die Kontrolle der Pittsburgh, Cincinnati, Chicago and St. Louis Railway, eine Tochtergesellschaft der Pennsylvania Railroad (PRR), die damit die Verbindung nach Indianapolis kontrollierte, wo Anschluss nach St. Louis, Chicago und an die Ostküste bestand. Die PRR erwarb dann Mitte der 1870er-Jahre den 60-Prozent-Anteil der L&N an der Louisville Bridge Company und wurde dadurch Eigner von einer der ersten Brücken über den Ohio entlang der etwa 1000 km langen nördlichen Grenze von Kentucky. Die erste Eisenbahnverbindung zwischen dem Mittleren Westen und den Südstaaten hatte die Illinois Central Railroad bei Cairo schon 1861 vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) mittels Eisenbahnfähren über den Ohio realisiert und die PRR errichtete die erste Eisenbahnbrücke über den Fluss 1865 an der Ostgrenze von Ohio in Steubenville. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurden sieben weitere Eisenbahnbrücken auf dem Flussabschnitt in Kentucky errichtet, davon eine in Cairo (1890) und in Henderson (1885), zwei weitere in Louisville (1886, 1895) und drei in Cincinnati (1872, 1877, 1888). In der Phase der expandierenden Eisenbahngesellschaften in Nordamerika nach dem Bürgerkrieg erreichte das Verkehrsaufkommen über die Fourteenth Street Bridge im Jahr 1882 über 150 Züge täglich. Zur Bewältigung des Verkehrs wurde hier auch erstmals die aus Europa stammende Technik der Formsignale (Signale mit beweglichen Elementen) eingesetzt, die in den USA um die Jahrhundertwende Standard wurde.
=== Umbau durch die PRR 1919 ===
Finks Brücke stellte sich als äußerst robust heraus und war bis auf drei Anstriche, kleinere Reparaturen an den Bolzenverbindungen und den Austausch der Tragbalken der Gleisebene in fast 50 Jahren Betrieb in ihren Strukturelementen nahezu wartungsfrei; die Drehbrücke über dem Louisville and Portland Canal modernisierte man allerdings 1902, wobei der alte Fachwerkträger und der Drehmechanismus ersetzt wurden. Das Verkehrsaufkommen verdoppelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf über 300 Züge täglich, bei einer stetigen Zunahme der Gewichte der Dampflokomotiven und der transportierten Fracht. Die PRR sah sich in den 1910er-Jahren daher gezwungen, die Brücke mit einem neuen zweigleisigen Stahl-Überbau zu versehen. Die Brückenpfeiler waren gleich dem ursprünglichen Eisen-Überbau in einem hervorragenden Zustand und konnten nach kleineren Modifikationen weiterverwendet werden. Von Juni 1916 bis Oktober 1918 erfolgte der Austausch der Fachwerkträger bei laufendem Betrieb mit Hilfe von Portalkränen. Im Zuge des Umbaus wurde zu Gunsten des zweiten Gleises auf einen zusätzlichen Fußweg verzichtet und die Drehbrücke durch eine Hubbrücke ersetzt. Die Eröffnung der neuen Brücke fand im Januar 1919 statt. Entwurf und Ausführung leitete der Brückenbauingenieur der Pennsylvania Railroad, J. C. Bland. Zu seinem Mitarbeiterstab zählte unter anderem Frank M. Masters, der als Metallurge für die Überwachung der Produktion der Stahlkomponenten zuständig war. Er wurde später Partner von Ralph Modjeski im bis heute bestehenden Ingenieurbüro Modjeski & Masters, das unter anderem 1929 die flussaufwärts folgende Louisville Municipal Bridge errichtete. Die Hubbrücke entwarf der damals führende Experte für diesen beweglichen Brückentyp, John Alexander Low Waddell, der zu jener Zeit mit seinem Sohn das Ingenieurbüro Waddell & Son betrieb. J. A. L. Waddell konstruierte über 70 Brücken dieser Bauart und war Mitbegründer des heute als Hardesty & Hanover fortbestehenden Ingenieurbüros.
=== Staustufe und Eigentümerwechsel bis 1994 ===
Der Louisville and Portland Canal wurde 1874 verstaatlicht und vom United States Army Corps of Engineers übernommen. Es folgten mehrere Erweiterungen der Schleusen und des unterhalb der Brücke verlaufenden Kanals, was auch den Bau der Hubbrücke bedingte. Durch die Entfernung des Mittelpfeilers der alten Drehbrücke konnte hier die Breite der Fahrrinne von 32 m auf über 70 m verbreitert werden. Weiterhin wurde in Höhe der Falls of the Ohio eine Staustufe errichtet, deren Staumauer man in den 1920er-Jahren mit einem bei Niedrigwasser aufrichtbaren Segmentwehr (wicket dam) und einem Laufwasserkraftwerk als Lock and Dam No. 41 erweiterte. Ab Ende der 1950er-Jahre erfolgten weitere Vergrößerungen der Schleusenanlagen und die Errichtung eines neuen Drucksegmentwehrs (Tainter gates), dabei wurde die letzte Fahrrinne unter dem größten Fachwerkträger der Brücke verschlossen. Im Jahr 1960 benannte man die Staustufe in McAlpine Locks and Dam um, deren Reservoir die Stromschnellen heute größtenteils überdeckt. Nur im nördlichen Teil hinter der Hochwasserentlastung sind vor der Brücke noch Teile erhalten, die sich heute im Falls of the Ohio State Park befinden.
Infolge des einsetzenden Ausbaus des Straßennetzes und des Entstehens des motorisierten Individualverkehrs transportierte die Eisenbahn immer weniger Güter und Personen, was in den 1970er-Jahren zur Insolvenz gleich mehrerer Eisenbahngesellschaften im Osten der USA führte. Darunter befand sich mit der Penn Central auch der Nachfolger der PRR. Als Folge wurde die staatliche Auffanggesellschaft Conrail geschaffen, in deren Besitz auch die Eisenbahnbrücke über den Ohio überging. Im Jahr 1994 wurde die Louisville and Indiana Railroad (LIRC) als Teil der Anacostia Rail Holdings Company gegründet, die eine Strecke von 170 km zwischen Louisville und Indianapolis von Conrail erwarb. Dies schloss auch die Fourteenth Street Bridge mit ein, die heute von der Eisenbahngesellschaft eingleisig für den Güterverkehr betrieben wird sowie auch dem Kooperationspartner CSX Transportation zur Verfügung steht. Die CSX investierte ab 2015 etwa 100 Mio. US$ in den Ausbau der LIRC-Strecke nach Indianapolis, um sie auch mit 130-Tonnen-Güterwagen nutzen zu können. Zudem konnte dadurch die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 40 auf fast 80 km/h erhöht werden. In diesem Rahmen überholte die LIRC 2015 auch den Antrieb der Hubbrücke. Dabei kam es im April zum Versagen einer Halterung für die Stahlkabel, woraufhin der Schiffsverkehr für 48 Stunden unterbrochen werden musste. Durch die Kooperation mit der CSX entwickelte sich die LIRC zu einer der erfolgreichsten lokalen Eisenbahngesellschaften und wurde Anfang 2019 von der Fachzeitschrift Railway Age zur Short Line of the Year gewählt.
== Beschreibung ==
Die Fourteenth Street Bridge gliedert sich in den Nordteil auf der Indiana-Seite (Gruppe V), den waagerechten Mittelteil in Kentucky mit den beiden größten Fachwerkträgern über den damals teilweise nutzbaren Fahrrinnen (Gruppe III und IV) und den ebenfalls in Kentucky befindlichen Südteil, der durch die Hubbrücke über dem Kanal abgeschlossen wird (Gruppe I und II). Insgesamt besitzt der Überbau aus den 1910er Jahren 21 Fachwerk- und vier Balkenträger sowie zwei Fachwerktürme (Hubbrücke). Er ruht auf 26 gemauerten Brückenpfeilern aus Sandstein, die größtenteils aus dem Jahre 1870 stammen. Sie erreichen eine Höhe von bis zu 32 m und wurden direkt auf dem Grundgestein des Flussbettes errichtet. Zur Aufnahme des breiteren zweigleisigen Stahl-Überbaus wurden die Brückenpfeiler teilweise eingekürzt und mit Stahlauflagen versehen, die die Auflager der Brückenelemente tragen. Der größte Fachwerkträger (im Mittelteil) musste entsprechend der staatlichen Vorgaben beim Umbau vergrößert werden und erstreckt sich heute über 196 m (vorher 122 m), wobei ein ehemaliger Brückenpfeiler entfernt wurde. Weitere Änderungen bezogen auf die Spannweite betrafen den Neubau der Hubbrücke und der angrenzenden Balkenträger auf der Südseite sowie zwei kleinere Balkenträger am Widerlager der Nordseite in Indiana. Die restlichen Pfeilerabstände der insgesamt 1614 m langen Brücke blieben unverändert und variieren zwischen 46 m und 113 m (die Spannweiten sind i. d. R. etwas kürzer, da ein Pfeiler immer die Auflager zweier benachbarter Brückenfelder trägt und bei Anbringung in gleicher horizontaler Ebene nicht beide auf der Pfeilermittelachse liegen können).
=== Nordteil (Indiana) ===
Der Nordteil der Brücke beginnt am Indiana-Ufer des Ohio mit dem Widerlager, das beidseitig von gemauerten Türmen bis auf Höhe der Gleisebene flankiert wird und den ersten, 10 m langen Balkenträger einrahmt. Darauf folgt über den Ohio River Scienic Bayway ein weiterer Balkenträger von 30 m Länge, an den sich vier parallelgurtige Fachwerkträger mit obenliegendem Gleis über den Falls of the Ohio State Park anschließen, die als Strebenfachwerke mit Pfosten ausgeführt sind und in dieser Bauform für insgesamt 18 Fachwerkträger der Brücke in unterschiedlichen Größen zur Anwendung kamen. Die Längen variieren hier zwischen 46 m und 55 m, wobei die Konstruktionshöhe mit der Länge zunimmt und bei den längsten baugleichen Trägern im Mittelteil über 10 m erreicht (bei einer Spannweite von 75 m). Die Steigung bis zum Mittelteil beträgt auf diesem 251 m langen Teilstück 13,8 ‰. Die Grenze zwischen den Bundesstaaten Indiana und Kentucky verläuft unter dem dritten Fachwerkträger.
=== Mittelteil (Kentucky) ===
Der waagerechte Mittelteil erstreckt sich mit einer Länge von 684 m über sieben Brückenfelder. Über den ehemaligen Fahrrinnen, die nur bei ausreichendem Wasserstand befahrbar waren und heute von der Staumauer verschlossen sind, befinden sich ein 113 m und ein 196 m langer Halbparabelträger mit untenliegendem Gleis, zwischen denen fünf der parallelgurtigen Fachwerkträger mit obenliegendem Gleis angebracht sind, die hier Längen von rund 75 m haben. Die Halbparabelträger mit ihrem gebogenen Obergurt sind als Ständerfachwerke ausgeführt, mit zusätzlichen Pfosten sowie zusätzlichen Längs- und Querverstrebungen im unteren Bereich, wodurch die Fachwerkfelder nochmals unterteilt und verstärkt werden. Diese als Pennsylvania truss bezeichnete Bauform wurde von der Pennsylvania Railroad entwickelt und bis in die 1930er Jahre verwendet. Sie war bei höheren Traglasten im Design materialsparender als ältere Fachwerkskonstruktionen, was zur Minimierung des Eigengewichtes gerade bei großen Spannweiten von Bedeutung war. Wie oben erwähnt, erstreckt sich der längste Träger der Brücke mit einer Spannweite von 196 m über drei der ehemaligen Brückenpfeiler, wobei der mittlere Pfeiler entfernt und der südliche in Richtung Kentucky für den 5630 t schweren Stahlträger verstärkt wurde; er besitzt daher als einziger der Strompfeiler im unteren Bereich eine Betonummantelung. Der Fachwerkträger erreicht in der Mitte eine Konstruktionshöhe von über 35 m und ist 11,5 m breit. Er zählt zu den größten einfachen Fachwerkträgern (Einfeldträger) der Welt und wurde seinerzeit nur von der Metropolis Bridge (1917, 220 m) und der MacArthur Bridge (1912, 204 m) übertroffen.
=== Südteil mit Hubbrücke (Kentucky) ===
Der Südteil der Brücke besteht aus neun der parallelgurtigen Fachwerkträger mit obenliegendem Gleis, deren Länge sich von 69 m bis auf 46 m in Richtung Kentucky-Ufer reduziert. Den Abschluss bildet eine Hubbrücke mit einer Spannweite von 79 m über dem Kanal, die zwischen zwei 12 m breiten Fachwerktürmen geführt wird. Die Übergänge zu den anderen Fachwerkträgern bzw. zum Widerlager am Kentucky-Ufer sind durch Balkenbrücken von 33 m bzw. 18 m Länge realisiert. Der Louisville and Portland Canal erstreckt sich nach mehrfachen Verbreiterungen heute neben der Hubbrücke über drei weitere Brückenfelder, und mehrere ehemalige Strompfeiler stehen dadurch auf der künstlich angelegten Landzunge des Shippingport Island, die den Kanal von Reservoir des McAlpine Locks and Dam abtrennt. Der insgesamt 670 m lange Südteil der Brücke besitzt ein Gefälle von 14,4 ‰, wobei die Untergurte der Hubbrücke horizontal ausgerichtet sind und nur die Gleisebene eine Neigung aufweist.
Die Vertikalbewegung des 1200 t schweren Halbparabelträgers der Hubbrücke – ausgeführt als Strebenfachwerk mit Pfosten – wird durch Stahlbeton-Gegengewichte realisiert, die innerhalb der 32 m hohen Fachwerktürme an 4×16 Stahlseilen mit je 5,4 cm Durchmesser hängen, welche in Gruppen von 16 Seilen über Stahl-Umlenkrollen an der Spitze der Türme geführt werden. Diese haben einen Durchmesser von 4,6 m, die Gesamthöhe der Stahlkonstruktion erreicht dadurch über 34 m. Die Steuerung erfolgt über ein weiteres Seilzugsystem, das von zwei Elektromotoren angetrieben wird, die sich in einem Betriebshaus auf dem Mittelteil des Fachwerkträgers befinden. Zusätzlich kann die Bedienung von einem Stellwerk aus erfolgen, das sich am Ende der Brücke neben dem Widerlager befindet. Der Fachwerkträger kann knapp 10 m angehoben werden und ermöglicht dem Schiffsverkehr eine Durchfahrtshöhe von 21 m (Lichte Höhe bei normalem Wasserstand des Reservoirs der Staustufe).In Richtung Louisville folgt auf das Widerlager noch eine Balkenbrücke über ehemalige Gleisanlagen, die heute Teil des Louisville Riverwalk sind. Bevor die Zufahrt zur Brücke im Stadtraster von Louisville entlang der namensgebenden 14. Straße (engl. Fourteenth Street) verläuft, unterquert sie noch eine Hochstraße der kreuzenden Interstate 64.
== Literatur ==
Bridge over the Ohio River at Louisville. In: American Railroad Journal. Vol. 43, 19. März 1870, S. 337.
Old Ohio River Bridge at Louisville - Nearly Fifty Years in Service. In: Engineering News-Record. Vol. 77, Nr. 6, 1917, S. 217–222.
Design of New Superstructure of Louisville Bridge with 644-foot Riveted Span. In: Engineering News-Record. Vol. 82, Nr. 21, 1919, S. 1007–1011; Ergänzung in Designers of Louisville Lift-Bridge Machinery. In: Engineering News-Record. Vol. 82, Nr. 24, 1919, S. 1151.
Riveted-Truss Span of Record Length. In: Engineering News-Record. Vol. 82, Nr. 21, 1919, S. 995.
Maintaining Traffic During Erection of Louisville Bridge. In: Engineering News-Record. Vol. 82, Nr. 22, 1919, S. 1061–1064.
Reconstruction of a Notetable Railroad Bridge. In: Railway Age. Vol. 66, Nr. 4, 1919, S. 238–243.
== Weblinks ==
The Three Railroad Bridges over the Ohio River. Historic Photos Of Louisville Kentucky And Environs.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Fourteenth_Street_Bridge
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Friedhof der Märzgefallenen
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= Friedhof der Märzgefallenen =
Der Friedhof der Märzgefallenen ist ein Friedhof im Volkspark Friedrichshain im Berliner Ortsteil Friedrichshain. Er wurde für die Opfer der Märzrevolution vom 18. März 1848, die Märzgefallenen, angelegt. 1925 gestaltete der Berliner Architekt Ludwig Hoffmann die Anlage um und brachte sie in die bestehende dreiseitig gefasste Form. Weitere Umgestaltungen fanden 1948 und 1957 statt.
Nach der Novemberrevolution 1918 wurden hier auch die ersten Berliner Gefallenen dieses Aufstands beerdigt, an die die 1960 aufgestellte Bronzefigur Roter Matrose von Hans Kies erinnern soll.
1948 wurde zum 100-jährigen Bestehen des Friedhofs ein Gedenkstein mit den Namen der Märzgefallenen aufgestellt. Heute existieren noch 18 Grabplatten, drei eiserne Grabkreuze, eine Stele und zwei Grabdenkmäler aus Gusseisen. Der Friedhof der Märzgefallenen ist heute eine Gedenkstätte und ein Gartendenkmal.
== Geschichte ==
=== Vorbereitungen und Begräbnis 1848 ===
Die ersten Beigesetzten auf dem Friedhof der Märzgefallenen waren 183 zivile Opfer der Barrikadenkämpfe der Märzrevolution vom 18. März 1848. Sie wurden am 22. März 1848 auf dem Lindenberg, der damals höchsten Erhebung des noch im Aufbau befindlichen Volksparks, der im Volksmund auch Kanonenberg genannt wurde, bestattet.
Die Berliner Stadtverordnetenversammlung fällte aufgrund eines Antrags von Stadtrat Daniel Alexander Benda die Entscheidung für die Errichtung des neuen Friedhofs auf einer 2,3 Hektar großen Fläche erst am Vortag der Beerdigung. Sie sah vor, dass neben den zivilen Opfern auch die gefallenen Soldaten hier beerdigt werden sollten. Die Entscheidung zu einer gemeinsamen Beerdigung war bereits vorher in der Bevölkerung breit diskutiert und meist abgelehnt worden, letztlich entschied aber das Militär, indem es die Leichen der toten Soldaten nicht zur Verfügung stellte. Die zu dem Zeitpunkt auf dem Lindenberg befindlichen beiden Windmühlen sollten für die Anlage der Begräbnisstätte abgerissen werden. Außerdem sollte ein Denkmal auf dem damals noch nicht zum Berliner Stadtgebiet gehörenden Friedhof und ein weiteres in der Stadt aufgestellt werden. Trotz dieses Beschlusses wurde nur eine Mühle abgerissen und die Fläche war dadurch erheblich kleiner. Die zweite Mühle brannte 1860 nieder. Auch die Beerdigung der Soldaten fand nicht hier statt, sondern erst am 24. März auf dem Invalidenfriedhof in Berlin-Mitte. Die geplanten Monumente wurden ebenfalls nicht errichtet. Der Friedhof war ursprünglich quadratisch angelegt mit Diagonalwegen, die auf einen umlaufenden Weg führten, an dem die Gräber lagen. Das Zentrum der Anlage bildete ein Rondell mit einer Sommerlinde.
Nach einer Möglichkeit zur privaten Abschiednahme am 21. März fand das Begräbnis am 22. März statt. An diesem Tag wurde ein Festzug vorbereitet und ganz Berlin einschließlich des Berliner Stadtschlosses und des Scharnhorst- und Blücher-Denkmals in der Innenstadt wurden in Schwarz-Rot-Gold und schwarz geschmückt. Helfer dekorierten die Särge der Gefallenen mit Blumen aus dem königlichen Garten. Auf dem Gendarmenmarkt kam es zur Aufbahrung der Märzgefallenen (1848). Es waren 100.000 Menschen versammelt, Adolf Glaßbrenner sprach gar von 300.000. In der Neuen Kirche, der Kirche am Deutschen Dom auf dem Gendarmenmarkt, versammelten sich die Angehörigen der Toten zu einem evangelischen Gottesdienst. Die Anwesenden sangen den Choral Jesus, meine Zuversicht, danach verließen sie die Kirche. Der evangelische Prediger der Neuen Kirche Adolf Sydow, der katholische Kaplan Johann Nepomuk Ruhland von der Sankt-Hedwigs-Kirche und der Rabbiner Michael Sachs hielten vor der Tür eine kurze Weiherede, ein interreligiöses Zusammentreffen, das die Königlich privilegirte Berlinische Zeitung wie folgt kommentierte: „es war ein historischer Moment, der ebenso in der Geschichte ohne Beispiel dasteht, als diese ganze Feierlichkeit selbst“.
Der Festzug von der Neuen Kirche zum Friedhof bestand aus 20.000 Teilnehmern und 3.000 Ordnern, war etwa 7,5 Kilometer lang und dauerte vier Stunden. Die Königlich privilegirte Berlinische Zeitung (später Vossische Zeitung), deren gesamte Redaktion am Begräbnis teilnahm, bemerkte, in den mitgeführten Symbolen „schien sich die ganze Geschichte unseres Vaterlandes zu verkörpern“. Die Teilnehmer führten Fahnen aus anderen Städten ebenso mit sich wie die von einzelnen Gewerben in der Stadt. Orden und Uniformen waren dagegen kaum vorhanden. Beim Weg über den Berliner Schloßplatz setzte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. auf dem Balkon, wie vorher abgesprochen, seinen Helm ab.
Auf dem Friedhof selbst predigte zuerst Adolf Sydow, nach ihm hielt Assessor Georg Jung, der Wortführer der Berliner Demokraten, ebenfalls eine Rede. In den folgenden Wochen wurden weitere Opfer der Kämpfe, die ihren Verletzungen erlagen, auf diesem Gelände beigesetzt. Die endgültige Zahl der Gräber stieg auf 254.
=== 1848–1849 ===
Der Friedhof der Märzgefallenen wurde ab 1848 zu einem Symbol der deutschen Demokratiebewegung. Die Anlage stellte dabei regelmäßig einen wichtigen Gedenk- und Demonstrationsplatz dar.
Im Juni 1848 kam es an den Gräbern zu einer ersten Demonstration Berliner Studenten an diesem Ort, an der etwa 100.000 Menschen teilnahmen. Sie wollten der Toten gedenken und zugleich die Regierenden ermahnen, die bei der Revolution erworbenen Veränderungen nicht vorschnell wieder rückgängig zu machen. Ein Schreiben der Studierenden an den Magistrat zeigt dies:
Bereits am 25. März 1848 wurde in verschiedenen Berliner Zeitungen in einer öffentlichen Bekanntmachung um Spenden sowie Entwürfe für ein Denkmal auf dem Friedhof gebeten, zu welchem am Jahrestag der Revolution der Grundstein gelegt werden sollte. Dieser Aufruf wandte sich an das gesamte deutsche Volk mit dem Hinweis, dass die Märzrevolution nationaler Natur sei und somit nicht die Berliner allein in der Pflicht seien. Das eingegangene Geld für das Komitee zur Errichtung des Denkmals verwaltete der Kaufmann und Schuhfabrikant F. H. Bathow. Da dieses Komitee allerdings nicht behördlich genehmigt war, wurde Bathow polizeilich gezwungen, das Geld herauszugeben. Der Verbleib und die Summe des gesammelten Geldes blieben ungeklärt, nach widersprüchlichen Meldungen wurde es entweder 1854 beim Stadtgericht deponiert oder ging in die Pensionskasse der Schutzleute über.
Wegen der Einziehung des Geldes kam es nicht zu einem Denkmal zum Jahrestag der Revolution. Zu diesem Datum waren noch nicht einmal alle Gräber mit einfachen Holzkreuzen bestückt und die Stadtregierung wollte diese nicht finanzieren. So brachten die Berliner die fehlenden rund 60 Kreuze durch eine spontane Sammlung zwischen dem 18. und 22. März 1849 auf.
Aufgrund der politischen Entwicklung bis zum ersten Jahrestag der Revolution rechneten sowohl Magistrat als auch Stadtverordnetenversammlung mit erneuten Aufständen in Berlin. Aus diesem Grunde wurde die Besatzungsstärke des Militärs und der Polizei massiv aufgestockt. Die Königlich privilegirte Berlinische Zeitung schrieb am 20. März 1849:
Trotz dieser Präsenz von Militär und Polizei zogen am 18. März Tausende zu den Gräbern der Märzgefallenen. Dabei handelte es sich vor allem um Arbeiter. Bereits in der vorhergehenden Nacht waren die Gräber mit Blumen geschmückt worden und Mitarbeiter der Borsigwerke stellten an den vier Ecken des Friedhofs je eine stählerne Säule auf, die mit zwei Fackeln bestückt wurde. Am Nachmittag des Tages kam es tatsächlich zu den befürchteten Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Schutzleuten, die jedoch verhältnismäßig glimpflich ausgingen.
Als im September 1849 Otto von Bismarck den Friedhof besuchte, schrieb er voll Bitterkeit an seine Gattin:
=== Von 1850 bis 1900 ===
Um in den folgenden Jahren Ausschreitungen zu vermeiden, verbot das Preußische Staatsministerium das Betreten des Friedhofs am 18. März 1850 und zu den Jahrestagen der folgenden Jahre. Bereits am 17. März 1850 wurden alle Zugänge von Polizeikräften abgesperrt. Am gleichen und am folgenden Tag trafen Arbeiter am Park ein und versuchten, auf die Friedhofsanlage zu gelangen, um dort Blumen und Kränze niederzulegen. Die Gedenkveranstaltungen fanden daraufhin in den umliegenden Gartenlokalen statt, und es kam auch in diesem Jahr zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Demonstranten.
Am 20. März 1850 verkündete die Königlich privilegierte Berlinische Zeitung, dass der Friedhof der Märzgefallenen planiert und die Begrabenen umgelagert werden sollten. Der Platz sollte einem Bahnhofsbau weichen. Diese Ankündigung wurde jedoch nie realisiert, und so kamen auch am 18. März 1851 viele Arbeiter zum Friedhof. Dieser Tag endete wieder in Ausschreitungen, die diesmal nicht ohne Verletzte endeten. Bis zum 18. März 1852 wurden alle Wege zum Friedhof mit Ausnahme des Hauptweges vom Landsberger Tor mit Blumen bepflanzt und damit unbegehbar gemacht. Im Vorfeld des Kölner Kommunistenprozesses kamen jedoch in diesem Jahr 10.000 Demonstranten in den Park und wiederum endete der Tag in Gewalt. Ab 1853 war der gesamte Park mit einem hohen Bretterzaun, später einem Stangenzaun, abgeriegelt. Auf diese Weise verhinderten die Ämter in dem Jahr eine Versammlung am Friedhof.
Über den geplanten Bahnhofsbau wurde erst im Februar 1854 erneut berichtet, nachdem 1853 der Bau eines Waisenhauses am Rand des Parks mit der Begründung abgelehnt wurde, dass der Anblick des Friedhofes die Jugend täglich an die Märzrevolution 1848 erinnern und so erneut zur Rebellion verleiten könne. Auch hierauf kam es nicht zu einer Verlegung, und bis zum Jahr 1856 versammelten sich jedes Jahr etliche Menschen zum Gedenken an die Revolution und an die Gefallenen am Friedhof. In einem Schreiben vom 22. Oktober 1856 forderte der Polizeipräsident von Berlin den Magistrat der Stadt auf, durch die Pflanzung einer dornigen Hecke den Zugang zu dem Friedhof unmöglich zu machen in „der Absicht, jenen Platz möglichst der Vergessenheit anheimfallen zu lassen.“ Der Magistrat lehnte diese Pläne ab und schlug erneut eine Umlagerung der Toten vor, der der Polizeipräsident zustimmte unter der Voraussetzung, dass dies möglichst ohne großes Aufsehen geschehen sollte.
Im Oktober 1857 bekam die Presse und damit die Öffentlichkeit Kenntnis von den Plänen des Magistrats durch Angehörige der Toten, von denen der Magistrat eine Einwilligung zur Verlegung der Toten gegen die Zahlung von Geldern bekommen wollte. Im September 1858 legte der Magistrat der Stadtverordnetenversammlung einen Plan zur möglichst baldigen Verlegung vor, den diese auch beschloss. Daraufhin wurde eine unbekannte Anzahl von Särgen auch ausgegraben, eine Komplettverlegung fand jedoch nicht statt. Am 15. Mai 1861 verkündete die Königlich-Privilegierte Zeitung, dass der Zutritt zum Friedhof wieder uneingeschränkt erlaubt sei.
In den Jahren von 1868 bis 1874 erfolgte der Bau des städtischen Krankenhauses Friedrichshain an der Landsberger Allee in direkter Nachbarschaft des Friedhofs. Der Friedhof selbst liegt seitdem direkt an der Krankenhausmauer, durch die Zufahrtsstraße zum Haupteingang des Krankenhauses vom restlichen Volkspark abgetrennt. Der nächste wichtige Termin für den Friedhof war der 18. März 1873, der 25. Jahrestag der Revolution. Zugleich wurde dieser Tag ein Gedenktag für die Pariser Kommune von 1871. Am und auf dem Friedhof der Märzgefallenen strömte eine große Menschenmenge zusammen, und das Jubiläum führte erneut zu starken Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Diese ließ den Park am späten Nachmittag gewaltsam räumen. Auch in den folgenden Jahren wurde der Friedhof alljährlich von Tausenden von Besuchern aufgesucht, vor allem von kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitern. Auch Lokalpolitiker sowie die sozialdemokratische Reichstagsfraktion ehrten die Toten wiederholt durch Niederlegung von Kränzen.
Vor dem 50. Jahrestag 1898 kam es zu einem Streit zwischen den städtischen Behörden und dem Polizeipräsidium Berlins um die Neugestaltung des Friedhofs; die Historikerin Helke Rausch nennt das Verhalten von Seiten des Monarchen und der Behörden „massive Obstruktion“. Im März 1895 hatte der Allgemeine Arbeiterverein Berlins in einer Resolution die Planungen von 1848 wieder aufgenommen und gefordert, für die „Kämpfer“ von 1848 ein Denkmal zu errichten. Die Stadtverordneten stimmten der Errichtung eines repräsentativen Eingangsportals mit eisernem Tor auf dem Friedhof zu, für das Ludwig Hoffmann einen Entwurf vorlegte, während der Oberpräsident der Provinz Brandenburg, Heinrich von Achenbach, Bedenken äußerte, wenn der Magistrat von Berlin sich an einer Ehrung der Aufständischen beteilige. Im Januar 1898 lehnte der Berliner Magistrat die Vorlage auf Druck des Ministerrats ab, wogegen die Stadtverordneten protestierten und Klage beim Oberverwaltungsgericht erhoben – ohne Erfolg, sodass sich die „reaktionäre“ Behördensicht durchsetzte. Im Jahr 1899 kam der Streit erneut auf, als statt eines Denkmals die Platzierung einer Gedenktafel am Eingangsportal angeregt wurde. Das Polizeipräsidium verweigerte nunmehr die Bauerlaubnis mit der Begründung, dass „… das Bauwerk eine Ehrung der dort begrabenen Märzgefallenen bezwecke, mithin eine politische Demonstration zur Verherrlichung der Revolution, die aus allgemeinen ordnungsgemäßen Gründen nicht gestattet werden kann.“
Eine Ehrung der Märzgefallenen wurde weiterhin abgelehnt, und der Friedhof wurde in einen „ordnungsgemäßen“ Zustand versetzt, ohne Bezug auf die historische Besonderheit zu nehmen. Bezug nehmend auf diese Streitigkeiten um das Denkmal lautete die Beschriftung des Kranzes der sozialdemokratischen Fraktion der Stadtverordneten:
Der marxistische Historiker Franz Mehring fasste 1897/1898 in seiner Geschichte der Sozialdemokratie die Historie des Friedhofs empathisch zusammen:
=== 1900 bis 1945 ===
Im Jahr 1908 und somit zum 60-jährigen Bestehen des Friedhofs fiel das Jubiläum in die Zeit des politischen Streits um das Wahlrecht in Deutschland. Die Sozialdemokraten verabschiedeten im März an den Gräbern der Märzgefallenen ihre Resolution zu diesem Thema als Märzresolution, in der sie das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht in Deutschland forderten. Auf dem Friedhof wurden Kränze niedergelegt und mehrere Tausend Menschen hatten sich hier versammelt. Besonders die Schleifen an den Kränzen wiesen auf die Forderungen der Menschen und ganz besonders auf die Wahlrechtsforderungen hin. So war auf einem der Kränze, die von der Redaktion der Zeitung Vorwärts abgelegt wurden, die Widmung „Den ersten Wahlrechtskämpfern“ zu lesen. Etwa 60 Schleifen entfernte die Polizei aufgrund der Aufschriften, Ausschreitungen der Besucher gegen die Polizeikräfte waren die Folge.
Am 18. März 1917 wurde der traditionelle jährliche Gang der Arbeiter an die Gräber mit einer Solidaritätsbekundung zur Februarrevolution in Russland verbunden.
Im November des folgenden Jahres 1918 kam es auch in Deutschland zur Revolution, die als Novemberrevolution bekannt wurde. Am 20. November wurden acht Tote dieser Aufstände auf dem Friedhof der Märzgefallenen in einem separaten Gräberbereich begraben, um die Verbindung beider Revolutionen zu verdeutlichen und zu untermauern. Die Trauerfeier, bei der einige Redner die Parallelen zwischen den beiden Revolutionen betonten, fand auf dem Tempelhofer Feld statt; an ihr sowie an dem folgenden Trauerzug nahmen etliche tausend Menschen teil. Eine Ehrenkompanie des Alexander-Regiments führte den Zug an, gefolgt von einer großen Menge von Kranzträgern, Vertretern der Reichs-, Länder- und Stadtbehörden, der Sozialdemokratischen Partei sowie der Gewerkschaften. Danach kamen die Wagen mit den Särgen und den Angehörigen der Gefallenen sowie eine Sonderkompanie von Matrosen. Die Arbeiterschaft folgte mit roten und schwarzen Fahnen. Als gegen 15:00 Uhr der erste Sarg in die Grube gelassen wurde, hielt Emil Barth (USPD) für den Rat der Volksbeauftragten die Trauerrede für die Toten, außerdem sprachen Luise Zietz (USPD) und Karl Liebknecht.
Vom 6. bis zum 11. Dezember 1918 kam es zu Konflikten mit konterrevolutionären Truppenteilen in Berlin. Bei einer gewalttätigen Auseinandersetzung am 6. Dezember im Bereich der Invalidenstraße kamen 16 Revolutionäre ums Leben, darunter auch Mitglieder des Roten Soldatenbundes (siehe Roter Frontkämpferbund). Willi Budich, führendes Mitglied des Spartakusbundes und einer der beiden Vorsitzenden des Soldatenbundes, wurde verwundet. Die Opfer dieses Angriffs wurden am 21. Dezember ebenfalls auf dem Friedhof beerdigt. Am 24. Dezember kam es zum Angriff von Regierungstruppen auf die Volksmarinedivision, die im Berliner Stadtschloss stationiert war und als spartakistisch galt. Bei den erfolgreichen Abwehrkämpfen der Matrosen kamen elf Menschen ums Leben, die am 29. Dezember in einer dritten Grube auf dem Friedhof der Märzgefallenen beigesetzt wurden.
Im Januar 1919 beantragten KPD und USPD die Beerdigung von 31 Toten des Spartakusaufstandes auf dem Friedhof der Märzgefallenen, unter ihnen Karl Liebknecht. Da der Magistrat diese Ehrung verweigerte, wurden diese Opfer der Revolution auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde beigesetzt.
In der Weimarer Republik besuchten Arbeiter, aber auch Vertreter der SPD, der KPD, der Gewerkschaften und vom Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold wieder alljährlich den Friedhof als Gedenkstätte.
Zu Beginn der 1920er Jahre beschloss die Friedrichshainer Bezirksverordnetenversammlung mit der Stimmenmehrheit von SPD und KPD, dem Friedhof ein „würdiges Aussehen zu verleihen“. Dies bezog sich vor allem auf die Neugestaltung des Eingangstors nach der Vorlage von Ludwig Hoffmann. Am 11. Oktober 1925 wurde das neue Tor von Hoffmann als dessen letztes Bauprojekt und mit einer Kundgebung zu Ehren der „Kämpfer für die deutsche Freiheit“ (Ansprache durch Bezirksbürgermeister Mielitz) festlich eingeweiht. Nach Angaben der Zeitung Vorwärts fand dies unter Teilnahme einer „großen Menschenmasse“ statt, vor der Enthüllung des neuen Portals zogen 10.000 Männer der Berliner Kameradschaft des Reichsbanners mit gesenkten Fahnen und unter Trommelwirbel an diesem vorbei. Hoffmann war zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr nicht mehr im Amt als Stadtbaurat der Stadt Berlin. Das Tor war aus Eisen geschmiedet und an beiden Seiten von Säulen gehalten, auf denen sich jeweils kniend und nackt die Gestalt des griechischen Todesgottes Thanatos auf eine gesenkte Fackel stützte. Der Vorwärts schrieb:
Außerdem wurden die noch verbliebenen Grabsteine und -kreuze in der bis heute zu sehenden Weise an drei Seiten des Friedhofs angeordnet.
Während des nationalsozialistischen Regimes wurde der Friedhof kaum beachtet und geriet in weiten Teilen der Bevölkerung in Vergessenheit. Eine öffentliche Ehrung der Gefallenen der Revolutionen konnte zu politischer Verfolgung führen, aus Angst blieben auch die sozialdemokratischen und kommunistischen Gegner der Nazis fern.
=== Nach 1945 ===
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges rückte auch der Friedhof wieder mehr ins öffentliche Bewusstsein; nun lag er im sowjetischen Sektor der Stadt. 1947 erarbeitete der Berliner Magistrat einen Entwurf zur Gestaltung des 100. Jahrestages der Revolution und vor allem zur Umgestaltung des Friedhofs. Das Bezirksamt Friedrichshain schlug vor, die engen Wege des Friedhofes zugunsten eines zentralen Versammlungsplatzes zu beseitigen und im Zentrum einen Gedenkstein aufzustellen. Das geschmückte Tor nach Hoffmanns Vorlage existierte zu diesem Zeitpunkt noch und sollte bei dieser Umgestaltung durch eine schlichtere Variante ausgetauscht werden, stattdessen wurden jedoch vorerst nur die zierenden Figuren entfernt: „Lediglich das Eingangstor bedarf unter Fortfall seines wenig schönen figürlichen Schmuckes einer geringen Umgestaltung.“
Am 18. März 1948 wurde zu Beginn der Feierlichkeiten der neue Gedenkstein an zentraler Stelle enthüllt. Die Fläche war mit Rasen bepflanzt worden, und ein schmaler Weg führte zum Gedenkstein. Die Rückseite des Steines ist beschriftet mit den Namen von 249 Märzgefallenen von 1848, die Vorderseite mit dem Text von Peter A. Steinhoff:
Erneut umgestaltet wurde der Friedhof in den Jahren 1956/57 in Vorbereitung auf den 40. Jahrestag der Novemberrevolution. Unter Leitung von Franz Kurth wurde der westliche Teil mit drei Grabplatten als Gedenksteine für die Opfer von 1918 ausgestattet. Auch das Tor wurde jetzt durch ein neues, vier Meter breites Eingangstor zur damaligen Leninallee hin ersetzt. Im Jahr 1960 wurde direkt vor dem Eingang die von dem Berliner Bildhauer Hans Kies aus Bronze gefertigte Figur Roter Matrose aufgestellt. Überlebensgroß stellt sie einen bewaffneten Matrosen der Novemberrevolution dar.
Während der gesamten DDR-Zeit fanden auf dem Friedhof alljährlich Gedenkfeiern und Kranzniederlegungen statt, die jedoch selten aufsehenerregend waren. Seit 1979 veranstaltete unabhängig davon auch die West-Berliner Initiative Aktion 18. März jährlich eine Kranzniederlegung auf dem Friedhof, was die DDR-Behörden nicht gern sahen, aber duldeten.
== Der Friedhof seit 1990 ==
Seit 1992 gibt es vom zuständigen Bezirksamt und der Initiative gemeinsam organisierte Gedenkfeiern, zu denen der Präsident oder die Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin traditionell einen Kranz niederlegt.
Der Friedhof der Märzgefallenen liegt im südlichen Teil des Volksparks Friedrichshain und gehört auf Grund seiner etwas abseitigen Lage zu dessen ruhigsten Teilen. Er ist vom Rest des Parks durch die Zufahrtsstraße zum Krankenhaus, den Ernst-Zinna-Weg, abgetrennt. Diese wurde am 18. März 2000 nach dem Schlossergesellen Ernst Zinna benannt, der am 19. März 1848 infolge der Kämpfe starb. Der Friedhof ist rechteckig, hat eine Größe von etwa 30 × 40 Metern und ist von einem niedrigen Steinmäuerchen umgeben. Vom ursprünglichen Bestand sind 18 steinerne Grabplatten, drei Grabkreuze aus Eisen, eine Stele und zwei Grabdenkmäler erhalten. Sie befinden sich in den dreiseitig umlaufenden Beeten, die mit Büschen und Bäumen bepflanzt sind. Im Zentrum der Anlage steht der 1948 enthüllte Gedenkstein, dessen Rückseite 249 Namen von Märzgefallenen trägt, ergänzt durch den Zusatz „ein Unbekannter“. Einige der Namen auf den erhalten gebliebenen Grabsteinen weichen von denen auf dem Gedenkstein ab. Die drei Grabplatten für die Opfer der Novemberrevolution liegen im westlichen Teil der Anlage. Während der linke mit einem Spruch von Karl Liebknecht und der rechte mit einem Spruch von Walter Ulbricht bedeckt sind, trägt der mittlere 33 Namen von Opfern der Novemberrevolution, deren bekanntester Erich Habersaath ist, der als erstes Berliner Opfer der Novemberrevolution am 9. November 1918 erschossen wurde. Auf der südwestlichen Ecke des den Friedhof umgebenden Mäuerchens steht die Bronzeplastik des Roten Matrosen.
Seit dem 29. Mai 2011 befindet sich vor und auf dem Friedhof eine vom Paul-Singer-Verein organisierte Ausstellung zur Berliner Märzrevolution und zur Geschichte des Friedhofs. Vor dem Friedhof wurde ein 30 Meter langer Seecontainer aufgestellt, der als Ausstellungspavillon zur Märzrevolution und als Informationsbüro dient. Auf dem Friedhof stehen kreisförmig angeordnete Informationstafeln zur Geschichte des Friedhofs.Am 3. September 2018 eröffnete anlässlich des 100. Jahrestags der erste Teil einer Dauerausstellung zur Revolution 1918/1919 (Novemberrevolution).
== Siehe auch ==
Berliner Bestattungswesen
Liste von Begräbnisstätten bekannter Persönlichkeiten
== Literatur ==
Georg Jungs Rede am Grabe der am 18. und 19. März gefallenen Kämpfer. Gehalten am 22. März 1848. Götte, Braunschweig 1848. Goethe-Universität
Namens-Verzeichniß der am 18. und 19. März in Berlin Gefallenen. In: Julius Lasker, Friedr. Gerhard: Des deutschen Volkes Erhebung im Jahre 1848, sein Kampf um freie Institutionen und sein Siegesjubel. Friedrich Gerhard Danzig 1848, S. 567 ff. (Scan 631 ff.)MDZ Reader
Wilhelm Liebknecht: Zum 18. März und Verwandtes. Wörlein, Nürnberg 1893. SLUB Digitalisat
Heike Abraham: Der Friedrichshain. Die Geschichte eines Berliner Parks von 1840 bis zur Gegenwart (= Miniaturen zur Geschichte, Kultur und Denkmalpflege Berlins. Band 27). Kulturbund der DDR, Berlin 1988.
Kathrin Chod, Herbert Schwenk, Hainer Weißpflug: Berliner Bezirkslexikon Friedrichshain-Kreuzberg. Haude & Spener, Berlin 2003, ISBN 3-7759-0474-3.
Hans Czihak: Der Kampf um die Ausgestaltung des Friedhofes der Märzgefallenen im Berliner Friedrichshain. In: Walter Schmidt (Hrsg.): Demokratie, Liberalismus und Konterrevolution. Studien zur deutschen Revolution von 1848/49. Berlin 1998, S. 549–561.
Jan Feustel: Verschwundenes Friedrichshain. Bauten und Denkmale im Berliner Osten. Hrsg. vom Heimatmuseum Friedrichshain. Agit-Druck, Berlin 2001, ISBN 3-935810-01-6.
Oliver Gaida, Susanne Kitschun (Hrsg.): Die Revolution 1918/19 und der Friedhof der Märzgefallenen, Metropol, 2021, ISBN 3863315456.
Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848, Bonn 1997, http://www.gbv.de/dms/hebis-darmstadt/toc/5292582X.pdf
Manfred Hettling: Totenkult statt Revolution. 1848 und seine Opfer. S. Fischer, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-10-029409-2.
Susanne Kitschun, Jürgen Lischke, Am Grundstein der Demokratie, Erinnerungskultur am Beispiel des Friedhofs der Märzgefallenen, 2012, ISBN 978-3-631-61705-2.
Kurt Laser, Norbert Podewin, Werner Ruch, Heinz Warnecke: Der Friedhof der Märzgefallenen im Berliner Friedrichshain – die Begräbnisstätte der Opfer zweier Revolutionen. trafo, Berlin 2016, ISBN 978-3-86464-096-4.
Heike Naumann: Der Friedrichshain. Geschichte einer Berliner Parkanlage. Heimatmuseum Friedrichshain, Berlin 1994.
Heinz Warnecke: Gedenken an die Revolutionsopfer von 1848 und 1918. Zur Erinnerungskultur auf dem Märzgefallenenfriedhof im Friedrichshain seit 1918. In: Christoph Hamann, Volker Schröder (Hrsg.): Demokratische Tradition und revolutionärer Geist. Erinnern an 1848 in Berlin (= Geschichtswissenschaft. Band 56). Centaurus, Herbolzheim 2010, ISBN 978-3-8255-0762-6, S. 104–119.
Folkwin Wendland: Berlins Gärten und Parke. Von der Gründung der Stadt bis zum ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. Propyläen, Frankfurt am Main u. a. 1979, ISBN 3-549-06645-7.
Christine Strotmann: Vergessene Revolutionäre. Der Friedhof der Märzgefallenen. Militärgeschichte 1/2018, S. 10–13.
== Weblinks ==
Friedhof der Märzgefallenen und Skulptur „Roter Matrose“. Einträge in der Berliner Landesdenkmalliste mit weiteren Informationen.
Heinz Warnecke: Friedhof der Märzgefallenen. In: Berlin.de, 17. November 2015.
Gedenk- und Ausstellungsort Friedhof der Märzgefallenen, Ein Projekt des Paul-Singer-Vereins.
Vorstellung des Friedhofs der Märzgefallenen auf der Website der AG Orte der Demokratiegeschichte
Elegie auf die am 18. und 19. März 1848 Gefallenen. 22. März 1848, urn:nbn:de:kobv:109-1-5256283
Gedenktafeln in Berlin (Levin Weiß)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Friedhof_der_M%C3%A4rzgefallenen
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GASAG
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= GASAG =
Die GASAG AG ist ein Berliner Energieunternehmen und einer der größten regionalen Energieversorger. Mit ihren Tochterunternehmen beliefert die GASAG über 700.000 Haushalts- und Gewerbekunden mit Erdgas, Bio-Erdgas und Ökostrom, sie ist aber auch Netzbetreiber und Produzent von erneuerbaren Energien sowie Energiedienstleister.
Die Geschichte der GASAG begann 1847, als die ersten beiden städtischen Gaswerke in Berlin begannen, Stadtgas zu produzieren. In den 1990er Jahren wurde die GASAG in mehreren Schritten vollständig privatisiert. Seit 1999 gründete die GASAG verschiedene Tochtergesellschaften und entwickelte sich durch Beteiligung an weiteren Energieversorgungs- und Dienstleistungsunternehmen zu der GASAG-Gruppe. Die Gruppe beschäftigt heute über 1500 Mitarbeiter.
== Geschichte ==
=== Die erste Gaserleuchtungs-Anstalt (1825–1844) ===
Die in London gegründete Imperial Continental Gas Association (ICGA) hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in den größeren Städten Kontinentaleuropas eine Gasversorgung aufzubauen. Am 25. April 1825 schloss sie für 31.000 Thaler im Jahr einen Vertrag mit dem Preußischen Ministerium des Innern und der Polizei über die Gasbeleuchtung der Straßen. Der Vertrag hatte eine Laufzeit von 21 Jahren und enthielt das Recht, auch private Brennstellen („Privatflammen“) zu versorgen.
Bereits fünf Tage nach Vertragsabschluss erfolgte die Grundsteinlegung für eine „Gaserleuchtungs-Anstalt“ auf einem Gelände (heutiges Sommerbad Kreuzberg) zwischen der Communication am Halleschen Tor (heutige Gitschiner Straße) und dem Floßgraben, der ab 1845 zum Landwehrkanal ausgebaut wurde. Am 21. September 1826 meldete die Vossische Zeitung das Brennen der Gaslaternen in der Straße Unter den Linden bis zur Schloßbrücke.
Die ICGA baute die Länge des Rohrnetzes bis 1846 auf 100 Kilometer aus und versorgte 1019 öffentliche Laternen und 9772 „Privatflammen“. Zwischen der Stadt und der ICGA kam es wegen unverhältnismäßig hoher Gaspreise und nicht durchsetzbarer Forderungen der Behörden nach einem weiteren Ausbau des Gasnetzes zum jahrelangen Streit. In der Folge erhielt die Stadt am 25. August 1844 per königlicher Kabinettsorder die Genehmigung, ab dem 1. Januar 1847 die öffentliche Beleuchtung zu übernehmen.
=== Die Stadt errichtet eigene Gaswerke (1844–1914) ===
Rudolf Sigismund Blochmann, der in Dresden und Leipzig bereits Gasanstalten gebaut hatte, wurde 1842 mit der Planung zur Gaslieferung an zirka 25.000 Abnahmestellen beauftragt. Vorausschauend hatte die Stadt in unmittelbarer Nähe der englischen Gasanstalten Grundstücke für den Bau der geplanten Gaswerke erworben. Am 1. Juli 1845 war der Baubeginn der beiden ersten städtischen Gaserleuchtungsanstalten. Im nordöstlichen Teil entstand unter der Bauleitung des Sohnes Georg Moritz Sigismund Blochmann die I. Städtische Gasanstalt südlich der Schillingbrücke zwischen Stralauer Platz und der Spree sowie im Südwesten die II. Städtische Gasanstalt (Gaswerk Hellweg) östlich der Prinzenstraße (heute: Böcklerpark) zwischen der Gitschiner Straße und dem damals im Ausbau befindlichen Landwehrkanal. Am 1. Januar 1847 begannen beide Gaswerke mit dem Betrieb und 2055 stadteigene öffentliche Gaslaternen erleuchteten die Innenstadt.
Die städtischen Gasanstalten, geleitet durch ein „Curatorium für das städtische Erleuchtungswesen“, hatten keine Gewinne zum Ziel, sondern „den Kostenbeitrag für die öffentliche Beleuchtung in mäßiger Weise zu sichern“. Bedingt durch einen Preiswettbewerb mit der ICGA, die zunehmende Verbreitung von Gasherden und die wachsende Bevölkerung stieg die Zahl der Gasanschlüsse schnell an. Die Gasanstalten versorgten Ende 1847 3.350 öffentliche Gasflammen, 2.164 königliche Gasflammen und 15.114 Privatflammen. Die Gasproduktion steigt von rund fünf Millionen Kubikmeter im Jahr 1850 auf 149 Millionen Kubikmeter im Jahr 1890 an. Vier Gaswerke versorgten 1890 insgesamt 27.900 öffentliche Leuchten und 1,5 Millionen Privatflammen. Neu gebaut und mehrfach erweitert wurde die Gasanstalt III an der Müllerstraße (Sellerstraße) am Nordhafen sowie Nr. IV an der Danziger/Greifswalder Straße. Das Gaswerk V an der Forckenbeckstraße im Ortsteil Schmargendorf folgte 1892 (Stilllegung: 1924) und das Großgaswerk (Nr. VI) in Tegel wurde 1905 eröffnet.
Die Städtischen Gaswerke hatten sich zum größten Gasversorger Europas entwickelt. Aufgrund der umfangreichen Verwaltungsarbeiten, zum Beispiel der Erstellung von rund 1,2 Millionen Rechnungen pro Jahr, wurde am 26. Oktober 1910 in der Neuen Friedrichstraße 109 (heute: Littenstraße) ein zentrales Verwaltungsgebäude bezogen. Das von Ludwig Hoffmann geplante, denkmalgeschützte Gebäude im Neorenaissance-Stil blieb bis 2002 in Nutzung des GASAG-Konzerns. Es wurde nachfolgend Sitz der privaten BEST-Sabel-Fachhochschule Berlin.
=== Erster Weltkrieg (1914–1918) ===
In den ersten beiden Jahren des Ersten Weltkriegs stieg die Gasabgabe von 304 auf fast 330 Millionen m³, weil die Bevölkerung aufgrund des Kohlenmangels auf Gas auswich. Darüber hinaus wurden kriegswichtige Betriebe neu mit Gas versorgt. Schwere Arbeiten, zum Beispiel Erdarbeiten oder Kohletransporte, wurden 1915/1916 durch Kriegsgefangene oder Auslandsarbeiter in großer Zahl durchgeführt. Kriegsbedingt wurde ab 1917 die Gasentnahme kontingentiert und im Jahr 1919 sogar Sperrstunden für die Entnahme eingeführt.Infolge des Krieges mit England wurde im Juli 1916 die englische Gasgesellschaft ICGA liquidiert. Die Auflösung der ICGA leitete eine grundlegende Umstrukturierung der Gaswirtschaft im Berliner Raum ein. Zwischen der Stadt Berlin, den Kommunen des Umlandes und den staatlichen Behörden kam es zu schweren Konflikten. Die Stadt Berlin war an einer Vereinheitlichung interessiert, während die Regierungsstellen versuchten, die Bestrebungen Berlins zu einem kommunalpolitischen Zusammenschluss in Richtung eines künftigen Groß-Berlins zu unterbinden. Das Angebot des Liquidators einer Minderheitsbeteiligung Berlins wurde durch den Magistrat von Berlin als Affront abgelehnt. Im April 1918 erhielten deshalb die Landkreise Teltow und Niederbarnim den Zuschlag für die gesamte Liquidationsmasse.
=== Umverteilung der Gaspotentiale (1919–1929) ===
Am 27. April 1920 verabschiedete die Preußische Landesversammlung das Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin (Groß-Berlin-Gesetz). Durch den Zusammenschluss von acht Städten, 59 Gemeinden und 27 Gutsbezirken entstand für die Städtischen Gaswerke eine völlig neue Situation. Sie besaß jetzt 16 Gaswerke und Anteile an den Gasgesellschaften der ehemaligen Randgebiete, der Deutschen Gasgesellschaft AG für den Kreis Teltow und der Gasgesellschaft Niederbarnim mbH. Nach Übergangsregelungen wurden durch Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom 26. Oktober 1923 drei gleichartige Aktiengesellschaften für die Städtischen Werke (Gas, Wasser, Elektrizität) gebildet, bei denen die Stadt 100 % der Aktien besaß. Die neue Firmenbezeichnung lautete Städtische Gaswerke AG. Als Abkürzung bürgerte sich der Begriff Gasag ein.Die kleinen, sehr teuer produzierenden Gemeindegaswerke und die auf 11.375 Mitarbeiter gestiegene Beschäftigungszahl (bei einer Produktionsleistung von 2,172 Millionen m³ pro Tag und einer Rohrnetzlänge von 4148 Kilometern) zwang die Gasag zur Rationalisierung. 1921 wurden die Gaswerke in Wittenau und Tegel geschlossen, 1922 die Gaswerke Gitschiner Straße, Lichtenberg I und Heiligensee, 1923 Friedrichshagen und Rahnsdorf, 1924 Schmargendorf und Hermsdorf sowie 1925 Köpenick. Zur Vereinheitlichung der Berliner Gasversorgung gingen die Gaswerke Oberschöneweide und Weißensee I und II sowie die von ihnen versorgten Gebiete am 1. April 1925 an die Gasag über. Dafür überließ Berlin die versorgten Gebiete im Kreis Niederbarnim dem Kreis kostenlos zur alleinigen Versorgung. Mit dem Anschluss von Falkensee und Staaken im Jahr 1927, Gatow/Kladow (1927/1928), Hennigsdorf (1928) und Wannsee (1929) war die Ausgestaltung des Fernversorgungsnetzes aus heutiger Sicht im Wesentlichen abgeschlossen.
=== Gas im Berlin der 1930er Jahre (1929–1939) ===
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 erfasste auch Berlin. Die Gasabnahme von Haushalten und Industrie ging von Jahr zu Jahr zurück und erreichte 1934 mit 390.000 Kubikmeter Jahreserzeugung ihren Tiefpunkt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren so schlecht, dass im Jahr 1931 versucht wurde, die Gasag zu verkaufen. Es fand sich jedoch kein Käufer.
Die Gaubehörde der NSDAP empfahl der Stadt 1934, im Laufe der nächsten zehn Jahre mit Investitionen von rund 50 Millionen Mark alle Gaswerke auf modernen Kokereibetrieb umzurüsten. Als erste Maßnahme wurde 1935/1936 das Gaswerk Lichtenberg zur Gaskokerei ausgebaut. Die von den Nationalsozialisten herausgegebene Direktive zur stärkeren Nutzung heimischer Rohstoffe führte 1935 zur Inbetriebnahme einer Gastankstelle für Busse der Berliner Verkehrsbetriebe und zum Bau von Anlagen zur Benzolherstellung in den Werken Lichtenberg, Neukölln und Charlottenburg.
Im Januar 1937 erfolgte die Umwandlung der Städtischen Gaswerke AG in einen Eigenbetrieb der Stadt unter der Bezeichnung Berliner Städtische Gaswerke (Gasag). Infolge der verbesserten Finanzlage war die Stadt Berlin 1939 in der Lage, dem Kreis Teltow alle Aktien der Deutschen Gesellschaft abzukaufen. Damit vergrößerte sich das städtische Gasversorgungsnetz um 2231 Kilometer auf insgesamt 6971 Kilometer Länge. Als äußeres Zeichen der nunmehr einheitlichen Besitzverhältnisse im Berliner Raum wurde der Name des Eigenbetriebes auf Berliner Gaswerke geändert.
=== Krieg und Nachkriegszeit (1939–1949) ===
Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs stieg der Gasbedarf durch die Anforderungen der Rüstungsindustrie bis zum Jahr 1942 auf die Rekordabgabe von 871 Millionen Kubikmeter pro Jahr. 93 % der 1,48 Millionen Berliner Haushalte kochten mit Gas, mit 86.000 Gaslaternen erreichte die Gasbeleuchtung ihren Höchststand und aufgrund der Benzinknappheit fuhren bis 1944 mehr als 2500 Nutzfahrzeuge mit Gas.
Trotz der Luftangriffe der Alliierten und der kriegsbedingten Schäden blieb die städtische Gasversorgung bis zum Beginn der unmittelbaren Kampfhandlungen im April 1945 voll in Funktion. Nach der Schlacht um Berlin und dem Kriegsende lag Berlin in Schutt und Asche. Von den 38 großen Gasbehältern war einer unbeschädigt und nur ein Prozent des 7000 Kilometer langen Rohrnetzes betriebsfähig.
Die kriegsbedingten Schäden am Rohrnetz konnten bis zum Jahresende 1945 provisorisch repariert werden. Nicht zu lösen war der Kohlemangel und die schnelle Reparatur der Gasbehälter. Die Alliierte Kommandantur ordnete die Einstellung der Gasproduktion in drei Gaswerken ab September 1945 an, jeweils ein Werk im Sowjetischen, Amerikanischen und Britischen Sektor. Trotzdem gelang es bis zum Jahresende 1945 in 15 der damals 20 Bezirke Berlins eine halbwegs funktionierende Gasversorgung sicherzustellen. Ende 1946 waren wieder 44 % der Vorkriegskapazitäten der Gasproduktion, 88 Prozent des Rohrnetzes und 11.000 öffentliche Gaslaternen in Betrieb.Als politische Antwort auf die Währungsreform der Westmächte veranlasste die Sowjetunion die Sperrung aller Land- und Wasserwege zwischen den Westzonen und Berlin. Die Berlin-Blockade führte zur Einrichtung der Berliner Luftbrücke ab dem 26. Juni 1948. Das lebenswichtigste Transportgut war neben Lebensmitteln Kohle, vor allem für die Aufrechterhaltung der Gas- und Stromversorgung. Am 26. Juni 1948 ordnete die amerikanische Militärregierung die Abtrennung der Gasversorgung West-Berlins an. Mit der Gründung der Berliner Gaswerke (Gasag) am 26. März 1949 im Westsektor erfolgte die organisatorische und rechtliche Trennung der Gasversorgungsbetriebe, die mehrere Jahrzehnte andauern sollte.Die GASAG betrieb ab 1939/1940 mindestens zwei Kriegsgefangenenlager in der Lankwitzer Straße 48 und im Blockdammweg 62–68 mit Kriegsgefangenen aus Frankreich und Polen, die für das Unternehmen arbeiten mussten. Rheinmetall-Borsig hatte auf dem Gelände der GASAG in der Bernauer Straße 96 ein großes Lager mit Namen Wohnheim West errichtet. Auch andere GASAG-Standorte wurden für die Errichtung von Zwangsarbeitslagern zur Verfügung gestellt. Im Jahr 2000 zahlte GASAG zusammen mit anderen ehemals öffentlichen Versorgungsunternehmen in Berlin vier Millionen Mark in die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ der deutschen Wirtschaft ein.
=== Gasversorgung im Ostteil der Stadt (1949–1990) ===
Der Ost-Teil der Berliner Gaswerke wurde am 1. Januar 1956 in den Volkseigenen Betrieb (VEB) Gasversorgung Berlin umgewandelt. Die Zuständigkeit für den Betrieb wechselte vom Magistrat zum DDR-Ministerium für Kohle und Energie (und im April 1958 wieder zurück).
Bereits Mitte der 1950er Jahre fiel die Entscheidung, einen Scheibengasbehälter in Lichtenberg zu bauen und Ost-Berlin an das Stadtgas-Verbundnetz der DDR anzuschließen. Der Gasbehälter wurde im Oktober 1961 übergeben, die Ferngasleitung und die Übernahmestation erst Ende 1962. Die Eigenproduktion sank nach 1964 über die Jahre und betrug 1973/1974 noch 40 %, 1978 knapp 15 % des Gesamtbedarfs in Ost-Berlin.
Das Politbüro des ZK der SED fasste im Januar 1977 den Beschluss, die Gasversorgung der Hauptstadt bis 1985 auf Erdgas umzustellen. Die vollständige Umstellung wurde nach zwölf Jahren im Oktober 1990 erreicht. Die VEB Gasversorgung Berlin wurde mit Wirkung zum 1. Januar 1979 mit dem VEB Energieversorgung zum VEB Energiekombinat Berlin (Elektrizitäts-, Fernwärme- und Gasversorgung) vereinigt.
=== Gasversorgung im Westteil der Stadt (1949–1990) ===
Der West-Teil der Berliner Gaswerke, seit 1964 Berliner Gaswerke (GASAG) geschrieben, wurde wie in der Vorkriegszeit als städtischer Eigenbetrieb geführt. Die Gasag war somit als Sondervermögen aus der allgemeinen Verwaltung der Stadt herausgelöst und wirtschaftete eigenständig.
Die Anfangsjahre bis 1952 waren von Aufbauarbeiten bestimmt. Durch den Verbleib der einstigen Hauptverwaltung im Ost-Teil der Stadt existierten keinerlei Arbeitsunterlagen und Rohrnetzpläne. Die Insellage West-Berlins zwang die Gasag zur Forcierung der Eigenerzeugung von Gas. Das Gaswerk Mariendorf wurde ab 1952 mit Hilfe von Mitteln des European Recovery Programs (Marshallplan) in vier Ausbaustufen modernisiert.
Die Modernisierungsmaßnahmen wurden 1959 im Gaswerk Charlottenburg fortgesetzt. Hierbei stand die Schaffung von Speicherraum zur Sicherstellung der Versorgung in den abnahmestarken Wintermonaten im Vordergrund. Im Jahr 1965 ging in Charlottenburg die erste Leichtbenzinspaltanlage zur Gaserzeugung in Betrieb. Der Anteil des aus Kohle gewonnenen Gases in West-Berlin sank kontinuierlich, bis im April 1980 die letzte, in Mariendorf eingesetzte Anlage zur Kohlevergasung abgeschaltet wurde. Der Ausbau der Werke Mariendorf und Charlottenburg machte es möglich, 1953 das stark kriegsbeschädigte Gaswerk Tegel und 1966 Neukölln außer Betrieb zu nehmen.Neben der Eigenproduktion von Gas aus Kohle und Mineralölprodukten wurde seit den 1960er Jahren zusätzlich der Bezug von Erdgas erörtert. Dagegen sprach die damit zusammenhängende größere Abhängigkeit, die im Krisenfall die Versorgung West-Berlins gefährdet hätte. Durch die Entspannung in der Ostpolitik konnte 1983 ein Vertrag zwischen der Ruhrgas AG und der sowjetischen Außenhandelsgesellschaft V/O Sojuzgasexport unterzeichnet werden, der West-Berlin in sowjetische Erdgaslieferungen einbezog. Infolgedessen wurde eine Ferngasleitung über die Tschechoslowakei eingerichtet und am 1. Oktober 1985 das erste sowjetische Erdgas in das West-Berliner Netz eingespeist. Die westliche Stadthälfte folgte damit dem Ostteil der Stadt, der bereits seit 1979 mit Erdgas versorgt wurde.
=== Wiedervereinigung und Privatisierung (1991–1998) ===
Das VEB Energiekombinat wurde nach dem Mauerfall von der Treuhandanstalt am 1. Mai 1990 in die Energieversorgung Berlin AG (Strom- und Wärmeversorgung) und die BEAG Berliner Erdgas AG umgewandelt. Um die betriebliche Vereinigung von GASAG und BEAG voranzutreiben, kaufte das Land Berlin, vertreten durch die GASAG, am 7. November 1991 von der Treuhandanstalt 51 % der Anteile der BEAG. Die GASAG erhielt auf der Grundlage des Kommunalvermögensgesetzes zugleich die restlichen 49 % Anteile. Damit bestanden zwar weiterhin zwei Gasversorgungsbetriebe in Berlin, aber die gleiche personelle Besetzung der Unternehmensleitungen sorgte für eine einheitliche Geschäftspolitik.
Nach schwierigen Verhandlungen mit den Betriebsräten und Gewerkschaften wird am 25. Juni 1992 der städtische Eigenbetrieb GASAG in die GASAG Berliner Gaswerke Aktiengesellschaft umgewandelt. Das von einer Unternehmensberatung erstellte Konzept „GASAG 2000“ wird im Oktober 1992 den Führungskräften und Belegschaftsvertretern beider Häuser präsentiert. Es geht von einer Fusion und dem Aufbau einer „kundenorientierten, flexiblen und ergebnisorientierten Organisationsstruktur“ mit sechs eigenständigen Niederlassungen als dezentrale Einheiten aus. Am 11. Juni 1993 verschmilzt die BEAG durch Aufnahme mit der GASAG. Die neue GASAG wurde das größte kommunale Gasversorgungsunternehmen Westeuropas mit rund 835.000 Gasabnehmern, einem Rohrnetz von rund 6685 Kilometern Länge und 3800 Mitarbeitern.Wegen der drastischen Minimierung der jahrzehntelang gewährten Zuschüsse des Bundes für das Land Berlin, hatte sich der Berliner Senat im Sommer 1993 zum Verkauf von GASAG-Aktien entschlossen. Die Privatisierung der GASAG erfolgte in zwei Phasen: In der ersten Phase wurden Aktienanteile von jeweils 11,95 % an die Ruhrgas AG und die RWE Energie AG (April 1994), die Bewag (Juni 1994) sowie 12,95 % an die VEBA Energiebeteiligungs-GmbH verkauft (Juni 1995). Das Land Berlin konnte mit 51,2 % verbleibendem Eigenanteil weiterhin als Mehrheitsaktionär agieren. Die chronische Finanznot des Landes Berlin führte in der zweiten Phase zur vollständigen Privatisierung der GASAG. Nach einem intensiven Bieterwettbewerb erhielten am 6. Februar 1998 die Gaz de France 38,16 % und die Bewag 13,04 % der GASAG-Anteile. Damit endete die Geschichte der städtischen Gasversorgung im 151. Jahr nach ihrem Beginn.Im Frühjahr 1991 begann die Umstellung des Westteils Berlin auf Erdgas, die im Jahr 1996 vorfristig beendet wurde. Ab Februar 1993 wurden die Stadtgas-Erzeugungsanlagen schrittweise stillgelegt und im Mai 1995 beziehungsweise Mai 1996 die Gaswerke Charlottenburg und Mariendorf außer Betrieb genommen. Die Sanierung der Rohrnetze und die systematische Beseitigung von Leckstellen bildeten im Westteil bis 2000 und im Ostteil bis 2003 den Schwerpunkt der weiteren technischen Arbeiten.
=== Umgestaltung des Unternehmens (1999–2006) ===
Vor dem Hintergrund millionenschwerer Verluste der letzten Jahre kam es 1999 zu einem tiefgreifenden Sanierungsprogramm, das nicht nur bis zum Jahr 2003 die Anzahl der Beschäftigten von 2450 halbieren sollte, sondern auch zu einer kompletten Neugliederung der Unternehmensstruktur führte. Nach harten Debatten schlossen Vorstand und Betriebsrat im April 1999 eine Vereinbarung zum Interessenausgleich und zum Sozialplan ab, in der betriebsbedingte Kündigungen nicht generell ausgeschlossen wurden. Die zusätzlich ausgelobte Sonderprämie für das freiwillige, schnellentschlossene Ausscheiden („Goldener Handschlag“) wurde von rund 450 Mitarbeitern angenommen.
In den Jahren 1999 bis 2001 gründete die GASAG vier Tochtergesellschaften aus, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und am Drittmarkt neue Leistungen anzubieten. Den Anfang bildet am 1. September 1999 die Tochtergesellschaft BAS Berliner Abrechnungs- und Servicegesellschaft (heute BAS Kundenservice) für Kundenservice- und Abrechnungsdienstleistungen. Die unternehmenseigene Informationsverarbeitung wurde 2000 in die mit dem Berliner Stromversorger Bewag (später: Vattenfall Europe) neugegründete Tochter BerlinDat Gesellschaft für Informationsverarbeitung und Systemtechnik (heute: Vattenfall Europe Information Services) ausgelagert. Im Frühjahr 2001 gliederte die GASAG ihr Wärmegeschäft in die GASAG WärmeService (später: GASAG Contracting) aus, um zukünftig neben Erdgas mehr aus Erdgas gewonnene Wärme abzusetzen. Idee war es, neben Industrie- und Gewerbekunden auch Privatkunden Anlagen- und Betriebsführungscontracting anzubieten. Der vierte ausgelagerte Unternehmensbereich war 2001 die BEGA.tec Berliner Gasanlagen und Messtechnik für technische Dienstleistungen.
Mit der Übertragung eines 80 %-Anteils an den Regionalversorger Mark Brandenburg GmbH (EMB) in Potsdam 2001 von der Gaz de France betätigte sich die GASAG zum ersten Mal außerhalb von Berlin. Die EMB, die neben 116.000 Endkunden sieben Stadtwerke und einen Regionalversorger im Land Brandenburg beliefert, erwarb in den Jahren 2003 bis 2006 Minderheitsbeteiligungen an den HSW Havelländische Stadtwerke in Werder (Havel), der Gasversorgung Zehdenick, der EVO Erdgasversorgung Oranienburg und den Stadtwerken Brandenburg. Die HSW wurde zum 1. Oktober 2012 auf die EMB verschmolzen.
Im Januar 2006 gründeten GASAG und EMB die Konzerntochter NBB Netzgesellschaft Berlin-Brandenburg. Die NBB ist als unabhängiger Netzbetreiber für das Leitungsnetz der GASAG, EMB und HSW zuständig und bietet Dienstleistungen bundesweit an.
=== Entwicklung seit 2007 ===
Die GASAG hat im Jahr 2008 das Strategieprogramm GASAG 2015 aufgesetzt. Das Unternehmen will sich strategisch auf Wachstum im Wettbewerb ausrichten und ein führender, deutschlandweiter Partner für Energiedienstleistungen und Energieeffizienz werden. Im Jahr 2010 wurden die ursprünglich sieben Ziele (Speicherausbau, Vertrieb in Fremdmärkten, Trading, Erneuerbare Energien, Contracting, Smart Metering und Netze) überprüft und in vier strategische Themenfelder zusammengefasst:
Erhalt und Ausbau des Netzgeschäftes, insbesondere die erfolgreiche Bewerbung um den am 31. Dezember 2013 auslaufenden Konzessionsvertrag für das Berliner Gasnetz
Erneuerbare Energien: Erzeugung und Vermarktung von Biogas
Energielösungen: Ausbau des Contractinggeschäftes sowie Dienstleistungen im Bereich Smart Metering
Nachhaltiger Vertrieb: Direkter Vertrieb von Strom in der Entwicklung zu einem MehrspartenunternehmenIm Rahmen des Strategieprojektes Zukunft GASAG 2023 wurde die Strategie 2013 erneut angepasst. Im Mittelpunkt steht der Anspruch, zu dem „Energiemanager für Berlin und Brandenburg“ zu werden. Im potenziellen Markt für ganzheitliche Energielösungen sind die Ziele der Marktaktivitäten die Planung, der Bau und der Betrieb von Energiesystemen. Im Heimatmarkt Berlin hat GASAG seit Oktober 2006 mehr als 100.000 Kunden an Wettbewerber verloren. Der Marktanteil bei Heizgas liegt bei rund 78 %. Zur Kompensation der Verluste sollten nach Planungen aus den Jahren 2008–2013 25 % des Gasabsatzes (etwa fünf Milliarden kWh) außerhalb des Heimmarktes und 25 % des Umsatzes außerhalb des bisherigen Kerngeschäftes Erdgasvertrieb realisiert werden. Diese Ziele wurden nicht erreicht. Der Fokus liegt nach aktueller Strategie auf den Gebieten Berlin und Brandenburg. Seit Dezember 2013 bietet GASAG in Berlin Strom an, auch in Konkurrenz zum Aktionär Vattenfall.
Im Rahmen der Wachstumsziele hat GASAG Anfang 2008 zur Erweiterung des Kerngeschäftes 74,9 % der Anteile an der Stadtwerke Forst, einem Querverbundsunternehmen mit den Sparten Gas, Strom, Wärme und Wasser erworben. Die Direktvermarktung von Produkten wurde 2008 in der Tochtergesellschaft DSE Direkt-Service Energie gebündelt.
Die zum 1. Oktober 2007 erworbene Gesellschaft NGT Neue Gebäudetechnik wurde 2008 in die NGT Contracting und die NGT Service getrennt. Mit der 2001 von GASAG ausgegründeten BEGA.tec (Berliner Gasanlagen) gehörten zwei Unternehmen zur GASAG-Gruppe, die Dienstleistungen zur Installation, Wartung und Instandhaltung für Energieversorgungsunternehmen erbringen. Zur Konzentration der Kapazitäten im Konzern und zur Erschließung von Synergien in der Geschäftstätigkeit wurde die NGT Service im Juli 2011 auf die BEGA.tec verschmolzen.
Die GASAG hat zum 1. April 2012 ihre Geschäftsaktivitäten im Bereich Erdgasspeicherung auf die neu gegründete Tochter BES Berliner Erdgasspeicher GmbH und Co. KG übertragen. Mit diesem Schritt erfüllt die GASAG die Anforderungen des Energiewirtschaftsgesetzes zur Entflechtung des Betriebs von Speicheranlagen von den übrigen Aktivitäten des Energieversorgungsunternehmens und bündelt den Bau, den Betrieb und die Vermarktung von Speicherkapazitäten in der neuen Gesellschaft. Zum 1. April 2013 wurden die beiden im Contracting-Geschäft tätigen Töchter GASAG WärmeService und NGT Contracting unter dem neuen Firmennamen GASAG Contracting zusammengeführt, aus der 2017 die GASAG Solution Plus hervorging.
In einem weiteren Schritt der Konzernentwicklung hat die GASAG die Konzernbereiche Technische Dienstleistungen und Messstellenbetrieb neu aufgestellt. Um die Marktchancen des technischen Dienstleisters BEGA.tec im Wettbewerb zu verbessern, hat die GASAG zum 1. Januar 2014 insgesamt 81 % ihrer Unternehmensanteile an die Dahmen Rohrleitungsbau GmbH & Co. KG verkauft. Die GASAG hält weiter 19 % der Anteile an der BEGA.tec. Der Geschäftsbereich NGT Service wurde im Zuge des Verkaufs abgewickelt. Die Standorte Essen und Erfurt mit 26 Mitarbeitern wurden zum 31. Mai 2014 geschlossen.
=== Konzessionsverfahren Berlin ===
Das Land Berlin hat den Konzessionsvertrag für das Gasversorgungsnetz in Berlin zum 31. Dezember 2013 beendet, wobei der bestehende Vertrag bis zur Neuvergabe von der GASAG-Gruppe fortgesetzt wird. Unter Federführung der Senatsverwaltung für Finanzen läuft seit Dezember 2012 ein dreistufiges Vergabeverfahren. Im März 2014 haben zwei verbleibende Anbieter ihre finalen Angebote abgegeben: Zum einen die GASAG mit ihrer Tochtergesellschaft NBB Netzgesellschaft Berlin-Brandenburg, zum anderen der Landesbetrieb Berlin Energie. Berlin Energie ist ein seit März 2012 rechtlich unselbstständiger, abgesonderter Teil der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt.
Nach Information des Finanzsenators Ulrich Nußbaum sollte die Konzession für zehn Jahre an Berlin Energie vergeben werden.Für die GASAG-Gruppe war die Neuvergabe von erheblicher strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Er hat eine Klage beim Landgericht Berlin und eine Beschwerde beim Bundeskartellamt gegen die geplante Neuvergabe eingelegt, der zwischenzeitlich stattgegeben wurde.
Daraufhin hatte der Senat entschieden, 51 % an der Unternehmensanteile der Gasag zu übernehmen und einen industriellen Partner an Bord zu holen. Im April 2016 verkündete das Land, mit dem Energiekonzern E.ON sei eine enge Kooperation vereinbart worden. Der Düsseldorfer Konzern ist mit knapp 37 % größter Anteilseigner der Gasag. Die kooperierenden Unternehmen Vattenfall und Engie, die jeweils rund 31,6 % halten, haben den Verkauf ihrer Anteile abgelehnt.
Die Berliner Grünen forderten daraufhin, dass Berlin einen Rückzieher macht, der Gasag das Gasnetz lässt und statt teuer Unternehmensanteile zu kaufen, die Millionen besser in erneuerbare Energien steckt.
== Wirtschaftliche Entwicklung (seit 1990) ==
Die GASAG hatte nach der Verschmelzung von Alt-GASAG und BEAG eine Reihe von strukturellen Problemen: Die alte GASAG wurde jahrzehntelang als kommunaler Betrieb geführt und erheblich subventioniert. Auf Grund der Insellage Berlins musste die seit den 1960er Jahren steigende Heizgasnachfrage durch eine eigene, teure Gasproduktion gedeckt werden. Die Kosten wurden aus politischen Gründen nicht an den Verbraucher weitergegeben. Zudem entstanden dem Eigenbetrieb wegen des Speicherbaus in den 1980er Jahren Finanzverbindlichkeiten, die auf die GASAG übertragen wurden. Zu diesen westlichen Altlasten kam der teilweise sehr schlechte technische Zustand des Gasnetzes im Ostteil der Stadt, der entsprechend hohe Aufwände für die Sanierung und Leckstellenbeseitigung nach sich zog. Im Kern war das Unternehmen auf Grund der Größe und der jahrzehntelang geprägten Mentalität schwerfällig bis unbeweglich.
Das Unternehmen wies bis 1999 jährlich hohe Jahresfehlbeträge aus. Die hohen Aufwendungen für die Sanierung des Niederdrucknetzes, die beschleunigte Erdgasumstellung im westlichen Versorgungsgebiet und die Bildung von Rückstellungen für den Rückbau von Stadtgaserzeugungsanlagen führten 1994 zu einem Jahresfehlbetrag von 134,7 Millionen Mark. Obwohl im Jahr 1995 erheblich mehr Gas verkauft wurde, lag der Fehlbetrag bei 105,9 Millionen Mark. Der hohe Fremdkapitalbedarf und die hohen Bankverbindlichkeiten führten 1996 zu einem negativen Zinsergebnis von knapp 90 Millionen Mark. Die Darlehenslast war so hoch, dass für die weitere Entwicklung des Unternehmens wenig Spielraum blieb. Um den stetig wachsenden Schuldenberg teilweise abtragen zu können, setzte die GASAG den Erdgasspeicher in einem Sale-Lease-Back-Geschäft ein. Dabei floss dem Unternehmen Liquidität zu, ohne auf den Speicher verzichten zu müssen. Die Bankschulden konnten um 439 auf 856 Millionen Mark gesenkt werden. Trotzdem belastete weiterhin der hohe Fremdkapitalanteil zur Finanzierung der Investitionen den Zinsaufwand.Die Eigenkapitalquote sank von 52 % im Jahr 1992 bis auf 35 % im Jahr 1998. Zerwürfnisse innerhalb des Vorstands und zwischen Aufsichtsrat und Vorstand führten 1998 zu einem Umbau des Vorstands. Vor dem Hintergrund einer extrem angespannten wirtschaftlichen Situation und einer drohenden Insolvenz kam es 1999 zu einem tiefgreifenden Sanierungsprogramm und dem Beginn einer grundlegenden Veränderung der Konzernstruktur.
GASAG und BEAG hatten im Jahr 1991 zusammen 4216 Mitarbeiter und zum Zeitpunkt der Fusion noch knapp 3800 Mitarbeiter. Die Zahl sank durch Vorruhestandsregelungen bis 1998 auf 2450 ab. Durch die Umsetzung der 1999 am „Runden Tisch“ zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern getroffenen Entscheidungen und den Umbau der GASAG konnten die Kosten deutlich reduziert werden. Ein weiterer, wesentlicher Schritt der wirtschaftlichen Gesundung war ein Ende 2000 durchgeführtes Sale-and-lease-back-Geschäft, bei dem das Gasnetz veräußert und anschließend wieder zurückgemietet wurde. Erstmals im Jahr 2000 konnte GASAG einen Jahresüberschuss ausweisen und 2001 Dividenden an die Anteilseigner ausschütten. Aus dem ehemaligen Eigenbetrieb des Landes und Gaserzeuger hatte sich ein zunehmend agiler Erdgasendverteiler entwickelt, der über seine Tochtergesellschaften Dienstleistungen anbot und in neue Geschäftsfelder investierte.
In den Jahren 2003 und 2004 war die Unternehmensentwicklung weiter stabil. Der Gasabsatz und der Anteil am Wärmemarkt wurde sukzessive gesteigert. Das Jahresergebnis 2005 und teilweise auch 2004 wurde durch den Erdgasspeicherunfall erheblich belastet. Im Zuge des intensiver gewordenen Gas-zu-Gas-Wettbewerbes hat GASAG in der Zeit von der Liberalisierung des Energiemarktes 2006 bis 2012 rund 22 % des Heizgasmarktes an Wettbewerber verloren (2011: 19 %, 2010: 17 %, 2009: 13 %, 2008: 11 %). Gleichzeitig wurden bis 2011 rund 11 % des Erdgasabsatzes der GASAG-Gruppe im Vertrieb außerhalb Berlins realisiert.
Das Geschäftsjahr des GASAG-Konzerns 2012 war gekennzeichnet durch eine außerplanmäßige Abschreibung auf den Berliner Erdgasspeicher in Höhe von 144,9 Millionen Euro und einen resultierenden Jahresfehlbetrag von 46 Millionen Euro. Das Ergebnis hat sich 2013 mit 61 Millionen Euro wieder normalisiert. Der Gasabsatz des Konzerns 2013 sank gegenüber 2012 um 3,8 % auf 25,2 Millionen kWh, der Umsatzerlös sank um 3,5 % auf 1300 Millionen Euro.
Die Personalkosten stiegen 2015 auf 106 Millionen Euro; davon entfielen 1,3 Millionen Euro auf die drei Vorstandsmitglieder.
== Konzernstruktur ==
=== Die Unternehmen der GASAG-Gruppe ===
(Stand: 15. Dezember 2021)BAS Kundenservice GmbH & Co. KG
CG Netz-Werk GmbH
BES Berliner Erdgasspeicher GmbH
EMB Energie Mark Brandenburg GmbH
G2Plus GmbH
GASAG AG
GASAG Solution Plus GmbH
GASAG Windpark Verwaltungs GmbH
Geo-En Energy Technologies GmbH
infreSt – infrastruktur eStrasse GmbH
KKI Kompetenzzentrum Kritische Infrastrukturen GmbH
NBB Netzgesellschaft Berlin-Brandenburg mbH & Co. KG
SpreeGas Gesellschaft für Gasversorgung und Energiedienstleistung mbH
Stadtwerke Forst GmbHQuelle: Gasag AG
=== Tochtergesellschaften ===
Durch die Gründung von Tochtergesellschaften sowie durch den Erwerb von Beteiligungen reagierte die GASAG auf den zunehmenden Wettbewerb im Energiemarkt. Zu den Konzerntöchtern gehören:vollkonsolidierte Unternehmen:
at equity bilanzierte Unternehmen:
andere Anteile:
In der Vergangenheit gehörten darüber hinaus folgende Gesellschaften zum GASAG-Konzern:
=== Anteilseigner ===
Die Anteilseigner der seit 1998 vollständig privatisierten GASAG sind die zum E.ON-Konzern gehörende E.ON Beteiligungen GmbH (früherer: E.ON Energy Sales GmbH), die Beteiligungsgesellschaft des international tätigen Energieversorgungskonzerns Engie sowie die deutsche Tochtergesellschaft Vattenfall GmbH des schwedischen Staatskonzerns Vattenfall.
=== Unternehmensführung ===
Der Vorstand der GASAG besteht aus drei Mitgliedern. Der Vorstandsvorsitzende Georg Friedrichs hat seit April 2021 den Vorstandsvorsitz der GASAG inne (zuvor: Vattenfall). Ihm unterstehen die Geschäftsbereiche Kommunikation, Personal, Recht & Datenschutz, Unternehmensentwicklung, die interne Revision und der Vorstandsstab. Darüber hinaus untersteht ihm die Geschäftseinheit Netz.
Der zweite Geschäftsbereich ist zuständig für die Bereiche Energiebeschaffung, Informationsmanagement und Marketing. Darüber hinaus unterstehen ihm die Vertriebe und das Geschäftsfeld Erneuerbare Energien. Diese Vorstandsposition wird seit September 2016 von Matthias Trunk besetzt (vorher: Stadtwerke Neumünster [SWN]) besetzt.
Der dritte Vorstandsbereich umfasst die Aufgaben Governance, Compliance, Risk, Einkauf, Immobilienmanagement, Performance Mgt. und Reporting, Steuern, Finanzen und Business Services. Den Vorstandsposten übernahm am 1. August 2022 Stefan Hadré (zuvor: Vattenfall).
Der Aufsichtsrat besteht neben dem Vorsitzenden Manfred Schmitz (ENGIE) aus 20 weiteren Mitgliedern:
als Vertreter der Anteilseigner: fünf Vertreter für ENGIE, fünf Vertreter für Vattenfall und drei Vertreter der e.on.
als Vertreter der Arbeitnehmer: 1. stellvertretender Vorsitzender Thorsten Neumann, sechs Angestellte des Konzerns.Zwischen den Aktionären der GASAG, der Vattenfall GmbH und der ENGIE Beteiligungs GmbH besteht seit Juni 2015 ein Konsortialvertrag, der im Dezember 2015 sowie im Dezember 2020 von der EU-Kommission freigegeben wurde, und der seit dem 1. Januar 2021 umgesetzt wird. Vattenfall und ENGIE halten damit gemeinsam eine Mehrheitsbeteiligung an der GASAG.
Über den Anteilsbesitz üben die Anteilseigner auf die GASAG-Gruppe einen maßgeblichen Einfluss aus.
== Engagement im Bereich Umwelt ==
Die GASAG unterstützt das Ziel des Senats, bis 2020 die CO2-Emissionen in Berlin gegenüber dem Stand von 1990 um 40 Prozent zu vermindern. Die Hauptstadt produzierte im Jahr 2009 20,2 Millionen Tonnen CO2 gegenüber 29,3 Millionen Tonnen im Jahr 1990 (minus 31 Prozent).Das Land Berlin und die GASAG haben seit 1998 vier Kooperationsverträge zum Engagement für eine effiziente und umweltschonende Energieversorgung geschlossen. In der Laufzeit der ersten drei Verträge (1998–2010) konnten die CO2-Emissionen insgesamt um 1,11 Millionen Tonnen reduziert werden. In dem im Mai 2006 geschlossenen 3. Kooperationsvertrag „Klimaschutz und Luftreinhaltung“ (2006–2010) hatte sich GASAG verpflichtet den jährlichen CO2-Ausstoß um 52.000 Tonnen zu reduzieren. Laut Abschlussbericht über die Umsetzung des Vertrages wurde das Einsparziel übertroffen. Im aktuellen, vierten Kooperationsvertrag (2011–2020) plant GASAG bis 2020 eine weitere Reduzierung der CO2-Emissionen um 900.000 Tonnen auf dann zwei Millionen Tonnen gegenüber dem Beginn des ersten Kooperationsvertrags im Jahr 1998.Die GASAG ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für sparsamen und umweltfreundlichen Energieverbrauch (ASUE), ein Interessenverband zur Verbreitung und Weiterentwicklung von umweltschonenden Erdgas-Anwendungen.
=== Dezentrale Energieversorgung ===
Die GASAG fördert den Ausbau dezentraler Blockheizkraftwerke, die sich in verschiedene Größenklassen unterscheiden lassen. Im oberen Leistungssegment werden Blockheizkraftwerke etwa für die Versorgung von Siedlungen und Großverbrauchern eingesetzt. Das Tochterunternehmen GASAG Solution Plus bietet der Wohnungswirtschaft sowie Industrie- und Gewerbebekunden dazu Contracting-Modelle an.
Im mittleren Segment fördert GASAG seit 2004 die Einführung von Mini-Blockheizkraftwerke (Mini-Kraft-Wärme-Kopplung). Dies sind Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (KWK-Anlagen) mit einer Anschlussleistung von 0 bis 50 kWel. Im Gegensatz zu thermischen Wärmekraftwerken, die nur auf Stromproduktion ausgelegt sind, wird bei KWK-Anlagen durch die gleichzeitige Abgabe von Strom und Wärme ein sehr viel höherer Nutzungsgrad erreicht. Durch KWK kann somit Brennstoff eingespart werden.
Im unteren Leistungssegment, den Mikro-KWK-Anlagen, liefern „stromerzeugende Heizungen“ in Ein- und Zweifamilienhäuser sowie im Kleingewerbe Strom und Wärme. Mit dem so genannten „WhisperGen“ ging im Juli 2006 die erste für ein Einfamilienhaus entwickelte Mikro-KWK-Anlage Berlins in Betrieb. Mit Stand August 2009 waren rund 30 Anlagen im Feldtest. Nach dem Beginn der WhisperGen-Serienproduktion wollte GASAG ab Anfang 2010 über ihre Tochter DSE Direkt-Service Energie die Anlagen in hoher Stückzahl vertreiben. Nach Insolvenz des Mini-BHKW-Herstellers EHE im Dezember 2012 wurde der Verkauf der Whispergen-Stirlingmotoren aber vorläufig ausgesetzt.
=== Regenerative Energien ===
Die GASAG-Gruppe betreibt drei Biogasanlagen in Brandenburg. Die neun Millionen Euro teure Anlage in Rathenow speist seit September 2009 pro Jahr etwa 44 Millionen kWh Biomethan in das Erdgasnetz und etwa 2315 MWh Elektroenergie aus einem Blockheizkraftwerk in das öffentliche Stromnetz ein. Die Anlage arbeitet auf Basis nachwachsender Rohstoffe, die von Landwirten in der Region als Mais-, Gras- und Roggenganzpflanzensilage angebaut werden. Die Anlage trägt zu einer CO2-Emissionsminderung von 15.000 Tonnen pro Jahr bei. Seit November 2011 werden in einer weiteren Anlage in Schwedt/Oder jährlich rund 60 Millionen kWh Biomethan produziert. Die zwölf Millionen Euro Anlage verarbeitet pro Jahr 65.000 Tonnen Silage und deckt damit den Heizwärme- und Warmwasserbedarf von rund 3000 Haushalten. Eine dritte Anlage ist im Sommer 2012 in Neudorf (Gemeinde Groß Pankow) in Betrieb genommen worden. Das ursprüngliche Ziel, bis zum Jahr 2015 insgesamt 15 Biogasanlagen zu errichten, kann auf Grund der Marktlage (ordnungspolitisches Umfeld, Energiepreisen) nach Einschätzung der GASAG nicht erreicht werden.
Die GASAG fördert seit 2007 im Rahmen der Solarthermie-Kampagne „Erdgas+Solar XXL“ die Installation großer Solarkollektoranlagen (über 20 Quadratmeter Kollektorfläche) an gasversorgten Bestandsgebäuden oder Neubauten.Die GASAG betreibt seit 2009 auf dem Gelände des ehemaligen Gaswerks Mariendorf eine eigene Photovoltaikanlage mit einer Leistung von 100 Kilowatt. Mit einem Investitionsvolumen von rund 4,3 Millionen Euro wurde diese 2011 zu Berlins größter Photovoltaikanlage ausgebaut. 7756 Solarmodule erzeugen eine Leistung von 1,8 Megawatt, mit der rund 2000 Haushalte versorgt werden können.Auf dem Gelände des Europäischen Energieforums (EUREF) rund um den Schöneberger Gasometer soll ein Geothermie-Pilotprojekt zur regenerativen Energieversorgung entstehen. Dazu hat GASAG 2009 mit Erkundungsarbeiten zur Nutzung von Erdwärme begonnen. Im Frühjahr 2010 vereinbarte GASAG eine Zusammenarbeit mit dem Internationalen Geothermiezentrum am Helmholtz-Zentrum Potsdam Deutsches GeoForschungsZentrum. Im März 2011 wurden die Aufsuchungsarbeiten für Erdwärme mit der Durchführung einer seismischen Messkampagne auf dem Tempelhofer Feld fortgesetzt. Unter dem Bezirk Tempelhof-Schöneberg befinden sich unterirdische Heißwasserreservoire in verschiedenen Tiefen. Die erwarteten Temperaturspannen reichen von 25 °C im oberflächennahen Nutzhorizont bis zu 150 °C im tiefsten Horizont in rund 4000 Meter Tiefe. Unter heutigen Rahmenbedingungen kann nach Einschätzung der GASAG die tiefe Geothermie in Berlin nur schwer wirtschaftlich genutzt werden. Eine geothermische Erschließung ist nicht geplant.
=== Innovative Technologien ===
Die GASAG-Gruppe förderte 2011 die Umrüstung und den Neukauf von Erdgasfahrzeugen in 197 Fällen. Der Einsatz von Erdgas als Kraftstoff hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich entwickelt. Ende 2011 fuhren in Berlin etwa 4200 Erdgasfahrzeuge (Ende 2008: 2850, Ende 2003: 732). Laut Kraftfahrt-Bundesamt wurden 2011 in Berlin 406 neue Erdgasfahrzeuge zugelassen. Im Fahrzeugbestand des GASAG-Konzerns befanden sich 2012 161 Erdgasfahrzeuge.Die Berliner Stadtreinigungsbetriebe (BSR) setzte im Jahr 2012 rund 100 gasbetriebene Müllwagen ein. Die Betankung erfolgte bisher mit von der GASAG bezogenem Erdgas. 2013 wurde eine neue Biogasanlage der BSR in Ruhleben in Betrieb genommen und das dort produzierte Biogas wird in das Netz der NBB eingespeist. An drei BSR-Betriebshöfen mit jeweils bis zu 50 Müllwagen soll damit pro Jahr rund 2,5 Millionen Liter Diesel eingespart werden.Die GASAG mischt seit Herbst 2009 an ihren zwölf Erdgastankstellen dem Kraftstoff pro Jahr rund 23 Millionen kWh Biomethan bei. Das entspricht rund einem Drittel des Absatzes von über 70 Millionen kWh. Durch die Beimischung erfüllt GASAG vorfristig die Anforderungen aus der Selbstverpflichtung der deutschen Gaswirtschaft, ab dem Jahr 2020 dem Kraftstoff Erdgas bis zu 20 Prozent Biogas beizumischen.
Die mit Erdgas betriebene Wärmepumpe ist eine weitere CO2-reduzierende Technologie. In einem zweijährigen, bundesweiten Feldtest bis 2008 wurden mit insgesamt 22 Gaswärmepumpen Erfahrungen im Praxisbetrieb gesammelt. Die GASAG erprobte in Berlin acht Geräte, die im Vergleich zur Brennwerttechnik eine Energieeinsparung um rund 20 % ergaben. Ab 2011 bis Ende 2012 beteiligte sich GASAG wieder in der Initiative Gaswärmepumpe aktiv in Form von Feldtests an der Entwicklung von Gaswärmepumpen für Ein- und Zweifamilienhäuser.
== Berliner Einrichtungen mit Bezug zur GASAG ==
=== Erdgasspeicher ===
Die GASAG verfügte in der Glockenturmstraße im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf über einen Untergrundspeicher, der für rund 1,1 Milliarden m³ Erdgas zugelassen ist. Der Aquiferspeicher befindet sich etwa 800 Meter tief unter einem Gebiet, das westlich des Berliner Olympiastadions beginnt und sich bis in den Grunewald und die anliegenden Gewässer erstreckt.Der Speicher wurde auf Verlangen der westlichen Alliierten gebaut, bevor West-Berlin, das bis dato sein Gas auf dem Stadtgebiet selbst herstellte, russisches Erdgas über Ferngasleitungen beziehen durfte. Der Speicher war für den Verbrauch West-Berlins eines Jahres bemessen und wurde ab September 1992 genutzt. Heute dient der Speicher, zu dem Bohrungen aus vier unterschiedlichen Standorten niedergebracht sind, zur Abdeckung des saisonalen Bedarfs. Sein Volumen sichert etwa ein Fünftel des heutigen jährlichen Gasverbrauchs in Berlin. Im Zusammenhang mit der bis 2015 geplanten Erweiterung des Speichers auf seine zulässige Gesamtkapazität von 1,085 Mrd. m³ wurden 2009 zwei Tiefbohrungen durchgeführt. Die Stilllegung des Berliner Erdgasspeichers wurde 2016 beschlossen und 2022 vollzogen.
=== Gaslaternen-Freilichtmuseum ===
Im Jahr 1978 wurde von der Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr in Zusammenarbeit mit der GASAG das Gaslaternen-Freilichtmuseum eröffnet. Die Ausstellung befindet sich in unmittelbarer Nähe des S-Bahnhofs Tiergarten und ist mit 90 historischen Exponate aus 25 deutschen und elf weiteren europäischen Städten die größte ihrer Art in Europa.
=== Abbau der Berliner Gasbeleuchtung ===
Die vorher von der GASAG durchgeführten Dienstleistungen Betrieb, Wartung und Reparatur der Gasleuchten wurden im Januar 2001 privatisiert und auf die Firma AT.Lux übertragen. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung plant, den Großteil der wesentlich im Westteil der Stadt stehenden etwa 44.000 Gaslaternen durch elektrische Leuchten zu ersetzen. Grund dafür sind geplante Einsparungen in Millionenhöhe bei Verbrauch und Wartung. Erhalten bleiben sollen die Schinkelleuchten, von denen rund 5.600 überwiegend in touristischen Bereichen stehen. In einem ersten Schritt sollen bis 2013 mit einem Aufwand von 25 Millionen Euro rund 8.400 Peitschenleuchten ausgetauscht werden. In einem zweiten Schritt ab 2014 ist der Abbau von weiteren 30.000 Gasleuchten geplant. Mit ProGaslicht e. V., Gaslicht-Kultur e. V. und Denk mal an Berlin e. V. setzen sich drei Vereine für den Erhalt der Gasleuchten ein.
=== Das Shell-Haus ===
Die vorher an sechs Standorten über Berlin verteilten Abteilungen der GASAG zogen im April 2000 in die neue Hauptverwaltung im Shell-Haus. Das Shell-Haus ist ein unter Denkmalschutz stehendes Bauwerk am Reichpietschufer. Es entstand von 1930 bis 1932 nach einem Entwurf des Architekten Emil Fahrenkamp. Der fünf- bis zehngeschossige Bau ist eines der ersten Stahlskelett-Hochhäuser Berlins und gilt als eines der bedeutendsten Bürohäuser der Weimarer Republik.
Mitte März 2011 verabschiedete sich das Unternehmen vom Shell-Haus und ist in ein neues Hauptgebäude im Hackeschen Quartier gezogen. Der neue, gemietete Unternehmenssitz am Henriette-Herz-Platz 4 ist ein energieeffizientes Gebäude. Größter Mieter mit insgesamt 8.500 m² ist die GASAG AG mit verschiedenen Tochtergesellschaften und dem Kundenzentrum. Die Tochtergesellschaft NBB hat zusätzlich 5.000 m² gemietet.
=== Gasometer Schöneberg ===
Der Gasometer Schöneberg ist die Bezeichnung für einen bis Januar 1995 genutzten, denkmalgeschützten Niedrigdruckgasbehälter im Ortsteil Schöneberg. Auf dem von GASAG 2007 verkauften Gelände entsteht das „Europäische Energieforum“ (EUREF), eine interdisziplinäre Plattform rund um das Thema Energie. Kernstück des Vorhabens ist die Errichtung einer Energieuniversität. Ab dem Wintersemester 2012/13 bietet die Technische Universität Berlin auf dem neuen TU-Campus EUREF drei disziplinübergreifende Masterstudiengänge rund um den Themenkomplex „Stadt und Energie“ an.
=== Ewige Flamme ===
Die GASAG lieferte das Gas für die seit 1955 brennende Ewige Flamme am Theodor-Heuss-Platz zur Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Infolge des Ukrainekrieges löschte die GASAG AG die Ewige Flamme am 30. September 2022.
== Öffentliche Wahrnehmungen ==
=== Positive Wahrnehmungen ===
Als traditionsreiches Unternehmen Berlins sieht sich GASAG in einer gesellschaftlichen Verantwortung und fördert in zahlreichen Initiativen Kultur, Sport, Umwelt, Bildung und Wissenschaft in der Hauptstadt. Im Fokus des Engagements stehen vor allem Projekte, die sich der Nachwuchsförderung widmen.
So wurde der GASAG-Kunstpreis mit der Universität der Künste Berlin entwickelt und war von 1998 bis 2001 ein Preis zur Förderung von Meisterschülern. Nach einer fünfjährigen Zusammenarbeit mit der Universität wurde die Kooperation Ende 2001 beendet. Mit dem neuen Partner Kunstfabrik am Flutgraben e. V. wird der Kunstpreis seit 2002 jährlich als Nachwuchsförderpreis verliehen. Seit 2010 wird der GASAG-Kunstpreis in Kooperation mit der Berlinischen Galerie alle zwei Jahre verliehen.
Unter dem Titel „Kunst im Bau“ wurden im Shell-Haus von 2002 bis 2007 die Flure, Treppenhäuser und Verkehrsflächen auf insgesamt sechs Etagen künstlerisch gestaltet. Auf diese Weise entstand eine Sammlung mit aktuellen Werken zeitgenössischer Kunst. Da GASAG die Sammlung am heutigen Standort im Hackeschen Quartier nicht zeigen kann, übergab sie die Sammlung – bis auf die Wand- und Dacharbeiten – im Frühjahr 2010 als Dauerleihgabe an die Berlinische Galerie.Im Jahr 2017 unterstützte die GASAG erstmals die Berlin Art Week. Darüber hinaus unterhält das Unternehmen mit dem GASAG Kunstraum einen eigenen Ausstellungsraum am Hackeschen Quartier. In ihm werden jährlich drei Ausstellungen zeitgenössischer Berliner Künstler gezeigt. Der Eintritt ist frei.
Die Neuköllner Oper führt alle zwei Jahre den von der GASAG gestifteten Kompositionswettbewerb Berliner Opernpreis durch. Der Opernpreis würdigt junge Komponisten und Kollektive für überzeugende kompositorische und musiktheatralische Gestaltungen.
Gemeinsam mit dem Kinder- und Jugendtheater GRIPS vergibt GASAG jährlich in einem Nachwuchs-Autorenwettbewerb für das zeitgenössische Kindertheater den Berliner Kindertheaterpreis. Für das 2003 initiierte Sozialsponsoringprojekt ACADEMY, eine Bühnenkunstschule für Berliner Jugendliche, erhielt die GASAG im Jahr 2007 den Deutschen Kulturförderpreis.Die GASAG ist seit 1995 Hauptsponsor des Eishockey-Clubs Eisbären Berlin im Profi- und Juniorenbereich. Das Team spielt in der im September 2008 eröffneten Mercedes-Benz-Arena, bei der GASAG Energielieferant ist.
GASAG engagiert sich weiterhin für die Umweltbildung in der Hauptstadt. So initiierte das Unternehmen gemeinsam mit den Berliner Senatsverwaltungen für Bildung, Jugend und Familie sowie Umwelt, Verkehr und Klimaschutz den Schülerwettbewerb Berliner Klimaschule und fördert seit 2009 das Naturschutzzentrum Ökowerk Berlin am Teufelssee im Grunewald.
GASAG wurde seit 2008 jedes Jahr vom TÜV Süd für hervorragende Servicequalität zertifiziert.
=== Negative Wahrnehmungen ===
==== Gasunglücke ====
Am 8. Dezember 1995 entfernte ein betrunkener Wohnungsinhaber den Verschluss zu einer Gasleitung. Es kam in der Glienicker Straße in Köpenick zur Explosion und sieben Verletzten. Das schwerste Gasunglück in der Nachkriegsgeschichte Berlins ereignete sich im August 1998 in Steglitz. Bei der Explosion eines Mietshauses kamen sieben Menschen ums Leben. Tatverdächtig war ein 13-jähriger Junge, dem seine Schuld nie zweifelsfrei bewiesen werden konnte. Die Staatsanwaltschaft ermittelte im August 2000 gegen Unbekannt wegen versuchten Mordes. Die Gasleitung im Keller eines Hauses in Charlottenburg wurde manipuliert und neun Menschen zum Teil schwer verletzt. Ein Selbstmörder manipulierte im Januar 2005 eine Gasleitung in einem Haus in Oberschöneweide. Die Explosion zerstörte das viergeschossige Haus und führte zu zwei Verletzten.Bei Reinigungs- und Wartungsarbeiten kam es am 23. April 2004 auf dem Sondenplatz des GASAG-Erdgasspeichers zu einer Explosion mit Folgebrand. Drei Personen erlitten schwere Verletzungen. Nach einem von der Berliner Staatsanwaltschaft beauftragten Gutachten wurde die Explosion durch den Einsatz von Wasserstoffperoxid zur Reinigung an einem in 900 Meter Tiefe gelegenen verstopften Filter ausgelöst. Aus dem Wasserstoffperoxid hat sich im Bohrloch Sauerstoff abgespalten, der sich mit dem Erdgas zu einem zündfähigen Gemisch vereinigte. Rund zweieinhalb Jahre nach der Explosion hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen Geldauflagen abgeschlossen. Den Verantwortlichen sei zwar vorzuwerfen, dass sie die Gefahr einer Explosion falsch eingeschätzt hätten. Sie hätten sich aber ernsthaft bemüht, das Gefahrenpotenzial zutreffend zu bewerten und Unfälle zu vermeiden. Der Speicherbetrieb wurde wieder aufgenommen, weil die Explosionsursache auf einen technischen Fehler hinweist, nicht aber die Sicherheit des Speichers in Frage stellt.
==== Preispolitik ====
Die GASAG ist auf Grund von zwei Preiserhöhungen im Jahr 2006 stark in die Kritik geraten. Nach GASAG-Angaben gingen 41.000 Beschwerdebriefe ein. Fast alle diese Kunden erklärten, ihre Rechnung nur unter Vorbehalt zu zahlen. 3000 Kunden kürzten ihren Rechnungsbetrag. Die Verbraucherzentrale Berlin strengte wegen unbilliger Preiserhöhungen eine Sammelklage beim Berliner Landgericht an. Das Landgericht hat im Juni 2006 entschieden, dass die GASAG-Preiserhöhung zum 1. Oktober 2005 unrechtmäßig und damit unwirksam war. Dieses Urteil wurde vom Kammergericht am 28. Oktober 2008 bestätigt Die Revision der GASAG gegen das Urteil des Kammergerichts hat der Bundesgerichtshof (BGH) am 26. Oktober 2010 zurückgewiesen.In einem anderen Fall entschied der BGH am 15. Juli 2009 über die Gültigkeit einer Preisanpassungsklausel, die die GASAG von Mai 2005 bis Ende 2006 in fast allen Verträgen mit ihren Heizgaskunden verwendet hat. In dieser Zeit erhöhte die GASAG zweimal die Gaspreise. Der BGH vermisste in der Formulierung die ausdrückliche Pflicht, den Preis gegebenenfalls auch nach unten zu korrigieren und erklärte die Klausel für unwirksam. Kunden, die nur unter Vorbehalt die erhöhten Preise gezahlt hätten, können nach Meinung der Berliner Verbraucherzentrale eine Erstattung der zu viel gezahlten Gaspreise verlangen. Die Verbraucherzentrale erwartet von der GASAG darüber hinaus, dass die Rückzahlung für alle Kunden gilt. Die GASAG entgegnet, dass Rückforderungsansprüche seitens der Kunden nicht bestehen. Der BHG habe keine Entscheidung getroffen, ob dem klagenden Einzelkunden Rückforderungsansprüche zustehen und ob sein Gaspreis angemessen war. Die Angemessenheit der Preiserhöhungen sei allerdings in einer Vielzahl von Gerichtsverfahren vor Berliner Gerichten bestätigt worden. Die GASAG habe Preiserhöhungen immer nur in dem Umfang vorgenommen, in dem die Vorlieferanten ihr gegenüber den Gaspreis erhöht hätten. Dies sei für jede Erhöhung von einem unabhängigen Wirtschaftsprüfer begutachtet worden. Hätte die GASAG eine vom BGH unbeanstandete Preisanpassungsklausel verwandt, hätten ihre Kunden zu keiner Zeit einen anderen Preis bezahlt. Eine Beschwerde der GASAG über das BGH-Urteil wegen Verletzung des Grundrechts auf freie Berufsausübung wies das Bundesverfassungsgericht im September 2010 zurück.Das Bundeskartellamt hat ein im Jahr 2008 durchgeführtes Preismissbrauchsverfahren gegen GASAG in Bezug auf das Jahr 2007 eingestellt, da ein Preismissbrauch für diesen Zeitraum nicht festgestellt werden konnte. Die GASAG hat laut Bundeskartellamt in beträchtlichem Umfang eigene gestiegene Gasbezugskosten nicht an die Endkunden weitergegeben. Die Ermittlungen in Bezug auf das Jahr 2008 wurden aufgrund der Besonderheiten des Berliner Gasmarktes sowie der von GASAG angebotenen wettbewerbsfördernden Maßnahmen und der Zusage, eine Preissenkung bereits auf den 1. Februar 2009 vorzuziehen, ebenfalls eingestellt.
==== Vorwurf der Bildung eines wettbewerbswidrigen Quotenkartells ====
Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hatte im April 2012 über die mögliche illegale Bildung eines Quotenkartells der GASAG-Miteigentümer und Gaslieferanten E.ON und GDF Suez berichtet. Zum Hintergrund: Am 29. September 1999 einigten sich E.ON, Vattenfall und GDF Suez als Aktionäre der GASAG in einem „Basic Agreement“ über eine langfristige „Aufteilung“ des Gasbedarfs der GASAG. In den Verträgen wurde der Gaspreis für die Dauer von 20 Jahren an den Ölpreis gekoppelt. Laut Vertrag sollte die GDF Suez rund 200 Millionen Kubikmeter Gas jährlich liefern. Den Rest teilten der Energieversorger VNG – Verbundnetz Gas und E.ON untereinander auf. Da GDF wegen fehlender Fernleitung kein Gas nach Berlin liefern konnte, lieferte E.ON das Gas an die GASAG. Im Gegenzug soll GDF zugesichert haben, E.ON Gaslieferungen nach Frankreich zu ermöglichen. Die Mengen sollen an der Grenze verrechnet worden sein. Das wäre ein Verstoß gegen das Kartellrecht. E.ON und GDF Suez bestreiten, wettbewerbswidrige Absprachen getroffen zu haben.
Aufgrund des seit 2009 zu verzeichnenden Angebotsüberhangs von Erdgas hat sich die Gaspreisentwicklung an den europäischen Gashandelsplätzen vom Ölpreis entkoppelt. An den Handelsmärkten ist Erdgas seitdem deutlich unterhalb der vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle amtlich notierten Importpreise erhältlich. Nach Angabe der GASAG leidet die eigene Wettbewerbsfähigkeit „unter den hohen, nicht marktgerechten ölpreisindizierten Gasbezugskosten, die in langfristigen Lieferverträgen festgeschrieben sind“. Durch den intensiven Wettbewerb auf dem Berliner Markt hätte die GASAG in erheblichem Maße Kunden verloren und das Handelsergebnis der GASAG sei seit 2009 gesunken. Der Schaden für GASAG soll sich zwischen 2008 und 2011 auf rund 110 Millionen Euro belaufen.
Die GASAG hat ab 2009 mit den Vorlieferanten über die ölbasierten Preise verhandelt. Nachdem die Verhandlungen Anfang 2011 ergebnislos gescheitert waren, reichte GASAG im April 2011 beim Landgericht Berlin eine Klage gegen GDF Suez ein. Sämtliche Verträge mit E.ON und GDF Suez seien nichtig, argumentieren die GASAG-Juristen, weil sie auf dem 1999 gegründeten, mutmaßlich wettbewerbswidrigen Quotenkartell basierten. Gegen E.ON Ruhrgas wurde eine Schiedsklage erhoben. Im Oktober 2011 wurde in parallel geführten Verhandlungen ein Vergleich zwischen GASAG und GDF Suez abgeschlossen, dem der Aufsichtsrat der GASAG zugestimmt hat. Gegen diesen Beschluss des Aufsichtsrats hat der bis 31. Dezember 2011 amtierende Vorsitzende des Aufsichtsrats, Karl Kauermann, eine Nichtigkeitsklage eingereicht. Aus Kauermanns Sicht handelte es sich bei dem Vergleich um ein einseitiges Entgegenkommen des Vorstandes zu Lasten der GASAG. Das Landgericht hat die Klage im Juli 2012 abgewiesen.
Mit E.ON Ruhrgas und VNG schloss GASAG im Mai und Oktober 2012 einvernehmliche Vereinbarungen zur Beendigung der ölpreisgebundenen, langfristigen Gasbezugsverträge und neue Gaslieferverträge zu wettbewerblich bestimmten Konditionen ab.
== Literatur ==
Hilmar Bärthel: Die Geschichte der Gasversorgung in Berlin. GASAG (Hrsg.), Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1997, ISBN 978-3-87584-630-0.
Geschäftsbericht 2011. (PDF; 1,6 MB) GASAG, ISSN 1439-6114.
Brigitte Jacob: Emil Fahrenkamp: Bauten und Projekte für Berlin. Jovis Verlag, Berlin, ISBN 978-3-939633-31-0.
Landesarchiv Berlin: Öffentliches Findbuch für das Jahr 2006, B Rep. 155, Berliner Gaswerke (GASAG). Landesarchiv, Berlin 2006.
Ulrike Schuster: Chronik der Berliner Gaswerke Aktiengesellschaft 1994–2005. GASAG (Hrsg.), Trurnit & Partner Verlag, Berlin 2006, ISBN 978-3-9806986-7-2.
== Weblinks ==
Homepage
Öffentliches Findbuch, A Rep. 259, Gasversorgungsunternehmen in Berlin. (PDF; 2,6 MB) Landesarchiv Berlin.
Überblick Gaswerke in Berlin und Brandenburg
Frühe Dokumente und Zeitungsartikel zur Berliner Städtische Gaswerke in den Historischen Pressearchiven der ZBW
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/GASAG
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Grabeiche
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= Grabeiche =
Die Grabeiche (auch Begräbniseiche, Thümmel-Eiche oder „Tausendjährige Eiche“ genannt) ist ein markantes altes Baumexemplar der Stieleiche (Quercus robur) in Nöbdenitz in Thüringen. Im hohlen Stamm des Baumes befindet sich eine Grabstätte.
Laut Guinness-Buch der Rekorde handelt es sich um die älteste Stieleiche in Europa. Das im Guinness-Buch angegebene Alter von zirka 2000 Jahren ist jedoch umstritten. In der neuesten Literatur wird die Eiche auf ein Alter von 700 bis 800 Jahren geschätzt. Die Eiche befindet sich in der Ortsmitte von Nöbdenitz, etwa sechs Kilometer südwestlich von Schmölln, im thüringischen Landkreis Altenburger Land. In ihrem Wurzelraum, direkt unterhalb des hohlen Stammes, befindet sich eine gemauerte Gruft mit dem Leichnam des 1824 verstorbenen Rittergutsbesitzers Hans Wilhelm von Thümmel. Dieser war Schriftsteller, Chronist und Kartograf des Herzogtums Altenburg und hatte diese ungewöhnliche Begräbnisstätte vor seinem Tod von der Pfarrgemeinde erworben.
== Beschreibung ==
Die Grabeiche steht auf etwa 230 Meter Höhe über Normalnull im Zentrum von Nöbdenitz in der Nähe der Kirche. Ursprünglich führte unmittelbar südwestlich des Naturdenkmals eine Straße vorbei, die im Jahre 2007 im Bereich der Eiche verlegt wurde. Dadurch hat sich um den Stammfuß eine Freifläche ergeben, auf der eine Schautafel über die Eiche informiert.
Die Höhe der Eiche wird mit knapp 14 Metern angegeben. Im Jahr 2002 betrug der Umfang des Stammes über dem Boden gemessen 12,7 Meter. Der Stamm ist durch Insektenfraß und das Zerstörungswerk des Schwefelporlings (Laetiporus sulphureus) vollkommen hohl. Er ist sehr unregelmäßig ausgebildet und endet oben abrupt in einer scharfkantigen Bruchstelle. Die Krone ist schon im frühen 19. Jahrhundert auf einer Stammhöhe von ungefähr zehn Metern abgebrochen, eine Sekundärkrone unterhalb der Bruchstelle besteht aus zwei Seitenästen mit einer Breite von 15 Metern in Nord-Süd-Richtung und von zehn Metern in West-Ost-Richtung. Von der Bruchstelle bis kurz über dem Boden ist der Stamm vertikal gespalten und wird durch drei breite Eisengurte aus Ketten- und Bandgliedern zusammengehalten. Damit soll das endgültige Auseinanderbrechen des Stammes, welches das Ende des Baumes bedeuten würde, verhindert werden. Wann und von wem diese Sicherung angebracht wurde, ist nicht bekannt.
Für die Eiche ist ein Adventivstamm lebenswichtig, der sich vor einigen Jahrzehnten im hohlen Stammbereich auf der Südwestseite gebildet hat und der im unteren Bereich stark borkig ist. Über diesen Jungstamm, der durch die großflächige Öffnung der Nebenkrone ausreichend Licht und Niederschläge erhält, bekommt die Eiche genügend Nahrung. Sie befindet sich dennoch in keinem guten Zustand. Der hohle Stamm ist bereits in vielen Bereichen abgestorben und morsch. Die Krone weist ebenfalls schon viele Schäden auf. Einige Zweige sind durch Kümmerwuchs nur mangelhaft ausgebildet. Die Standfestigkeit der Eiche ist allerdings noch nicht unmittelbar gefährdet.Über das Alter der Eiche gibt es verschiedene Angaben. Das Guinness-Buch der Rekorde gibt ihr Alter mit 2000 Jahren an. Damit wäre die Grabeiche nicht nur die älteste Eiche in Deutschland, sondern in ganz Europa. Dies ist aber umstritten. Hans Joachim Fröhlich gab 1994 ein Alter von 1000 bis 1200 Jahren an. Dieses Alter dürfte aber ebenfalls noch zu hoch sein, insbesondere wenn man die Zerstörung des Stammes durch den Schwefelporling und holzabbauende Insekten berücksichtigt.
Wegen des hohlen Stammes können die Jahresringe nicht ausgezählt werden. Eine Altersbestimmung an einem Altast ist, bedingt durch den Kronenbruch von 1820, ebenfalls nicht durchführbar. Der Stamm der Eiche verstärkte sich in den vergangenen hundert Jahren nur unwesentlich und eine größere Umfangszunahme ist auch in Zukunft nicht zu erwarten, weshalb sich das Alter auch nicht anhand des Dickenwachstums bestimmen lässt. Zudem fehlen auch belegte jährliche Zuwachsraten des Adventivstammes. In der neuesten Literatur wird das Alter des Baumes mit 700 bis 800 Jahren angegeben. Auch mit diesem Wert zählt die Grabeiche zu den ältesten Eichen Deutschlands. Andere Eichen, die von Fachleuten zeitweise als die ältesten in Deutschland angesehen wurden, sind beispielsweise die Femeiche, die Gerichtseiche bei Gahrenberg und die Ivenacker Eichen.
== Geschichte ==
Am Befall durch den Schwefelporling leidet die Eiche schon seit Jahrhunderten. Die Zerstörungen am Stamm begannen, als die Eiche bereits geschwächt war. In einem Eintrag im Kirchenbuch der Nöbdenitzer Pfarrei im Jahre 1598 wird die Eiche mit den Worten beschrieben:
In den vergangenen Jahren konnten allerdings keine neuen Fruchtkörper des Schwefelporlings an der Eiche festgestellt werden.
1815 wurde die Eiche vom Blitz getroffen. Bei einem Sturm, der mehrheitlich auf das Jahr 1820, von einigen Quellen aber auch auf die Jahre 1812 oder 1819 datiert wird, brach die Krone auf einer Stammhöhe von ungefähr zehn Metern ab. Zudem brachen dabei mehrere starke Äste heraus. Die Eiche erholte sich bis in die heutige Zeit nur langsam von diesem Kronenbruch.Im Jahre 1826 schrieb Friedrich August Schmidt über die Eiche:
Der Berliner Altertumsforscher Gustav Parthey, der bei Herzogin Anna Dorothea von Kurland in Löbichau zu Besuch war, berichtete in seinem Tagebuch über die Eiche:
Im Jahr 1937 beschrieb Bauamtmann Berg den Zustand der Eiche:
Die Eiche wird seit 1940 als Naturdenkmal geführt. Die vorbeiführende Dorfstraße wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitert und asphaltiert, wodurch die Asphaltdecke unmittelbar an den westlichen Stammfuß heranreichte. Im Zuge der Straßenverbreiterung wurden eine Rohrleitung für die Kanalisation und eine Erdgasleitung verlegt, die den Wurzelbereich berührten. Die asphaltierte Straßendecke beeinflusste auch den Lebenshaushalt der Eiche, da die Bodenqualität im Bereich der Wurzeln unterhalb der Asphaltdecke nicht mehr den früheren Verhältnissen entsprach. Der Eiche standen weniger Niederschläge zur Verfügung, die größtenteils oberirdisch abliefen. Beim Straßenausbau war vermutlich auch der zur Straße zeigende unterste Starkast entfernt worden.
Vor einigen Jahren wurden mehrere Äste gestutzt, die jetzt zehn bis 30 Zentimeter lang sind. Das mittlere der drei Eisenbänder, die den Baum zusammenhalten, wurde erneuert. Um die Beeinträchtigung des Baumes durch die Bodenverdichtung zu beseitigen, wurde im August 2006 ein baufälliges Haus gegenüber der Eiche abgerissen und im Jahr 2007 die Straße dorthin verlegt. Dadurch erhält die Eiche wieder mehr Feuchtigkeit und im aufgelockerten Boden eine bessere Durchlüftung der Wurzeln. Dadurch erhofft man sich eine Verlängerung ihres Lebens. Weiterhin ist vorgesehen, den Kronenbereich durch Stützen zu entlasten.Im Jahre 2009 bestand die Gefahr, dass die Eiche umstürzte. Die mächtige Krone des Baumes wurde nur noch vom äußeren Rand des Stammes gehalten. Einem Gutachten zufolge war die Standsicherheit nicht mehr gegeben; der mittlere Stützring konnte seine Aufgabe nicht mehr erfüllen. Im mittleren Teil des Stammes wurde deshalb ein weiterer Eisenring angebracht. Ein Statikbüro führte eine Tragwerksplanung durch, um den genauen Lastpunkt des Baumes zu berechnen und den Druck vom Stamm zu nehmen. Zwei Stahlrohre wurden in ein Betonfundament eingelassen und stützen nun an der berechneten Stelle den Baum ab. Um bei einem eventuellen Einknicken des Stammes das Umfallen auf die Straße und den Gehweg zu vermeiden, wurden zusätzlich zwei Halteseile vom Pfarrgarten aus zur Eiche gespannt. Die gesamte Maßnahme kostete etwa 13.000 Euro. 5.000 Euro trug die Gemeinde Nöbdenitz, den Rest übernahm der Landkreis.Im Mai 2014 gab es Bestrebungen, die Eiche wegen Gefährdung der Verkehrssicherheit zu fällen. Landesweite Bürgerproteste konnten jedoch eine Rettung des Naturdenkmals durchsetzen.
== Entwicklung des Stammumfangs ==
Der Umfang der Eiche wurde in den letzten Jahrhunderten mehrmals ermittelt. Ernst Amende gab 1902 einen Umfang in Bodennähe von zwölf Metern und in Mannshöhe von 8,3 Metern an:
1937 wurde die Eiche von Bauamtmann Berg vermessen. Er ermittelte einen Umfang in Bodennähe von 12,5 Metern. Im Jahre 1990 betrug der Stammumfang in einem Meter Höhe elf Meter. Um das Jahr 2000 hatte der Stamm an der Stelle seines geringsten Durchmessers (Taille) einen Umfang von 9,12 Metern. Der Brusthöhenumfang, 1,3 m oberhalb des höchsten Bodenbereichs gemessen, beträgt 10,25 m (2014). Weitere Messungen liegen vom 19. April 2001 vor. Der Umfang bezieht sich dabei auf einer Höhe von 1,3 Metern. Da der Boden um die Eiche stark abfällt und der Stamm stark konisch ausgebildet ist, wurden mehrere Messungen durchgeführt und daraus ein Mittelwert von 10,64 Metern berechnet. Um einen Vergleich mit den früheren Messungen, die am Boden durchgeführt worden waren, zu ermöglichen, wurde die Eiche am 11. Juni 2002 erneut vermessen. Der Umfang in Bodennähe betrug dabei 12,7 Meter. Demnach wurde die Eiche in den letzten hundert Jahren etwa elf Zentimeter dicker, was ein sehr geringes Dickenwachstum bedeutet. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass sich das Bodenprofil in diesem Zeitraum, bedingt durch Erdbewegungen, veränderte.
== Thümmel-Grabstätte ==
Die Eiche gilt als der einzige Baum in Deutschland, in dem sich eine Grabstätte befindet. Im hohlen Innenraum des Wurzelbereiches ruht der 1744 auf einem Rittergut bei Leipzig geborene Hans Wilhelm von Thümmel. Er starb am 1. März 1824 im Alter von 80 Jahren und wurde gemäß seinem Vermächtnis am 3. März 1824 in einer ausgemauerten Gruft im Wurzelraum der Eiche bestattet. Diese Bestattung wurde von der herzoglichen Regierung genehmigt und ist im Kirchenregister dokumentiert. Nach der Begräbnisrede wurde der Leichnam ohne Sarg auf eine Moosbank gebettet. Die Gruft wurde oben mit drei Natursteinen verschlossen und darauf eine amtlich vorgeschriebene, 30 Zentimeter dicke Schicht aus Löschkalk als Versiegelung der Gruft aufgetragen. Die Bestattung ist im Totenregister der Pfarrei von Nöbdenitz 1824 beschrieben:
Damit die Eiche als Andachtsraum genutzt werden konnte, stellte man im Inneren des hohlen Stammes eine Sitzbank aus einem hohlen Weidenstamm und eine Holzkonsole auf. Die Ritzen des Stammes wurden mit Moos abgedichtet, der Andachtsraum wurde durch eine eiserne Gittertür zur Straße hin abgeriegelt und die Eiche mit Sandsteinsäulen und einem Lattenzaun umfriedet. Von der Eisentür zeugt eine verrostete senkrechte Eisenschiene am Stamm, an der die Tür angebracht war.
=== Hans Wilhelm von Thümmel ===
Die Verbindung von Thümmel mit Nöbdenitz begann im Jahre 1785, als er die Rittergutsbesitzerin Charlotte von Rothkirch-Trach heiratete. Diese erbte später die Rittergüter Nöbdenitz und Untschen. Thümmel übte viele verschiedene Tätigkeiten aus. Am Hof des Herzogtums Sachsen-Gotha und Altenburg bekleidete er verschiedene Ämter und wurde der Freund von Herzog Ernst II. Er brachte es vom Pagen bis zum Geheimrat und später sogar zum Minister. Zwischen 1803 und 1808 unternahm er mehrere diplomatische Missionen in Berlin, Paris, Kopenhagen und anderen Städten. Bekannt wurde er auch durch die Gründung der Kammerleihbank und die Förderung des Straßenwesens. Er schied 1817 aus dem herzoglichen Dienst aus, wo er einen großen Einfluss ausgeübt hatte. Thümmel hatte sich auch mit der Landvermessung beschäftigt und hinterließ am Ende seiner Dienstzeit ein umfangreiches topografisches Kartenwerk. Dieses umfasst die Ämter Ronneburg und Altenburg und ist als Thümmel-Karten bekannt geworden, die 1813 fertiggestellt wurden. Danach hielt sich Thümmel öfters in Nöbdenitz auf und besuchte auch die Herzogin Anna Dorothea von Kurland, da er bis zum Jahre 1821 dem Dichterkreis des Musenhofs angehörte. Er war sehr romantisch veranlagt und legte verschiedene Gärten und Parkanlagen an. Nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, schuf er auch in Nöbdenitz eine Gartenanlage. Die Errichtung der Gärten und Parkanlagen kostete den ehemaligen Minister viel Geld, so dass er schließlich mittellos wurde. Dadurch kam es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den Ehepartnern. Bei einem solchen Streit schrie ihn seine Frau an: „Ohne Heirat hättest du nicht einmal genug Land für dein Grab!“Daraufhin kaufte der gekränkte Ehemann von der Pfarrei die Eiche, die sich im damaligen Pfarrgarten befand, um sie nach seinem Tode als Grabstätte zu nutzen. Eine Schilderung des Grabmals gab Bauamtmann Berg' im Jahre 1937:
=== Untersuchung der Grabstätte ===
Über den Leichnam unter der Eiche erzählte man sich viele Geschichten. Mehrere Jahrzehnte lang wurde berichtet, dass der Tote auf einem Stuhl sitzend in der Eiche eingemauert worden sei. Andere wiederum bezweifelten, dass sich überhaupt ein Toter in der Eiche befindet. Um endlich Klarheit zu schaffen, versuchte der Heimatforscher Ernst Bräunlich aus Posterstein, der jahrelang Lehrer in Nöbdenitz war, 135 Jahre nach Thümmels Tod den Sachverhalt zu ergründen. Am 8. April 1959 entdeckte er mit seinen Schülern, die er für diese Untersuchung gewinnen konnte, in der Stammhöhle einen Andachtsraum. Darin befanden sich eine zerbrochene Vase, eine morsche Holzkonsole und Reste metallener Kranzschleifen. Daraufhin gruben sie ein Loch in den Boden und fanden nach Beseitigung von Erde und morschem Holz die Kalkschicht mit einer Dicke von 20 Zentimetern und die drei Natursteinplatten. Der darunter liegende Hohlraum konnte durch einen Spalt mit einer Taschenlampe ausgeleuchtet werden, wobei man ein Skelett erblickte, das quer zur ehemaligen Fahrbahn der Dorfstraße und mit dem Kopf in südlicher Richtung lag. Das zwei Meter lange Grab lag 1,3 Meter tief und war 85 Zentimeter breit. Mit dem Fund des Skeletts waren alle Zweifel an der Baumbestattung ausgeräumt.
== Einzelnachweise ==
== Literatur ==
Bernd Ullrich, Stefan Kühn, Uwe Kühn: Unsere 500 ältesten Bäume: Exklusiv aus dem Deutschen Baumarchiv. BLV Buchverlag GmbH & Co. KG, München 2009, ISBN 978-3-8354-0376-5, S. 129.
Stefan Kühn, Bernd Ullrich, Uwe Kühn: Deutschlands alte Bäume. BLV Verlagsgesellschaft, München 2007, ISBN 978-3-8354-0183-9, S. 85.
Uwe Kühn, Stefan Kühn, Bernd Ullrich: Bäume, die Geschichten erzählen. BLV Buchverlag GmbH & Co., München 2005, ISBN 3-405-16767-1, S. 82 f.
Hans Joachim Fröhlich: Band 10, Thüringen. In: Wege zu alten Bäumen. WDV-Wirtschaftdienst, Offenbach 1990, ISBN 3-926181-24-9, S. 199.
Hans Joachim Fröhlich: Alte liebenswerte Bäume in Deutschland. Cornelia Ahlering Verlag, Buchholz 2000, ISBN 3-926600-05-5, S. 365.
ADAC Verlag (Hrsg.): Der Große ADAC Natur-Reiseführer Deutschland. ADAC Verlag, Turnhout/Belgien 1991, ISBN 3-87003-390-8, S. 377 f.
Ernst Amende: Landeskunde des Herzogtums Sachsen-Altenburg. Buchholz 1902.
M. Berg: Begräbniseiche und Dorflinde bei Nöbdenitz. In: Heimatschutz in Ostthüringen. Buchholz 1937.
== Weblinks ==
Die Begräbnis-Eiche in Nöbdenitz
Grabeiche im Verzeichnis Monumentaler Eichen. Abgerufen am 10. Januar 2017.
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https://de.wikipedia.org/wiki/Grabeiche
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Großer und Kleiner Engel
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= Großer und Kleiner Engel =
Das Haus Großer Engel, meist nur Großer Engel genannt, ist ein historisches Gebäude in Frankfurt am Main. In der den Römerberg begrenzenden „Ostzeile“ ist es das nördlichste, für den frontalen Betrachter ganz linke Gebäude mit der Adresse Römerberg 28. Im Süden grenzt das Bauwerk an das Haus Goldener Greif an, zum Norden hin eröffnet sich die Straße Markt. Im Osten ist der Große Engel mit dem Haus Kleiner Engel verbunden, so dass beide Gebäude einen historisch und architektonisch zusammengehörigen Komplex bilden.
1562 entstand, unter Zusammenfassung der beiden vorgenannten Parzellen und eventuell auch teilweise älterer Substanz, der schmuckreichste Privatbau der späten Gotik in Frankfurt. Als Eckhaus der einst geschlossen bebauten Gasse Markt mit dem sich in Blickrichtung dahinter erhebenden Dom war und ist vor allem der Große Engel seitdem eines der am häufigsten dargestellten und später auch fotografierten Motive der Frankfurter Altstadt.
Im Zweiten Weltkrieg wurden der Große und der Kleine Engel während der Luftangriffe auf Frankfurt am Main fast vollständig zerstört, 1983–1984 im Zuge der Rekonstruktion der Ostseite des Römerbergs aber weitgehend originalgetreu wieder aufgebaut.
== Geschichte ==
=== Vorgeschichte ===
Der Große Engel wurde 1342 erstmals urkundlich erwähnt, einige nichturkundliche Quellen gehen bis auf das Jahr 1230 zurück und bringen den Namen des Gebäudes mit seinem offenbar ersten Besitzer, Angelus de Sassen in Verbindung. Dagegen finden sich schriftliche Hinweise auf den Kleinen Engel erst im 15. Jahrhundert. Es ist ungeklärt, inwiefern daraus geschlossen werden kann, ob diese beiden ursprünglichen Gebäudeteile zeitlich aufeinander folgend errichtet wurden.
Im weiteren Verlauf der Geschichte urkundlich belegbar ist, dass das Gebäude 1458 in das Eigentum des Münzmeisters Friedrich Nachtrabe überging, der im Erdgeschoss eine Wechselstube eröffnete. Der nachfolgende Eigentümer war der Frankfurter Bürger Kaspar Schott, dessen Familie den Großen Engel wohl ab Ende des 15. Jahrhunderts besaß. Offensichtlich führte er die Geschäfte seines Vorgängers fort, hatte er doch, was eine erhaltene Hausurkunde bestätigt, von 1488 bis 1503 zusammen mit dem kurmainzischen Patrizier und Münzmeister Hans Bromm eine Wechselstube im Großen Engel.Wohl der Tatsache, dass das Gebäude auch unter nachfolgenden Eigentümern diese Funktion weiter erfüllte, ist sein ab dieser Zeit bis ins späte 19. Jahrhundert erhaltener Alternativname „die Wechsel“ respektive „Zum Wechsel“ geschuldet. Die Lage des Gebäudes am Eingang des Markt war dafür ideal: als eine der damaligen Haupteinkaufsstraßen war er an Bedeutung in etwa mit der heutigen Zeil vergleichbar.
=== 16. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg ===
==== Entstehung des Hauses in seiner heutigen Form ====
1535 befand sich das Gebäude im Besitz des Spitalmeisters Niklas, genannt Steinmetz. Im Zuge der Reformation hatte er im selben Jahr der Würde als Dekan des Stiftes St. Bartholomäus, des höchsten katholischen Amtes in Frankfurt, entsagt und war zum Protestantismus übergetreten. Der Vorgang erregte auch über die Grenzen Frankfurts hinaus Beachtung, war doch der Frankfurter Dom als Wahlkirche der deutschen Kaiser von herausragender Bedeutung.
Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass der Rest der Familie Niklas beim katholischen Bekenntnis blieb, was zweifellos zu Reibereien führte. Die Söhne des Bruders Hans Niklas wurden in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu bedeutenden Frankfurter Persönlichkeiten. Der jüngere, Johannes Niklas kam 1571 zu dem Amt, das sein Onkel vor 36 Jahren aufgegeben hatte. Der ältere, Kaspar Niklas, wurde 1566 jüngerer Frankfurter Bürgermeister. Durch das Gesellenbuch der uralten Frankfurter Patriziergesellschaft Zum Frauenstein ist belegt, dass er 1591 starb. Hier kann man bei seinem Namen noch heute den Spruch „civis optimus et catholicus“ lesen, er war demnach ein „guter Bürger und Katholik“.
Bereits 1536 heiratete sein vorgenannter Onkel, was im damals noch vorwiegend katholischen Frankfurt geradezu skandalös war, die bereits einmal verwitwete Tochter des Gilbrecht Burckhardt von Höchst. Viele sahen es seinerzeit dann sicher auch als eine Strafe Gottes, dass er bereits 1540 verstarb, wenngleich sein Tod an der Pest wohl eher auf seine Tätigkeit als Spitalmeister zurückging.
Das Testament bestimmte seine 1537 und 1538 im Haus zum Engel geborenen Töchter Margaretha und Anna zu den Erben des Gebäudes. Nutznießer sollte jedoch bis zu ihrem Tode zunächst seine nun bereits zum zweiten Mal verwitwete Frau Anna Steinmetz sein. Sie heiratete nur wenig später ein drittes Mal, nämlich den Nachfolger im Amte ihres Mannes, Spitalmeister Menger. Als er 1557 starb, hatten die beiden Patriziersöhne Siegfrid Deublinger und Hilarius Harpf die beiden Töchter geheiratet. Da beide das Haus zum Engel als zukünftige Wohnstätte wählten, drangen sie wohl auf einen Neubau des Gebäudes.
Siegfrid Deublinger stammte aus einer reichen Familie gleichen Namens, die als Tuchhändler von Ulm nach Frankfurt eingewandert war. Sein Vermögen wuchs im weiteren Verlauf seines Lebens, wohl auch vermehrt um die Mitgift seiner Frau, beträchtlich. So ist bekannt, dass er neben weiteren Grundstücken auch das repräsentative Haus Fürsteneck östlich des Doms erwarb. Hilarius Harpf dagegen stammte eher aus der Mittelschicht des Sachsenhäusener Bürgertums. 1556 wurde er vom Ratsschreiber zum Rechenmeister befördert, eine Stellung, die in etwa der heutigen Position des Stadtkämmerers gleichgestellt war. Insofern war bei ihm nur verständlich, dass er in der Nähe des Römers wohnen wollte, der schon seit 1405 das Zentrum der städtischen Verwaltung war.
Dem nun geplanten Neubau gingen zunächst Bauverhandlungen mit dem Rat voraus. Hier traten bereits nicht mehr die Schwiegermutter, sondern die vorgenannten Schwiegersöhne als Verhandelnde und Vertragsunterzeichner auf. Dies verstärkt die Annahme, dass die Schwiegersöhne, und nicht die zum dritten Mal verwitwete Schwiegermutter die Initiative für den Neubau ergriffen.
Vor Baubeginn kam es allerdings noch zu einem Streit mit dem Besitzer des Nachbarhauses Haus Schieferstein, Christian Egenolff. Egenolff war der Sohn des bekannten Frankfurter Druckers Christian Egenolff des Älteren (1502–1555); er besaß in Frankfurt eine Schriftgießerei und die erste ständige Buchdruckerei, in der die erste in der Stadt gedruckte Lutherbibel hergestellt wurde. Das Nachbarhaus trat hier noch unter der alten Bezeichnung auf, die Bezeichnung als Haus Goldener Greif überkam wohl erst später, was in Anbetracht seiner eher barock geprägten Erscheinung auch einleuchtet.
Christian Egenolff fühlte sich zunächst in seinem Fensterrecht durch den hervorragenden Erker des geplanten Neubaus beeinträchtigt. Ein größerer Rechtsstreit konnte jedoch durch einen Vergleich vermieden werden, der mit einem auf den 15. April 1562 datierenden Vertrag besiegelt wurde. Dem Wortlaut nach ließen die beiden Schwiegersöhne Egenolff für die Rücknahme seines Einspruchs auf ihre Kosten zwei steinerne Türen in das Erdgeschoss des Hauses brechen. Ein weiterer, auf den Mai 1562 datierender Zusatzvertrag bestimmte zudem, den Bauaufwand für die Brandmauer zwischen beiden Gebäuden gleichmäßig auf beide Parteien zu verteilen. Der vollständige Neubau beider Häuser unter einem Dach erfolgte dann noch 1562, wie es durch Inschriften am Gebäude bis heute erkennbar und belegt ist. Der Schmuckreichtum des Gebäudes wird, wie bei fast allen reich geschmückten Frankfurter Bürgerhäusern, vor allem auswärtigen Einflüssen, in diesem Falle dem Deublingers zugeschrieben; die hohe künstlerische Qualität zahlreicher Ulmer Fachwerkbauten, von denen tragischerweise kaum ein einziger den letzten Weltkrieg überdauerte, zeigte hier deutliche Parallelen auf.
Interessant ist, dass, wohl um die Kosten für den Neubau zu bewältigen, die Schwiegermutter laut historischen Dokumenten ein dort als Kollmann-Hölle bezeichnetes Haus verkaufte. Hierbei handelte es sich zweifellos um das Eckhaus Markt/Höllgasse, aus dem ein halbes Jahrhundert später die dem Haus zum Engel an Bedeutung in nichts nachstehende Goldene Waage entstand. Dass sie trotz der Initiative ihrer Schwiegersöhne wohl Bauherrin blieb, wird bis heute an der Tatsache deutlich, dass sie die Wappen ihres ersten Mannes und ihrer Familie am Erker des Neubaus als Schnitzwerk verewigte.
==== Über die Jahrhunderte ====
Die weitere Geschichte des Gebäudes liegt weitestgehend im Dunkeln. 1575 verkaufte Justinian Reinisch den Kleinen Engel an Konrad Erhard, der Große Engel wurde 1597 von den Erben Siegfrid Deublingers verkauft.
Offensichtlich ist, dass insbesondere der Große Engel wohl bis ins frühe 19. Jahrhundert alleine durch seine Lage am Römerberg seinen Besitzern durch die Messen und insbesondere die am Platze stattfindenden Krönungsfeierlichkeiten eine stete Einnahmequelle war. Bildlich dokumentiert ist das Gebäude in verschiedenen Krönungstagebüchern, was Rückschlüsse auf den Zeitpunkt der Verschieferung weiter Teile der Fassade zulässt. Das Diarium Leopolds I. von 1658 zeigt das Haus, wenn auch nur sehr grob, als reines Fachwerkhaus in seinem heutigen Zustand. Erst eine Darstellung des Diariums Karls VII. von 1742 gibt das Haus erneut erkennbar wieder, hier ist bereits die gesamte Fassade zum Römerberg verschiefert, die Seite zum Markt noch in Fachwerk gehalten.
Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 und dem nur wenig später erfolgten Verlust der Frankfurter Messe an Leipzig dürfte sich Funktion und Finanzierung der Besitzer des Großen und Kleinen Engels grundlegend geändert haben. Frühe Fotografien ab Mitte des 19. Jahrhunderts zeigen verschiedene einfache Kaufgeschäfte in einem Erdgeschoss-Ladenlokal des Großen Engels.
1905 kaufte die Stadt das Gebäude und ließ es von Stadtbaumeister Felix Grörich restaurieren. Hierbei wurde vor allem das Fachwerk so weit freigelegt, dass zumindest die künstlerisch bedeutsamsten Verzierungen wieder sichtbar wurden. Auch innerlich wurden die Gebäude vereinigt und die Treppe des Großen Engels aus dem Haus entfernt, um mehr Platz zu gewinnen. Von Altstadtvater Fried Lübbecke ist zu erfahren, dass sich im Gebäude bis zum Ersten Weltkrieg die Antiquitätenhandlung des Kunsthändlers Georg Knapp befand. Lübbecke gibt allerdings nicht an, wann Knapp das Gebäude erwarb oder vermutlich nur pachtete. Nachdem Knapp im Krieg gefallen war, bezog ein Töpfereiladen den Großen Engel, der dort Erzeugnisse aus „allen noch erhaltenen Bauerntöpfereien Hessens“ verkaufte.
=== Zweiter Weltkrieg, Wiederaufbau und Gegenwart ===
Bei der Bombardierung Frankfurts am 22. März 1944 brannten der Große und Kleine Engel ebenso wie die gesamte Ostzeile von Brandbomben entzündet bis auf das steinerne Erdgeschoss nieder. Reste fest mit dem Gebäude verbundener, aus seiner Ursprungszeit stammender Innenausstattung, v. a. eine Stuckdecke im zweiten Obergeschoss des Großen Engels, gingen hierbei ebenso wie zahlreiche, teilweise kunsthistorisch äußerst bedeutsame Schnitzarbeiten am Fachwerkteil des Gebäudes unwiederbringlich verloren. Die erhaltenen Gebäudeteile wurden Anfang der 50er Jahre abgetragen und eingelagert. Im Anschluss an der Stelle errichtete Neubauten wurden bereits 1970 für den Bau der U-Bahn-Station „Römer“ wieder abgerissen.
1982 bis 1984 wurde die gesamte Ostzeile des Römerbergs weitgehend originalgetreu rekonstruiert. Der Große und Kleine Engel feierten am 30. April 1983 ihr Richtfest. Während der Große und Kleine Engel aufgrund ihrer gegenüber den anderen Gebäuden überragenden architektonischen Bedeutung noch vergleichsweise gut dokumentiert waren, musste man sich bei den anderen Gebäuden hauptsächlich auf Zeichnungen, Fotos und Luftaufnahmen stützen. Die zuvor voneinander getrennten Innenräume der Teilbauten wurden im Rahmen der Rekonstruktion zusammengelegt, um mehr Platz zu gewinnen. Dies ist dem Gebäude jedoch äußerlich nicht anzusehen und insofern auch historisch korrekt, als je nach Besitzer über die Jahrhunderte zweifellos immer wieder Verbindungen zwischen den Gebäudeteilen hergestellt und geschlossen wurden.
Die Wiedererrichtung insbesondere des Großen Engels mit freigelegtem Fachwerk ohne Verschieferung war umstritten, weil die Verschieferung doch fast 200 Jahre lang sein Bild geprägt hatte. Des Weiteren hatte die Entfernung der Verschieferung des ersten Obergeschosses Anfang des 20. Jahrhunderts sehr reichen Schmuck in den Ständern des Fachwerks offenbart, so dass der Wiederaufbau der darüberliegenden Geschosse mangels einer Dokumentierung etwaigen vergleichbaren Schmucks im heutigen Zustand als spekulativ bezeichnet werden kann.
Weitere Kritik richtete sich gegen den an modernen statischen Anforderungen orientierten Wiederaufbau. Bilder von vor der Zerstörung zeigen das Gebäude, vom Römerberg aus gesehen, deutlich in Nordrichtung bzw. Richtung Markt gekippt. Insbesondere den Ständern des Fachwerks war dieser Umstand anzusehen. Obwohl das Gebäude in dieser Form Jahrhunderte überdauert und so alle moderne Statik ad absurdum geführt hatte, wurde die Rekonstruktion entsprechend dem Zwang der Vorschriften „geradegerückt“. Andererseits war der vorherige Zustand wohl auch das Ergebnis von völlig normalen Senkungen und Verformungen des Holzfachwerks, die sich z. B. in der Dachzone der Rekonstruktion bereits heute wieder zeigen. Auch fällt der Unterschied ohnehin nur bei Vergleich mit Originalfotos bzw. ganz alten Frankfurtern auf, die das Gebäude noch in seiner Vorkriegsversion kannten.
Die Schnitzarbeiten am Gebäude wurden für eine Rekonstruktion äußerst qualitätvoll ausgeführt. Dennoch erreichen auch sie beim direkten Vergleich mit alten Fotos nicht die Anmutung bzw. den Ausdruck der Originalarbeiten aus dem frühen 16. Jahrhundert. Dies fällt z. B. beim direkten Vergleich der Darstellung von Adam und Eva am Eckpfosten des Kleinen Engels, aber auch einiger grotesk ausgefallener Knaggenfiguren auf.
Bereits wenige Jahre nach dem Bau zeigten sich erhebliche Bauschäden, die eine umfangreiche Sanierung erforderlich machten. Die Balken des ersten Stocks mussten mehrere Jahre lang durch Eisenträger abgestützt werden, weil sie sich gesenkt hatten. Die Ursache für die Schäden lag u. a. darin, dass das für den Bau verwendete Eichenholz aus dem Elsass zu kurz gelagert war und sich beim Trocknen verzogen hatte. Dies zeigte, dass die handwerklichen Techniken des hölzernen Fachwerkbaus bei den beteiligten Betrieben inzwischen verloren gegangen waren. Andererseits war die Rekonstruktion eines mittelalterlichen Holzfachwerks in jenen Jahren noch Neuland – vergleichbare, spätere Rekonstruktionsprojekte wie etwa des Knochenhaueramtshauses in Hildesheim 1986 oder der Löwenapotheke in Aschaffenburg 1991–1995 konnten aus den gemachten Fehlern bereits lernen und verliefen reibungslos.
Von August bis November 2010 erfolgte für rund eine halbe Million die erste große Restaurierung des Gebäudes seit seiner Rekonstruktion, bei der auch die Farbfassung verändert wurde. Gegenwärtig befindet sich ein Café mit Souvenirladen im Erdgeschoss, das bei gutem Wetter Sitzgelegenheiten auf dem davor liegenden Römerberg bietet. Des Weiteren ist hier auch ausdrücklich wie schon vor 500 Jahren der Geldwechsel möglich.
== Architektur ==
=== Allgemeines ===
Der mit Erd- und Dachgeschossen sechsstöckige Gebäudeverbund ist architektonisch ein Vertreter des in Frankfurt vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs häufigen, sogenannten Übergangsstils. Das steinerne Untergeschoss mit seinen kleinen Fenstern sowie der Übergang des Erkers in ein achteckiges Türmchen am Großen Engel sind noch vom spätgotischen Stil geprägt. Der Reichtum und die Art der Verzierungen am gesamten Gebäude stehen dagegen bereits unter dem Einfluss der Renaissance. Dies spricht für die Annahme, dass der 1562 erfolgte Neubau das vermutlich ältere steinerne Erdgeschoss weitestgehend aussparte, wie es bei Neubauten im alten Frankfurt öfter der Fall war.
=== Äußeres ===
==== Steinernes Erdgeschoss ====
Der in rotem Mainsandstein ausgeführte Unterbau des Gebäudes beinhaltet neben dem eigentlichen Erdgeschoss ein in alten Frankfurter Bauten häufiges, Bobbelage genanntes Zwischengeschoss. Er ist auf einer Parzelle von insgesamt nur 47 m² errichtet, wobei 25 m² vom Großen Engel und 22 m² vom Kleinen Engel beansprucht werden. In Kapital und Sockel der in Anbetracht der Höhe des Gebäudes filigranen Pfeiler auf Höhe des Erdgeschosses sind Diamantquader gehauen, darüber verläuft ein mehrfach gegliedertes Gurtgesims.
Form und Größe der Fenster sowohl des Erd- wie auch des Zwischengeschosses zeigen noch deutlich den spätgotischen Charakter des Gebäudes (vgl. Schema der Gliederung). Der Sturz der Fenster des Erdgeschosses bildet sich aus drei stumpfwinklig aneinander stoßenden Seiten, die auch in der Rekonstruktion in ihrer unterschiedlich ursprünglichen Erhaltung wiedergegeben sind. Von bester Erhaltung ist das zum Rapunzelgässchen gewandte Fenster des Kleinen Engels. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in verschiedenen Altstadtgassen Frankfurts, allen voran im Tuchgaden, noch geschlossene Häuserzeilen dieser Fensterform, schon damals eine Seltenheit. Im Mittelalter beinhalteten sie Gaden genannte, von den Zunftordnungen vorgeschriebene ausklappbare Verkaufsläden, durch die Handwerker ihre Erzeugnisse direkt aus der eigenen Werkstatt heraus verkaufen konnten.
Im über dem Erdgeschoss liegenden Zwischengeschoss sind die zahlreichen kleinen Fenster mit einer Vorhangbogen genannten Sturzform ausgestattet. Sie bildet sich aus drei verschmolzenen, nach unten gekehrten Kreishälften, die sich in ihrer Profilierung überschneiden. Die sich über die volle Höhe der Fenster herabziehenden Gewände der Fenster haben über etwa 3/4 ihrer Ausdehnung die gleiche Profilierung wie der Sturz. Einzig die zum Rapunzelgässchen gewandten Fenster des Kleinen Engels haben einen gerade verlaufenden, einfachen Sturz. Die Brüstung der Fenster tritt gegenüber den Gewänden sogar zurück und macht klar, dass sie dem Zwischengeschoss rein zweckmäßig zur Beleuchtung dienen.
Die Pfeiler des Erdgeschosses setzen sich, wenn auch gegenüber diesen in der Tiefe zurücktretend, jenseits des Gesimses mit einer einfachen Kassettenprägung fort und laufen unter dem auskragenden Fachwerkgeschoss in aufwändig gearbeiteten Kragsteinen aus. Schon deutlich von der Renaissance geprägt sind sie durch zweifache Unterteilung geschwungen und mittels zahlreicher waagrechter Einschnitte belebt. Über die Mittelachse verläuft ein Perlstab, darüber liegt der eigentliche, durch ein mehrfaches Gesims gegliederte Kämpfer auf, auf dem schließlich die Fachwerkkonstruktion ruht.
Die Eckkragsteine sowohl zum Römerberg (Großer Engel) als auch zum Markt (Kleiner Engel) sind wesentlich massiver gearbeitet, aber auch individueller gestaltet. Beide sind wie die ihnen vorangehenden Pfeiler von kassettenförmiger Prägung, jedoch in ihrer Form pyramidenförmig geschweift. Unter dem Eckkragstein des Großen Engels kauert ein winziges männliches Figürchen mit heiterem Gesichtsausdruck, auf dessen Kopf sich der als einfache Platte ausgeführte, dem Eckkragstein unterliegende Kämpfer befindet (s. Bild).
Mehr eine statisch bedeutsame Rolle traut man dagegen dem Eckkragstein am Kleinen Engel zu, als er sich, nur einem Gesims unterbrochen, direkt über den massiven Pfeilern des Erdgeschosses erhebt. Am unteren Eck des Steins sitzt ein geflügelter Engelskopf, am oberen Ende trennt ihn eine einfache Platte mit Inschrift vom Holz des Fachwerkbaus. Auch ist hier die Zahl 1562 in den Stein gemeißelt – wie schon eingangs erwähnt das Jahr der Errichtung des Gebäudes (s. Bild).
==== Der Fachwerkbau ====
===== Allgemein =====
Die Fachwerkkonstruktion beherbergt drei Vollgeschosse und zwei Geschosse innerhalb des steilen Satteldachs. Die Dachgeschosse haben neben Fenstern zum Markt auch noch je zwei Gauben auf Ost- und Westseite des Dachs. Des Weiteren verläuft auf der zum Römerberg gewandten Westseite ab Höhe des ersten Obergeschosses ein Erker, der auf Höhe des ersten Dachgeschosses von einem achteckigen Aussichtstürmchen mit Spitzhelmaufsatz geschlossen wird.
Das erste sich über dem steinernen Unterbau erhebende Fachwerkgeschoss ragt zu allen Seiten des Hauses kräftig gegenüber diesem vor. Auch das zweite Obergeschoss kragt nochmals, wenn auch nicht so stark wie das vorangegangene, aus. Im dritten Stock betrug die Auskragung am ursprünglichen Gebäude bereits 1,25 m. Dadurch betrug die Grundfläche des Großen Engels hier bereits 36 m², beim Kleinen Engel 29 m², gegenüber dem Erdgeschoss wurden also 18 m² bzw. fast 1/3 der Erdgeschossfläche hinzugewonnen; auch wenn keine genauen Daten bekannt sind scheint die Rekonstruktion hier relativ originalgetreu. Ab diesem Stockwerk setzt sich die Konstruktion zu allen Seiten bis unter das steile Satteldach bei gleich bleibender Tiefe fort. Die Rekonstruktion gibt hier den Vorkriegszustand mit ebenfalls zwei Überhängen authentisch wieder, der sich offensichtlich schon an im 15. Jahrhundert vom Rat der Stadt erlassenen Richtlinien orientierte, höchstens zwei Überhänge zu verbauen.
In seiner eher massiven Wirkung ist das gesamte Fachwerk noch nicht durch die Renaissance befreit, geschwungenere Formen, etwa am Giebel zu verwenden, wie es z. B. bei der Goldenen Waage oder dem Salzhaus der Fall war. So ist der einzige großteilige Schmuck des Fachwerks selbst ein stilisiertes Muster aus Andreaskreuzen, welches sich unterhalb der Fenster vor allem am Großen Engel wiederholt. Dies unterstreicht den einerseits spätgotischen Charakter des Baus, dem andererseits ein enormer Schmuckreichtum entgegensteht, welcher bereits deutlich Ausdruck der anschließenden Stilepoche ist. Diesem im Folgenden beschriebenen Schnitzwerk ist gemein wie besonders, dass es sich um noch völlig unbeeinflusster Volkskunst entstammende Darstellungen handelt. Spätere Renaissancebauten zeigen bereits beginnende italienische Einflüsse. Ob die Darstellungen einst einen tieferen, allegorischen Sinn mit sich trugen, oder schon immer nur reiner Zierde dienten, liegt spätestens seit ihrer Zerstörung und Rekonstruktion im Dunkel der Geschichte.
===== Schnitzverzierungen am Gebäude =====
Das Zierwerk beginnt mit sich über zwei Stockwerke erstreckenden, aufwändigen Schnitzereien am Eckpfosten des Kleinen Engels (s. Bild). Am ersten Obergeschoss ist eine klassische Darstellung von Adam und Eva im Paradies mit zahllosen Details: an der Kante des Pfostens ist der Baum der Erkenntnis dargestellt, links und rechts davon die beiden ersten Menschen. Am Baum windet sich die Schlange entlang, die in der Darstellung gerade eine der zahlreichen Früchte aus der Krone des Baumes zu Eva herabreicht. Links und rechts der Krone sind zwei fantastische Vögel von höchstem Detailgrad zu erblicken. Über den Eckpfosten des darüberliegenden zweiten Obergeschosses scheint der Baum der Erkenntnis gen Himmel strebend fortgesetzt, als hier ein mit reichlich Blattwerk und Früchten behangener Stamm eingeschnitzt ist. Zwischen beiden Darstellungen befindet sich eine groteske Knaggenfigur, wie so oft am Gebäude eine antikisierende, vermutlich Faunen- oder Satyrdarstellung. Hier lugt, so einmalig am ganzen Bau, noch eine zweite Fratze zwischen den Beinen der sich im Vordergrund befindlichen Figur hervor.
1878 störte sich der damalige Besitzer des Gebäudes an der Aufmerksamkeit zahlreicher Altstadtbesucher für sein Haus, die in der Nacktheit der Adam-und-Eva-Darstellung begründet lag. Auf seine Anweisung wurde ein Drahtgitternetz direkt auf den Balken genagelt und dieses anschließend fast vollständig verputzt, um die entsprechenden Schnitzereien des Kleinen Engels zu verdecken. Als man sich im Mai 1900 entschloss, diese Veränderung wieder rückgängig zu machen, wurde das festgenagelte Drahtnetz unfachmännisch entfernt. Auch die durch die Nägel verursachten Löcher und Risse in der Schnitzerei wurde nur auf laienhafte Weise mit Kitt ausgebessert und somit eine der kunsthistorisch bedeutsamsten Verzierungen am Haus irreparabel geschädigt. Die heutige Replik zeigt diesen Makel nicht mehr.
Dem Blick an der zum Markt gewandten Giebelseite des Hauses in gerade Richtung zum Eckpfosten des Großen Engels folgend, erblickt man zwei weitere figürliche Knaggenschnitzereien (s. Bilder). Sie sind bereits dem Großen Engel zuzurechnen. Hier gehen den eigentlichen Knaggen in die Ständer des Fachwerks eingearbeitete Schnitzereien voraus, die von ihren Motiven eher volkstümlich denn als antikisierende Darstellungen erscheinen: die östliche bzw. vom Markt aus gesehen linke zeigt grinsende Figur in Badehose, die westliche bzw. vom Markt aus gesehen rechte einen kauernden, geflügelten Dämonen. Die darüber befindlichen Figuren an den seitlich mit typischen Renaissance-Rollwerk geschmückten Knaggen sind dagegen von völlig menschlicher Natur. Die linke Figur stellt einen Soldaten mit Säbel und Hakenbüchse dar, die rechte Figur eine bäuerliche, durch den zu großen Kopf lustig erscheinende Frau mit einem Huhn auf dem Kopf. Beide sind in die Tracht der Zeit gekleidet.
Das von den vorgenannten Knaggen gestützte Gerähms ist mit Schnitzereien geschmückt, die an einen antiken Triglyphen-Fries erinnern. Umgeben vom Renaissance-Rollwerk erblickt man hier in den Metopen verschiedene fratzenhafte Maskendarstellungen; sie wiederholen sich in Kielbögen über fast allen Fenstern des Großen Engels, insbesondere an der zum Römerberg gewandten Seite. Einzig über den Fenstern am Erker in Höhe des achteckigen Aussichtstürmchens befinden sich am ehesten an Kleeblätter erinnernde Stürze.
Als typische Renaissance-Darstellung erscheint der zum Römerberg gewandte Eckpfosten am Großen Engel (s. Bild). Hier sind von unten nach oben auf der linken Seite verschiedene Musikinstrumente, auf der rechten Seite verschiedene Waffen- und Rüstungsteile zu erkennen. Auffällig ist hier vor allem die Harfe, die eventuell auch eine Verewigung des Miterbauers Hilarius Harpf darstellt, führte er doch eine Harfe im Wappen. Die Darstellungen werden gefolgt von zwei auf einem von Zinnen gekrönten Gebilde marschierenden, einen Beutel auf den gekrümmten Rücken gewuchteten Gestalten. Sie erscheinen als Chimäre, da sie sich über die Kante des Balkens denselben, langbärtigen Kopf teilen. Im Gegensatz zum Kleinen Engel ist hier der Eckpfosten des zweiten Obergeschosses nicht mit Schnitzereien verziert. Stattdessen unterliegen hier gleich drei figürlich vollendete Knaggenfiguren dem Überhang des darüberliegenden Geschosses. Der mittlere zeigt einen Engel mit Zepter in der Hand, bei der Figur links davon scheint es sich um einen Bauern, bei der rechts um einen Wilden Mann zu handeln. Der Wilde Mann erscheint entsprechend als langbärtig, mit Fellbewuchs, einer Keule bewehrt und eher gutmütig dreinblickend; der in ein Gewand der Zeit gekleidete Bauer trägt in der rechten Hand eine geschlachtete Ente, vor seiner Brust in einem umgehängten Netz eine lebende Gans und zeigt sich von vergleichsweise grimmiger Mimik.
===== Erker des Großen Engels =====
Die Spitze der Schnitzkunst am Gebäude ist das Unterteil des zum Römerberg gewandten Erkers am Großen Engel (s. Bilder). Er setzt mit Löwentatzen auf dem das steinerne Erdgeschoss teilende Gurtgesims auf. Weiter nach oben verlaufend entwickeln sich die Löwentatzen zu je einem Akanthusblatt. Darunter werden im weiteren Verlauf vier profilierte Holzstreben sichtbar, die perfekt mit dem Überhang des beginnenden Erkers abschließen. Am oberen Ende sind die Balken als eine Art hölzerner Kragstein ausgeführt, die in meisterhaften Detail Schnitzmasken zeigen, wobei nur eine menschlich erscheint. Die anderen drei Köpfe sind, offenbar passend zum unteren Ende der Holzstreben, löwenähnliche Fabelwesen.
Die Holzstreben teilen die westliche Seite des Erkers in drei Felder ein, wobei eine genaue Beschreibung der zahllosen Ornamente und Ziergegenstände der linken und rechten Felder den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Das mittlere, flächenmäßig größte Feld zeigt einen aus einem Aufbau mit Tor schreitenden Engel mit Spruchband. Über seinem Kopf befindet sich eine Tafel mit einem Bibelzitat, zu seinen Füßen die Wappenschilder von Niklas und Anna Steinmetz (geborene von Höchst). Das linke, durch einen Balken zweigeteilte Schild zeigt im oberen Feld zwei, im unteren einen Hammer; im rechten Schild sind drei Kleeblätter zu sehen.
In der schmalen, zum Markt gewandten Nordseite des Erkerunterteils ist, umgeben von weiterem Zierwerk, ein aus Arkaden herausschauender Engel mit einem Buch in der Hand zu sehen. Unterhalb seiner Darstellung ist eine Tafel mit einem Verweis auf eine weitere Bibelpassage zu sehen. Die gegenüberliegende, ebenso schmale Südseite zeigt ein ähnliches Bild, nur hält hier der Engel in der einen Hand eine Waage, in der anderen ein Schwert – eine typische mittelalterliche Allegorie für göttliche Gerechtigkeit.
Erkerunterbau am Großen Engel
Auffällig am gesamten Erker sind die an holländische Festungsbauten erinnernden Rustika-Quader, die sich in den architektonischen Parts der Schnitzereien wiederholen. Ob hieraus ein Rückschluss auf die Herkunft des unbekannten Schnitzkünstlers gezogen werden kann, sei dahingestellt. Jedoch fällt die Errichtung des Gebäudes auch zeitlich mit der beginnenden Zuwanderung niederländischer Familien nach Frankfurt zusammen. Lübbecke ging dagegen davon aus, dass es in Anbetracht der Zwänge des Frankfurter Zunftwesens der Zeit auf jeden Fall Frankfurter Handwerker waren, die niemals einem auswärtigen oder zugewanderten Berufsständler an einem solchen Großauftrag hätten teilhaben lassen.
Der Schmuckreichtum des Erkers setzt sich noch im darüberliegenden Fachwerkgeschoss fort, als hier alle drei vorhandenen Ständer des Fachwerks in einer ähnlich reichen Weise verziert sind wie der Eckbalken zum Römerberg. Wieder sind typische Ziergegenstände und Rollwerk zu erblicken, am oberen Ende scheinen sich die löwenähnlichen Masken aus den Kopfenden des Erkerunterbaus zu wiederholen. Die folgenden drei Knaggen mit figürlichen Schnitzereien sind wieder typische Satyrdarstellungen, wie sie überall am Gebäude auftreten und bereits beschrieben wurden (s. Bild).
=== Inneres ===
Da über die Innenräume der Rekonstruktion zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts bekannt ist, sei hier weitestgehend der Zustand des Gebäudes von vor der 1944 erfolgten Zerstörung wiedergegeben. Da sich der Wiederaufbau äußerlich am Zustand nach der 1905 erfolgten Renovierung orientierte, dürfte die folgende Schilderung weitestgehend auch auf das Innere des Baus, wie es sich heute darstellt, anwendbar sein.
Der Innenaufbau war sehr einfach gehalten. Nachdem man 1905 die innerlich räumlich voneinander getrennten Gebäudeteile vereinigt hatte, gab es nun auf jedem Geschoss eine große Vorderstube, das Treppenhaus, eine kleine hintere Stube und ein vorderes kleines Zimmer. Letzteres war durch Wegfall des Treppenhauses im Großen Engel entstanden, hatte man es doch bei der 1905 erfolgten Renovierung des Gebäudes im Zuge der Zusammenlegung der Gebäudeteile zugunsten des Treppenhauses im Kleinen Engel entfernt (vgl. Bilder der noch den alten Zustand zeigenden Grundrisse). Im Erdgeschoss war unterhalb der Treppen der Keller zugänglich.
Der Keller des Gebäudes war als Tonnengewölbe ausgeführt und bedeckte eine größere Fläche als das Haus selbst, als er sich zum Römerberg hin noch etwa drei Meter unterirdisch fortsetzt. Von hier aus war er früher durch einen Eingang mit Steintreppe neben der Haustür zu erreichen, heute gibt es offenkundig nur noch den zweiten Zugang, der sich im Hausflur unter der Treppe befindet. Der Keller des Kleinen Engels, von der Bauweise her identisch mit dem des Großen Engels, war schon immer nur durch eine Treppe in seinem Inneren zu erreichen. Ganz offensichtlich wurden spätestens 1905 auch die Kellerräume zusammengelegt, gab es seitdem im Inneren doch nur noch eine Treppe und somit auch nur noch eine Möglichkeit, ihn zu betreten. Die Rekonstruktion dürfte diesen Zustand, sofern der Keller überhaupt noch erhalten ist, relativ originalgetreu abbilden.
Des Weiteren hatte sich bis zur Kriegszerstörung nur noch wenig innere Originalausstattung erhalten, die höchstwahrscheinlich aus Kostengründen nicht in die Rekonstruktion mit einbezogen wurde. Dazu gehörte eine Stuckdecke in der großen Vorderstube des zweiten Obergeschosses (s. Bilder), welche in ihren Motiven von geometrischen Ornamenten eingerahmte Engelsköpfchen zeigte. Auch noch dem frühen 16. Jahrhundert entstammend war eine im spätgotischen Stil gehaltene Tür im Dachgeschoss, die nicht bildlich dokumentiert ist.
=== Inschriften ===
Eine Besonderheit sowohl am Kleinen wie auch am Großen Engel sind die zahlreichen Inschriften am Gebäude, wobei es sich größtenteils um direkte Bibelzitate oder Verweise darauf handelt. Sie sind im Folgenden in ihrer tatsächlichen Schreibweise wiedergegeben, wo die altertümliche Schreibweise des U als V dominiert. Des Weiteren sind Textumbrüche durch Absätze oder „Umknicken“ an Kanten von Gebälk oder Gesims hier durch einen vertikalen Strich angezeigt.
Eine der wenigen mittelhochdeutschen Inschriften umläuft die Kämpferplatte am Kragstein des Kleinen Engels auf drei von vier Seiten und lautet:
DIS HAVS SDEDEDN GOTES| HAND ZVM KLEIN ENGEL IS|T ES GENANTEine sehr ähnliche Inschrift befindet sich auf einem Spruchband in der Hand des Engels, der auf der Westseite des Erkerunterbaus am Großen Engel zu sehen ist. Da das Spruchband aber plastisch ausgeführt ist und sich in der Darstellung mehrfach windet, kann es nicht vollständig abgelesen werden. Aufgrund dessen, was zu lesen ist, lautet der Spruch aber vermutlich, was an dieser Stelle einzig einleuchten würde:
DIS HAVS SDEDEDN GOTES HAND ZVM GROSSEN ENGEL IST ES GENANTAlle weiteren Inschriften am Haus sind in Latein gehaltene Bibelzitate oder Verweise darauf. Dies beginnt mit einer Inschrifttafel über dem Kopf des vorgenannten Engels am Erkerunterbau. Sie gibt ein Teil des ersten Verses des 128. Psalms wieder:
BEATI OES| OVI TIMENT| DNM·PSAL·1·2·2Bei genauerer Betrachtung sieht man, dass dem Holzschnitzer hier ein Fehler unterlief, als sich die genannte Passage („Wohl dem, der den HERRN fürchtet“) in Psalm 128 und nicht in Psalm 122 findet. Die Rekonstruktion gibt den Fehler authentisch wieder.
An der Nordseite des Erkers befindet sich unterhalb eines anderen Engels eine weitere Tafel, der allerdings nur folgenden Verweis auf eine Bibelpassage enthält:
APOCALIP| CAPIT XIIIIVermutlich handelt es sich hierbei um einen Verweis auf Kapitel 14 der Offenbarung, wo in Vers 6 und 7 wieder ein Bezug zu einem Engel und somit zum Hausnamen hergestellt wird:
Und ich sah einen andern Engel fliegen mitten durch den Himmel, der hatte ein ewiges Evangelium zu verkündigen denen, die auf Erden wohnen, allen Nationen und Stämmen und Sprachen und Völkern.
Und er sprach mit großer Stimme: Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre; denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen! Und betet an den, der gemacht hat Himmel und Erde und Meer und die Wasserquellen!Der schließlich längste Bibelspruch verläuft entlang der gesamten Gerähmsbalken zwischen Erdgeschoss und ersten Obergeschoss des Großen Engels. Er beginnt auf der zum Markt gewandten Seite des Großen Engels und endet auf der Seite zum Römerberg erst kurz vor der Stelle, an der das Gebäude an das Nachbarhaus Goldener Greiff stößt. Hier werden insgesamt vier Verse aus dem sechsten Kapitel der Sprüche Salomos rezitiert:
SEX SVNT QVAE ODIT DOMINVS ET SEPTIMVM DETESTATVR ANIMAE EIVS
OCVLOS SVBLIMES LINGVAM MENDACEM MANVS EFFVNDENTES INNOXIVM SANGVINEM
COR MACHINANS COGITATIONES PESSIMAS PEDES VELOCES AD CVRRENDUM IN MALVM
PROFERENTEM MENDACIA TESTEM FALLACEM ET EVM QVI SEMINAT INTER FRATRES DISCORDIASDies bedeutet nach der Übersetzung Luthers:
Diese sechs Dinge hasst der HERR, diese sieben sind ihm ein Greuel
stolze Augen, falsche Zunge, Hände, die unschuldiges Blut vergießen
ein Herz, das arge Ränke schmiedet, Füße, die behende sind, Schaden zu tun
ein falscher Zeuge, der frech Lügen redet, und wer Hader zwischen Brüdern anrichtet
==== Deutung ====
In Anbetracht der zahlreichen Bibelzitate und figürlichen Darstellungen sowohl aus dem Himmel wie auch der Hölle stellt sich die Frage nach der Absicht des Künstlers und der ihn beauftragenden Bauherren. In der Literatur sind verschiedene Ansätze zur Deutung der Gestaltung des Gebäudes aufgezeigt, die mangels überlieferter Informationen aber als reine Theorie anzusehen sind.
Losgelöst vom familiären Hintergrund der Bauherren wäre es durchaus möglich, dass am Gebäude schlicht eine Gegenüberstellung beider fundamentalen biblischen Kräfte erfolgen sollte. Andererseits regte oft ein bereits überkommener alter Hausname die Phantasie der Künstler an, wie es an vielen ehemaligen Baudenkmälern der Frankfurter Altstadt belegt wurde. Dazu kommt die vom Stil noch sehr der klassischen Volkskunst und damit auch dem Volksglauben der Zeit zuzurechnende Ausführung der Zierarbeiten. Somit sprechen die Indizien eher für die These, dass es sich bei allen biblischen Bezügen schlicht um die Merkmale einer vom strengen Glauben geprägten Zeit handelt und die zahlreichen dämonischen Figuren, eher „heidnischem“ Volksglauben folgend, der Abwehr böser Geister vom Haus dienen sollten.
Lübbecke verfolgte einen anderen Ansatz und deutete die Bibelsprüche als von der bauführenden Witwe Burckhardt auf den katholisch gebliebenen Teil der Familie ihres verstorbenen, zum Protestantismus übergetretenen Mannes gemünzt. Und tatsächlich erscheint insbesondere das Zitat aus den Sprüchen Salomos am Haus fast perfekt zu passen, wenn man innerfamiliäre Streitigkeiten infolge der gespaltenen Glaubensverhältnisse unterstellt. Dies dürfte aber in Anbetracht der Zeit außer Frage stehen, war die Gesellschaft im frühen 16. Jahrhundert doch noch stark kirchlich geprägt. Als weiteren Hinweis deutet Lübbecke zusätzlich noch den Verweis auf das Kapitel 14 der Offenbarung, welches als Kampfkapitel der Lutheraner gegen Rom galt.
== Literatur ==
Architekten- & Ingenieur-Verein (Hrsg.): Frankfurt am Main und seine Bauten. [Selbstverlag], Frankfurt am Main 1886, S. 55 (archive.org).
Johann Georg Battonn: Oertliche Beschreibung der Stadt Frankfurt am Main – Band III. Verein für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1864, (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3DQ2YAAAAAcAAJ~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D)
Johann Georg Battonn: Oertliche Beschreibung der Stadt Frankfurt am Main – Band IV. Verein für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1866. (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3DKlkAAAAAcAAJ~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D)
Hartwig Beseler, Niels Gutschow: Kriegsschicksale Deutscher Architektur. Verluste – Schäden – Wiederaufbau. Eine Dokumentation für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Band II: Süd. Panorama Verlag, Wiesbaden 2000, ISBN 3-926642-22-X, S. 830.
Wilfried Ehrlich: Die schwer deutbare Wahrheit über das »Haus zum Engel« . In: Commerzbank AG (Hrsg.): Das Haus zum Engel. Eine Dokumentation herausgegeben von der Commerzbank AG anläßlich der Eröffnung der Geschäftsstelle am Römerberg. Commerzbank, Frankfurt am Main 1985.
Manfred Gerner: Fachwerk in Frankfurt am Main. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1979, ISBN 3-7829-0217-3, S. 22–24.
Rudolf Jung, Julius Hülsen: Die Baudenkmäler in Frankfurt am Main. Dritter Band. Privatbauten. Heinrich Keller, Frankfurt am Main 1914, S. 97–109 (Digitalisat [PDF]).
Fried Lübbecke, Paul Wolff: Alt-Frankfurt. Neue Folge. Verlag Englert & Schlosser, Frankfurt am Main 1924.
Hannah Reeck, Fried Lübbecke: Das Haus zum Engel in Frankfurt am Main. Sieben Stäbe-Verlags- und Druckereigesellschaft, Berlin 1929.
Walter Sage: Das Bürgerhaus in Frankfurt a. M. bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Wasmuth, Tübingen 1959 (Das Deutsche Bürgerhaus 2).
Patricia Tratnik: Das »Haus zum Engel« und die Anfänge des Bankgewerbes in Frankfurt am Main. In: Commerzbank AG (Hrsg.): Das Haus zum Engel. Eine Dokumentation herausgegeben von der Commerzbank AG anläßlich der Eröffnung der Geschäftsstelle am Römerberg. Commerzbank, Frankfurt am Main 1985.
== Quellen ==
== Weblinks ==
Der Große und Kleine Engel. altfrankfurt.com
Großer und Kleiner Engel. In: Virtuelles Altstadtmodell Frankfurt am Main
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fer_und_Kleiner_Engel
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Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97
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= Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97 =
Der Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896/97 gilt als einer der größten Arbeitskämpfe im Deutschen Kaiserreich. Er begann am 21. November 1896, dauerte elf Wochen, umfasste auf dem Höhepunkt fast 17.000 Arbeiter und endete am 6. Februar 1897 mit der vollständigen Niederlage der Streikenden. Die Auseinandersetzung hatte erhebliche Auswirkungen auf die Hamburger Wirtschaft und erregte auch außerhalb Deutschlands Aufsehen. Getragen wurde der Streik vor allem von Arbeitergruppen, die kaum gewerkschaftlich organisiert und deren Arbeitsverhältnisse durch Unstetigkeit gekennzeichnet waren. Ihnen standen gut organisierte Unternehmer gegenüber. Die Geschehnisse waren für Konservative und die Reichsregierung Anlass, zwei Jahre später mit der Zuchthausvorlage eine verstärkte Repressionspolitik gegenüber der Sozialdemokratie zu versuchen.
== Voraussetzungen und Vorgeschichte ==
=== Bedeutung des Hamburger Hafens ===
Hamburg war seit Mitte des 19. Jahrhunderts das führende Handels- und Schifffahrtszentrum Deutschlands. Der Hafen der Stadt war dabei ihr wirtschaftlicher Mittelpunkt. In den Jahren von 1856 bis 1886 verdreifachte sich in Hamburg die Zahl der per Schiff importierten Güter, was vor allem an den intensivierten Handelsbeziehungen mit Lateinamerika lag, nachdem diese Region sich von Portugal und Spanien gelöst hatte. Hinzu kam die Auswanderung nach Amerika. Sie verbilligte die Frachtraten für den Warenverkehr von Amerika nach Hamburg, denn der Frachtraum für die Fahrten von Europa nach Amerika war genutzt und bezahlt.
Das Wirtschaftszentrum Hafen prägte auch die Hamburger Industrie, die stark auf den Export orientiert war. Die Produktion von Gütern mit hoher handwerklicher Qualität spielte hier eine größere Rolle als in Industrieregionen, in denen die Massengüterproduktion vorherrschte. Hinzu kam die Fertigung von Großgütern: den Schiffen auf den Hamburger Werften.
Die Wettbewerbsfähigkeit des Hamburger Hafens wuchs im Kaiserreich. Der Anteil des Hamburger Hafens am Schiffsverkehr in Deutschland, gemessen in Nettoregistertonnen, lag 1873 bei knapp 30 Prozent. Damit war Hamburg unangefochten die Nummer eins der deutschen Hafenstädte. Bremen/Bremerhaven folgte mit einem Anteil von fast 12 Prozent mit weitem Abstand. Hamburgs Anteil wuchs bis 1893 auf über 40 Prozent, um 1911 bei mehr als 44 Prozent anzukommen. Die Häfen an der Weser, immer noch auf Rang zwei, konnten ihren Anteil bis 1911 nur um einen halben Prozentpunkt verbessern. Der große Vorteil des Hamburger Hafens lag in seiner guten Anbindung an das Hinterland. Es gab ein ausgebautes System der Binnenwasser- und Schienenwege von und nach Hamburg. Dieses Hinterland reichte aus Hamburger Sicht über die deutschen Grenzen hinaus. Als Transitstation war der Hafen von großer Bedeutung auch für den Warenverkehr zwischen Teilen Mittel- und Osteuropas und der „Neuen Welt“. Insbesondere die Warenströme aus und nach Österreich-Ungarn, den Staaten des Balkans, Skandinavien und teilweise auch Russland liefen vielfach über Hamburg.
Die Hansestadt bezog einen Großteil ihrer wirtschaftlichen und politischen Kraft aus dem Hafen. Damit lag hier auch ein Potenzial für Verluste, insbesondere, wenn es in der Hafenwirtschaft – beispielsweise durch Streiks – zu Stockungen kam.
=== Gewerkschaftliche Organisation ===
Hamburg war der Mittelpunkt der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung in Deutschland. Die Stadt zählte 1890 84 Gewerkschaften, fast jede Arbeitergruppe hatte hier ihre eigene Organisation, die zusammen mehr als 30.000 Mitglieder vertraten. Ausdruck der herausgehobenen Stellung Hamburgs für die deutsche Gewerkschaftsbewegung war ferner der Umstand, dass die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands ihren Sitz in der Hafenstadt hatte, ebenso eine Reihe von Zentralvorständen der Einzelverbände. Auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) hatte die Elbstadt zu ihrer Hochburg ausgebaut. 1890 eroberte die Partei alle drei Hamburger Reichstagssitze und verteidigte sie bis zum Ende des Kaiserreichs. Allerdings lag 1896 eine schwere Niederlage der Hamburger Arbeiterbewegung nicht weit zurück. Sechs Jahre zuvor hatte es in einer Reihe von Ländern den Versuch gegeben, am 1. Mai die Einführung des Achtstundentages bzw. eine spürbare Arbeitszeitverkürzung zu erstreiken. In Deutschland konzentrierten sich diese Auseinandersetzungen bald auf die Elbmetropole. Die Streikenden sahen sich in den Hamburger Maikämpfen jedoch einem „hochgerüsteten und gut organisierten Unternehmerblock gegenüber, dessen Macht und Entschlossenheit kaum zu unterschätzen war“. Dieser Machtblock verweigerte Konzessionen und reagierte mit Massenaussperrungen und weiteren Sanktionen. Die Niederlage der Streikenden nach wochenlangen Kampfmaßnahmen führte zu einem erheblichen Mitgliederschwund der Hamburger Gewerkschaften.Für diese Entwicklung der Mitgliederzahlen war zudem die sich eintrübende Konjunktur verantwortlich. Der 1891 neu gegründete zentrale Hafenarbeiterverband umfasste zwar alle Arbeitergruppen des Hamburger Hafens und zählte in jenem Jahr etwa 5000 Mitglieder, im Folgejahr waren in ihm jedoch nur noch 1800 Gewerkschafter vereint. Die Hamburger Choleraepidemie von 1892 war für diesen Rückgang mitverantwortlich. Ferner schlug 1892 die Gruppe der Schauerleute einen organisatorischen Sonderweg ein, sie trennte sich vom Zentralverband und gründete den Verein der in Hamburg beschäftigten Schauerleute von 1892, eine selbstständige, lokalistische Organisation. Kritik am Funktionärswesen, an zentralistischen Strukturen, an der Verwendung von Mitgliedsbeiträgen und an der Belastung der Einzelmitglieder durch regelmäßige Mitgliedsbeiträge waren die Gründe, die für die Abspaltung angeführt wurden.
=== Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Hafenarbeiter ===
Die Hafenarbeiterschaft war heterogen. Mindestens 15 verschiedene Berufsgruppen bildeten sich durch die unterschiedlichen Tätigkeiten heraus. Nach der größten Gruppe der Schauerleute fielen die Ewerführer zahlenmäßig ins Gewicht. Sie besorgten den Transport der Waren auf dem Wasserweg von und zu den Seeschiffen. Dazu dienten ihnen sogenannte Schuten. Obwohl sich die Bedeutung der Ewerführerei seit den 1860er Jahren verringerte, weil die Schiffe zunehmend nicht mehr „im Strom“, sondern an den neu gebauten Kais be- und entladen wurden, stellte dieses Gewerbe den wichtigsten Zweig der Hamburger Hafenschifffahrt. Selbst am Kai vertäute Schiffe wurden wasserseitig von Ewerführern gelöscht und beladen, damit die für Reeder unproduktive Liegezeit möglichst kurz blieb. Auch die Kaiarbeiter waren eine große Berufsgruppe. Ihre Verantwortung lag in der Verladung von Frachtgut aus den Schiffen in die Lagerhäuser an den Kais oder auf Fuhrwerke beziehungsweise in Eisenbahnwagen zum sofortigen Weitertransport. Speicherarbeiter bewegten die Waren in den Lagern und beluden die Schuten, die die Waren zu den Schiffen brachten. Neben diesen Berufsgruppen gab es weitere wie Kohlearbeiter, Getreidearbeiter, Kesselreiniger, Schiffsreiniger, Schiffsmaler und Maschinisten. Im weiteren Sinn kamen die etwa 13.000 in unterschiedliche Ränge und Berufe gegliederten Seeleute dazu, die in Hamburg wohnhaft waren.Trotz dieser Binnendifferenzierung gab es eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Oft waren die Arbeiter hohen körperlichen Belastungen ausgesetzt, vielfach in gesundheitsgefährdender und unfallträchtiger Umgebung. Die Arbeit wurde zu jeder Tages-, Nacht- und Jahreszeit verrichtet. Viele der Arbeiter kamen zudem aus dem Gängeviertel, einem beengten Wohngebiet in Hafennähe. Die große Mehrheit war ungelernt und kannte keine dauerhaften Arbeitsverhältnisse. Eine Ausnahme hiervon bildeten die Ewerführer und die Maschinisten, deren Tätigkeit eine mehrjährige Lehrzeit voraussetzte. Weitere Kennzeichen der Arbeit waren die extrem kurzen Beschäftigungsverhältnisse und die abrupten Wechsel zwischen Beschäftigungslosigkeit und tagelanger Arbeit ohne Unterbrechung, die in Spitzenzeiten bis zu 72 Stunden andauern konnte. Einzig die gelernten Kräfte und die Staatskaiarbeiter waren von diesen Wechselfällen unabhängig. Erschwerend kam das Fehlen einer geregelten, behördlich kontrollierten Arbeitsvermittlung hinzu. Die Anwerbung von Arbeitern fand häufig in Hafenkneipen statt, bis ins 20. Jahrhundert hinein die „eigentlichen Zentren der Arbeitsvermittlung“. Die Chance auf Beschäftigung war damit abhängig vom Verzehr und von der persönlichen Beziehung zu Wirten und Agenten. Reeder und Kaufleute wählten die im Hafen benötigten Arbeitskräfte nicht mehr selbst aus, sondern beauftragten damit Zwischenunternehmer, die sogenannten Baase und ihre Vorarbeiter, Vizen genannt. Daneben waren einige Unternehmerverbände in Hamburg dazu übergegangen, in Eigenregie Arbeitsnachweise einzurichten. Auf diese Weise hofften sie, missliebige Arbeiter konsequent von einer Beschäftigung ausschließen zu können. Das „Hamburger System“ der unternehmerdominierten Nachweise verbreitete sich von der Hansestadt ausgehend über ganz Deutschland. Diese Formen der Arbeitsvermittlung fanden in einem Arbeitsmarkt statt, der stets von einem deutlichen Überangebot an Arbeitskräften gekennzeichnet war. Ein weiteres verbindendes Merkmal der Arbeiterschaft war ihr geringer gewerkschaftlicher Organisationsgrad, der sich vor allem aus dem Fehlen einer einschlägigen Berufsausbildung und der hohen Fluktuation ergab. Aus der Unstetigkeit der Anstellungsverhältnisse resultierte zudem die vergleichsweise große Streikneigung der Hafenarbeiter. Sie hatten als Tagelöhner, sofern ein Streik auf wenige Tage begrenzt blieb, den Arbeitsplatzverlust und den Bezug regelmäßiger Einkommen nicht zu fürchten – im Unterschied zu Arbeitern in Dauerbeschäftigungsverhältnissen. Zur relativ hohen Streikneigung trug der geringe Einfluss der Gewerkschaften bei, die den Streik als Ultima Ratio betrachteten und ihm einen langen und komplizierten innergewerkschaftlichen Entscheidungsprozess voranstellten.
=== Gesunkener Lebensstandard ===
Die Lohnvereinbarungen für den Hamburger Hafen stammten überwiegend aus den 1880er Jahren. Erhöhungen gab es danach kaum, häufiger dagegen Absenkungen. Das Arbeitstempo hatte sich seither erhöht, ebenso die Lebenshaltungskosten. Der Zollanschluss Hamburgs hatte 1888 zu einer Reihe von teils massiven Preiserhöhungen geführt. Der im selben Jahr geschaffene Freihafen führte zum Abriss hafennaher Wohnungen, die Grundstücke sollten nun als Industrie- und Gewerbeflächen dienen. Wohnungen von etwa 24.000 Menschen verschwanden. Die Mieten für die verbliebenen Wohnungen in Hafennähe stiegen drastisch an. Eine große Zahl der im Hafen Beschäftigten musste sich in entfernten Stadtteilen wie zum Beispiel Eimsbüttel, Winterhude, Barmbek, Hamm, oder Billwerder Wohnraum suchen. Durchweg waren auch dort höhere Mieten zu zahlen, zudem wurden die Wegezeiten zum Hafen deutlich länger.
== Verlauf ==
=== Prolog ===
Die Chance einer Verbesserung der Einkommenssituation ergab sich erst, als die Konjunktur im Frühjahr 1896 deutlich anzog. Die Arbeitslosigkeit nahm spürbar ab, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg, die Frachtsätze verdoppelten sich, zeitgenössische Beobachter sprachen im August von einem regelrechten Getreideboom, der dazu führte, dass viele Schiffe sich im Hafen drängten. Die Bilanzen der Reeder wiesen erhebliche Gewinne aus. Die Akkord-Schauerleute reagierten im September und Oktober auf die verbesserten ökonomischen Rahmenbedingungen mit zwei kurzen Streiks, die für sie jeweils siegreich endeten. Organisiert wurden die Streiks von der lokalistischen Gewerkschaft Verein der Schauerleute von 1892 unter Vorsitz von Johann Döring. Auch andere Hafenarbeitergruppen waren in diesen zwei Monaten mit Lohnstreiks erfolgreich, so die Kohlearbeiter, die Getreidearbeiter, die Kaiarbeiter und eine Teilgruppe der Schiffsreiniger.Die angespannte Situation verschärfte sich durch die Verhaftung und Ausweisung des auch in Deutschland bekannten englischen Hafenarbeiterführers Tom Mann, der Mitte September 1896 in Hamburg und Altona für die gewerkschaftliche Organisation der Hafenarbeiter werben wollte. Adolph von Elm, Hamburger Gewerkschaftsführer und Reichstagsabgeordneter, der eigentlich die Rede Manns übersetzen sollte, sprang als Redner ein und berichtet über die Verhaftung. Diese von dem Hamburger Polizeisenator Gerhard Hachmann veranlasste Maßnahme wurde auch in weiten Kreisen der unorganisierten Hafenarbeiterschaft als unzulässige und ehrverletzende Einschränkung der Koalitionsfreiheit empfunden. Im Ergebnis erzeugte die Ausweisung das Gegenteil ihrer Absicht: Veranstaltungen, die die Behandlung Manns zum Thema hatten, waren sehr gut besucht, auf ihnen wurden bald auch Lohn- und Arbeitsbedingungen diskutiert. Gelegentlich forderten Redner sogar dazu auf, die Niederlage von 1890 auszumerzen.
=== Beginn und Ausdehnung des Streiks ===
Der zentralistische Hafenarbeiterverband verhielt sich Streikaktionen gegenüber reserviert, die Führer dieses Verbandes hielten den gewerkschaftlichen Organisationsgrad für zu gering, um erfolgreich Streiks durchführen zu können. Zudem fürchteten sie ein Heer von Streikbrechern, weil saisonal bedingte Entlassung von Arbeitskräften der Landwirtschaft und des Baugewerbes bevorstanden. Noch am 12. November 1896 lehnte eine Versammlung von Verbandsmitgliedern eine Solidarisierung mit streikwilligen Stückgut-Schauerleuten ab. Vier Tage später allerdings kippte die Stimmung. Auf einer weiteren Versammlung sprach sich die Mehrheit der Anwesenden gegen den Rat aller Gewerkschaftsfunktionäre für eine Unterstützung der Stückgut-Schauerleute aus. Nach weiteren vier Tagen, am 20. November, wurde der große Streik beschlossen, der in die Geschichte als Hamburger Hafenarbeiterstreik eingegangen ist: Mit überwältigender Mehrheit entschlossen sich auch die Mitglieder des Hafenarbeiterverbands für einen Ausstand ab dem 21. November. Die Unternehmer hatten zuvor zwar ihr Einverständnis zu einer generellen Erhöhung der Löhne signalisiert. Zugleich aber wollten sie die Zuschläge senken, die beim Umgang mit gesundheitsschädlichem Gut gezahlt wurden. Dass der Streik sich zu einem mehrwöchigen Arbeitskampf auswachsen würde, damit rechnete zu diesem Zeitpunkt niemand. Allgemein wurde eine Streikdauer von acht bis 14 Tagen angenommen.Am 21. November 1896 stellten fast alle Schauerleute die Arbeit ein. Die anderen im Hafen beschäftigten Arbeitergruppen begannen in den nächsten Tagen ebenfalls mit Streiks und erhoben Forderungen, die von den Unternehmern strikt abgelehnt wurden. Diese fielen bei den einzelnen Arbeitergruppen unterschiedlich aus. Sie lassen sich im Wesentlichen in solche gliedern, die sich auf den Grundlohn, auf Lohnzuschläge und auf die Arbeitszeit bezogen. Hinzu kann das Eintreten für eine tarifvertragliche Regelung der Arbeitsbedingungen – die Gewerkschaften galten den Unternehmern 1896 keineswegs als Verhandlungspartner in diesen Fragen. Auch die Ausschaltung der Baasen wurde gefordert. Die abschlägigen Antworten der Unternehmer beschleunigten die Ausstandswelle. Ende November wurden mehr als 8.700 Streikende gezählt. Am 4. Dezember waren es bereits fast 12.000. Am 9. Dezember lag diese Zahl bei 14.500, am 21. Dezember bei mehr als 16.400.
=== Organisation des Streiks ===
Die einzelnen Berufsgruppen wählten Streikkommissionen, die in einem etwa 70-köpfigen Zentral-Streikkomitee zusammentraten. Diesem Komitee stand ein fünfköpfiger Vorstand vor, Vorsitzender dieses Lenkungsgremiums wurde der Lokalist Döring. Vertreter des Hamburger Gewerkschaftskartells, also der lokalen gewerkschaftlichen Dachorganisation, waren anfangs nicht beteiligt, ebenso wenig Vertreter der SPD. Allerdings traten sie hinzu, als erste Schlichtungsversuche unternommen wurden. Zu diesen prominenten Arbeiterführern gehörten Carl Legien, Hermann Molkenbuhr, Karl Frohme und Adolph von Elm. Jeder Streikende erhielt eine Streikkarte, die täglich abzustempeln war. Streikposten wurden im Hafen verteilt, um für die konsequente Durchführung des Streiks zu sorgen. Zugleich wurden Barkassen gechartert, um Streifenfahrten durchführen zu können.Entscheidend für die Streikintensität wurde die Organisation von Unterstützungsgeldern. Die finanziellen Mittel des Hafenarbeiterverbands reichten nicht aus, um einen Streik lange aufrechterhalten zu können, noch weniger waren dazu die Mittel der lokalistischen Organisation der Schauerleute angetan. Obwohl das Gewerkschaftskartell bei der Ausrufung des Streiks nicht beteiligt war und in den folgenden Wochen stets auf eine Eingrenzung und Dämpfung des Konflikts hinarbeitete, erkannte es den Ausstand am 27. November an. Es bat die übrigen Gewerkschaften um finanzielle Unterstützungsaktionen. Diese Maßnahmen beschränkten sich nicht auf die Hansestadt, vielmehr wurden reichsweit Spenden akquiriert. Die Unterstützung der Streikenden erreichte dabei ein in Deutschland bis dahin nie erreichtes Niveau. Selbst aus dem Ausland trafen Spendengelder ein, wenngleich in nur begrenztem Umfang – viele Hafenarbeitergewerkschaften des Auslands waren über den Ausbruch des Streiks in Hamburg wenig erfreut. Sie fürchteten, die Entwicklung der internationalen Hafenarbeiterbewegung könne Schaden nehmen. Nicht allein im Sozialmilieu der Arbeiter waren diese Aufrufe erfolgreich. Auch viele kleine Ladenbesitzer unterstützten den Streik, weil Hafenarbeiter den Großteil ihrer Kundschaft stellten. In gleicher Weise ergriffen die „fliegenden Händler“ Partei, die vom Verkauf ihrer Waren auf Barkassen und im Hafengelände lebten. Sie hatten sich bereits am 25. November mit den Streikenden solidarisch erklärt. Sogar der bürgerliche Nationalsoziale Verein bekundete seine Solidarität mit den Hafenarbeitern und organisierte unter seinen Anhängern eine Geldsammlung, die insgesamt 10.600 Mark einbrachte. Die Aufrufe zur finanziellen Solidarität führten dazu, dass ab dem 2. Dezember 1896 jedem Streikenden ein Streikgeld von 8 Mark wöchentlich gezahlt werden konnte, für Ehepartner sowie für jedes Kind gab es einen Aufschlag von je einer Mark. Diese Unterstützungssätze konnten im Verlauf des Streiks zweimal erhöht werden. Für die Dauer des Streiks war von Bedeutung, dass die Höhe der Streikgelder die Unterstützungssätze der öffentlichen Armenanstalt überstieg. Trotzdem war das Streikgeld nicht üppig, wie ein Vergleich mit den Tagelöhnern zeigt. Diese lagen damals zwischen 2 Mark für Kesselreiniger und 4,20 Mark für Schauerleute.Ein weiterer Faktor für die Organisation des Streiks war die gezielte Ansprache der Frauen auf eigens dafür organisierten Massenveranstaltungen. Innerfamiliäre Konflikte und damit ein Abbröckeln der Streikfront sollten auf diese Weise verhindert werden. Diese Taktik war im Zuge von Arbeitskämpfen noch relativ jung und hat sich aus Funktionärssicht rückblickend bewährt. Luise Zietz, die selbst auf Versammlungen von Hafenarbeiter-Frauen agitiert hatte, lobte sie auf dem SPD-Parteitag, der im Oktober 1897 in Hamburg stattfand.
=== Reaktionen im Unternehmerlager ===
Die Antwort der Unternehmer wurde nicht in erster Linie von den direkt betroffenen Arbeitgebern bestimmt, also den Baasen und Reedern. Sie war stattdessen geprägt von der Politik des lokalen Arbeitgeberverbands (Arbeitgeberverband Hamburg-Altona), der vier Jahre zuvor gegründet worden war. Innerhalb dieses Verbands spekulierten die entscheidenden Akteure auf einen raschen Zusammenbruch des Streiks, denn sie kannten die Finanzschwäche der zuständigen Berufsgewerkschaften sehr genau. Aus diesem Grund wurden die Forderungen der Streikenden strikt abgelehnt. Selbst als finanziell stark betroffene Reeder auf eine Lockerung der ablehnenden Politik drängten, konnten sie sich nicht durchsetzen. Auf der Arbeitgeberseite übernahm Hermann Blohm, Chef der Werft Blohm + Voss, die Führung und erklärte die Auseinandersetzung zur grundsätzlichen Machtfrage. Sein Ziel war nicht die Beilegung des Konflikts, sondern der bedingungslose Sieg. Die Gewerkschaften dürften niemals als Verhandlungspartner anerkannt werden.Um den Betrieb im Hafen notdürftig aufrechtzuerhalten und um die Kampfkraft der Streikenden zu unterlaufen, warben die Unternehmer im In- und Ausland Streikbrecher an. Am 7. Dezember 1896 waren etwa 2000 im Hafen tätig. Ihre Ziele erreichten die Arbeitgeber damit nur eingeschränkt: Eine Reihe der Angeworbenen ließ sich durch die Argumente der Streikposten von der Arbeitsaufnahme abhalten. Die Arbeitsproduktivität der Angeworbenen war zudem deutlich geringer, denn sie waren mit den Handgriffen der Hafenarbeit kaum vertraut. Albert Ballin, Direktor der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG), hielt nur die Hälfte der in seinem Unternehmen beschäftigten Aushilfskräfte für brauchbar. Auf den Kaianlagen und in den Schuppen herrschten deshalb chaotische Zustände. Die Zahl der auf Be- und Entladung wartenden Schiffe nahm stetig zu. Die Folgen für andere Wirtschaftszweige waren erheblich, denn es fehlte nun an Rohstoffen und Vorprodukten, die sich in den Schiffen, auf den Kaianlagen und in Schuppen stapelten. Von überallher liefen Beschwerden wegen Lieferverzugs ein.
=== Solidarität mit den Unternehmern ===
Kaiser Wilhelm II. war der prominenteste Fürsprecher einer kompromisslosen Politik gegenüber den Streikenden. Er besuchte am 27. November 1896 Alfred von Waldersee, der im benachbarten Altona als Kommandierender General das IX. Armee-Korps befehligte. Der Kaiser wünschte ein „energisches Eingreifen“ und ermunterte seinen General vor der Abreise: „Fassen Sie nur ordentlich zu, auch ohne anzufragen.“ Wenige Tage später instruierte er den preußischen Justizminister Karl von Schönstedt, staatsanwaltliche Ermittlungen gegen sozialdemokratische Abgeordnete einzuleiten, die in Hafenstädten Solidaritätsmaßnahmen mit den Streikenden in Hamburg organisiert hatten. Seinen seit Mitte August 1896 amtierenden Kriegsminister Heinrich von Goßler wies er an, sich für die Verhängung des Belagerungszustands bereitzuhalten.In ähnlicher Weise äußerte sich auch die Reichsregierung. Karl Heinrich von Boetticher, Staatssekretär im Reichsamt des Innern, behauptete Anfang Dezember 1896 vor dem Reichstag, der Streik der Hafenarbeiter sei unbegründet. Er stützte seine Argumentation dabei auf Lohntabellen, die ihm von Arbeitgeberseite zugespielt wurden. Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, Großunternehmer der saarländischen Montanindustrie und freikonservativer Politiker, machte im Reichstag Stimmung gegen die streikenden Arbeiter. Er hielt diesen Ausstand für das Werk der SPD und der englischen Gewerkschaften, Gedanken an Verhandlungslösungen seien „Mumpitz“. Der Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, eine bedeutende Interessenvertretung schwerindustrieller Unternehmer an Rhein und Ruhr, lobte öffentlich den Dienst, den die Hamburger Arbeitgeber dem Vaterland leisteten, denn „jeder selbst nur scheinbare Erfolg der Arbeiter“ würde die Gefahr internationalistischer Bestrebungen ihrer Organisationen „in bedrohlichster Weise steigern“.
=== Schlichtungsbemühungen ===
Der Hamburger Senat verhielt sich zunächst passiv. Bis Ende November 1896 befasste er sich formell nicht mit dem Streik. Die Polizei allerdings besetzte vom 26. November an das Hafengelände und die Kais. Auch vor Arbeitsnachweisstellen wurden Polizeiposten aufgestellt, die Streikagitation hatte nach dem Willen der Obrigkeit hier zu unterbleiben. Gleichzeitig wurde etwa 1000 Italienern, die gewillt waren, als Streikbrecher zu arbeiten, der Zuzug verweigert. Das Ansinnen von Reedern, Marineeinheiten einzusetzen, wurde ebenfalls abgelehnt. Insgesamt folgte die behördliche Linie in dieser Streikphase einer Vermeidung von Eskalationen.Die Initiative zu einer Verständigung ging nicht vom Senat aus, sondern von bekannten Persönlichkeiten. Senator Gerhard Hachmann, zuständig für die Polizei, Siegmund Hinrichsen, Präsident der Hamburger Bürgerschaft und Dr. Noack, Vorsitzender des Hamburger Gewerbegerichts, starteten am 29. November 1896 einen Kompromissversuch: Ein Schiedsgericht sollte eingerichtet werden. Mitglieder dieses Gremiums sollten neben ihnen selbst ein Arbeitgebervertreter sowie vier Vertreter der Arbeiterseite werden. Alle Seiten sollten vorab Beschlüsse, die von mindestens sechs Schiedsgerichtsmitgliedern getragen wurden, als bindend anerkennen. Die Arbeiter erklärten sich mit diesem Anliegen einverstanden. Anders die Unternehmer. Sie hielten es für das falsche Signal, Arbeitervertreter gleichberechtigt auf eine Stufe mit Vertretern des Bürgertums zu stellen. Ein Schiedsgericht hätte außerdem bedeutet, die Forderungen der Streikenden grundsätzlich als berechtigt anzuerkennen, selbst wenn über Feinheiten der Entgelte und Arbeitsbedingungen noch zu verhandeln war. Die Unternehmerseite spekulierte stattdessen weiter darauf, dass die Zeit gegen die Streikenden arbeiten würde. Die Arbeitgeber hofften auf das, was die Streikenden fürchteten: Die Streikgelder würden langsam versiegen, die Streikbrecher würden sich einarbeiten und auch das Arbeitskräfteangebot würde, bedingt durch die kalte Jahreszeit, merklich zunehmen. Öffentlich sprachen die Unternehmer davon, den Konflikt nicht als ökonomische Interessenauseinandersetzung zu verstehen, sondern als einen „Machtstreit“. Es kam ihnen in dieser Auseinandersetzung auf den entscheidenden Sieg, nicht auf einen Teilerfolg an.
Diese Stellungnahme erbitterte die Streikenden und reduzierte ihrerseits die Bereitschaft zu Kompromissen. Stattdessen rief die Streikleitung nun den Generalstreik über den gesamten Hafen aus. Die sich verfestigenden Fronten, die Streikdauer, die unübersehbaren Probleme im Hafen sowie die finanziellen Streikfolgen bewegten den Senat zum Eingreifen. Er beauftragte am 4. Dezember 1896 eine Kommission von vier Senatoren – Hachmann, William Henry O’Swald, Johann Heinrich Burchard und Alexander Kähler – mit der Erarbeitung eines Lösungsvorschlags. Bei den Streikführern stieß diese Initiative auf Interesse. Ihnen war allerdings daran gelegen, dass im Rahmen der Kompromissfindung das Koalitionsrecht der Arbeiter anerkannt werden würde. Die Unternehmer blieben jedoch bei ihrer ablehnenden Haltung. Der Schiffbauunternehmer Hermann Blohm, einer der Wortführer im Unternehmerlager, machte deutlich, dass der Streik als eine Auseinandersetzung der staatserhaltenden Unternehmerschaft mit der Sozialdemokratie zu verstehen sei. Dieser Partei sei ein vernichtender Schlag beizubringen, wobei man Hilfe des Senats erwarte. Blohm wünschte einen Senatsaufruf, der das Vorgehen der Streikenden nachdrücklich missbilligte. Der Senat entsprach dieser Forderung nicht, sondern sondierte Möglichkeiten, über einen Senatsaufruf zur Wiederaufnahme der Arbeit und zu Verhandlungen zu gelangen. Dem Senat schwebte eine Erklärung vor, wonach nach Wiederaufnahme der Arbeit eine Untersuchung des Senats über die Beschwerden und Forderungen der Streikenden beginnen sollte. Die Arbeitgeber sollten dazu aufgerufen werden, alle Streikenden wieder einzustellen und auswärtige Streikbrecher entsprechend zu entlassen. Die Streikführer waren mit dieser Konzeption ebenso wenig einverstanden wie die Unternehmer. Die Arbeiterführer betonten, dass ein solcher Aufruf keineswegs die Wiedereinstellung der Streikenden und das Ausbleiben von unternehmerischen Repressionsmaßnahmen gegen Streikende garantieren könne. Für die Wiederaufnahme der Arbeit auf einer solch unsicheren Basis zu werben sei aussichtslos. Die Unternehmer ihrerseits wiesen den Gedanken direkter Verhandlungen mit den Gewerkschaften erneut zurück. Zugleich waren sie nicht auf Wiedereinstellung von streikenden Arbeitern festzulegen. Für sie kam allein die avisierte Senatsuntersuchung in Frage, wenn diese auch die Interessen der Unternehmer berücksichtigte. Allerdings forderten sie dafür, der Senat müsse die Kampfmaßnahmen der Arbeiter öffentlich missbilligen. Der Senat lehnte dieses Ansinnen der Unternehmer am 9. Dezember 1896 mit einer Mehrheit von zehn zu sieben Stimmen ab.
=== Fortdauer des Streiks und Wintereinbruch ===
Der Streik dauerte an. Die Behörden neigten jetzt allerdings mehr und mehr der Arbeitgeberseite zu. Sie verboten den Streikenden den Zutritt zum Freihafengelände. Dort, wo Streikende in Gruppen zusammenstanden oder sich in der Nähe von Arbeitswilligen aufhielten, wurden sie von Polizisten auseinandergetrieben. Am 14. Dezember unterband der Senat Haussammlungen für die Streikenden. Die Gewerkschaften umgingen diese Maßnahme allerdings, indem sie Erklärungen verteilen ließen, in denen Spendenwillige die Sammler baten, zur Entgegennahme der Spende regelmäßig zu ihnen in die Wohnung zu kommen. Verdruss und Radikalität unter den Arbeitern nahmen dennoch zu. Teilweise griffen sie zu Sabotageakten. Immer wieder trieben nachts beladene Schuten, Barkassen und andere Wasserfahrzeuge führerlos im Hafenbecken und im Elbstrom. Streikende wurden verdächtigt, einen Dampfer, der Streikbrechern ein Notquartier bieten sollte, versenkt zu haben. Ein Lokal, das einem Schauerbaas gehörte, wurde verwüstet.Der einsetzende Frost arbeitete gegen die Streikenden, denn die damit verbundene zunehmende Arbeitslosigkeit führte zum Absinken des Spendenaufkommens für die Hafenarbeiter. Arbeitslose Schiffer, Maschinisten und andere Arbeitskräfte der Binnenschifffahrt machten den Streikenden Konkurrenz. Außerdem ging das Schiffsaufkommen im Hafen zurück.In dieser Lage gingen die Streikführer am 16. Dezember 1896 erneut auf den Senat zu und baten um Vermittlung. Die Unternehmer konterten, indem sie jede schiedsgerichtliche Lösung ausschlossen – diese wäre ein Sieg der Streikenden. Sie beharrten auf sofortiger Beendigung des Streiks, vorher waren sie nicht zu Gesprächen bereit. Der Senat schwenkte auf die Linie der Unternehmer ein. Auch er forderte am 18. Dezember öffentlich das sofortige Ende des Ausstands, erst anschließend könne es eine Untersuchung der Arbeitssituation im Hafen geben. Irgendwelche Zusagen an die Arbeiter machte der Senat nicht. Dennoch beschloss die Streikführung daraufhin den Abbruch des Streiks zu empfehlen. Sie sah ein Abbröckeln der Streikbereitschaft voraus. Zudem fürchtete sie, Kredite zur Finanzierung des Ausstands aufnehmen zu müssen, was die zukünftige Streikfähigkeit erheblich einschränken würde. Überdies erwartete sie Polizeiaktionen zur Durchsetzung des Streikendes und damit insgesamt eine Niederlage mit einer jahrelangen Lähmung der Arbeiterschaft. Die Streikführung konnte sich in den Streikversammlungen mit dieser Empfehlung nicht durchsetzen. Nur eine Minderheit von 3671 Arbeitern stimmte für das Ende des Streiks. Sie setzte sich überwiegend aus Kaiarbeitern und Ewerführern zusammen, die den Verlust von Dauerbeschäftigungsverhältnissen fürchteten. Die Mehrheit – 7262 Personen – lehnte am 19. Dezember die Empfehlung als Kapitulation ab. Sie glaubte weder daran, dass es keine Repressionen geben würde, noch erwartete sie Substanzielles von einer Senatskommission zur Untersuchung der Arbeitsverhältnisse.
Der Streik wurde über die Weihnachtsfeiertage bis ins neue Jahr fortgesetzt, gleichfalls der Versuch, die Arbeitsniederlegung durch den Einsatz von Streikbrechern zu unterlaufen. Diese konnten an ihre Arbeitsplätze gelangen, weil es den Streikenden nicht möglich war, alle Maschinisten zum Ausstand zu bewegen. Diese Arbeitergruppe hatte schon über Jahre überwiegend Abstand von der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung gehalten. Viele Maschinisten, die täglich isoliert von anderen Arbeitergruppen im Halbdunkel des Maschinenraums arbeiteten, betrachteten sich eher als Kapitäne und Vertrauensmänner der Unternehmer. Die verbliebenen Maschinisten hielten die Beförderung im Hafengebiet jedenfalls notdürftig aufrecht. Die behördlichen Repressalien gegen die Streikenden verschärften sich weiter. Die Zahl der Festnahmen, Strafanzeigen und Strafbefehle gegen Streikende stieg sprunghaft an. Streikgelder wurden beschlagnahmt. Die Behörden verhängten Mitte Januar über das gesamte Hafengebiet den Kleinen Belagerungszustand, sodass es von den Streikenden nicht mehr betreten werden durfte.Weil die Hafenarbeiter Mitte Januar 1897 trotz der mittlerweile mehr als sieben Streikwochen nicht zur Aufgabe bereit waren, begann innerhalb des Unternehmerlagers der Widerstand gegen die harte Linie zuzunehmen. Insbesondere die Reeder und die Exportkaufleute drängten auf eine Änderung der Marschroute. Sie befürchteten, dass ein für die nächsten Tage erwarteter Wetterumschwung zu einem erheblich gesteigerten Bedarf nach Be- und Entladungen neu ankommender Schiffe führen würde. Das hätte die Gewichte wieder zugunsten der Streikenden verschoben. Ein Ende des Streiks sei nach Einsetzen des Tauwetters kaum absehbar, die finanziellen Verluste drohten ins Uferlose zu wachsen. Der Arbeitgeberverband Hamburg-Altona schlug darum dem Senat – nicht den Streikenden – vor, dauerhaft einen behördlichen Hafeninspektor einzusetzen. Er solle künftig die Verhältnisse im Hafen überwachen und – wo nötig – mit Unternehmern und Arbeitern gemeinsam Verbesserungen herbeiführen. Bevor dies geschehe, sei die Wiederaufnahme der Arbeit allerdings Pflicht. Der Senat äußerte sich nicht zu dieser Initiative, wohl aber die Streikleitung. Es missfiel ihr zwar, dass erneut keine Garantien zur Wiedereinstellung, zum Verzicht auf Maßregelungen und zur Berücksichtigung ihrer Klagen und Beschwerden gegeben wurden, sie wollte die Verständigungschance aber nicht verstreichen lassen. Weil direkte Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern jedoch in den Augen der letzteren ein Tabu blieben, trafen sich die gesprächsbereiten Kreise am 16. Januar 1897 in der Hamburger Börse. Die Ausgangslage für einen Kompromiss war verbessert, denn die Unternehmer hatten indirekt Verhandlungen mit Delegierten der Streikenden zugestimmt, zudem war der Ruf nach einem Hafeninspektor eine alte Forderung der Gewerkschaften. Die Vertreter der Streikenden pochten jedoch auf verbindliche Zusagen dafür, dass ihre seit Wochen vorgetragenen Forderungen nach dem Ende des Streiks tatsächlich umgesetzt werden würden. Für die Beilegung der Konfliktpunkte schlugen sie ein schrittweises und zeitintensives Verfahren vor. Trotz der gegensätzlichen Vorstellung über Bedingungen, Verfahren und Inhalte der Verhandlungen schien mit diesen direkten Kontakten ein schiedliches Ende des Konflikts in Reichweite zu sein.
=== Ende des Streiks ===
Eine unvermutete Solidaritätserklärung von dritter Seite sorgte jedoch für eine erneute Verhärtung der Fronten und schließlich zum Scheitern der Einigungsinitiative, die am 16. Januar 1897 in der Börse in Angriff genommen worden war. Liberale Politiker und Hochschulprofessoren appellierten an die deutsche Bevölkerung, die Hamburger Hafenarbeiter zu unterstützen, sie erblickten in den Forderungen der Unternehmer die inakzeptable Absicht, die Gegenseite zur bedingungslosen Unterwerfung zu zwingen. Zu den Unterzeichnern des „Professorenaufrufs“ gehörten unter anderem Friedrich Naumann, Otto Baumgarten, Heinrich Herkner, Ignaz Jastrow, Johannes Lehmann-Hohenberg, Moritz von Egidy und Ferdinand Tönnies. Der Aufruf erbrachte zwar etwa 40.000 Mark an Spenden, die Unternehmer erbitterte diese Intervention jedoch ungemein, sodass innerhalb ihres Verbands nun die Hardliner wieder die Oberhand gewannen. Die Unternehmer lehnten darum am 21. Januar 1897 das von den Streikvertretern vorgeschlagene Verfahren der Konfliktbeilegung ab. Polizeidirektor Roscher betrachtete die Intervention der Professoren als einen „plumpen taktischen Fehler“, denn sie sei „im ungeeignetsten Moment“ gekommen. Die Streikleitung ihrerseits gab angesichts dieser Verhärtung im Unternehmerlager ihre Forderung nach Wiedereinstellung aller Streikenden auf. Dieses Entgegenkommen blieb aber wirkungslos, denn die Unternehmer antworteten nicht mehr auf Gesprächsgesuche.Das Wetter sorgte für eine weitere, erhebliche Schwächung der Streikenden, denn das erwartete Tauwetter blieb aus. Der anhaltende Frost wirkte nun in der von der Streikleitung vorhergesehenen Weise: Die Zahl der zu versorgenden Schiffe blieb weiter klein. Die Zahl der Arbeitslosen stieg, was dem Spendenaufkommen abträglich war – am 26. Januar musste das Streikgeld um 3 Mark gekürzt werden. Durch die Einstellung des Schiffsverkehrs auf der Oberelbe konnten befähigte Arbeitskräfte für die Arbeit im Hamburger Hafen mobilisiert werden. Die lange Streikdauer verbesserte die Arbeitsleistung der Streikbrecher merklich, sie hatten sich mittlerweile eingearbeitet.Ende Januar 1897 riet die Streikleitung darum zur bedingungslosen Einstellung des Arbeitskampfes. 72 Prozent der Stimmberechtigten lehnten diesen Vorschlag in einer Urabstimmung am 30. Januar 1897 ab. Erst eine Woche später, als der Streik nach elf Wochen mit 16.960 Streikgeld-Empfängern seine größte Ausdehnung erreicht hatte, entschied sich die Mehrheit von 66 Prozent der Abstimmenden für die bedingungslose und sofortige Einstellung des Streiks.Noch am Tag der Streikbeendigung kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, insbesondere in der Hamburger Neustadt. Streikbrecher hatten Revolverschüsse abgegeben und damit provoziert, dass sich Tausende am Schaarmarkt sammelten. Sie lieferten der anrückenden Polizei Straßenschlachten. Die Polizeikräfte löste die Menge mit Waffengewalt auf, die Zahl der bei diesen Auseinandersetzungen verletzten Personen wurde auf 150 geschätzt. Auch in den folgenden Tagen kam es zu ähnlichen Tumulten. Ein großer Teil der Streikbrecher verließ unter dem Eindruck dieser offenen Gewalt fluchtartig die Stadt. Das erhöhte für die Streikenden die Chancen auf Wiedereinstellung.
== Ergebnisse und Folgen ==
=== Triumph der Unternehmer und Repressionen ===
Während die Arbeiter eine totale Niederlage zu verdauen hatten, triumphierten die Unternehmer öffentlich. Sie hielten sich zugute, der „internationalen Sozialdemokratie“ einen kräftigen Schlag versetzt und die gestellte „Machtfrage“ für sich entschieden zu haben. Mit der demonstrierten Unnachgiebigkeit habe man nicht allein der Hamburger Wirtschaft und Schifffahrt einen Dienst erwiesen, sondern dem ganzen deutschen Erwerbsleben. Die „bürgerliche Ordnung, auf der das Wohl und Wehe all’ unserer Mitbürger ruht“, habe man zu verteidigen gewusst.Die Reaktionen der Unternehmer beschränkten sich nicht allein auf publizistische Überhöhungen. Die Streikenden erfuhren das, was viele von ihnen befürchtet hatten. Sie wurden nur in seltenen Fällen wieder eingestellt. Viele Unternehmer forderten eine schriftliche Erklärung, mit den Streikbrechern Frieden zu halten. Einige Baase ließen sich die Nachweise der Gewerkschaftsmitgliedschaft aushändigen und zerrissen sie. Viele Arbeiter mussten geringere Löhne als vor dem Streik akzeptieren. Auch der Staat kannte als Arbeitgeber kein Pardon. Zunächst wurde keiner, der von den Staatskaiarbeitern gestreikt hatte, wieder eingestellt. Später mussten Wiedereingestellte schlechter bezahlte Stellen als Hilfsarbeiter akzeptieren. Der Posten des Kaidirektors wurde nach Ende des Streiks mit einem ausgewiesenen Gegner der Sozialdemokratie besetzt.
=== Strafjustiz ===
Die Staatsanwaltschaft sorgte für gerichtliche Nachspiele. Mehr als 500 Streikende wurden angeklagt. Vorgeworfen wurden ihnen Bedrohung, Ehrverletzung, Misshandlungen oder Aufruhr. 126 der Angeklagten wurden bis Ende 1897 verurteilt. Die Gefängnisstrafen summierten sich auf über 28 Jahre. Hinzu kamen 227 Verurteilungen zu Geldstrafen.
=== Liberale und konservative Schlussfolgerungen ===
Liberale Politiker sahen durch den Streik und seinen Ausgang die Notwendigkeit bestärkt, Schiedsgerichte und Schlichtungsstellen verbindlich vorzuschreiben. Mit diesem Instrument ließe sich die Eskalation von Arbeitskämpfen vermeiden. Konservative erblickten in den Ereignissen dagegen eine Chiffre für einen bevorstehenden Umsturz. Vor diesem Hintergrund seien konsequente Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie notwendig. General Waldersee hielt die gewaltsame Auseinandersetzung des Staates mit den Kräften des Umsturzes für unausweichlich und riet dem Kaiser in einer Denkschrift, nicht zu warten, bis der Staat ernstlich bedroht war. Stattdessen sollte präventiv gegen die Sozialdemokratie losgeschlagen werden. Zumindest aber seien Gesetze zu erlassen, die die Organisation der Massen erschweren und Arbeiterführer massiv bedrohen würden. Wilhelm II. stimmte diesen Überlegungen zu und forderte seinerseits die Vernichtung der Sozialdemokratie. 1899 legte der Staatssekretär im Reichsamt des Innern dem Reichstag die sogenannte Zuchthausvorlage vor, die die Wirkungsmöglichkeiten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung durch massive Strafandrohungen einschränken sollte. Diese Gesetzesinitiative scheiterte jedoch an der Reichstagsmehrheit.
=== Gewerkschaftliche Organisation nach dem Streik ===
Die Streikführer betrachteten es als Defizit, dass Tausende von nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitern über den Beginn bzw. das Ende des Streiks mitentscheiden durften. Wäre das Mitentscheidungsrecht an eine Gewerkschaftsmitgliedschaft geknüpft gewesen, hätte sich vielleicht ein günstigerer Ausgang des Streiks ergeben – so die Annahme. Die schlimmste Befürchtung der Streikführer, die zugleich die größte Hoffnung der Unternehmer war, trat jedoch nicht ein: Die Hafenarbeiter demoralisierte ihre Niederlage nicht, sie begannen stattdessen, massenhaft in die Gewerkschaft einzutreten. Ende 1897 wurden über 6700 Mitglieder gezählt. Die Schauerleute gaben zudem ihren Lokalismus auf und schlossen sich wieder dem Hafenarbeiterverband an. Die Neigung zu Streiks sank jedoch vor dem Hintergrund der Niederlage von 1897 merklich. Ferner zerschlugen die Repressionsmaßnahmen nach dem Ende des Streiks den gewerkschaftlichen Einfluss unter den Staatskaiarbeitern. Gegenläufig zum Trend sank in dieser Arbeitergruppe der Organisationsgrad erheblich.
=== Maßnahmen des Hamburger Senats ===
Der Hamburger Senat ließ sich nicht auf die scharfe Repressionspolitik ein, die Waldersee dem Kaiser angeraten hatte. Stattdessen bekräftigte er die Notwendigkeit einer schrittweisen Sozialreform. Bereits am 10. Februar 1897 wurden dazu erste Maßnahmen beschlossen. Der Senat berief eine Kommission, die die Verhältnisse im Hafen durchleuchten sollte. Diese Arbeitsgruppe widmete sich eingehend den Beschwerden der Arbeiter und ließ auch Stellungnahmen der Gewerkschaften zu, was nichts anderes bedeutete als ihre indirekte Anerkennung durch den Staat. Der vorgelegte Abschlussbericht schonte die Leser nicht, sondern wies deutlich auf die Missstände der Hafenarbeit hin. Ferdinand Tönnies bezeichnete den Abschlussbericht als nachträgliche Rechtfertigung für den Streik.Die Arbeitgeber setzten einige – nicht alle – Anregungen der Untersuchung um. Löhne wurden fortan nicht mehr in den Kneipen ausgezahlt, sondern in Lohnbüros. Der Verein der Hamburger Reeder richtete einen zentralen Arbeitsnachweis ein, um auch hier die Abhängigkeit von Wirten und Zwischenunternehmern zu verringern. Die Tarife für den Fährverkehr im Hafen wurden verbilligt. Die Unternehmer stimmten auch dem Vorschlag zu, das Amt eines Hafeninspekteurs zu schaffen.Zu den Folgen des Streiks gehörte ferner, die Sanierung des Gängeviertels in Angriff zu nehmen. Dieses Quartier galt nicht nur als Ort des Elends und des Lasters, sondern auch als Hort politischer Widersetzlichkeit. Die Sanierung zog sich allerdings über Jahrzehnte hin. Anfängliche sozialpolitische Überlegungen, die Wohnqualität für die ortsansässige Arbeiterbevölkerung zu steigern, spielten dabei rasch keine Rolle mehr, denn die wirtschaftlichen Interessen der Grundeigentümer, die in der Hamburger Bürgerschaft dominierten, setzten sich fast ungebrochen durch.
=== Arbeitsbedingungen, Arbeitslöhne, Arbeitswege ===
Die Forderung nach einer Beschränkung der Arbeitszeit war gegen die Unternehmer nicht durchsetzbar. Auch ließen sie es sich nicht nehmen, jederzeit Nachtarbeit anordnen zu können. Erst 1907 wurde Schichtarbeit eingeführt, überlange Arbeitszeiten von bis zu 72 Stunden gehörten mehr und mehr der Vergangenheit an. 1912 wurde ein Normalarbeitstag von neun Stunden festgelegt, in der Praxis wurde allerdings oft länger gearbeitet. Auch die körperlichen Anstrengungen und die Gefahr von Arbeitsunfällen und gesundheitlichen Dauerbeeinträchtigungen blieben ständige Begleiter der Hafenarbeit.Die Löhne wurden nur in einigen Bereichen erhöht, nicht aber durchgängig. Vielfach kam es zu Lohnsenkungen. Nach 1898 stagnierten die Löhne bis 1905. Auch als sie danach anzogen, blieben sie hinter dem Anstieg der Lebenshaltungskosten zurück.Der Bau des Elbtunnels brachte 1911 eine Verkürzung des Arbeitswegs mit sich. Noch wichtiger war im selben Jahr die Gründung der Hamburger Hochbahn, die für körperliche Erleichterungen und erhebliche Zeitgewinne auf dem Weg zwischen den Wohnquartieren und den Arbeitsstätten an der Elbe sorgte.
=== Dauerbeschäftigungsverhältnisse und Tarifverträge ===
Der Hafenarbeiterstreik wurde wesentlich durch unstetig beschäftigte Arbeiter getragen. Die Unternehmer zogen daraus in den Jahren nach dem großen Streik den Schluss, dauerhafte Arbeitsplätze anzubieten, um sich auf diese Weise eine höhere Loyalität der Arbeitskräfte zu sichern und um die Identifikation der Arbeiter mit der Tätigkeit und dem Betrieb zu stärken. Zumindest aber wollten sie über solche Arbeitskräfte verfügen, die vor einem Streik länger zurückscheuten, weil der Verlust eines Dauerarbeitsplatzes ein deutlich höheres Risiko barg als der Verlust einer nur tageweisen Beschäftigung. Vorreiter dieser Entwicklung waren die Kohlenimporteure und die HAPAG sowie ab 1906 die Hafenunternehmen, die sich zum Hafenbetriebsverein zusammenschlossen und denen es gelang, fast die gesamte Arbeitsvermittlung im Hafen durch ihren Arbeitsnachweis unter ihre Kontrolle zu bringen. Dieser Arbeitsnachweis wurde vor dem Ersten Weltkrieg zu einer Bastion der Unternehmermacht im Hafenbetrieb und zum größten Arbeitsvermittlungssystem in Deutschland.Dem Abschluss tarifvertraglicher Regelungen verweigerten sich die Unternehmer noch einige Zeit. Aber schließlich setzte auch hier ab 1898 schrittweise ein Umdenken ein. Die Macht der Gewerkschaften sei nicht zu übersehen, geschweige denn zu brechen. Statt eines gärenden Kleinkriegs sei ein Arbeitsfrieden auf kollektivvertraglicher Basis die bessere, weil stabilere und letztlich kostengünstigere Lösung. 1913 war das gesamte Hafengebiet tarifvertraglich erfasst.
== Rezeption nach Ende des Streiks ==
=== Zeitgenössische Analysen ===
Die Härte des Arbeitskampfes hat schon Zeitgenossen veranlasst, umfangreichere Schriften zum Hafenarbeiterstreik zu verfassen. Dazu gehört die auf Polizeiakten beruhende amtliche Darstellung, die Gustav Roscher, wenig später Hamburgs Polizeipräsident, fertigte. Carl Legien schilderte die Vorgänge dagegen aus der Perspektive der Generalkommission.
Auch sozialwissenschaftliche Untersuchungen wurden sofort nach Streikende vorgelegt. Dazu zählen die Arbeiten von Richard Ehrenberg und Ernst Francke sowie vor allem die Darstellungen des Begründers der deutschen Soziologie Ferdinand Tönnies.
=== Forschung ===
Mit deutlichem zeitlichen Abstand wurde der Streik zum Gegenstand einiger universitärer Abschlussarbeiten und Dissertationen.Der Historiker Hans-Joachim Bieber hat zwei Studien zum Streik vorgelegt. Die erste stellt den Streikverlauf dar und arbeitet dabei die Reaktionen des Hamburger Senats heraus. Die zweite widmet sich in kompakter Form den Streikursachen, dem Streikverlauf und den Streikfolgen. Auch Michael Grüttner hat eine knappe Einzelstudie zum Hafenarbeiterstreik veröffentlicht. Der Historiker untersucht dabei die soziale Zusammensetzung der Hafenarbeiterschaft, ihre ökonomische Situation und ihr Organisations- und Streikverhalten, um die gewonnenen Erkenntnisse auf die Charakteristika des Streiks zu beziehen. Das Streikgeschehen wird in einer weiteren Untersuchung Grüttners, seiner Dissertation, eingebettet in die umfassende Betrachtung der Arbeits- und Lebensverhältnisse „an der Wasserkante“. Grüttner zeigt dabei, dass diese Verhältnisse zum einen Unterbeschäftigung und Armut erzeugten, zum anderen aber auch Freiheitsräume eröffneten, die über Jahre hartnäckig gegen die disziplinierenden Ansprüche industrieller Arbeit verteidigt wurden. Der Arbeitskampf von 1896/97 ist nach Grüttner nur ein Glied in einer langen Kette von Konflikten zwischen Hafenarbeitern und Unternehmern um Arbeitsbedingungen und Machtverhältnisse im Hafen. Die Studie macht zudem auf die ausgeprägte Konfliktfähigkeit der Hamburger Hafenunternehmer aufmerksam. Ihnen gelang es, bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges alle zentralen Auseinandersetzungen für sich zu entscheiden, ohne damit aber endgültig alle Streikbewegungen und freigewerkschaftlichen Gegenmacht-Bestrebungen unterbinden zu können.
=== Fiktonalisierungen ===
Georg Asmussen, lange Zeit Ingenieur bei Blohm + Voss, baute den Streik in seinen 1905 erschienenen Roman Stürme ein, in dem insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Streikenden und Streikbrechern thematisiert wird. Der Protagonist Hans Thordsen, selbst auf Seiten der Streikenden tätig, kritisiert vor allem, dass das Solidaritätsprinzip von wenig arbeitswilligen Drohnen ausgenutzt und missbraucht werde.
Eine andere Vermittlungs- und Deutungsform dieses Arbeitskampfes wählte der Regisseur Werner Hochbaum. Er drehte 1929 in Hamburg den Stummfilm Brüder, der die Ereignisse von 1896/97 in Erinnerung rufen wollte.
== Anhang ==
=== Literatur ===
==== Quellen und Literatur zum Streik ====
Hans-Joachim Bieber: Der Streik der Hamburger Hafenarbeiter 1896/97 und die Haltung des Senats. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Jg. 64 (1978), S. 91–148. Digitalisat
Hans-Joachim Bieber: Der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97. Landeszentrale für Politische Bildung, Hamburg 1987 (Nachdruck aus Arno Herzig, Dieter Langewiesche, Arnold Sywottek (Hrsg.): Arbeiter in Hamburg. Unterschichten, Arbeiter und Arbeiterbewegung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Verl. Erziehung u. Wissenschaft, Hamburg 1983, ISBN 3-8103-0807-2).
Richard Ehrenberg: Der Ausstand der Hamburger Hafenarbeiter 1896/97. Jena 1897.
Michael Grüttner: Der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97. In: Klaus Tenfelde und Heinrich Volkmann (Hrsg.): Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung. C.H.Beck, München 1981, S. 143–161, ISBN 3-406-08130-4.
Michael Grüttner: „Alle Reeder stehen still ... “ Dokumente zum Hamburger Hafenarbeiterstreik. In: Hellmut G. Haasis: Spuren der Besiegten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1984, Bd. 3, S. 869–887.
Carl Legien: Der Streik der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg-Altona. Darstellung der Ursachen und des Verlaufs des Streiks, sowie der Arbeits- und Lohnverhältnisse der im Hafenverkehr beschäftigten Arbeiter. Verlag der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Hamburg 1897. (Digitalisat)
Hannelore Rilke: Arbeitskampf und öffentliche Meinung. Der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97 aus bürgerlich-liberaler Sicht. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister Artium der Universität Hamburg, Hamburg 1979.
Johannes Martin Schupp: Die sozialen Verhältnisse im Hamburger Hafen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der hohen philosophischen Fakultät der Königlichen Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel 1908.
Udo Achten, Bernt Kamin-Seggewies. Curt Legien: Kraftproben. Die Kämpfe der Beschäftigten gegen die Liberalisierung der Hafenarbeit. „Der Streik der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg-Altona“ von 1896/97. VSA, Hamburg 2007 ISBN 978-3-89965-263-5.
Ferdinand Tönnies: Schriften zum Hamburger Hafenarbeiterstreik. Hrsg. von Rolf Fechner, Profil, München 2011, ISBN 978-3-89019-660-2.
==== Weiterführende Literatur ====
Michael Grüttner: Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1886–1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Bd. 63). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984, ISBN 3-525-35722-2.
Dieter Schneider: … damit das Elend ein Ende hat. Hundert Jahre Zentralorganisation der Hafenarbeiter. Verlagsanstalt Courier GmbH, Stuttgart 1990.
=== Einzelnachweise ===
=== Weblinks ===
Hamburger Hafenarbeiterstreik, Deutschlandfunk-Kalenderblatt am 21. November 2021 von Historiker Bernd Ulrich
Bernhard Röhl: „Ditmal strikt wi för wat anneres“ – Artikel in der tageszeitung vom 11. März 2002 über den Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896/97
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hamburger_Hafenarbeiterstreik_1896/97
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High-Deck-Siedlung
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= High-Deck-Siedlung =
Die High-Deck-Siedlung ist eine Großsiedlung mit rund 6000 Bewohnern im Berliner Ortsteil Neukölln des gleichnamigen Bezirks. Die Siedlung entstand in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus. Das städtebauliche Konzept wandte sich gegen die bauliche Dichte der übrigen Berliner Großsiedlungen mit aneinandergereihten Hochhäusern wie im Märkischen Viertel oder der Gropiusstadt und setzte auf eine baulich-funktionale Trennung von Fußgängern und Autoverkehr. Hochgelagerte, begrünte Wege (die namensgebenden „High-Decks“) verbinden die überwiegend fünf- bis sechsgeschossigen Gebäude, die über rund 2400 Wohnungen verfügen. Die Straßen und Garagen mit mehr als 1000 Stellplätzen liegen unter den High-Decks. Spätestens 25 Jahre nach dem Bau galt das als innovativ gepriesene Konzept der Siedlung bereits als gescheitert.
In den 1970er Jahren waren die Wohnungen wegen ihres Zuschnitts begehrt und Inbegriff für zeitgemäßes Wohnen am grünen Rand West-Berlins. Die Wohnungen lagen unweit der Berliner Mauer an der Grenze zum Ost-Berliner Bezirk Treptow. Nach der politischen Wende und dem Mauerfall verlor das Quartier seine ruhige Grenzlage, büßte an Attraktivität ein und entwickelte sich in den 1990er Jahren durch Segregation zum sozialen Brennpunkt. 2007 lebte mehr als die Hälfte der Einwohner von Transferleistungen. Mit der Einrichtung eines Quartiersmanagements und weiteren Sozial- sowie Kunstprojekten versucht die Stadt Berlin gegenzusteuern und die Siedlung wieder aufzuwerten.
Seit November 2020 steht die High-Deck-Siedlung unter Denkmalschutz.
== Lage und Baugelände ==
Das 32 Hektar umfassende Areal der High-Deck-Siedlung liegt zu beiden Seiten der Sonnenallee im Berliner Bezirk Neukölln des gleichnamigen Ortsteils. Ein über die stark befahrene Sonnenallee geführtes Brückenhaus aus dem Jahr 1982, das „Eingangstor der Siedlung“, verbindet die beiden Siedlungsteile. Die Neuköllnische Allee begrenzt das Quartier im Südwesten. In nordwestlicher Richtung bilden der Von-der-Schulenburg-Park an der Hänselstraße und der Herbert-Krause-Park mit dem benachbarten Ausbildungszentrum des Naturschutz- und Grünflächenamtes Neukölln (NGA) (ehemalige Städtische Gärtnerei) an der Jupiterstraße die Grenze. Den Abschluss nach Osten und Nordosten markiert der Grünzug Heidekampgraben, auf dem der Berliner Mauerweg verläuft. Der Heidekampgraben bildet die Grenze zwischen Neukölln und dem Ortsteil Baumschulenweg des Bezirks Treptow-Köpenick. Bis zur deutschen Wiedervereinigung verlief entlang des Grabens die Grenze zwischen West- und Ost-Berlin.Das Siedlungsgelände gehörte zur Köllnischen Heide, einem ehemals ausgedehnten Wald- und Wiesengebiet im sandig-morastigen Berliner Urstromtal. Die der Siedlung östlich des Britzer Verbindungskanals benachbarte Königsheide bildet ein Relikt dieser Waldgebiete südlich der Spree. Im späten Mittelalter wurden die Talflächen der Spree besiedelt und weite Bereiche der Köllnischen Heide als Weideland genutzt. Mit der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung wurden große Flächen für den Wohnungs- und Industriebau gerodet. Bis zum Beginn der 1970er Jahre gehörte das Areal der späteren High-Deck-Siedlung zu Berlins größtem zusammenhängenden Kleingartengelände in den Bereichen Köllnische Heide, Baumschulenweg und Johannisthal und war von einigen Industrie- und Gewerbebetrieben umgeben. Zum Baubeginn befanden sich auf dem Gelände rund 750 Schrebergartenparzellen, die der Siedlung weichen mussten. Am nordwestlichen Rand des Gebietes bestehen seit den 1950er und 1960er Jahren ein Kirchsaal mit freistehendem Glockenturm und eine Kindertagesstätte der Tabea-Gemeinde der evangelischen Kirchengemeinde Rixdorf im Kirchenkreis Neukölln (Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz). Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bezieht das Gemeindegelände in das Quartiersmanagementgebiet High-Deck-Siedlung ein.
== Städtebauliches Konzept ==
Die Teilung der Stadt durch den Mauerbau 1961 hatte in West-Berlin zu einem Mangel an Baugelände geführt, sodass mehrere Großwohnsiedlungen in Stadtrandlage errichtet wurden. Nach der weitgehenden Fertigstellung der Gropiusstadt (1962–1975) zwischen den alten Siedlungen Britz, Buckow und Rudow und des Märkischen Viertels (1963–1974) in Wittenau fiel in den 1970er Jahren die Entscheidung für zwei weitere Neubaugebiete: die Dammwegsiedlung und die Weiße Siedlung an der Neuköllner Aronsstraße (1972–1974) sowie die High-Deck-Siedlung.
=== Hintergrund und Wettbewerb ===
Für die High-Deck-Siedlung schrieb der West-Berliner Senat 1970 einen städtebaulichen Wettbewerb aus. Die Ausschreibung und die Wahl des Geländes am Rand der Köllnischen Heide galten als Politikum. Die zum Teil im Gewerkschaftsbesitz befindliche Berliner Fertigbau stand nach der weitgehenden Fertigstellung des Märkischen Viertels ohne Aufträge da. Zur Vermeidung von Entlassungen verschaffte der Senat der Fertigbauindustrie mit der Ausschreibung neue Absatzmöglichkeiten. Das Werk der Berliner Fertigbau lag passenderweise direkt neben dem Schrebergartengelände, dem späteren Standort der Siedlung. Der Wettbewerbsjury gehörten zudem Vertreter des Werks an, die die eingereichten Entwürfe auf ihre Möglichkeiten zur seriellen Fertigung hin prüften.
=== Siegerentwurf – Abkehr von der „Urbanität durch Dichte“ ===
Die Wettbewerbsjury entschied sich 1970 für den zu dieser Zeit innovativen Entwurf der Architekten Rainer Oefelein und Bernhard Freund. Zwar folgten rund drei Viertel der eingereichten Entwürfe dem in Berlin bis dahin gängigen Hochhaus-Konzept der Urbanität durch Dichte und autogerechten Stadt und entsprachen damit eher den Produktionserfordernissen der Berliner Fertigbau, doch setzten sich die fortschrittlicheren Jurymitglieder durch. Nach der in weiten Kreisen aufkommenden Hochhauskritik war die Zeit laut Darstellung des Architekturhistorikers Heiko Haberle reif für eine städtebauliche Trendwende und einen neuen Entwurf einer autarken, familien- und kindgerechten Stadt in der Stadt. Zudem erschien der Siegerentwurf kostengünstig.
Das serielle Fertigungsverfahren, nach dem die Berliner Fertigbau arbeitete, stammte aus den 1950er Jahren und bot mit relativ kleinen Spannweiten und Fassaden, die die Lasten nach unten abtrugen, nur sehr beschränkte architektonische Gestaltungsmöglichkeiten, sodass es bei dem Siegerentwurf zu erheblichen Änderungen kam. Die im Konzept vorgesehene Terrassierung der Wohnungen war nicht durchzuführen und die Fassaden konnten nur in Waschbeton oder Fliesenform ausgeführt werden. Der Bau erfolgte ohne Gerüst und damit gab es keine Gelegenheit, nach dem Einbau an die Fassaden heranzukommen. Da die Architekten befürchteten, dass die Fliesen bald wieder abfallen könnten, entschieden sie sich für den Waschbeton. Darüber hinaus verhinderte der Kostendruck der Wohnbauförderungsbestimmungen, die Vorstellungen von Oefelein und Freund zur Nutzung des Treppen- und Rampensystems über den Straßen auch als Kommunikations-, Erholungs- und Spielbereich komplett umzusetzen. Beispielsweise wurden bereits eingekaufte Pflanztröge für die Brüstungen wieder gestrichen, da ihre Wartung zu teuer erschien. Dennoch wurde das Konzept in der Öffentlichkeit als positives Beispiel neuen Wohnungsbaus gelobt. Zwar gab es in England Vorbilder zur Trennung des Auto- und Fußgängerverkehrs, die hier vorgesehene und dann auch realisierte flächendeckende Stapelung der beiden Verkehrsebenen stellte im europäischen Siedlungsbau laut Haberle jedoch eine typologische Innovation dar.
== Bauausführung ==
Der Bau der Siedlung erfolgte zwischen 1975 und 1984, die ersten Wohnungen waren 1976 bezugsfertig. Bauherr war die Stadt und Land Wohnbauten-Gesellschaft mbH (kurz: Stadt und Land), eine Tochtergesellschaft der zu dieser Zeit stadteigenen Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft Berlin mbH (GSW). Die Baubetreuung lag bei der GSW, die Ausführung weitgehend bei der Berliner Fertigbau. Die Gesamtkosten waren auf 400 Millionen Mark veranschlagt.
=== Die High-Decks ===
Nach dem Konzept von Oefelein und Freund erstellte die Gesellschaft Stadt und Land 2019 Wohneinheiten und 414 Parkplätze unter den Decks sowie 309 Garagenplätze. Die Garagenplätze liegen in den Kellergeschossen der Wohnungen, die Straßen befinden sich auf Höhe der Kellergeschosse. Die High-Decks sind jeweils in der Straßenraummitte als Fußgängertrassen aufgeständert und von den Straßen und Grünanlagen durch Rampen und Treppen zugänglich. Von den zentralen, 3,33 Meter hohen und zehn Meter breiten High-Decks führen um einen weiteren Meter höher liegende, schmale Brückenstege zu den Haupteingängen der Wohnblocks.
Insgesamt wurden zehn High-Decks angelegt, je fünf südlich und nördlich der Sonnenallee. Dabei sind über drei Straßenzügen je zwei Decks hintereinander und über einer Straße drei Decks hintereinander angeordnet, die durch schmalere Stege auf gleicher Höhe verbunden sind. Ein High-Deck liegt isoliert. Jedes Deck hat eine Länge von rund einhundert Metern. Hinzu kommen einige kleinere Brückenstege, die die Deckzeilen in Querrichtung verbinden. Das Gesamtsystem besteht aus etwa einhundert einzelnen Brücken. Jedem Deck ist beidseitig ein Wohnblock zugeordnet, sodass 20 langgestreckte Blocks die Siedlung im zentralen Deckbereich prägen.
=== Baukörper und Wohnungen ===
Die Zeilen der Wohnanlage sind zur optimalen Belichtung und Besonnung nach Nord-Süd ausgerichtet. Die Rückseiten zweier Zeilen fassen einen beruhigten Grünbereich mit Gärten, Höfen, Spielplätzen und Wegen ein.
Zur Ausführung kamen drei unterschiedliche Bautypen:
Die zentralen, fünf- bis sechsgeschossigen Zeilenbauten entlang der High-Decks,
Zeilen im Charakter von Gartenhäusern, die an den Querverbindungen des aus rund 100 Brücken bestehenden High-Deck-Netzes die Grünhöfe nach Norden hin abschließen und
die westlichste Wohnzeile mit abgeschrägtem Eingangsbereich, die ohne Anbindung an die Decks vom Straßenraum her herkömmlich erschlossen wird.Statt mit langen Korridoren sind die Wohneinheiten mit eigenen Treppenaufgängen, die je Etage zu zwei oder drei Wohnungen führen (Zwei- und Dreispänner), und Aufzügen ausgestattet. Die Wohneinheiten bestehen zu 15 % aus 1 1⁄2 Zimmern mit 45 m², zu 20 % aus zwei Zimmern mit 55–65 m² oder 2 1⁄2 Zimmern mit 75 m², zu 35 % aus drei Zimmern mit 85 m² oder 3 1⁄2 Zimmern mit 109 m² und zu 30 % aus vier oder fünf Räumen mit bis zu 116 m². Während sich die speziell für Senioren vorgesehenen Kleinwohnungen zur Hofseite orientieren, sind alle übrigen Wohnungen zu zwei gegenüberliegenden Seiten geöffnet. Die größeren Wohnungen verfügen über Einbauküchen mit Essecken am Fenster, Wohnraum, Schlafraum, zentrale Dielen und separate Bäder/Toiletten, sämtliche Wohnungen über Wintergarten, Dachterrasse oder eine, teils zwei Loggien. Der vergleichsweise hohe Fensterflächenanteil aller Wohnungen sorgt für eine gute Belichtung.
=== Infrastruktur, Außenanlagen und Grünbereiche ===
Verteilt auf die Hauptachsen und Knotenpunkte des Wegenetzes wurden 20 hausinterne Räume von 40 bis 60 m² eingerichtet, die als Hobbyzimmer, Tischtennisräume, Saunen, Waschküchen oder für weitere Nutzungen nach Wahl der Bewohner vorgesehen waren. Diese Wohnfolgeeinrichtungen stießen auf wenig Resonanz, sodass nur noch einige Waschküchen und zwei Saunen in Betrieb sind. Ein Teil wurde zu vermieteten Gästewohnungen umgebaut, die übrigen Räume nutzt das Quartiersmanagement für seine Projekte. 1977 erhielt die Siedlung eine Ganztagsschule, eine Kindertagesstätte, eine Sportanlage und ein Einkaufszentrum mit 24 Gewerbeeinheiten, das Sonnencenter. Statt der geplanten offenen Konzeption mit kleineren, in die Wohnbauten integrierten Läden wurde das Sonnencenter mit leichter vermietbaren Großraumläden sehr geschlossen gehalten. Zum Einkaufszentrum gehören zwei Supermärkte, eine Bäckerei, ein Friseursalon, ein Kosmetiksalon, ein Drogeriemarkt, eine Apotheke, ein Optiker, ein Blumenladen, ein Textilgeschäft, eine Praxis für Physiotherapie, ein Imbiss und Restaurants. Das viergeschossige Brückenhaus oder Tor zur Siedlung über der Sonnenallee, das zwischen 1980 und 1982 entstand und das High-Deck-System über die Allee verbindet, führt den Fußgängerverkehr aus dem nordöstlichen Siedlungsteil auf das Einkaufszentrum zu.Oefelein und Freund wollten die High-Decks mit Brunnen, Pergolen, Sitzgruppen, Spielgeräten und einer abwechslungsreichen Bepflanzung als Fußgänger- und Spielbereich gestalten und damit eine gelöste Atmosphäre nachbarschaftlichen Austauschs ermöglichen. Insbesondere in diesem Bereich nahm die GSW erhebliche Abstriche vor, die beiden Architekten hatten kaum noch Einfluss auf die Umsetzung ihres Konzepts. Lediglich der Nordteil des High-Decks der Leo-Slezak-Straße, der auf das Sonnencenter zuführt, ist umfangreicher bepflanzt. Auch mit dem Konzept, die Bewohner nach einer Zeit der Identifikation an der Freiraumgestaltung gemäß den herausgebildeten Bedürfnissen zu beteiligen, kamen Oefelein/Freund nicht zum Zuge. Die für die Außenanlagen vorgesehenen Kinderspielplätze und Erwachsenenfreiräume mit Bodenschach, Skat-Tischen und Tischtennisplatten fielen aus Kostengründen weitgehend dem Rotstift zum Opfer, ebenso ein angeblich zu pflegeaufwändiger Abenteuerspielplatz. Realisiert wurden unter anderem Kleinkinderspielplätze in den Gartenhöfen und Bolzplätze.
Die Grünbereiche der High-Decks stattete die GSW mit pflegeleichten Dornensträuchern aus, externe Landschaftsarchitekten wurden nicht hinzugezogen. Zum Zustand im Jahr 2005 stellte Haberle fest: „Der angestrebte Wechsel von offenem, ruhigen Gartenraum und engem, belebten Straßenraum wird durch die heutige Verwendung ähnlicher Vegetation innerhalb der gesamten Siedlung räumlich nicht unterstützt. Dadurch wird ein wesentlicher Bestandteil des Gesamtkonzepts der Siedlung in Frage gestellt.“ Die Bäume auf und neben den High-Decks erreichten zudem nur vereinzelt die gewünschte Höhe, sodass sich der angedachte raumwirksame Alleeeindruck nicht einstellte.
=== Straßen und Verkehrsanbindung ===
In der Siedlung wurden sechs Straßen angelegt, die an die Sonnenallee angebunden sind. Soweit sie unter den High-Decks verlaufen, ist jede Straße durch eine mittige Parkzone in zwei zweispurige Einbahnstraßen mit entgegengesetzter Fahrrichtung geteilt. Sämtliche Straßen erhielten Namen nach Opern- und Operettenstars aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts:
Michael Bohnen, Michael-Bohnen-Ring, im Bebauungsplan Straßen 590 und 592
Fritzi Massary, Fritzi-Massary-Straße, im Bebauungsplan Straßen 597 und 598
Heinrich Schlusnus, Heinrich-Schlusnus-Straße, im Bebauungsplan Straße 593
Peter Anders, Peter-Anders-Straße, im Bebauungsplan Straße 591
Joseph Schmidt, Joseph-Schmidt-Straße, im Bebauungsplan Straße 596
Leo Slezak, Leo-Slezak-Straße, im Bebauungsplan Straßen 594 und 595
Die Einbindung der Siedlung in das Berliner Straßennetz und ihre Anbindung an das öffentliche Berliner Verkehrsnetz bezeichnen die Bewohner als gut. Die Autobahnen A 100/A 113 sind am Dreieck Neukölln bzw. an der Anschlussstelle Späthstraße in rund fünf bis zehn Autominuten erreichbar. Der S-Bahnhof Köllnische Heide liegt knapp 800 Meter nordwestlich an der Sonnenallee und die Buslinien M41 und 246 führen direkt zur High-Deck-Siedlung.
=== Nachfolgebauten, Eigentümer und Sanierung ===
Über die ursprüngliche Konzeption hinaus und als Nachfolgebauten entstanden: durch den Erbbauverein Moabit ein abgewinkelter Wohnriegel als nördlicher Siedlungsabschluss; am Ostrand 1981 durch den Architekten Volker Theissen zwei viergeschossige Wohnzeilen mit Tiefgaragen und mit je zwei übereinanderliegenden Reihen von Maisonetten, die über Treppenbrücken und Spindelrampen an die High-Decks angebunden sind; durch die Arwobau ein Wohnkomplex am Ostrand und 1984 ein Seniorenwohnheim am Westrand in der Heinrich-Schlusnus-Straße, das in traditioneller Bauweise ohne Anbindung an die High-Decks errichtet wurde (siehe unten Projekt Voliere). 1991 wurde die Siedlung durch einen weiteren Neubau an der Neuköllnischen Allee ergänzt.2278 (92 %) Wohneinheiten waren 2002 im Eigentum der Stadt und Land, 184 im Eigentum des Erbbauvereins Moabit (EVM). 2007 war eine Sanierung der inzwischen maroden Substanz der Altbauten unumgänglich. Da die Sanierungskosten die finanziellen Möglichkeiten der Stadt und Land überstiegen, verkaufte die Gesellschaft 2007 den Großteil ihres Eigentums, 1917 Wohneinheiten und 24 Gewerbeeinheiten, an den Privatinvestor Capricornus High-Deck Residential GmbH & Co KG, der wiederum die High Deck Management GmbH mit der Verwaltung seines Eigentums beauftragte. In den folgenden Jahren wurden die Wohnungen und Außenanlagen von allen drei Eigentümern schrittweise modernisiert. Die Komplettsanierung umfasste unter anderem die Betonsanierung, die Fassaden, das Gemeinschaftseigentum und die Dachflächen. Unterschiedliche Farbgebungen sollten den High-Decks einen individuellen Charakter innerhalb der Siedlung geben. Während der Eigentümerschaft von Capricornus sank die Leerstandsquote von 15 auf 2 Prozent.
Im Mai 2013 gab das österreichische Wohnungsunternehmen Buwog bekannt, 40 Gebäude der High-Deck-Siedlung mit 1916 Wohneinheiten und 126.200 Quadratmetern Fläche von Capricornus erworben zu haben. 2018 wurde die Buwog von Vonovia übernommen. Im Zuge der Fusion der Vonovia mit der Deutsche Wohnen wurde mit dem Land Berlin der Rückkauf ehemals kommunaler Wohnungen vereinbart. In diesem Rahmen wurde die High-Deck-Siedlung im September 2021 von der Howoge übernommen.
== Kritik an Konzept und Siedlung ==
Das als innovativ gepriesene städtebauliche Konzept der High-Deck-Siedlung galt bereits spätestens 25 Jahre nach ihrem Bau als gescheitert. Zwar haben konstruktive Beschränkungen und jene durch den sozialen Wohnungsbau zu dem Scheitern beigetragen, doch ging nach einer Evaluation der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung aus dem Jahr 2003 der Grundansatz, durch die Trennung des Fußgänger- und Straßenbereichs eine lebendige städtische Kontaktzone zu schaffen, in der hier vollzogenen Bauweise nicht auf:
Nach Darstellung Heiko Haberles sind die High-Decks meist menschenleer und zu reinen Hochstraßen für Fußgänger degradiert. Von der gewünschten Funktion als multifunktionaler Kommunikationszone könne keine Rede sein. Einige Bewohner seien der Ansicht, man könne die High-Decks abreißen, ohne dass die Siedlung an Nutzwert einbüßen würde. Insgesamt mache die Siedlung den Eindruck einer klassischen Schlafstadt mit dem Charakter einer Wohnmaschine. In keiner ihm bekannten Großsiedlung habe er ein so ausgeprägtes Empfinden gehabt, sich in einer zeit- und ortlosen Parallelwelt zu bewegen.
Rainer Oefelein, einer der beiden Väter des Konzepts, sagte 1987 in einem Interview, es hätte Schlechteres gegeben und insgesamt betrachte er die Lösung als für die damalige Zeit zufriedenstellend, aber bereits bei seinem nächsten Großprojekt, der Pfarrland-Siedlung in Berlin-Rudow, habe er die Lehren aus den Defiziten der High-Deck-Siedlung gezogen.
== Soziografische Daten und Entwicklung ==
Die Wohnungen waren nach ihrer Fertigstellung sehr begehrt und galten zu dieser Zeit als Inbegriff für zeitgemäßes, ruhiges Wohnen am grünen Rand West-Berlins. Für die zahlreichen Mietinteressenten, zum großen Teil junge Arbeiter-Familien aus den Altbaugebieten Kreuzbergs und Neuköllns, mussten Wartelisten angelegt werden.
=== Einwohnerzahl, Fluktuation und Mietpreisniveau ===
In den von Oefelein und Freund errichteten Kernbauten der Siedlung lebten 1996 rund 4060, in der ausgebauten Gesamtsiedlung im Jahr 2005 rund 5200 Einwohner. Für 2010 gibt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 6117 Bewohner an, während das Quartiersmanagement abweichend mit Stand 31. Dezember 2008 lediglich 4883 Bewohner nannte. Die Fluktuation wird oft als hoch beschrieben, jedoch lag sie laut Evaluation des Senats mit Stand 2002 leicht unter dem Neuköllner und Gesamtberliner Durchschnitt und ist deutlich geringer als in vergleichbaren Problemgebieten wie dem Rollbergviertel.Die kalkulierte Kostenmiete setzte die Gesellschaft Stadt und Land bei Fertigstellung mit 15 DM/m² an. Daraus ergab sich durch die öffentliche Förderung eine Kaltmiete von 4,50 DM/m². Nach Aufhebung der Belegungsbindungen und Fehlbelegungsabgabe 1999/2002 stieg die Kaltmiete mit Stand 2005 auf 4,34 Euro/m². Die Betriebs- und Nebenkosten, insbesondere die Heizkosten, sind überdurchschnittlich hoch, sodass 2005 für eine 75 m² umfassende 2½-Zimmerwohnung rund 600 Euro aufzubringen waren. Die 2007 eingeleiteten Modernisierungsmaßnahmen senkten die Heizkosten um bis zu 60 %, erhöhten allerdings den Mietpreis um durchschnittlich 68 Cent pro Quadratmeter.
=== Sozialstruktur ===
1996 waren mit 22,9 % (Gesamt-Berlin: 17,9 %) überdurchschnittlich viele Bewohner unter 19 Jahre und mit 15,8 % (Gesamt-Berlin: 13,8 %) über 65 Jahre alt. Daten zur Bildungsstruktur liegen nur für 1987 vor: der Personenanteil mit Hochschulreife betrug mit 17,4 % zu 37,8 % in Gesamt-Berlin die Hälfte, ebenso der Anteil mit Studienabschluss = 5,1 % zu 10,4 %. 82,6 % (zu 62,2 %) verfügen über einen Haupt- oder Mittleren Schulabschluss. Der Arbeiteranteil betrug 53 % (zu 40 %).Lag der Ausländeranteil bei Fertigstellung der Siedlung bei 5 %, so stieg er über 9,5 % (1987) und 15,4 % (1996) auf 24 % im Jahr 2005. Hinzu kommt eine hohe Zahl deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund. 1999 stellten Türken mit 15,2 % an der gesamten Siedlungsbevölkerung die größte Ausländergruppe (61,5 % der Ausländergruppe gegenüber 28,9 % Gesamtberlin). 2007 betrug der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund laut Angabe des Quartiersmanagements in den Kitas und der Grundschule rund 80 % und wies eine steigende Tendenz bei den Neuzugängen auf. In der sechsten Klasse der Grundschule lag der Anteil von Schülern nichtdeutscher Herkunft bei 68 % und in der dritten Klasse bereits bei 96 %.
Die soziale Struktur im Quartier sei seit Jahren, teilt das Quartiersmanagement weiter mit, durch eine hohe Arbeitslosigkeit und durch einen großen Anteil an Transferleistungsempfängern charakterisiert. Mehr als die Hälfte der Einwohner (51 %, Stand: 31. Dezember 2007) lebe von Transfereinkommen. Bezogen auf die erwerbsfähige Bevölkerung wies die Siedlung 2002 einen doppelt so hohen Anteil Arbeitsloser auf wie Gesamt-Berlin (22,2 %) und die dritthöchste Erwerbslosenquote der Berliner Quartiersmanagement-Gebiete. Die Jugendarbeitslosigkeit war 2002 mit 16 % gleichfalls überdurchschnittlich hoch.
=== Die Siedlung als sozialer Brennpunkt ===
In einem Monitoring zur sozialen Stadtentwicklung im Auftrag der Senatsverwaltung stufte der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann die High-Deck-Siedlung 2008 auf einer Skala von eins bis vier in die Gruppe 4 = sehr problematische Entwicklung ein.
==== Ursachen des sozialstrukturellen Wandels ====
Die Änderungen der Bewohnerstruktur erfolgten vornehmlich in zwei Phasen. In den 1980er Jahren sorgte die Einführung der Fehlbelegungsabgabe für den Wegzug von Mietern ohne Wohnberechtigungsschein. Nach dem Mauerfall rückte die Siedlung aus der ruhigen Randlage in die Mitte Berlins. Viele alteingesessene und zahlungskräftige Mieter wanderten in das Berliner Umland ab. An ihre Stelle traten eher sozial schwache Bevölkerungsschichten, die die vergleichsweise teuren Mieten zu einem erheblichen Teil aus Transferleistungen finanzieren. Im Jahr 2005 wohnte noch rund ein Drittel der Erstbezieher in der Siedlung.
==== Konfliktfelder ====
Nachbarschafts-, Nutzungs-, Mentalitätskonflikte und Lärmbelästigung stellen die hauptsächlichen Problemfelder im nachbarschaftlichen Zusammenleben dar. Unterschiedliche kulturelle und religiöse Werte und Anschauungen – neben Türken zogen insbesondere palästinensische Großfamilien aus dem Libanon in die Siedlung – tragen zu den Konflikten bei. Den fremden Traditionen und Tagesabläufen wie dem spätabendlichen Empfang zahlreicher Gäste stehen die alteingesessenen deutschen Mieter eher reserviert gegenüber. Zu Nutzungskonflikten führen beispielsweise die gelegentlich lärmintensive Inanspruchnahme der High-Decks oder auch der nur mangelhaft schallgeschützten Spiel- und Bolzplätze durch Kinder und Jugendliche.Insgesamt sind die Konflikte eher im Bereich weicher Faktoren angesiedelt und nicht im Bereich krimineller Delikte, von einer sichtbaren Ghettoisierung kann nach Haberle keine Rede sein. Vandalismus oder Graffiti waren 2002 nicht sichtbar und zumindest tagsüber herrschte unter den Bewohnern kein vordergründiges Unsicherheitsgefühl.
=== Wohnzufriedenheit und Identifikation ===
Trotz der Konfliktfelder, der städtebaulichen Fehlplanung und der relativ hohen Mieten war die Wohnzufriedenheit 2005 überwiegend hoch; unter dem Aspekt wenn schon Neukölln, dann High-Deck-Siedlung identifizierte sich ein Großteil der Bewohner dauerhaft mit der Siedlung. Die Gründe für die Zufriedenheit liegen in der nach wie vor vergleichsweise ruhigen und durchgrünten Wohnlage, insbesondere der Außenblocks, dem Zuschnitt der hellen Wohnungen und der schnellen Erreichbarkeit der Berliner Stadtzentren. Zu der Identifikation haben ferner die Maßnahmen und Projekte des Quartiersmanagements beigetragen.
== Maßnahmen zur Aufwertung ==
=== Quartiersmanagement ===
Im März 1999 richtete die Stadt Berlin das Quartiersmanagement (QM) mit dem übergeordneten Ziel ein, die High-Deck-Siedlung zu einem nachgefragten, innenstadtnahen Familiengebiet für alle Generationen und verschiedene Kulturen zu entwickeln. In die Arbeit und Projekte des QM flossen bis zum 31. Dezember 2008 insgesamt 2,7 Millionen Euro.Die Schwerpunkte der bislang ergriffenen Maßnahmen betreffen
die Verbesserung der Qualität des Wohn- und Lebensraums,
soziale Infrastrukturmaßnahmen und
Maßnahmen zur Förderung von Chancen auf dem Arbeitsmarkt.Neben der Aufwertung des Wohngebiets bestehen die einzelnen Entwicklungsziele in der Schaffung einer bewohnergerechten Infrastruktur, der Bewohnerpartizipation und -identifizierung, der Förderung von Nachbarschaften und Netzwerken, der Integration und dem interkulturellen Dialog, der Entwicklung des Selbsthilfe-Potentials und in der Verbesserung des Sprach- und Bildungsniveaus. Unter anderem wurden folgende Projekte eingerichtet: ein Kindertreff, das Projekt Spielen im Kiez, ein Spielmobil, ein Förderprojekt Kleine Einsteine, ein Nachbarschaftstreff, ein Computertreff 40plus, ein Sporttreff und ein Modellprojekt Stadtteilmütter. Zur Bewohneraktivierung und -beteiligung initiierte das QM einen Quartiersbeirat, Aktionsbeirat, Mieterbeirat und Bewohnerbeirat. Im April 2010 eröffnete das Modellprojekt High-Deck-2012 mit einer Außenstelle des JobCenters Neukölln, in dessen Rahmen vorrangig Quartiersbewohner in einem niedrigschwelligen Ansatz eine zeitweilige Beschäftigung finden, schrittweise besser qualifiziert und besser beraten werden sollen.Die Maßnahmen hatten bereits 2005 zu einer spürbaren Verbesserung der sozialen Infrastruktur und zur Herausbildung einer eigenen Quartiersidentität beigetragen. Allerdings waren in den Beiräten und Treffs mit Stand 2009 lediglich rund 150 der insgesamt 6000 Bewohner aktiv engagiert, sodass, wie Haberle anmerkt, fraglich ist, inwieweit die Projekte alle Bewohnerschichten erreichen oder ob hauptsächlich diejenigen eingebunden sind, die sich ohnehin engagieren würden.
=== Ausbildungs- und Kunstprojekt Voliere ===
Im Stadtbild sichtbar sind mehrere Kunstprojekte des Quartiersmanagements, in die gezielt arbeitslose Jugendliche aus der Siedlung eingebunden waren. So fertigten die Jugendlichen 2002 unter Anleitung des Malers Carlos Martins an einigen Straßenecken Wandmalereien an, die Szenen aus Opern und Operetten zeigen, in denen die Stars, die den Straßen die Namen gaben, aufgetreten waren. Neben der zeitweiligen Beschäftigung und Qualifizierung der Jugendlichen bestand das Projektziel darin, die ansonsten gleichförmigen Straßenräume unterscheidbar und wiedererkennbar zu machen.
Ein weiteres soziales Kunstprojekt, das Projekt Voliere (Vogelhaus), führte das QM in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Stadt und Land 2008/2009 durch. Im Rahmen des Projekts erhielten Jugendliche aus dem Quartier Ausbildungsplätze und bemalten gemeinsam mit Künstlern die Fassaden des Wohnblocks Seniorenschlösschen an der Heinrich-Schlusnus-Straße, der nicht an die High-Decks angebunden ist, nahezu ganzflächig (rund 5000 m²) mit mehr als 150 Vogelarten sowie Pflanzen und Bäumen. Die Kunstaktion erfolgte in enger Kooperation mit den Fassadenkünstlern der CitéCréation aus Lyon, die bereits in der französischen Stadt und vielen weiteren europäischen Metropolen Problemviertel durch Motivbemalung aufgewertet hatten. Im Oktober 2008 reisten Projektteilnehmer unter Leitung des Neuköllner Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky nach Lyon, um sich vor Ort ein Bild von der Arbeit der Künstlergruppe zu machen. Anschließend sammelten rund 40 Quartiersbewohner in vorbereitenden Workshops mit dem Lyoner Künstler Halim Bensaïd Ideen und Motive für die Bemalung, aus denen die CitéCréation eine Musterfassade kreierte.2010 verlieh eine Gemeinschaftsinitiative, an der unter anderem die Schader-Stiftung beteiligt ist, dem Projekt Voliere eine Anerkennung im Wettbewerb Preis Soziale Stadt. Neben der gelungenen, kreativen Fassadengestaltung hob die Stiftung in der Laudatio hervor, dass das Projekt Brücken zwischen Jung und Alt sowie zwischen Kulturen gebaut und damit die Entwicklung zur Sozialen Stadt befördert habe.
=== Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahme Heidekampgraben ===
Eine weitere größere Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahme führte das Quartiersmanagement gemeinsam mit der Stattbau GmbH und der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung im Sommer 2001 durch. Die Maßnahme galt der Neugestaltung des Grünzuges am Heidekampgraben im Bereich der Siedlung. Die üppige Ruderal- und Spontanvegetation, die sich während der deutschen Teilung an dem ehemaligen Grenzfluss herausgebildet hatte, wurde ausgelichtet und der Wasserlauf wieder sichtbar gemacht. Angelegt wurden neue Grünflächen, Ruhezonen mit Bänken und ein Spielplatz. Kinder aus den angrenzenden Kitas und der Grundschule gestalteten eine Bank des Spielplatzes mit Fliesenmosaiken, pflanzten Stauden und beteiligten sich an der Gestaltung und Anlage eines Naturerkundungspfads.In den Jahren 2005 und 2006 erfolgte als naturschutzrechtliche Ersatzmaßnahme für die Beeinträchtigungen in Natur und Landschaft durch den Bau der Bundesautobahn 113 die Sanierung und Neugestaltung auch der Treptower Grabenseite, des ehemaligen Mauerstreifens. Mit Gesamtkosten von rund 1,5 Millionen Euro wurde dabei unter anderem als Bestandteil des Mauerweges ein großzügiger, gemeinsamer Fuß- und Radweg realisiert, der den Grünzug von seinem Ausgangspunkt am Britzer Verbindungskanal bis zur Kiefholzstraße auf einer Länge von rund 2,5 Kilometern durchzieht.Nach den Umgestaltungen hat der Grünzug deutlich an Aufenthaltsqualität gewonnen und wird von den Bewohnern der High-Deck-Siedlung vielfältig genutzt. Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung urteilte im Jahr 2008, dass die vielfältigen Maßnahmen und Neugestaltungen, die das Quartiersmanagement und weitere Projektträger seit 1999 durchführten, die Lebensbedingungen in der Siedlung spürbar verbessert hätten.
== Als Film- und Musikvideoschauplatz ==
Die erste Staffel der Serie 4 Blocks (2017) beginnt mit einer Razzia in der High-Deck-Siedlung.Musikvideos
Kein Liebeslied (2012) von Kraftklub
Friesenjung (2023) von Joost, Ski Aggu, Otto Waalkes (ab 0:55 min)
== Literatur ==
Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.): Berlin-Neukölln, High-Deck-Siedlung. Der Heidekampgraben – vom Mauerblümchen zur grünen Oase Erneuerung der Grünachse mit einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahme. In: Integrierte Stadtentwicklung – Praxis vor Ort. Gute Beispiele zu Vernetzung und Bündelung im Programm Soziale Stadt. Sonderveröffentlichung, Bonn 2008, ISBN 978-3-87994-009-7, S. 86 f. (im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung). d-nb.info (PDF; 11 MB)
Heiko Haberle: Highdecksiedlung und Rollbergviertel – Zwei Wohnkonzepte der 1970er Jahre. (Memento vom 26. Juni 2012 im Internet Archive) In: Matthias Seidel, Thorsten Dame (Hrsg.): weiterbauen 70. Universität der Künste Berlin, Fakultät Gestaltung, Studiengang Architektur Fachgebiet Geschichte, Theorie und Kritik der Architektur, Seminardokumentation Studienjahr 2005–2006, darin S. 191–217, Abschnitt Die High-Deck-Siedlung. S. 191–208 – die Seitenangaben unter Einzelnachweise beziehen sich auf diesen Gesamttext; abgerufen am 16. April 2013.
Rolf Rave, Hans-Joachim Knöfel, Jan Rave: Bauen der 70er Jahre in Berlin. Kiepert, Berlin 1994, ISBN 3-920597-40-0, S. 302 f. (siehe: Projekt 305).
Sonnenallee / High-Deck-Siedlung. In: Evaluation des Berliner Quartiersmanagements in der Pilotphase 1999–2002. Empirica Wirtschaftsforschung und Beratung GmbH, Berlin 2003, S. 121–124 (Ergebnisse für die Gebiete. Band 2). Im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Berlin; Abteilungen I und IV. Koordination: Heidrun Nagel; Bearbeitung: Stefan Geiss, Marie-Therese Krings-Heckemeier, Ulrich Pfeiffer, Darja Reuschke, Annamaria Schwedt; Projektnummer: 20090; stadtentwicklung.berlin.de (PDF; 885 kB); abgerufen am 16. April 2013.
Brigitte Jacob, Harald Ramm (Hrsg.): Ute Birk im Gespräch mit Rainer Oefelein, dem Architekten der Highdeck- und Pfarrland-Siedlung. In: Vom Ilsenhof zum Highdeck. Modelle sozialen Wohnens in Neukölln. Transit Buchverlag, Berlin 1987, ISBN 3-88747-039-7, S. 122–131 (Begleitbuch zu einer Ausstellung des Neuköllner Kulturvereins e. V. in Zusammenarbeit mit dem Kunstamt Neukölln, 2. Oktober – 29. November 1987).
== Weblinks ==
Quartiersmanagement High-Deck-Siedlung
Sonnenallee / High-Deck-Siedlung auf den Seiten des Quartiersmanagement Berlin
Soziale Stadt, Quartiersmanagementgebiet – Neukölln: High-Deck-Siedlung auf den Seiten der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung
Rainer Oefelein / Bernhard Freund: High-Deck Estate, 1975–1984 bei beim Projekt SOS Brutalism (englisch)
Highdeck-Siedlung in der Denkmaldatenbank des Landesdenkmalamts Berlin
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/High-Deck-Siedlung
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Geschichte Ostfrieslands
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= Geschichte Ostfrieslands =
Die Geschichte Ostfrieslands hat eine teils recht eigenständige Entwicklung innerhalb Deutschlands genommen, weil die Region durch große Moore im Süden des Landstrichs bei gleichzeitiger Hinwendung zur See über Jahrhunderte relativ isoliert war. So war in Ostfriesland im Mittelalter der Feudalismus nur wenig ausgeprägt, stattdessen entstand das Gefolgschaftssystem der Friesischen Freiheit. Erst 1464 wurde das Haus Cirksena mit der Reichsgrafschaft Ostfriesland belehnt. Der Absolutismus blieb in Ostfriesland jedoch unbekannt. In den zwei Jahrhunderten nach etwa 1500 machte sich ein spürbarer Einfluss der Niederlande bemerkbar – politisch, wirtschaftlich und kulturell. 1744 verlor die Grafschaft ihre Selbstständigkeit innerhalb des Heiligen Römischen Reichs und gehörte fortan zu Preußen, nach dem Wiener Kongress (1815) zum Königreich Hannover, ab 1866 wiederum zu Preußen und seit 1946 zu Niedersachsen.
Prägend ist auch der Jahrhunderte währende Kampf gegen die Fluten der Nordsee. In dem flachen Land an der Küste begannen die Menschen um das Jahr 1000, sich durch die Anlegung von Warften und Deichen gegen die Fluten zu schützen. Dabei kam es jedoch immer wieder zu schweren Rückschlägen in Form von verheerenden Sturmfluten, die zu Deichdurchbrüchen, Überschwemmungen und Landverlusten führten.
Fortschritte in der landwirtschaftlichen Nutzung waren durch verbesserte Melioration der Marschen und die planmäßige Urbarmachung der Moore (ab 1633) zu verzeichnen. Der Handel, insbesondere der Seehandel, hat zu fast allen Zeiten eine wichtige Rolle gespielt. So war die Stadt Emden um 1600 eine bedeutende Hafenstadt in Europa und entwickelte sich zugleich zu einem Hort des Calvinismus. Landwirtschaft und Fischerei waren über Jahrhunderte die wichtigsten Erwerbszweige. Die Industrialisierung hingegen fand erst spät statt.
== Geschichte ==
=== Frühgeschichte ===
Früheste Spuren menschlicher Anwesenheit finden sich von jungpaläolithischen Rentierjägern der Hamburger Kultur. Es folgen mesolithische Fundorte und später Nachweise neolithischer Siedlungen der Glockenbecherkultur, der Megalithkultur und der Schnurkeramischen Kultur. Auf Spiekeroog und Baltrum fanden Hobbyarchäologen 2016 und 2018 zwei menschliche Kieferknochen. Sie sind 7500 und 5500 Jahre alt und die ältesten bis dato gefundenen menschlichen Überreste im Gebiet der südlichen Nordsee. Der Spiekerooger Unterkiefer stammt von einem ca. 40-jährigen Mann, der im 6. Jahrtausend vor Christus lebte, also noch zu Zeiten der Jäger und Sammler. Der Unterkiefer von Baltrum gehörte ebenfalls zu einem männlichen Erwachsenen, der allerdings etwa 2000 Jahre später lebte, also in der Übergangszeit zu den ersten bäuerlichen Kulturen an der Nordseeküste.Überregional bedeutende Funde aus der Frühzeit sind die älteste Brandbestattung Nordwestdeutschlands (datiert auf 2700–2900 v. Chr.) und der Pflug von Walle von etwa 1000 v. Chr. geschätzt. Eine genaue Datierung des Fundes steht noch aus.Die ältesten Funde menschlicher Besiedelung in Ostfriesland wurden bei Hesel gemacht. Dort wurden unter anderem Reste einer Kultstätte entdeckt. Aus der Jungsteinzeit liegt eine Reihe von Steinwaffen und Keramiken vor. Hünengräber (Utarp und Tannenhausen) und Funde von Steinbeilen stammen aus der Zeit der Megalithkultur. Den bedeutendsten Fund aus der Bronzezeit stellt die Goldscheibe von Moordorf dar. Die Bevölkerung dünnte sich mit der Versumpfung der Landschaft merklich aus.
Eine Neubesiedlung fand erst im zweiten Jahrhundert vor Christus statt. Die Siedler aus dem Großverband der germanischen Ingwäonen kamen wahrscheinlich aus Jütland und Skandinavien. Plinius der Ältere nennt Chauken und Friesen aus dem Großverband der Ingwäonen. Dabei kann bis heute nicht geklärt werden, ob die erwähnten Ur-Friesen („Frisii“) germanischen Ursprungs waren oder erst durch den Zuzug germanisiert wurden.
Während ursprünglich Chauken das Gebiet zwischen Ems und Weser bewohnten, begannen etwa um die Zeitenwende Friesen langsam in diesen Raum vorzudringen. Die Chauken wurden von ihnen teils verdrängt, teils in ihren Stammesverband aufgenommen. Seit dem zweiten Jahrhundert wurden die Chauken nicht mehr erwähnt. Ob sie im Stammesverband der Sachsen oder dem der Franken aufgingen, ist unklar. Von der Landseite her drängten sächsische Stämme in die Geestgebiete vor. Die späteren Ostfriesen gingen aus der Vermischung dieser Gruppen hervor.
Die Grenze zwischen Friesen und Chauken hatte sich quer durch Ostfriesland gezogen. Es wird angenommen, dass Orte, deren Namen auf -um (früher -hem) enden, friesische Siedlungen waren (zum Beispiel Jemgum, Bingum, Petkum, Borssum), Orte auf -ens hingegen chaukischen Ursprungs sind (zum Beispiel Esens, Wiesens, Popens, Schortens).
12 v. Chr. erreichten die Römer unter ihrem Feldherrn Drusus erstmals Ostfriesland. Wenige Jahre später ankerte Germanicus in der Amisia (Ems). Der möglicherweise zur Versorgung und zum Schutz der Schiffe genutzte Fundplatz Bentumersiel (heute Gemeinde Jemgum) zählt zu den wenigen Orten in Niedersachsen, in denen Funde auf die Anwesenheit römischer Legionäre zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. hinweisen. Bis 28 n. Chr. blieb Friesland Teil des Römerreiches, und im Jahr 47 wurde das Land erneut unterworfen. Doch der Kaiser befahl dem Befehlshaber Gnaeus Domitius Corbulo wieder abzuziehen.
Einem Bericht des Tacitus zum Jahr 58 n. Chr. zufolge waren die Friesen „mit ihrem gesamten Volk“ in den breiten, zu dieser Zeit weitgehend menschenleeren Grenzstreifen rechts des unteren Niederrheins gezogen und hatten dort bereits mit der Bodenbearbeitung und dem Bau von Häusern begonnen. Doch die nach Rom geschickten Gesandten erhielten dort, obwohl sie auf die verschwenderisch freien Flächen verwiesen, nicht die Erlaubnis des Kaisers, dort zu siedeln. Daraufhin lösten römische Einheiten den Ansiedlungsversuch auf. Die Friesen beteiligten sich ein Jahrzehnt später am erfolglosen Bataveraufstand.
=== Mittelalter (bis 1464) ===
==== Völkerwanderung, Heerkönige, gescheiterte Christianisierung ====
Mit dem Niedergang des Weströmischen Reiches versiegen vom 4. bis zum 7. Jahrhundert die Schriftquellen über die Region.
Für das 5. und 6. Jahrhundert gibt es wenige archäologische Funde, was darauf hindeutet, dass es in dieser Zeit zu einem starken Rückgang der Besiedlung kam. Ursache dafür könnte ein Anstieg des Meeresspiegels und die dadurch bedingte Überflutung der Marsch und die Vernässung der Geest sein. Wahrscheinlich ist, dass ein Teil der Bevölkerung mit den Sachsen, Angeln und weiteren germanischen Völkern nach England übersetzte. Eine der wenigen Ausnahmen, die für eine kontinuierliche Besiedelung der Region sprechen, ist der Runensolidus von Schweindorf.
In der Völkerwanderungszeit wurde die im östlichen Ostfriesland ansässige Bevölkerung der Chauken vermutlich in den föderativen Stammesverband der Sachsen eingegliedert. Auf eine kulturelle Annäherung deuten Funde neuer Keramikformen hin, die aus dem Gebiet westlich der Weser stammen, wo in dieser Zeit die Sachsen lebten. Zeugnisse kriegerischer Auseinandersetzungen, etwa Brandhorizonte, fehlen hingegen.Im 7. und 8. Jahrhundert begann eine Neubesiedlung im Rahmen einer Expansion des friesischen Siedlungsgebiets. Diese reichte im Westen bis zur Sincfal (nördlich von Brügge) und umfasste Südholland, Utrecht und Westgelderland. Seit dem 8. Jahrhundert wurden auch Wursten und die nordfriesischen Inseln besiedelt, und später das gegenüberliegende Festland. Funde aus dieser Zeit deuten darauf hin, dass die Siedler aus den friesischen Gebieten westlich der Lauwers stammten.
Bis zu den ersten Deichbauten war eine Besiedlung nur in höher gelegenen Geestgebieten und auf sogenannten Warften im häufig von der Nordsee überfluteten Marschland möglich.
Ab etwa 1000 n. Chr. ermöglichten Deichbauten, die gesamte Marsch zu besiedeln. Hierauf spielt der Sinnspruch Deus mare, Friso litora fecit (Gott schuf das Meer, der Friese die Küsten) an.Zwischen 650 und 700 entstand ein friesisches Heerkönigtum, das gelegentlich immer noch als Großreichsbildung missverstanden wird. Unstreitig ist, dass diese Heerkönige sich gegen die fränkische Expansion (und die damit einhergehende Christianisierung) zur Wehr setzten, was wohl weite Teile des heutigen Westfrieslands, Ostfriesland und Gebiete bis zur Weser zusammenführte (Magna Frisia). Der erste überlieferte Name eines Heerkönigs ist Aldegisel, der offenbar ab 678 den christlichen Missionar Wilfrid unterstützte. Sein Sohn und Nachfolger Radbod hatte, wie sein Vater, seinen Machtschwerpunkt im Westen, im Raum Utrecht. Er stand 716 mit seinem Heerhaufen vor Köln und besiegte im selben Jahr den fränkischen Hausmeier Karl Martell, der damit seine einzige Niederlage hinnehmen musste. In wilhelminischer Zeit wurde Radbod († 719) zu Propagandazwecken geradezu zu einem Vorkämpfer germanischer Freiheit verklärt und, da er sich nicht taufen ließ, als Sinnbild der anti-römisch-klerikalen Kräfte stilisiert, im Zusammenhang mit dem sogenannten Kirchenkampf. Auch Industriekomplexe wie die Zeche Radbod im östlichen Ruhrgebiet wurden nach ihm benannt. Er ist bis heute Teil der Folklore.
==== Teil des Frankenreichs, Christianisierung ====
Nachfolger Radbods wurde Poppo. Er widersetzte sich vergeblich der Rückeroberung des westlichen Frieslands durch die Franken, und nach 720 waren alle Landesteile westlich der Vlie in fränkischer Hand. Endgültig schlug Karl Martell die Friesen in der Schlacht an der Boorne (734). Poppo fand dabei den Tod. Karl der Große eroberte 785 nach dem Sieg über die Sachsen ganz Friesland einschließlich der östlichen Gebiete bis zur Weser. Sachsen und Friesen, die gegen Karl gekämpft hatten, wurde das Ius paternae hereditatis, das Recht auf ihr väterliches Erbe und damit ihr freies Erbeigen, entzogen. Zur Absicherung seiner Eroberungen ließ Karl zudem das Friesische Recht aufzeichnen und mit fränkischen Gesetzen in einer Übersicht zusammenfassen, der Lex Frisionum.
Die Franken nahmen die gescheiterte Christianisierung durch die Missionare Liudger und Willehad wieder auf. Ostfriesland wurde zu einem Teil dem Bistum Bremen, zum anderen dem Bistum Münster zugeschlagen. Es entstand eine Klosterlandschaft an der niederländischen und deutschen Nordseeküste mit einem Höhepunkt im 12. und 13. Jahrhundert. Insgesamt lassen sich von Westfriesland über Groningen bis Ostfriesland etwa 120 Gründungen der verschiedenen Orden nachweisen. In Ostfriesland selbst gab es bis zur Reformation mehr als 30 Klöster, Stifte und Kommenden.
Friesland wurde bei seiner Integration ins Frankenreich in mehrere Grafschaften geteilt. Im Bereich zwischen Ems- und Wesermündung waren dies der Emsiga im Südwesten, der Federitga im Nordwesten, Nordendi mit Herloga im Norden, Wanga im Nordosten, Asterga im Osten und Riustri im Osten. Die innere Geest blieb zunächst namenlos. Die Herrschaft über diese Gebiete wurde auswärtigen Adligen übertragen. Vermutet wird, dass es zu dieser Zeit keine etablierte Schicht vornehmer Familien in der Region gab, da diese sonst bei der Durchsetzung der Grafschaftsverfassung im Fränkischen Reich als Grafen berücksichtigt worden wären. Zu den auswärtigen Grafengeschlechtern, die in Ostfriesland eingesetzt wurden, gehörten die westfälischen Cobbonen, die offenbar Rechte im westlichen Ostfriesland innehielten. Ihnen folgten hier später die Grafen von Werl. Im östlichen Ostfriesland werden seit dem 10. Jahrhundert die sächsischen Billunger neben den Grafen von Stade als Grafschaftsinhaber genannt, denen dann Heinrich der Löwe folgte.Sie alle scheiterten jedoch daran, ihre jeweiligen Herrschaftsansprüche zu festigen, denn ab dem 9. Jahrhundert wurde Ostfriesland Ziel mehrfacher Wikingerüberfälle, bei denen die Bevölkerung auf sich allein gestellt war. Die Verteidigung des Landes organisierte Karl, indem er in Friesland entlang der Küste und insbesondere an den Flussmündungen eine Art „Küstenwacht“ einrichtete, die sich auf die Selbsthilfe der waffenfähigen und königstreuen Friesen stützte. Diese wurden dafür vom Militärdienst auf fremden Territorien freigestellt. Dies wurde erstmals in den sogenannten gemeinfriesischen Siebzehn Küren, Rechtstexten des friesischen Landrechts in lateinischer, friesischer und niederdeutscher Sprache, festgehalten, die wohl um 1080 entstanden sind. Darin heißt es, die Friesen müssten auf keiner Heerfahrt nach Osten weiter als bis zur Weser und nach Westen weiter als bis zum Fli (Seegatt zwischen Vlieland und Terschelling) ziehen.Die Friesen entwickelten daraus den politischen Mythos, Karl der Große sei der Stifter der Friesischen Freiheit gewesen. Die von Karl so privilegierte Schicht dürfte jedoch dünn gewesen sein, da sie ausschließlich aus Männern bestand, die königstreu waren und denen Karl daher das Ius paternae hereditatis nicht entzogen hatte. Erst als der Sohn Karls, Ludwig der Fromme, ihnen dieses 814 zurückgab, gelangten alle grundbesitzenden Friesen in den Genuss der Königsfreiheit. Diese zahlten dem König im Gegenzug dafür eine huslotha oder koninckhuere genannte Abgabe.Als die auswärtigen Grafen ab dem 11. Jahrhundert versuchten, ihre friesischen Grafschaften in eigene Herrschaften umzuwandeln, wurde dies durch den Widerstand der Friesen zunichtegemacht. Spätestens im 12. Jahrhundert hatte sich dann die Freiheit der Friesen auf ganzer Breite durchgesetzt und die Friesen begannen, sich in autonomen Landesgemeinden zu organisieren.
==== Ablösung der Grafengerichte, Konsularverfassung, Friesische Freiheit ====
Gegen Ende der Karolingerzeit entstand ein Verbund zunehmend von den herrschaftlichen Gruppen im Kernland des Frankenreichs abgekoppelter Bezirke. Diese entsandten jährlich gewählte Vertreter, die sogenannten „Redjeven“ (Rechtsprecher, Ratsmänner), die sowohl die Gerichtsbarkeit ausübten als auch ihre Bezirke führten. Die Gruppe der Großen reichte zwar teilweise bis zur fränkischen Eroberung zurück, doch blieb der in Europa verbreitete Feudalismus in Ostfriesland wenig entwickelt. Vielmehr verstanden sich die Friesen als von grundherrlichen Bindungen freie Bauern, die weder an die Scholle gebunden waren, noch Vasallitätsverhältnisse entwickelten, wie sie in den karolingischen Herrschaftsgebieten entstanden waren. Zwar gab es Unfreie, aber ihre Zahl dürfte gering gewesen sein.
Die Ablösung der Grafengerichtsbarkeit durch die Konsularverfassung begann schon vor dem 12. Jahrhundert. Jedes Jahr versammelten sich vom 12. bis ins 14. Jahrhundert in der Friesischen Freiheit gewählte Abgesandte der sieben friesischen Seelande am dritten Pfingsttag am Upstalsboom in Rahe (heute ein Stadtteil von Aurich). Die Zahl sieben ist hierbei symbolisch zu verstehen, tatsächlich waren es Abgesandte aus weitaus mehr Landstrichen. Sie wurden bereits zu Ostern in den jeweiligen Gauen gewählt. Am Upstalsboom sprachen sie Recht und trafen politische Entscheidungen von überregionaler Bedeutung. Urkundlich nachgewiesen sind diese Versammlungen für den Zeitraum zwischen 1216 und 1231 sowie 1323 und 1327.
==== Ostfriesische Häuptlinge ====
Im Verlauf des 14. Jahrhunderts zerfiel die Redjeven-Verfassung. Dazu mag auch der Ausbruch der Pest beigetragen haben, vielleicht aber noch mehr die drei schweren Sturmfluten. Die verheerendste unter ihnen war die Zweite Marcellusflut (1362), auch Groote Mandränke genannt. Sie forderte nicht nur Tausende Menschenleben, sondern führte auch zum ersten Einbruch des Dollarts sowie zu einer Erweiterung von Leybucht und Harlebucht. Durch die Erste Dionysiusflut (1374) wurde die Leybucht bis Norden erweitert – was später dann allerdings die wirtschaftliche Bedeutung Nordens als Handelsstadt hob. Die Zweite Dionysiusflut (1377) führte zu Deichbrüchen bei Lütetsburg und Bargebur.
Hinzu kamen äußere Bedrohungen. So hatten die Nachkommen der zu karolingischer Zeit in den friesischen Gauen eingesetzten, nur mit dem König verbundenen Grafen, wie etwa die Grafen von Oldenburg, aber auch geistliche Herrscher, wie die Bischöfe von Münster, ihre Bestrebungen keineswegs aufgegeben, den Norden ihrem Herrschaftssystem einzufügen.
Diese Situation machten sich einige einflussreiche Familien zu Nutze und schufen ein Herrschaftssystem, in dem sie als Häuptlinge (hovedlinge) die Macht über mehr oder weniger weite Gebiete gewannen. Dabei etablierten sie weiterhin kein Feudalsystem, wie es im übrigen Europa zu finden war, sondern eher ein Gefolgschaftssystem, das älteren Herrschaftsformen germanischer Kulturen im Norden ähnelte, indem die Bewohner der jeweiligen Machtbereiche zwar in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Häuptling standen, diesem verschiedentlich verpflichtet waren, im Übrigen aber ihre Freiheit behielten und nicht an die Scholle gebunden waren.
Bis Ende des 14. Jahrhunderts bildeten die Machtkämpfe der Häuptlingsfamilien ein lokales Problem. Nachdem die Vitalienbrüder durch den Deutschen Orden 1398 von der Ostseeinsel Gotland vertrieben worden waren, fanden sie jedoch Aufnahme bei einigen der ostfriesischen Herrscher, die sie als Streitmacht einsetzten. Die Seeräuber profitierten dabei von der Abgeschiedenheit Ostfrieslands auf dem Landwege bei gleichzeitigem Zugang zu den Seewegen vor der ostfriesischen Küste. Einer der Seeräuber, der hier Unterschlupf fand, war Klaus Störtebeker. Er quartierte sich in Marienhafe ein, das damals noch an der Leybucht lag und somit Zugang zur offenen See hatte. Dadurch kam es zu erheblichen Spannungen mit der Hanse, deren Heere in der Folgezeit mehrfach in Ostfriesland einmarschierten. Vor allem die Städte Hamburg und Bremen sahen sich durch die Seeräuber geschädigt. Die Konflikte unter den Häuptlingen wurden durch das Engagement der Hanse jedoch nicht beseitigt, sondern eher noch verkompliziert. Die Hanse schlug 1401 eine erfolgreiche Seeschlacht vor Helgoland gegen die Seeräuber. Teile Ostfrieslands, darunter Emden, wurden vor allem von hamburgischen Kräften besetzt. Sie zogen erst 1453 wieder aus Emden ab.
Die Schlacht auf den Wilden Äckern markierte am 28. Oktober 1427 das Ende des Einflusses der Häuptlingsfamilie tom Brok in Ostfriesland. Die tom Broks hatten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts versucht, die Herrschaft über Ostfriesland zu übernehmen. Erst der Aufstieg der Cirksena um 1430, als Edzard Cirksena sich als Anführer eines Bundes der Freiheit durchgesetzt hatte, beendete diese von lang anhaltenden Fehden geprägte Phase, zugleich aber auch die Sonderstellung der regionalen Gesellschaftsverfassung. Ulrich Cirksena, ein Angehöriger eines der letzten einflussreichen Häuptlingsgeschlechter, wurde 1464 von Kaiser Friedrich III. in den Reichsgrafenstand erhoben und mit Ostfriesland als Reichsgrafschaft belehnt. Es gehörte zum Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis.
=== Neuzeit (bis 1918) ===
==== Die Herrschaft der Cirksena (1464–1744), Konfessionskriege ====
Unter der Herrschaft des 1662 in den erblichen Fürstenstand erhobenen Hauses Cirksena entwickelte sich Ostfriesland politisch, kulturell und wirtschaftlich vorteilhaft. Die größte Ausdehnung erreichte die Grafschaft unter Edzard dem Großen, unter dessen Herrschaft auch die Ausbreitung der Reformation in Ostfriesland begann und das Ostfriesische Landrecht konzipiert wurde. Die Grafen konnten in Ostfriesland allerdings keine starke Adelsherrschaft wie in den anderen Staaten des Reiches durchsetzen, da die friesischen Stände, also Ostfriesische Ritterschaft, Bauern und Städtevertreter ihre Freiheitsrechte weitgehend zu wahren wussten. Leer und Aurich entwickelten sich zu den bedeutendsten Viehhandelsplätzen der Region. 1508 wurde in Leer erstmals der bis heute bestehende Gallimarkt abgehalten. Schon Ocko I. tom Brok soll im 14. Jahrhundert Juden nach Ostfriesland geholt haben, wahrscheinlich reichen die Kontakte aber erheblich weiter zurück, zumal Friesen wie Juden sehr stark im Fernhandel tätig waren. Die älteste Synagogengemeinde entstand um 1550 in Emden; weitere Gemeinden entstanden in allen größeren Orten. Der politische und wirtschaftliche Aufschwung wurde durch einen kulturellen begleitet, untermauert und bestärkt durch die Gründung der Universität Groningen unter ihrem Rektor Ubbo Emmius (1547–1625), dem bedeutendsten ostfriesischen Humanisten und Historiker.
Ein herber Rückschlag für den Emder Handel ereignete sich in Gestalt der Zweiten Cosmas- und Damianflut 1509. Verlief die Ems bis zur Flut noch in einem nordwärts geschwungenen Bogen an der Stadt vorbei, so suchte sie sich nach der Sturmflut einen geradlinigen Weg in den Dollart und weiter zur Nordsee: Der Emder Hafen drohte zu verlanden. Der Dollart erreichte nach der Flut seine größte Ausdehnung, erst 1605 wurde im Rheiderland mit dem Bunderneuland der erste Polder dem Meer abgerungen, weitere folgten erst 1682 (Charlottenpolder) sowie 1707/08 mit dem Norder- und Süder-Christian-Eberhards-Polder und dem Bunder Interessentenpolder – also fast genau zwei Jahrhunderte nach der Flut.
Um 1520 hielt die Reformation Einzug. Anders als in den meisten Regionen war es jedoch nicht die Obrigkeit, die hier federführend war. Zwar unterstützte Graf Edzard I. die Verbreitung der neuen Lehre, war in seiner Position jedoch zu schwach, um ein bestimmtes Bekenntnis durchzusetzen. So existierten lutherischer Protestantismus und Calvinismus in Ostfriesland nebeneinander, ohne dass dabei eine Konfession die Oberhand gewinnen konnte. Vielmehr setzte sich eine Spaltung des Landes in einen lutherischen Osten und einen calvinistischen Westen durch. Katholische Kirchen hingegen gab es nach der Reformation in Ostfriesland nicht mehr, katholische Christen kaum noch.Ende der 1520er Jahre breitete sich auch die täuferische Bewegung in Ostfriesland aus. Als Initiator gilt der Schwäbisch Haller Kürschner und spätere lutherische Sendbote Melchior Hofmann. Dieser „erfolgreichste Laienprediger der Reformationszeit“ gelangte 1529 über das Baltikum und die skandinavischen Länder nach Emden, wo er – nach einem Kurzaufenthalt in Straßburg – 1530 begann, das von ihm so genannte Bundeszeichen der Taufe aufzurichten. Rund 300 Ostfriesen ließen sich in der Großen Kirche taufen und gründeten kurze Zeit später die Emder Täufergemeinde, die bis heute unter dem Namen Mennoniten fortlebt und zu einer der bedeutsamen Keimzellen der niederländische Reformation wurde.Die Klöster wurden säkularisiert und zum Teil als profane Gebäude genutzt. Die meisten wurden jedoch abgebrochen und das so gewonnene Baumaterial zum Hausbau oder zur Anlage von Befestigungen für die Städte genutzt. Ihre archivierten Urkunden, Verträge, Bild- und Schriftquellen gingen größtenteils verloren.
1556 kam er zu einem Abkommen mit Schweden. Die Schweden durften in ganz Ostfriesland zollfrei Handel treiben, gleiches galt für die ostfriesischen Kaufleute in Schweden.1568 geriet Ostfriesland in die Auseinandersetzungen der niederländischen Freiheitskriege, als niederländische Truppen, die so genannten Geusen, unter ihrem Anführer Ludwig von Nassau-Dillenburg nach der Schlacht von Heiligerlee ins Rheiderland auswichen. Spanische Truppen unter Herzog Alba folgten ihnen. Am 21. Juli 1568 trafen die beiden Verbände in der Schlacht von Jemgum aufeinander, die mit einem Sieg der Spanier endete. Albas Heer zog anschließend drei Tage lang plündernd, brandschatzend und vergewaltigend durch das Rheiderland.
Vor allem die Stadt Emden profitierte in den Folgejahren vom Zuzug von Glaubensflüchtlingen aus den Niederlanden, die etwa Menno Simons aus Witmarsum führte – nach ihm wurden die Mennoniten benannt –, aber auch aus Frankreich und England. Die Stadt war zudem durch das Wirken reformierter Prediger auch eine Hochburg des Calvinismus, etwa durch Johannes a Lasco. Zeitweise sah es so aus, als ob die Stadt ein drittes reformatorisches Zentrum neben Wittenberg und Genf werden könnte.
Emden erlebte zwischen 1570 und dem Ende des Dreißigjährigen Krieges seine größte Blütezeit und wurde einer der wichtigsten europäischen Hafen- und Reedereistandorte. Dies war in erster Linie der großen Zahl niederländischer Glaubensflüchtlinge geschuldet, die sich hier niederließen. Mehrere Tausend Kaufleute, Reeder und Handwerker siedelten sich in der Stadt an, die Einwohnerzahl stieg um 1600 auf annähernd 15.000. Emden war damit eine der bedeutendsten Hafenstädte Nordeuropas. Die Stadt agierte immer selbstbewusster gegenüber dem Grafen. Die Spannungen gipfelten 1595 in der Emder Revolution, bei der Graf Edzard II. gezwungen wurde, auf den Großteil seiner Rechte in Emden zu verzichten. Bereits 1561 hatten die Cirksena nach Auseinandersetzungen mit Repräsentanten der Hafenstadt ihren Hof nach Aurich verlegt, das bis dahin lediglich als Sommerresidenz gedient hatte.
Der 1604 zum Stadtsyndikus berufene Rechtsgelehrte Johannes Althusius stärkte in den folgenden Jahrzehnten noch die Stellung der Stadt, insbesondere gegenüber den Grafen und den Nachbarstädten. Emden war zu jener Zeit zwar nicht de jure eine freie Reichsstadt. Mit den Niederlanden als Schutzmacht im Rücken und weitgehender Unabhängigkeit vom ostfriesischen Grafenhaus war Emden allerdings de facto eine freie Reichsstadt. Kappelhoff hat dafür den Begriff quasiautonome Stadtrepublik geprägt.
Während des Dreißigjährigen Krieges litt Ostfriesland große Not durch die Truppen des Grafen von Mansfeld. Die einzige Ausnahme bildete wiederum Emden, da der kurz zuvor fertig gestellte Emder Wall die Stadt schützte. Emder Kaufleute gründeten 1633 die erste Fehnsiedlung Ostfrieslands, (West-)Großefehn.Der Krieg sicherte kapitalkräftigen Juden durch den ständig wachsenden Geldbedarf der Kriegsparteien zwar einerseits ein Bleiberecht in Ostfriesland, belastete sie andererseits aber auch in einem bis dahin unbekannten Ausmaß. Die Liste ihrer finanziellen Verpflichtungen war lang. 1629 zahlten die Emder Juden (als Vertreter der jüdischen Gemeinden Ostfrieslands) 180 Gulden Schutzgeld im Jahr, 200 Gulden Torfgeld sowie etwa 2000 Gulden an diversen Verbrauchssteuern, insgesamt also 2580 Gulden. Hinzu kamen noch Mietzins, Heiratsgelder, außerordentliche Abgaben an den Landesherrn: 4 Gulden Schutzgeld pro Haushalt plus 150 Reichstaler Antrittsgeld.
1647 fiel der römisch-katholische kaiserliche Feldgeneral Guillaume de Lamboy in Ostfriesland ein, um die Truppen des in schwedischen Diensten stehenden Generalfeldmarschalls Hans Christoph von Königsmarck von der Belagerung Paderborns abzuziehen.
Im 16. und 17. Jahrhundert entstand die typische Form des ostfriesischen Bauernhauses, das Gulfhaus, zunächst in den Marschen, wo durch bessere Entwässerungssysteme auch der Ackerbau möglich wurde – zuvor war dort nur Viehhaltung möglich. Da der Marschboden sehr fruchtbar ist, sind reiche Ernten möglich. In der Marsch finden sich daher mehr (größere) Gulfhöfe, dort auch Plaats genannt, als auf der Geest. Auch viele kleinere Landarbeiterhäuser sind nach dem gleichen Prinzip aufgebaut wie die großen Höfe.
Dem Dreißigjährigen Krieg folgte eine unvergleichliche Machtentfaltung der ostfriesischen Stände, die sich weitgehend unabhängig vom jeweiligen Landesherrn machten. Der Versuch, die landesherrliche Macht wiederherzustellen, schlug fehl. Aus der Vertretung der ostfriesischen Stände ging später die Ostfriesische Landschaft hervor, die noch deren Wappen führt, sich inzwischen aber von einer politischen Institution zu einer Einrichtung der Kulturpflege gewandelt hat.
Das Fürstentum Ostfriesland kam unter den Einfluss der Niederlande und lehnte sich politisch, kulturell und wirtschaftlich eng an diese an. Die Niederlande stationierten an zentralen Orten Truppen, darunter in der Festung Leerort bei Leer und in Emden. Während des Holländischen Krieges von 1672 bis 1679 durchzogen Truppen verschiedener Staaten Ostfriesland, das den Abzug durch Zahlungen erkaufen musste.
==== Kampf zwischen Fürstenhaus und Ständen, Brandenburg-Preußen ====
Die Fürstin von Ostfriesland nutzte diese Situation aus und handelte 1676 einen Schutzvertrag mit dem Fürstbischof von Münster aus, um ihren Herrschaftsanspruch gegenüber den Ständen durchsetzen zu können. Anfang September 1676 marschierten schließlich acht münsterische Kompanien Infanterie als Grenzschutz nach Ostfriesland ein. Die Stände benötigten nun ihrerseits eine Schutzmacht, um das innenpolitische Übergewicht der Fürstin wieder ausgleichen zu können, wofür sich Brandenburg anbot. Dieses interessierte sich für Ostfriesland, weil sich auf diese Art die Möglichkeit bot, die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie von Königsberg an den strategisch viel besser gelegenen Hafen von Emden zu verlegen, zumal diese seinerzeit als einer der besten Europas galt. So nutzte Kurfürst Friedrich Wilhelm 1682 die erneut aufflammenden Konflikte zwischen dem Fürstenhaus und den ostfriesischen Ständen. Vor allem die Stadt Emden war an einer Schwächung des Fürstenhauses interessiert und einigte sich mit dem brandenburgischen Herrscher. Dieser ließ nun Truppen in Ostfriesland aufmarschieren, woraufhin am 22. April 1683 ein Handels- und Schifffahrtsvertrag mit den Ständen Emdens ausgehandelt wurde. Fortan wurde Emden der Stammsitz der Brandenburgisch-Afrikanischen Compagnie und Vorposten Brandenburg-Preußens. Um einen geeigneten Hafen für seine Überseekolonie Großfriedrichsburg zu besitzen, schloss der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm am 2. Mai 1683 einen Vertrag mit der Stadt Emden und machte sie zum Sitz der Churfürstlich-Afrikanisch-Brandenburgischen Compagnie.
Die Weihnachtsflut im Jahr 1717 hatte für Ostfriesland verheerende Folgen. Im Dezember des Jahres herrschte für einige Tage ein stürmischer Wind aus Südwest. Dieser schlug am Sonnabend vor Weihnachten in einen Nordwest-Sturm um und drückte so das Wasser aus dem Atlantik durch den Ärmel-Kanal in die Nordsee. Die Deiche waren den Wassermassen nicht gewachsen und brachen schließlich am 24. Dezember gegen Mitternacht, so dass die Fluten danach ungehindert ins Land eindringen konnten. Halb Ostfriesland stand danach unter Wasser. Der Orkan tobte drei Tage und drückte weiterhin Wasser durch die gebrochenen Deiche. So konnte das bereits im Land stehende Wasser nicht wieder abfließen. Sogar in küstenfernen Orten wie beispielsweise Riepe, Simonswolde Forlitz-Blaukirchen und Ayenwolde verursachte die Sturmflut schwere Beschädigungen. Laut einem Schadensbericht, den der Emder Prediger Gerhardus Outhof 1718 in seinem Buch Verhaal van alle de hooge waterfloeden veröffentlichte, verloren in Ostfriesland 2787 Menschen ihr Leben. Auch der Viehbestand erlitt starke Verluste. Insgesamt ertranken 2259 Pferde, 9514 Rinder, 2589 Schafe und 1048 Schweine (15410 Tiere). Zudem zerstörte die Katastrophe 1030 Häuser vollkommen und beschädigte weitere 1833.
1726/27 kam es zum sogenannten Appell-Krieg, der sich in einem erneuten Konflikt zwischen dem Fürsten Georg Albrecht und einem Teil der Stände äußerte, die sich in „gehorsame“ und „renitente“ aufspalteten. Der Fürst ging als Sieger aus diesem Konflikt hervor. Selbst die an der Spitze der „renitenten“ Stände stehende Stadt Emden unterwarf sich. Durch Verhandlungsfehler des Kanzlers Enno Rudolph Brenneysen kam es jedoch nicht zu einer friedlichen Einigung der an dem Konflikt beteiligten Parteien. Obwohl Kanzler und Fürst eine strenge Bestrafung der Renitenten forderten, wurden diese 1732 vom Kaiser amnestiert. Als Fürst Georg Albrecht am 11. Juni 1734 starb, übernahm Carl Edzard im Alter von 18 Jahren die Amtsgeschäfte als letzter noch lebender Nachkomme von Georg Albrecht. Auch er konnte die Konflikte mit den Ständen nicht lösen.
Zu dieser Zeit wurden die Weichen für die Machtübernahme Preußens in Ostfriesland gestellt. Eine bedeutende Rolle nahm hierbei die Stadt Emden ein, die nach dem Appell-Krieg politisch isoliert und wirtschaftlich stark geschwächt war. Ziel der Emder Stadtspitze war es, die Stellung als ständische Hauptstadt und Handelsmetropole zurückzugewinnen. Ab 1740 setzte sich die Meinung durch, dass dieses Ziel mit preußischer Hilfe erreicht werden könnte. Dazu sollte ein Vertragswerk geschaffen werden, das die preußische Anwartschaft anerkannte. Die wirtschaftliche Position Emdens sollte durch Schutzmaßnahmen und Förderungen gestützt und die bestehenden Privilegien (etwa das Stapelrecht) bestätigt werden. Die Verhandlungen auf preußischer Seite führte der Direktorialrat im niederrheinisch-westfälischen Reichskreis, Sebastian Anton Homfeld, der am 8. November 1740 ein erstes Gutachten über die Verfahrensweise beim Eintritt des Erbfalls vorlegte.Homfeld galt als einer der führenden Vertreter der renitenten Stände. Am 14. März 1744 kam es zum Abschluss von zwei Verträgen, die zusammenfassend als Emder Konvention bezeichnet werden. Zum einen war dies die Königliche Special-Declarations- und Versicherungsakte, zum anderen die Agitations- und Konventionsakte, in der vornehmlich wirtschaftliche Regelungen getroffen wurden. Des Weiteren stützte sich Preußen auf die von Kaiser Leopold I. 1694 ausgestellte Expektanz, die das Recht auf Belehnung des Fürstentums Ostfriesland für den Fall fehlender männlicher Erben sicherstellte. Trotz des Widerstands des Kurfürstentums Braunschweig-Lüneburg setzte sich Preußen durch.
==== Preußen, Niederlande, Frankreich (1744–1814) ====
Als am 25. Mai 1744 Carl Edzard, der letzte ostfriesische Fürst aus dem Hause Cirksena, starb, machte König Friedrich II. von Preußen sein Nachfolgerecht geltend, das in der Emder Konvention geregelt war. Er ließ Ostfriesland, von Emden ausgehend, ohne Widerstand besetzen, worauf am 23. Juni das Land der Krone huldigte. Die Landeshauptstadt Aurich blieb Sitz der Landesbehörden, erhielt eine Kriegs- und Domänenkammer und wurde Regierungshauptstadt der preußischen Provinz Ostfriesland. Das gesamte Inventar des Schlosses, darunter die ostfriesische Fürstenbibliothek und das Mobiliar, wurde in mehreren Auktionen unmittelbar nach Beginn der preußischen Herrschaft versteigert, so dass davon heute kaum noch etwas erhalten ist.Preußen erkannte die selbstständige Stellung Ostfrieslands innerhalb des Staates an und setzte einen weitgehend autonom regierenden Kanzler ein. Der erste Kanzler war der oben genannte, äußerst einflussreiche Sebastian Anton Homfeld aus einer rheiderländischen Honoratiorenfamilie, dem Gerüchte die Vergiftung des letzten ostfriesischen Fürsten zuschreiben.
1751 und 1755 besuchte Friedrich II. Ostfriesland. Die preußische Herrschaft brachte für Ostfriesland einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung und die verstärkte Öffnung nach außen. So profitierte die Stadt Emden etwa von der Einrichtung eines Freihafens im Jahr 1751. Der Emder Hafen ist damit einer der ältesten Freihäfen Europas. 1754 wurde per königlichem Befehl die Einrichtung einer Feuerversicherung angeordnet – die noch in öffentlichem Besitz befindliche Ostfriesische Landschaftliche Brandkasse. Auch das Postwesen wurde ausgebaut.In der Zeit von 1757 bis 1761 während des Siebenjährigen Krieges zogen verschiedene Kriegsmächte durch Ostfriesland, dessen Bevölkerung besonders 1761 unter den Truppen des Marquis de Conflans zu leiden hatte.
Mit dem Urbarmachungsedikt für Ostfriesland von 1765 begann die Hochphase der Moorkolonisierung und die Gründung vieler neuer Fehnsiedlungen, vor allem im Bereich der heutigen (Samt-)Gemeinden Hesel, Uplengen, Jümme, Rhauderfehn, Ostrhauderfehn, Moormerland und Ihlow – also im Wesentlichen innerhalb des Städtedreiecks Emden–Aurich–Leer sowie im heutigen südöstlichen Gebiet des Landkreises Leer. Hinzu kamen unter anderem Berumerfehn als einzige wesentliche Fehngründung im Norderland sowie Collrunge, Müggenkrug, Rispelerhelmt, Kirmeer, Klein-Wiesedermeer, Wiesederfehn im Wittmunder Raum und – als einzige Fehngründung des Harlingerlandes – Wagnersfehn bei Esens.Auch Einpolderungen zur Landgewinnung wurden verstärkt vorangetrieben. An der Leybucht wurden der Leysander Polder (1769), der Hagenpolder (1770) und der Schulenburger Polder (1781) eingedeicht, an der Harlebucht der Friedrichsgroden (1765), Schweringsgroden (1804, komplett vollendet 1833), Friedrich-Augustengroden und Neu-Augustengroden (1806/10) sowie der Kielgroden (1810). Am Dollart schließlich kamen Landschaftspolder (1752) und Heinitzpolder (1773) hinzu.
Durch diese Binnenkolonisierung wurde es möglich, die wachsende Bevölkerung zu ernähren und zugleich weiterhin landwirtschaftliche Exporte zu tätigen. Lebten 1744 noch 83.000 Einwohner in Ostfriesland, waren es 1770 zirka 100.000 und 1805 dann 120.000. Die gute Konjunkturlage erlaubte es, in den Jahren 1798/99 eine lang gehegte, aber bis dahin nicht umgesetzte Wasser-Verbindung zwischen dem Verwaltungsmittelpunkt Aurich und der Seehafenstadt Emden zu verwirklichen: das Treckfahrtstief.
Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 wurde Ostfriesland in das Königreich Holland und damit in den französischen Machtbereich eingegliedert. Diese Annexion wurde 1807 von Preußen im Frieden von Tilsit anerkannt. 1808 wurden noch unter Holländischer Herrschaft die ostfriesischen Landstände aufgelöst.Am 9. Juli 1810 kam es als Departement Ems-Orientale (Osterems) unmittelbar zum französischen Kaiserreich. Das westliche Ostfriesland (Rheiderland) wurde aufgrund alter niederländischer Ansprüche aus Ostfriesland ausgegliedert und dem niederländischen Département Ems-Occidental mit der Hauptstadt Groningen zugeschlagen, dem Département Osterems wurden dafür die Herrschaften Jever und Kniphausen mit Varel zugeschlagen. Frankreich brachte moderne Rechtsvorstellungen nach Ostfriesland und unternahm die ersten Schritte zu einem umfassenden Umbau des Gesellschaftssystems. Auf Anordnung Napoleons mussten die Ostfriesen 1811 die bisher dort unbekannten Familiennamen annehmen und ihr bisheriges kompliziertes System der patronymischen Namensvererbung aufgeben – dies setzte sich aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig durch. Es wurden auch erstmals Bürgermeister in den Dörfern eingeführt. Die Dorfgesellschaften kannten bis dahin keine zentrale Verwaltungsstelle, da die Verantwortung auf die Olderlinge, Deichgrafen und andere lokale Honoratioren verteilt war. Außerdem wurde der Code civil eingeführt, der Gleichheit vor dem Gesetz, persönliche Freiheit und Schutz des Privateigentums garantierte. Zur Durchsetzung der Kontinentalsperre wurden zahlreiche französische Zollbeamte eingesetzt, deren Nachkommen teils noch immer in Ostfriesland leben. Einige Ostfriesen wurden in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit durch den England-Schmuggel wohlhabend, unter anderem mit Tee. Größeren Unmut erzeugten die Truppenaushebungen in Ostfriesland. 1811 kam es auf den Fehnen zu Tumulten, als hier die Männer zur Marine eingezogen werden sollten, die erst nach zwei Todesurteilen endeten.Dennoch empfanden die meisten (auch die hier lebenden Juden, denen unter holländischer und später unter französischer Besetzung die Bürgerrechte und die völlige Gleichberechtigung zugestanden wurde) die Fremdherrschaft als bedrückend und beteiligten sich an den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Nach dem Zusammenbruch seiner Herrschaft zogen in den Jahren 1813 bis 1815 erneut die Preußen ein und die alten Landesgrenzen wurden wiederhergestellt. Ostfriesische Soldaten nahmen an den Schlachten von Ligny und Belle-Alliance (Waterloo) teil.
==== Die hannoversche Zeit (1815–1866) ====
Im Wiener Kongress wurde Preußen zwar ein Teil des Großherzogtums Warschau, die Provinz Posen, zugesprochen, und es erhielt Vorpommern, Westfalen und die Rheinprovinz, jedoch musste es Ostfriesland an das Königreich Hannover abtreten. Federführend war dabei Großbritannien, das die Festsetzung Preußens an der Nordseeküste verhindern wollte. Preußen musste sich im Frühjahr 1813 zur Bezahlung britischer Kriegslieferungen verpflichten und Ostfriesland an das Großbritannien in Personalunion verbundene Hannover abtreten.
Trotz der vertraglichen Zusicherung wurden die Privilegien der Stände von den Königen von Hannover nicht wieder eingeführt. An ihre Stelle trat am 17. Juni 1817 eine Provinzialregierung für Ostfriesland, die dem Staats- und Kabinettsministerium direkt unterstellt war. Am 10. Mai 1823 wurde schließlich die Landdrostei Aurich als Mittelbehörde des Königreichs eingerichtet, welche die Aufgaben der Provinzialregierung übernahm. Im Gegensatz zu Preußen (das zum Beispiel immer auch die Abwesenheit der Ostfriesen in seinem Heer akzeptiert hatte) war innerhalb des Königreichs Hannover keine Sonderrolle für Ostfriesland vorgesehen. Die folgende Zeit war neben diesen rechtlichen Veränderungen von wirtschaftlichem Stillstand, teilweise Rückschritt geprägt.
Im Jahr 1846 erhielt nach 13 Jahren der Beratung die Ostfriesische Landschaft, in der nun auch Vertreter des Harlingerlandes saßen, eine neue Verfassung. Sie sicherte ihr immerhin eine Mitwirkung bei Gesetzen zu, die nur Ostfriesland betrafen.
Zu dieser Zeit lebten etwa 142.000 Einwohner in Ostfriesland. Bis zum Ende der hannoverschen Zeit erhöhte sich die Einwohnerzahl um etwa 37 Prozent auf 194.033. Die schlechten Wirtschaftsbedingungen – die trotz des Baus der Hannoverschen Westbahn 1854–1856, der zunächst Leer und Emden an das Eisenbahnnetz anschloss, lange andauerten – führten zu einer Auswanderungswelle von Ostfriesen in die USA, die etwa um 1848/50 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Ziele waren vor allem die Staaten Illinois und Iowa, in denen es noch heute Regionen gibt, in denen Plattdeutsch gesprochen wird. Die Auswanderer zogen bevorzugt mit Menschen zusammen, mit denen sie schon in ihren Heimatdörfern zusammengelebt hatten. Von 1882 bis 1971 erschien in den Vereinigten Staaten die Zeitung Ostfriesische Nachrichten – Heimatblatt der Ostfriesen in Amerika.
Als das Land mit der Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen 1866 wieder preußisch wurde, stieß dies in Ostfriesland auf Begeisterung. Tatsächlich erfolgte spätestens ab den 1880er Jahren ein wirtschaftlicher Aufschwung. Darüber hinaus setzte sich die kulturelle Verbindung mit Deutschland („Duitsland“) endgültig durch, und die Verwendung der deutschen Sprache in der Schule wurde üblich (in manchen Gebieten wurde zuvor noch Niederländisch und auch Ostfriesisches Platt gesprochen).
==== Preußische Provinz im Deutschen Reich, Erster Weltkrieg (1871–1918) ====
Ostfriesland war nun Teil der preußischen Provinz Hannover. Aus der Landdrostei wurde der Regierungsbezirk Aurich gebildet, wobei die Bezeichnung Landdrostei ebenso wie die Ämterstruktur noch bis 1885 erhalten blieb. In diesem Jahr wurden die Landkreise Aurich, Emden (ohne Stadt Emden), Leer, Norden, Weener und Wittmund gebildet. Als kreisfreie Stadt kam Emden hinzu.
Mit der Reichsgründung am 18. Januar 1871 durch die Proklamation Wilhelms I. zum Deutschen Kaiser, wurde Ostfriesland in den konstitutionell-monarchistischen Bund aus 22 Einzelstaaten und drei freien Städten eingebunden, stand aber dennoch weiterhin unter preußischem Einfluss. So wurde 1880 bis 1888 der Ems-Jade-Kanal erbaut, der seine Entstehung dem Wunsch Preußens verdankte, seinen als Exklave im damaligen Großherzogtum Oldenburg gelegenen Kriegshafen Wilhelmshaven über den Wasserweg mit dem preußischen Ostfriesland, zu dem Wilhelmshaven bis 1937 politisch gehörte, und dem Emder Hafen zu verbinden.
Wirtschaftlich blieben Ackerbau und Viehzucht, insbesondere die Rinderzucht dominierend, wie schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Aurich und Leer waren zu dieser Zeit bedeutende Viehhandelsplätze. Die Industrialisierung fand hingegen nur sehr zögerlich statt. Bedeutung erlangten die Werften in Leer und Emden. Hier lagen auch die Handelszentren des Regierungsbezirks. Bei der wirtschaftlichen Förderung konzentrierte sich der preußische Staat auf Emden. Die Stadt entwickelte sich infolgedessen zum Seehafen des Ruhrgebiets und bedeutenden Umschlagplatz für Massengüter wie Erze und Kohle. Einen Anschub leistete dabei der 1899 fertiggestellte Dortmund-Ems-Kanal. 1913 wurde in der Stadt die Große Seeschleuse eingeweiht. Mit einer Binnenlänge von 260 Metern galt sie als eine der größten Seeschleusen der Welt. Mit dem Bau wurde auch ein neues Hafenbecken angelegt, der Neue Binnenhafen. Die Umschlag im Emder Hafen steigerte sich von 0,4 Millionen Tonnen im Jahr 1899 auf 3,5 Millionen Tonnen im Jahr 1913. Dieser Entwicklung folgten die anderen Städte nur bedingt. Lediglich in Leer gab es ein bescheidenes Wachstum, nachdem der Hafen von 1901 bis 1903 modernisiert worden war.
Das Bevölkerungswachstum in der Region setzte sich fort. 1905 lebten 251.666 Menschen in Ostfriesland, etwa 30 Prozent mehr als zu Beginn der preußischen Herrschaft. Um die Jahrhundertwende setzte ein Wirtschaftswachstum ein, das bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges anhielt. Ab 1906 wurde der Nordgeorgsfehnkanal angelegt, der die planmäßige und industrielle Abtorfung des Wiesmoors ermöglichte, eines rund 100 Quadratkilometer großen, schwer zugänglichen Hochmoorgebiets im geografischen Zentrum der ostfriesischen Halbinsel. Erstmals kamen bei der Moorkolonisierung große und schwere Maschinen zum Einsatz. Der abgebaute Torf wurde ab 1909 im Torfkraftwerk Wiesmoor zur Elektrizitätserzeugung für weite Gebiete zwischen Ems und Unterelbe genutzt.
Wie im übrigen Reich wurde der Beginn des Krieges begeistert gefeiert. Viele junge Männer meldeten sich freiwillig. Das in Aurich stationierte Ostfriesische Infanterie-Regiment Nr. 78 wurde zunächst in Richtung Belgien geschickt und kam sowohl an der Westfront als auch an der Ostfront zum Einsatz. Nach dem Ende des Krieges wurde es Mitte 1919 aufgelöst.
Einen Tag vor der Abdankung des Kaisers wurde in Aurich und Emden am 8. November 1918 der erste Soldatenrat zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ gegründet. Wenig später folgten Leer, Norden, Esens, Wittmund und Dornum. Am 10. November 1918 wurde vor rund 100.000 begeisterten Demonstranten in Wilhelmshaven die Nordseestation und alle umliegenden Inseln und Marinebasen sowie das dazugehörige Oldenburger Land zur sozialistischen Republik Oldenburg/Ostfriesland ausgerufen. Zum Präsidenten des Freistaates Oldenburg wurde am 11. November Bernhard Kuhnt ernannt; er amtierte bis zum 3. März 1919. Am 27. Januar 1919 versuchte die KPD in der Doppelstadt Wilhelmshaven-Rüstringen vergeblich einen Putsch durchzuführen. In der ländlichen, eher konservativ ausgerichteten Bevölkerung Ostfrieslands konnten sich die Arbeiter- und Soldatenräte nicht etablieren, so lösten sie sich dort nach der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung nach und nach auf.
=== 20. Jahrhundert ===
==== Weimarer Republik ====
In der Weimarer Republik wurde in Person von Jann Berghaus 1922 erstmals wieder ein Ostfriese Regierungspräsident in Aurich. Diese Position hielt er bis zum Preußenschlag 1932 inne.
Ostfriesland als vorwiegend ländlich geprägte Region hatte nach dem Ersten Weltkrieg eine wirtschaftlich relativ günstige Phase erlebt. Mit ihren Überschüssen bedienten die Bauern einen Markt, der schnell wuchs. Während industrialisiertere Regionen und Städte erst später von der Weltwirtschaftskrise getroffen wurden, ergriff diese die Region jedoch früh. Ab 1924 kam es zu einem starken Preisverfall bei Agrarprodukten um bis zu 40 Prozent. Dies führte beispielsweise in der stark von der Landwirtschaft abhängigen Stadt Aurich zu einer fatalen Kettenreaktion. Der Wert der Höfe halbierte sich, die Landbevölkerung verarmte. Dadurch kam es häufig zu Zwangsversteigerungen unter Wert, was mit einer gewissen Verzögerung die Banken in eine Krise führte und schließlich Handwerk und Handel mit sich riss. Maßnahmen der Bezirksregierung, um die Konjunktur wieder anzukurbeln, wie Investitionen in Deichbau- und Landgewinnungsprojekte, die Moorkultivierung und den Bau mehrerer Schöpfwerke, blieben zumeist wirkungslos, was den direkten wirtschaftlichen Erfolg betraf. Der Landesausbau insgesamt profitierte jedoch.
Längerer Erfolg war vor allem zwei Maßnahmen beschieden: Seit 1925 errichteten die Nordwestdeutschen Kraftwerke, die 1921 den Torfabbau in Wiesmoor von der staatlichen Domänenverwaltung übernommen hatten, die mit 30 Morgen (rund 75.000 Quadratmeter) damals größten Treibhausanlagen Europas, die die Abwärme des Torfkraftwerks nutzten. In Leer wurde ab 1923 auf Initiative des Bürgermeisters Erich vom Bruch die bis dahin landwirtschaftlich genutzte Nesse-Halbinsel am Hafen überplant. Mehrere Industriebetriebe siedelten sich an, darunter eine Fabrik der Deutschen Libby GmbH. Auch entstand dort 1927 der modernste und größte Viehmarkt im Deutschen Reich.Die Stadt Emden war zudem durch die Ruhrbesetzung durch Frankreich von ihrem Hauptmarkt, dem Ruhrgebiet, abschnitten. Die Ein- und Ausfuhr von Erz und Kohle nahmen deutlich ab. Dadurch kam die heimische Industrie, namentlich der Schiffbau zum Erliegen. Die folgenden Jahre waren geprägt durch eine hohe Arbeitslosigkeit, Streiks, und Rezession. In dieser Zeit breitete sich der bis dato unbedeutende Antisemitismus in Ostfriesland aus, der sich unter anderem gegen den jüdischen Viehhandel richtete, dem manche in der Zeit der damaligen Agrarkrise mit Vorurteilen und Misstrauen begegneten. Vor allem der Fall des Borkumer Pastors Ludwig Münchmeyer, der mit antisemitischen Hasstiraden das Publikum aufhetzte und anschließend im sogenannten Münchmeyer-Prozess gezwungen wurde, sein Amt als Pastor aufzugeben, erregte dabei reichsweites Aufsehen.
1932 wurde in Ostfriesland eine Kreisreform durchgeführt. Der Kreis Weener wurde aufgelöst und in den Landkreis Leer integriert. Der Kreis Emden wurde ebenfalls aufgelöst, nachdem die kreisfreie Stadt Emden bereits vier Jahre zuvor einige Gebiete des Kreises eingemeindet hatte. Der Großteil des Kreises Emden, darunter das Gebiet der heutigen Gemeinden Krummhörn, Hinte und Wirdum, kam zum Landkreis Norden, ein kleinerer Teil (Oldersum, Tergast) zum Landkreis Leer, der dadurch nahezu seine heutige Größe erreichte.
Bei den Reichstagswahlen von 1932 wählten 44,2 % der Stimmberechtigten im Regierungsbezirk Aurich die NSDAP. Die Wahl von 1933 besiegelte schließlich das Ende der Demokratie auch in Ostfriesland.
==== Nationalsozialismus ====
===== Nach der Machtübernahme =====
Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung kam es in den Folgejahren zu einigen Großveranstaltungen in Aurich mit mehreren Tausend begeisterten Zuhörern. Bei der Reichstagswahl 1933 erreichte die NSDAP im Landkreis Wittmund mit 71 Prozent der abgegebenen Stimmen ihr Spitzenergebnis.Mit Verleumdungskampagnen, teilweise auch mit roher Gewalt, wurden ab 1933 demokratisch gewählte Politiker aus dem Amt gedrängt. In Leer beging Bürgermeister Erich vom Bruch nach massiven Vorwürfen und Drohungen im Mai 1933 Selbstmord, im Oktober wurde Emdens Oberbürgermeister Wilhelm Mützelburg nach körperlichen Misshandlungen durch Nationalsozialisten im Wortsinne „aus dem Rathaus geworfen“. Die Medien wurden gleichgeschaltet, was auf nur geringen Widerstand traf. Wichtigstes Organ der NSDAP war die 1932 gegründete Ostfriesische Tageszeitung (OTZ), die zum regionalen Leitmedium wurde. Durch das Gleichschaltungsgesetz konnte die Reichsregierung Gesetze erlassen.
Zwei Jahre später verbesserte sich scheinbar die wirtschaftliche Lage. Das schon in der Weimarer Republik begonnene Konjunkturprogramm wurde von den Nationalsozialisten in Ostfriesland erheblich ausgebaut. Noch am 1. Januar 1933 hatte Ostfriesland 21888 Arbeitslose zu vermelden, zum Jahresende 1935 waren es noch 248 und bis 1938 sank die Zahl auf 31, was auch der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht geschuldet war.Verbände und Vereine wurden nach dem Führerprinzip strukturiert, jüdische Mitglieder hinausgedrängt und die freie Marktwirtschaft eingeschränkt. Auch in die Verwaltungsstrukturen griffen die Nationalsozialisten ein: Ostfriesland zählte nun zum Gau Weser-Ems der NSDAP.
Seit Anfang 1933 hatten vor allem Juden unter Repressionen staatlicher Organe zu leiden. Sozialisten und Kommunisten wurden in „Schutzhaft“ genommen und zum Teil in Konzentrationslagern inhaftiert. Zwei Monate nach der Machtergreifung und vier Tage früher als in anderen Teilen des deutschen Reiches begann in Ostfriesland der Boykott jüdischer Geschäfte. Am 28. März 1933 postierte sich die SA vor den Geschäften. In der Nacht wurden in Emden 26 Schaufensterscheiben eingeworfen, was die Nationalsozialisten später den Kommunisten anlasten wollten.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 beteiligten sich SA-Truppen an den landesweiten Novemberpogromen, euphemistisch auch als Reichskristallnacht bezeichnet. In dieser Nacht wurden die Synagogen von Aurich, Emden, Esens, Leer, Norden und Weener niedergebrannt. Die Synagoge in Bunde war schon vor 1938 an den Kaufmann Barfs verkauft und umgestaltet worden (die Synagoge steht bis heute, ist allerdings als solche durch mehrere Umbaumaßnahmen nicht zu erkennen). Die Synagoge von Jemgum war bereits um 1930 verfallen. Die örtliche Synagoge der Jüdischen Gemeinde Neustadtgödens war bereits 1936 aufgelassen und im Juni 1938 an einen Privatmann verkauft worden, so dass das Gebäude verschont blieb. Die Synagoge auf Norderney wurde 1938 verkauft, die in Wittmund war im Juni 1938 auf Abbruch verkauft worden. Erhalten ist heute nur noch die Synagoge von Dornum, welche am 7. November 1938 an einen Tischler verkauft wurde. Männliche Juden im Alter zwischen 16 und 60 Jahren wurden zusammengetrieben und zum Teil stundenlang gedemütigt. Anschließend wurden sie über Oldenburg in das KZ Sachsenhausen deportiert, aus dem sie erst nach Wochen zurückkehren konnten. Der Verfolgungsdruck verstärkte sich weiter, und zwei Jahre später, im April 1940, meldeten die ostfriesischen Städte und Landgemeinden dem Regierungspräsidenten, früher als anderswo im Reich, dass sie „judenfrei“ seien.
===== Zweiter Weltkrieg =====
Die Kriegsvorbereitungen begannen auch in Ostfriesland sehr früh.
Mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurden nach Aurich auch Emden und Leer Garnisonsstädte.
Während des Weltkrieges war Emden als wirtschaftliches wie industrielles Zentrum Ostfrieslands mehrfach Ziel von Luftangriffen, die jedoch zunächst nur geringere Schäden anrichteten. Am 27. September 1943 fanden in Esens 165 Menschen bei einem Bombenangriff den Tod. Das „Armen- und Arbeiterhaus“ wurde völlig zerstört, im Keller des Gebäudes starben 102 Schul- und Landjahrkinder. Esens – selbst ohne militärische Bedeutung – wurde als sogenanntes „Target of Opportunity“ (Gelegenheitsziel) von verirrten Bombern getroffen, die eigentlich Emden als Ziel hatten. Aurich wurde während des Krieges dreimal bombardiert. Dabei kamen 17 Menschen ums Leben und 24 wurden verletzt. Am 6. September 1944 wurde Emden erneut bombardiert. Beim Angriff alliierter Bombereinheiten wurden rund 80 Prozent der Innenstadt und damit fast die gesamte historische Bausubstanz zerstört, darunter auch das Rathaus. Auf den Werften und an den Hafenumschlagsanlagen richteten die Bomben hingegen nur vergleichsweise geringe Zerstörungen an.
Gegen Ende des Krieges wurde 1944 das KZ Engerhafe errichtet. Die hier unter unmenschlichen Bedingungen Inhaftierten mussten Panzergräben rund um die zur Festung erklärte Stadt Aurich ausheben. Kurz vor der Fertigstellung der „Rundumverteidigung Aurichs“ wurde das Lager am 22. Dezember 1944 aufgelöst. Innerhalb der zwei Monate seines Bestehens starben 188 Häftlinge.Ende April 1945 erreichten Alliierte Bodentruppen Ostfriesland. Im südlichen Rheiderland wurden durch Flammenwerfer einige kleinere Dörfer und Höfe dem Erdboden gleichgemacht. In Weener wurden durch Häuserkämpfe und Artilleriebeschuss einige Häuser beschädigt oder zerstört. Am 30. April wurde Leer von kanadisch-britischen Truppen eingenommen. Bis zum 2. Mai erreichten sie auch Oldersum und Großefehn. Am 3. und 4. Mai 1945 verhandelte eine Delegation aus Aurich erfolgreich mit den heranrückenden Kanadiern zur kampflosen Übergabe der Stadt. Diese erfolgte am 5. Mai 1945, nachdem ein am 4. Mai bei Lüneburg unterzeichneter Vertrag zur bedingungslosen Kapitulation der drei in Nordwestdeutschland operierenden deutschen Armeen am selben Tag um acht Uhr in Kraft getreten war.
==== Nachkriegszeit ====
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Ostfriesland Teil der britischen Besatzungszone. Dabei waren auch kanadische Soldaten in Ostfriesland stationiert. In den Niederlanden gab es Überlegungen, einige Gebiete Deutschlands zu annektieren, wobei der Dollart, die Emsmündung und Borkum ins Auge gefasst wurden, um Emden vom Seehandel abzuschneiden. Diese Pläne scheiterten jedoch am Widerstand der Westalliierten.
1946 bildeten die Briten aus den Ländern Hannover, Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe das Land Hannover, aus dem später das Land Niedersachsen hervorging. Ostfriesland kam als Regierungsbezirk Aurich innerhalb der Provinz Hannover dazu.
Das Land wurde von vielen Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches bevölkert. Lebten 1945 noch etwa 295.600 Einwohner in Ostfriesland, waren es ein Jahr später 364.500, 1948 bereits 390.334. 1950 wurde mit 391.570 Einwohnern das vorläufige Maximum erreicht, unter ihnen stellten die Vertriebenen 16,3 Prozent. Danach nahm die Bevölkerungszahl allmählich wieder ab. 1959 hatte Ostfriesland 358.218 Einwohner, davon 38.678 Heimatvertriebene, was einem Anteil von 10,8 Prozent entsprach.Die Infrastruktur in einigen ländlichen Gemeinden war nach dem Zweiten Weltkrieg äußerst dürftig. Dies verdeutlicht der folgende amtliche Vermerk.
Zwischen 1948 und 1952 wurden allein im Landkreis Aurich (damals bestehend aus dem heutigen Gebiet der Kommunen Aurich, Ihlow, Südbrookmerland und Großefehn) mehr als 113 Kilometer befestigte Straßen ausgebaut, wobei neben Betonbrocken von ehemaligen (Militär-)Flugplätzen im Landkreis Wittmund auch Trümmermaterial der im Krieg stark zerstörten Städte Emden und Wilhelmshaven verwendet wurde.
Der Landkreis Aurich war es auch, der den höchsten Anteil an Kleinwohnungen aufzuweisen hatte. Bereits eine Untersuchung von 1941 hatte ergeben, dass von 11.555 Wohnungen im Landkreis 2.745 als gesundheitsschädlich und 1.819 als menschenunwürdig eingestuft wurden. Dabei spielte besonders der hohe Anteil von Gemeinden in Moorgegenden eine Rolle. Allerdings war die Lage in den Moorgebieten der anderen Landkreise vergleichbar.
Die Arbeitslosigkeit war zu Beginn der 1950er Jahre außerordentlich hoch. Im Landkreis Aurich kamen per 31. Dezember 1951 auf 1000 Arbeitnehmer 405 Arbeitslose, neben Deggendorf die höchste Arbeitslosenquote in Deutschland. Besonders betroffen waren davon die Vertriebenen.
Der Wiederaufbau nach dem Krieg dauerte in Emden aufgrund der massiven Zerstörungen am längsten. Noch zu Beginn der 1960er Jahre gab es in der Stadt Barackenlager. Von 1959 bis 1962 wurde das Emder Rathaus nach historischem Vorbild wieder aufgebaut – allerdings in sachlicherem, weniger manieristischen Stil. Die Einweihung wurde bewusst auf den 6. September 1962 gelegt – also auf den Tag 18 Jahre nach der Zerstörung des Gebäudes.
==== Wirtschaftswunder, Verwaltungsreformen, kulturelles Eigenbewusstsein ====
Durch die zunehmende Mechanisierung gingen in der Landwirtschaft zusehends Arbeitsplätze verloren. Das Wirtschaftswunder ging jedoch auch an Ostfriesland nicht vorbei. Industrieller Kern der Region blieb Emden, wo nach Genehmigung durch die Alliierten seit 1950 wieder Schiffe vom Stapel liefen. 1964 wurde mit dem Bau des bis heute wichtigsten Industriebetriebs begonnen, dem Volkswagenwerk Emden. 1977 lief dort der letzte in Deutschland gebaute VW Käfer vom Montageband, seitdem wird dort der VW Passat hergestellt.
Die in den 1970er Jahren beginnende Werftenkrise führte jedoch sukzessive zu einem Abbau von Arbeitsplätzen, bei der größten Werft Nordseewerke in Emden nach und nach auf das Niveau von etwa 1450 Beschäftigten. Auch der Büromaschinenhersteller Olympia schloss Anfang der 1980er Jahre zwei Zweigwerke in Norden und Leer.
Die Stahlkrise einerseits, aber auch die Umleitung der Importe von Erzen nach Rotterdam andererseits bedeuteten für den Emder Hafen einen stetigen Abbau des Umschlags von Erzen und später auch Kohle. Andere Wirtschaftszweige konnten diesen Arbeitsplatzabbau nicht auffangen. Vom Tourismussektor abgesehen, der stets ein stabiler, wenn auch stark saisonabhängiger Faktor auf dem Arbeitsmarkt war, konnten auch Dienstleistungsbranchen in der peripheren Region den Verlust an Arbeitsplätzen nicht ausgleichen. Ostfriesland litt daher jahrzehntelang unter einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenquote. In der Mitte der 1980er Jahre lag sie beispielsweise im Bereich der Arbeitsamts-Geschäftsstelle Norden in den Wintermonaten bei etwa 20 Prozent.
1984 wurde in Aurich der Windenergieanlagenhersteller Enercon gegründet, der heute mehr als 4000 Beschäftigte in Ostfriesland zählt und auch bei einer Vielzahl von Zulieferbetrieben in der Region Beschäftigung sichert. In den 1980er Jahren begann der Aufstieg Leers zum zweitgrößten deutschen Seereedereistandort nach Hamburg. Größter privater Dienstleistungsbetrieb in Ostfriesland ist die Bünting-Gruppe in Leer, ein Handelsunternehmen mit zirka 7500 Beschäftigten, allerdings nicht alle davon in Ostfriesland. Als stabiler Faktor erweist sich die Industrie in Emden mit dem VW-Werk und den Nordseewerken sowie der Umschlag im Emder Hafen, der sich in den vergangenen rund zwei Jahrzehnten zum drittgrößten Autoverladehafen Europas gewandelt hat. Die Arbeitslosenquote ist seit Mitte der 1990er Jahre zurückgegangen und liegt heute im deutschen Durchschnittsbereich.
In den späten 1960er Jahren und frühen 1970er Jahren wurde in Norden ein umfangreiches Stadtsanierungsprogramm begonnen. Dadurch wurden viele kleine Arbeiterhäuschen abgerissen und durch als modern empfundene, bis zu achtgeschossige Wohnbauten ersetzt. Pläne, in der kleinteiligen Leeraner Altstadt eine sogenannte Flächensanierung vorzunehmen und die historischen Gebäude durch Wohn- und Geschäftsbauten des damaligen Zeitgeistes zu ersetzen, wurden nicht verwirklicht. Stattdessen wurden die meisten der alten Häuser saniert. Leer hat heute die am besten erhaltene historische Innenstadt Ostfrieslands. Pläne, auch einen Teil des Hafens zuzuschütten, wurden ebenfalls nicht verwirklicht.
In Emden wurde bereits 1959 das erste Hochhaus (acht Stockwerke) fertiggestellt. Ende der 1960er Jahre und Anfang der 1970er Jahre kamen mehrere bis zu elfgeschossige Hochhäuser hinzu, darunter die sogenannten Glaspaläste im Stadtteil Barenburg.
Mit der Nordseehalle (1972), der Kunsthalle (1986), der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden (1995) und kleineren Museen in anderen ostfriesischen Orten wurde die kulturelle Infrastruktur seit Anfang der 1970er Jahre deutlich ausgebaut. 1973 wurde Emden Fachhochschulstandort.
Im Zuge der Kommunalreform wurde 1972 die vormals ostfriesische Gemeinde Gödens in die oldenburgische Gemeinde Sande eingegliedert. Innerhalb Ostfriesland wurden viele kleine Gemeinden mit einer teils nur dreistelligen Einwohnerzahl zu größeren Gemeinden oder Samtgemeinden verschmolzen. Auf diese Weise entstanden beispielsweise die Gemeinden Uplengen und Krummhörn aus jeweils 19 Gemeinden, die nur aus Dörfern und ihrem näheren Umland bestanden hatten. Auch haben Städte in größerem Umfang umliegende Gemeinden eingegliedert. Als Beispiel kann die Stadt Aurich angeführt werden, die 20 Gemeinden inkorporierte und damit auf eine Größe von 197 Quadratkilometern wuchs. Damit war der heutige Umfang der Städte und Gemeinden im Wesentlichen hergestellt. Seither gab es Änderungen bei den Städte- und Gemeindegrenzen nur noch durch Flächentausch in geringerem Umfang.
1978 wurde der Regierungsbezirk Aurich mit den Bezirken Osnabrück und Oldenburg im Regierungsbezirk Weser-Ems zusammengefasst. Seit 1978 ist Ostfriesland somit keine eigenständige Verwaltungseinheit mehr. Lediglich die Ostfriesische Landschaft als Landschaftsverband ist weiterhin ostfrieslandweit tätig – politisch jedoch lediglich auf dem Gebiet der Kulturpolitik, wozu unter anderem die Pflege des Plattdeutschen, die Aufarbeitung der Geschichte Ostfrieslands, die Bewahrung des Kulturerbes und seit 2006 auch Teile des Regionalmarketings gehören. „Die Landschaft“, wie sie kurz genannt wird, ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und ein höherer Kommunalverband, jedoch explizit keine Gebietskörperschaft. Die Landschaftsversammlung als oberstes Organ setzt sich aus gewählten Vertretern zusammen, die von den drei Kreistagen und dem Emder Stadtrat zu benennen sind und versteht sich als identitätsstiftende Institution aller Ostfriesen. Rund um den oll’ Mai (10. Mai), an dem in früheren Zeiten das Administrationskollegium -ein Vorläufer des heutigen Landschaftskollegiums- dem Parlament der Landschaft seinen Rechenschaftsbericht ablegte, organisiert die Landschaft eine Fachtagung zu einem ihrer Aufgabengebiete. Zu dieser Gelegenheit finden Ehrungen statt und für die Region verdienstvolle Nicht-Ostfriesen bekommen die Ehrenbürgerschaft, das sogenannte „Indigenat“ verliehen. Außerdem wird ein Kulturpreis an ausgezeichnete Projekte oder Personen verliehen. Unter den Landschaften und Landschaftsverbänden in Niedersachsen ist die Ostfriesische Landschaft, 1464 ins Leben gerufen, mit Abstand die älteste – alle anderen wurden erst im 20. Jahrhundert gegründet.
Der Landkreis Wittmund wurde im Zuge der 1977 durchgeführten Kreisreform in Niedersachsen aufgelöst und mit den Gemeinden Jever, Sande, Schortens, Wangerland, Wangerooge des Landkreises Friesland zu einem neuen Landkreis Friesland zusammengeschlossen, dessen Kreisstadt Wittmund wurde. Nach einer Verfassungsbeschwerde erklärte der Niedersächsische Staatsgerichtshof in Bückeburg die Kreisreform im Raum Friesland für verfassungswidrig. Daraufhin stellte der Niedersächsische Landtag zum 1. Januar 1980 die Landkreise Ammerland, Friesland und Wittmund in ihrer ursprünglichen Form vom 31. Juli 1977 wieder her.
Zur Regelung strittiger Fragen in der deutsch-niederländischen Grenzfrage, die vor allem die Meeresgrenze vor Ostfriesland betrifft, schlossen beide Seiten am 10. September 1984 den Kooperationsvertrag Ems-Dollart. Zur Regelung der Schifffahrt im umstrittenen Gebiet wurde am 22. Dezember 1986 die Schifffahrtsordnung Emsmündung getroffen, die am 1. Oktober 1989 in Kraft trat. 1996 folgte das Ems-Dollart-Umweltprotokoll.
=== 21. Jahrhundert ===
Im 21. Jahrhundert setzte sich der Niedergang der Werftindustrie fort. Betroffen davon war vor allem Emden, wo die Cassens-Werft 2018 und die Nordseewerke nach mehreren Eigentümerwechseln unter dem Namen Fosen Yards 2022 ihren Betrieb einstellten. Während bei den Nordseewerken zuletzt noch etwa 1000 Mitarbeiter beschäftigt waren, arbeiteten bei Fosen Yards noch etwa 75 Mitarbeiter.Eine Krise durchlief zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch die Windkraftindustrie. So stoppte Enercon nach einer Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2014 sämtliche Investitionen in Deutschland. 2019 kündigte das Unternehmen einen massiven Stellenabbau an und begründete diesen Schritt mit heftiger Kritik an der Energiepolitik der Bundesregierung.Im Zuge der Umstellung auf die Produktion von Elektroautos gab Volkswagen an, etwa eine Milliarde Euro in seinen Standort Emden investieren zu wollen. Dafür sollen auf dem Gelände des Werkes unter anderem sechs neue Hallen entstehen. 2022 begann die Produktion des Elektro-SUVs VW ID.4 in Emden. Ab 2023 soll dort auch der Passat-Nachfolger Aero B vom Band laufen, möglicherweise unter dem Namen ID.7.Auf politischer Ebene gab es den Versuch, mit dem Regionalrat Ostfriesland eine gemeinsame Interessenvertretung der Region Ostfriesland gegenüber dem Land Niedersachsen, der Bundesrepublik Deutschland, der Europäischen Union und sonstigen Stellen einzurichten. Die Landkreise Aurich, Leer, Wittmund sowie die kreisfreie Stadt Emden gründeten das Gremium am 25. August 2010. Ein Beitritt des Landkreises Friesland sowie der Stadt Wilhelmshaven wurde angestrebt, allerdings nie vollzogen. Am 24. April 2015 beschloss der Hauptausschuss des Regionalrates die Auflösung des Gremiums. Als Grund wurden u. a. die nicht funktionierende Arbeit in den Fachausschüssen sowie die fehlenden Kompetenzen des Regionalrats genannt.Um den Strukturwandel in Ostfriesland voranzubringen und zu gestalten, schlossen sich die vier Kommunen am 30. September 2020 zur Allianz für Ostfriesland mit Sitz im Amt für regionale Landesentwicklung in Aurich zusammen. Begleitet werden die Kommunen von der Hochschule Emden/Leer, die etwa als Innovationstreiber agieren und Strukturwandelprojekte entwickeln soll.Die Stadt Aurich eröffnete am 1. Juli 2015 das Energie-, Bildungs- und Erlebniszentrum (EEZ). Dort will sich die Kommune als „Stadt der regenerativen Energien“ präsentieren, Auf rund 6800 Quadratmetern beherbergt das EEZ die Lehrwerkstätten Mechanik und Elektronik sowie das Besucherzentrum von Enercon, das Studienseminar Aurich mit dem Zentrum für nachhaltige Ernährung der Rut- und Klaus-Bahlsen-Stiftung, Büros des Regionalen Pädagogischen Zentrums der Ostfriesischen Landschaft sowie des Kompetenzzentrums „Energie“ der Wachstumsregion Ems-Achse und des Verkehrsvereins Aurich und eine etwa 1800 Quadratmeter große Ausstellung.
2018 erwarb die Ostfriesische Landschaft zwei Flügel der ehemaligen Kleiderkammer der ehemaligen Blücher-Kaserne. Dort soll das Sammlungszentrum für historisches ostfriesisches Kulturgut entstehen, in dem die Landschaft Bestände der archäologischen Landesaufnahme, der Landschaftsbibliothek, des Kostümfundus, der Graphothek sowie der allgemeinen kulturhistorischen Sammlung aufbewahren will. Im Zuge des Umbaus lässt die Landschaft dafür auf etwa 1400 m² zusätzliche Depotfläche und auf knapp 700 m² Büros, Werkstätten und Funktionsräume einrichten.
Die Corona- und die Energie-Krise nach dem Russischen Überfall auf die Ukraine 2022 trafen die Tourismusbranche und den Einzelhandel in Ostfriesland schwer. So beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern im Zuge der COVID-19-Pandemie in Deutschland ab dem 16. März 2020 den Zugang zu den Inseln der Nord- und Ostsee für Touristen zu unterbinden. Die Allgemeinverfügung wurde durch den Landkreis Aurich am 17. März 2020 bekanntgegeben. Diese Regelung wurde später mehrfach gelockert und verschärft. Zeitweilig galt ein landesweites Beherbergungsverbot für Touristen, die nicht aus Niedersachsen kamen. Auch für den Einzelhandel und die Gastronomie galten massive Einschränkungen, die die Landesregierung 2022 nach und nach lockerte. Im Zuge der Pandemie hatten die ostfriesischen Landkreise sowie die Stadt Emden mehrere große provisorische Imfzentren eingerichtet. Nachdem ein Großteil der Bevölkerung mindestens einmal geimpft war und die Nachfrage nachließ, schlossen die großen Impfzentern wieder, so etwa das des Landkreises Aurich in der Sporthalle in Georgsheil: Nach 140.000 verabreichten Impfungen war dort am 23. September 2021 Schluss.Die EWE kündigte 2022 eine Großinvestition in die Region an: In Emden will der regionale Energieversorger für eine knappe halbe Milliarde Euro eine Großanlage zur Produktion von Wasserstoff bauen. Die 320-Megawatt-Anlage soll bis Ende 2026 entstehen und jährlich mehr als eine Milliarde Kilowattstunden grünen Wasserstoff erzeugen. Dieser soll unter anderem in der Industrie und im Schwerlastverkehr eingesetzt werden. Er kann auch über die bestehende Gasinfrastruktur in bestehende Kavernenspeicher gespeichert werden.Mit dem Neubau der B 210 zwischen der Anschlussstelle Riepe (A 31) und Aurich sowie einer Ortsumgehung für die Stadt Aurich will das Land Niedersachsen die Anbindung des mittelostfriesischen Raumes und der Stadt Aurich an das Autobahnnetz sowie die touristische Erschließung der Region verbessern. Das Vorhaben wird intensiv diskutiert und spaltet Ostfriesland in Gegner und Befürworter. Der Fahrgastverband Pro Bahn, das Nahverkehrsbündnis Niedersachsen und Teile der Politik sprechen sich weiterhin für einen Bahnanschluss für Aurich aus. Auch eine Reaktivierung der Strecke Esens - Norden steht im Raum.
Als Küstenregion ist Ostfriesland besonders stark vom Klimawandel betroffen. Dabei sorgt der steigende Mehresspiegel für Probleme im Küstenschutz und der Entwässerung. Während Klimadeiche die Region vor Anstieg des Meeresspiegels schützen sollen, befürchten Experten, dass der Wasserstand der Nordsee um 2060 so hoch ist, dass das überschüssige Wasser aus dem Binnenland nicht mehr von selbst abfließen kann. Dieses müsste dann mit viel Energie fund unter hohen Kosten ins Meer gepumpt werden. Problematisch wird auch die ungleiche Verteilung des Niederschlags: Im Winter wird es erheblich mehr regnen, im Sommer dagegen weniger. Die daraus folgende Trockenheit könnte Folgen für die Landwirtschaft haben, weshalb das Oberflächenwasser im Sommer in Poldern zwischengespeichert werden soll. Darüber hinaus sollen die Speicher bei Starkregen überschüssiges Wasser aufnehmen und vor Überschwemmungen schützen.
== Forschungseinrichtungen, Archive, Bibliotheken und Museen ==
Die Ostfriesische Landschaft nimmt im Auftrage ihrer Gebietskörperschaften (den drei ostfriesischen Landkreisen Aurich, Leer und Wittmund sowie die Stadt Emden) und des Landes Niedersachsen zentrale kommunale und dezentrale staatliche Aufgaben auf den Gebieten der Kultur, Wissenschaft und Bildung wahr und betreibt dazu entsprechende Einrichtungen.
Der Standort Aurich des Niedersächsischen Landesarchivs, das für den Raum Ostfriesland zuständig ist, bewahrt Archivmaterial zur ostfriesischen Geschichte. Das Wirtschaftsarchiv Nord-West-Niedersachsen sammelte historisch wertvolles Schriftgut aus dem Wirtschaftsleben der Region. Es ist inzwischen im Wirtschaftsarchiv Niedersachsen aufgegangen. Die Bestände ostfriesischer Firmen aus dem früheren Wirtschaftsarchiv Nord-West-Niedersachsen verwahrt jetzt das Niedersächsische Landesarchiv in Aurich. Die Stadt Emden verfügt über ein Archiv, das als eines der umfassendsten kommunalen Archive Niedersachsens gilt. Die dort aufbewahrten Urkunden, Schriften und Akten reichen bis an das Ende des 15. Jahrhunderts zurück. So findet sich dort unter anderem die Urkunde zur Verleihung des Stadtwappens 1495. Weitere Stadtarchive finden sich in Leer, Wittmund und Norderney.
Die Landschaftsbibliothek ist die größte wissenschaftliche Bibliothek in Ostfriesland. Sie sieht sich selbst der Tradition staatlichen Buchbesitzes in Ostfriesland verpflichtet und leitet daraus den Anspruch ab, ostfriesische Regionalbibliothek zu sein. Die Johannes a Lasco Bibliothek ist eine Fachbibliothek zur Geschichte des Calvinismus in Europa. Das Ostfriesische Landesmuseum ist ein Museum zur Geschichte der Stadt Emden und der Region Ostfriesland und zeigt deren Einbettung in die europäische Geschichte. Zu einzelnen Sonderausstellungen werden Fachkataloge herausgegeben.
== Siehe auch ==
Die Wikipedia-Artikel
Geschichte der Stadt Aurich
Geschichte des Brookmerlandes
Geschichte Emdens
Geschichte der Stadt Leer
Geschichte der Stadt Norden (Ostfriesland)
Geschichte der Stadt Esens
Jadegebietbieten detailliertere Informationen zur Geschichte einzelner ostfriesischer Städte und Teilregionen.
== Literatur ==
Jan Wybren Buma (Hrsg.): Die Brokmer Rechtshandschriften. Nijhoff, Den Haag 1949 (Oudfriese Taal- en Rechtsbronnen 5).
Karl Cramer: Die Geschichte Ostfrieslands – Ein Überblick. Isensee Verlag, Oldenburg 2003, ISBN 3-89598-982-7.
Walter Deeters: Kleine Geschichte Ostfrieslands. Verlag Schuster, Leer 1992, ISBN 3-7963-0229-7.
Geschichte des Rheiderlandes. Risius, Weener 2006 ff.
Heiko Heikes: Die Ukena. In: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden. Band 34, 1954, ISSN 0341-969X, S. 15–52.
Onno Klopp: Geschichte Ostfrieslands. 3 Bände. Rümpler, Hannover 1854–1858.
Band 1 Digitalisat des ersten Bandes
Band 2 Digitalisat des zweiten Bandes
Band 3 Digitalisat des dritten Bandes
Hajo van Lengen: Bauernfreiheit und Häuptlingsherrschaft. In: Karl-Ernst Behre, Hajo van Lengen: Ostfriesland. Geschichte und Gestalt einer Kulturlandschaft. Ostfriesische Landschaft, Aurich 1995, ISBN 3-925365-85-0, S. 113–134.
Hajo van Lengen (Hrsg.): Die Friesische Freiheit des Mittelalters – Leben und Legende. Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 2003, ISBN 3-932206-30-4.
Almuth Salomon: Friesische Geschichtsbilder, Historische Ereignisse und kollektives Gedächtnis im mittelalterlichen Friesland. Ostfriesische Landschaftliche Verlags- und Vertriebsgesellschaft, Aurich 2000, ISBN 3-932206-19-3 (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, Band 78).
Heinrich Tjaden: Illustrierte Ostfriesische Geschichte. Verlag Schwalbe, Emden 1913 (mit einer Karte des Rheiderlands vor der Überschwemmung).
Ernst Friedländer: Ostfriesisches Urkundenbuch. Band I und II. Digitalisat
== Weblinks ==
Biographisches Lexikon für Ostfriesland
Weitere Ausführungen zur Geschichte Ostfrieslands. Monumente Online
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Ostfrieslands
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Honda NSX
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= Honda NSX =
NSX bezeichnet einen zwischen 1990 und 2005 in verschiedenen Versionen angebotenen zweisitzigen Mittelmotor-Sportwagen von Honda. In Nordamerika und Hongkong wurde er unter dem Markennamen Acura verkauft. Rennversionen des Wagens wurden mit Werksunterstützung allerdings auch noch bis Ende 2009 im Motorsport eingesetzt. Der NSX gilt in mehrfacher Hinsicht als technischer Vorreiter: Er ist das erste Serienkraftfahrzeug, das praktisch vollständig aus Aluminium gebaut wurde und das sowohl eine elektronische Lenkunterstützung als auch eine elektronische Drosselklappen-Steuerung hat (Drive-by-Wire). Sein V6-Motor erreicht Drehzahlen bis 8000 min−1 und hat Titan-Pleuel und Zündkerzen mit Platin-Elektroden.
== Entwicklung und Vorstellung ==
Nach Angaben des damaligen Leiters der Entwicklungsabteilung und späteren Firmenchefs Nobuhiko Kawamoto begann das Honda-Sportwagenprojekt Anfang 1986. Entwicklungsvorgabe unter der Gesamtprojektleitung des Chefingenieurs Shigeru Uehara, der auch als „Vater des NSX“ gilt, war unter anderem eine weitgehende Leichtbauweise mit einem kompakten Motor, eine ausgewogene Aerodynamik mit möglichst geringem Auftrieb bei hohen Geschwindigkeiten und eine fahrerorientierte Ergonomie mit größtmöglicher Rundumsicht (311,8 Grad). Weitere Stylingeinflüsse lassen sich auf die frühere Zusammenarbeit von Honda mit den italienischen Pininfarina-Designern zurückführen, die 1984 auf dem Turiner Autosalon den Prototyp „HP-X“ (für Honda/Pininfarina-Experimental) vorstellten. Dieses Fahrzeug war auch als Mittelmotorauto konzipiert; allerdings mit einem 2-Liter-Sechszylinder-Motor. Es war von einem Honda-Formel-2-Motorenprojekt abgeleitet, das wegen der Reglement-Änderung 1985, als die Formel 2 durch die Formel 3000 mit 3-Liter-Motoren ersetzt wurde, nicht mehr zum Einsatz kam.Eine große Ähnlichkeit besteht außerdem mit dem 1985 auf der IAA in Frankfurt von der MG Rover Group vorgestellten Prototyp MG EX-E, dessen Gestaltung nach Angaben des Designers Roy Axe auch schon vom F-16-Jet sowie von seinem privaten Ferrari 308 beeinflusst worden war. Honda besaß in den 1980er-Jahren zeitweise 20 Prozent der MG-Rover-Aktien und half bei der Entwicklung verschiedener Modelle der britischen Marke.
Bis 1989 dauerten die grundlegenden Entwicklungs- und Abstimmungsarbeiten für den NSX. Während dieser Zeit soll Honda rund 400 damit zusammenhängende Patente angemeldet haben. Die letzten Feinabstimmungen fanden 1990 unter anderem mit Formel-1-Pilot Ayrton Senna auf der Nürburgring-Nordschleife statt. Das erste Vorserienmodell wurde im Februar 1989 bei der Automobilmesse Chicago Auto Show und im Oktober 1989 auf der Tokyo Motor Show als Honda bzw. Acura NS-X (New Sportscar [Bindestrich] eXperimental) präsentiert. Nach Honda-Informationen stand dieses Akronym während des vorangegangenen Entwicklungsprozesses für New Sports und X als Variable für eine unbekannte Größe.Vor allem die US-amerikanische Fachpresse reagierte positiv auf den NSX. 1990, im Jahr der weltweiten Markteinführung, wurde das Auto vom Automobile Magazine als „Automobile of the year“, vom Industrial Designers Institute als „Design of the year“ und von der Zeitschrift Road & Track als „eines der 10 besten Autos der Welt“ ausgezeichnet. Im Jahr darauf bezeichnete die Fachzeitschrift Motor Trend den NSX als „den besten jemals gebauten Sportwagen“. Im ersten kompletten Verkaufsjahr 1991 wurden allein in den USA rund 3160 Exemplare abgesetzt.
== Ausstattung und Fahrwerk ==
Die beim NSX – bis auf ein Teil im Interieur – vollständig aus Aluminium gefertigten Karosserie-, Fahrwerks- und Motorkomponenten waren zwar nach Werksangaben rund 200 kg leichter als vergleichbare Teile aus Stahl oder Grauguss, das Gesamtgewicht lag mit rund 1350 kg dennoch auf dem Niveau der damals konventionell gefertigten Konkurrenzmodelle. Dies erklärt sich aus der für einen Sportwagen umfangreichen Komfort- und Sicherheitsausstattung: Klimaautomatik, HiFi-System mit CD-Wechsler, elektrisch verstellbare Ledersitze, Airbags sowie Polster- und Dämmmaterial. Wenn sie entfernt werden, reduziert sich das Gesamtgewicht des NSX um rund 100 kg, was nachträglich auch durch die 2002 vorgestellte und nur 1244 kg schwere NSX-R-Modellversion bestätigt wurde.
Die Karosserie wurde auch aus Strangpressprofilen aus Aluminium gefertigt, eine Neuheit bei Automobilen. Das Gesamtgewicht verteilt sich beim Serienmodell zu 42 % auf die Vorder- und 58 % auf die Hinterachse. Der NSX wurde lediglich in vier Farben angeboten: Sebring Silber Metallic (NH 552 M), Berlina Schwarz (NH 547), Formula Rot (R 77) und Indy Gelb Pearl (Y 52 P).
Als Technologietransfer aus dem Honda-Formel-1-Engagement bis 1992 erhielt der NSX ein Aluminium-Fahrwerk mit Einzelradaufhängung, doppelten Dreiecksquerlenkern, Schraubenfedern, Teleskop-Stoßdämpfern und Querstabilisatoren. Diese Kombination war damals im Rennsport verbreitet. Die Vorteile sind dabei unter anderem die geringeren ungefederten Massen und die auch bei extremer Belastung spurstabile Radführung. Außerdem gehen bei Kurvenfahrt die kurvenäußeren Räder weiter in negativen Sturz, was die Reifenaufstandsfläche vergrößert und die Fahrstabilität erhöht. Speziell für den NSX gab es dazu auf das Fahrwerk abgestimmte, laufrichtungs- und seitengebundene Reifen, die nur von Yokohama und Bridgestone hergestellt wurden. Da die Vorderreifen außerdem kleiner waren als die Hinterreifen, sind alle vier Reifen unterschiedlich und nicht untereinander austauschbar. Die Räder- und Reifendimensionen wurden, unabhängig vom Modellwechsel, bis zur Produktionseinstellung zweimal geändert. Ursprünglich wurden 205/50 ZR 15 vorn und 225/50 ZR 16 hinten eingebaut. Ab 1994 wechselte man auf 215/45 ZR 16 und 245/40 ZR 17, 2002 dann auf 215/40 ZR 17 und 255/40 ZR 17. Ebenfalls zweimal vergrößert wurden die innenbelüfteten Festsattel-Scheibenbremsen mit jeweils hydraulisch betätigten zwei Kolben vorne und einem Kolben hinten.
Dass eine US-Automobilmesse bei der Erstvorstellung den Vorzug vor einer japanischen erhielt, verdeutlichte von Anfang an eine starke Orientierung des NSX am nordamerikanischen Markt mit seinen Komfortansprüchen – eine Marketingentscheidung, die später durch die dort im Vergleich zum Rest der Welt erzielten überproportionalen Verkaufszahlen bestätigt wurde. Allein in den USA wurden bis zur Einstellung des Modells knapp 9000 NSX verkauft, rund die Hälfte der Gesamtproduktion. Die im Vergleich zu den Wettbewerbern relativ große Bodenfreiheit (unbeladen über 16 cm) und die „weiche“ Fahrwerksabstimmung nahmen ebenfalls Rücksicht auf die Anforderungen des US-Marktes. Allerdings gab es hinter dem Motor sportwagentypisch nur einen 155 Liter fassenden Kofferraum. Hier wurde auch der anfangs als Zubehör lieferbare und später serienmäßige CD-Wechsler montiert. Unter der Fronthaube war wegen der dort eingebauten Batterie, des Kühlers, des Falt-Notrads und der Zusatzaggregate kein zusätzlicher Gepäckraum.
== Modellvarianten und -pflege ==
=== NSX NA1 (1990–1997) ===
Die erste ab August 1990 verkaufte Modellversion (Code NA1) hatte einen quer zwischen Fahrgastzelle und Kofferraum eingebauten 3,0-Liter-V6-Saugmotor mit vier -obenliegenden Nockenwellen und 90 Grad Zylinderbankwinkel (Motorcode C30A; eine Weiterentwicklung der bereits ab 1985 in Honda- und Rover-Modellen eingesetzten C-Motorenfamilie), mit vier Ventilen pro Zylinder, programmgesteuerter Saugrohreinspritzung (PGM-FI), 201 kW (274 PS), 284 Nm Drehmoment (Prospektangabe Honda-Deutschland), einer Höchstdrehzahl von 8000 min−1 und – erstmals bei einem außerhalb Japans angebotenen Honda-Modell – einer durch Öldruck gesteuerten, variablen Ventilsteuerung (VTEC). Das erste DOHC-VTEC hatte Honda bereits 1989 im ausschließlich in Japan erhältlichen Integra eingesetzt. Die Kraft des NSX-Motors wurde über eine Zweischeibenkupplung und ein 5-Gang-Schaltgetriebe übertragen.
Die 6-in-2-Auspuffanlage enthielt zwei geregelte Katalysatoren. Von Beginn an wurde in allen Modellversionen ein 4-Kanal-Antiblockiersystem (ABS) verwendet, das jedes Rad individuell kontrollieren und regeln kann. Nach Werksangaben sollte es für ein präziseres Handling bei einer Vollbremsung sorgen.
=== NSX NA2 (1997–2002) ===
Die zweite Baureihe ab 1997 (Modellcode NA2) erhielt einen ebenfalls quer eingebauten 3,2-Liter-DOHC-V6-Motor (Motorcode C32B) mit offiziell 206 kW (280 PS, US-Angabe 290 PS nach SAE-Richtlinie) und 298 Nm (US-Angabe 304 Nm) sowie ein 6-Gang-Schaltgetriebe. Weitere Unterschiede zum Vorgängermodell waren unter anderem eine effizientere Ansaug- und Abgasanlage sowie eine Einscheibenkupplung mit einem von der deutschen LuK Gruppe entwickelten und produzierten Zweimassenschwungrad. Allerdings erwies sich bei Beschleunigungstests der Zeitschrift sport-auto 1997 die neue Kupplung als zu schwach dimensioniert für das Leistungsvermögen des Motors und die konzeptbedingt gute Traktion der Antriebsräder. Auch im Rennstreckenbetrieb mit Slicks kam es häufig zum Durchdrehen der Kupplungsscheiben und in letzter Konsequenz durch die große Hitzeentwicklung zum völligen Versagen der Kupplung.
=== Automatik-Version ===
Der 3-Liter-Motor wurde auch nach 1996 noch in der bereits von Anfang an erhältlichen Viergang-Automatik-Version (ab 1995 als teilweise manuell schaltbare F-matic) weiterverwendet; die offizielle Leistungsangabe blieb hier über die gesamte Laufzeit des NSX bei 188 kW (256 PS) und das maximale Drehmoment lag bei 284 Nm. Diese Version war ebenfalls den Bedürfnissen des US-Marktes angepasst und fand hier auch die weitaus meisten Käufer; je nach Modelljahr zwischen 5 und 15 Prozent der insgesamt in den USA verkauften NSX-Modelle, während in Europa nur einzelne Exemplare auf den Markt kamen.
=== Weitere Modellvarianten ===
Zwischen November 1992 und 1995 wurde nur in Japan zusätzlich der NSX Type R angeboten, eine gewichtsreduzierte Version mit dem Motor der NA1-Version, etwas strafferer Federung und sportlichem Interieur. Ebenfalls nur in Japan gab es ab 1997 die NA2-Varianten NSX Type R, Type S und Type S zero. Weltweit wurde ab 1995 der NSX-T (für Targa-Top) mit herausnehmbarem Dachmittelteil verkauft. In den USA war in diesem Modelljahr das Coupé nicht mehr erhältlich, ab 1996 wurde es dort nur noch auf spezielle Order ausgeliefert; die T-Version war somit die einzige reguläre NSX-Variante.
=== Leistungs- und Verbrauchswerte ===
Honda gab für die handgeschalteten Modelle eine Beschleunigung von 5,9 (NA1) bzw. 5,7 Sekunden (NA2) von 0 auf 100 km/h und eine Höchstgeschwindigkeit von 270 km/h (F-matic 260 km/h) an, je nach marktspezifischer Motorelektronik und Auspuffanlage wurden auch noch andere Werte veröffentlicht. Die offiziellen Leistungsangaben waren allerdings eher zu niedrig gegriffen, da von 1989 bis 2004 in Japan eine freiwillige Binnenmarkt-Selbstbeschränkung auf maximal 280 PS existierte und viele Modelle (auch von anderen Marken) diesen Wert de facto zum Teil deutlich übertrafen. Der erste japanische Wagen mit offiziell mehr als 206 kW (221 kW/300 PS) war im Oktober 2004 der 3,5-Liter-Honda Legend. Auch beim 3,2-Liter-NSX-Motor waren zuvor schon Exemplare mit annähernd 220 kW auf dem Prüfstand gemessen worden.
Alle Modellversionen verfügten über einen 70 Liter fassenden Benzintank und waren für Super bleifrei mit mindestens 95 ROZ ausgelegt. Die angegebenen Durchschnittsverbrauchswerte lagen zwischen 11,8 l (Version F-Matic) und 12,4 l (ab Baujahr 2002) auf 100 km, er konnte allerdings auch mit gut 9 l/100 km bewegt werden.
=== Technische Innovationen ===
Der NSX war das erste Serienauto der Welt mit einer praktisch vollständig aus Aluminium gefertigten selbsttragenden Karosserie.
Als erstes Serienauto der Welt erhielt die Automatikversion des NSX von Beginn an eine elektrisch unterstützte Zahnstangen-Servolenkung, die ab 1993 (in den USA erst 1995) in einer weiterentwickelten und leichteren Bauweise auch in die Versionen mit Schaltgetriebe eingebaut wurde. Die Lenkunterstützung wurde geschwindigkeitsabhängig ausgelegt und entfaltet ihre volle Wirkung nur im Stand und bei sehr langsamer Fahrt. Ab etwa 50 km/h ist die Servounterstützung der Lenkung deaktiviert, um ein direkteres Lenkgefühl zu ermöglichen.
Von Anfang an hatte der NSX ein variables Sperrdifferenzial (engl.: Limited Slip Differential, kurz LSD). Diese Konstruktion aus mehreren Reibscheiben (nach dem Prinzip einer Visco-Kupplung) und einem Planetengetriebe kann bis zu einem festgelegten Maß die von den ABS-Sensoren gemessenen Drehzahlunterschiede zwischen den Antriebsrädern ausgleichen. Im Unterschied zu anderen Differenzialen ähnlicher Bauart soll es beim NSX nicht nur die Traktion verbessern, sondern auch die Spurabweichung bei starkem Seitenwind minimieren. Die Abstimmung des LSD wurde während der Bauzeit mehrmals leicht verändert; die höchste Sperrwirkung lag bei knapp über 50 Prozent (157 Nm) des maximalen Drehmoments. Eine höhere Sperrung hätte nach Angaben von Honda ein zu starkes Untersteuern bei Kurvenfahrt verursacht.
Ab Baujahr 1995 wurde die Drosselklappe von einem Servomotor gesteuert; das Gaspedal ist somit nicht mehr über einen Seilzug, sondern nur noch über elektrische Leitungen mit der Drosselklappe verbunden. Das System wird deshalb als Drive-by-Wire (DBW) oder Throttle-by-Wire (TBW) bezeichnet. Beim NSX steuert das System zusätzlich die elektronische PGM-FI-Saugrohreinspritzung, den serienmäßigen Tempomat und die Antriebsschlupfregelung (Traction Control System/TCS). Diese wiederum wird von den ABS-Raddrehzahlsensoren und einem Lenkwinkelsensor mit Steuerdaten versorgt, um die Regelung der aktuellen Fahrsituation anpassen zu können.
=== Facelift und Produktionsende ===
2002 wurde eine modellgepflegte NSX-Baureihe vorgestellt; ohne Klappscheinwerfer, stattdessen mit festen Xenon-Leuchten für Fern- und Abblendlicht, modifizierten Heckleuchten und geänderten Front- und Heckschürzen, deren aerodynamische Wirkung den Strömungswiderstandskoeffizienten (
c
w
{\displaystyle c_{w}}
) von 0,32 auf 0,30 senkte und die Höchstgeschwindigkeit auf 280 km/h erhöhte. Der Modellcode blieb auch nach dem Facelift NA2. Die davon abgeleitete, auf 1244 kg erleichterte und mit Sportreifen ausgerüstete NSX-R-Version war erneut nur als Rechtslenker für den japanischen Markt erhältlich; allerdings wurde ein Exemplar zu Testzwecken von Honda in Deutschland per Einzelabnahme zugelassen. Bei einem sport auto-Supertest im Sommer 2002 erzielte dieser Wagen signifikant bessere Ergebnisse als der 1997 getestete NSX.Nach einigen in limitierter Stückzahl hergestellten Sondermodellen, zum Beispiel der 1999 nur in den USA erhältlichen „Zanardi-Edition“, von der 50 Exemplare gebaut wurden, oder der Last Edition in einer Auflage von zwölf Exemplaren 2005 in Großbritannien, wurde die Produktion im September 2005 eingestellt. Als Hauptgrund für die Einstellung nannte Honda die inzwischen verschärften Abgasbestimmungen vor allem in den USA, die weitreichende und damit zu teure Nachbesserungen des inzwischen mehr als 15 Jahre alten Motor- und Auspuff-Grundkonzepts erfordert hätten. Deutschlandweit wurden bis dahin 271 NSX verkauft, in der Schweiz waren es rund 260, in Österreich 49, weltweit wurden etwa 18.000 Stück ausgeliefert. Die effektiven Verkaufspreise des NSX lagen in den 1990er Jahren zwischen 140.000 und 175.000 DM (die höheren Preise für das T-Modell) und ab 2001 bei etwa 80.000 bis 90.000 EUR. Diese für einen japanischen Wagen ungewöhnlich hohen Beträge und die im Konkurrenzvergleich mangelnde Motorleistung machten den NSX schon im Lauf der 1990er Jahre außerhalb Japans zu einem schwer verkäuflichen Exoten. Die Kombination aus Alltagstauglichkeit, Handling und Fahrleistungen wurde jedoch noch bis zum Ende seiner Bauzeit von vielen Autojournalisten als außergewöhnlich bezeichnet.
=== Nachfolgemodell Honda NSX 2016 ===
Im Rahmen der Detroit Auto Show 2015 wurde die Serienversion des neuen Acura NSX enthüllt.
Angetrieben wird der neue Honda NSX von einem völlig neu entwickelten V6-Biturbo-Mittelmotor mit einem 9-Gang-Doppelkupplungsgetriebe. Die ersten Kundenfahrzeuge wurden 2016 ausgeliefert. Auch auf der IAA in Frankfurt wurde das Modell gezeigt.
== Abgebrochene Nachfolgemodell-Entwicklungen ==
Honda präsentierte am 7. Januar 2007 bei der North American International Auto Show in Detroit ein GT-Sportwagenkonzept namens Acura Advanced Sports Car Concept.
Der Prototyp hat nach Firmenangaben vier Sitzplätze, einen V10-Frontmittelmotor (Einbaulage hinter der Vorderachse) und den bereits vom Honda Legend bekannten SH-AWD-Allradantrieb, der hier jedoch erstmals auch als reiner Heckantrieb agieren kann. Beim komplett im kalifornischen Acura Design Studio in Torrance bei Los Angeles unter der Leitung von John Ikeda entworfenen Prototyp wurden sowohl Stylingelemente des ursprünglichen NSX als auch der aktuellen Honda-Formen wie denen des S2000 verwendet. Leistungs- oder Hubraumdaten des Saugmotors wurden nicht bekannt gegeben, jedoch sprach Honda-Vorstandsvorsitzender Takeo Fukui vom stärksten Serienantrieb der Firmengeschichte. Genaue Angaben zur Markteinführung eines Serienmodells wurden nicht gemacht; Fukui stellte einen Zeitrahmen von drei bis vier Jahren in Aussicht.
Im Frühsommer 2007 wurde über Fahrversuche auf der Nürburgring-Nordschleife berichtet, bei denen Honda einen rund 500 PS starken V10-Motor in einem für diese Zwecke umgebauten S2000 getestet haben soll. Im Dezember 2007 erklärte Tetsuo Iwamura, Präsident und CEO von American Honda, dass er mit einer Markteinführung im Jahr 2010 rechne.
Im Frühsommer 2008 wurde ein getarntes Versuchsfahrzeug bei Testfahrten auf der Nürburgring-Nordschleife gesehen, dessen Aussehen und Leistung die bereits vermuteten technischen Merkmale zu bestätigen schienen. Im Dezember 2008 gab Honda-Chef Fukui bei seiner Jahresabschluss-Ansprache den Abbruch der NSX-Nachfolgemodell-Entwicklung bekannt und begründete das mit den Folgen der weltweiten Finanzkrise.
Im November 2009 bestätigte Honda jedoch, dass ein aus dem Acura Advanced Sports Car Concept entwickelter Rennwagen mit Frontmotor und Heckantrieb ab 2010 in der japanischen Super-GT-Rennserie eingesetzt werden solle, um das geänderte Reglement zu erfüllen. Da weiterhin keine Serienfertigung eines Straßenmodells vorgesehen ist, erhält Honda eine ausnahmsweise Befreiung vom Homologationszwang.Beim Honda Indy 200, einem Autorennen, das im Rahmen der IndyCar-Serie auf dem Mid-Ohio Sports Car Course in Lexington (Ohio, USA) ausgetragen wird, bestritt der Supersportler am 4. August 2013 das Vorprogramm. Zwei Runden absolvierte der Bolide auf der 2,25 Meilen langen Strecke.Eine bereits im Herbst 2003 in Tokio als NSX-Nachfolger vorgestellte Studie namens HSC mit NSX-ähnlichem Design und 3,4-Liter-V6-Mittelmotor war ebenfalls nicht in eine neue Serie umgesetzt worden.Der Honda NSX Concept-GT stellte eine Rennversion des NSX Concept dar. Sein Renndebüt feierte der Honda NSX Concept-GT bei der „Autobacs Super GT“, die im Rahmen des fünften Laufs zur Super GT-Serie am 17. und 18. August in Suzuka (Japan) ausgetragen wurde. Der Rennwagen entsprach dem vom japanischen Automobilverband für 2014 festgelegten GT500-Reglement und sorgte für wichtige Erkenntnisse einer späteren Serienversion.2012 wurde auf der North American International Auto Show in Detroit ein Konzeptfahrzeug präsentiert, und es wurde spekuliert, dass der neue NSX mindestens 400 PS haben werde. Genauere Details zum folgenden Serienfahrzeug wurden damals noch nicht bekannt gegeben. 2016 erschien der neue Honda NSX, je nach Markt als Acura NSX.
== Besonderheiten ==
Der teuerste japanische Seriensportwagen wurde bereits nach wenigen Modelljahren in Deutschland mit zum Teil erheblichen Rabatten auf den Listenpreis verkauft. Einige der rund ein Dutzend von Honda für den Verkauf und die Wartung des NSX autorisierten deutschen Händler vertrauten darauf, dass die „Flaggschiffe“ (bevorzugt mit Händler-Werbeaufklebern) im Straßenverkehr neue Kunden für die „Brot-und-Butter-Modelle“ von Honda in die Schauräume locken könnten. Dieser Imagetransfer war auch dem Stammwerk erhebliche Verluste pro verkauftem Wagen wert; die Schätzungen gehen hier bis zu 100.000 DM pro Auto. Genaue Angaben sind nicht möglich, da die Entwicklungskosten nie offiziell beziffert wurden. Typischerweise waren damals mindestens 2 Milliarden DM für ein neues Automodell anzusetzen (inklusive der neu zu bauenden Fertigungsstätte; andere Quellen sprechen sogar von 3 bis 6 Milliarden US-Dollar), so dass der Deckungsbeitrag pro Fahrzeug über die gesamte Modelllaufzeit bei über 110.000 DM gelegen hätte. Hinzu kamen die ebenfalls nicht bekanntgegebenen Herstellungskosten.
Der NSX-Käufer bekam andererseits trotz der hohen Listenpreise und dank der Händlernachlässe einen vergleichsweise preiswerten Exoten mit umfangreicher Serienausstattung und zahlreichen technischen Besonderheiten wie ein „elektronisches Gaspedal“, ein variables Sperrdifferenzial, Titan-Pleuel, Platin-Zündkerzen, Tempomat, Klimaautomatik, zwei geregelte Dreiwege-Katalysatoren, SRS-Sicherheitssystem (mit zwei Airbags, Gurtstraffern und Notstromversorgung) und Bose-HiFi-Anlage mit Alpine-CD-Wechsler und Motorantenne. Der Unterhalt war noch dazu günstiger als etwa bei einem Ferrari 348 oder F355. Die Versicherungsprämien lagen allerdings ähnlich hoch; vor allem wegen der teuren Unfallreparaturen, die bei Arbeiten an der Aluminiumkarosserie besondere Schweißmaschinen und Schweißkenntnisse erforderten. Die Gesamtkostenbilanz wird außerdem durch den hohen Wertverlust getrübt; die US-Zeitschrift Forbes Magazine stufte vor allem deshalb den NSX 2005 auf Platz 9 der weltweit 10 kostspieligsten Automodelle ein.Rund 200 Techniker hatten, weitgehend in Handarbeit, bis zu 25 NSX pro Tag in einer eigens dafür gebauten Fertigungsstätte in Utsunomiya (Präfektur Tochigi) produziert, wo ab 1999 auch der Honda S2000 und der Honda Insight gebaut wurden. 2004 wurde die Fertigung der drei Modellreihen nach Suzuka verlegt, weil Honda den Standort Utsunomiya zu einem neuen Forschungs- und Entwicklungszentrum umwandelte, in dem seit Juni 2008 auch der Honda FCX Clarity produziert wird. Gebaut und geliefert wurden die NSX-Neufahrzeuge nur auf Bestellung mit einer Wartezeit von zuletzt mindestens sechs Monaten. Bei der Bestellung verlangte Honda zeitweise eine Vorauszahlung von rund 10 Prozent. Dieses Geld holten sich die Händler meist direkt vom Kunden.
Im Dezember 2002 wurde der NSX mit der Fabrikationsnummer „01“ in London versteigert. Das erste Serienexemplar der Modellreihe NA1 aus dem Jahr 1990 lag mit einem Zuschlagspreis von umgerechnet rund 175.000 Euro etwa 30.000 Euro über der vom Auktionshaus Christie’s erwarteten Preisspanne.Die weltweit größte private NSX-Sammlung wird bei Hassanal Bolkiah, dem Sultan von Brunei, vermutet, der nach einem Bericht der Zeitschrift sport auto „zahlreiche Honda NSX“ in seinem Besitz hat. Die genaue Zahl wurde nicht beziffert.
== Haltbarkeit ==
Der NSX gilt als relativ unproblematischer 1990er-Jahre-Sportwagen, der auch für den Alltagsgebrauch geeignet ist. Bei Beachtung der Wartungsvorschriften, vor allem des vorgeschriebenen Zahnriemenwechsels alle 100.000 Kilometer oder acht Jahre zeigt er nach Angaben von Honda auch mit hohen Laufleistungen von über 200.000 km mit dem ersten Motor kaum Ausfallerscheinungen. Eine große Rolle spielt dabei das nicht rostende Aluminium. Eine nicht genau bezifferte Anzahl von handgeschalteten Exemplaren der Modelljahre 1991 und 1992 war allerdings von einem Produktionsfehler am Getriebegehäuse betroffen. Dadurch konnte der Sicherungsring an einem Lager der Getriebe-Zwischenwelle durch zu hohe Belastung auseinanderbrechen und große Schäden im gesamten Getriebe verursachen, die zu einem Totalausfall des betroffenen Wagens führten. Dieses in den USA als snap ring failure bekannt gewordene Problem löste zwar keine Rückrufaktion aus, veranlasste Honda aber zu einem Technical Service Bulletin (TSB) mit der Anweisung an die Acura-Werkstätten in Nordamerika, das Getriebe kostenlos auszutauschen. Das Problem wurde laut Honda bei außerhalb von Nordamerika ausgelieferten Wagen nicht festgestellt, veranlasste Honda aber 1992, eine Getriebe-Produktionsmaschine in Utsunomiya zu modifizieren.
== Praxiserfahrungen ==
Nach den Statistiken des US-Instituts J. D. Power ist die Zufriedenheit der NSX-Kunden hoch. Laut Testberichten verschiedener Auto-Journalisten könne der Sportwagen mit „außergewöhnlichem Komfort und der Umgänglichkeit eines Civic“ problemlos auch als Alltagsfahrzeug eingesetzt werden. Das Fahrverhalten gilt als einfach, spaßbringend, und trotzdem sehr schnell. In verschiedenen Slalom- und Wedeltests wurde bei sehr hohen Geschwindigkeiten auch die Neigung zu „Konterschwüngen“ festgestellt. Vor allem bei ausgeschalteter Traktionsregelung konnte das Heck zu einer Seite hin ausbrechen und bei nicht exakter Reaktion des Fahrers blitzartig zur anderen Seite schwenken. Dieses Verhalten wurde etwa von „sport auto“ der relativ weichen Fahrwerksabstimmung mit starker Seitenneigung bei Kurvenfahrt angelastet. Schon Formel-1-Fahrer Ayrton Senna hatte bei einem Vorserientest 1990 auf der Nürburgring-Nordschleife das Auto als „sehr schnell“, das Fahrwerk aber als „zu weich“ bezeichnet. Andererseits kam diese Abstimmung Wintereinsätzen auf glatten Straßen zugute, die mit entsprechenden Reifen auch dank der konzeptbedingt guten Traktion kein Problem darstellten. Gordon Murray, der Entwickler des McLaren F1, bezeichnete das Fahrwerk des NSX als "verblüffend". Bei seiner Suche nach einer Vorlage, nach dem der F1 entwickelt werden sollte, stach der NSX die damaligen Modelle von Lamborghini, Ferrari, Jaguar und Porsche aus. "Best Motoring" erzielte mit dem NSX der ersten Serie auf der Nürburgring-Nordschleife eine Zeit von 8:16.
== Renneinsätze ==
Rennsport-Versionen des NSX und des NSX-R wurden und werden weltweit in verschiedenen Rennserien und Einzelrennen eingesetzt; unter anderem in der japanischen JGTC/Super-GT-Serie, wo 2000 sowie 2007 der GT500-Gesamtsieg erzielt und 2004 die Meisterschaft in der GT300-Klasse gewonnen wurde. In Deutschland kamen NSX zum Beispiel beim Langstreckenpokal auf dem Nürburgring und dem dortigen 24-Stunden-Rennen zum Einsatz.
=== Die Anfänge und die NSX GT2 ===
Von 1991 bis 1993 gewann der von einem modifizierten NSX-Motor angetriebene und von Parker Johnstone gefahrene Sportprototyp Comptech Acura-Spice dreimal in Folge die „GTP lights“-Team- und Fahrermeisterschaft der International Motor Sports Association (IMSA) in den USA. 1993 gab es die weltweit ersten professionellen und offiziell von Honda unterstützten Renneinsätze von zwei weitgehend seriennahen NSX des deutschen Teams Seikel beim deutschen ADAC GT Cup, bei dem Armin Hahne gleich das zweite Saisonrennen in Zolder gewinnen konnte und Meisterschafts-Dritter wurde. Den zweiten NSX fuhr der Däne John Nielsen nur auf den elften Gesamtrang. Die Fahrzeuge hatten offiziell 325 PS (239 kW) und wogen rund 1300 kg. 1994 ließ Honda von der britischen Firma Thompson Composites des Konstrukteurs John Thompson die Chassis für drei neue NSX nach dem damaligen GT2-Reglement bauen und gab die Verantwortung für deren Einsätze bei den 24-Stunden-Rennen von Le Mans und beim ADAC GT Cup an das deutsche Kremer-Racing-Team, der bis dahin vorwiegend als Porsche-Spezialist bekannt war. Die nur rund 1040 kg schweren Fahrzeuge unterschieden sich optisch kaum von der Serie, hatten aber unter anderem Karosserien aus einer CFK-Aluminium-Kombination mit verbesserter Aerodynamik, ein sequenzielles Hewland-Sechs-Gang-Getriebe, AP-Rennbremsen unter größeren Rädern und auf rund 380 PS (279 kW) leistungsgesteigerte Saugmotoren. Kremer setzte nur einen dieser NSX beim GT Cup ein; das Resultat waren drei Siege und die Vizemeisterschaft für den bereits NSX-erfahrenen Armin Hahne.
=== NSX GT1 und GT2 in Le Mans ===
Alle drei Kremer-NSX starteten 1994 in Le Mans und erreichten das Ziel auf den für Honda unbefriedigenden Plätzen 14, 16 und 18. Danach zog sich Kremer Racing aus der Zusammenarbeit mit Honda zurück; die drei GT2-NSX wurden verkauft und fuhren in den Folgejahren mit Privatteams bei verschiedenen Veranstaltungen, darunter ein Exemplar für Kunimitsu in Le Mans. 1995 übernahm Honda selbst die Kontrolle über die Einsätze von zwei unterschiedlich konstruierten NSX; erneut aufgebaut von Thompson Composites. Ein Exemplar wurde von einem 410 PS starken V6-Saugmotor angetrieben, das andere erhielt ein Turboaggregat mit rund 600 PS. Beide etwa 1050 kg schweren Wagen starteten wenig erfolgreich in der „großen“ GT1-Klasse: Der Turbo-NSX schied schon nach sieben Runden wegen eines Kupplungsschadens aus, das zweite Fahrzeug schaffte wegen technischer Probleme zwar Rang 23, aber nicht die erforderliche Rundenzahl, um offiziell klassifiziert zu werden. Dafür holte zur Überraschung des Werksteams der nun rund 1055 kg schwere, ehemalige 1994er Kremer-GT2-NSX des privaten japanischen Teams Kunimitsu mit einem auf 390 PS erstarkten Saugmotor den Klassensieg und den 8. Platz im Gesamtklassement; pilotiert von den japanischen Fahrern Keiichi Tsuchiya, Akira Iida und Kunimitsu Takahashi. Dieser Erfolg bewog Honda, den offiziellen Le-Mans-Einsatz 1996 mit stark reduziertem Aufwand und nur diesem Auto von Kunimitsu betreuen zu lassen. Das Resultat war allerdings nur noch ein 16. Gesamtrang und der 3. Platz in der GT2-Klasse. Im Dezember 2003 wurde der Wagen im Auftrag vom Auktionshaus Christie’s in London für umgerechnet rund 150.000 Euro versteigert.
=== NSX GT500 und GT300 ===
1996 entwickelte die japanische Konstruktionsfirma Dome im Auftrag von Honda einen knapp 1100 kg schweren Rennwagen auf Basis des NSX für die GT500-Klasse der All-Japan Grand Touring Car Championship (JGTC). Das großzügige Reglement erlaubte weitreichende Abweichungen vom Serienwagen ohne die sonst dafür notwendige Homologation. So hatten die Fahrwerksaufhängungen, die Federungs- und Dämpferelemente, die Bremsen, das sequenzielle Getriebe sowie die Einbaulage des Motors nichts mehr mit dem Serien-NSX gemeinsam. Als einziges nicht verändertes Gleichteil blieb die Aluminium-Rohkarosserie. Die Motorleistung wurde gemäß dem Klassenreglement auf rund 500 PS angehoben; anfangs ohne zusätzlichen Turbolader. Eine besondere Herausforderung beim NSX war hier wie bei verschiedenen anderen Rennserien die Integration des geforderten Stahl-Überrollkäfigs in die Aluminiumstruktur, da direkte Schweißverbindungen zwischen Stahl und Aluminium nicht möglich sind. Somit mussten geschraubte und geklebte Halter aus Stahl installiert werden, an denen wiederum die Käfigelemente befestigt wurden.
Ab 1997 übernahm die Honda-Tochterfirma Mugen, die 2004 in M-TEC umbenannt wurde, zum Teil in Zusammenarbeit mit Dome die Entwicklung des Renn-NSX und setzte ab 1998 eine auf 3,5 Liter Hubraum erweiterte Version des neuen 3,2-Liter-Serienmotors ein, die über 600 PS leistete. Damit erreichte ein NSX im Jahr 2000 die GT500-Fahrer-Meisterschaft, ohne jedoch nur ein einziges Rennen gewinnen zu können. 2002 gelang Mugen/Dome mit den beiden eingesetzten NSX der Gewinn der Meisterschafts-Teamwertung. Nach Änderungen im Reglement für 2003 entstand eine weitere Motorenvariante auf Basis des in der Serie nicht mehr verwendeten 3,0-Liter-Triebwerks. Der Motor wurde im Gegensatz zur Serie längs statt quer eingebaut und durch zwei Turbolader ergänzt. Mugen hatte sich für diese Lösung entschieden, weil die bis 2002 verwendeten Saugmotoren bei den zum Teil höher gelegenen japanischen Rennstrecken wegen des Sauerstoffmangels zu viel Leistung verloren hatten. Die erfolgreicheren Konkurrenzfahrzeuge Toyota Supra und Nissan Skyline GTR waren dagegen von Anfang an mit Turbomotoren ausgerüstet und hatten dieses Problem nicht.
Weitgehend seriennah waren die hauptsächlich von Privatteams eingesetzten NSX in der Klasse GT300. Hier sind die Modifikationsmöglichkeiten stark eingeschränkt und die Motorleistung auf 300 PS begrenzt. Meisterschaftserfolge gelangen dem NSX in dieser Klasse lange Zeit nicht. Erst als die neu gegründete Firma M-TEC in der Saison 2004 die früheren Mugen-Aktivitäten von der GT500- auf die GT300-Klasse verlagerte und einen professionell vorbereiteten und gefahrenen NSX einsetzte, konnte die erste GT300-Meisterschaft gefeiert werden. Dieser Erfolg kam eher unerwartet, da Mugen den Einsatz hauptsächlich als Trainingsprogramm für junge japanische Fahrer zur Vorbereitung auf spätere GT500-Einsätze geplant hatte. Damit sollte mittelfristig der auffällig häufige Einsatz von im Vergleich schnelleren europäischen NSX-Fahrern in der „großen“ Klasse, wie André Lotterer, Sébastien Philippe oder Ralph Firman zurückgedrängt werden.
Im Oktober 2007 gelang dem Autobacs Racing Team Aguri (ARTA) von Aguri Suzuki mit dem Fahrerduo Ralph Firman/Daisuke Itō und einem Sieg beim vorletzten Lauf der Saison auf der Anlage von Autopolis in der japanischen Präfektur Ōita vorzeitig der Gewinn der Super-GT500-Meisterschaft. 2008 und 2009 wurden erneut jeweils fünf NSX für die Teilnahme in der GT500-Klasse gemeldet. Das letzte Einsatzjahr des Modells in dieser Rennserie endete am 8. November 2009 auf dem Twin Ring Motegi mit einem Sieg des ARTA-NSX mit den Fahrern Ralph Firman/Takuya Izawa und dem Gewinn des Vizemeisterschaft. Da die Super-GT-Regeln seit 2010 nur noch den Einsatz von Autos mit Frontmotor erlauben, konnte der NSX mit seinem Mittelmotor dort nicht mehr starten.
=== NSX-R und „24h-Special“ ===
Ab 2003 startete ein modifizierter, rechtsgelenkter NSX-R sowohl im Langstreckenpokal (bis 2005) als auch beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring. Der von wechselnden Teams und mit verschiedenen Sponsoren-Kombinationen eingesetzte Wagen war unter anderem mit einem auf 316 PS leicht leistungsgesteigerten 3,2-Liter-Motor, aerodynamischen Anbauteilen, Nachrüst-Bremsen und verstärkten Fahrwerksteilen ausgerüstet, aber weitgehend gleich mit den in Japan verkauften Serienfahrzeugen. 2005 erreichte der unter anderem von Fernsehmoderator Klaus Niedzwiedz gefahrene n-tv-NSX-R beim 24-Stunden-Rennen Gesamtrang 12 und den „A 6“-Klassensieg; im Jahr 2007 gelang noch Gesamtrang 26 und Platz 6 in der Klasse „SP 6“.
Im Juni 2004 setzten Honda Deutschland und die Zeitschrift „sport auto“ beim 24-Stunden-Rennen am Nürburgring einen von „GS Motorsport“ modifizierten NSX GT500 aus der JGTC-Serie des Jahres 2002 ein. Der rund 1200 kg schwere ehemalige Mobil 1-Wagen wurde unter anderem durch den Einbau von Motorteilen eines NSX GT300 standfester gemacht, aber auch leistungsreduziert auf etwa 420 PS aus rund 3,4 l Hubraum. Schon bei den Vortests hatte sich jedoch gezeigt, dass der ursprünglich für relativ ebene Rennstrecken gebaute Wagen Probleme mit welligen Streckenverläufen hatte. Die Verbindungen zwischen Motor, Getriebe und Differenzial reagierten zum Teil mit Lecks auf die durch Bodenunebenheiten verursachten starken Belastungen. Beim Rennen selbst fiel der unter anderem von Armin Hahne pilotierte „Gebrauchtwagen“ deshalb nach gut 8 Stunden durch Differenzialschaden aus. Honda verbuchte den Einsatz dennoch als Achtungserfolg, da das offiziell NSX 24h-Special genannte und optisch spektakuläre Auto bis zur letzten Fahrt in die Box schon Gesamtrang 10 unter mehr als 200 Startern erreicht hatte. In den folgenden Jahren wurde der Wagen nicht mehr beim 24-Stunden-Rennen eingesetzt.
=== NSX-R GT und weitere Renneinsätze ===
2005 legte Honda eine Kleinstserie von fünf Exemplaren eines straßenzugelassenen NSX-R GT auf, mit denen die Homologationsbestimmungen des neuen Super-GT-Reglements erfüllt werden sollten. Jedes dieser handgebauten und nur in Japan verkauften Exemplare kostete umgerechnet rund 376.000 Euro, unterschied sich aber nur durch andere Karosserie- und neue Anbauteile vom NSX-R und nicht durch bessere Leistungsdaten. Trotzdem waren die Autos schon vor der Fertigstellung verkauft. Im selben Jahr erreichte der Arta-NSX vom Team Honda Racing die Super-GT-Vizemeisterschaft hinter einem Toyota Supra. 2006 wurde ein vom Team Kunimitsu eingesetzter Raybrig-NSX Vizemeister hinter einem Lexus SC 430.
Zwischen 1992 und 2005 wurde vom NSX & Honda Sportcars Club mit Sitz in der Schweiz auf Rennstrecken in Frankreich, Belgien und Italien eine European Trophy-Rennserie veranstaltet, bei der zuerst nur NSX-Modelle in drei Klassen (serienmäßig, modifiziert und Prototypen) gegeneinander antraten. Zeitweise waren hier auch die ehemaligen Seikel-GT2-NSX (aus der ADAC-GT-Cup-Saison 1993) am Start. Zuletzt wurde in der Trophy auch die Teilnahme anderer sportlicher Honda-Modelle in eigenen Klassen erlaubt. Die Privatfahrer und die zum Teil professionellen Teams kamen aus Europa, den USA und Japan. 1997 wurde ein NSX des Teams Realtime Meister der Klasse T1 in der US-Serie SCCA World Challenge.
== Der NSX in den Medien (Auswahl) ==
In der ab 1990 ausgestrahlten US-Fernsehserie Beverly Hills, 90210 fuhr Tiffani-Amber Thiessen als Valerie Malone zeitweise einen NSX.
Im 1994 veröffentlichten Film Pulp Fiction fährt Harvey Keitel als der „Problemlöser“ Winston Wolf einen silberfarbenen NSX, den er als „meinen Acura“ bezeichnet und der ihn laut seiner Aussage dreimal so schnell ans Ziel bringt, wie es üblicherweise dauere (Zitat: „It’s 30 minutes away – I’ll be there in 10“).
1995 wurde im Film Terminal Justice (in Deutschland als Cybertech P. D. veröffentlicht) ein NSX mit offener Fronthaube und darunter hervorquellendem Rauch am Straßenrand gezeigt; der Motor des NSX ist zwar nicht vorne, sondern hinter der Fahrgastzelle eingebaut, der Motorkühler befindet sich aber dennoch vorne.
Im Film Executive Target (1997, im deutschen Fernsehen auch als The Stuntdriver gesendet) bestreitet die Hauptfigur Nick James (Michael Madsen) eine Verfolgungsfahrt mit einem roten NSX.
Im Video der Red-Hot-Chili-Peppers-Single Californication war 2000 ein roter NSX zu sehen.
Verschiedene NSX-Versionen sind in Rennspielen wie Gran Turismo, Need for Speed: Pro Street, Need for Speed: Shift, Race Driver: GRID und DTM Race Driver 3 programmiert.
In der Serie Baywatch Nights wird ein roter NSX-Targa regelmäßig von David Hasselhoff gefahren.
Im Film The Avengers wird ein Honda/Acura NSX-CONCEPT-Car gefahren, der aber auf einem „alten“ NSX aufbaut, dessen äußere Anbauteile dem neuen Concept-Design entsprechen.
The Fast and the Furious: Tokyo Drift: Gelber NSX mit Veilside-Kit
Fast & Furious – Neues Modell. Originalteile.: Schwarzer NSX Type-R (2002) am Ende des Films
Fast & Furious Five: Schwarzer NSX Type-R am Anfang des Films (Szene von Teil 4 am Ende wird hier am Anfang fortgesetzt)
=== Zitate ===
== Daten Modell NA1 ==
(Ab 1990, Werksangaben)
== Daten Modell NA2 ==
(Ab 1997, Werksangaben)
== Literatur ==
Mark Cole, François Hurel, Wolf Töns: GT international – die Autos 1993–1998. Art Motor-Verlag, Rösrath 1999, ISBN 3-929534-10-X.
Diverse Autoren, Vorwort von L.J.K Setright: The NSX. BBC Enterprises, London, ISBN 0-9517751-0-3.
Keine Autorenangabe: NSX: Technical Information and Development History. Acura USA, 1991 (nicht im Buchhandel, exklusiv als Beigabe für Käufer), download.
Brian Long: Acura NSX – Honda’s Supercar. Veloce Publishing Ltd., Dorchester 2005, ISBN 1-904788-43-2 (englisch)
R. M. Clarke: Acura-Honda NSX 1989–1999 Performance Portfolio. Brooklands Books, Cobham (Surrey) 2000, ISBN 1-85520-428-2 (englisch)
== Weblinks ==
NSX-FAQ auf nsxprime.com (englisch)
Linkkatalog zum Thema Honda NSX bei curlie.org (ehemals DMOZ)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Honda_NSX
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I Street Bridge
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= I Street Bridge =
Die I Street Bridge ist eine kombinierte Eisenbahn- und Straßenbrücke über den Sacramento River zwischen Sacramento und West Sacramento, Kalifornien. Die Fachwerk-Doppelstockbrücke führt auf der oberen Ebene die namensgebende und im Stadtraster mit dem Buchstaben I durchnummerierte Straße und auf der unteren Ebene zwei Gleise der Martinez Subdivision der Union Pacific Railroad, die auch von der BNSF Railway und Amtrak (Capitol Corridor) genutzt werden. Sie wurde bis 1911 von der Southern Pacific Company errichtet und die integrierte Drehbrücke hatte mit 3000 Tonnen den damals schwersten drehbaren Stahl-Fachwerkträger der Welt. Seit 1982 wird die Brücke im National Register of Historic Places geführt.
Sie ist die vierte Eisenbahnbrücke an dieser Stelle, deren Vorgängerbauwerke bis ins Jahr 1870 zurückreichen. Die Geschichte der Flussquerung ist eng verbunden mit der Entwicklung der östlich angrenzenden Sacramento Shops, die in der Ära der Dampflokomotiven das größte Bahnbetriebswerk im Westen der USA waren. Nach dem Abriss der meisten Bahnanlagen und Gebäude soll hier bis Ende der 2020er-Jahre ein neues Stadtviertel von Sacramento entstehen. Anfang der 2010er Jahre wurde daher der Neubau einer Straßenbrücke beschlossen, die bis 2023 einige hundert Meter flussaufwärts entstehen und die Verbindung über die für heutige Verhältnisse zu schmale Straßenebene der I Street Bridge ersetzen soll. Nach dem Rückbau der Zufahrten ist eine Nutzung der oberen Ebene für Fußgänger und Radfahrer geplant.
== Geschichte ==
=== Erste Eisenbahnbrücke 1870 mit Anschluss an die First Transcontinental Railroad ===
In den 1860er Jahren entstand in den USA die erste transkontinentale Eisenbahnverbindung zwischen Kalifornien und den Siedlungsgebieten am Missouri River im Osten von Nebraska. Die beiden Hauptstrecken wurden dabei von der Union Pacific Railroad im Osten (1746 km) und der Central Pacific Railroad im Westen (1110 km) gebaut. Treibende Kraft hinter der Central Pacific war der Eisenbahningenieur Theodore Judah, der schon Mitte der 1850er Jahre den Bau einer Eisenbahnverbindung durch die Sierra Nevada vorschlug. Mit Unterstützung der später als die „Big Four“ bekannt gewordenen Investoren konnte die Central Pacific 1861 gegründet werden. Ab 1863 baute sie die Strecke zwischen Sacramento und dem Promontory Summit nahe Salt Lake City in Utah, wo diese im Mai 1869 mit dem östlichen Teil der Union Pacific verbunden wurde. Das Teilstück von Sacramento nach San Francisco baute die Western Pacific Railroad bis September 1869. Es führte über Stockton und das Alameda County nach Oakland, wo eine Fährverbindung nach San Francisco bestand. Ein Jahr später ging die Western Pacific in der Central Pacific auf, aber man suchte bereits nach einer kürzeren Verbindung nach San Francisco.Augenmerk lag dabei auf der California Pacific Railroad, die bis 1870 eine Strecke von Vallejo nach Sacramento fertiggestellt hatte. Durch ihren Verlauf nördlich der Bucht von San Francisco reduzierte sie trotz einer längeren Fährverbindung nach San Francisco die Reisezeit deutlich. Zum Anschluss an die transkontinentale Strecke war im Westen von Sacramento der Bau einer ersten Eisenbahnbrücke über den Sacramento River nötig, die man Ende Januar 1870 fertigstellte. Sie ersetzte eine Straßenbrücke aus dem Jahre 1857, die Benutzung der neuen Holzbrücke war aber bei ruhendem Zugverkehr auch für Fuhrwerke und Fußgänger möglich. Charakteristisches Merkmal der Brücke war wie beim Vorgänger und allen Nachfolgebauten eine Drehbrücke über der Schifffahrtsrinne. Nach ersten gescheiterten Übernahmeversuchen konnte die Central Pacific 1876 schließlich die Kontrolle über die California Pacific erlangen und verkürzte dadurch ihre Verbindung in die Bay Area. Mit dem Bau einer Strecke durch das Suisun-Marsch ins östlich von Vallejo gelegene Benicia konnte die Verbindung dann nochmals verkürzt werden. Bis zum Bau der Benicia–Martinez Bridge 1930 bestand hier über die Carquinez-Straße eine Eisenbahnfähre und der weitere Streckenverlauf führte dann bis zur nächsten Fähre in Oakland; der Abschnitt von Sacramento nach Oakland ist heute Bestandteil des Capitol Corridor von Amtrak.
=== Weitere kombinierte Holzbrücken und erstmals getrennte Verkehrswege ab 1895 ===
Die Central Pacific ersetzte 1878 die alte Holzbrücke in Sacramento durch einen Neubau aus dem gleichen Material, der ebenfalls Howe-Fachwerkträger besaß (benannt nach dessen Erfinder William Howe) und auf der Gleisebene als Straßenbrücke fungierte. Infolge der Zunahme des Eisenbahnverkehrs und des damit verbundenen Ausbaus des östlich angrenzenden Bahnbetriebswerks (Sacramento Shops), sowie auch wegen der Zunahme des Straßenverkehrs über die einzige Brücke in das sich entwickelnde heutige West Sacramento (damals noch Town of Washington), entschied man sich keine zwanzig Jahre später erneut für einen Neubau, wobei erstmals mittels einer Doppelstockbrücke die Verkehrswege getrennt werden sollten. Das Sacramento und Yolo County beteiligten sich an der Finanzierung und die Brücke sollte jetzt aus Stahl gebaut werden. Streitigkeiten mit der Eisenbahngesellschaft über die Höhe der Beteiligung führten aber schließlich dazu, dass das neue Bauwerk bis Dezember 1895 erneut aus Holz errichtet wurde.
Zu jener Zeit war die Central Pacific schon Teil der von den „Big Four“ 1885 als Southern Pacific Company (SP) reorganisierten Eisenbahngesellschaften Central Pacific und Southern Pacific. Anfang des 20. Jahrhunderts kam diese Gesellschaft zwischenzeitlich unter die Kontrolle der Union Pacific Railroad (UP) von Edward Henry Harriman (bis 1913), der in die Modernisierung und den zweigleisigen Ausbau der SP investierte. In diesem Zuge wurden auch die Sacramento Shops zum größten Bahnbetriebswerk im Westen der USA ausgebaut und die eingleisige Brücke über den Sacramento River musste erneut einem Neubau weichen.
=== I Street Bridge der Southern Pacific Company 1911 ===
Die I Street Bridge wurde unter der Leitung des damaligen beratenden Ingenieurs der Harriman Lines John D. Isaacs als Stahl-Doppelstock-Fachwerkbrücke mit Drehbrücke konzipiert. Sie sollte zwei Gleise auf der unteren Ebene und die namensgebende I Street auf der oberen Ebene führen. An der Finanzierung des 786.000 US-Dollar teuren Bauprojekts beteiligten sich erneut die angrenzenden Counties. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Holzkonstruktionen, deren Brückenpfeiler ausschließlich aus Holzpfählen bestanden, mussten für die schweren Stahlträger Stahlbetonpfeiler mittels Senkkästen im Flussbett errichtet werden, die man bis zu einer Tiefe von 17 Metern absenkte. Die Arbeiten an den Brückenpfeilern durch die Missouri Bridge & Iron Company begannen im Juni 1910, und die Southern Pacific errichtete den von der American Bridge Company hergestellten Stahlüberbau bis zum Folgejahr. Der integrierte, 120 Meter lange und etwa 3000 Tonnen schwere drehbare Fachwerkträger war damals der weltweit schwerste Träger einer Drehbrücke und wurde in der Länge nur von wenigen zweigleisigen Ausführungen wie z. B. bei der Illinois Central Missouri River Bridge (158 m, 1903) und der Willamette River Railroad Bridge (159 m, 1908) übertroffen, die aber alle leichter waren.Bis zur Errichtung der flussabwärts folgenden M Street Bridge 1913 (später ersetzt durch die Tower Bridge) blieb die I Street Bridge die einzige Straßenbrücke nach West Sacramento. Änderungen an den Zufahrten zur Straßenebene erfolgten 1937 auf der Ostseite – hier wurde zusätzlich die aus Norden kommende Jibboom Street über ein Viadukt an die Brücke angeschlossen – und 1959 auf der Westseite, wo der Anschluss in West Sacramento von der D Street zur C Street verlegt wurde. Bis in die 1980er Jahre führte die California State Route 16, die sich in Sacramento mit dem über die Tower Bridge verlaufenden U.S. Highway 40 vereinigte, über die Brücke. Das Verkehrsaufkommen über die Straßenebene lag 2017 bei 4900 Fahrzeugen täglich (Tower Bridge ca. 12.000 Fahrzeuge), eine Benutzung für Busse und Lastkraftwagen ist aufgrund der schmalen Fahrstreifen nur eingeschränkt möglich.
Mit dem Ausbau des Straßennetzes in den USA verlagerte sich der Personen- und Güterverkehr von der Eisenbahn zunehmend auf die Straße, was ab den 1960er Jahren die großen Bahnnetze in Nordamerika immer unrentabler machte und in der Folgezeit zu mehreren Insolvenzen und Fusionen der Eisenbahngesellschaften führte. Nach einer gescheiterten Fusion der Holdinggesellschaften der Southern Pacific und der Atchison, Topeka and Santa Fe Railway, Southern Pacific Company und Santa Fe Industries, wurde die SP 1988 zunächst an Rio Grande Industries verkauft. Im Jahr 1996 kam es schließlich zur Übernahme durch die Union Pacific Railroad, die die Brücke heute als Teil der Martinez Subdivision zwischen Roseville und Oakland für den Schienengüterverkehr betreibt; die Santa Fe Pacific Corporation fusionierte Ende 1995 mit der Burlington Northern Railroad zur heutigen BNSF Railway (Burlington Northern Santa Fe), die die Brücke ebenfalls nutzen kann. Der Personenverkehr wurde bis Anfang der 1980er Jahre vollständig von der 1971 gegründeten National Railroad Passenger Corporation übernommen, bekannt unter dem Markennamen Amtrak. Die I Street Bridge ist heute Teil des Capitol Corridor zwischen San Jose und Auburn (benannt nach dem Verlauf über die heutige und einige ehemalige Hauptstädte Kaliforniens), mit einem Verkehrsaufkommen von etwa 30 Personenzügen täglich. Einschließlich des Schienengüterverkehrs wird die Brücke täglich von insgesamt etwa 80 Zügen befahren.Die Brücke wurde 1982 ins National Register of Historic Places aufgenommen (NRHP# 82002233). Die letzten großen Instandsetzungsarbeiten an der Fachwerkbrücke fanden 1993 statt, wobei Teile des Mittellagers und des Kontroll- und Steuerungsmechanismus der Drehbrücke ausgetauscht wurden.
=== Neubau einer separaten Straßenbrücke bis 2027 ===
Mit der Einführung von Diesellokomotiven ab den 1930er-Jahren und dem Ausbau des 25 Kilometer östlich gelegenen Roseville Yard, verlagerten sich die Wartungsarbeiten am Fuhrpark der SP mehr und mehr von Sacramento nach Roseville sowie auf andere Standorte. Nach der Übernahme durch die UP 1996 wurde der Roseville Yard zum Hauptdrehkreuz in Kalifornien ausgebaut, wo heute ein Großteil aller Wartungen der Diesellokflotte durchgeführt wird (im Jahr 2004 waren dies 21.000 Wartungen der insgesamt etwa 8700 Dieselloks). Dies bedeutete endgültig das Aus für die Sacramento Shops und 2015 wurden nach dem Abriss der meisten Gebäude etwa 80 Prozent des fast 100 Hektar großen Areals von der UP an private Investoren veräußert; nur Amtrak nutzt heute noch Teile für seinen Personenbahnhof Sacramento Valley Station. Im Rahmen des Sacramento Railyards Project sollen hier bis Ende der 2020er-Jahre neue Wohn- und Bürogebäude sowie u. a. auch ein Fußballstadion mit 25.000 Sitzplätzen entstehen. Vor diesem Hintergrund begannen in den 2010er-Jahren die Städte Sacramento und West Sacramento mit der Planung für eine neue Straßenbrücke, welche die über 100 Jahre alte Verbindung über die obere Ebene der I Street Bridge ersetzen soll, die mit ihrer nur 5,5 Meter breiten Fahrbahn die Anforderungen an zwei heutige Fahrstreifen (je nur 2,75 m) nicht mehr erfüllt. Im Frühjahr 2020 wurde das renommierte auf Brücken spezialisierte Ingenieurbüro Modjeski and Masters mit dem Entwurf einer als Netzwerkbogenbrücke ausgeführten Hubbrücke beauftragt. Diese soll bis 2027 einige hundert Meter flussaufwärts entstehen und die C Street in West Sacramento mit dem neuen Railyards Boulevard in Sacramento verbinden. Geplant ist dann der Rückbau der Zufahrten zur I Street Bridge und eine mögliche Nutzung der jetzigen Straßenebene für Fußgänger und Radfahrer.
== Beschreibung ==
=== Gesamtüberblick ===
Das Bauwerk gliedert sich in eine 260 m lange Fachwerkbrücke und mehrere Viadukte für die Zufahrten zur Straßenebene, wobei sich zwischen der C Street in West Sacramento und der I Street in Sacramento eine Gesamtlänge von 669 m ergibt. Die Fachwerkbrücke besteht von West nach Ost aus zwei Einfeldträgern von 50,9 m Länge, einer 120,3 m langen Drehbrücke und einem weiteren Einfeldträger von 33,4 m Länge. Die Fachwerkträger sind als Baltimore truss ausgeführt, was in etwa einem parallelgurtigen Ständerfachwerk entspricht, bei dem zur Realisierung von höheren Traglasten durch weitere Streben und Ständer im unteren Bereich die Fachwerkfelder nochmals unterteilt und verstärkt werden. Für die Nutzung als Doppelstockbrücke wird die Gleisebene in Höhe der Untergurte und acht Meter darüber die Straßenebene in Höhe der Obergurte der folgenden Einfeldträger geführt – beim höheren Träger der Drehbrücke (15,2 m) in etwa in der Mitte. Die Fachwerke haben, bezogen auf ihre Mittelachsen, einen Abstand von 9,4 m und bieten unten Platz für zwei Normalspur-Gleise und darüber für eine 5,5 m breite Fahrbahn mit einem 1,5 m breiten Fußweg pro Seite.
Die Fachwerkbrücke ruht auf vier aus Stahlbeton gefertigten Strompfeilern und den Widerlagern. Die drei Pfeiler zwischen den Einfeldträgern bzw. der Drehbrücke haben Fundamentgrundflächen von 7,3 m × 18,3 m und verjüngen sich bis zur Lagerauflage auf etwa 3 m × 12 m. Der runde Pfeiler der Drehbrücke hat im oberen Bereich einen Durchmesser von 12,8 m und ein Fundament im Form eines Achtecks mit einem Durchmesser von 16,5 m. Er erreicht eine Höhe von über 25 m und ragt bei Niedrigwasser etwa fünf Meter aus dem Wasser, die lichte Höhe bis zum Untergurt der Träger beträgt etwa sechs Meter. Die Wassertiefe liegt bei Niedrigwasser in der Fahrrinne um die Drehbrücke bei mindestens drei Metern, ist aber Langzeitschwankungen durch Ablagerungen und Abtragungen unterworfen.
=== Drehbrücke ===
Der 120,3 Meter lange Fachwerkträger der Drehbrücke hat eine Höhe von 15,2 m im Bereich der parallel verlaufenden Gurte und erreicht 20,3 m im Zentrum über dem Drehpunkt, wo die Obergurte der beiden Hälften mittels Augenstäben verbunden sind. Die Drehung des 3061 t schweren Trägers erfolgt über ein in den runden Pfeiler eingelassenes Mittellager, das aus drei 14–15 cm dicken Metallscheiben aufgebaut ist, mit Durchmessern von je 1,3 m. Die obere und untere Scheibe aus Nickel-Stahl dienen als Lagerschale und haben eine nach innen zeigende konkave Fläche, zwischen denen sich eine geschmierte beidseitig konvexe Scheibe aus Phosphorbronze befindet. Der Pfeiler besitzt zusätzlich an seinem oberen Rand einen Stahlring, der außen als Zahnkranz und innen als Lauffläche für zwölf Stabilisierungsräder fungiert; je vier an den Außenseiten der Fachwerke und je zwei pro Seite unterhalb des Trägers. Die Räder liegen im Idealfall des ausbalancierten Fachwerkträgers nicht auf dem Stahlring auf und sind nur zur Aufnahme von auftretenden Windlasten vorgesehen. Zwei Elektromotoren wirken über Getriebe auf vier Zahnräder am Zahnkranz ein, wodurch eine Drehung im oder entgegengesetzt des Uhrzeigersinns möglich ist. Im geschlossenen Zustand wird der Träger durch Vorrichtungen mit beweglichen Keilen am Ende und in der Mitte fixiert, die dann die Auflager bilden. Die ursprünglich über Elektromotoren betrieben Mechanismen wurden 1993 durch hydraulische Vorrichtungen ersetzt. Das Zurückziehen der Keile und die Drehung des Trägers um 90 Grad benötigt etwa 2,5 min, die Steuerung erfolgt von einem Betriebshaus aus, das sich oberhalb der Straßenebene direkt über dem Drehpunkt befindet und täglich von einem Mitarbeiter der UP besetzt ist.
=== Zufahrten ===
Die Höhe der unteren Gleisebene entspricht der Höhe des angrenzenden Gleisverlaufes und die Brücke beginnt bzw. endet für den Eisenbahnverkehr an den entsprechenden Widerlagern. Zur acht Meter höheren Straßenebene führen mehrere Viadukte, die im Verlauf des über hundertjährigen Bestehens der Brücke mehrfach geändert und erweitert wurden. Auf der Westseite in West Sacramento beschreibt das etwa 170 m lange Viadukt eine S-Kurve und schließt die nördlich etwa parallel verlaufende C Street an die Straßenebene an, die in beide Richtungen befahrbar ist. Auf der Ostseite in Sacramento existieren drei Viadukte, die sich vor der Fachwerkbrücke an einer Kreuzung in Höhe der Straßenebene vereinigen. Die Zufahrt erfolgt von der südlich versetzten I Street über ein Viadukt, das unterhalb der Interstate 5 (I-5) endet; Länge etwa 240 m. Die Abfahrt ist nur zur südlich folgenden Parallelstraße J Street möglich, das entsprechende etwa gleich lange Viadukt endet hier parallel zur I-5 und ist Teil der Abfahrt von der Interstate. Aus Norden ist zusätzlich die Zu- und Abfahrt über ein etwa 200 m langes Viadukt von der Jibboom Street aus möglich, das parallel zur I-5 verläuft.
== Literatur ==
Heaviest Swing-Span Steel Bridge in the World. In: Architect and Engineer. Vol. 27, Dezember 1911, S. 87.
Southern Pacific Bridge At Sacramento. In: Railway Age Gazette. Vol. 54, Nr. 15, 1913, S. 846–849.
Otis Ellis Hovey: Movable Bridges. John Wiley & Sons, Band 1, 1926, S. 40 u. 48–53 (Digitalisat) und Band 2, 1927, S. 46–54 (Digitalisat).
John W. Snyder: I Street Bridge. National Register of Historic Places Inventory: Nomination Form, Sacramento 1981.
== Weblinks ==
I Street Bridge. HistoricBridges.org
I Street Bridge Replacement. City of Sacramento
Final Design for the new I Street Bridge Replacement Project. Sacramento City Express, 21. Februar 2020
First Bridge Across the Sacramento River. Bild der ersten Straßenbrücke von 1857
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/I_Street_Bridge
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Innsbrucker Mittelgebirgsbahn
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= Innsbrucker Mittelgebirgsbahn =
Als Innsbrucker Mittelgebirgsbahn – umgangssprachlich auch Mittelgebirgsbahn, Igler, Sechser oder Waldstraßenbahn – wird die heutige Linie 6 der Innsbrucker Straßenbahn bezeichnet. Die 8,362 Kilometer lange meterspurige Überlandstraßenbahn war ursprünglich als Kleinbahn konzessioniert. Sie erschließt den Paschberg, südöstlich von Innsbruck am Mittelgebirge gelegen, welches der Bahn ihren Namen gab. Die Strecke wurde 1900 eröffnet und verbindet seither den Innsbrucker Stadtteil Wilten mit den Ortschaften Aldrans, Lans, Sistrans und Igls. Früher ein wichtiges Nahverkehrsmittel, ist sie heute eine Ausflugsbahn in das beliebte städtische Naherholungsgebiet. In früheren Jahren wurden die Kurse von und nach Igls mehrfach bis in die Innenstadt durchgebunden, heute enden alle Fahrten wieder an der peripher gelegenen Station Bergisel, dort besteht Anschluss an die Linie 1.
== Geschichte ==
=== Planung und Bau ===
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Dorf Igls am Innsbrucker Mittelgebirge zu einem beliebten Reiseziel von Touristen und Ausflugsziel der Innsbrucker Bevölkerung. Allerdings führte nur ein steiler Feldweg von Innsbruck hinauf auf das Plateau des Mittelgebirges. So kamen bereits 1886 erste Gedanken auf, eine elektrische Schmalspurbahn von der Maria-Theresien-Straße aus über Wilten nach Amras zu bauen und die Reisenden von dort mit einer Seilbahn auf das Plateau zu transportieren. Ein anderer Plan sah 1890 eine Zahnradbahn von Innsbruck über Amras, Aldrans und Igls auf den Patscherkofel vor.
1893 wollte die Localbahn Innsbruck–Hall i. Tirol (L.B.I.H.i.T.) vom Bergiselbahnhof aus die Strecke bis zum Schloss Ambras verlängern. Für die Weiterführung nach Igls gab es mehrere Varianten. Die erste ging vom Schloss aus weiter über Vill und den Lanser See nach Igls und die zweite über Lans und Sistrans nach Igls. Allerdings stellte sich bald heraus, dass die erste Variante zu lang geworden wäre und auch die anderen Dörfer nicht berührt hätte.
Im Frühsommer 1896 erhielt die Stadtgemeinde Innsbruck vom k.k. Eisenbahnministerium die für ein Jahr geltende Bewilligung zur Vornahme technischer Vorarbeiten für eine schmalspurige Bahn niederer Ordnung mit Dampf- oder elektrischem Betrieb von Innsbruck aus über Schloss Ambras, Ampass, Aldrans und Lans nach Igls. Die endgültige Streckenplanung übernahm Ingenieur Josef Riehl. Dass die Strecke nur durch das Ampasser Gemeindegebiet führen, dort aber kein Haltepunkt errichtet werden solle, stand bereits fest. Um den angestrebten Stundentakt einhalten zu können, schlug Riehl noch vor, dass die Strecke nicht durch Aldrans führen, sondern nur den Ort berühren solle. Schließlich begann man im August mit den Bauarbeiten für die Trasse.
Da die Fahrzeuge im Bergiselbahnhof der L.B.I.H.i.T. untergestellt werden sollten, musste dort auch noch die Remise erweitert werden. In Igls wurde auch ein Lokschuppen errichtet, in dem entweder eine Dampflokomotive oder zwei Beiwagen Platz fanden. Des Weiteren war der Bahnhof Igls zweigleisig, so dass die Lokomotive umsetzen konnte.
Im Jänner 1900 bekam die Stadtgemeinde Innsbruck die Konzession erteilt, worauf die Bauarbeiten umgehend begannen. Diese verliefen reibungslos, allerdings wurde die Sillbrücke erst später geliefert, da die Arbeiter des Herstellers streikten. Ingenieur Riehl ließ daraufhin die Behelfsbrücke verstärken, so dass der Betrieb rechtzeitig aufgenommen werden konnte. Mitte Juni 1900 waren die Bauarbeiten dann abgeschlossen.
Die Gesellschaft Innsbrucker Mittelgebirgsbahn, abgekürzt I.M.B., gehörte zur Gänze der Stadt Innsbruck. Die Betriebsleitung oblag der L.B.I.H.i.T.
=== Betrieb ===
==== Dampfbetrieb (1900–1936) ====
===== Die Anfänge (1900–1914) =====
Am 27. Juni 1900 wurde die Bahn schließlich eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt standen ihr zwei Dampflokomotiven sowie zwölf Beiwagen und vier Güterwagen zur Verfügung. Die Bahn war nur im Sommerhalbjahr von Anfang April bis Ende September geöffnet. 1901 wurde die Haltestelle Teutoburgerwald in Tantegert umbenannt und die dritte Dampflok geliefert. Die Bekanntheit der Bahn war bereits 1902 enorm. So lässt sich zum Beispiel nachweisen, dass Fahrgäste des Norddeutschen Lloyds 30 Prozent Ermäßigung auf Fahrkarten erhielten. Dies zeigt, wie weit die Ruf der Bahn reichte. Die Schwellen der Mittelgebirgsbahn waren nicht imprägniert, so dass 1903 erste Schwellen getauscht werden mussten, da sie bereits recht vermodert waren. Da das Gütertransportaufkommen stetig stieg, beschloss man 1904, einen dritten geschlossenen Güterwagen zu beschaffen. Mit Anfang Juli 1906 wurden versuchsweise Gepäck- sowie bis 100 Kilogramm schwere Frachtstücke im eigenen Güterwagendienst nach Igls befördert. Ab 1912 wurden an Wochenenden und Feiertagen erstmals im Winter Züge für die Wintersportler nach Igls geführt.
===== Der Erste Weltkrieg (1914–1918) =====
Im Ersten Weltkrieg wurden die Lokomotiven 2 und 3 der Mittelgebirgsbahn für einen kurzen Zeitraum im Jahr 1915 an die Trient-Malè-Bahn verliehen, da an der Front Mangel an Ersatzteilen für die dortigen Gleichstromtriebwagen herrschte. Da das Heereskommando 1916 von Südtirol nach Igls übersiedelt war, stieg das Transportaufkommen auf der Mittelgebirgsbahn dermaßen stark an, dass sogar ein Beiwagen für den Gütertransport freigegeben wurde. Ende 1918 wurde die Lokomotive 3 erneut an die Trient-Malè-Bahn verliehen, wo sie nach dem Krieg auch verschrottet wurde.
===== Nachkriegszeit (1918–1930) =====
Nach dem Krieg mussten die Fahrten auf der Mittelgebirgsbahn wegen akuten Kohlemangels in Österreich eingeschränkt werden. Überzählige Beiwagen wurden an die L.B.I.H.i.T. verliehen, welche zu diesem Zeitpunkt bereits elektrisch betrieben wurde und unter Wagenmangel litt. 1920 wurde die Strecke bis zur Sillbrücke elektrifiziert, um dort mit Schnee, der bei der Schneeräumung in der Stadt anfiel, beladene Güterwagen zu entladen. 1921 wurde mit Torfgewinnung am Viller Moor begonnen, wozu man eine Stichstrecke zum Moor baute. Ab 1923 wurden wieder Wintersportzüge an Wochenenden geführt und zusätzlich wurden nun die Züge der Mittelgebirgsbahn in die Maria-Theresien-Straße verlängert. Dazu rüstete man einige Beiwagen mit einer Solenoidbremse und elektrischer Beleuchtung aus. Die Beiwagen wurden von einem Stadttriebwagen von der Maria-Theresien-Straße aus zum Bergiselbahnhof gezogen, wo die Fahrgäste dann in den bereitstehenden Dampfzug nach Igls umsteigen konnten. Im März 1927 kaufte die L.B.I.H.i.T. die I.M.B. rückwirkend zum 1. Jänner, um der wachsenden Konkurrenz des Automobils besser standhalten zu können. Es wurde nun auch überlegt, die Strecke vollkommen zu elektrifizieren. Ebenfalls im Jahr 1927 vollbrachte die Bahn ihr logistisch größtes Meisterstück, als sie das 150 Tonnen schwere Tragseil der Patscherkofelbahn nach Igls brachte. Mitte 1928 wurde die Haltestelle beim Mühlsee, einem beliebten Badesee, eröffnet.
===== Vorbereitung auf die Elektrifizierung (1930–1936) =====
Mitte 1933 wurde eine Probefahrt mit dem auf vier Motoren aufgerüsteten Haller Triebwagen Nummer 4 auf der Stubaitalbahn durchgeführt, um herauszufinden, wie dieser sich auf Bergstrecken bewährte. Trotzdem wurde die Elektrifizierung noch hinausgeschoben, da die Konkurrenz der Autobusunternehmen schon sehr groß war. 1935 wurden die Gelder schließlich gesichert, und ein weiterer Triebwagen der L.B.I.H.i.T. (Nummer 3) wurde für den Bergbetrieb umgebaut. Die AEG übernahm die Planung der Elektrifizierung. Vorgesehen war, gleich wie auf der Strecke nach Hall mit 1000 Volt Gleichspannung zu fahren. Die Einspeisung sollte in Innsbruck beim Sillkanal erfolgen. Anfang 1936 begannen die Bauarbeiten an der Oberleitung. Zusätzlich musste das Lichtraumprofil des Amraser Tunnels erweitert werden. Da mit einem hohen Spannungsabfall zu rechnen war, wurde noch eine zusätzliche Speiseleitung durch den Wald gebaut, die in Tantegert und bei der Haltestelle Lans in die Oberleitung mündete. Mitte 1936 waren die Umbauten schließlich abgeschlossen.
==== Elektrischer Betrieb (seit 1936) ====
===== Ende der Dampfära (1936–1939) =====
Am 28. Juni 1936 konnte schließlich der elektrische Betrieb auf der Mittelgebirgsbahn aufgenommen werden. Die Strecke wurde als Linie 6 in das Stadtnetz integriert, fortan fuhren fast alle Kurse in die Innenstadt. Dies hatte den Vorteil, dass die Passagiere beim Bergisel nicht mehr umsteigen mussten.
Nach und nach wurden auch die restlichen Beiwagen für den elektrischen Betrieb umgerüstet. Damals betrug die Reisezeit nur noch knapp über 20 Minuten. Nach dem Juliabkommen vom 11. Juli 1936 wurde die Tausend-Mark-Sperre wieder aufgehoben und das Fahrgastaufkommen stieg extrem. Pensionierte Fahrer mussten wieder eingestellt werden und ein weiterer Triebwagen (Nummer 2) wurde mit vier neuen Motoren ausgerüstet. Da durch den Krieg der Treibstoff rar wurde, hatte die Bahn bald wieder das Transportmonopol nach Igls. 1939 wurden auch die beiden Dampflokomotiven verkauft, da sich der elektrische Betrieb auf der Bergstrecke bewährt hatte. Damit war der Dampfbetrieb auf den Meterspurstrecken rund um Innsbruck endgültig beendet.
Ungeachtet ihres Status als Straßenbahn wurde die Mittelgebirgsbahn im Reichs-Kursbuch von 1944/45 als Elektrisch betriebene Schmalspurbahn aufgeführt, während im Sommerfahrplan 1939 nur auf den Elektrischen Betrieb hingewiesen wurde.
===== Zweiter Weltkrieg und Fahrgastanstieg (1939–1945) =====
Im Juli 1939 entgleiste ein bergwärts fahrender Zug unterhalb von Tantegert auf Grund eines „Lausbubenstreichs“. Im Dezember 1940 kam es zu einem folgenschweren Zusammenstoß zweier Züge mit vielen Verletzten in der Kehre unterhalb von Tantegert: Der talwärts fahrende Zug hatte den Befehl erhalten, im Bergiselbahnhof zu kreuzen, während der bergwärts fahrende Zug den Auftrag hatte, in Tantegert zu kreuzen. Die beiden Triebwagen waren vorübergehend nicht mehr einsatzfähig, womit nur noch ein 60-Minuten-Takt möglich war. Auch mussten zu diesem Zeitpunkt die Züge in die Innenstadt eingestellt werden. Zusätzlich kam es einige Wochen darauf auf der Strecke nach Hall zu einem Unfall, weshalb der Lokalbahngesellschaft nur noch fünf der acht Überlandtriebwagen zur Verfügung standen.
Um in Zukunft solche Unfälle zu vermeiden, wurde das Zugstabsystem eingeführt, das bis 1983 zur Anwendung kam. Dieses bestand aus einer blauen und einer gelben Kelle. Nur wenn ein Zug die gelbe Kelle hatte, durfte er sich im Bereich zwischen Bergisel und Tantegert aufhalten, und nur wenn er die blaue Kelle hatte, durfte er sich im Bereich zwischen Tantegert und Igls aufhalten. Bei der Zugskreuzung in Tantegert wurden die Kellen ausgetauscht, so dass es einem Zug nie erlaubt war, in die Strecke des jeweils anderen einzufahren, solange dieser nicht auch in Tantegert angekommen war.
Bis 1941 wurden zwei weitere Haller Triebwagen (7 und 8) mit den freigewordenen Motoren aus den Triebwagen 2 und 3 ausgestattet, so dass diese nun auch über vier Motoren verfügten, womit sie bei Wagenmangel auch auf der Igler Strecke zum Einsatz kamen. Auch wurden in diesem Jahr einige Streckenbegradigungen durchgeführt, und die L.B.I.H.i.T. wurde zusammen mit einigen Busunternehmen zu den Innsbrucker Verkehrsbetrieben (IVB) fusioniert. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Mittelgebirgsbahn bedingt durch ihre Nähe zur Brennerbahn durch Bombentreffer stark in Mitleidenschaft gezogen. So wurde zum Beispiel einmal die Stromzufuhr zum Bergiselbahnhof gekappt, so dass die Bahn nicht mehr bis in den Bahnhof fahren konnte. Auch war die Strecke immer wieder im Bereich des Bahnhofs unterbrochen, so dass öfters bereits bei der Sillbrücke Endstation war. Nach dem Kriegsende begannen allerdings sofort Reparaturarbeiten, auch fuhren die Züge nun wieder bis in die Innenstadt.
===== Konkurrenz durch den Omnibus (1945–1977) =====
1948 richteten die Innsbrucker Verkehrsbetriebe eine Omnibuslinie nach Igls ein, die der Mittelgebirgsbahn viele Fahrgäste wegnahm. Die Buslinie hatte den Vorteil, dass sie im Gegensatz zur Bahn die Ortskerne erschloss. In den nächsten 20 Jahren kam es immer wieder zu Streckenbegradigungen auf der Mittelgebirgsbahn, was den Fahrgastkomfort und die Fahrgeschwindigkeit erhöhte und den Verschleiß verminderte. Anfang der 1970er Jahre war die Linie 6 durch den Bau der Inntalautobahn von der Einstellung bedroht. Die Autobahn sollte an der Stelle gebaut werden, wo die Linie 6 über die Sill führte, und in weiterer Folge auch quer durch den Betriebshof verlaufen. Bei einer Befragung sprach sich die Bevölkerung allerdings dagegen aus. 1974 wurden die Strecke nach Hall aufgelassen und fünf der acht Triebwagen verkauft. So stand der Mittelgebirgsbahn nur noch ein kleiner Fuhrpark zur Verfügung. 1976 war die Linie ein weiteres Mal von der Einstellung bedroht. Die Bahn sollte durch moderne, gasbetriebene Busse ersetzt werden. Wieder protestierte die Bevölkerung erfolgreich dagegen.
===== Umstellung auf moderne Gelenktriebwagen (1977–1981) =====
1977 wurde die Inntalautobahn schließlich gebaut, was zu einer Verlegung der Bahntrasse im Bereich der Sillbrücke führte. Die alte Brücke wurde abgetragen und durch eine neue ersetzt. Auch änderte man den Verlauf der Igler Straße, weswegen die Bahn diese nun unterquerte. Außerdem führten die Innsbrucker Verkehrsbetriebe mit modernen Gelenktriebwagen, die sie 1976 von der Hagener Straßenbahn gekauft hatten, erste Probefahrten nach Tantegert durch. Bis 1979 wurde der erste ehemalige Hagener bergtauglich gemacht. 1980 wurden die Gelenktriebwagen zusätzlich mit einem Mittelteil aus angekauften Triebwagen aus Bielefeld ausgerüstet. Im Februar 1981 konnten die damals 72 Jahre alten Holzkastenwagen aus dem Plandienst genommen werden, die seitdem nur noch als Arbeitsfahrzeuge dienen. Die Spannung auf der Strecke senkte man auf 850 Volt, da die neuen Wagen keine so hohe Spannung mehr benötigten. Auch wurde der nicht mehr benötigte Lokschuppen in Igls abgetragen.
===== Adaptierung für den Einrichtungsbetrieb (1981–1987) =====
Ab 1983 kamen die ehemaligen Hagener Triebwagen auch auf der Stubaitalbahn zum Einsatz. Allerdings waren zu wenig Fahrzeuge vorhanden, um beide Strecken effizient damit betreiben zu können. Eine Neuanschaffung gleichwertiger Fahrzeuge erwies sich vorerst als nicht möglich. Also beschloss man, auf der Igler mit den bereits vorhandenen Einrichtungswagen von der Straßenbahn Bielefeld zu fahren, was sich allerdings bis 1985 verzögerte, da noch einige Anpassungen nötig waren. Die Haltestellen mussten umgebaut werden, so dass auf beiden Seiten Bahnsteige vorhanden waren. Weiters mussten in Igls eine Wendeschleife und ein neues Unterwerk für 600 Volt gebaut werden, da die ehemaligen Bielefelder nicht so hohe Spannungen benötigten wie die ehemaligen Hagener. 1983 wurde auch das alte Zugstabsystem durch ein modernes Funkleitsystem ersetzt. 1985 konnte nach Fertigstellung der Schleife in Igls die Mittelgebirgsbahn auf Einrichtungsverkehr umgestellt werden. In Aldrans entstand ein weiteres Unterwerk. Die früher nur im Allerheiligenverkehr am 1. November bediente Haltestelle Tummelplatz, bis Mai 1992 Tummelplatz – Schloß Ambras genannt, wurde ab 1985 ständig von Planzügen bedient. Auch adaptierte man in diesem Jahr die Einrichtungstriebwagen für die Bergstrecke.
===== Linie 1 und Nostalgiefahrten (1987–1997) =====
Ab 1987 wurde die Igler wie schon in früheren Jahren wieder bis in die Innenstadt durchgebunden. Neu war jedoch die darüber hinausgehende Führung zur Hungerburgbahn-Talstation im Saggen, die bisherige Radiallinie wurde also in eine Durchmesserlinie umgewandelt. Die Linie 6 wurde dabei in den Fahrplan der Linie 1 integriert, das heißt für jede Fahrt einer Linie 6 von und zur Hungerburgbahn entfiel eine Fahrt der Linie 1 – unterm Strich blieb die Zahl der eingesetzten Kurse jedoch gleich, weil auf der Linie 6 ab diesem Zeitpunkt zwei Kurse eingesetzt wurden. In Richtung Igls waren diese "gemischten Kurse" dabei bereits ab der Hungerburgbahn-Talstation als Linie 6 betafelt, auf dem Rückweg fuhr der Zug wieder als Linie 1 betafelt zur Hungerburgbahn. Diese Verknüpfung bewährte sich jedoch nicht, trotz des entfallenden Umstiegs am Bergiselbahnhof sanken die Fahrgastzahlen der Igler weiter. Infolgedessen beantragten die Innsbrucker Verkehrsbetriebe im Oktober 1996 die Einstellung der Igler Strecke.
===== Erneute Linienumstellung und Nostalgieverkehr (1997–2000) =====
Nachdem sich die Bevölkerung abermals gegen die Einstellung der Igler ausgesprochen hatte, veränderten die IVB 1997 erneut die Streckenführung der Linie 6, die Umlaufbindung mit der Linie 1 wurde damals wieder aufgehoben. Die Linie 6 verkehrte zwar auch weiterhin in die Innenstadt – jetzt jedoch zusätzlich zur Linie 1, dafür jedoch nur in der Sommersaison und nur noch bis in die Innenstadt, jedoch nicht mehr zur Hungerburgbahn. In der Wintersaison verkehrte die Igler fortan – wie schon bis 1987 – nur noch zwischen Bergisel und Igls. Um die "neue" Linie zusätzlich attraktiv zu machen, fuhren die Tiroler MuseumsBahnen (TMB) ebenfalls von 1996 an im Sommer wöchentlich mit historischem Rollmaterial planmäßige Kurse nach Igls. Die in den Folgejahren bis 2004 sogar im täglichen Verkehr eingesetzten Nostalgiekurse wurden immer aus Kapazitätsgründen aus einem Igler Triebwagen, zwei Igler Beiwagen und dem Stubaier Güterwagen 32 (für den Fahrradtransport) gebildet.
===== Geplanter Niederflureinsatz (2000–2008) =====
2000 beschlossen die IVB, im Zuge des Regionalbahnkonzepts auch die Linie 6 wiederholt zu modernisieren und künftig ebenfalls mit modernen Niederflurwagen zu betreiben. Bereits 2003 fand deshalb eine Probefahrt mit einem geliehenen Niederflurfahrzeug der Type Flexity Outlook bis kurz vor die Station Lans statt. Die Station selbst konnte wegen des größeren Lichtraumbedarfs aber nicht passiert werden. Im Sommer 2005 wurden die Kurse der Linie 6 – bedingt durch vorbereitende Bauarbeiten für das Regionalbahnkonzept – erstmals seit 1987 nicht mehr bis in die Innenstadt geführt, seither verkehrt die Linie auch im Sommerfahrplan nur noch zwischen Bergisel und Igls. Auch die seit 1996 regelmäßig durchgeführten Nostalgiefahrten auf der Igler entfielen 2005, sie wurden bis heute nicht wieder aufgenommen. 2006 wurde schließlich in Vorbereitung auf den geplanten Einsatz der neuen Niederflurstraßenbahnen das Schotterbett der Überlandstrecke neu gestopft.
Am 29. Juli 2008 kam es zu schweren Unwetterschäden auf der Linie 6. Zwischen den Haltestellen Lans/Sistrans und Lanser See wurde der Bahndamm unterspült. In der Kehre oberhalb von Tantegert wurde durch umstürzende Bäume die Fahrleitung herabgerissen und bei der Haltestelle Schönruh wurden Erdbewegungen oberhalb der Bahnstrecke und eine Bewegung der Stützmauer festgestellt. Daraufhin wurde die Strecke für einige Monate geschlossen. Der Oberleitungsschaden war bereits nach wenigen Tagen behoben und der Bahndamm bei Lans konnte auch trotz einiger Probleme durch den instabilen Grund innerhalb von zwei Wochen saniert werden. Für die Schäden bei Schönruh musste allerdings erst ein Landesgeologe ein Gutachten erstellen, worauf Teile der Felsen oberhalb der Strecke entfernt, sowie die Stützmauer und die Felsen mit Betoninjektionen stabilisiert werden mussten. Die Streckensperre wurde genutzt, um auch einige andere kleinere Arbeiten auszuführen. So wurden bei Mühlsee Schwellen ausgetauscht und einige Haltestelleninseln saniert. Am 7. November 2008 konnte die Strecke feierlich wieder in Betrieb genommen werden. Seit Anfang März 2009 werden die Haltestellen der Mittelgebirgsbahn jeweils auf einer Seite umgebaut, so dass sie ein ebenes Einsteigen in die neuen Niederflurbahnen möglich wird. Da die neuen Fahrzeuge Zweirichtungsfahrzeuge sind, wird der Bahnsteig auf der zweiten Seite der Haltestellen (ausgenommen Tantegert) aufgelassen, da er nicht mehr benötigt wird.
===== Niederflureinsatz (ab 2009) =====
Seit Mitte Juli 2009 wird die Bahn mit Niederflurtriebwagen betrieben. Hierfür wurde der Transformator im Unterwerk Aldrans ausgetauscht, damit die Nennspannung auf 900 Volt (bis dahin 600 Volt) erhöht werden konnte, weil auf der Bergstrecke sonst bei einem Betrieb mit mehreren Triebwagen die Spannung zu stark absinkt. Um den Radverschleiß der Niederflurfahrzeuge geringer zu halten und die Lärmbelästigung im Bereich der Endhaltestelle Igls zu verringern, wird die Wendeschleife in Igls im Plandienst nicht mehr befahren. Der Zug fährt nun gerade am Bahnsteig ein, und der Fahrer muss den Führerstand wechseln. Für Sonderfahrten steht die Schleife nach wie vor zur Verfügung. Seit Februar 2011 ist das Bahnhofsbuffet geschlossen.
Ursprünglich war geplant, den Igler Bahnhof zu restaurieren und in seinen Ursprungszustand zu versetzen, allerdings fehlten hierfür die Pläne. Deswegen wurde er 2011 in Absprache mit dem Denkmalamt im Letztzustand restauriert. Seitdem steht das Bistro am Bahnhof leer. 2012 wurden auf längeren Streckenabschnitten Gleise und Schwellen sowie auch einzelne Oberleitungsmasten getauscht. Ende 2012 wurde das denkmalgeschützte Haltestellenhäuschen bei der Haltestelle Lanser See restauriert.
Seit 15. April 2013 werden auf der Strecke keine Downhill-Fahrräder mehr transportiert. In den Jahren zuvor entwickelte sich der Paschberg zu einem beliebten Downhill-Revier. Da allerdings ein Teil der Downhill-Fahrer auch über Privatgrund fuhren und dabei Flurschäden anrichteten, wurde auf Anweisung der Stadt Innsbruck der Transport von Downhill-Fahrrädern untersagt, was zu Protesten seitens der Downhill-Fahrer führte. Darüber hinaus wurde der Verkehr auf der Bahnstrecke auch von den Downhill-Fahrern beeinträchtigt. Neben teilweise stark verschmutzten und über die zulässige Maximalanzahl an Fahrrädern beladenen Garnituren, wurden auch Sprungrampen über die Gleise gebaut und die Bahnstrecke zum Teil auch als Downhill-Strecke verwendet.
Da die neuen Fahrzeuge einen sehr starken Schienenverschleiß nach sich zogen, wurden von Juli bis Oktober 2013 und 2014 Gleise in den Bögen getauscht, sowie ein Großteil der Schwellen zwischen Tantegert und Lanser See. Hierfür war die Strecke gesperrt und die Linie wurde im Schienenersatzverkehr betrieben.
==== Eingeschränkter Betrieb (ab 2017) ====
Wegen der defizitären Betriebssituation werden seit Anfang 2016 erneut diverse Zukunftsszenarien diskutiert, darunter eine komplette Einstellung der Strecke und ein Betrieb nur in den Sommermonaten Mai–Oktober, obwohl die Strecke die letzten Jahre zuvor aufwändig um mehrere Millionen Euro saniert worden ist.Wegen Generalsanierung der Sillbrücke (Trienter Brücke) im Rahmen der Bauarbeiten für den Brennerbasistunnel wurde die Strecke für sechs Monate zwischen Feber und August 2017 im Schienenersatzverkehr betrieben. Die Wiederinbetriebnahme erfolgte am 5. August 2017.Die Planungen über den eingeschränkten Betrieb konkretisierten sich im Sommer 2017. Nachdem mehrere unterschiedliche Szenarien diskutiert wurden, erfolgte die Umstellung mit 11. September 2017: An Samstagen, Sonntagen, Feiertagen und Fenstertagen verkehrt die Linie 6 von 10:00 bis 19:00 Uhr in den Monaten Mai–September bzw. 10:00 bis 17:00 Uhr im Winterhalbjahr. Außerdem fährt ausschließlich an Schultagen ein einziges Zugpaar zwischen 6:30 und 7:30 Uhr. Im Zuge der Coronakrise wurde der Verkehr Mitte März 2020 komplett eingestellt. Um die Buslinie J nach Igls zu entlasten, wurde der Fahrbetrieb allerdings ab Mitte April wieder aufgenommen, wobei die Bahn die gesamte Woche über nach Sonntagsfahrplan verkehrt, womit wieder mehrere Züge am Tag eingesetzt werden. Mit Fahrplan ab Dezember 2021 verkehrt die Linie 6 samstags, sonntags und an Feiertagen sowie in den Schulferien sechs- bis neunmal von Bahnhof Innsbruck bis Bergisel, sowie an Schultagen einmal täglich in der Früh.
=== Spätere Planungen und Projektstudien ===
Es gab in der Vergangenheit vereinzelte Bestrebungen, die Bahnstrecke näher an die Orte Aldrans, Lans und Igls heranzuführen. So war bereits die Grundstücksablöse zur Verlängerung der Igler vom Bahnhof Igls ins zirka 500 m entfernte Ortszentrum in den 1950er Jahren vorbereitet. Die Trassenverlängerung ist noch im Flächenwidmungsplan des Stadtteils Igls eingetragen. In den 1980er Jahren erstellte die Universität Innsbruck eine Studie zur Neutrassierung der Bahn und untersuchte dabei mehrere Varianten. Wesentliches Ziel war es, das circa 100 Meter höher gelegene Gebiet ums Igler Badhaus zu erschließen, um die dort geplante und nun bereits errichtete Talstation des Olympiaexpresses (eines Sessellifts auf den Patscherkofel) an ein leistungsfähiges Nahverkehrsmittel anzubinden. Darüber hinaus erstellte der Architekt Hubert Prachensky eine Studie „Metro Alpin“ zur Errichtung einer Tunnelbahn im Paschberg als Ersatz für die Igler.
== Fahrgastzahlen ==
== Strecke ==
In Innsbruck beginnt die Strecke am sogenannten Bergiselbahnhof, in dem der von Igls kommende Triebwagen spitz wendet. Früher befand sich hier der Betriebshof der Localbahn Innsbruck–Hall in Tirol, in dem neben den Fahrzeugen der Mittelgebirgsbahn auch diejenigen der Straßenbahn untergebracht waren. Heute noch besteht der zur Straßenbahn-Haltestelle umgewidmete ehemalige Bahnhof aus drei Gleisen – zwei in Richtung Igls sowie der Wendeschleife der Linie 1.
Aus dem Bergiselbahnhof ausfahrend, wird zunächst der Bahnsteig passiert, an dem früher die aus Igls kommenden Züge, die in die Stadt fuhren, hielten. In einer langgezogenen Kehre führt die Bahn anschließend am Kulturgasthaus Bierstindl vorbei, unterquert die Brennerbahn (inkl. der in Bau befindlichen Einfahrt in den Brennerbasistunnel), überquert neben der Inntal Autobahn die Sill und erreicht die Haltestelle Bretterkeller. Über eine Fußgängerbrücke ist von hier aus das gleichnamige Gasthaus zu erreichen. Von nun an geht es bergauf. Nach wenigen Metern überquert die Igler die Inntal Autobahn und fährt unter der Brücke der Brenner Autobahn hindurch. Nach der Unterquerung der Igler Straße befindet sich die Strecke im Wald des Paschberges. In der Unterführung sind die Isolatoren der Befestigung der Speiseleitung zu sehen. Nun folgt ein recht langes Stück mit einigen leichten Kurven, von wo aus immer wieder zwischen den Bäumen hindurch Innsbruck zu sehen ist. Von der Haltestelle Tummelplatz kann nach wenigen Minuten Fußweg das Schloss Ambras sowie den Landessöhne Gedächtnisfriedhof erreicht werden. Hier beginnt auch die Forstmeile, ein bei der Bevölkerung von Innsbruck beliebter Erlebniswanderweg mit zahlreichen Gymnastikstationen.
In einer langgezogenen Kehre wird der einzigen Tunnel der Linie 6 durchfahren und die Haltestelle Schönruh erreicht. Die relativ geräumige, flache und gerade Anlage ist konstruktiv für die Anlage einer ursprünglich geplanten Ausweiche ausgelegt. Schönruh verfügte über ein unter Denkmalschutz stehendes Wartehäuschen, das sein Aussehen seit 1900 kaum verändert hat, allerdings brannte dieses zirka Mitte Mai 2007 ab. Nachdem die Haltestelle beim Umbau für die Niederflurfahrzeuge leicht talwärts verlegt worden ist, besteht keine Notwendigkeit mehr, diesen Wetterschutz wieder aufzubauen. Anschließend setzt sich die Kehre fort, und die Bahn wendet sich gegen Westen. Bis zur nächsten großen Kurve ist von hier der Friedhof zu sehen. Immer wieder kreuzen Wanderwege die Bahnstrecke. Nach zehn Minuten Fahrzeit ab Bergisel und einer weiteren Kehre folgt die Ausweiche Tantegert. Früher kreuzten hier alle 30 Minuten die Züge. Am Rand der Station steht ein Bahnwärterhäuschen, das heute als Wochenendhaus dient. Nach der nächsten Kehre gelangt man zu einem relativ langen, geraden Streckenstück. Hier wurde die Strecke im Laufe der Zeit begradigt, um die Fahrzeit zu verkürzen. Einige Kurven später kommt die Haltestelle Aldrans. Das dortige Wartehäuschen wurde beim Einbau des Umformers modernisiert. Nach einer langgezogenen Kehre und einigen langgezogenen Bögen verlässt die Bahn den Wald und erreicht die Haltestelle Mühlsee. Auch an dieser Haltestelle, die über ein weitgehend unverändert erhaltenes Wartehäuschen verfügt, war eine Ausweiche geplant.
Den Hang weiter ansteigend erreicht die Bahn nach wenigen Kurven die Haltestelle Lans-Sistrans auf dem Plateau des Paschberges. Das Wartehäuschen wurde in den 1980er Jahren durch einen Betonunterstand ersetzt. Weiter geht es in einem langgezogenen Bogen zur Haltestelle Lanser See. Hier steigen im Sommer viele Fahrgäste aus und gehen zum Badesee oder wandern über den Paschberg zurück nach Innsbruck. Trotz einiger Umbauten hat das Wartehäuschen seinen ursprünglichen Charakter bewahrt. Wenige Minuten später wird die Endstation Igls erreicht, wo das Empfangsgebäude aus dem Jahr 1900 erhalten blieb. Die Wendeschleife wurde früher entgegen dem Uhrzeigersinn befahren. Heute wendet der Triebwagen spitz und hält vor dem Bahnhofsbistro neben der Wartehalle. Nur Nostalgie- und Bauzüge durchfahren bisweilen die Schleife. Von hier führt ein kurzer Fußweg zum Ortskern von Igls; weitere fünf Minuten sind es zur Patscherkofelbahn.
Angesichts der Streckenführung sowie der Tatsache, dass die Bahn früher nur im Sommer bedient wurde, hat die Mittelgebirgsbahn den Charakter einer Ausflugsbahn. Im Gegensatz dazu fahren die meisten Pendler aus Igls mit dem Bus nach Innsbruck. Touristen und Ausflügler bevorzugen die Bahnstrecke, vor allem aufgrund ihrer Nähe zum Schloss Ambras und zu den Wanderwegen des Paschbergs. Der Freizeitcharakter der Bahn wird zusätzlich durch die seit 1996 bestehende Möglichkeit zur Fahrradmitnahme verstärkt, was zu einer Erhöhung der Fahrgastzahlen führte.
== Fuhrpark ==
Aufgrund der Gefällstrecke hatte die Innsbrucker Mittelgebirgsbahn einen typischen Fuhrpark. Die Beiwagen mussten beim elektrischen Betrieb mit Solenoidbremsen ausgerüstet sein, was nur auf die Igler und einige Haller Beiwagen zutraf. Außerdem wurden starke Motoren und Bremswiderstände benötigt. Ersteres hatten nicht alle Haller Triebwagen, letzteres hatten die Stadttriebwagen nicht. Allerdings wurde die Strecke vom Bergisel bis zur Kreuzung mit der Iglerstraße in der Geschichte immer wieder für Testfahrten herangezogen. Die alten Holzkastentriebwagen wurden ab 1981 zunächst durch ehemalige Hagener Triebwagen und schließlich ab 1986 durch ehemalige Bielefelder Triebwagen ersetzt, die speziell für die Bergstrecke mit stärkeren Widerständen ausgestattet wurden. Ein Ereignis, welches zahlreiche Eisenbahnliebhaber anlockte und ein großes Medienecho in Fachkreisen bewirkte, war die Fahrt eines Lohner-Triebwagens nach Igls am 20. Januar 2007 anlässlich seines 40. Geburtstags, da er über zu schwache Widerstände für den Plandienst verfügt und deswegen noch nie in Igls anzutreffen war. So „verirrten“ sich immer wieder auch andere Fahrzeuge auf diese Strecke. Seit Mitte 2009 wird die Linie mit Niederflurfahrzeugen der Innsbrucker Straßenbahn betrieben. Da alle Niederflurtriebwagen über die gleiche technische Ausstattung verfügen, können alle Fahrzeuge des aktuellen Fuhrparks hier eingesetzt werden.
Fahrzeuge auf der Innsbrucker Mittelgebirgsbahn:
Flexity Outlook („Cityrunner“), Nr. 301–326
„Igler-Dampflok“, Nr. 1–3
Vierachsige „Haller-Triebwagen“, Nr. 1–8
„Ex-Bielefelder“ Gelenktriebwagen, Nr. 31–42 und 51–53
„Ex-Hagener“ Gelenktriebwagen, Nr. 81–88
Zweiachsige „Igler Beiwagen“, Nr. 101–112
Zweiachsige „Meraner Beiwagen“, Nr. 146–147
Igler Güterwagen
„Kleine Schneekehre“, Nr. 200
Diesel-Arbeitstriebwagen, Nr. 22
== Literatur ==
Walter Kreutz: Straßenbahnen, Busse und Seilbahnen von Innsbruck. 2. Auflage. Steiger, Innsbruck 1991, ISBN 3-85423-008-7.
Peter Wegenstein, Hellmuth Fröhlich (Fotogr.): Innsbrucks Straßenbahn. Zweite, überarbeitete Auflage. Bahn im Bild, Band 28, ZDB-ID 52827-4. Pospischil, Wien 1992.
Walter Kreutz, Werner Schröter, Günter Denoth: Durch Wälder und über Wiesen – ein Jahrhundert Innsbrucker Mittelgebirgsbahn. Eigenverlag Tiroler Museumsbahnen, Innsbruck 2000, http://permalink.obvsg.at/AC03341906.
Werner Duschek, Walter Pramstaller u. a.: Local- und Straßenbahnen im alten Tirol. Eigenverlag Tiroler Museumsbahnen, Innsbruck 2008, http://permalink.obvsg.at/AC10907162.
Thomas Lexer: Trassierungsstudie über die Verlängerung der Straßenbahn von Igls nach Patsch. Diplomarbeit. Universität Innsbruck, Innsbruck 2008.
Die Innsbrucker Mittelgebirgsbahn. Innsbrucks romantische Lokalbahn. In: Günter Denoth: Die Innsbrucker Straßenbahnen und Lokalbahnen. Sutton, Erfurt 2010, ISBN 978-3-86680-695-5, S. 19–28.
Ray Deacon: Innsbruck’s alpine tramways. (englisch). Light Rail Transit Association, Welling 2011, ISBN 978-0-948106-39-2.
Walter Kreutz: Straßenbahnen, Busse und Seilbahnen von Innsbruck. Haymon-Verlag, 2011, ISBN 978-3-85218-649-8.
Karl Armbruster: Die Tiroler Bergbahnen. Buchdruckerei G. Davis & Co., Wien 1914, Die Innsbrucker Mittelgebirgsbahn, S. 71–78 (Digitalisat bei der Südtiroler Landesbibliothek [abgerufen am 15. September 2017]).
== Weblinks ==
Innsbrucker Verkehrsbetriebe (offizielle Webseite des Betreibers)
Die Innsbrucker Mittelgebirgsbahn auf den Seiten der Tiroler MuseumsBahnen (TMB) (technisch-historische Informationen)
Die Linie 6 auf innsbruck.info
Historische Fahrzeuge der Bahn auf tramways.at
Innsbrucker Mittelgebirgsbahn. In: Innsbrucker Nachrichten, Nr. 145/1900, 27. Juni 1900, S. 11 f. (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/ibn
Aus Stadt und Land. Eröffnung der Igler Bahn. In: Innsbrucker Nachrichten, Nr. 146/1900, 28. Juni 1900, S. 3, oben links. (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/ibn
Ludwig von Hörmann: Feuilleton. Die Innsbrucker Mittelgebirgsbahn (Iglerbahn). (1. Teil).. In: Innsbrucker Nachrichten, Nr. 193/1900, 24. August 1900, S. 1 ff. (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/ibn,Ludwig von Hörmann: Feuilleton. Die Innsbrucker Mittelgebirgsbahn. 2. Igls. (2. Teil und Schluss). In: Innsbrucker Nachrichten, Nr. 196/1900, 28. August 1900, S. 1–4. (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/ibn
== Einzelnachweise ==
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Innsbrucker_Mittelgebirgsbahn
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Jagdschloss Stern
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= Jagdschloss Stern =
Das Jagdschloss Stern in Potsdam wurde von 1730 bis 1732 unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. im Stil eines schlichten holländischen Bürgerhauses errichtet. Den Auftrag zur Bauausführung bekam vermutlich der aus Holland stammende Grenadier und Zimmermeister Cornelius van den Bosch, die Bauaufsicht führte der Hauptmann beim Ingenieurcorps und Hofbaumeister Pierre de Gayette.
Das nur für Jagdaufenthalte konzipierte Gebäude stand bei seiner Erbauung im Mittelpunkt eines weitläufigen Geländes, das seit 1726 mit der Anlage eines sternförmigen Schneisensystems für Parforcejagden erschlossen wurde. Das für diese Hetzjagd umgestaltete Gebiet erhielt den Namen Parforceheide. Heute steht es zwischen der Autobahn 115 im Osten und einem von 1970 bis 1980 in die Parforceheide hineingebauten Neubauviertel im Westen, am Rand des Potsdamer Ortsteils Stern. Durch die Zerstörung des Stadtschlosses ist das Jagdschloss Stern heute das älteste erhaltene Schlossgebäude in Potsdam. Es wird mit ehrenamtlicher Unterstützung des Fördervereins Jagdschloss Stern-Parforceheide e.V. von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg verwaltet und instand gehalten.
== Geschichte ==
=== Entstehung von Jagdschlössern in der Mark Brandenburg ===
In der Mark Brandenburg begann Kurfürst Joachim II. Hector im 16. Jahrhundert mit der Errichtung der ersten Jagdschlösser in Grimnitz, Bötzow (heute Oranienburg), Grunewald und Köpenick rund um seine Residenzen Berlin und Cölln. In der Zeit des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm entstanden in dem wald- und wildreichen Gebiet um Berlin und Potsdam mit Groß Schönebeck und Glienicke weitere Schlösser für den Jagdaufenthalt.
Wie seine Vorgänger war auch der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. ein passionierter Jäger, der schon in dem südöstlich von Berlin gelegenen Königs Wusterhausen dieser Leidenschaft nachging. Die Herrschaft und Burg Wusterhausen, die er bereits als Zehnjähriger im Jahr 1698 von seinem Vater Kurfürst Friedrich III. (ab 1701 König Friedrich I. in Preußen) geschenkt bekam, wurde nach seiner Thronbesteigung zum Jagdschloss ausgebaut.
Nach seinem Regierungsantritt im Februar 1713 bestimmte er Potsdam zu seiner Residenz. Für seine ausgiebigen Jagden ließ er in den Jahren 1725 bis 1729 eine „Bauernheide“ südöstlich vor den Toren der Stadt für die Ausrichtung von Parforcejagden erschließen – der seither so genannten Parforceheide. Für diese Hetzjagd zu Pferde, die Ende des 17. Jahrhunderts von Frankreich ausgehend an den deutschen Höfen eine beliebte Form des Jagens war, eignete sich das weitläufige, ebene Gelände mit lichtem Wald und wenig Unterholz hervorragend. Neben schnellen Hunden und Pferden war für diese Jagdart ein übersichtliches Gelände erforderlich, um das Wild über längere Strecken verfolgen zu können, bis es erschöpft zusammenbrach. Zur besseren Orientierung der weit auseinanderreitenden Jagdgesellschaft wurde das Areal durch sechzehn sternförmig angelegte Schneisen (Gestelle) in Segmente aufgegliedert. Von den jeweiligen Abschnitten des circa einhundert Quadratkilometer großen Reviers fanden die Jäger über die gradlinig verlaufenden Schneisen, die zum Zentrum des Sterns führten, an ihren Sammelpunkt zurück.
=== Bau eines Gebäudeensembles und Nutzung ===
Etwas versetzt vom Mittelpunkt des Sterns, zwischen zwei Strahlen, ließ der Soldatenkönig von 1730 bis 1732 ein Jagdschloss im Stil eines schlichten holländischen Bürgerhauses errichten, das er nach dem Standort benannte. Vom folgenden Jahr an ließ er in Potsdam das Holländische Viertel aus einer Vielzahl gleichartiger Häuser errichten. Neben dem Ausbau seines Jagdschlosses in Königs Wusterhausen war das kleine Jagdschloss Stern der einzige Neubau, den der auf Sparsamkeit bedachte Soldatenkönig für sich errichten ließ. Wahrscheinlich zeitgleich mit dem Jagdschloss entstand das wenige Meter südwestlich gelegene Fachwerkhaus, in dem der Kastellan untergebracht war, der zudem Schankrechte erhielt. Noch bis 1992 wurde das Kastellanhaus gastronomisch genutzt. Zu den Wirtschaftsgebäuden gehörte ein 1733 vollendetes Stallgebäude im Nordosten, in dem mindestens 18 Pferde untergestellt werden konnten. Seit einem um 1930 durchgeführten Umbau dient es Wohnzwecken. Eine Scheune mit einem kleinen Stall, ein Waschhaus mit Abtritt und ein Brunnen im Zentrum des Sterns sind nicht mehr erhalten. Die baulichen Reste eines gemauerten Backofens konnten zwischen 2006 und 2009 freigelegt und 2011/2012 denkmalgerecht wieder aufgebaut werden.Mit dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen im Jahr 1740 fanden um Potsdam keine Parforcejagden mehr statt. In der Schrift „Antimachiavell“, in der Friedrich seine Gedanken über die Aufgaben und Ziele fürstlicher Machtausübung niederschrieb, lehnt er die Jagd als fürstlichen Zeitvertreib ab und bezeichnet das Weidwerk als eines jener sinnlichen Genüsse, die dem Leibe stark zu schaffen machen, dem Geiste aber nichts geben. Seine Nachfolger, Friedrich Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm III., hatten ebenfalls kein Interesse. 1791 gab es am Stern lediglich einige Treibjagden und während der napoleonischen Besetzung Preußens diente das Jagdschloss französischen Soldaten als Unterkunft. Erst unter Friedrich Wilhelm IV., der 1847 mit dem Jagdhaus Hubertusstock am Rand der Schorfheide nördlich von Berlin das letzte Jagdhaus der Hohenzollern in der Mark Brandenburg errichten ließ, fanden wieder Jagdveranstaltungen statt. Bereits ab 1828 kam es zu einer Neubelebung der Parforcejagd durch Prinz Carl, einem jüngeren Bruder des Königs, die bis in die 1890er Jahre ausgeübt wurde.
=== Nutzungsänderungen nach dem Ende der Monarchie ===
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Monarchie war das Gebäude zeitweise an Künstler vermietet. Wie die meisten Hohenzollernschlösser kam auch das Jagdschloss Stern 1927 in die Obhut der am 1. April desselben Jahres gegründeten preußischen „Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten“, seit 1995 „Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg“. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente es der militärischen Schutzeinheit für die britische Delegation während der Potsdamer Konferenz als Unterkunft und die gesamte Anlage von 1949 bis in die 1970er Jahre als Ferienlager für Schulkinder. Zur musealen Nutzung wurde das Jagdschloss nach umfangreichen Sanierungsarbeiten in den 1980er Jahren mit Einrichtungsgegenständen aus dem Schloss Königs Wusterhausen ausgestattet, die heute jedoch nicht mehr zum Bestand gehören. Wegen zu hoher Schadstoffbelastung durch Holzschutzmittel war das Gebäude seit 1996 über Jahre geschlossen und konnte nur mit Voranmeldung besichtigt werden. Nach den darauf erfolgten Sanierungsarbeiten ist es für die Öffentlichkeit seit 2007 wieder zugänglich.
Die Parforceheide verlor im Laufe der Zeit an Fläche. Von dem sechzehnstrahligen Schneisensystem sind heute nur noch acht Wege erhalten. Im Norden führten die Bauten der ersten preußischen Eisenbahnlinie Berlin-Potsdam und des Teltowkanals zu großen Gebietsverlusten. Im Westen der Bau der Wetzlarer Bahn und der AVUS mit ihrem späteren Ausbau zur Autobahn 115, die nahe am Jagdschloss vorbeiführt und im Süden durch die Nuthe-Schnellstraße. Ferner erfolgte die Errichtung der Potsdamer Wohngebiete Stern, Drewitz und Kirchsteigfeld auf ehemaligem Waldgebiet.
== Jagdschloss Stern ==
=== Abneigung gegen den Prunk des Barocks ===
Die Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts gilt kulturgeschichtlich als prunkvollste Epoche in der Jagdgeschichte an den europäischen Höfen. Sie war in der höfischen Gesellschaft Vergnügen und Zeitvertreib, aber auch Statussymbol und Selbstdarstellung. Zudem diente sie der Pflege dynastischer und diplomatischer Beziehungen und wurde mit der Ausbreitung des Absolutismus zur Prestigefrage der prunkliebenden Landesherrn. Selbst für den niederen Adel war das Recht zur Ausübung der Jagd – in einer nach Ständen gegliederten Gesellschaft – eine sichtbare Aufwertung, mit der er sich von den wohlhabenden, nichtadligen Schichten deutlicher abheben konnte. Neben der Jagdveranstaltung fanden oft glanzvolle Feste statt, sodass eigens für die Unterbringung der Gäste, beginnend schon im 16. Jahrhundert, Jagdschlösser gebaut oder vorhandene, günstig gelegene Gebäude nur für diese Zwecke ausgestattet wurden.
Friedrich Wilhelm I. empfand eine starke Abneigung gegen den luxuriösen Lebensstil der Fürstenhäuser. Ebenso lehnte er in der Architektur die überschwänglichen Schmuckformen des Barocks ab und bevorzugte die Klarheit, Übersichtlichkeit und Sauberkeit der Fassaden. Unter seiner Herrschaft dominierte in Brandenburg-Preußen vor allem der auf das Praktische ausgerichtete Baustil. So spiegelt das Jagdschloss Stern in seiner Einfachheit die sparsame und spartanische Lebensweise des Soldatenkönigs wider. Besonders im Vergleich mit der zur gleichen Zeit zu einem barocken Jagdschloss ausgebauten Moritzburg bei Dresden, von 1723 bis 1733, des Kurfürsten von Sachsen und Königs von Polen Friedrich August I./II., wird klar, dass der preußische Monarch die Architektur nicht zur Repräsentation einsetzte, wie es an den europäischen Höfen allgemein üblich war.
=== Warum ein Jagdhaus im holländischen Stil? ===
In der Mark bestand bereits seit dem beginnenden Landesausbau durch Albrecht den Bären im 12. Jahrhundert eine starke Bindung nach Holland, die im 17. und 18. Jahrhundert zu neuer Blüte kam. Die Vermählung des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm mit Luise Henriette von Oranien-Nassau im Jahre 1646 förderte die Ansiedlung holländischer oder in Holland geschulter Fachleute für Landwirtschaft, Landschaftsgestaltung, Kanal- und Deichbau. In den Wanderungen durch die Mark Brandenburg vermerkt Theodor Fontane: „Kolonisten wurden ins Land gezogen, Häuser gebaut, Vorwerke angelegt und alle zur Landwirtschaft gehörigen Einzelheiten alsbald mit Emsigkeit betrieben“ und die Holländer seien „[…] die eigentlichen landwirtschaftlichen Lehrmeister für die Mark, speziell für das Havelland“ gewesen. Mit Nachdruck verfolgte auch Friedrich Wilhelm I. den schon unter seinem Großvater, dem Großen Kurfürsten betriebenen wirtschaftlichen Aufbau des Landes mit der Ansiedlung ausländischer Handwerker und dem gleichzeitigen Aufbau einer starken Armee. Beides resultierte aus den Folgen und Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges, unter dem die Mark Brandenburg besonders stark gelitten hatte.
Nach einem ersten Ausbau der Residenz Potsdam zu einer Garnisonstadt unter dem Soldatenkönig, der so genannten „ersten barocken Stadterweiterung“ von 1722 bis 1725, erfolgte durch die Zunahme von Zivil- und Militärpersonen 1732 bis 1742 die „zweite barocke Stadterweiterung“. In diese Zeit, zwischen 1734 und 1742, fiel auch der Bau eines Holländischen Viertels. Diese Häuser wurden für Handwerker errichtet, die der Soldatenkönig 1732 auf seiner letzten Reise nach Holland für den Ausbau Potsdams angeworben hatte. Durch die verwandtschaftlichen Beziehungen zum niederländischen Fürstenhaus und seinen Studienreisen in den Jahren 1700, 1704 und 1732 lernte Friedrich Wilhelm I. die ingenieurtechnischen Leistungen der Holländer kennen, die es verstanden, sumpfiges Gelände trockenzulegen. Die gleichen, für eine Bebauung schwierigen Bodenverhältnisse bestanden auch in Potsdam. Ebenso beeindruckte ihn die kostengünstige, schnelle Bauweise holländischer Ziegelhäuser.
== Architektur ==
=== Überblick ===
Vorbildfunktion für die Potsdamer Holländerhäuser hatten wahrscheinlich die Ziegelhäuser des Amsterdamer Weberviertels Noortse Bosch aus dem 17. Jahrhundert und die schlichten Zaandamer Glockengiebel, oder auch die einfacheren Bürgerhäuser in Leiden und Haarlem. Da das Jagdschloss Stern in gleicher Architektur kurz vor Baubeginn der ersten Häuser des Holländischen Viertels fertiggestellt wurde, liegt die Vermutung nahe, dass es dem stets ökonomisch denkenden Soldatenkönig als Musterhaus diente, um Bauzeit und Kosten für das größere Projekt besser einschätzen zu können. Der Name des Architekten ist nicht gesichert; möglicherweise wurde nach einem direkt aus Holland bezogenen Plan gebaut. Den Auftrag zur Bauausführung bekam wahrscheinlich der aus Schipluiden bei Delft, andere Quellen nennen Schipley bei Grafenhaag (Den Haag), stammende Grenadier und Zimmermeister Cornelius van den Bosch (1679–1741), der um 1720 nach Potsdam kam. Eine erste Erwähnung des Holländers findet sich mit der Datierung 1726 in einer Rangierrolle (Namensliste) als „Langer Kerl“ im Königlichen Regiment zu Fuß. Wie die Soldaten jener Zeit ging auch er nach dem täglichen Militärdienst einem zivilen Beruf nach und wird in den Bauakten zum Jagdschloss im Zusammenhang mit der Bestellung von Bauholz erwähnt. Die Bauaufsicht führte der französischstämmige Hauptmann beim Ingenieurcorps und Hofbaumeister Pierre de Gayette, wie seine Unterschrift unter Ziegelsteinlieferungen „zu dem Neuen hause im Königl. par Force garten“ im August/September 1730 belegt.
=== Äußere Gestaltung ===
Das im Stil schlichten holländischen Bürgerhäusern nachempfundene Jagdschloss Stern ist ein eingeschossiges Gebäude mit Glockengiebel und Satteldach. Die auf einem rechteckigen Grundriss ruhenden Außenmauern sind aus rotem, unverputztem Backsteinmauerwerk. Auf Anordnung Friedrich Wilhelms I. wurden Ziegel mit einer einheitlichen Größe von circa 27 × 13 × 8 Zentimetern verwendet. Die quadratischen Viertelsteine an den Ecken der Giebel und die Mauerung in einer speziellen Zopfform an der Hoffassade weisen auf eine holländische Mauerweise hin. Die fünf hohen Schiebefenster in der dreiachsigen Vorderfront, die Eingangstür und jeweils zwei Schiebefenster in den Seitenwänden sind mit Sprossen und schlichten Zargen ausgeführt, wie sie ab 1690 in den besseren Häusern zuerst in England und dann in Holland modern geworden waren.
Die drei Fenster im oberen Bereich, deren Oberkante eine Linie zum Dachboden bildet, täuschen eine Zweigeschossigkeit vor. Die kleiner gehaltenen Schiebefenster mit Fensterladen, jeweils zwei an den Seitenwänden und fünf an der Rückseite, erhellen die Nebenräume. Eine Holztür in der Südwestwand und auf der Rückseite des Hauses sind Nebeneingänge, die in den Flur und das Adjutantenzimmer führen. Der einzige Bauschmuck ist ein Blindfenster mit Sternornament im Glockengiebel und ein Relief über der in der Mitte liegenden Fenstertür, das den Kopf der römischen Göttin Diana mit Jagdausrüstung zeigt. Die Schmuckelemente aus hellem Sandstein wurden nachträglich im 19. Jahrhundert angebracht.
=== Innenraumgestaltung ===
Wie die schlichte Außenarchitektur ist auch die Gestaltung des Innengebäudes im Sinne Friedrich Wilhelms I. bewusst puristisch gehalten, entsprechend der schlichten, bürgerlichen Wohnkultur der Holländer, die seiner Vorstellung von Übersichtlichkeit und Sauberkeit entsprach. Zum bescheidenen Raumprogramm gehören ein Saal, an den sich ein Flur und die Küche anschließen, sowie darauffolgend ein Adjutantenzimmer und ein Schlafraum.
Die gesamte Breite der Vorderfront und fast die Hälfte des Hauses nimmt der Saal ein. Er ist der größte Raum des Gebäudes und diente dem geselligen Beisammensein nach der Jagd. Die kuppelartige, in Felderungen gegliederte Decke ragt bis in den Dachbodenbereich hinein. Die Wände sind mit einer gelblichbraunen Holztäfelung verkleidet und der Fußboden mit Dielenbrettern belegt. Über einem offenen Kamin aus dunkelrotem Marmor an der Ostwand, gegenüber der Eingangstür, konnte der Saal beheizt werden. Zu dem wenigen Raumschmuck gehört ein mit goldener Ornamentik umrahmter Spiegel und fünf in die Wandfläche eingelassene Gemälde, die Friedrich Wilhelm I. in verschiedenen Jagdszenen zeigen. Die Bildwerke stammen vermutlich von dem Maler Georg Lisiewski. Auf die Nutzung des Gebäudes hinweisend, hängen an den Fensterpfeilern Jagdtrophäen. Die fünf aus Holz geschnitzten, vergoldeten Hirschköpfe mit echtem Geweih sind Abwurfstangen des Lieblingshirsches Friedrich Wilhelms I., genannt der große Hans, aus den Jahren 1732 bis 1736. Von der ursprünglichen, nicht mehr erhaltenen Möblierung ist nur wenig bekannt. In einer Inventarliste aus dem Jahr 1826 sind einige Stücke aufgeführt, die zur ersten Ausstattung des Saales gehört haben könnten: „Ein langer, mit Oelfarbe gestrichener Tafeltisch von Kiefernholz; vier kleine grün gestrichene viereckige Tische; drei dergleichen dreieckige Ecktische; eine alte, ganz unbrauchbare Sitzbank.“Neben dem Kamin führt eine Tür in den Flur, der den Saal mit den Räumen in der hinteren Haushälfte verbindet. Die Wände sind weiß getüncht und der Fußboden wie in der Küche und dem Adjutantenzimmer mit rötlichbraunen, marmorähnlichen Kalksteinplatten ausgelegt, die im 18. Jahrhundert auch unter der Bezeichnung Schneidesteine oder Gothlandsteine bekannt waren und häufig als Schiffsballast verwendet wurden. Die manganfarbenen Fliesen der Scheuerleiste sind in den Räumen mit Korn- und Schachbrettblumen sowie stilisiertem Blattwerk ornamental verziert und stammen aus der Rotterdamer Manufaktur der ehemaligen Gilde der Fliesenbrenner. Neben den Zugängen zur Küche und dem Adjutantenzimmer führt eine weitere Tür in der Südwestwand aus dem Gebäude hinaus.
Die Küche auf der Nordostseite diente vor allem zum Wärmen und Anrichten der Speisen, die wohl im Kastellanhaus zubereitet wurden. Die Wände sind vom Boden bis zur Decke weiß gefliest, ebenso der Rauchfang über dem mit Ziegeln gemauerten Herd. Zur originalen Ausstattung gehören ein niedriger Einbauschrank mit Marmorplatte unter den Fenstern, auf dem die Speisen angerichtet werden konnten und ein daneben stehender Marmorspülstein mit Abfluss. Die Wasserpumpe mit Messingblase ist nicht mehr erhalten. In der Inventarliste von 1826 sind für die Küche weitere Stücke vermerkt: „Ein blau angestrichener Schab [Geschirrschrank]; […] sechs Schüsseln, drei Leuchter, zwei Salzfässchen von Fayence, noch aus kurfürstlicher Zeit herstammend, sämtlich beschädigt; eine Kanne; zwei Krüge von chinesischem Porzellan mit silbernen und vergoldeten Deckeln; ein beschädigter gläserner Pokal mit Vergoldung“.Im Zimmer auf der Südostseite des Hauses war der Adjutant untergebracht. Zudem war es der Vorraum und die einzige Möglichkeit, in das angrenzende Schlafzimmer des Königs zu gelangen. Durch eine Tür konnte das Gebäude auch von hier betreten oder verlassen werden. Im weiß getünchten Schlafzimmer dominiert eine grün gestrichene Einbauwand mit weiß umrahmter Felderung. In der Mitte ist ein Alkoven eingelassen. Hinter den verdeckten Türen beiderseits der Bettnische führt eine Treppe auf der rechten Seite zum Dachboden und auf der Linken in den Keller. Der Raum konnte durch einen schlichten, mit roten Ziegeln gemauerten Kamin beheizt werden. Wie im Saal ist der Fußboden mit Dielenbrettern ausgelegt.
== Literatur ==
Literatur von und über Jagdschloss Stern im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Theo M. Elsing: Das Holländische Viertel in Potsdam. Potsdam o. J.
Jan Feustel: Jagdschloß Stern in Potsdam. In: Die Mark Brandenburg. Auf Pirsch in der Mark. Jagd und Jagdschlösser. Heft 58, Marika Großer, Berlin 2005, ISBN 978-3-910134-27-0, S. 14–21
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Teil III, Havelland. 1. Auflage 1873, Nymphenburger, München-Frankfurt/M.-Berlin 1971, ISBN 3-485-00293-3
Julius Haeckel: Neues vom Jagdschloss Stern. Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams, Band V, Heft 7, Potsdam 1912, S. 1–9
Peter Hutter: Die Jagdschlösser der Hohenzollern in der Mark Brandenburg. Staatliche Schlösser und Gärten Berlin (Hrsg.): 450 Jahre Jagdschloß Grunewald 1542–1992, Teil I. (Aufsätze). Berlin 1992, S. 125–141
Hans Pappenheim: Jagdgärten mit Sternschneisen im 18. Jahrhundert. Brandenburgische Jahrbücher, Nr. 14/15 (Die alten Gärten und ländlichen Parke in der Mark Brandenburg), Potsdam/Berlin 1939, S. 20–32
Adelheid Schendel: Jagdschloss Stern, Parforceheide. Edition Hentrich, Berlin 2004, ISBN 3-89468-277-9
== Weblinks ==
Eintrag zur Denkmalobjektnummer 09156058 in der Denkmaldatenbank des Landes Brandenburg
Förderverein Jagdschloss Stern-Parforceheide e.V.
Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Jagdschloss_Stern
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Jerusalem
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= Jerusalem =
Jerusalem (hebräisch Jeruschalajim [jeʁuʃa’lajim]; arabisch أورشليم القدس, DMG Ūršalīm al-Quds ‚Jerusalem das Heiligtum‘, bekannter unter der Kurzform , DMG al-Quds ‚das Heiligtum‘; altgriechisch Ἱεροσόλυμα Hierosólyma [n. pl.], oder Ἰερουσαλήμ Ierousalḗm [f., indecl.]; lateinisch Hierosolyma [n. pl. oder f. sg.], Hierosolymae [f. pl.], Hierusalem oder Jerusalem [n., indecl.]) ist eine Stadt in den judäischen Bergen zwischen Mittelmeer und Totem Meer mit rund 925.000 Einwohnern.In Jerusalem begegnen sich viele Kulturen der Antike und Moderne. Die Altstadt ist in das jüdische, christliche, armenische und muslimische Viertel gegliedert und von einer aus osmanischer Zeit stammenden Befestigungsmauer umgeben.
Der politische Status der Stadt ist international umstritten und Teil des Nahostkonflikts. Jerusalem wurde 1980 von Israel, das das gesamte Stadtgebiet kontrolliert, durch das Jerusalemgesetz zu seiner vereinigten und unteilbaren Hauptstadt erklärt, aber als solche nur von den USA, Guatemala, Honduras und Nauru anerkannt. In Jerusalem befinden sich der Sitz des Staatspräsidenten, die Knesset und das Oberste Gericht als Teil des politischen Systems Israels, die 1918 gegründete Hebräische Universität sowie die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem und der Israel National Cemetery am Herzlberg. Bis zum Sechstagekrieg (1967) befand sich nur Westjerusalem unter israelischer Herrschaft; Ostjerusalem, das bedeutende religiöse Stätten des Judentums, des Christentums und des Islams beherbergt, wird von gemäßigten Palästinenser-Organisationen als Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates beansprucht, während radikale Palästinenser-Organisationen die gesamte Stadt als Hauptstadt fordern.
== Name ==
Die Stadt trug historisch verschiedene Namen. In ägyptischen Ächtungstexten aus dem 19. und 18. Jahrhundert v. Chr. erscheint erstmals die Buchstabenfolge Ꜣw-šꜢ-m-m als Name dieser Stadt. Sie wurde vermutlich (j oder u)ruschalimum ausgesprochen. In den Amarna-Briefen aus dem 14. Jahrhundert v. Chr. ist ú-ru-sa-lim belegt, in den assyrischen Annalen des Sanherib, der die Stadt im 8. Jahrhundert v. Chr. belagerte, ur-sa-li-im-mu. Die im Hebräischen und Aramäischen gebräuchlichste und auch älteste Form ist yrwšlm, jeruschalem, daneben ist eine Kurzform yršlm und noch kürzer šlm, schalem belegt.
Die Bedeutung des Namens ist wahrscheinlich „Gründung (yru) des [Gottes] Schalim“ oder eventuell „Palast/Stadt (ūru) des Schalim“. Schalim war die kanaanitische Gottheit der Abenddämmerung, möglicherweise der Patron der Stadt. Die von den Rabbinen gegebene, nach wie vor populäre Deutung des Namens als „Stadt des Friedens (šalom)“ ist eine Volksetymologie. Danach soll die Kurzform des Stadtnamens Salem (שלם šhālêm) (Gen 14,18 ) mit dem hebräischen Wort Schalom (שלום = „Frieden, Heil“) verwandt sein. Der heute übliche hebräische Name Jeruschalajim ist eine feierliche Dualform und kam erst in der Zeit des zweiten Tempels auf. Diese Form wurde später von den Masoreten nachträglich als biblische Lesart festgelegt.Poetische und religiöse Titel wie der biblische Name Zion oder Heilige Stadt bezeichnen Jerusalem als Stadt des einen, einzigen Gottes, den Juden, Christen sowie Muslime verehren.
== Geschichte ==
=== Frühzeit ===
Die ältesten bisher nachgewiesenen Spuren menschlicher Besiedlung des heutigen Stadtgebiets sind keramische Ausgrabungsfunde der Kupfersteinzeit (um 4500–3150 v. Chr.) in Felstaschen des Südosthügels. Aus der Frühbronzezeit I-II (3150–2650 v. Chr.) ist eine Höhle mit Bestattungen oberhalb der Gihonquelle bekannt sowie zwei Breitraumhäuser am östlichen Abhang des Südosthügels. Dann folgt anscheinend eine Besiedlungslücke von der Frühbronzezeit III bis zur Mittelbronzezeit I. In der Mittelbronzezeit IIA (2000–1750 v. Chr.) entstand auf dem Südosthügel die befestigte Stadtsiedlung Uruschalimum/Urusalim. Die Gihonquelle wurde mit einer Mauer umfasst und erhielt ein Becken; auch das Warren-Tunnel-System entstand in dieser Zeit.Die Amarna-Briefe aus der Zeit von Pharao Echnaton (Amenophis IV.) belegen, dass der Stadtgouverneur Abdi-Hepa von Urusalim in Konflikte mit Apiru und anderen Stadtgouverneuren verwickelt war.
Im Tanach, der hebräischen Bibel, finden sich Angaben zur Frühzeit der Stadt Jerusalem. Für sie fehlt oft eine außerbiblische Bestätigung, auch archäologischer Art, und sie entstanden in der heute überlieferten Form erst Jahrhunderte nach den beschriebenen Begebenheiten. Nach Ri 1,21 und Jos 15,63 gehörte die Stadt zur Zeit der Landnahme und der Richter (etwa 1400–1000 v. Chr.) den Jebusitern, in deren Nachbarschaft die Israeliten vom Stamm Benjamin und Juda siedelten. Der Ort hieß damals auch Jebus; die Israeliten bezeichneten ihn als Jebusiterstadt oder „Stadt der Fremden“ (Ri 19,10ff. ). Deren Könige bildeten nach Jos 10 und Jos 18,16 mit anderen Gegnern der Zwölf Stämme Israels Kriegskoalitionen. Nach Ri 1,8 eroberte und zerstörte der Stamm Juda die Stadt als Auftakt zur Eroberung Kanaans. Diese Angabe widerspricht Ri 1,21 , wonach die Benjaminiter die Jebusiter nicht vertrieben, sondern friedlich neben ihnen wohnen blieben, und 2 Sam 5,6ff. wonach erst König David Jerusalem von den Jebusitern eroberte. Ri 1,8 gilt daher als ahistorische, später vorangestellte redaktionelle Notiz.David eroberte Jerusalem laut 1 Sam 16ff. erst, nachdem er seinen Vorgänger König Saul entmachtet, die Nachbarvölker der Amalekiter und Philister besiegt hatte und dann auch von den daran unbeteiligten Stämmen der Israeliten als ihr König anerkannt worden war (2 Sam 5,1-5 ). Daraufhin soll er seinen Regierungssitz um 1000 v. Chr. von Hebron nach Jerusalem verlegt haben, das etwa in der Mitte zwischen Norden und Süden Israels lag und auf das bisher kein Stamm der Israeliten Besitzansprüche erhoben hatte. Er nannte die Stadt fortan die „Davidsstadt“. So machte er Jerusalem zur Hauptstadt seines Großreiches. Indem er die Bundeslade, die als beweglicher JHWH-Thron die früheren Feldzüge der Israeliten begleitet hatte, dorthin überführt haben soll, wurde die Stadt auch zum religiösen Mittelpunkt seines Reichs. Damals befand sich das Stadtzentrum südlich der heutigen Altstadt im Hinnomtal, der Platz des späteren Tempels auf einer Anhöhe nördlich der damaligen Stadt.
=== Zeit des ersten Tempels ===
Davids Sohn Salomo (um 969–930) erbaute laut 1 Kön 8 einen Palast und den ersten Tempel für JHWH, den David geplant hatte. Nach Salomos Tod (als Sterbejahr wird 926 v. Chr. angenommen) und der Spaltung des Königreichs in die Staaten Juda (Süden) und Israel (Norden) wurde Jerusalem die Hauptstadt des Südreiches Juda. Im Nordreich Israel wurde der Jerusalemer Tempelkult abgelehnt: Unter den Omriden war Israel mit dem Zentrum in Samaria wirtschaftlich und militärisch dem Südreich überlegen. Es ist anzunehmen, dass zu dieser Zeit der später in der Bibel behauptete Alleinstellungsanspruch Jerusalems als hervorragendes oder sogar einziges politisches und geistiges Zentrum der Israeliten noch nicht umgesetzt war.
Königin Atalja (845–840) soll den Baalskult im Tempel eingeführt haben. Unter König Ahas (741–725) wurden vielleicht auch assyrische Götter verehrt. Erst Hiskija (725–697) weihte laut dem biblischen Bericht den Tempel wieder JHWH, sicherte die Stadt durch Mauern und ihre Wasserversorgung durch den Hiskija-Tunnel. Man nimmt an, dass Flüchtlingsströme aus dem Nordreich Israel nach dessen Zerstörung durch die Neuassyrer (722/720) zu einem Aufblühen der Stadt Jerusalem und einer Stadterweiterung nach Westen führten. Joschija (638–609) führte eine Kultzentralisation in seinem Reich durch: Der Tempel von Jerusalem war fortan die einzig legitime Kultstätte des Gottes JHWH.Nebukadnezar II. eroberte Jerusalem erstmals 597, nochmals 586 v. Chr.; beim ersten Mal führte er die jüdische Oberschicht in Gefangenschaft (babylonisches Exil) und setzte Zedekia als Vasallenkönig ein. Nach dessen Bruch mit den Babyloniern ließ Nebukadnezar 586 v. Chr. Jerusalem und seinen Tempel zerstören und führte die Reste der Führungsschicht, darunter Zedekia, ins Exil.
=== Zeit des zweiten Tempels ===
Nach der Einnahme Babylons erlaubte der persische König Kyros II. mit dem Kyros-Edikt den dort exilierten Juden 538 v. Chr. die Heimkehr und den Wiederaufbau ihres Tempels, der mehrere Jahrzehnte dauerte. Jerusalem war Hauptort der persischen Provinz Jehud. „Baugeschichtlich lässt sich diese Epoche in Jerusalem nur sehr spärlich durch Mauerreste, eine Toranlage und Kleinfunde belegen.“ (Max Küchler)Unter der Oberherrschaft der Ptolemäer und später der Seleukiden war Jerusalem und Umgebung ein Tempelstaat, der vom jüdischen Hohenpriester regiert wurde. 169 v. Chr. eroberte Antiochos IV. Jerusalem und plünderte den Tempel. 168 eroberte General Apollonios wiederum die Stadt, schleifte die Mauern und errichtete zur Kontrolle der Einwohner eine Burg (Akra). Eine Ringschule und ein Ephebeion, nur literarisch bezeugt, stehen als Neubauten für die konfliktträchtige Hellenisierung der Oberschicht. Im Tempel wurde ein Kult des (mit JHWH identifizierten) Zeus Olympios eingeführt. Der römische Druck auf die Seleukiden ermöglichte für ihre Untertanen in Judäa einen erfolgreichen Freiheitskampf und die Konstituierung eines unabhängigen Staates mit der Hauptstadt Jerusalem. Unter Simon Makkabäus (143/2–135/4) wurde „das Joch der Heiden von Israel genommen“ (1 Makk 13,41 ). Die Akra, Symbol seleukidischer Kontrolle, fiel 141. Nach der Invasion Antiochos’ VII. musste Jerusalem kapitulieren, und die Mauerkronen wurden geschleift. Innersyrische Konflikte ermöglichten aber die Fortsetzung des Unabhängigkeitskampfes, so wurde nördlich des Tempels die Festung Baris gebaut. In der Regierungszeit des Alexander Jannäus, König und Hohenpriester in einer Person (103–76), erreichte der Hasmonäerstaat den Höhepunkt seiner Macht. Gleichzeitig mit der Expansion Roms in der Levante schwand auch die Macht der Hasmonäer. Im Jahr 63 v. Chr. eroberte Pompejus Jerusalem und besichtigte den Tempel, ohne ihn zu zerstören. Jerusalem sank danach ab zu einer tributpflichtigen Bezirkshauptstadt mit aristokratischer Regierung.
Das hasmonäische Jerusalem war durch eine Reihe von Bauprojekten gekennzeichnet:
Erweiterung des Tempelbezirks in südliche Richtung und Verbindung desselben durch eine Brücke mit der Oberstadt. In dieser Oberstadt baute die Priesteraristokratie luxuriöse Wohnhäuser;
Erweiterung des Stadtgebiets nach Westen und Erschließung des gesamten Südwesthügels („oberer Markt“) infolge der Bevölkerungszunahme;
Bau der Stadtmauer (1. und 2. Mauer, letztere auf der Linie der Straße Suq Chan ez-Zeit);
im Kidrontal entstehen die ersten Grabanlagen der Aristokratenfamilien Jerusalems.Unter der Regierung des Herodes, der als römischer Klientelkönig 30 v. Chr. bis 4 v. Chr. über Judäa herrschte, wurde Jerusalem zur jüdischen Metropole und zugleich zur hellenistisch-römischen Königsstadt ausgebaut. Von seinen Großbauten war der Herodianische Tempel das ambitionierteste Projekt. Die große Tempelplattform, die zugleich als Forum genutzt werden konnte, dominierte das Stadtbild und war durch monumentale Treppen und Brücken mit den Wohngebieten im Süden und im Westen verbunden. „Dem dominanten religiösen Zentrum im Osten der Stadt entsprach im Westen der königliche Palast mit seiner Dreiturmfestung und dem prächtigen Mausoleum auf der Westseite des Hinnomtals.“ Diese Metropole und ihr Tempel wurde im Jahre 70 n. Chr. am Ende des Jüdischen Krieges durch Titus zerstört, die jüdische Bevölkerung getötet, versklavt oder vertrieben.
=== Unter Rom und Byzanz ===
Auf dem Gelände der im Jahr 70 zerstörten Stadt Jerusalem existierte ein Militärlager der Legio X Fretensis und wahrscheinlich auch eine kleine Zivilsiedlung (Handwerker, Händler, Wirte).Hadrian besuchte den Ort im Jahr 130 im Rahmen einer Reise durch die Ostprovinzen des Reichs und gründete auf dem Gelände Jerusalems eine römische Kolonie, die er (Colonia) Aelia Capitolina benannte, wobei Aelius Hadrians Mittelname war und sich Capitolina auf den römischen Kapitolhügel bezog, das Zentrum der Verehrung des römischen Hauptgottes Jupiter. Diese Namengebung zeigt die enge Verbindung von Herrscherkult und Jupiter- bzw. Zeuskult, wie sie für die Regierungszeit Hadrians typisch war. De facto waren die Bauarbeiten schon im Gange, als Hadrian diesen Gründungsakt vollzog. An sich war die Koloniegründung eine wohlwollende Geste (die Einwohner erhielten das römische Bürgerrecht und damit verbundene Vorteile) und wurde möglicherweise von einem assimilierten Segment der Bevölkerung begrüßt. Für große Teile der jüdischen Bevölkerung war der Bau einer paganen Stadt mit dazugehörigen Tempeln und öffentlichen Gebäuden an der Stelle Jerusalems aber völlig unakzeptabel; dies war Anlass für den Bar-Kochba-Aufstand. Der Aufstand eskalierte aus dem innerjüdischen Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern der Assimilation.Zwar konnten die Aufständischen Aelia Capitolina zu keinem Zeitpunkt kontrollieren, aber das Umland der Stadt war Kerngebiet des Aufstands. Die römische Kriegführung verwüstete dieses Gebiet so stark, dass es sich erst in der Spätantike erholte, und dies beeinträchtigte die Entwicklung der Stadt, die insofern hinter Hadrians Erwartungen zurückblieb. Antike christliche Autoren bezeugen, dass Hadrian Juden unter Androhung der Todesstrafe den Zutritt zur Stadt verboten habe. Obwohl ein solches Verbot weder von Cassius Dio, der wichtigsten Quelle für den Bar-Kochba-Aufstand, noch von der rabbinischen Literatur erwähnt wird, gilt es als historisch wahrscheinlich. Aelia Capitolina besaß keine Stadtmauern; die Zugänge wurden aber durch Tore architektonisch hervorgehoben (der Ecce-Homo-Bogen gehört zu einer dieser Toranlagen). Das wirtschaftliche Zentrum Aelias befand sich im heutigen christlichen Viertel, und hier waren auch die Hauptheiligtümer, darunter der Jupitertempel. Der zerstörte Herodianische Tempel blieb dagegen als Ruinengelände außerhalb der Stadt. Möglicherweise sollte er bei einer künftigen Stadterweiterung einbezogen werden, zu der es dann aber durch die Nachwirkungen des Bar-Kochba-Aufstands nicht kam. Eigentliche Regierungsgebäude fehlten, da die Provinzhauptstadt nicht hier, sondern in Caesarea Maritima war. Die Hauptachsen von Aelia Capitolina sind bis heute im Straßennetz der Altstadt von Jerusalem erkennbar.Unter Kaiser Konstantin und seinen Nachfolgern wurde Jerusalem zur christlichen Stadt umgebaut. Die Veränderung des Stadtbilds erfolgte in mehreren Schüben und im Zusammenhang mit dogmatischen Entwicklungen:
Nach dem Ersten Konzil von Nicäa (325) wurde die Anastasis („Grabeskirche“) am Ort der Auferstehung Jesu Christi gebaut und die Eleona-Kirche auf dem Ölberg am Ort seiner Himmelfahrt;
Nach dem Ersten Konzil von Konstantinopel (381) wurde der Südwesthügel mit christlichen Erinnerungsorten ausgestattet (unter anderem die Kirche Hagia Sion als „Mutter aller Kirchen“);
Im Zusammenhang mit den Konzilien von Ephesus (431) und von Chalzedon (451) entstanden heilige Stätten im Kidrontal und am Ölberg, die dem Marienleben oder der Passion Christi gewidmet waren.Jerusalem nahm einen wirtschaftlichen Aufschwung durch die Pilgerströme. Da die Legio X Fretensis mittlerweile nach Eilat/Aqaba verlegt worden war, stand der Südteil der Stadt für eine Neubebauung zur Verfügung. Die Madaba-Karte (6. Jahrhundert, siehe Foto) gibt ein detailreiches Bild des byzantinischen Jerusalem: Links erkennt man das Stefanustor (heute Damaskustor) und stadtseitig dahinter einen Platz mit einer Säule, von dem zwei mit Säulengängen gesäumte Straßen abgehen. Die zentrale Straße, die die Stadt in zwei Hälften teilt, ist der Cardo maximus (heute Suq Chan ez-Zeit, in der Verlängerung Suq al-Aṭṭarin), in der Mitte steht die Anastasis (Grabeskirche). Oben verläuft der Cardo secundus (heute Tariq al-Wad), von dem der Decumanus abzweigt, der zum Osttor (heute Löwentor) führt.
=== Unter den Sassaniden ===
Der Sassaniden-Herrscher Chosrau II. drang um 613 während des Römisch-Persischen Kriegs (602–628) nach Palästina vor. Die palästinischen Juden begrüßten die Sassaniden als Befreier und vollzogen einen Aufstand gegen Byzanz. Im Juli 614 eroberten die Sassaniden Jerusalem (Zerstörung der Grabeskirche, der Kirche Hagia Sion, der Nea-Maria-Kirche und der Himmelfahrtsrotunde auf dem Ölberg) und übertrugen bis 617 die Verwaltung Jerusalems an die jüdische Bevölkerung, danach aber wieder an die christliche. Die genauen Vorgänge sind aufgrund schwieriger Quellenlage nicht rekonstruierbar, auffällig ist religiöser Hass zwischen beiden Bevölkerungsgruppen, vorbereitet wohl durch christliche antijüdische Gesetzgebung. Einziger Anhaltspunkt ist ein christliches Massengrab am Mamillateich. Nach Antiochos Strategios wurde die christliche Bevölkerung, so weit sie die Einnahme der Stadt überlebt hatte, selektiert: die jungen Leute und Handwerker wurden nach Persien deportiert, der Rest in den Mamillateichen umgebracht; eine byzantinische Kapelle erinnerte später an diese Toten. Unter den Verschleppten war auch Zacharias, der Patriarch von Jerusalem. Möglicherweise standen die Unruhen im Zusammenhang mit der Ermordung des jüdischen Milizenführers und Messiasanwärters Nehemia ben Huschiel, unter dem es nach der persischen Eroberung zu Plänen für einen Tempelneubau, eventuell sogar zur Wiederherstellung des Opferkultes gekommen sein könnte. Jedenfalls gestatteten die Sassaniden den Juden anfangs wieder, sich in Judäa und Jerusalem anzusiedeln. 617/18 verboten die Sassaniden den Juden jedoch wieder das Betreten Jerusalems, möglicherweise wegen anhaltender Probleme mit aufrührerischen Gruppen oder infolge einer strategischen Umorientierung der sassanidischen Eroberungspolitik, die wieder eine stärkere Anlehnung an Byzanz suchte.629 fiel Jerusalem nach dem Sieg des oströmischen Kaisers Herakleios an Byzanz zurück. Dabei kam es trotz kaiserlicher Versprechen zu neuen Massakern, diesmal von Griechen an Juden. Infolge der Renovierungen durch persische und byzantinische Auftraggeber waren die Zerstörungen von 614 behoben, als das Heer des Kalifen Omar Jerusalem einnahm.
=== Unter den Umayyaden ===
Im Zuge der Islamischen Eroberung der Levante gelangten Armeen des wenige Jahre zuvor begründeten Islams nach Palästina. Im Jahre 637 belagerte eine arabische Armee unter dem General Abū ʿUbaida ibn al-Dscharrāh im Auftrag des Kalifen Umar die Stadt und konnte sie nach sechs Monaten durch die Kapitulation der byzantinischen Verteidiger einnehmen. Dem Patriarchen von Jerusalem Sophronius (560–638) war zugesichert worden, dass die christliche Bevölkerung der Stadt diese verlassen durfte, auch wenn dies tatsächlich nur wenige taten. Jerusalem wurde von islamischen Gouverneuren und christlichen Patriarchen verwaltet; der jüdischen Bevölkerung wurde die Rückkehr in die Stadt ermöglicht. Sie erbaute ein bis 1099 bestehendes eigenes Viertel im Umkreis der Westmauer des Tempelbergs. Die Zäsur im Stadtbild ist jedoch nicht das Jahr der islamischen Eroberung, sondern das schwere Erdbeben von 748/749.Im ersten Jahrhundert der islamischen Herrschaft wurde Jerusalem von der Dynastie der Umayyaden kontrolliert, die seit 639 die islamischen Statthalter Syriens stellte und in den Wirren nach dem Tod des ersten umayyadischen Kalifen Uthman mit dem 660 in Damaskus proklamierten Kalifen Muawiya das erbliche Kalifat begründete. Muawiya verlegte die Kalifenresidenz in die syrische Hauptstadt Damaskus. Unter seinen Nachfolgern aus der umayyadischen Seitenlinie der Marwaniden verlagerte sich der Schwerpunkt des Umayyadenreiches um 680 endgültig nach Syrien und Palästina.
Jerusalem wurde zu einer islamischen Stadt umgestaltet: Erstmals nach der Zerstörung des Jahres 70 wurden die Mauern des Tempelareals instand gesetzt und die herodianische Tempelplattform für den Islam beansprucht. In einer ersten Phase nahm die islamische Bebauung jüdisch-christliche „Traditionen des Salomonischen Tempels, vom Grundstein der Welt (ʾeven schetijah), vom paradiesischen Ort der Fruchtbarkeit und der göttlichen Gegenwart (schechinah)“ auf, die aber schon im ersten Jahrhundert nach der Vollendung des Felsendoms (um 692) durch eine genuin islamische Tradition in den Hintergrund gestellt wurde: die knappe Anspielung in Sure 17,1 von einer nächtlichen Reise des Propheten Mohammed von der „heiligen Moschee“ in Mekka zu einer „fernen Moschee“ und die in Sure 17,1 angedeutete Himmelsschau (miʿradsch) des Propheten bestimmten fortan die muslimische Rezeption des Tempelbergs. Es gibt auch Anhaltspunkte dafür, dass in der Zeit al-Maliks islamische Riten an dem Felsen vollzogen wurden, die ansonsten nur an der Kaaba in Mekka stattfinden. Abd al-Malik schuf damit in Jerusalem ein religiöses Gegengewicht zum mekkanischen Kalifat unter ʿAbdallāh ibn az-Zubair, mit dem er sich im Bürgerkrieg befand.
=== Unter den Abbasiden ===
Im Jahr 750 kam es zum Sturz der Umayyaden, die von den als religiös asketischer geltenden Abbasiden verdrängt wurden. Der einzige den Sturz seines Hauses überlebende Umayyadenprinz Abd ar-Rahman flüchtete über Jerusalem nach Nordafrika und errichtete 755 in Al-Andalus das unabhängige Emirat von Córdoba. In den folgenden zwei Jahrhunderten wurde Jerusalem von abbasidischen Statthaltern regiert. In dieser Zeit wechselten Phasen mit explizit christen- bzw. judenfeindlicher Politik mit Phasen der Toleranz gegenüber jüdischen und christlichen Bewohnern und Pilgern. Im Rahmen des über jüdische Fernhändler vermittelten Gesandtenaustauschs der Karolinger mit den Abbasiden und mit den Patriarchen von Jerusalem wurde Karl der Große zu Beginn des 9. Jahrhunderts nach dem Zeugnis fränkischer Chronisten vom muslimischen Herrscher Harun ar-Raschid als formeller Beschützer der christlichen heiligen Stätten anerkannt, was als ein Affront gegenüber Byzanz zu werten ist. In den letzten Lebensjahren Harun ar-Raschids lebten mindestens 406 Mönche und Nonnen in Jerusalem, darunter knapp 60 aus dem Westen Europas, der Rest aus Byzanz.Kalif al-Ma’mūn besuchte Syrien 831. Er stiftete zwei neue Tore für den Tempelberg, ließ aber auch das Gold von der Kuppel des Felsendoms entfernen, die danach bis in die 1960er Jahre bleigrau blieb. Auf einer Kupfermünze aus der Zeit seines Kalifats (813–833) befindet sich die Inschrift al-fils bi’l-Quds (Münze vom Heiligtum), wobei mit al-Quds (Heiligtum) der Felsendom bezeichnet wurde. Daraus leitet sich der arabische Name al-Quds für Jerusalem ab, der hier erstmals bezeugt ist. Die islamische Münzprägung in Jerusalem bricht danach ab, und erst in der Kreuzfahrerzeit wurden in Jerusalem wieder Münzen geprägt.Der weitere Verlauf des 9. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch einen Verfall der abbassidischen Kontrolle über Palästina und damit auch Jerusalem. In den Jahren 841–842 rebellierten die Bauern und Beduinen Palästinas gegen die Regierung in Bagdad; dies muss auch Jerusalem betroffen haben, doch ist mangels Quellen darüber nichts Genaueres bekannt. Im Jahr 848 gliederte Ahmad ibn Tulun Palästina seinem ägyptischen Herrschaftsgebiet an. Angefangen mit der Schlacht am Yarkon 885, wurde Palästina zum Schlachtfeld zwischen abbassidischen und ägyptischen Armeen. Die Kalifen jener Zeit, besonders al-Muktafi und al-Muqtadir, zeigten besonderes Interesse an Jerusalem, was durch ihre Bauinschriften dokumentiert wird. Das Byzantinische Reich versuchte in der Mitte des 10. Jahrhunderts, die Schwäche der Abbassiden für sich zu nutzen und mit Unterstützung der christlichen Bevölkerung Jerusalems sowie verschiedener Beduinenstämme, besonders der Ṭayʾ, Palästina wieder unter seine Herrschaft zu bringen. Am Vorabend der fatimidischen Eroberung wurde Jerusalem von den Gouverneuren der ägyptischen Ichschididen regiert; 966 unterstützte der Gouverneur (trotz des Verbots der Zentralregierung) Christenverfolgungen in der Stadt; dabei wurden unter anderem die Grabeskirche und die Kirche auf dem Zion geplündert und niedergebrannt. Daran sollen sich auch jüdische Einwohner beteiligt haben.
=== Unter den Fatimiden ===
Im Folgejahr 967 brachten die Qarmaten Palästina unter ihre Herrschaft und lieferten sich, verbündet mit den Arabern, Kämpfe mit den Fatimiden. Unterdessen hatte die byzantinische Armee 969 Aleppo unter ihre Kontrolle gebracht und stieß unter den Feldherren, späteren Kaisern Nikephoros Phokas und Johannes Tzimiskes weiter nach Süden vor, offenbar mit dem Ziel Jerusalem. Die Byzantiner verbündeten sich mit den Qarmaten und lokalen arabischen und beduinischen Akteuren; diese Allianz stand den Fatimiden gegenüber, als diese von Ägypten aus Palästina unter ihre Kontrolle brachte. Die Jahre von 973 bis 978 waren durch schwere Kämpfe gekennzeichnet, wobei die Byzantiner Judenverfolgungen in Jerusalem durch ihre Verbündeten organisierten, offenbar im Vorgriff darauf, Jerusalem wieder in eine christlich dominierte Stadt umzuwandeln. Während die Fatimiden von der Bevölkerung in Palästina anscheinend vehement abgelehnt wurden, war das in Jerusalem anders; hier hatten sie die Unterstützung der jüdischen, aber auch der muslimischen Einwohner. Vor Beginn der fatimidischen Zeit war die südliche Stadtmauer auf den jetzigen Verlauf zurückgenommen worden, der Südwesthügel lag nun also außerhalb der Stadt. Einerseits unterstützten die Fatimiden die Einrichtung einer jüdischen Hochschule (Jeschiwa) in Jerusalem, das dadurch erstmals seit dem Jahr 70 wieder zum Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit wurde. Andererseits wurde 973 eine diskriminierende Kleiderordnung eingeführt, wonach Juden als Kennzeichen (ġiyār) einen Gürtel (zunnār) tragen mussten; nachdem diese Auflage zwischenzeitlich nicht mehr beachtet wurde, erneuerte sie der Kalif al-Hakim.Die Fatimiden festigten ihre Herrschaft sukzessive; erst 983 gelang ihnen der entscheidende Sieg über die Ṭayʾ-Beduinen, und eine byzantinische Delegation erreichte in Ägypten, dass die 966 beschädigte Grabeskirche instand gesetzt wurde. Ein zehnjähriger Frieden zwischen Byzanz und dem Fatimidenreich wurde geschlossen und nach seinem Auslaufen 998 um ein weiteres Jahrzehnt verlängert. Im Jahr 999 bestieg al-Hakim den Thron, und ungeachtet des Vertrages (hudna) nahmen die Spannungen mit den Byzantinern zu. Die Gründe sind unklar, möglicherweise unterstützte Byzanz Aufständische in Ägypten und Palästina. Außerdem gab es in Ägypten unter den Muslimen Unwillen dagegen, dass Juden und Christen Verwaltungsämter innehatten. All das führte ab 1003 zu Christenverfolgungen, die in der Zerstörung der Grabeskirche am 28. September 1009 (oder 1008) gipfelten. Der Jerusalemer Patriarch war zu jener Zeit Orestes, der Onkel al-Hakims (Bruder seiner Mutter, die Christin war). Orestes hatte seinem Amt im Zuge der Verträge zwischen Byzanz und Kairo stetig mehr politisches Gewicht geben können. Jedes Jahr kamen christliche Pilgerströme nach Jerusalem, um die Osterfeierlichkeiten mitzuerleben. In Reaktion auf die Zerstörung der Grabeskirche kam es zu zwei Aufständen gegen al-Hakim seitens der mit den Christen Jerusalems verbündeten Beduinenstämme, 1011 bis 1014 und 1024 bis 1029. Mufarrij, Emir der Ṭayʾ-Beduinen und zeitweise de-facto-Herrscher in Palästina, setzte Theophilos als Patriarchen von Jerusalem ein (1012) und sagte ihm den Wiederaufbau der Grabeskirche zu. Dass byzantinische Diplomatie im Hintergrund beteiligt war, ist offensichtlich. Um der Ermordung durch die Ṭayʾ zu entgehen, ließen sich einige Jerusalemer Juden von Theophilos taufen. Nach dem Tod al-Hakims (1021) kam es zum zweiten Aufstand der Beduinen unter Mufarrijs Sohn und Nachfolger Ḥassān. Dieser forderte vom Kalifen, als Herrscher über Jerusalem und Nabūlus eingesetzt zu werden, und verfügte über Beziehungen zum fatimidischen Hof. Die fatimidische Armee traf 1025 in Palästina ein, der entscheidende Sieg gelang ihr aber erst 1029. Die Juden in Jerusalem, eindeutige Parteigänger der Fatimiden, waren in den Jahren des Aufstands von den mit den Christen verbündeten Aufständischen praktisch ausgeplündert worden und völlig verarmt.Nach der Niederlage der Beduinen kehrte in Jerusalem Ruhe ein. Die Quellen berichten nicht viel, außer über ein schweres Erdbeben 1033, das Bauschäden verursachte. Die fatimidischen Kalifen ließen den Felsendom restaurieren, während die jüdische Gemeinde Schäden an der Tempelmauer (Westmauer) und an ihrer Synagoge behob. Im 11. Jahrhundert nahm die Präsenz der lateinischen Kirche in Palästina und Ägypten zu. Durch ihre Handelskontakte und guten Beziehungen an den fatimidischen Hof gelang es den Amalfitanern, christliche Bauten in Jerusalem wiederherzustellen oder neu zu gründen (im Muristan: Johanneshospital, Santa Maria Latina). Nach dem Chronisten Wilhelm von Tyrus beschloss Kalif al-Mustanṣir, die Stadtmauern und Türme von Jerusalem instand setzen zu lassen; die Kosten wurden der verarmten Bevölkerung auferlegt. Kaiser Konstantin IX. erklärte sich bereit, die Kosten für die christlichen Jerusalemer zu übernehmen, unter der Bedingung, dass ein ummauertes christliches Viertel geschaffen würde, in dem ausschließlich Christen lebten. Der Kalif gab sein Einverständnis. Die Arbeiten wurden 1063 abgeschlossen.
=== Unter den Seldschuken ===
1073 übergab der fatimidische Gouverneur Jerusalem kampflos in die Hand sunnitischer Turkmenen, geführt von Emir Atsiz ibn Uwak von Damaskus. Diese konnten sich aber nur drei Jahre halten, dann erhob sich die Bevölkerung der Stadt, als Atsiz mit Kämpfen gegen fatimidische Truppen beschäftigt war, und nahm die Familien der Turkmenen als Geiseln. Atsiz versprach den Jerusalemern bei seiner Rückkehr „Frieden und Sicherheit“ (aman), hielt sich aber nicht daran: an die 3000 Bürger wurden getötet, darunter der Qādī und andere Angehörige der Oberschicht. Im August 1098 stießen die Fatimiden unter dem Kommando des Wesirs al-Afdal erneut gegen Jerusalem vor und eroberten die Stadt mithilfe moderner Kriegsmaschinen nach über 40-tägiger Belagerung zurück, wobei die Stadtmauer Schaden nahm.
=== Kreuzzüge und Mamlukenzeit ===
Nur wenige Monate später standen die Kreuzritter vor Jerusalem und begannen ihrerseits mit der Belagerung der Stadt. Da sie nicht über schweres Kriegsgerät und Belagerungstürme, ja nicht einmal über genügend Pferde verfügten und der fatimidische Kommandant Iftikhar ad-Daula die Stadtmauer nach den Schäden des Vorjahres gerade erst ausgebessert und erneuert hatte, schien ihre Lage zunächst wenig aussichtsreich. Auch waren kampffähige orientalische Christen im Vorfeld von den fatimidischen Militärführern der Stadt verwiesen worden, weil man befürchtete, sie könnten mit den Kreuzfahrern sympathisieren.
Nachdem es dem Kreuzfahrerheer jedoch gelungen war, sich mit frisch angeliefertem Holz drei Belagerungstürme zu bauen, eroberten die Kreuzritter am 15. Juli 1099 unter Gottfried von Bouillon und Raimund von Toulouse die „heilige Stadt“ Jerusalem. Nachdem die Kreuzfahrer die äußeren Mauern überwunden hatten und in die Stadt eingedrungen waren, wurden nach neuesten Erkenntnissen ca. 3.000 Einwohner der Stadt getötet. Die in der Vergangenheit verwendeten Quellen zu den Folgen der Eroberung für die Einwohner Jerusalems, die von wesentlich höheren Opferzahlen ausgingen, werden in der neueren Forschung in Zweifel gezogen. Einerseits bauen die meisten christlichen Quellen auf der Gesta Francorum auf, die jedoch nicht als Augenzeugenbericht, sondern als ein mittelalterliches Epos im Stile des Rolandslieds zu sehen ist. Andererseits wurden die ersten moslemischen Quellen (am bekanntesten ist Ibn al-Athīrs „Vollständige Geschichte“) erst ab den 1150er Jahren und damit Jahrzehnte nach der Eroberung Jerusalems verfasst. Daher ist auch die historische Glaubwürdigkeit der von blutrünstiger Brutalität strotzenden Darstellungen der Einnahme Jerusalems zweifelhaft. Vielfach ist die Übertreibung offensichtlich, etwa in der Beschreibung des Augenzeugen Raimund von Aguilers (der seinen Bericht auf der Gesta Francorum aufbaute):
Aus den Übertreibungen sowohl christlicher als auch moslemischer Quellen kann man schließen, dass im Mittelalter die Vorstellung von der Brutalität der Kreuzfahrer auf beiden Seiten des Konflikts ein Gegenstand von Manipulation und Übertreibung gewesen ist.Nach der Eroberung von Jerusalem gründeten die Kreuzritter das christliche Königreich Jerusalem und bauten eine Reichsverwaltung auf. Die kirchliche Hierarchie des Heiligen Landes lag mit der Neugründung des Patriarchats von Jerusalem in der Hand von lateinischen Bischöfen und wurde neu organisiert; allerdings blieb diese Struktur eine Parallelorganisation, an der nur die römisch-katholischen Christen teilhatten, während die einheimische christliche Bevölkerung ihre orientalischen und orthodoxen Kirchenorganisationen beibehielt. Sie war im Verwaltungsalltag oft benachteiligt. Zu dieser Zeit entstanden in Jerusalem außerdem die geistlichen Ritterorden, insbesondere die Johanniter (benannt nach dem Pilgerspital, in dem der Orden ursprünglich als Krankenpflegerbruderschaft begonnen hatte) und die Templer (benannt nach ihrem Hauptquartier in einem Flügel des in der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg untergebrachten ersten königlichen Palastes der Kreuzritter). Der Deutsche Orden fasste Fuß im Heiligen Land erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts.
Nach der vernichtenden Niederlage der christlichen Ritter in der Schlacht bei Hattin im Jahre 1187 gelang es Saladin (arabisch Salah ad-Din Yusuf ibn Ayub), der die Fatimiden gestürzt und als Sultan von Ägypten die Herrschaft der Dynastie der Ayyubiden in Ägypten, Palästina und Syrien begründet hatte, Jerusalem nach kurzer Belagerung zu erobern. Nach der Einnahme der Stadt ließ er das von den Kreuzfahrern errichtete goldene Kreuz auf der Kuppel des Felsendoms (der den Kreuzfahrern neben der Grabeskirche als Hauptkirche gedient hatte und von ihnen Templum Domini genannt wurde) und die Marmorverkleidung des Felsens samt Altar entfernen. Auch nach dem „Verlust“ Jerusalems (aus der Perspektive der Christenheit) blieb Jerusalem im europäischen Weltbild die „Mitte der Welt“. Dies zeigte sich auch im Kartenbild hoch- und spätmittelalterlicher Kartenbilder wie dem der Ebstorfer Weltkarte.
Im Verlauf des dritten Kreuzzuges plante der englische König Richard Löwenherz nach seinem Erfolg bei der Belagerung von Akkon (1189–1191) und der Wiederbesetzung der meisten Küstenstädte auch die Rückeroberung Jerusalems, führte den Feldzug aber wegen militärischer Aussichtslosigkeit nicht mehr aus. Hauptstadt des Königreiches Jerusalem war von nun an Akkon. Während des Kreuzzugs von Damiette in Ägypten ließ der ayyubidische Herrscher von Syrien al-Muʿazzam im Frühjahr 1219 die Stadtbefestigungen von Jerusalem bis auf den Davidsturm niederreißen und die umliegenden Burgen schleifen, weil man eine Übergabe an die Kreuzfahrer befürchtete und ihnen keine verteidigungsfähige Stadt überlassen wollte. Von da an bis zum Bau der neuzeitlichen Stadtmauer unter den Osmanen (1537–1540) blieb Jerusalem für ca. 300 Jahre unbefestigt.
Kurzzeitig gelangte Jerusalem noch einmal in den Besitz der Kreuzfahrer, als Kaiser Friedrich II. die Stadt 1229 gegen den Widerstand des mit ihm verfeindeten Papstes Gregor IX. durch Verhandlungen mit dem Ayyubidensultan al-Kamil ohne militärische Aktionen gewann und sich zum König von Jerusalem proklamierte, aber nur wenige Monate im Heiligen Land blieb. Er stützte seine Herrschaft vornehmlich auf den ihm ergebenen Deutschen Orden, während die anderen Ritterorden und der einheimische Kreuzritteradel in eine päpstliche und eine kaiserliche Partei gespalten waren. Nach seiner Rückkehr nach Italien stand Jerusalem bis zur unerwarteten Eroberung durch marodierende ägyptische Söldner im Jahre 1244 unter der Verwaltung wechselnder Kreuzfahrerbaillis.
Im August 1244 eroberten choresmische Söldner ohne ausdrücklichen Auftrag des ägyptischen Sultans as-Salih die nur schwach verteidigte Stadt und plünderten sie. Nach der Niederlage der Kreuzritter und ihrer syrischen Verbündeten in der Schlacht von La Forbie zwei Monate später war eine christliche Rückeroberung ausgeschlossen. 1260 wurde die Ayyubiden-Dynastie in Ägypten von dem Mamluken-General und anschließenden Sultan Baibars gestürzt, der in der Schlacht bei ʿAin Dschālūt erstmals die Mongolen besiegt und ihren Einfall nach Syrien und in den Nahen Osten zurückgeschlagen hatte und danach ganz Syrien und Palästina unter ägyptische Herrschaft brachte. 1291 vertrieb der Mamlukensultan Kalil nach der Eroberung von Akkon die letzten Kreuzritter aus Palästina. Jerusalem, das damals weniger als 10.000 Einwohner und keine politische Bedeutung hatte, blieb bis zur osmanischen Eroberung Anfang des 16. Jahrhunderts unter ägyptisch-mamlukischer Verwaltung.
Während es unter ayyubidischer und christlicher Verwaltung im 13. Jahrhundert für die Bewohner und besonders für das Pilgerwesen in der Praxis kaum einen Unterschied gemacht hatte, welcher Machthaber die Stadt besaß, galten unter mamlukischer Herrschaft nur Muslime als vollgültige Bürger. Christen und Juden mussten sich durch ihre Kleidung kenntlich machen. Sie durften ihre Religion als Anhänger einer Buch-Religion zwar ausüben, wurden aber rechtlich in fast allen Lebensbereichen diskriminiert und mussten eine Zusatzsteuer zahlen. Dennoch existierten im 14. und 15. Jahrhundert weiterhin ein christliches und ein jüdisches Viertel in der Stadt und der Strom christlicher Pilger riss keineswegs ab. Die ausführliche Schilderung einer spätmittelalterlichen Jerusalempilgerfahrt enthält der Reisebericht des Zürcher Dominikaners Felix Faber, der 1483 nach Jerusalem pilgerte und die Heiligen Stätten besichtigte.
=== Unter den Osmanen (1516–1917) ===
Im Jahre 1516 besiegte die Osmanische Armee unter der Führung Sultan Selim I. (1470–1520) die Mamluken in Syrien. In weiterer Folge wurde Ägypten und Arabien durch die Osmanen erobert. Jerusalem wurde zum Verwaltungssitz eines osmanischen Sandschaks (Regierungsbezirk). Die ersten Jahrzehnte der türkischen Herrschaft brachten Jerusalem einen deutlichen Aufschwung.
Nach 1535 ließ Sultan Süleyman I. (1496–1566) die Befestigungen der Stadt in zum Teil veränderter Linie erneut errichten, so wie sie gegenwärtig zu sehen sind. Durch diese Mauern erhielt die Altstadt ihre heutige Struktur. Die viel zu großen neuen Mauern um den heiligen Symbolort sollten die neue Herrschaft deutlich machen. Jerusalem gewann in der Folgezeit viel an Bedeutung. Die osmanische Verwaltung war sich uneinig in ihrer Haltung gegenüber den Juden sowie Christen und schwankte zwischen Gewaltherrschaft und Toleranz.
Die verarmten Juden und Christen lebten überwiegend vom Pilgergewerbe. Der Besitz der Heiligtümer Jerusalems war wegen der damit verbundenen Almosen eine lebenswichtige Einnahmequelle. Aus diesem Grund kam es damals teilweise zu erbitterten, manchmal gewaltsamen Konflikten unter den Kirchen um einzelne Besitzrechte. Europäische Staaten eröffneten Konsulate in Jerusalem, zuerst 1839 das Vereinigte Königreich seines, 1842 dann Preußen das seinige, im Jahr darauf dasjenige Frankreichs, das beanspruchte, Katholiken im Orient zu protegieren, und 1858 auch das Russland eines, womit es seinen ab 1774 erhobenen Anspruch, Schutzmacht der orthodoxen Christen zu sein, bestärkte.
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also noch vor den vom Zionismus geprägten Einwanderungen (Alijot) ab 1882, kamen zunehmend Juden in die Stadt und es wurden erste Wohngebiete außerhalb der Stadtmauern gegründet (beginnend mit Moses Montefioris Mishkenot Sha’ananim/später Yemin Moshe (1857/1860), gefolgt von Mahane Yisrael (1867), Nahalat Shiv’a (1869), Mea Shearim (1874), Even Yisrael (1875), Mishkenot Yisrael (1875), Shimon HaZadiq (1876), Beit David (1877) und Beit Ya’aqov (1877)). Um 1880 war etwa die Hälfte der rund 30.000 Einwohner Jerusalems jüdisch.1892 erreichte die Bahnstrecke Jaffa–Jerusalem die Stadt, die damit den ersten modernen Verkehrsanschluss erhielt. 1896 entstanden erste Filmaufnahmen in Jerusalem. Am 9. Dezember 1917 marschierten britische Truppen unter General Edmund Allenby in die Stadt ein, nachdem der osmanische Gouverneur diese auf Befehl der Führung der osmanischen Streitkräfte übergeben hatte. Die kampflose Übergabe sollte eine mögliche Beschädigung der historischen Stätten durch etwaige Gefechte um die Stadt bzw. in dieser verhindern.
=== Britische Mandatszeit ===
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Jerusalem dem Völkerbundsmandat für Palästina unterstellt und zum Sitz des Hohen Kommissars und der britischen Mandatsverwaltung. In dieser Zeit entwickelte sich Jerusalem in herausragendem Maße (Errichtung der Hebräischen Universität, Bau des King David Hotels usw.), und die damaligen Bestimmungen zum Stadtbild sind bis heute in Kraft geblieben. Sir Ronald Storrs, erster britischer Gouverneur Jerusalems, erließ ein Gesetz, wonach die Häuser der Hauptstadt des Mandatsgebiets nur aus Jerusalemer Stein erbaut werden dürfen.
Im April 1920 kam es zu einem mehrtägigen arabischen Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung Jerusalems. Bei den Nabi-Musa-Unruhen kamen sechs Menschen ums Leben und es gab über 200 Verwundete.
=== UN-Teilungsplan ===
Seit Beginn des Nahostkonflikts war Jerusalem einer der zentralen Streitpunkte. Vertreter jüdischer und arabischer Bevölkerungsgruppen beanspruchten die Stadt oder zumindest Teile davon als Hauptstadt Israels beziehungsweise Palästinas. Deshalb sah der UN-Teilungsplan für Palästina von 1947 vor, einen jüdischen und einen arabischen Staat zu schaffen und Jerusalem unter internationale Verwaltung zu stellen. Die Stadt sollte als corpus separatum von den UN durch einen Treuhänderrat und einen Gouverneur regiert werden. Lokaler Gesetzgeber sollte ein Rat sein, den die Stadtbewohner nach den Regeln der Verhältniswahl wählen sollten. Gegen seine Entscheidungen – sofern sie den Status der Stadt beträfen – behielten sich die UN ein Vetorecht vor. Die Stadt sollte demilitarisiert, neutral und von einer aus ausländischen Truppen rekrutierten Polizei geschützt werden. Sie sollte Teil eines gemeinsamen Handelsraums sein, den Bürger beider Staaten betreten und bewohnen durften. So sollte der gleichberechtigte Zugang zu den heiligen Stätten der drei Weltreligionen gesichert werden.
Am 29. November 1947 nahmen mehr als zwei Drittel der UN-Vollversammlunɡ mit der Resolution 181 diesen Plan an. Es folgten die Resolutionen 194 vom 11. Dezember 1948 und 303 vom 9. Dezember 1949. Der Teilungsplan wurde jedoch nie umgesetzt: Die arabischen Staaten betrachteten ihn als unzumutbaren Verzicht auf einen Teil des „Dar al Islam“. Bis 1952 versuchten die Vereinten Nationen mehrmals ergebnislos, den Status Jerusalems zu klären.
=== Unabhängigkeitskrieg ===
Die Israelische Unabhängigkeitserklärung von 1948 erwähnte Jerusalem nicht, versprach aber, dass Israel die heiligen Stätten aller Religionen beschützen werde. Am Folgetag griffen die arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Transjordanien, Libanon, Irak und Saudi-Arabien Israel mit dem Ziel an, den neu gegründeten jüdischen Staat zu vernichten. Im Israelischen Unabhängigkeitskrieg eroberten die israelischen Streitkräfte große Gebiete des Landes, verloren jedoch das jüdische Viertel der Altstadt und den Osten Jerusalems an die Arabische Legion Transjordaniens. Die Stadt blieb deshalb bis 1967 in das israelische Westjerusalem und das transjordanische Ostjerusalem geteilt, dessen jüdische Bevölkerung vertrieben, das jüdische Viertel in der Altstadt zerstört, und der Zugang zur Klagemauer, dem heiligsten Ort des Judentums den Juden fortan versperrt wurde.
1948 erließ der israelische Verteidigungsminister eine Verordnung, dass im Westen der Stadt wie in jedem Teil Palästinas, den er als von israelischen Truppen gehalten erkläre, israelisches Gesetz gelte. Am 13. Dezember 1949 erklärte Premierminister David Ben-Gurion vor der Knesset Jerusalem zum untrennbaren Teil Israels und seiner ewigen Hauptstadt. Diese Position bestätigte das Parlament.
=== Erklärung zur Hauptstadt Israels ===
Am 4. Januar 1950 erklärte Israel die Stadt zu seiner Hauptstadt. Der endgültige Status von Jerusalem ist im Rahmen von Endstatusverhandlungen festzulegen. Infolgedessen wird Jerusalem bis heute nicht einheitlich und international nicht als alleinige Hauptstadt Israels anerkannt. König Abdallah ibn Husain I. von Jordanien annektierte daraufhin das von seinen Truppen eroberte Westjordanland und Ostjerusalem. Nur Pakistan erkannte dies an, Großbritannien erkannte nur die Annexion des Westjordanlandes an.
Seit 1952 akzeptierte die internationale Staatengemeinschaft de facto die Anwendung israelischen Rechts in Westjerusalem. Die Forderung, die Stadt zu internationalisieren, schien immer weniger mit der Realität vereinbar und wurde deshalb im Laufe der Zeit nicht mehr von den UN erhoben. Die israelische Position besagt, dass der Westen der Stadt ohne Souverän gewesen sei, nachdem sich Großbritannien 1948 aus seinem vormaligen Mandatsgebiet zurückzog, und Israel so in einem Akt der Selbstverteidigung gegen die angreifenden arabischen Armeen die rechtmäßige Souveränität über das Gebiet erworben habe. Die Position der israelischen Regierung, Jerusalem sei als Ganzes rechtmäßiger Teil Israels und dessen Hauptstadt, wird bis heute nur von wenigen Staaten geteilt.
=== Sechstagekrieg und die Folgen ===
Im Sechstagekrieg 1967 war die Strategie der israelischen Armee ursprünglich rein defensiv. Israel wollte Jordanien aus dem Krieg heraushalten, auch noch nachdem das jordanische Militär am Morgen des 5. Juni mit dem Artilleriebeschuss Westjerusalems begonnen hatte. Erst nachdem Jordanien das neutrale Hauptquartier der Vereinten Nationen erobert hatte, entschloss man sich zu handeln. In den nächsten drei Tagen wurde erst das UN-Hauptquartier, dann der jordanische Militärstützpunkt auf dem Giv’at HaTahmoschet („Munitionshügel“) und schließlich die Altstadt erobert. Dabei verzichteten die israelischen Streitkräfte zur Schonung von Moscheen und Kirchen auf den Einsatz schwerer Waffen und nahmen dafür erhebliche Verluste in Kauf: Von insgesamt rund 800 israelischen Kriegstoten fielen 183 in Jerusalem. Erstmals seit der Staatsgründung konnten Juden fortan an der Klagemauer beten. Anders als die arabische Seite 1949 den Juden verweigerte Israel den Muslimen nicht den Zugang zu ihren heiligen Stätten, sondern unterstellte den Tempelberg einer autonomen muslimischen Verwaltung (Waqf).
Nach dem Ende des Krieges verabschiedete die Knesset das Law-and-Administration-Ordinance-Gesetz, das es der Regierung erlaubte, das israelische Gesetz, Israels Jurisdiktion und Verwaltung auf alle Gebiete des ehemaligen Mandatsgebiets auszuweiten. Gleichzeitig wurde die Gemeindeverwaltungsordnung geändert, wodurch es möglich wurde, die Verwaltungsgrenzen Jerusalems auf den Osten der Stadt auszuweiten. Das Stadtgebiet wurde im Süden, Osten und Norden erheblich erweitert, im Norden bis an die Grenze von Ramallah einschließlich des Flughafens Qalandia (siehe Karte). Allerdings wurden bestimmte gesetzliche Arrangements zugunsten der arabischen Bewohner der Stadt beschlossen, die im Legal and Administrative Matters (Regulation) Law von 1970 festgeschrieben sind. Die arabischen Stadtbürger wurden auch nicht automatisch Israelis, es wurde ihnen jedoch ermöglicht, recht unkompliziert die israelische Staatsbürgerschaft zu erwerben, wovon allerdings nur wenige Gebrauch machten. Der Außenminister Israels, Abba Eban, erklärte daraufhin in einem Brief vom Juli 1967 an den UN-Generalsekretär, dass Israel Ostjerusalem nicht annektiert, sondern nur verwaltungstechnisch integriert habe. Trotzdem wurde dieser Schritt von UN-Einrichtungen kritisiert. In der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates wird Jerusalem nicht explizit erwähnt.
Die Position der israelischen Regierung ist, dass weder Jordanien noch ein anderer Staat außer Israel jemals Souveränität über die Stadt erhalten habe. Jordanien habe Jerusalem 1948 in einem Akt der Aggression unter seine Kontrolle gebracht, wogegen Israel 1967 in Selbstverteidigung gehandelt habe und schon deshalb bessere Ansprüche geltend machen könne. Die israelische Position besagt, dass die Resolution 181 der Vollversammlung als völkerrechtlich nicht bindendes Dokument keine Gültigkeit besitze und aufgrund der arabischen Ablehnung niemals relevant gewesen sei, weshalb Jerusalem als abgetrennte Einheit unter internationaler Treuhandschaft (Corpus Separatum) obsolet geworden sei. Darüber hinaus gebe es weder einen völkerrechtlichen Vertrag dahingehend, noch sei der Status Jerusalems als corpus separatum Völkergewohnheitsrecht.
Bezüglich der heiligen Stätten wurde von der Knesset 1967 das Preservation of the Holy Places Law erlassen, das den freien Zugang zu diesen und deren Schutz vor Entweihung gewährleistet. In Berufung auf dieses Gesetz verhindert die israelische Polizei, um die öffentliche Ordnung und die Sicherheit zu gewährleisten, dass nationalreligiöse Juden wie die in der Nationalist Groups Association organisierten auf dem Tempelberg öffentliche Gottesdienste abhalten.
=== Siedlungsbau ===
Die größte jüdische Siedlung bei Jerusalem ist die 1975 gegründete Trabantenstadt Ma’ale Adumim mit 37.670 Einwohnern (Stand Ende 2016).Um Platz für den Sicherheitszaun östlich von Jerusalem zu schaffen, wurden einige zuvor bewohnte Häuser abgebrochen.
Im Jahr 2012 startete die israelische Regierung neue Siedlungsprojekte in dem im Südwesten von Jerusalem gelegenen Wohnquartier Gilo. Geplant ist, in Gilo 940 Wohnungen zu errichten.
=== Camp-David-Abkommen ===
Im Camp-David-Abkommen von 1978 wurde Jerusalem ausgeklammert. In den beigefügten Briefen an den Gastgeber von Camp David, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Jimmy Carter, erklärte Menachem Begin für Israel, dass Jerusalem die unteilbare Hauptstadt Israels sei. Sadat erklärte, dass das „arabische Jerusalem ein integraler Teil des Westjordanlands“ sei und „unter arabischer Souveränität stehen“ solle. Er sprach sich jedoch gleichzeitig dafür aus, bestimmte Funktionen der Stadt einem gemeinsamen Rat zu überantworten. In diesem Sinne solle die Stadt ungeteilt sein, schrieb Sadat.
=== Jerusalemgesetz ===
Das Jerusalemgesetz vom 30. Juli 1980 fasste beide Stadtteile und einige Umlandgemeinden zusammen und erklärte die Stadt zur untrennbaren Hauptstadt Israels. Darin sieht die palästinensische Seite ein Haupthindernis auf dem Weg zum Frieden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erklärte das Jerusalemgesetz für nichtig (UN-Resolution 478 vom 20. August 1980). Die Resolution fordert alle Staaten, deren Botschaften ihren Sitz in Jerusalem hatten, auf, diese aus Jerusalem abzuziehen.Zu diesem Zeitpunkt hatten von 45 Staaten 13 den Sitz ihrer Botschaften in Jerusalem: Bolivien, Chile, Kolumbien, Costa Rica, die Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Haiti, die Niederlande, Panama, Uruguay und Venezuela. Alle anderen Botschaften hatten ihren Sitz in Tel Aviv. Alle 13 betroffenen Staaten folgten der Resolution. 1982 verlegten zwei Staaten, Costa Rica und El Salvador, ihre Botschaften zurück nach Jerusalem, revidierten diese Entscheidung im Spätsommer 2006 jedoch wiederum und verlegten ihre Botschaften erneut zurück nach Tel Aviv. Es befinden sich Generalkonsulate von Griechenland, Großbritannien, Frankreich und den USA in Jerusalem.
=== Erklärung zur Hauptstadt Palästinas ===
1988 gab Jordanien seinen Anspruch auf Souveränität über das Westjordanland und damit auch auf Ostjerusalem auf. Im selben Jahr rief die PLO den Staat Palästina aus und erklärte Jerusalem zu seiner Hauptstadt, was zu diesem Zeitpunkt – obwohl diese Unabhängigkeitserklärung von vielen arabischen Staaten anerkannt wurde – reine Fiktion war. Völkerrechtlich müssen neben der Ausrufung eines Staates vier Voraussetzungen erfüllt sein, um einen Staat entstehen zu lassen: Es muss ein Staatsgebiet sowie ein Staatsvolk geben, über die es eine effektive Regierung und Kontrolle gibt. Außerdem muss der neue Staat die Fähigkeit besitzen, internationale Beziehungen einzugehen. Die PLO war zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt, effektive Kontrolle über irgendeinen Teil der umstrittenen Gebiete auszuüben.
=== Israelisch-palästinensischer Konflikt ===
In der Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung, die Israel und die PLO am 13. September 1993 unterzeichneten, wird die palästinensische Selbstverwaltung, wie sie in zwei Formen für das Westjordanland festgeschrieben wurde (Gebiete A und Gebiete B), für keinen Teil Jerusalems bestimmt. Der Endstatus der Stadt soll im Zuge des Oslo-Friedensprozesses in einem endgültigen Vertrag bestimmt werden. Die Declaration of Principles erlaubt es den palästinensischen Bürgern Jerusalems, nach einem Abkommen zwischen den beiden Seiten an den Wahlen zur Palästinensischen Autonomiebehörde teilzunehmen.
Am 9. August 2001 starben bei einem Selbstmordanschlag in der Pizzeria Sbarro 16 Menschen, darunter sieben Kinder und eine Schwangere, 130 weitere wurden verletzt. Am 1. Dezember 2001 sterben bei drei Attentaten, davon zwei in der Ben-Jehuda-Straße zehn Menschen, mehr als 180 wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt.Bei einem Selbstmordattentat an der Straßenkreuzung Jaffa/King George-Street, das von der 28-jährigen Palästinenserin Wafa Idris erstmals von einer Frau durchgeführt wurde, sind am 27. Januar 2002 ein Israeli getötet, mehr als 150 Menschen wurden verletzt oder erlitten einen Schock. Bei einem weiteren Terroranschlag hat am 2. März 2002 ein palästinensischer Selbstmordattentäter im Stadtviertel Beit Israel mindestens neun Menschen ermordet und mindestens 40 zum Teil schwer verletzt. Der Sprengsatz am Körper des als orthodoxer Jude verkleideten Terroristen explodierte gegen 19:15 Uhr Ortszeit in dem von ultra-orthodoxen Juden bewohnten Viertel als diese am Schabbat aus den Synagogen heimkehrenten. Die Tat ereignete sich an der Kreuzung Beit Israel/ Haim Ozer Straße. Wie der israelische Rundfunk am Abend weiter meldete, jubelten nach dem Attentat die palästinensischen Einwohner der Autonomiestadt Ramallah auf den Straßen.Bei einem weiteren Selbstmordattentat eines Palästinensers in einem Café wurden am 9. März 2002 um 22:30 Uhr elf Israelis getötet und 54 verletzt, 10 davon schwer. Der Attentäter betrat das Cafe in dem Jerusalemer Stadtviertel Rehavia, das von deutsch-jüdischen Einwandern in den 30er Jahren errichtet wurde, und detonierte eine Sprengstoffladung, die das Restaurant total zerstörte. Die Opfer sind: Limor Ben-Shoham 27, Nir Borochov 22, Danit Dagan 25, Livnat Dvash 28, Tali Eliyahu 26, Dan Emunei 23, Uri Felix 25, Natanel Kochavi 31, Baruch Lerner 29, Orit Ozerov 28 und Avraham Haim Rahamim 29. Die Hamas bekannte sich zu dem Anschlag.In der Jerusalemer Innenstadt hat sich am 21. März 2002 ein palästinensischer Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt und drei Menschen mit sich in den Tod gerissen sowie mehr als 60 Personen zum Teil schwer verletzt. Die Todesopfer waren Yitzhak Cohen und das Ehepaar Shemesh aus Pisgat Ze’ev. Tzipi, die im fünften Monat schwanger war und Gad Shemesh hinterlassen zwei Kinder (7 und 3 Jahre alt).Am 12. April 2002 hat ein erneutes Selbstmord-Attentat einer Palästinenserin von den Al-Aksa-Brigaden in Jerusalem sechs Tote und rund 60 Verletzte, davon 7 Schwerverletzte gefordert. Die Attentäterin sprengte sich an einer Bushaltestelle unweit des Mahane-Yehuda-Marktes in die Luft an der ein Linienbus stand.Ein Mitglied der Hamas steuerte am 21. Oktober 2014 um Viertel vor sechs Uhr Ortszeit mit seinem PKW gezielt in eine Menschengruppe, die eben an der Haltestation Munitionshügel ausgestiegen waren. Dabei wurden acht Menschen verletzt. Das drei Monate alte Baby Haya starb später an ihren Verletzungen.Ein palästinensischer Attentäter gab auf offener Straße am Abend des 29. Oktober 2014 im Vorbeifahren von einem Motorrad aus vier Schüsse auf Jehuda Glick ab, der dadurch lebensgefährlich verletzt wurde.Am 18. November 2014 drangen zwei arabische Einwohner Jerusalems zwischen sieben und halb acht Uhr Ortszeit in eine Synagoge in dem Stadtviertel Har Nof im Westen Jerusalems ein. Bewaffnet waren sie mit einer Axt, einem Messer und einer Schusswaffe. Sie töteten vier betende Juden, Mosche Twersky (59), Calman Levine (55) und Arje Kopinsky (43) und Avraham Schmuel Goldberg (68) darunter auch den Leiter der Synagoge, und verletzten sieben, drei davon schwer. Ein Polizist, der auf dem Weg zur Arbeit zufällig den Tumult in der Synagoge bemerkte, griff mit einem Kollegen ein. In einem Schusswechsel töteten sie die Angreifer und erlitten dabei ebenfalls Verletzungen. Der drusischer Polizist Sidan Saif erlag später seinen Verletzungen. Die 15 Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen verurteilten am 20. November 2014 den Angriff.Bei zwei Terrorattacken sind am 13. Oktober 2015 drei Israelis ermordet worden, weitere 20 Menschen wurden verletzt, davon sechs schwer. In einem Fall griffen zwei Attentäter in einem Autobus die Fahrgäste mit Schusswaffen und Messern an. In dem anderen Fall raste ein Attentäter mit seinem Wagen in eine Gruppe Wartender an einer Bushaltestelle und griff Passanten anschließend mit einem Messer an. Am 9. Dezember 2016 hat ein 39-jähriger aus dem überwiegend von Arabern bewohnten Stadtteil Silwan an einem Bahnhof in zwei Menschen mit Schüssen aus einem fahrenden Auto heraus getötet. Mindestens sechs weitere Menschen wurden verletzt. Die radikal-islamische Hamas bekannte sich zu dem Angriff.Bei einem Attentat am 8. Januar 2017 im Stadtteil Armon Hanaziv kamen drei Frauen und einem Mann, alle im Offiziers- oder Kadettenrang ums Leben. 17 weitere Offiziere und Kadetten seien verletzt worden, als ein palästinensische Fahrer mit einem LKW gezielt in eine Gruppe von Soldaten raste.Am 16. Juni 2017 wurde die 23-jährige Grenzpolizistin Hadas Malka im Dienst von einem palästinensischen Terroristen so schwer verletzt, dass sie kurz darauf im Krankenhaus verstarb.
Am Abend des 27. Januar 2023 erschoss ein 21-jähriger palästinensischer Attentäter vor einer Synagoge in der Ostjerusalemer Siedlung Neve Yaakov sieben Menschen und verletzte drei weitere. Er selbst wurde von der Polizei auf der Flucht getötet. Aus Regierungskreisen wurde ein hartes Durchgreifen angekündigt, unter anderem die Lockerung israelischer Waffengesetze zum Selbstschutz von Zivilisten.
=== Anerkennung als Hauptstadt durch einzelne Staaten und Botschaftsverlegung ===
Der US-Kongress beschloss 1995, die US-Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, da Israel – wie alle Staaten – das Recht habe, seine Hauptstadt selbst zu bestimmen. Am 6. Dezember 2017 kündigte Präsident Trump die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem an. Diese wurde am 14. Mai 2018 vollzogen; zwei Tage später folgte Guatemala und am 21. Mai 2018 zunächst auch Paraguay mit dem Umzug der Botschaft. Unter dem neuen Staatspräsidenten Mario Abdo Benítez verlegte Paraguay aber im September 2018 seine Botschaft wieder zurück nach Tel Aviv.Im Dezember 2018 hat die australische Regierung Westjerusalem formell als Hauptstadt Israels anerkannt.Am 7. April 2017 erkannte Russland als weltweit erster Staat Westjerusalem als die Hauptstadt Israels an.Die Position der israelischen Regierung, Jerusalem sei als Ganzes rechtmäßiger Teil Israels und dessen Hauptstadt, wird international nur von sehr wenigen Staaten geteilt. Am 6. Dezember 2017 sprach US-Präsident Donald Trump die offizielle Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch die USA aus. Er kündigte in der Folge den Umzug der US-amerikanischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem an. Die radikale linke Partei Meretz, die Vereinte Liste sowie selbst einige israelische Diplomaten lehnten die Verlegung der Botschaft nach Jerusalem ab.Der französische Diplomat Marc Pierini erklärte am 10. Dezember 2017, dass die EU in der Jerusalem-Frage nicht mehr einig sei. Einige osteuropäische Staaten haben in der Frage der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels „Sympathien für Israels Standpunkt“ gezeigt.
Bereits am Jerusalemtag 2017 hatte das Parlament der Tschechischen Republik Jerusalem als die Hauptstadt Israels anerkannt. Der tschechische Staatspräsident Miloš Zeman hat die Haltung der Europäischen Union zur Jerusalem-Frage als „feige“ kritisiert.Ungarn stoppte am Mittwoch, dem 6. Dezember 2017, eine beabsichtigte gemeinsame EU-Verurteilung (joint declaration) der Pläne von Trump für die Anerkennung von Jerusalem als Hauptstadt Israels per Veto. Ungarn hält eine Verurteilung für nicht notwendig. Einige „osteuropäische Staaten erwägen offenbar, dem US-Präsidenten zu folgen.“Mit Hilfe des mit Benjamin Netanjahu „befreundeten“ litauischen Außenministers Linas Antanas Linkevičius kam ein Treffen der EU-Außenminister zustande, an dem Netanjahu teilnahm. Es war das erste Mal seit 22 Jahren, dass wieder ein israelischer Ministerpräsident die EU aufsuchte. Linkevičius fungierte dabei als „Türöffner“ und erklärte, dass die EU eine aktivere Rolle im Nahost-Konflikt spielen sollte. Er fügte hinzu: „Aber das ist unmöglich ohne direkten Kontakt.“Als Reaktion auf diese Erklärung trafen am 13. Dezember 2017 auf einem Sondergipfel in Istanbul Staats- und Regierungschefs aus über 20 islamischen Ländern (darunter Afghanistan, Iran, Indonesien, Somalia sowie Jordaniens König Abdullah II. und die Emire von Katar und Kuwait) zusammen. Auf dem Treffen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, das vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan initiiert worden war, erklärten sie, Ost-Jerusalem als Hauptstadt Palästinas anzuerkennen. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas gab an, die USA als Vermittler im Nahostkonflikt nicht mehr anzuerkennen und eine UN-Vollmitgliedschaft Palästinas anzustreben.Nachdem eine Resolution im Sicherheitsrat am Veto der USA gegen die Stimmen aller übrigen 14 Ratsmitglieder gescheitert war, brachte die Türkei als amtierende Vorsitzende der Organisation für Islamische Kooperation (OIC) einen Resolutionsentwurf in die Generalversammlung der Vereinten Nationen ein. Eine große Mehrheit von 128 Staaten stimmte der Resolution A/RES/ES-10/19 am 21. Dezember 2017 zu; 35 Staaten enthielten sich, 21 waren nicht anwesend, neun stimmten dagegen, unter ihnen Israel und die USA. Darin heißt es, dass der endgültige Status der Stadt durch Verhandlungen in Einklang mit einschlägigen UN-Resolutionen verhandelt werden müsse. Einige Tage später kündigte der guatemaltekische Präsident Jimmy Morales an, ebenfalls die Botschaft seines Landes nach Jerusalem verlegen zu lassen. Guatemala gehörte zu den neun Staaten, die gegen die Resolution votiert hatten und sich damit auf die Seite der USA stellten. Trump hatte mit der Kürzung von finanziellen Zuwendungen gedroht, sollten andere Länder gegen die USA stimmen. Im März 2019 verkündete Ministerpräsidentin Viorica Dăncilă die Absicht, die Botschaft Rumäniens nach Jerusalem zu verlegen. Im September 2020 kündigten Serbien und Kosovo an, ihre Botschaften in Israel in Jerusalem einzurichten.Zum 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels, also am 14. Mai 2018, wurde die Botschaft der Vereinigten Staaten von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt. Zwei Tage darauf verlegte auch Guatemala seine Botschaft nach Jerusalem. Paraguay folgte als dritter Staat am 21. Mai 2018. Im März 2021 eröffnete die Republik Kosovo ihre Botschaft in Jerusalem und am 24. Juni 2021 folgte Honduras als vierter Staat.Die diplomatischen Vertretungen der meisten Staaten, darunter die der Bundesrepublik Deutschland, Österreichs, der Schweiz und des Großherzogtums Luxemburg, sind weiterhin in Tel-Aviv.
=== Tempelberg ===
Der Tempelberg ist heute dem islamischen Waqf unterstellt, Ausgrabungen sind dort nicht möglich. Der Waqf erstellte in den vergangenen Jahren eine neue Moschee in den sogenannten Ställen Salomos, was wegen der möglichen unbemerkten Zerstörung von Resten der beiden jüdischen Tempel auf israelische Ablehnung stieß. Allerdings dürfte bereits der Bau des herodianischen Tempels zu einer weitgehenden Beseitigung früherer Spuren geführt haben. Ebenso dürften dessen nochmalige Zerstörung, die Errichtung eines römischen Heiligtums und schließlich die islamischen Bauarbeiten wenig Überreste früherer Zeiten übrig gelassen haben.
== Geographie ==
=== Lage ===
Jerusalem liegt auf dem südlichen Ausläufer eines Plateaus in den Judäischen Bergen, zu denen der Ölberg im Osten und der Skopusberg im Nordosten gehören. Die Altstadt liegt ungefähr auf 760 m. Jerusalem ist von zahlreichen trockenen Tälern umgeben. Das Kidrontal, im Osten der Altstadt, liegt zwischen der eigentlichen Stadt und dem Ölberg. Entlang der Südseite der Altstadt findet sich die steil abfallende Schlucht Gehinnom, die schon seit biblischen Zeiten in eschatologischen Vorstellungen mit der Hölle gleichgesetzt wurde.Wie überall im Nahen Osten war die Wasserversorgung in Jerusalem seit jeher nur unter großem Aufwand zu gewährleisten, was durch ein kompliziertes Netz aus Aquädukten (zum Beispiel Qanat as-Sabil), Tunneln, Teichen (zum Beispiel die Teiche Salomos und der Teich von Siloah) und Zisternen bezeugt wird, die hier gefunden wurden. Im Verlauf mehrerer Jahrtausende blieb die Gihonquelle im Kidrontal am Fuße des Tempelberges Jerusalems Hauptzufuhr für frisches Wasser.Jerusalem liegt 60 km östlich von Tel Aviv und dem Mittelmeer. Im Osten der Stadt, etwa 35 km entfernt, liegt das Tote Meer. Weitere Städte und Siedlungen in der näheren Umgebung sind Bethlehem und Bait Dschala im Süden, Abu Dis und Maʿale Adummim im Osten, sowie Ramallah und Givʿat Seev im Norden.
=== Klima ===
Durch den Ölbergriegel wird Jerusalem nicht nur vor dem Wüstenwind aus dem Osten geschützt – auch regnet sich die feuchte Luft vom westlich liegenden Mittelmeer über der Stadt ab. In Palästina herrschen die Westwinde vor, in deren Luv das Bergland liegt, wodurch die Regenmenge landeinwärts zu den Bergen hin zunimmt und über dem Jordantal wieder abnimmt. Durch diesen Regenschatteneffekt sinkt der jährliche Niederschlag ab Jerusalem von 600 mm auf rund 100 mm im Jordantal. Im Winter erkaltet das Bergland und östliche Winde hin zum wärmeren Mittelmeer werden hierdurch häufig. Im Sommer werden auch die Westwinde trockener und tragen kaum Wolken, kühlen und erfrischen aber. Die Seebrise erreicht Jerusalem in der Regel nach 14 Uhr, nachdem sie sich gegen das trockene Land behauptet hat und erfrischt die Stadt meist auch die ganze Nacht angenehm kühl (bis auf eine Abnahme um Sonnenuntergang). Wenn der Seewind Jerusalem nicht erreicht oder ausbleibt, werden die Nächte heiß und es fehlt an Tau und Frische – und wenn dann auch noch der Ostwind aus der Wüste die Stadt erreicht, bringt dieser Staub und einen verbrannten Geruch mit sich und versengt alles (an etwa jedem fünften Sommertag). Im Winter ist dieser Ostwind dann kalt und schneidend. In Jerusalem gibt es im Winterhalbjahr eine klar abgegrenzte Regenzeit etwa vom 14. Oktober bis zum 6. Mai, außerhalb der kaum Niederschlag fällt – und im Sommer rund 60 wolkenlose Tage, welche allerdings oft neblig beginnen, da der starke Frühtau kondensiert. Im Bergland überwiegt der Frühlingsregen, an der Küste der Herbstregen, weshalb es in Jerusalem einen relativ kühlen Frühling und dafür einen recht warmen Herbst gibt.
=== Stadtviertel ===
Abu Tor
Altstadt
At-Tur
Atarot
Bab az-Zahara
Baka
Bayit VeGan
Beit HaKerem
Davidsstadt
En Kerem
French Hill (auch Givʿat Schapira)
Ge'ullah
Gilo
Givʿat HaMatos
Givʿat Ram
Har Choma
Har Nof
Mea Shearim
Mishkenot Sha’ananim
Nof Zion
Pisgat Ze`ev
Ramat Eshkol
Ramat Rachel
Rechaviah
Repha'im, Templerkolonie
Scheich Dscharrah
Silwan
Talpiot
Ost Talpiot
Umm Tuba
Yemin Moshe
== Bevölkerung ==
=== Einwohnerentwicklung ===
1979 lebten bereits 50.000 Juden in Ostjerusalem, 1993 waren es schon 160.000. Heute leben 497.000 jüdische Israelis in Jerusalem, davon mehr als 200.000 auf besetztem palästinensischen Gebiet. Der Anteil der jüdischen Bewohner im gesamten Jerusalem lag im Jahre 2015 bei 63 %, der muslimische Anteil bei 35 % und der christliche Anteil bei 2 %.Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand.
Quelle: Jahre 1967 und 2021, 2015
=== Religionen ===
==== Heilige Stadt für Juden, Christen und Muslime ====
Jerusalem wird von Christen, Juden und Muslimen als heilige Stadt angesehen. Für alle drei abrahamitischen Religionen ist Jerusalem als Wirkungsstätte verschiedener Patriarchen, Propheten, Priester, Könige und Heiliger wie Abraham, Melchisedek, David, Salomon, Zacharias, Jesus von Nazaret und anderer bedeutend. Das statistische Jahrbuch von Jerusalem listet 1204 Synagogen, 158 Kirchen und 73 Moscheen im Stadtgebiet. Orte wie der Tempelberg sind seit je umstritten und Ursache für Konflikte.
Seit dem 10. vorchristlichen Jahrhundert ist Jerusalem den Juden als Ort des zuerst unter König Salomo errichteten jüdischen Tempels heilig. Im Tanach wird die Stadt 632-mal erwähnt. Immer wieder steht Jerusalem im Mittelpunkt der Heils- und Gerichtsankündigungen des biblischen Gottes, so vor allem bei den Propheten Daniel, Jeremia, Jesaja, Ezechiel, Sacharja und den Psalmen.
Beispiele
„So spricht Gott der Herr: Das ist Jerusalem, das ich mitten unter die Heiden gesetzt habe und unter die Länder ringsumher! Ez 5,5 “
„Und ihr sollt’s erfahren, dass ich, der Herr, euer Gott, zu Zion auf meinem heiligen Berge wohne. Joel 4,17 “
„Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte. Ps 137,5 “Sowohl die Stadt Jerusalem als auch das Land und Volk Israels stellt die Bibel als Gottes besonderes Eigentum dar. Bedeutsam ist hier etwa die literarische Darstellung Jerusalems als Findelkind, das von Gott aufgezogen wird (Ezechiel 16), sowie die Zusagen Gottes an die Stadt in den Psalmen, die wie Eheversprechen formuliert sind. Heute ist die Klagemauer, die westliche Umfassungsmauer des Tempelbezirks, ein heiliger Ort für Juden, nur der Tempelberg selbst übertrifft ihn an Bedeutung. Weltweit befindet sich der Toraschrein von Synagogen traditionell an der Wand, die Jerusalem zugewandt ist. Der Ort des Toraschreins der in Jerusalem gelegenen Synagogen richtet sich nach dem Allerheiligsten des salomonischen Tempels. Wie in der Mischna beschrieben und im Schulchan Aruch kodifiziert, werden die täglichen Gebete im Judentum in Richtung auf Jerusalem und den Tempelberg verrichtet. Jerusalem ist die wichtigste der vier Heiligen Städte im Judentum, zusammen mit Hebron, Tiberias und Safed.Den Christen ist Jerusalem heilig, da es der Ort der Leidensgeschichte, Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi ist. Über 100-mal wird Jerusalem im Neuen Testament erwähnt, nach der Bibel wurde Jesus kurz nach seiner Geburt in die Stadt gebracht, hier hat er Opfertierhändler und Geldwechsler aus dem Tempel vertrieben, hier fand das Abendmahl statt. Gleich außerhalb der Stadt soll Jesus gekreuzigt und begraben worden sein. Der wahrscheinliche Ort liegt heute innerhalb der Stadtmauern.
Im Gegensatz zur jüdischen und christlichen Bibel erwähnt der Koran Jerusalem kein einziges Mal namentlich, die Stadt gilt aber trotzdem traditionell als die drittheiligste des Islam (nach Mekka und Medina). Bevor in Richtung der Kaaba in Mekka gebetet wurde, war zu Lebzeiten des Propheten Mohammed für kurze Zeit Jerusalem Richtungsort des Gebetes. Die Frage der Gebetsrichtung wurde im Zusammenhang mit dem Bau der al-Aqsa-Moschee thematisiert, da ihr Standort auf dem Tempelberg von der Richtung abhängt, in die sich Mohammed beim Gebet wendete. Moslems glauben, dass der Prophet in einer nächtlichen Reise auf dem Ross Buraq von Mekka aus zu einer weit entfernten „Kultstätte“ (al-aqsa) gereist ist, wo er in den Himmel aufstieg, um sich mit anderen Propheten des Islam zu treffen. Der Ort dieses Heiligtums wird nicht explizit genannt, im sunnitischen Islam jedoch traditionell mit dem Felsendom identifiziert. Zur Zeit der syrischen Umayyadenkalifen, die das Felsenheiligtum auf dem Jerusalemer Tempelberg besonders förderten, entstand eine islamische Literatur über die „Vorzüge Jerusalems“, die sich im 10. und 11. Jahrhundert verbreitete und die zunächst nur lokal anerkannte Bedeutung der Stadt für den Islam unterstrich.
==== Konfessionen ====
In Jerusalem findet sich eine große Anzahl von Religionen und religiösen Bewegungen. Die wichtigste religiöse Gruppierung in der Stadt ist das Judentum. Stärker als in anderen Landesteilen Israels sind die ultraorthodoxen nicht-zionistischen Juden und die orthodoxen zionistischen Juden in der Stadt vertreten. Es gibt außerdem noch eine Gemeinde von Drusen. Vom Islam sind Sunniten, Schiiten und Alawiten vertreten. Zum Christentum in Jerusalem gehören Griechisch-Orthodoxe, Russisch-Orthodoxe, Georgisch-Orthodoxe, Syrisch-Orthodoxe, Griechische Katholiken, Altkatholiken, Römische Katholiken, Lutheraner, Anglikaner, Armenier und Äthiopier.
== Kultur ==
=== Museen ===
In Jerusalem befindet sich die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem. Historische Museen sind unter anderem das Israel-Museum mit dem „Schrein des Buches“ und dem Modell Jerusalems zur Zeit Jesu, das Bible Lands Museum, das Tower of David-Museum of the History of Jerusalem, das Ariel-Center for Jerusalem in the First Temple Period, der archäologische Park „Durch die Zeiten“ unter der Erlöserkirche, das Nachon-Museum der Judenheit Italiens und das Rockefeller Museum für Archäologie.
Museen, die Ausgrabungen aus der biblischen Antike zeigen, sind das Burnt House, die Davidsstadt, (ältester Teil Jerusalems, auch vorisraelitisch) der Jerusalem Archaeological Park, (südlich der Altstadtmauer beim Dungtor) The Israelite Tower, und das Wohl-Museum.Museen zur Geschichte und Vorgeschichte des modernen Staates Israel sind das Ammunition Hill Museum, das Herzl Museum, das Old City-Museum, das Menachem Begin Heritage Center, und die Mount Zion Cable Car.
=== Bauwerke ===
Die Altstadt von Jerusalem wurde 1981 von der UNESCO zum Weltkulturerbe der Menschheit erklärt. Sie ist seit dem Mittelalter in das armenische Viertel im Südwesten, das christliche im Nordwesten, das jüdische im Südosten und das muslimische Viertel im Nordosten unterteilt und wird von einer aus dem 16. Jahrhundert stammenden, fast vollständig erhaltenen Stadtmauer umgeben. Die Mauer der alten Stadt Davids umfasst mehrere Türme sowie ursprünglich sieben Tore, davon drei große und vier kleine, und wurde 1889 durch ein achtes ergänzt.
Im christlichen Teil der Altstadt befindet sich das Neue Tor, an der Grenze zum armenischen Teil das Jaffator und zum muslimischen Teil das Damaskustor. In den muslimischen Teil führen das Herodestor, Goldene Tor (durch die Türken versiegelt) und das Stephanstor. Im jüdischen Teil steht das Zionstor und das Dungtor. Südwestlich davon erhebt sich der Berg Zion mit dem mutmaßlichen Grab König Davids. Östlich der Altstadt liegt der Ölberg mit dem Garten Getsemani. Wichtige christliche Stätten sind die auf den Grundmauern einer Basilika aus dem 4. Jahrhundert erbaute Grabeskirche und die Via Dolorosa.
Die circa 400 Meter lange, von den Juden „Westliche Mauer“ genannte Klagemauer ist ein Teil der Stützmauer des Plateaus, auf dem der große Tempel Herodes des Großen stand. Wichtige muslimische Bauwerke auf dem Tempelberg sind heute der Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee.
Weitere bedeutende Bauwerke in der Altstadt oder ihrer unmittelbaren Umgebung sind der Cardo (Säulengang), die Dormitio-Kirche, die Erlöserkirche, die vier sephardischen Synagogen und die Zitadelle.
Nahe der südwestlichen Ecke der Altstadtmauer befindet sich an der Fußgängerbrücke ein berühmtes Friedensdenkmal, auf dem der bekannte biblische Satz aus Jesaja 2,4 („Schwerter zu Pflugscharen“) modern dargestellt wird.Im Norden, Westen und Süden der Altstadt breitet sich die Neustadt von Jerusalem aus, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Sie erstreckt sich über die umliegenden Hügel und weiter bis in das wüstenhafte Umland der Stadt. Hier finden sich das Rathaus, die Trinitatiskathedrale, die Kidane-Mihiret-Kirche oder auch die Synagoge Tempio Italiano.
Die modernen Wohn- und Geschäftsgebäude und die breiten Straßen, wie der Rechov Jafo, der Neustadt bilden einen starken Kontrast zu den ärmlichen Behausungen und engen Gassen der Altstadt. In der Neustadt befinden sich die Knesset (das israelische Parlament), die Synagoge des Hadassa-Klinikums in en Kerem mit ihren Chagallfenstern und zahlreiche bedeutende staatliche Einrichtungen. Dazu gehören unter anderem das Finanzministerium, das Außenministerium, das Innenministerium und der Sitz des Premierministers.
Im Kalkfelsen unter dem größten Friedhof der Stadt, Har ha-Menuchot, baut Israel seit 2016 eine unterirdische Begräbnisstätte, deren erster Teil mit 8000 von insgesamt geplanten 22.000 Grabstellen im Oktober 2019 eröffnet werden soll. Vorbild ist die Nekropole von Bet Schearim nahe Haifa. Die jüdischen Bestattungsbräuche verbieten die Einäscherung und erfordern das Beisetzen der Toten im Boden oder auch in unterirdischen Tunnels. Die Grabstellen bestehen aus sarggroßenHorizontalbohrungen in die Tunnelwände.
=== Musikleben ===
Jerusalem ist unter anderem Sitz des Jerusalem Symphony Orchestra.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
=== Wirtschaftsstruktur ===
Das wirtschaftliche Leben der Stadt Jerusalem basiert zum überwiegenden Teil auf ihrer religiösen und kulturellen Bedeutung sowie auf ihrer Funktion als Verwaltungszentrum. Der Dienstleistungssektor ist dementsprechend gut ausgebaut. Viele Bewohner von Jerusalem sind in der staatlichen und städtischen Verwaltung sowie im Bildungswesen beschäftigt. Eine eher untergeordnete Rolle spielt demgegenüber das produzierende Gewerbe. Die Industriebetriebe der Stadt stellen unter anderem Glas-, Metall- und Lederwaren, Druckerzeugnisse, Schuhe und Zigaretten her. Die Produktionsbetriebe sind vorwiegend in den äußeren Bezirken von Jerusalem angesiedelt. Der Tourismus ist jedoch der mit Abstand bedeutendste Wirtschaftsfaktor, da die Altstadt ein bedeutendes Ziel für Touristen ist.
Die Entwicklung des jüdisch-israelischen und des arabisch-palästinensischen Teils der Stadt ist sehr unterschiedlich: Obwohl die Palästinenser ein Drittel der Stadtbevölkerung stellen, kommt ihnen nur ein Zehntel der Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen zugute, was sich erheblich auf die städtische Infrastruktur auswirkt.Die Stadt ist der Sitz von etwa 180 Hightech-Firmen mit rund 12.000 Beschäftigten.
=== Verkehr ===
Wegen der Berglage liegt Jerusalem abseits der wichtigsten Verkehrsströme Israels, die vor allem in der Küstenebene und dem dahinter liegenden Landstreifen fließen. Innerhalb der Stadt muss sich die Straßenführung der hügeligen Landschaft anpassen.
Der öffentliche Verkehr von Bussen und Eisenbahn ruht von Freitagmittag bis Samstagabend auf Grund des Schabbat.
==== Straßenverkehr ====
Die zentrale Straßenverbindung Jerusalems ist die Haupt-Nationalstraße 1, auf der man in rund einer Stunde nach Tel Aviv gelangt. In andere Richtungen bestehen Schnellstraßen. Besonders bemerkenswert ist die Straße zum Toten Meer, die auf ihrem Weg durch das Westjordanland 1200 Höhenmeter abfällt.
==== Busverkehr ====
Die Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln erfolgt in erster Linie durch die genossenschaftliche Busgesellschaft Egged.
==== Schienenverkehr ====
Die Israelische Eisenbahn hatte lange eine nur untergeordnete Bedeutung. Die historische, gebirgige Bahnstrecke nach Tel Aviv über Bet Schemesch wurde seit Juli 1998 saniert, und nach sieben Jahren Unterbrechung verkehren seit April 2005 wieder Züge bis Jerusalem. Die Fahrzeiten über diese Strecke sind im Vergleich zur Straße nicht attraktiv, die beiden noch betriebenen Jerusalemer Bahnhöfe (Biblischer Zoo und Malcha) liegen mehrere Kilometer vom Stadtzentrum entfernt im Süden der Stadt. Der historische, stadtnähere ehemalige Endbahnhof der Strecke, Bahnhof Jerusalem, wird nicht mehr angefahren. Der Bahnhof Jerusalem-Malcha ist die Endstation der Strecke und erhielt eine neue, sehr moderne Anlage.
2001 haben die Bauarbeiten für eine neue Strecke zwischen Jerusalem und Tel Aviv begonnen, bei der eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h vorgesehen war. Dadurch verkürzt sich die Reisezeit auf 30 Minuten. Die Strecke, deren Bau in die Kritik geraten war, weil sie an zwei Stellen kurz durchs Westjordanland führt, wurde im September 2018 zunächst abschnittsweise zwischen Jerusalem und dem Flughafen Ben Gurion nahe Tel Aviv eröffnet. Der neue Endbahnhof Jitzchak Navon befindet sich unterirdisch in der Nähe von Jerusalems zentralem Busbahnhof.
Seit dem 22. Dezember 2019 verkehrt der Hochgeschwindigkeitszug zwischen Tel Aviv (Bahnhof HaHagana) und Jerusalem (Bahnhof Jitzchaq Navon) mit Stopp am Flughafen Ben Gurion. Derzeit verkehrt die Bahn im 30-Minuten-Takt, künftig alle 20 Minuten. Weitere Stationen in Tel Aviv kamen 2020 hinzu (haSchalom und Savidor Merkaz).
==== Stadtbahn ====
Die Stadtbahn Jerusalem wurde von den Unternehmen Alstom und Connex erbaut und am 19. August 2011 eröffnet. Sie besteht aus einer einzigen Linie (L1) zwischen Pisgat Ze’ev und Herzlberg, mit einer Länge von 13,8 Kilometern und 23 Haltestellen. Wahrzeichen der Strecke ist die vom spanischen Architekten Santiago Calatrava erbaute 118 Meter hohe Calatrava-Brücke. Diese Hängebrücke, genannt Weiße Harfe, wurde bereits drei Jahre früher, am 25. Juni 2008, eingeweiht und ist für die Straßenbahn und die Fußgänger reserviert.
==== Innerstädtischer Verkehr ====
Die bedeutendste innerstädtische Straße ist die Jaffastraße. Sie führt vom Jaffator zum zentralen Busbahnhof und ist eine wichtige Einkaufsstraße. Von ihr zweigen einige Fußgängerzonen ab, darunter die Ben-Jehuda-Straße.
Die Stadtbahn Jerusalem wurde als erste Straßenbahnlinie in Jerusalem am 19. August 2011 mit 14 Zügen und einem 12-Minuten-Takt in Betrieb genommen. Erste Versuchsfahrten für diese Linie hatten am 24. Februar 2010 stattgefunden. Die Strecke sollte noch im Jahr 2010 in Betrieb gehen, der Termin wurde wegen des schleppenden Baufortschritts allerdings mehrfach, zuletzt auf den 19. August 2011 verschoben. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch technische Probleme innerhalb der Kontroll- und Steuerungssysteme bestanden, konnte die beschränkte Betriebsaufnahme für die Öffentlichkeit freigegeben werden, die jedoch ohne offizielle Eröffnungsfeierlichkeiten stattfand.Inwieweit geplante Erweiterungen des Netzes, zum Beispiel zwischen den beiden Universitätscampus auf Mount Scopus und Givat Ram stattfinden, ist heute noch nicht absehbar.
==== Luftverkehr ====
Nördlich der Stadt befindet sich der Flughafen Atarot, der nur für Inlandflüge vorgesehen war und seit 2001 geschlossen ist. Der internationale Flughafen Israels ist der Flughafen Ben Gurion rund 60 Kilometer nordwestlich.
=== Bildung ===
Zu den bekannten Bildungseinrichtungen in der Stadt gehören die 1918 eröffnete Hebräische Universität von Jerusalem, die 1933 von Emil Hauser als Konservatorium gegründete spätere Jerusalem Academy of Music and Dance, die 1906 von Boris Schatz gegründete Bezalel Academy of Arts and Design, die 1959 gegründete Israelische Akademie der Wissenschaften, das Planetarium, das Zionistische Zentralarchiv, die Gulbenkian-Bibliothek und die Jüdische National- und Universitätsbibliothek. Darüber hinaus haben die hebräische Jerusalem College of Technology (Lev Academic Center (JCT)) und die palästinensische al-Quds-Universität ihren Sitz in Jerusalem.
In der Stadt befinden sich zahlreiche religiöse Lehr- und Forschungsinstitute. Dazu gehören unter anderem die 1890 eröffnete École Biblique et Archéologique Française, das 1898 gegründete und 1902 eröffnete Deutsche Evangelische Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes, das 1900 gegründete Albright Institute of Archaeological Research, das 1908 gegründete Jerusalemer Institut der Görres-Gesellschaft, das 1927 gegründete Päpstliche Bibelinstitut und das 1963 eröffnete Institut der Jüdischen Religion. Das Theologische Studienjahr Jerusalem besteht seit 1973 an der Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg.
== Politik ==
=== Bürgermeister ===
Mandatszeit (1920–1948)1920–1934 Raghib an-Naschaschibi
1934–1937 Husayn al-Khalidi
1937–1938 Daniel Auster
1938–1944 Mustafa al-Khalidi
1944–1945 Daniel Auster
1945–1948 Städtisches KomiteeOstjerusalem (1948–1967)1948–1950 Anwar Khatib
1950–1951 Aref al-Aref
1951–1952 Hannah Atallah
1952–1955 Omar Wa’ari
1955–1957 Städtisches Komitee
1957–1967 Rouhi Al-KhatibWestjerusalem (1948–1967)1948–1950 Daniel Auster
1950–1952 Zalman Schragai
1952–1955 Yitzhak Kariv
1955–1959 Gerschon Agron
1959–1965 Mordechai Isch Schalom
1965–1967 Teddy KollekJerusalem unter israelischer Kontrolle (seit 1967)1967–1993 Teddy Kollek
1993–2003 Ehud Olmert
2004–2008 Uri Lupolianski
2008–2018 Nir Barkat
seit 2018 Mosche Lion
=== Städtepartnerschaften ===
Jerusalem unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften:
Marokko Fès, Marokko, seit 1982
Vereinigte Staaten New York City, USA, seit 1992
Argentinien Buenos Aires, Argentinien
Tschechien Prag, Tschechien
Peru Cusco, Peru, seit 1996
== Persönlichkeiten ==
=== Söhne und Töchter der Stadt ===
Berühmte Persönlichkeiten aus Jerusalem sind unter anderem der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin, die Schriftsteller Amos Oz und David Grossman sowie die Schauspielerin Natalie Portman.
=== Ehrenbürger ===
Nikolaus Egender (1992), deutscher Benediktinermönch und von 1979 bis 1995 Abt der Dormitio-Abtei in Jerusalem
Adin Talbar (2011), stellvertretender Direktor des israelischen Handels- und Industrieministeriums und Gründer der israelischen Academic Sports Association
Elie Wiesel (2015), rumänisch-US-amerikanischer Schriftsteller, Hochschullehrer und Publizist sowie Friedensnobelpreisträger
== Bilder ==
=== Galerie ===
=== Panorama ===
== Siehe auch ==
Flagge Jerusalems
Wappen Jerusalems
== Literatur ==
=== Monographien ===
Michael Bade: Jerusalem: Die heilige Stadt. Ein Lesebuch. Herder, Freiburg u. a. 2009. ISBN 978-3-451-06058-8.
Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem (Originaltitel: Chroniques de Jérusalem). Reprodukt, 2011. ISBN 978-3-943143-04-1.
Katharina Galor/Hanswulf Bloedhorn: The archaeology of Jerusalem: From the origins to the Ottomans. Yale University Press, New Haven (Conn.) 2013, ISBN 978-0-300-11195-8.
Simon Goldhill: Jerusalem: City of Longing. Harvard University Press, Cambridge (Mass) / London 2008. ISBN 0-674-02866-X.
Katharina Heyden, Maria Lissek (Hrsg.): Jerusalem II: Jerusalem in Roman-Byzantine times (= Civitatum orbis mediterranei studia. Band 5). Mohr Siebeck, Tübingen 2021, ISBN 978-3-16-158303-2.
Helmut Hubel, Tilman Seidensticker: Jerusalem im Widerstreit politischer und religiöser Interessen. Die „Heilige Stadt“ aus interdisziplinärer Sicht. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-631-51057-8.
Gerhard Konzelmann: Jerusalem. 4000 Jahre Kampf um eine heilige Stadt. dtv, München 1998. ISBN 978-3-423-10738-9.
Max Küchler: Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt. Mit Beiträgen von Klaus Bieberstein, Damian Lazarek, Siegfried Ostermann, Ronny Reich und Christoph Uehlinger (= Orte und Landschaften der Bibel. Band IV/2). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007. ISBN 978-3-525-50170-2.
Simon Sebag Montefiore: Jerusalem. Die Biographie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. ISBN 978-3-10-050611-5.
Joshua Prawer (Hrsg.): The History of Jerusalem: The Early Muslim Period (638–1099). Yad Izhak Ben-Zvi, Jerusalem 1996. ISBN 965-217-129-8.
Christopher Weikert: Von Jerusalem zu Aelia Capitolina. Die römische Politik gegenüber den Juden von Vespasian bis Hadrian (= Hypomnemata. Band 200). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, ISBN 978-3-525-20869-4.
Gil Yaron: Jerusalem: ein historisch-politischer Stadtführer. C.H. Beck, 3., erw. und aktualisierte Auflage München 2013. ISBN 978-3-406-64956-1.
=== Zeitschriftenartikel ===
Peter Stephan Jungk, Amos Schliack (Fotos): Jerusalem: Wem gehört die Stadt. In: Geo-Magazin. Hamburg 1980,1, S. 8–30. Informativer Erlebnisbericht. ISSN 0342-8311
Annette Vowinckel: Jerusalem als geteilte Stadt (1948–1967). In: Zeithistorische Forschungen 16 (2019), S. 564–590.
== Weblinks ==
Sehenswürdigkeiten in Jerusalem Interaktive Karte zu mehr als 2000 Bilder auf theologische-links.de
Stadtverwaltung Jerusalem (englisch)
Tourismusbüro
== Anmerkungen ==
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Jerusalem
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Johannisberg (Jena-Lobeda)
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= Johannisberg (Jena-Lobeda) =
Der Johannisberg ist ein markanter Ausläufer der Wöllmisse, einer Muschelkalk-Hochfläche östlich von Jena. Der steil zum Saaletal hin abfallende Geländesporn nördlich des Stadtteils Alt-Lobeda trägt die Reste zweier bedeutender Befestigungen aus der späten Bronzezeit und dem frühen Mittelalter. Durch mehrere archäologische Ausgrabungen und Fundbergungen seit den 1870er Jahren gehören sie zu den wenigen untersuchten Anlagen aus diesen Zeitabschnitten in Thüringen.
Von besonderem Interesse in der archäologischen und historischen Forschung ist die frühmittelalterliche Burg. Aufgrund ihrer Lage unmittelbar am östlichen Ufer der Saale wurden und werden ihre Datierung und Interpretation stark mit Überlegungen zur politisch-militärischen Ostgrenze des fränkischen Reiches verknüpft. Dabei ist umstritten, ob es sich um eine Befestigung unabhängiger slawischer Herrscher handelte oder ob sie unter fränkischer Herrschaft errichtet wurde. Einer neueren Untersuchung zufolge dürfte sie in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Einrichtung des limes sorabicus unter fränkischem Einfluss erbaut worden sein.
== Topographische und geomorphologische Situation ==
Der Johannisberg liegt nördlich von Jena-Lobeda am östlichen Ufer der Saale. Gemeinsam mit dem nördlich liegenden Kernberg und dem Jenaer Hausberg bildet er die Südostfront des mittleren Saaletals bei Jena. Deren Steilhänge werden durch den über 100 m mächtigen unteren Muschelkalk, populärwissenschaftlich auch Wellenkalk genannt, gebildet, aus dem mehrere feste Kalkbänke hervortreten (siehe auch Geologie des Mittleren Saaletales).
Die Muschelkalk-Hochfläche der Wöllmisse springt hier mit einem stiefelförmigen Ausläufer weit nach Westen vor. Der Johannisberg mit einer Höhe von 360–373 m über NN wird im Norden von dem schmalen Pennickental und im Süden durch das weite Tal der Roda begrenzt. Im Westen bricht er steil, im oberen Teil fast senkrecht zum Saaletal ab. Der Höhenunterschied beträgt 215–220 m. Es kann zwischen einem etwa trapezförmigen Plateau mit 180 m größter Länge und 70 m größter Breite und der stark abfallenden, gratförmigen, nach Nordwest gerichteten Spitze mit einer Länge von ca. 200 m unterschieden werden. Nach Osten geht der Berg mit einer Breite von durchschnittlich 120 m ohne natürliches Hindernis in die Hochfläche der Wöllmisse über. Es existieren zwei kräftige Quellen in einem kleinen, tiefen Wasserriss am südlichen Bergrand, etwa 250 m südlich und 100 m unterhalb des Plateaus. Nördlich des Johannisberges fließt im etwa 140 m tiefer gelegenen Tal der Pennickenbach.
== Beschreibung der Wallreste ==
=== Die beiden Hauptwälle ===
Durch den steilen Abfall nach Süden, Westen und Norden ist das Plateau des Johannisberges natürlich geschützt. Es bot sich daher in der Urgeschichte und dem frühen Mittelalter für die Errichtung einer befestigten Höhensiedlung an. An der engsten Stelle des Sporns wurde der Zugang mit Konstruktionen aus Holz, Steinen und Erde abgeriegelt. Durch ihren Verfall stellen sie sich heute nur noch als Wälle dar. Deutlich sind im Gelände zwei Wälle erhalten, die sich in Größe und Gestalt unterscheiden. Der westliche Wall ist etwa 48 m lang, 1,60 m hoch und ein wenig nach innen gebogen. Er verläuft an der schmalsten Stelle des Plateaus von dessen nördlichem zum südlichen Rand. Im Abstand von 28 m nach Osten liegt ein zweiter, etwa 80 m langer, gerader Wall von 1,30 m Höhe.
=== Reste der Randbefestigung ===
Am südlichen Plateaurand hat sich vom Südende des westlichen Walles zur Kante im Westen hin ein etwa 35 m langer, wesentlich niedrigerer Wall erhalten. Eine Skizze von 1884 und eine Zeichnung aus dem Jahr 1912 zeigen auch am Übergang von dem trapezförmigen Plateau zur Spornspitze einen Wall, wo heute nur noch eine deutliche Geländekante zu sehen ist. Nach dem älteren Plan soll das Plateau sogar an allen Seiten von Wällen umgeben gewesen sein. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem niedrigen Wall um den Rest einer Randbefestigung, der an dem hier etwas weniger schroffen Steilabfall nach Süden erhalten blieb.
=== Vermutete Vorwälle ===
Unklar ist die Existenz von zwei weiteren Wällen im östlich anschließenden Vorfeld. Diese werden in der älteren heimatkundlichen Literatur der 1920er und 1930er Jahre beschrieben und sind auch auf den beiden Zeichnungen erfasst. Während sie in verschiedenen Veröffentlichungen des Ausgräbers Gotthard Neumann 1959 und 1960 nicht erwähnt werden, sprach Reinhard Spehr 1994 von einer „geradlinige(n) Führung der bisher übersehenen beiden Vorwälle“. Das gesamte Gelände ist heute durch umfangreiche Aufforstungen seit den 1950er Jahren stark umgestaltet. Weitere Eingriffe erfolgten vermutlich durch Schanzarbeiten in Zusammenhang mit dem unweit gelegenen, bis zum Ersten Weltkrieg genutzten Exerzier- und Manöverplatz der Garnison Jena. Ohne archäologische Untersuchungen kann nicht entschieden werden, ob es sich bei den relativ flachen und eher unregelmäßigen Bodenwellen und -einschnitten östlich der beiden genannten Wälle um natürliche, geologische Phänomene oder tatsächlich um künstlich angelegte bzw. zumindest ausgebaute Befestigungen handelt. In letzterem Falle würde sich die Anlage noch einmal erheblich vergrößern.
== Archäologische Untersuchungen auf dem Johannisberg ==
=== Ausgrabungen und Fundbergungen in der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ===
Die deutlich ausgeprägte Wallanlage zog bereits frühzeitig das Interesse auf sich. Erste Ausgrabungen und Bergungen von Lesefunden führte der Begründer der Ur- und Frühgeschichtsforschung in Jena, Friedrich Klopfleisch, in den 1870er und 80er Jahren durch. Zu diesen Grabungen, die meist nur einen Tag dauerten und größtenteils mit Studenten im Rahmen von sonnabendlichen „Archäolog. Exkursionen in die Umgegend Jena’s“ stattfanden, existieren einige Aufzeichnungen und Skizzen in Klopfleischs Tagebüchern. Es wurden an mehreren Stellen Funde geborgen und mindestens ein Schnitt durch einen Wall angelegt. Die genaue Lage der Grabungsstellen ist jedoch nicht bekannt. Weitere Bergungen von Lesefunden und unsystematische Grabungen erfolgten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch archäologische Laien. So hat Walther Cartellieri, ein Sohn des Jenaer Professors für Geschichte Alexander Cartellieri, um 1912 Untersuchungen westlich des westlichen Walles vorgenommen, wie eine von ihm angefertigte Skizze des Johannisberges mit Eintrag der Fundstelle zeigt. In den 1930er Jahren konnten Mitarbeiter des Germanischen Museums der Universität Jena, darunter vor allem Gotthard Neumann, weitere Lesefunde bergen und so den Museumsbestand erweitern.
=== Ausgrabungen unter Gotthard Neumann 1957 und 1959 ===
Einen wesentlichen Erkenntnisfortschritt erbrachten die Ausgrabungen durch Gotthard Neumann in den Jahren 1957 und 1959. Dabei wurde innerhalb von drei Wochen im Jahr 1957 zunächst ein 76 m langer und etwa 1 m breiter Schnitt I durch beide Wälle angelegt. Den östlichen, über 80 m langen Wall mit den Resten zweier steinerner Blendmauern erkannte Neumann als frühmittelalterlich, der westliche Wall stammt aus der späten Bronzezeit. Nach Abschluss der Grabungen bargen die Brüder A. und G. Daniel in dem Schnitt zwischen beiden Wällen unsystematisch einige weitere Funde. In der vierwöchigen Grabungskampagne 1959 konnten mehrere kleine Flächen und Schnitte am Fuß des Walles und am vermuteten Zugang im Norden aufgedeckt werden. Die untersuchten Flächen erreichten insgesamt eine Größe von ca. 270 m², davon 167 m² in lediglich 1 m breiten Schnitten. In den Grabungsflächen waren abgesehen von der Befestigung kaum eindeutige Befunde und keinerlei Stratigraphie zu erkennen. Dies ist zum einen durch die geringe Mächtigkeit der Humusbedeckung, zum anderen sicherlich auch durch die Grabungsmethodik der schmalen Schnitte bedingt, in denen großflächige Strukturen meist nur sehr schwer zu erkennen sind.
=== Die Ausgrabung im Jahr 1980 durch das Museum für Ur- und Frühgeschichte ===
Im August 1980 führte das Museum für Ur- und Frühgeschichte in Weimar unter der Leitung von Sigrid Dušek eine einwöchige Nachgrabung durch. Dabei wurde die bereits von Neumann untersuchte Fläche am Tor erneut aufgedeckt und erweitert sowie eine weitere 4,90 × 2,10 Meter große Fläche an der inneren Blendmauer des äußeren Walles untersucht. Die Ergebnisse blieben unveröffentlicht und wurden lediglich an einigen Literaturstellen summarisch erwähnt.
=== Weitere Untersuchungen und Fundbergungen ===
1983 und 2002 wurden weitere Funde im Museum Weimar eingeliefert, die während der Beackerung der Innenfläche für die anschließende Aufforstung aufgelesen bzw. bei einer Sanierung der inneren Blendmauer geborgen werden konnten. Im Frühjahr und Sommer 2003 unternahm Tim Schüler vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie geophysikalische Messungen. Untersucht wurde eine mehrere Quadratmeter große Fläche am Südende des Plateaus zwischen den beiden Wällen mit Hilfe der Geomagnetik, wobei das Fehlen flächiger Befunde bestätigt werden konnte. Außerdem wurden ein geoelektrisches Profil, auch Pseudoprofil genannt, durch den frühmittelalterlichen Wall im Bereich des heutigen Weges und zwei weitere Pseudoprofile durch die Reste des Randwalles in der Südwestecke des Plateaus angelegt.
Im Oktober 2003 konnte der Bereich für Ur- und Frühgeschichte der Universität Jena eine fünftägige Nachuntersuchung des 1959 angelegten Schnitts durch den frühmittelalterlichen Wall durchführen, in dem das Südprofil etwa einen halben Meter zurückversetzt und erneut aufgenommen wurde. Dabei wurden die Beobachtungen Neumanns zumeist bestätigt, in einigen Details jedoch auch modifiziert.
== Die spätbronzezeitliche Besiedlungsphase ==
=== Forschungsgeschichte ===
Als erster erkannte Friedrich Klopfleisch im Zuge seiner Ausgrabungen, dass der Johannisberg bereits in der Ur- und Frühgeschichte besiedelt war. Die Fundstelle wurde von ihm 1869 in die archäologische Forschung eingeführt. Er datierte die Überreste der „einheimische(n) Töpferei“, die nach seiner Ansicht nach dem „Vorbilde der römischen“ gefertigt wurden, zunächst in das „2.–4. Jahrhundert nach Chr.“ 1880 waren Funde vom Johannisberg bei der von Rudolf Virchow angeregten ersten großen „Ausstellung prähistorischer und anthropologischer Funde Deutschlands“ in Berlin vertreten.
Wachsende Bekanntheit in der archäologischen Forschung erlangte der Johannisberg spätestens 1909 mit der Aufnahme in die Zusammenstellung der „vor- und frühgeschichtlichen Altertümer Thüringens“ von Alfred Götze, Paul Höfer und Paul Zschiesche. Von dem „mit Steinwällen befestigt(en)“ Johannisberg werden ein Feuersteinbeil aus dem Neolithikum, bronzezeitliche Funde wie „viele Tierknochen, Reibsteine, Kohle und Scherben“ und „einige ornamentierte Scherben“ als „slavische Funde“ genannt. Bei dem Fundinventar vom Johannisberg und anderen Burgwällen um Jena wie dem Jenzig und dem Alten Gleisberg bei Bürgel erkannte Götze „eine geradezu verblüffende Übereinstimmung mit dem der älteren Lausitzer Burgwälle“.Der urgeschichtlichen Besiedlung auf dem Johannisberg widmete sich erst wieder Gotthard Neumann im Anschluss an die Ausgrabungen in den späten 1950er Jahren. 1972 legte Klaus Simon im Zuge seiner Aufarbeitung hallstattzeitlicher Fundstellen in Ostthüringen einen Großteil des Fundmaterials und eine Beschreibung der prähistorischen Befestigung vor.
=== Funde und Befunde ===
Einige wenige spätneolithische Funde zeugen wohl lediglich von einer kurzfristigen Nutzung des Bergsporns in dieser Zeit. In der späten Bronze- und frühen Hallstattzeit (HaB2 bis HaC1) wurde der Sporn erstmals mit einem Abschnittswall gegen die Hochfläche abgeriegelt. Die Befestigung, deren Rest in dem westlichen Wall erhalten blieb, bestand aus einer mit Holz verstärkten Aufschüttung von Bachkalk, der auf der obersten Talstufe des Pennickentales, ca. 80 m unterhalb des Plateaus, gewonnen wurde. Simon errechnete, dass dazu etwa 150 m³ Mauerverfüllung von den Erbauern auf das Plateau geschafft werden musste. Dieser Holz-Erde-Stein-Konstruktion vorgelagert war eine steinerne Blendmauer aus Schaumkalkblöcken oder -platten in Trockenbauweise, welche wahrscheinlich hauptsächlich aus einem flachen Materialentnahmegraben direkt vor der Mauer stammten. Die Rückfront war wohl nicht, wie Neumann annahm, als Rampe ausgebildet, sondern bestand offenbar aus einer Holz(planken)wand, die später nach innen kippte.Nach Simon wurde der Berg während der mittleren Hallstattzeit (HaC2) vorübergehend aufgelassen, ähnlich wie bei der Hasenburg bei Haynrode und dem Jenzig bei Jena. Als Grund hierfür nahm er unter anderem klimatische Veränderungen im Thüringer Raum an, welche den Johannisberg vorübergehend als Siedlungsplatz unattraktiv machten. Spätestens mit Beginn der späten Hallstattzeit (HaD1) wurde der Johannisberg erneut aufgesucht. Dabei scheint die ältere Befestigung wieder genutzt worden zu sein, zumindest gab es bei den Ausgrabungen keine Anzeichen für eine aufwendige Erneuerung der alten bzw. für den Bau einer neuen Befestigung. Simon setzte das Ende der Besiedlung in die Zeitstufe Latène A, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass bei einer erneuten Durchsicht des Keramikmaterials keine eindeutig noch in die Latènezeit gehörende Keramik festgestellt werden konnte. Wie der Dohlenstein bei Kahla, der Felsenberg bei Öpitz oder der Weinberg bei Oberpreillipp verlor auch der Johannisberg bei Jena-Lobeda in der späten Hallstattzeit allmählich seine Funktion und wurde als Siedlungsplatz aufgegeben. Lediglich vom Alten Gleisberg bei Bürgel liegen mehrere latènezeitliche Funde, darunter auch einige Fibeln, vor.
== Die frühmittelalterliche Burg ==
=== Eine slawische oder fränkische Anlage? Grundfrage der bisherigen Forschung ===
Alfred Götze wertete 1909 die bereits von Klopfleisch geborgenen Bruchstücke slawischer Keramik lediglich als Einzelfunde und sah die Befestigungsreste auf dem Johannisberg nicht als frühmittelalterlich, sondern allgemein als vorgeschichtlich, im speziellen Fall als bronzezeitlich an: „Ein Teil unserer Burgwälle ist bronzezeitlich, vor allem diejenigen, die man als Brand- oder Schlackenwälle bezeichnet, weil sie eine starke Einwirkung von Feuer aufweisen“. Im Zusammenhang mit der slawischen Besiedlung meinte er dagegen: „Ob rein slavische Burgwälle, d.h. solche, die wie so häufig in Ostdeutschland von ihnen errichtet wurden, in Thüringen vorkommen, ist zweifelhaft; jedenfalls haben sie aber manchmal ältere Burgwälle in Benutzung genommen“. Diese Ansicht Götzes blieb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmend. Ihr folgten sowohl Fachvertreter wie der Nachfolger Klopfleischs Gustav Eichhorn, Kurt Schumacher, Walter Schultz und fast wörtlich Alfred Auerbach als auch die Heimatforscher aus dem mittleren Saaletal. In der Datierung des Fundplatzes in die Bronzezeit liegt sicherlich auch der wesentliche Grund dafür, dass die Burg auf dem Johannisberg in den meist erbitterten Debatten am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um die Beziehungen zwischen Franken/Deutschen und Slawen an der Saale keine Rolle spielte. Nach der damals allgemein üblichen Auffassung waren „feste Burgen“ des frühen Mittelalters nur auf dem linken Saaleufer errichtet worden und erst „als im 10. Jahrhundert die Rückeroberung des rechtsseitigen Saalegebietes begann, wurde auch das rechte Ufer mit Burgen bewehrt“.Gotthard Neumann, der kurz zuvor auf dem slawischen Burgwall „Alte Schanze“ in Köllmichen, heute Ortsteil von Mutzschen, eine der ersten modernen Untersuchungen einer frühmittelalterlichen Burganlage in Mitteldeutschland durchgeführt hatte, erkannte 1931 den Johannisberg als frühmittelalterliche („slawische“) Anlage, ging jedoch zunächst auf diese Datierung nicht weiter ein. Es wird nicht zuletzt den Zeitumständen geschuldet sein, dass sich Neumanns Ansprache des Johannisbergs als slawischer Burgwall zunächst nicht durchsetzen konnte, nicht einmal bei Archäologen und Historikern, mit denen er in engem Kontakt stand wie Werner Radig oder Herbert Koch. Erst mit den Ausgrabungen 1957 und 1959 konnte der eindeutige Nachweis angetreten werden, dass auf dem bereits in der Bronzezeit genutzten und befestigten Gelände an etwas anderer Stelle im frühen Mittelalter eine Befestigung neu errichtet worden war.
Im Mittelpunkt der Forschung stand seither fast immer die Frage, ob es sich bei der frühmittelalterlichen Burg auf dem Johannisberg um eine Befestigung politisch unabhängiger slawischer Herrscher handelte oder ob sie unter fränkischer Herrschaft errichtet worden war. Der Ausgräber Neumann sah den Johannisberg allein aufgrund historischer Überlegungen als sorbische Befestigung zum Schutz der Saalegrenze an und meinte, dass diese zwischen 751 und 937 bestanden haben könnte. Für Joachim Herrmann war es 1967 „bei der Lage unmittelbar an der Saale […] nicht ohne weiteres sicher, wem diese Burg diente, ob den sorbischen Anwohnern oder dem karolingischen Reich“. Die Befestigungsmauer wurde ihm zufolge „spätestens im 9. Jh.“ errichtet. Im selben Zusammenhang zählte er den Johannisberg zu „den zweifellos unter fränkischem oder antiken Einfluß stehenden Anlagen im sorbischen Gebiet“. 1970 fand der Johannisberg als altslawische Volks- bzw. Fluchtburg Erwähnung im Handbuch „Die Slawen in Deutschland“. Entsprechend der marxistischen Geschichtsauffassung wurden „die ältesten Burgen [...] von bäuerlichen Produzenten zu ihrem Schutz angelegt“. Sigrid Dušek schrieb im Anschluss an ihre Untersuchungen 1983: „Umstritten ist noch die ethnische Zuweisung dieser Burg. Keramik und Fortifikationstechnik […] weisen auf eine slawische Gründung […], andererseits wird auch die Möglichkeit einer karolingischen Befestigung erwogen“. 1985 wurde die Anlage von ihr als „der westlichste und einzige im thüringischen Saalegebiet untersuchte wahrscheinlich slawische Burgwall“ bezeichnet. Auch 1992 und zuletzt 1999 wies Dušek den Johannisberg den Slawen zu. 2006 meinte Tim Schüler: „Die Funde sprechen für eine slawische Anlage, die im 9./10. Jh. hier der Sicherung des mittleren Saaletals diente.“Dagegen sahen Paul Grimm und Hansjürgen Brachmann hierin eine fränkische Gründung. Am deutlichsten hat sich Reinhard Spehr 1994 und 1997 für die Annahme einer spätfränkischen Gründung mit weitreichenden Schlüssen ausgesprochen. Seiner Ansicht nach „errichteten die Franken zur Sicherung der Reichsgrenze im 8. Jh. eine Burg mit steinernen Mauerfassaden“. Gegen die „von Spehr erneut und recht apodiktisch vorgetragene Ansicht“ wandte sich 1995 wiederum Matthias Rupp. Zwar sprach er von einer „bisher keine eindeutige ethnische Zuordnung erlaubende(n) Befestigungsanlage auf dem Johannisberg“, doch führte er mit den Parallelen im slawischen Burgenbau, der slawischen Keramik und der strategischen Ausrichtung der Wehranlage auf dem Hochplateau des östlichen Saaleufers Argumente an, die gegen eine karolingische Grenzburg sprechen sollten. Peter Sachenbacher zählte den Johannisberg im Jahr 2002 zu den „Burgen, die zur Zeit ihrer Anlage von ihrem Ethnos her als rein slawisch anzusprechen sind“. Vier Jahre später stellte er fest: „Heute geht man richtigerweise davon aus, dass die vorherrschend slawische Keramik nicht automatisch auf eine slawische Burg schließen lässt und dass es durchaus wahrscheinlicher ist, dass die Anlage unter karolingischer Herrschaft errichtet wurde“.Alle diese Interpretationen beruhen jedoch eher auf allgemeinen Überlegungen zur politischen Situation im Früh- und beginnenden Hochmittelalter im Elbe-Saale-Raum als auf den archäologischen Funden und Befunden, da deren Aussagekraft diesbezüglich doch eher gering ist.
=== Das Fundmaterial und seine Aussagekraft ===
Bei dem frühmittelalterlichen Fundmaterial vom Johannisberg handelt es sich in erster Linie um slawische Keramik des Leipziger Kreises, darunter fünf vollständige und 19 im Oberteil erhaltene bzw. rekonstruierbare Gefäße, und nur wenige Stücke aus Metall, Stein oder Knochen. Es liegen mehrere Messer mit Griffangeln und geradem bzw. leicht gebogenem Rücken vor, die besonders in den umliegenden Gräberfeldern des 8. und 11. Jahrhunderts, aber auch in zahlreichen Burgen dieser und jüngerer Zeitstellung auftreten. Dies gilt gleichfalls für eine Messerspitze, eine eiserne Pfeilspitze mit flachem, spitzovalem Blatt, einen unverzierten Messerscheidenbeschlag und zwei gebogene Blechstreifen, die als bandförmige Fingerringe angesehen werden können. Die Funde sind mehrheitlich unstratifiziert.
Das Fundmaterial kann überwiegend in das 9. und 10. Jahrhundert datiert werden. Ob und wie weit einige Keramikfunde noch in das 8. Jahrhundert hinabreichen, muss zum derzeitigen Forschungsstand offenbleiben. Ein hochmittelalterlicher bandförmiger Henkel zeigt wohl, wie auch wenige weitere spätmittelalterliche und neuzeitliche Keramikfunde, lediglich eine sporadische Nutzung des Areals in jüngerer Zeit an.
Bei der Frage nach der politischen Zugehörigkeit der Burganlage lassen die Keramik-Funde keine konkreten Aussagen zu. Die Dominanz slawischer Keramik sagt nichts über die politische Zugehörigkeit der Burgherren aus. So wurde beispielsweise bei den Ausgrabungen auf dem Burgberg in Meißen, einer Gründung König Heinrichs I. nach 929, ebenfalls fast ausschließlich slawische Keramik im Fundmaterial angetroffen. Sie spiegelt lediglich die Verhältnisse im slawisch besiedelten Umland wider, aus dem die Burg mit Nahrungsmitteln einschließlich der Transportgefäße und Gebrauchsgeschirr versorgt wurde.
=== Konstruktion und Datierung der Befestigung ===
Die frühmittelalterliche Befestigung auf dem Johannisberg bestand aus einer den Bergsporn in seiner gesamten Breite abriegelnden mächtigen Holz-Erde-Konstruktion mit vorgeblendeten Trockenmauern an der Außen- und Innenfront, einem vorgelagerten Sohlgraben, einer umlaufenden Randbefestigung in wahrscheinlich gleicher Konstruktionsweise und möglicherweise zwei weiteren vorgelagerten Wällen. Die neue Hauptbefestigung wurde etwa 30 m östlich des älteren Walles errichtet, an der der Sporn wesentlich breiter ist. Ob und inwieweit die bronzezeitliche Befestigung im frühen Mittelalter erneut genutzt und ausgebaut wurde, kann nicht gesagt werden.
Eine Befestigungsweise mit steinernen Blendmauern galt lange Zeit als genuin slawische Eigenart. Neuere Forschungen zeigen jedoch, dass die Vorstellungen einer ethnischen Zuweisung von Burgenbautechnik nicht haltbar sind. Insgesamt zeigt sich eine deutliche Konzentration dieser Bautechnik am östlichen Randbereich des fränkischen Reiches. Vermutlich wurde die Befestigungsweise durch die Westslawen von den Franken übernommen, bei denen die römisch-spätantike Bautradition bewahrt worden war.Auffällig ist weiterhin, dass viele vergleichbare Anlagen in Mitteldeutschland nach aktuellen Forschungen jünger sind als lange Zeit angenommen, so z. B. der (spätere) Burgwardmittelpunkt in Dresden-Briesnitz, der Burgwall „Bei den Spitzhäusern“ und der Burgberg in Zehren oder die Burg auf der Landeskrone bei Görlitz. Sie sind überwiegend erst um die Mitte oder in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts und damit sicherlich unter ostfränkisch-deutscher Herrschaft entstanden. Ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Einrichtung des ottonischen Burgwardsystems liegt nahe. Auch die etwas älteren Anlagen in den übrigen slawischen Gebieten, besonders in Mähren, werden in den jüngeren Bearbeitungen auf den Einfluss des ostfränkisch-karolingischen Reiches bzw. gegenseitige Kontakte zwischen Franken und Slawen zurückgeführt.
=== Ergebnisse der archäologischen und historischen Forschungen ===
Die Burganlage auf dem Johannisberg lässt sich bisher nur grob in das 9. und 10. Jahrhundert datieren. Auch ein Siedlungsbeginn bereits im späten 8. Jahrhundert ist möglich. Da bei der Befestigung keine Umbauten oder Erneuerungen erkannt werden konnten, kann von einer Bestandszeit von etwa 30 bis 50 Jahren ausgegangen werden. Die Masse des keramischen Fundmaterials und die Blütezeit des Befestigungstyps fallen in die zweite Hälfte des 9. und die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts, so dass die Befestigung wohl erst in dieser Zeit bestand. Die Aussagekraft der wenigen Befunde ist begrenzt.
Die Qualität und der Umfang der Besiedlung innerhalb der Befestigung bleiben unklar. Die aufwendige Holz-Erde-Konstruktion mit vorderer und hinterer Blendmauer zeugt eher von einer längerfristigen Nutzung als von einer kurzfristig wehrhaft gemachten Fluchtburg. Auch die Spuren der Bebauung unmittelbar hinter der Hauptmauer und der Randbefestigung sowie die zentrale Lage des Johannisberges sind Indizien für eine dauerhafte Besiedlung. Die vergleichsweise geringe Zahl der Funde, das Fehlen flächiger Befunde und besonders das Fehlen von nahegelegenen Wasserstellen sprechen gleichzeitig gegen eine ständige Ansiedlung mit größerem Umfang und einer größeren Zahl der Besatzung. Die Existenz von sogenannten Volks- und Fluchtburgen im Sinne von durch eine Gemeinschaft zu ihrem Schutze errichteten und nur im Bedarfsfall genutzten Anlagen wird in den letzten Jahren immer mehr in Frage gestellt. Der Johannisberg gehört zu den karolingerzeitlichen Großburgen, die im gesamten westslawischen Siedlungsgebiet vorkommen und zahlreiche Übereinstimmungen bei Größe, Grundriss, Mauerkonstruktion und Innenbebauung zeigen. Ihre Anfänge liegen im 8. Jahrhundert, je nach der weiteren historischen Entwicklung werden sie bereits im 9. Jahrhundert wieder aufgelassen oder laufen bis in das 10./11. Jahrhundert weiter. Aufgrund der Analogien im fränkischen Machtbereich, aber auch der wenigen schriftlichen Quellen für das westslawische Gebiet wird deutlich, dass entwickelte Herrschaften hinter dem Bau dieser Befestigungen standen. Das schließt natürlich nicht aus, dass solche Burgen ständig von einer größeren Zahl von Personen bewohnt wurden oder zumindest im Gefahrenfalle – angesichts ständiger Auseinandersetzungen der Eliten sicher nicht gerade selten – zur Aufnahme größerer Menschenmengen geeignet waren. Allgemein ist bei früh- und hochmittelalterlichen Burgen festzustellen, dass sie zumeist nicht an Grenzen, sondern inmitten des besiedelten Landes lagen. Sie erfüllten zentralörtliche Funktionen innerhalb von Siedlungskammern, d. h. sie dienten hier der Kontrolle und dem Schutz der umliegenden Siedlungen und wohl auch der Demonstration und Repräsentation von Herrschaft. Die Aufgabe der Grenzüberwachung und -sicherung, wie Neumann vermutete, ist untypisch. Allein aufgrund der Funde und Befunde vom Johannisberg ist eine Entscheidung über die politische Zugehörigkeit der Burg nicht möglich.
Daher ist die Frage zu stellen, ob die politisch-militärische Grenze zwischen fränkischem Reich und den Slawen, der so genannte limes sorabicus überhaupt entlang der mittleren und unteren Saale verlief. Nach Aussage der archäologischen, historischen und onomastischen Zeugnisse kann davon ausgegangen werden, dass das mittlere Saaletal mit den Nebentälern der Orla, Roda und Gleise bereits im frühen Mittelalter einen einheitlichen Siedlungs- und Wirtschaftsraum bildete, dessen Rückgrat der Fluss selbst war. Diese Annahme berührt natürlich wiederum unmittelbar die Frage nach der Interpretation der Burg auf dem Johannisberg. Eine scharfe Grenze entlang der mittleren Saale mit einer vom fränkischen Reich weitestgehend unabhängigen slawischen Burgbesatzung ist nur schwer denkbar. Die Befestigung auf dem Johannisberg wird wohl in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Einrichtung des limes sorabicus unter fränkischem Einfluss errichtet worden sein. Dies sagt jedoch nichts über die ethnische Zugehörigkeit ihrer Bewohner und erst recht nicht ihrer Erbauer aus. Diese wurden zweifelsohne aus dem slawisch besiedelten Umland rekrutiert, wie es auch für den Bau des fränkischen castellum bei Halle im Jahr 806 überliefert ist. Aus den umliegenden Siedlungen wurde die Burgbesatzung auch mit Nahrungsmitteln und Gebrauchsgut versorgt, wodurch das nahezu ausschließliche Vorkommen slawischer Gefäßkeramik eine Erklärung findet.
== Heutige Nutzung ==
Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Plateau des Johannisbergs als Weidefläche für Schafe genutzt. Nach Aufgabe der Weidenutzung verbuschte das Gelände. In den 1980er Jahren wurde es planmäßig aufgeforstet und ist bis auf kleine Flächen im Westen mit einem dichten Mischwald bestanden.
Wie auch die anderen Berge um Jena ist der Johannisberg ein beliebtes Wanderziel. Mehrere gut ausgebaute Wege führen von Nordwesten und Süden auf den Berg und nach Osten weiter auf die Hochfläche der Wöllmisse. Die 11,4 km lange Strecke „Johannisberg-Horizontale“ ist Teil des etwa 100 km langen Rundwanderweges „Horizontale“ um Jena. Ein 1999 neugestalteter heimatkundlicher Lehrpfad informiert über natürlichen Besonderheiten, die Geologie und die Flora und Fauna des Osthanges des mittleren Saaletales. Von der Abbruchkante des Berges im Westen aus besteht ein weiter Blick über die Stadt und das mittlere Saaletal.
Ein Abschnitt des Kernberglaufes führt vom Fürstenbrunnen über den Johannisberg weiter zur Lobdeburg. Radfahren und Mountainbiking sind verboten, doch üben die Strecken trotzdem eine große Anziehungskraft auf Radsportler aus.
== Literatur ==
Zu Geologie, Flora und Fauna:
Lothar Lepper und Wolfgang Heinrich: Jena – Landschaft, Natur, Geschichte. Heimatkundlicher Lehrpfad (Naturwanderungen um Jena Bd. 1). Ahorn-Verlag Jena. 1. Aufl. 1999. ISBN 3-934146-01-5. Verlag EchinoMedia. 2., überarb. Auflage. Bürgel in Vorbereitung. ISBN 3-937107-00-2.
Zu den ur- und frühgeschichtlichen Befestigungen:
Sigrid Dušek: Geschichte und Kultur der Slawen in Thüringen. Erläuterungen zur Ausstellung. Museum für Ur- und Frühgeschichte Thüringens, Weimar 1983.
Sigrid Dušek: Bedeutung Jenas und Umgebung für die slawische Archäologie. In: Wissenschaftliche Zeitschrift. Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 34, 1985. S. 547–557.
Roman Grabolle: Die frühmittelalterliche Burg auf dem Johannisberg bei Jena-Lobeda. In: Burgen und Schlösser. Zeitschrift für Burgenforschung und Denkmalpflege 48, 2007, ISSN 0007-6201, S. 135–143.
Roman Grabolle: „... ac salam fluvium, qui Thuringos et Sorabos dividit ...“. Das Gebiet der mittleren Saale als politisch-militärische Grenzzone im frühen Mittelalter. In: Arbeitskreis für Kulturlandschaftsforschung in Mitteleuropa ARKUM e.V. (Hrsg.): Siedlungsforschung: Archäologie, Geschichte, Geographie 25, 2007, ISSN 0175-0046.
Roman Grabolle: Die frühmittelalterliche Burg auf dem Johannisberg bei Jena-Lobeda im Kontext der Besiedlung des mittleren Saaletals. Verlag Beier und Beran, Jena und Langenweißbach 2008. (Jenaer Schriften zu Vor- und Frühgeschichte Bd. 3), ISBN 978-3-941171-04-6
Gotthard Neumann: Der Burgwall auf dem Johannisberge bei Jena-Lobeda. Kurzbericht über die Ausgrabung des Vorgeschichtlichen Museums der Universität Jena 1957. In: Ausgrabungen und Funde 4, 1959, ISSN 0004-8127, S. 246–251 Taf. 40.
Gotthard Neumann: Der Burgwall auf dem Johannisberge bei Jena-Lobeda. Kurzbericht über die Ausgrabung des Vorgeschichtlichen Museums der Universität Jena 1959. In: Ausgrabungen und Funde 5, 1960, ISSN 0004-8127, S. 237–244.
Gotthard Neumann: Zwei uralte Burgen auf dem Johannisberge bei Jena-Lobeda. In: Karl-Heinz Götze u. a.: Altes und Neues aus Jena. Ein Heimatalmanach aus dem mittleren Saaletal. Deutscher Kulturbund, Jena o. J. (1960), S. 74–77.
Sven Ostritz (Hrsg.): Jena und Umgebung. Saale-Holzland-Kreis, West (Archäologischer Wanderführer Thüringen Bd. 8). Verlag Beier und Beran, Langenweißbach 2006, ISBN 3-937517-50-2, S. 64 f.
Klaus Simon: Die Hallstattzeit in Ostthüringen. Teil I: Quellen (Forschungen zur Vor- und Frühgeschichte Bd. 8). Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1972.
Klaus Simon: Höhensiedlungen der Urnenfelder- und Hallstattzeit in Thüringen. In: Alt-Thüringen 20, 1984, ISSN 0065-6585, S. 23–80.
Reinhard Spehr: Zur spätfränkischen Burg „Kirchberg“ auf dem Johannisberg über Lobeda. In: Landesgruppe Thüringen der Deutschen Burgenvereinigung e.V. zur Erhaltung der historischen Wehr- und Wohnbauten (Hrsg.): Burgen und Schlösser in Thüringen. Jahresschrift der Landesgruppe Thüringen der Deutschen Burgenvereinigung 1997, S. 21–38.
== Weblinks ==
Heimatkundlicher Lehrpfad Jena
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Johannisberg_(Jena-Lobeda)
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Jurafrage
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= Jurafrage =
Die Jurafrage (französisch Question jurassienne), auch Jurakonflikt (Conflit du Jura) genannt, ist eine politische Auseinandersetzung im Jurabogen im Nordwesten der Schweiz. Seit dem 19. Jahrhundert versteht man darunter ein Minoritätenproblem, das sich aus der Angliederung des ehemaligen Fürstbistums Basel an den mehrheitlich deutschsprachigen Kanton Bern und der daraus entstandenen Abhängigkeit der französischsprachigen Bevölkerung ergeben hat. Der Konflikt eskalierte Mitte des 20. Jahrhunderts und gipfelte in der Gründung des Kantons Jura im Norden der Region, während der Berner Jura im Süden beim Kanton Bern verblieb. Im weiteren Sinne zur Jurafrage gezählt wird auch die Angliederung des Laufentals an den Kanton Basel-Landschaft, auch wenn die Ursachen dort anders gelagert waren.
1815 schlug der Wiener Kongress das fürstbischöfliche Territorium dem Kanton Bern zu. In den 1820er Jahren regten sich unter liberalem Einfluss erstmals separatistische Bestrebungen. Fünf Jahrzehnte später stellten sich katholisch-konservative Kreise während des Kulturkampfes gegen die bernische Religionspolitik, was zu einer Entfremdung zwischen dem katholischen Nordjura und dem reformierten Südjura führte. Überkonfessionell war hingegen der Widerstand gegen Germanisierungsversuche. Eigentlicher Auslöser der Jurafrage und Initialzündung der Separatistenbewegung war 1947 die Moeckli-Affäre. Daraufhin kam es zu lang anhaltenden Spannungen zwischen dem separatistischen Rassemblement jurassien einerseits sowie der Kantonsregierung und der antiseparatistischen Force démocratique andererseits. Die Jurafrage spitzte sich in den 1960er Jahren zu, als die Front de libération jurassien mehrere Brand- und Sprengstoffanschläge verübte.
Um eine friedliche Beilegung des Konflikts herbeizuführen, fanden ab 1970 mehrere Volksabstimmungen statt. Am 23. Juni 1974 erfolgte die Zustimmung zur Gründung eines neuen Kantons, während 1975 der südliche Teil der Region sich für den Verbleib bei Bern aussprach. Der ab 1. Januar 1979 bestehende Kanton Jura umfasste daher nur drei Bezirke im Norden. Das Laufental, das zu einer Exklave geworden war, lehnte 1983 den Wechsel zum Kanton Basel-Landschaft zunächst ab. Nach der Aufdeckung der Berner Finanzaffäre musste die Abstimmung 1989 jedoch wiederholt werden; fünf Jahre später spaltete sich auch das Laufental ab. Daraufhin strebten die Kantone Bern und Jura eine endgültige politische Lösung an und schufen die von 1994 bis 2017 bestehende Interjurassische Versammlung. Die von ihr vorgeschlagene Wiedervereinigung des Kantons Jura und des Berner Jura scheiterte 2013. Hingegen stimmte Moutier, die grösste Stadt des Berner Jura, 2021 dem Kantonswechsel zu.
Die detaillierten Ergebnisse der Volksabstimmungen sind im Artikel Juraplebiszite zu finden.
== Ursprung des Konflikts ==
=== Der Jura als Teil des Fürstbistums Basel ===
Im Jahr 999 schenkte Rudolf III. von Burgund die Propstei Moutier-Grandval dem Bischof von Basel. Diese Schenkung bildete die Basis für die Expansion des Fürstbistums Basel in die überwiegend französischsprachigen Gebiete des Jurabogens. Das Territorium reichte von Basel bis an den Bielersee. Fehlende finanzielle Mittel und der Druck der Städte liessen die weltliche Macht der Fürstbischöfe ab dem 14. Jahrhundert schwinden. Während die Stadt Basel ein eigenes Herrschaftsgebiet aufzubauen begann, dehnte die Stadt und Republik Bern ihren Einfluss im Südjura durch Burgrechtsverträge aus. Inmitten der sich überschneidenden Hoheitsrechte erlangte der Südjura eine gewisse Autonomie und drängte den fürstbischöflichen Einfluss zurück. Dies ermöglichte es Bern, 1530 dort die Reformation einzuführen.Ab Mitte des 16. Jahrhunderts siedelten sich Täufer an, die von Bern verfolgt und vom Fürstbistum geduldet wurden. Sie lebten weit abseits bereits bestehender Siedlungen in geographisch isolierten Einzelhöfen und widersetzten sich so jeglicher Assimilation. Da Basel 1528 ebenfalls reformiert geworden war, musste Fürstbischof Philipp von Gundelsheim seine Residenz nach Porrentruy verlegen. Jakob Christoph Blarer von Wartensee gelang es 1579, den Einfluss Basels im Norden zurückzudrängen und dort den Katholizismus endgültig durchzusetzen. Seine Bemühungen, verlorene Rechte im Südjura zurückzugewinnen, hatten nur zum Teil Erfolg und änderten nichts an der konfessionellen Trennung.
=== Französische Herrschaft ===
Im April 1792 besetzte die Französische Republik den Norden des Fürstbistums. Am 17. Dezember 1792 proklamierten revolutionäre Kräfte unter Joseph Antoine Rengguer die Raurakische Republik mit der Hauptstadt Porrentruy. Aufgrund der chaotischen Verwaltung und erbitterter Auseinandersetzungen in der raurakischen Nationalversammlung annektierte Frankreich seine Tochterrepublik am 23. März 1793. Mit Ausnahme der Landvogtei Schliengen bildete nun der gesamte Norden des Fürstbistums das Département Mont-Terrible. Die französisch besetzte württembergische Grafschaft Montbéliard gehörte ab 1. März 1797 ebenfalls dazu. Ende 1798 annektierte Frankreich auch die südlich des Col de Pierre Pertuis gelegenen Gebiete des Fürstbistums und fügte sie am 20. Dezember hinzu. Trotzdem blieb Mont-Terrible das kleinste aller Départements und ging am 17. Februar 1800 im Département Haut-Rhin auf.Die zentralistische Herrschaft brachte grundlegende gesellschaftliche und politische Veränderungen sowie Fortschritte in der Land- und Forstwirtschaft, im Strassenbau und im Gesundheitswesen. Besonders prägend war 1804 die Einführung des Code civil. Ende Dezember 1813 eroberten Koalitionstruppen den Jura. Nachdem der Pariser Frieden die Grenzen von 1792 wiederhergestellt hatte, verwaltete Gouverneur Conrad Karl Friedrich von Andlau-Birseck das Gebiet provisorisch weiter. Die Jurassier waren sich uneins, was ihre Zukunft betraf. Neben Anhängern eines Verbleibs bei Frankreich gab es vor allem im Norden solche, die einen neuen Kanton der Eidgenossenschaft gründen wollten. Das deutschsprachige Laufental zog trotz seiner katholischen Bevölkerungsmehrheit einen Anschluss an den Kanton Basel in Betracht, in Teilen des Südjura überwog der Wunsch nach Wiederherstellung des Fürstbistums.
=== Wiener Kongress und Anschluss an Bern ===
Am Wiener Kongress schlug Fürst Metternich vor, Bern für den Verlust seiner Untertanengebiete mit dem ehemaligen Fürstbistum zu entschädigen. Der Berner Regierungsrat und der Grosse Rat lehnten den Vorschlag zunächst ab. Erst als der Kongress ausdrücklich auf der Souveränität der neuen Kantone Aargau und Waadt beharrte, gaben sie nach. Die definitive Bestätigung erfolgte am 20. März 1815 durch die in Wien versammelten Diplomaten. Verschiedene Berner Politiker erklärten, man habe den Weinkeller (Waadt) und die Kornkammer (Aargau) gegen einen «elenden Dachboden» (Jura) tauschen müssen. Der Kanton Basel erhielt die Landvogteien Birseck und Pfeffingen zugesprochen (siehe Anschluss des Birseck an Basel), nicht aber das angrenzende Laufental.Je sieben jurassische und bernische Notabeln handelten in Biel die Vereinigungsurkunde aus und unterzeichneten sie am 14. November 1815. Zwar einigten sie sich auf den Schutz der Stellung der römisch-katholischen Kirche und die Beibehaltung des Code civil, doch die jurassischen Repräsentanten gaben sich ansonsten keine Mühe, für den soziokulturell von Bern sehr unterschiedlichen neuen Kantonsteil wenigstens ein Mindestmass an Autonomie herauszuholen. Dies war darauf zurückzuführen, dass sie vom damaligen eidgenössischen Vorort Zürich bestimmt worden waren und die Bevölkerung nur unzureichend vertraten. Die Vereinigung erfolgte offiziell am 15. Dezember 1815, wobei die Jurassier diesen Schritt weitgehend passiv hinnahmen.
=== Konfliktreiches Zusammenleben ===
Die eingesetzten Landvögte entstammten alle dem Berner Patriziat und pflegten kaum Beziehungen zur lokalen Bevölkerung, die so gut wie keinen Einfluss auf Politik und Verwaltung hatte. Meinungsverschiedenheiten kultureller, sprachlicher, rechtlicher und religiöser Art führten bald zu Auseinandersetzungen. Als erste begannen liberale Intellektuelle in Porrentruy gegen die Fremdherrschaft aufzubegehren. Xavier Stockmar und Gleichgesinnte schworen am 31. Juli 1826 auf der elsässischen Burg Morimont feierlich, den Jura «von der Berner Oligarchie zu befreien». Sie strebten einen neuen Kanton an, doch ihr Vorhaben scheiterte am konfessionellen Gegensatz und an regionalen Rivalitäten. Stockmar änderte seine Strategie und verbündete sich 1830 mit führenden Liberalen im deutschsprachigen Kantonsteil. Gemeinsam gelang es ihnen im Januar 1831, die Regierung zu stürzen. Zwar garantierte die neue Berner Kantonsverfassung eine angemessene Vertretung der Jurassier im Grossen Rat, doch das einzige andere Zugeständnis war die Erhebung des Französischen zur Nationalsprache. An die Stelle der Landvogteien traten Bezirke.Entgegen den Vereinbarungen der Vereinigungsurkunde versuchte der Regierungsrat, die römisch-katholische Kirche unter staatliche Kontrolle zu stellen und unterschrieb am 27. Januar 1834 die Badener Artikel. Daraufhin schürte eine Protestbewegung im Nordjura antibernische Ressentiments. Nachdem der Grosse Rat am 15. Februar 1836 die Artikel ratifiziert hatte, kam es zu gewalttätigen Demonstrationen und Forderungen nach Sezession. Der Regierungsrat reagierte mit der militärischen Besetzung des Nordjura und der Verhaftung führender Aufständischer. Die Garantiemacht Frankreich drohte ultimativ mit einem Truppeneinmarsch, sollten die Badener Artikel nicht rückgängig gemacht werden, sodass Regierung und Grosser Rat am 2. Juli 1836 dem Druck nachgaben. Erneuten Widerstand – diesmal im gesamten Jura – gab es 1838, als die Regierung den Code civil abschaffen wollte. Anführer dieser Protestbewegung war Stockmar, der damals selbst der Regierung angehörte. Ende Oktober 1839 verfassten die jurassischen Grossräte in Glovelier eine Petition, in der sie Änderungen im Bildungswesen forderten. Stockmar wurde des Hochverrats angeklagt und musste ins französische Exil fliehen, während die Polizei die Proteste unterdrückte. Der einige Jahre später völlig rehabilitierte Stockmar erreichte 1846, dass mehrere der Forderungen in die revidierte Kantonsverfassung einflossen. Der jurassische Kantonsteil erhielt Sonderrechte im Fürsorge- und Steuerwesen zugesprochen, der Code civil blieb zu einem grossen Teil erhalten und das Französische war nun Amtssprache (wenn auch nicht konsequent umgesetzt). Die Jurassier zeigten sich mit dem Erreichten zufrieden und nahmen die Verfassung am 31. Juli 1846 mit 88 % der Stimmen an.Der Jura war einer der Brennpunkte des Kulturkampfes. 1867 reduzierte die Regierung die Zahl katholischer Feiertage um mehr als die Hälfte, 1868 durften Nonnen nicht mehr an öffentlichen Schulen unterrichten. Die Situation eskalierte 1870, als die im Bistum Basel gelegenen Kantone dem aus dem Jura stammenden Bischof Eugène Lachat verboten, das Unfehlbarkeitsdogma in den Kirchen verkünden zu lassen, und ihn seines Amtes enthoben. Der Regierungsrat entliess Dutzende Pfarrer, die dagegen protestiert hatten, und gestattete nur noch staatsloyale Geistliche. Eine Gesetzesvorlage, welche die Erhebung der zwischenzeitlich entstandenen Christkatholischen Kirche zur Staatskirche vorsah, hiessen die Berner Stimmberechtigten mit überwältigender Mehrheit gut, im Nordjura resultierte eine Zweidrittelmehrheit dagegen. Die Gläubigen leisteten Widerstand, indem sie der Messe in Verstecken beiwohnten oder sich über die französische Grenze zu ihren Pfarrern begaben, die des Landes verwiesen worden waren. Die Bundesversammlung stufte die Ausweisungen ausdrücklich als verfassungswidrig ein, worauf die Exilanten nach 20 Monaten zurückkehren durften. 1878 einigten sich der Kanton Bern und die Römische Kurie auf einen Kompromiss, einschränkende Bestimmungen blieben aber zum Teil bis 1935 bestehen. Die am 4. Juni 1893 mit grosser Mehrheit angenommene Verfassungsrevision stiess im gesamten Jura auf massive Ablehnung, da sie die Sonderrechte im Fürsorge- und Steuerwesen aufhob.
=== Sprachenstreit ===
Die im frühen 19. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung verursachte starke Migrationsbewegungen aus dem alten Kantonsteil und aus anderen Kantonen, weshalb der Anteil der einheimischen jurassischen Bevölkerung abnahm und diese im Südjura sogar in die Minderheit versetzt wurde. Da es nur sehr wenige deutschsprachige Schulen gab (die meisten davon in mennonitischen Siedlungen), assimilierten sich die Zugewanderten spätestens in der zweiten Generation. Unter dem Eindruck des Aufstiegs des Deutschen Reiches machten sich ab etwa 1900 zunehmend Germanisierungstendenzen bemerkbar, beispielsweise durch das Aufstellen von Verkehrsschildern in deutscher Sprache, die verstärkte finanzielle Unterstützung deutschsprachiger Schulen oder 1914 die Entscheidung, für die (seit längerem deutschsprachigen) Gemeinden Elay und La Scheulte ihre deutschen Namen Seehof und Schelten zu verwenden. Dies provozierte jeweils heftigen Widerstand der französischsprachigen Mehrheit und einzelne Politiker begannen wieder einen eigenen Kanton zu fordern. Um die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen, verzichtete die Regierung 1915 auf die Durchführung einer geplanten Hundertjahrfeier des Anschlusses an Bern.Ebenfalls 1915 beschrieb der Journalist Léon Froidevaux den Jura in einem polemischen Zeitungsartikel als «das Elsass-Lothringen der Berner», worauf er zu 14 Tagen Haft verurteilt wurde. Sein Pamphlet Mes quatorze jours de prison («Meine vierzehn Tage im Gefängnis») wurde zu einem politischen Manifest der Separatisten, die sich 1917 unter dem Journalisten Alfred Ribeaud im Mouvement séparatiste jurassien organisierten. Da die von ihnen unterstützten Kandidaten bei nationalen und kantonalen Wahlen schlecht abschnitten und die sprachpolitischen Spannungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ohnehin deutlich abnahmen, stellten sie ihre Aktivitäten bald ein. Zur Beruhigung der Lage trug auch bei, dass der Kanton Bern vorübergehend mehr in den Jura investierte, als er dort Steuern einnahm. Dies ermöglichte den Strukturwandel der Industrie, die bisher rein auf die krisengeschüttelte Uhrenherstellung spezialisiert war. Der Sprachenstreit flackerte 1942 erneut auf, als die überwiegend von Mennoniten bewohnte Gemeinde Mont-Tramelan beschloss, Deutsch als Verwaltungssprache anzuwenden und sich fortan Bergtramlingen zu nennen. Dies verstiess gegen das in der Kantonsverfassung verankerte Territorialitätsprinzip, weshalb die Regierung den Beschluss aufhob. Die sich wieder regenden Separatisten forderten vier Jahre später in einer vom Historiker Paul-Otto Bessire verfassten Denkschrift ein Ende der öffentlichen Unterstützung deutschsprachiger Schulen, denn diese seien «trojanische Pferde» zur Verdrängung der französischen Kultur.
== Erstarken der Separatistenbewegung ==
=== Moeckli-Affäre als Initialzündung der Jurafrage ===
Nach dem Tod von Regierungsrat Ernst Reinhard wollte Georges Moeckli (SP) 1947 die frei gewordene Bau- und Eisenbahndirektion übernehmen. Seine Amtskollegen unterstützten seinen Wunsch einstimmig, doch in der Personaldebatte des Grossen Rates am 9. September stellte Hans Tschumi (BGB) überraschend den Antrag, den Wechsel abzulehnen und stattdessen Samuel Brawand zu bevorzugen. Seine Begründung lautete, dass Moeckli französischsprachig und ein Deutschberner für dieses wichtige Amt besser geeignet sei. Trotz eindringlicher Warnungen vor negativen Konsequenzen nahm der Grosse Rat den Antrag mit 92 zu 66 Stimmen an. Jurassische Interessengruppen verlangten daraufhin eine Revision des Beschlusses. Als am 17. September ein Wiedererwägungsantrag knapp mit 68 zu 70 Stimmen scheiterte, verliessen die jurassischen Grossräte den Sitzungssaal. Drei Tage später versammelten sich in Delémont über 2000 Menschen zu einer Protestkundgebung. Der Industrielle Daniel Charpilloz forderte dort in einer Rede eindringlich die Schaffung eines Kantons Jura.
Am 2. Oktober 1947 gründete sich das Comité de Moutier; es sollte einen Forderungskatalog erstellen sowie Studien zur Abklärung eines Autonomiestatuts in Auftrag geben. Regierungspräsident Markus Feldmann erklärte am 20. November vor dem Grossen Rat, dass sich der Regierungsrat jeglichen Sezessionsbestrebungen widersetzen werde, und stiess damit vor allem im Nordjura auf Ablehnung. Zehn Tage später wurde in Moutier das Mouvement séparatiste jurassien (MSJ) durch Charpilloz, Roland Béguelin, Roger Schaffter und 19 weitere Personen wiederbelebt. Die Bewegung kündigte an, sie werde sich erst recht für einen eigenständigen Kanton einsetzen, der die Bezirke Courtelary, Delémont, Franches-Montagnes, Laufen, Porrentruy, La Neuveville und Moutier umfassen sollte. Ab Februar 1948 publizierte ein genossenschaftlicher Verlag die Propagandazeitung Le Jura libre. Während die separatistischen Forderungen in den nördlichen Bezirken Anklang fanden, stiessen sie im Süden auf Ablehnung.Das gemässigtere Comité de Moutier veröffentlichte am 30. April 1948 das Memorandum La Question jurassienne présentée au Gouvernement du Canton de Berne («Die Jurafrage zuhanden der Regierung des Kantons Bern») mit verschiedenen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Forderungen. Im Zentrum stand dabei die Teilung der Souveränität zwischen Jurassiern und Bernern durch die Einführung eines Zweikammersystems, getrennter Wahlkreise bei Regierungsrats- und Nationalratswahlen sowie einer garantierten Vertretung im Ständerat. Weitere wichtige Forderungen betrafen die Dezentralisierung der Kantonsverwaltung, die Schul- und Kulturautonomie und die völlige Gleichstellung des Französischen. Das MSJ baute seine Strukturen mit der Gründung zahlreicher Ortsverbände aus. Seine Kritik richtete sich gegen das «bernische System» an sich, das von ethnischer Diskriminierung und wirtschaftlicher Vernachlässigung geprägt sei. Die Jurassier müssten davon befreit werden, um sich voll entfalten zu können, weshalb ein eigenständiger Kanton die einzige wirkliche Lösung sei. Im September 1948 veranstalteten die Separatisten in Delémont das erste Fest des jurassischen Volkes (Fête du peuple jurassien), das seither jährlich stattfindet.
=== Anerkennung der Jurassier als Volksgruppe ===
Im Februar 1949 schlug der Regierungsrat in einem Weissbuch eine Teilrevision der Kantonsverfassung vor, um die angespannten Beziehungen zu verbessern. Sie gab zwar zentralistische Tendenzen sowie sprachpolitisch und konfessionell diskriminierende Fehlentscheidungen in der Vergangenheit zu, stellte sich aber kategorisch gegen jegliche Aufteilung der Staatshoheit. Der Grosse Rat folgte weitgehend den Empfehlungen und beschloss mehrere Verfassungsänderungen. Sie betrafen die Anerkennung der Jurassier als besondere Volksgruppe, die vollständige Gleichberechtigung von Deutsch und Französisch sowie zwei garantierte Sitze im Regierungsrat für den Jura. Weitergehende Forderungen fanden keine Berücksichtigung. Alle politisch-gesellschaftlichen Gruppierungen des alten Kantonsteils und des Jura empfahlen die Annahme. Die Volksabstimmung am 29. Oktober 1950 ergab eine deutliche Zustimmung von 89,0 %. Auffallend war der massive Unterschied in der Stimmbeteiligung von 26 % im alten Kantonsteil gegenüber 59 % im Jura. Er wurde als Zeichen dafür gewertet, dass die Stimmberechtigten des alten Kantonsteils der Jurafrage nur geringe Relevanz beimassen.
Während die Regierung und das 1952 aufgelöste Comité de Moutier die erzielten Kompromisse als Lösung der Jurafrage betrachteten, hielt das MSJ sie lediglich für einen Zwischenschritt. Das MSJ benannte sich am 9. September 1951 in Rassemblement jurassien (RJ) um. Dadurch wollten die Separatisten verdeutlichen, dass sie sich als überparteiliche und konfessionell neutrale Sammlungsbewegung verstanden. Dies widerspiegelte sich auch in der Führungsspitze: Schaffter war ein katholischer Christdemokrat aus dem Norden, Béguelin ein reformierter Sozialdemokrat aus dem Süden. Ein Jahr zuvor hatten sie zusammen einen neuen Text für das 1830 von Xavier Stockmar komponierte Volkslied La Rauracienne geschrieben, das unter dem Namen La Nouvelle Rauracienne zur Hymne der Separatisten wurde. Als Entgegenkommen gestand die Regierung am 12. September 1951 dem jurassischen Kantonsteil per Dekret eine eigene Regionalfahne zu, die 1947 vom Künstler Paul Boesch entworfen worden war. Noch vor der offiziellen Einführung beanspruchte das RJ die Fahne für sich, weshalb sie vor allem im Norden weit verbreitet war. Als Gegenstück zum RJ bildete sich am 25. April 1953 in Saint-Imier die antiseparatistische Union des patriotes jurassiens (UPJ). Unterstützung erhielt sie vom «Verein für bernisch-jurassische Verständigung», der dem RJ mit publizistischen Mitteln entgegentrat.Ab 1953 nutzte Béguelin seine Doppelrolle als RJ-Generalsekretär und Chefredaktor von Le Jura libre zur Verstärkung der Propaganda. Das RJ berief sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Jurassier und führte historische Argumente an, indem es mittels Verklärung des Fürstbistums die mehrere Jahrhunderte dauernde Unabhängigkeit betonte, die der Jura verloren habe. Es betrachtete die Zugehörigkeit zu Bern als Fremdherrschaft, die wenig Rücksicht auf die besondere Situation des Jura nehme. Für die UPJ stellte hingegen die Strukturschwäche das Haupthindernis einer Verselbständigung dar. Der Historiker Clément Crevoisier erklärt die Teilung der jurassischen Gesellschaft mit unterschiedlichen Perspektiven: Während die Antiseparatisten den Jura als funktionierenden Teil des Kantons Bern sahen, betrachteten ihn die Separatisten als autonomen Teil der Schweiz – zwei Sichtweisen, die sich gegenseitig ausschlossen.
=== Protest gegen Waffenplatz ===
Ein weiterer Katalysator in der Jurafrage war die Auseinandersetzung um das Projekt eines Waffenplatzes für Panzertruppen in den Freibergen. 1956 erwarb das eidgenössische Militärdepartement im Geheimen dafür über 450 Hektaren Agrarland in den Gemeinden Lajoux, Les Genevez und Montfaucon. Die Bevölkerung der betroffenen Region leistete heftigen Widerstand, da sie die Zerstörung der (heute geschützten) Landschaft befürchtete. Der Bund gab das Projekt vorläufig auf und verkaufte die Grundstücke an den Kanton Bern zurück, behielt aber ein Vorkaufsrecht. Gemäss einer Studie des Historikers Emanuel Gogniat habe die Auseinandersetzung um den Waffenplatz den Separatismus weiter befeuert, da er nun zusätzlich einen volkstümlichen und bodenständigen Charakter erhielt.
=== Erste Volksabstimmung ===
Seit 1951 verfolgte das RJ das Ziel einer Volksabstimmung über die Selbstbestimmung des Jura, war sich aber lange Zeit unschlüssig über das genaue Vorgehen. Ein Hindernis stellte der Bezirk Laufen mit seiner deutschsprachigen Mehrheit dar. Das RJ stellte sich daher einen Sonderstatus für diesen Bezirk in einem möglichen zukünftigen Kanton vor. Es war absehbar, dass eine kantonale Volksinitiative, mit der die gesamte bernische Wählerschaft direkt zur Kantonsteilung befragt würde, angesichts der Mehrheitsverhältnisse chancenlos wäre. Die im September 1957 lancierte Initiative schlug stattdessen ein indirektes Vorgehen vor. Nach ihrer Annahme sollte ein Gesetz erlassen werden, das die spätere Durchführung einer Konsultativabstimmung über die Meinung der Jurassier hinsichtlich einer Trennung von Bern ermöglichen würde. Sollte diese eine absolute Mehrheit erzielen, hätte dann das RJ genügend politische Rückendeckung, um anschliessend unter Umgehung Berns eine eidgenössische Volksinitiative einzureichen und die darauf folgende gesamtschweizerische Abstimmung für sich zu entscheiden. Das RJ reichte die Initiative mit über 23'000 Unterschriften ein, was selbst die kühnsten Erwartungen übertraf.Angesichts der heftigen Opposition sämtlicher Berner Parteien ging das RJ realistischerweise von einer gesamtkantonalen Ablehnung aus, erhoffte sich aber zumindest im Jura eine Mehrheit. So gesehen endete die Abstimmung am 5. Juli 1959 mit einer Enttäuschung. Während im gesamten Kanton eine Zustimmung von lediglich 20,6 % resultierte, betrug sie im Jura 48,1 %, wodurch das RJ auch sein Minimalziel verfehlte. Deutlich offenbarte sich die Uneinigkeit des Jura selbst. Angenommen wurde die Initiative nur in den nördlichen Bezirken Franches-Montagnes (76,0 %), Delémont (71,9 %) und Porrentruy (65,7 %). Hingegen scheiterte sie in den Bezirken Courtelary (23,8 %), Laufen (26,9 %), Moutier (34,3 %) und La Neuveville (34,5 %). Auffallend waren auch der massive Unterschied bei der Stimmbeteiligung (32,9 % im altbernischen Kantonsteil, 85,3 % im Jura) sowie die geringere Zahl der Ja-Stimmen als jene der gesammelten Unterschriften.
=== Neuausrichtung des Rassemblement jurassien ===
Das RJ gab seine bisher rein historische Argumentation auf und begann schrittweise auf eine ethnolinguistische Strategie umzuschwenken. Es betonte vermehrt die kulturellen Unterschiede zwischen Jurassiern und Deutschbernern, begann mit der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen zusammenzuarbeiten und interpretierte das Abstimmungsergebnis als Folge der Zuwanderung von Deutschsprachigen (insbesondere im Süden). Andererseits gab es den schon immer sehr vagen Anspruch auf das Laufental auf. Das RJ unterstützte gezielt Kandidaten bei Wahlen auf allen Ebenen und vertrat eine progressive Sozialpolitik. Es forderte wiederholt eine Intervention des Bundes und strebte zusätzlich eine Internationalisierung der Jurafrage an, um politische Sachzwänge zu schaffen. Dies geschah durch einen Appell an die Vereinten Nationen, die Solidarisierung mit frankophonen Separatistenbewegungen in Wallonien, in Québec und im Aostatal sowie durch intensivierte Information der ausländischen Medien. Die Berntreuen wiederum hielten die ideologische Verlagerung der Separatisten hin zu einer éthnie française, die zugleich paneuropäisch eingebettet war, für einen «unschweizerischen Gedanken».Der Regierungsrat versuchte das RJ zu marginalisieren, indem er die Jurassische Deputation (eine informelle parteiübergreifende Vereinigung im Grossen Rat) zur einzigen legitimen Gesprächspartnerin erklärte. Als der Grosse Rat im November 1959 die neuen Ständeräte wählen sollte, verhinderte die BGB die Wahl des von der FDP nominierten Jean-Pierre Chatelain, da sich dieser angeblich nicht eindeutig genug gegen die Separatisten ausgesprochen hatte. Im Februar 1960 schloss die Deputation den separatistischen Abgeordneten Jean Wilhelm vorübergehend aus, was das RJ als Unterdrückung der Jurassier interpretierte. Ein Jahr später sollte RJ-Generalsekretär Béguelin wegen «parteischädigenden Verhaltens» aus der Berner SP ausgeschlossen werden, doch die Sektion Delémont setzte den entsprechenden Beschluss des Parteivorstands nie um. Ähnlich wie im Fall Chatelain ging der Grosse Rat im Januar 1962 vor, als er André Cattin nicht wie von der christlichdemokratischen Fraktion vorgeschlagen zum Vizepräsidenten wählte.Als Reaktion auf die wiederholten Brüskierungen trieb das RJ seine Verankerung in der jurassischen Gesellschaft voran und gründete zwischen 1962 und 1964 vier Aktionsgruppen: den Jugendverband Béliers («Sturmböcke»), die feministische Frauenorganisation Association féminine pour la défense du Jura, die Association des Jurassiens de l’extérieur als Zusammenschluss der ausserhalb des Jura lebenden Jurassier und die Studentenorganisation Mouvement universitaire jurassien. Hinzu kam die 1961 gegründete Association suisse des amis du Jura libre für nichtjurassische Sympathisanten. Diese umfassende Mobilisierung gab dem Separatismus einen rebellisch-provokativen Ton, getragen von einer Generation mit zunehmend pazifistischen, antimilitaristischen und sozialen Wertvorstellungen, die jenen der 68er-Bewegung ähnelten.
== Verschärfung des Konflikts ==
=== Neues Waffenplatzprojekt und Berberat-Affäre ===
1962 plante das Militärdepartement auf dem umstrittenen Areal in den Freibergen ein Zentrum für Armeepferde und einen Waffenplatz der Kavallerie. Zu diesem Zweck verkaufte der Kanton Bern die erworbenen Grundstücke zurück an den Bund, informierte die Öffentlichkeit aber erst nachträglich. Die Bevölkerung fühlte sich hintergangen und schenkte den Beteuerungen, wonach der Kaufvertrag Fahr- und Schiessübungen von Panzern ausschliesse, keinen Glauben, da die Gemeindebehörden nicht in die Planungen miteinbezogen worden waren. Das Rassemblement jurassien prangerte die Rücksichtslosigkeit der Kantons- und Bundesbehörden an, während seine Gegenspieler von der UPJ das Projekt vorbehaltlos unterstützten. Der Grosse Rat und die Bundesversammlung ratifizierten den Kaufvertrag Ende 1962.Der Regierungsrat verweigerte weiterhin jeglichen Dialog mit der RJ und begann, Massnahmen gegen separatistisch gesinnte Personen zu ergreifen. Dies geschah einerseits durch die Verweigerung des Zugangs zu öffentlichen Amtspositionen, andererseits durch die moralische Verurteilung der Separatisten als «staatsgefährdend». Am 9. September 1962 hielt Romain Berberat, ein Oberleutnant der Schweizer Armee, als Zivilperson beim Fest des jurassischen Volkes eine Rede. Darin bezeichnete er den Regierungsrat als «diktatorische Autokratie, die den Jura verspottet». Auf Betreiben von Regierungratsmitglied Virgile Moine entzog ihm das Militärdepartement das Kommando über eine jurassische Füsilierkompanie. Die Medien verurteilten diese Sanktion als Angriff auf die Meinungsfreiheit und selbst Berntreue waren der Auffassung, dadurch seien den Separatisten nur neue Argumente in die Hände gespielt worden. Das RJ forderte mit Petitionen die Rehabilitierung Berberats und Moines sofortigen Rücktritt.
=== Brand- und Sprengstoffanschläge der FLJ ===
Im Spätsommer 1962 gründete Marcel Boillat die terroristische Gruppierung Front de libération jurassien (FLJ). Sie übermalte zunächst Strassen- und Baustellenschilder sowie das Soldatendenkmal Le Fritz auf dem Col des Rangiers mit ihrem Kürzel, ehe sie im Oktober eine Militärbaracke in Les Pommerats anzündete. Erst mehrere Monate später bekannte sie sich dazu, als sie ihre Aktivitäten intensivierte. Sie verübte weitere Brandanschläge auf eine Militärbaracke in Bourrignon sowie auf zwei Bauernhöfe in Les Genevez und Montfaucon, die dem geplanten Waffenplatz weichen sollten. Als die Polizei in der Gegend zahlreiche nächtliche Hausdurchsuchungen und Kontrollen durchführte sowie 20 RJ-Mitglieder zu stundenlangen Verhören festhielt, solidarisierte sich die Bevölkerung mit der FLJ, indem sie passiven Widerstand leistete und dadurch die Ermittlungen behinderte.Das im September 1963 gegründete antiseparatistische Comité jurassien de vigilance démocratique («Jurassisches Komitee für demokratische Wachsamkeit») behauptete, das RJ sei direkt für die Gewalttaten verantwortlich. Am 5. Oktober verübte die FLJ auf dem Mont Soleil oberhalb von Saint-Imier einen Sprengstoffanschlag auf das Ferienhaus von Ständerat Charles Jeanneret, dem Präsidenten des Komitees. Ebenfalls betroffen war der UPJ-Präsident Marc Houmard, dessen Sägewerk in Malleray am 23. Dezember durch eine Sprengladung schwer beschädigt wurde. Im Februar 1964 verhaftete die Polizei drei Männer und eine Frau aus Courfaivre und hielt sie wochenlang in Untersuchungshaft fest, ohne ihnen etwas nachweisen zu können. Für Empörung in der Bevölkerung sorgten insbesondere die Verschwiegenheit der Behörden und die ungewöhnlich harten Haftbedingungen. Anfang April wurden die «Unschuldigen von Courfaivre» entlassen, von ihrer Wohngemeinde mit Böllerschüssen empfangen und vom RJ als «Helden des Jura» gefeiert.Währenddessen verursachte eine Explosion am 27. Februar 1964 Risse an einem Gleis der Bahnstrecke Biel–Bern bei Studen und am 12. März verwüstete eine Sprengladung die Filiale der Berner Kantonalbank in Delémont. Schliesslich kam die von Albert Steullet geleitete Sonderkommission der FLJ auf die Spur und verhaftete Ende März ihre Mitglieder. Sie hatten aus eigenen Antrieb gehandelt und standen nachweislich nicht mit dem RJ in Verbindung. Das Bundesstrafgericht verurteilte im März 1966 die beiden Haupttäter zu acht und sieben Jahren Zuchthaus, einen Mitläufer zu einer bedingten Strafe. FLJ-Anführer Marcel Boillat entkam im Februar 1967 aus dem Gefängnis und floh nach Spanien. Die Regierung von Francisco Franco gewährte ihm Asyl, weil er aus politischen Beweggründen gehandelt habe. Nachahmungstäter verübten zwischen März 1965 und Juni 1966, ebenfalls unter dem Namen FLJ, mehrere Brandstiftungen und Vandalenakte. Ihr Anführer Jean-Baptiste Hennin entkam aus der Untersuchungshaft und erhielt in Frankreich ebenfalls Asyl.
=== Widerstandsaktionen und Provokationen ===
Widerstandsaktionen der Béliers begannen ebenfalls für Spannungen zu sorgen. Im März 1964 blockierten sie die Eingänge zum Berner Rathaus und forderten die Freilassung der «Unschuldigen von Courfaivre». Am 30. August 1964 fand auf dem Col des Rangiers eine Feier zum Gedenken an die Mobilmachungen der beiden Weltkriege statt. Rund 6000 Separatisten begaben sich dorthin, um ihren Unmut über die Berberat-Affäre und das Waffenplatzprojekt zur Sprache zu bringen. Die Feier begann zunächst besinnlich, doch dann schwenkten die mitgereisten Béliers plötzlich hunderte Jurafahnen, entrollten antibernische Spruchbänder und unterbrachen mit Pfiffen und Buhrufen die Festreden von Virgile Moine und Bundesrat Paul Chaudet. In der Schweizer Presse entlud sich eine Welle der Kritik über die Separatisten. Doch diese hatten mit dem als respektlos empfundenen Auftritt ihr Ziel erreicht und die gesamte schweizerische Öffentlichkeit auf das ungelöste Juraproblem aufmerksam gemacht.Zu dieser Zeit fand in Lausanne die Expo 64 statt, an der jedem Kanton ein eigener Festtag zustand. Der Regierungsrat lehnte sämtliche Vorschläge ab, anlässlich des «Bernertags» am 11. September den Separatisten irgendeine Art von Präsentation zu gewähren. Da der Staatsrat des Kantons Waadt Ausschreitungen zwischen den verfeindeten Lagern befürchtete, untersagte er für eine Woche jegliche Kundgebungen. Das RJ rief daraufhin zum Boykott der Expo 64 auf und erreichte eine Solidarisierung bisher ungekannten Ausmasses, denn das in derselben Woche stattfindende Fest des jurassischen Volkes in Delémont verzeichnete mit über 40'000 Besuchern einen Rekordandrang. Im März 1965 erklärte das RJ den 150. Jahrestag der Vereinigung mit Bern zum «nationalen Trauertag»; es verschickte entsprechende Memoranden nicht nur an alle Kantonsparlamente und -regierungen, sondern auch an die Signatarstaaten des Wiener Kongresses. Ebenso fanden Gegendemonstrationen zu den bernischen Feierlichkeiten statt. 1967 verzichtete das Militärdepartement auf das umstrittene Projekt in den Freibergen und legte sich auf einen alternativen Standort in den Gemeinden Bure und Fahy fest, wo der Widerstand geringer war. Die ersten Gebäude des Waffenplatzes Bure konnten im April 1968 bezogen werden.Die Béliers sorgten mit Sitzstreiks und Kundgebungen weiter für Aufregung. Am 4. Mai 1968 legten fünf führende Mitglieder auf dem Berner Bundesplatz öffentlichkeitswirksam ihre Militärutensilien nieder und erklärten sich zu «Dienstverweigerern aus Patriotismus», um gegen die Untätigkeit des Bundes zu protestieren. Diesem Beispiel folgend verweigerten zahlreiche Jurassier den Militärdienst. Über 120 Aktivisten besetzten am 29. Juli 1968 das Statthalteramt in Delémont. Diese Aktionen bewogen den in der Jurafrage unbeholfen wirkenden Bundesrat einen Monat später dazu, Truppen auf Pikett zu berufen, um den Schutz militärischer Infrastruktur im Jura zu gewährleisten. Da er diese Massnahme zunächst geheim gehalten hatte, sprach das RJ von einer «militärischen Besetzung des Jura», die an die Niederschlagung des Prager Frühlings erinnere. Nachdem 32 jurassische Offiziere mit einem Protestschreiben bei Verteidigungsminister Rudolf Gnägi vorstellig geworden waren, hob der Bundesrat die Massnahme nach drei Monaten auf. Am 11. Dezember unterbrachen Aktivisten eine Sitzung des Nationalrates und verlasen eine Erklärung.
=== Autonomieverhandlungen und Verfassungszusatz ===
Bisher hatte Bern vielerorts als «Brückenkanton» zwischen der Deutschschweiz und der Romandie gegolten, der rücksichtsvoll mit Minderheiten umgeht. Aufgrund der Jurafrage litt dieser Ruf beträchtlich; viele Schweizer empfanden die Haltung Berns als starr und rechthaberisch. Nach Vermittlungsbemühungen neutraler Gruppierungen, die bereits 1963 eingesetzt hatten, wich der Regierungsrat allmählich davon ab und stellte am 17. März 1967 einen zweistufigen Lösungsweg vor. Es sollte zuerst ein weitreichendes Autonomiestatut angestrebt werden. Im Falle eines Scheiterns sollten dann im Jura Volksabstimmungen stattfinden, bei denen die Möglichkeit bestünde, beim Kanton Bern zu bleiben oder einen neuen Kanton zu bilden. Die Umsetzung begann am 16. Juni, als der Regierungsrat die paritätische «Kommission der 24» einsetzte. Ihr Bericht lag am 3. April 1968 vor, stiess aber bei den Separatisten auf wenig Wohlwollen. Der daraufhin um Hilfe gebetene Bundesrat setzte am 16. Juli die vierköpfige «Kommission der guten Dienste» ein, bestehend aus den früheren Bundesräten Max Petitpierre und Friedrich Traugott Wahlen sowie den Nationalräten Pierre Graber und Raymond Broger. Die Separatisten erkannten die Kommission nicht als neutral an, da ihre Mitglieder auf Vorschlag des Regierungsrats ernannt worden waren. Ebenso lehnten sie den am 9. Juni 1969 vorgelegten Autonomiebericht ab, da sie weiterhin einen eigenen Kanton bevorzugten.Angesichts der Blockade schien ein Autonomiestatut geringe Chancen auf Verwirklichung zu haben, weshalb der Grosse Rat am 9. September 1969 dem Antrag des Regierungsrats zustimmte, Volksabstimmungen in die Wege zu leiten. Das RJ war der Ansicht, solche dürften ausschliesslich vom Bund organisiert werden und nicht von der «dominierenden Macht, von der man sich trennen können sollte». Ebenso befürchtete das RJ, die Volksabstimmungen würden zu einer Teilung des Jura führen. Ende 1969 trat jedoch ein Meinungsumschwung ein und die Separatisten akzeptierten das geplante Vorgehen. Roland Béguelin vertrat die Ansicht, dass der Berner Plan angenommen werden müsse, «weil er den Jurassiern das Recht auf freie Verfügung gibt». Dies sei ein Schritt, «der nicht verpasst werden darf, auch wenn wir mit den Modalitäten der Abstimmung nicht einverstanden sind.» Im Sommer 1969 trat die neutrale Gruppierung Mouvement pour l’unité du Jura (MUJ, «Bewegung für die Einheit des Jura») in Erscheinung. Sie lehnte jegliche Teilung ab und trat für ein weitgehendes Autonomiestatut des gesamten Jura ein. Das MUJ hatte einen schweren Stand; sowohl Separatisten als auch Berntreue verunglimpften ihre Mitglieder als «Verräter».Die Stimmberechtigten des Kantons Bern entschieden am 1. März 1970 über einen Zusatz zur Kantonsverfassung. Er legte ein detailliertes Verfahren für kaskadierende Volksabstimmungen in den sieben jurassischen Bezirken fest, welche die Gründung eines neuen Kantons und gegebenenfalls die genaue Ausdehnung seines Gebiets zum Gegenstand haben würden. Dabei hatte das Selbstbestimmungsrecht der Bezirke und Gemeinden ein höheres Gewicht als jenes der gesamten Region, was eine Teilung begünstigte. Das Ergebnis fiel mit 86,5 % Zustimmung eindeutig aus, wobei zwischen den Regionen erneut deutliche Unterschiede bei der Stimmbeteiligung zu verzeichnen waren (63 % im Jura, 34 % im alten Kantonsteil).
=== Anhaltende Spannungen ===
Die «Kommission der guten Dienste» veröffentlichte im September 1971 einen zweiten Bericht zum Autonomiestatut, zumal der Regierungsrat davon ausging, dass bei der anstehenden Abstimmung ein neuer Kanton abgelehnt werden würde. Auf dieser Basis verfasste André Ory, der Leiter des kantonalen Amtes für Öffentlichkeitsarbeit, das eigentliche Statut, das die Regierung ein Jahr später präsentierte. Das RJ und die MUJ lehnten es ab, während sich die UPJ dafür aussprach. Als der Grosse Rat im November 1973 das Statut beriet, verweigerten die separatistischen Ratsmitglieder die Teilnahme an der Debatte.Anfang 1972 stellte das Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement neue Bauprojekte für das Nationalstrassennetz vor. Obwohl die Jurassier seit fast 20 Jahren den Bau der Autobahn Transjurane gefordert hatten, blieb ihre Region weiterhin unberücksichtigt. 2000 Separatisten demonstrierten am 18. März in Bern gegen diese Entscheidung. Nach dem Ende der friedlichen Kundgebung übergoss eine Gruppe von Béliers die Tramschienen in der Spitalgasse auf einer Länge von 50 Metern mit Asphalt. Am 13. Juli desselben Jahres besetzten Aktivisten die Schweizer Botschaft in Paris und erklärten, die Schweiz werde erst zur Ruhe kommen, wenn der Jura «vom Berner Joch befreit» sei. Zwei Besetzungen ereigneten sich drei Wochen später am 3. August: Unterstützt von wallonischen Separatisten hielten mehrere Béliers die belgische Botschaft in Bern besetzt, während gleichzeitig eine weitere Gruppe in Brüssel in die Schweizer Botschaft eindrang.Um den anhaltenden Aktionen der Separatisten etwas entgegenzusetzen, restrukturierten die Berntreuen ihre Organisationen. Im Dezember 1973 entstand die Jugendbewegung Sangliers («Wildschweine») als Gegenstück zu den Béliers. Aus der Union des patriotes jurassiens ging am 22. März 1974 die Force démocratique hervor. Ihr schloss sich im selben Jahr auch die von Geneviève Aubry gegründete Frauenorganisation Groupement féminin de Force démocratique an. Wie angespannt die Lage im Jura war, zeigt ein Ereignis am Vorabend des ersten Plebiszits. Drei Béliers stiegen in Boncourt auf ein Hausdach, um eine Jurafahre zu befestigen. Ein Anwohner feuerte mehrere Schüsse ab, wobei ein Querschläger den Aktivisten Maurice Wicht in den Rücken traf. Zweieinhalb Wochen später erlag er seinen Verletzungen, worauf mehr als 3000 Separatisten ihm die letzte Ehre erwiesen.
== Juraplebiszite ==
=== Zustimmung zu einem neuen Kanton ===
Das erste Juraplebiszit, das die Schaffung eines neuen Kantons vorschlug, fand am 23. Juni 1974 statt. Als am Sonntagnachmittag um 17:30 Uhr die Mehrheit für den Kanton Jura feststand, strömten Tausende von Menschen zum Rathausplatz von Delémont. Dort verkündete die Führungsspitze des Rassemblement jurassien um 20 Uhr die offiziellen Endergebnisse. Auf das Wetter anspielend, sagte Vizepräsident Roger Schaffter in seiner Ansprache: «Es regnet Freiheit!» («Il pleut la liberté!»).Bei einer Beteiligung von 90,0 % fiel das Ergebnis knapp aus. Auf die Frage «Wollt Ihr einen neuen Kanton bilden?» stimmten 51,9 % mit Ja und 48,1 % mit Nein. Drei Bezirke im Norden stimmten für den neuen Kanton (Delémont mit 79,0 %, Franches-Montagnes mit 77,2 % und Porrentruy mit 67,8 %). Umgekehrt manifestierte sich die Ablehnung in den übrigen Bezirken (Courtelary mit 76,7 %, Laufen mit 74,2 %, La Neuveville mit 65,6 % und Moutier mit 56,9 %). Das seit Jahren vorbereitete Autonomiestatut fiel dahin. Der Aufruf des MUJ, leer einzulegen, war weitgehend wirkungslos geblieben. Die Gruppierung verlor rasch an Einfluss und löste sich zwei Jahre später auf. Seit der Kantonsgründung ist der 23. Juni im Kanton Jura ein gesetzlicher Feiertag.
=== Abstimmungen in den Bezirken ===
Gemäss dem Verfassungszusatz von 1970 konnte ein Fünftel der Stimmberechtigten in den unterlegenen Bezirken innerhalb von sechs Monaten ein zweites Plebiszit verlangen, um beim Kanton Bern zu bleiben. Die Force démocratique reichte im September 1974 entsprechende Volksinitiativen für die Bezirke Courtelary, La Neuveville und Moutier ein. Der Grosse Rat wollte die Jurafrage so schnell wie möglich geklärt haben und setzte das zweite Plebiszit auf den 13. Dezember an. Das Bundesgericht gab einer Beschwerde der Separatisten statt und erklärte den Beschluss für ungültig, da ein derart früher Termin keine sinnvolle Meinungsbildung erlaube. Nachdem innerhalb von nur 13 Tagen erneut drei Volksinitiativen zustande gekommen waren, legte der Grosse Rat den 13. März 1975 als neuen Termin fest. Anders gelagert war eine im Februar 1975 eingereichte Volksinitiative im Bezirk Laufen. Hier sollte die Bevölkerung am 14. September die Möglichkeit erhalten, vorläufig beim Kanton Bern zu bleiben, um dann in einem zweiten Schritt über den Anschluss an einen Nachbarkanton zu befinden.Das zweite Juraplebiszit zementierte die Spaltung. Bei einer Beteiligung von über 94 % stimmten die drei südjurassischen Bezirke für den Verbleib bei Bern (76,8 % in Courtelary, 65,9 % in La Neuveville und 56,2 % in Moutier). Am Tag nach der Volksabstimmung kam es zu mehreren Protestkundgebungen und Zwischenfällen zwischen Separatisten und Berntreuen. Am 19. März 1975 beschloss der Regierungsrat, angesichts des deutlichen Verdikts, eine zwischenzeitlich vom RJ eingereichte Volksinitiative für einen Halbkanton Südjura nicht zur Abstimmung zu bringen. Drei Wochen später schlossen sich die unterlegenen Separatisten des Südjura in der neuen Gruppierung Unité jurassienne zusammen. Sechs Monate nach den Südjurassiern sprachen sich die Laufentaler mit 94,1 % der Stimmen ebenfalls gegen den Beitritt zum Kanton Jura aus, wobei weiterhin die Möglichkeit einer alternativen Kantonszugehörigkeit bestand.
=== Kantonswechsel einzelner Gemeinden ===
Der Verfassungszusatz sah abschliessend eine dritte Runde von Volksabstimmungen auf kommunaler Ebene vor. Verlangt werden konnten diese mittels Volksinitiativen, und zwar jeweils innerhalb zweier Monate von einem Fünftel der Stimmberechtigten einer Gemeinde. Diese Möglichkeit bestand jedoch nur für Gemeinden, die an der vorläufigen Kantonsgrenze lagen, die durch das zweite Juraplebiszit definiert worden war. Auf diese Weise sollte die geographische Einheit des zukünftigen Kantons garantiert werden. Dementsprechend waren ausschliesslich Gemeinden im Grenzbereich der Bezirke Delémont und Moutier berechtigt.14 Gemeinden stimmten an drei Terminen nochmals über den Kantonswechsel ab. Am 7. September 1975 sprachen sich Châtillon, Corban, Courchapoix, Courrendlin und Rossemaison dafür aus, sich dem Bezirk Delémont (und somit dem Kanton Jura) anzuschliessen; zusätzlich schloss sich Les Genevez dem jurassischen Bezirk Franches-Montagnes an. Hingegen lehnten Grandval, Moutier, Perrefitte und Rebévelier einen Wechsel ab. Am 14. September stimmten Lajoux und Mervelier dem Wechsel zu den Bezirken Franches-Montagnes bzw. Delémont zu, während Schelten beim Kanton Bern verblieb. Schliesslich entschied sich Roggenburg am 19. Oktober für einen Wechsel zum Bezirk Laufen. Die Änderungen traten am 1. Januar 1976 in Kraft.
Aufgrund der festgelegten Bedingungen blieb zwei Gemeinden eine dritte Abstimmung verwehrt, obwohl sie mit deutlicher Mehrheit einen Kantonswechsel gewünscht hatten. Ederswiler grenzte seinerzeit nicht an einen bei Bern verbliebenen Bezirk, da die massgebliche Grenzlage erst mit dem dritten Juraplebiszit und dem Wechsel von Roggenburg entstanden war. Gleich verhielt es sich im Falle von Vellerat, das erst durch den Wechsel von Châtillon und Courrendlin zur Grenzgemeinde wurde. Trotzdem führten beide Gemeinden inoffizielle Abstimmungen ohne Rechtskraft durch, um ihren Willen kundzutun.
== Die Kantonsgründung und ihre Folgen ==
=== Brennpunkt Moutier ===
In fast allen Gemeinden war das Ergebnis eindeutig ausgefallen – mit Ausnahme des Bezirkshauptorts Moutier, wo sich die Berntreuen relativ knapp mit 54,1 % der Stimmen durchgesetzt hatten. In der Nacht vom 7. auf den 8. September 1975 zogen hunderte von Separatisten durch die Strassen der Stadt und liessen ihre Wut an Symbolen der Berner Herrschaft aus (zum Teil auch durch Antiseparatisten provoziert). Als die Krawalle ausser Kontrolle gerieten, setzte die Polizei Spezialeinheiten ein. 225 Personen wurden festgenommen, etliche waren verletzt. In der Folge standen sich in Moutier jahrelang zwei fast gleich grosse Lager unversöhnlich gegenüber. Ein weiterer schwerer Zusammenstoss mit der Polizei ereignete sich am 3. April 1977, als Separatisten in Moutier gegen die Absicht des Regierungsrats protestierten, die Nennung des jurassischen Volkes aus der Verfassung zu streichen. Der Grosse Rat entsprach dem Antrag sieben Monate später und in einer Volksabstimmung am 26. Februar 1978 wurde die «Staatsverfassung des Kantons Bern in seinen neuen Grenzen», die zusätzlich mehrere Übergangsbestimmungen bis zur Kantonsgründung enthielt, mit 80,8 % der Stimmen angenommen (wobei das Gebiet des zukünftigen Kantons nicht teilnahmeberechtigt war). Allmählich nahm die Gewaltbereitschaft ab und der Konflikt verlagerte sich auf die politische Ebene. 1982 errangen die Separatisten die Mehrheit im Gemeindeparlament, ab 1986 stellten sie auch den Gemeindepräsidenten.Für Schlagzeilen sorgte im September 1977 der mysteriöse Tod des Offizieranwärters Rudolf Flükiger durch eine explodierte Handgranate, wobei bis heute nicht geklärt ist, ob ein Suizid, jurassische Separatisten oder die Rote Armee Fraktion verantwortlich sind. Mehrmals kam es vor, während und nach den Juraplebisziten bei Veranstaltungen zu Schlägereien und daraus resultierenden Sachbeschädigungen. Beispielsweise wurden am 30. Juni 1979 in Tramelan über 200 Béliers, die das Denkmal des Dichters Virgile Rossel besucht hatten, von Sangliers attackiert. Am 16. März 1980 hielt das Rassemblement jurassien seine Delegiertenversammlung im bernisch gebliebenen Cortébert ab, was die Sangliers als Provokation empfunden. Mehrmals versuchten sie das Versammlungslokal zu stürmen, wurden aber von den Béliers daran gehindert. Unter Polizeischutz konnten die Delegierten ihr Treffen beenden.
=== Verfassunggebende Versammlung ===
Nach dem positiven Ergebnis für die Schaffung eines Kantons Jura wählten die Stimmberechtigten des definierten Gebiets am 21. März 1976 eine 50-köpfige verfassunggebende Versammlung. Die feierliche Eröffnungssitzung fand am 12. April in der Kirche Saint-Marcel in Delémont statt, die konstituierende Sitzung am Tag darauf in der Aula des Gymnasiums von Porrentruy. Die Versammlung bestimmte François Lachat zu ihrem Präsidenten, während Roland Béguelin und Gabriel Roy als Vizepräsidenten amtierten.Am 22. Januar 1977 stellte die Versammlung die zukünftige Verfassung der Republik und des Kantons Jura vor. Umstritten war Artikel 138, in dem es hiess, dass der Kanton jeden Teil des Jura aufnehmen könne, wenn sich dieser nach Bundesrecht und nach dem Recht des Kantons Bern ordentlich getrennt hat. Der Verfassungsartikel sorgte in berntreuen Kreisen für Verstimmung und hatte drei Monate zuvor (bei der Präsentation eines noch schärfer formulierten Entwurfs) vorübergehend zum Abbruch der Beziehungen zwischen der Versammlung und dem Regierungsrat geführt. Die jurassischen Stimmberechtigten nahmen die Verfassung am 20. März 1977 an, mit einem Ja-Anteil von 82,5 %. Ebenso erteilten sie der verfassunggebenden Versammlung den Auftrag, die kantonale Gesetzgebung zu schaffen und die Interessen des entstehenden Kantons zu wahren.
=== Kantonsgründung ===
Beide Kammern der Bundesversammlung genehmigten die Verfassung am 21. Juni 1977 – mit Ausnahme von Artikel 138, der aufgrund seiner «Unvereinbarkeit mit dem Geist der eidgenössischen Solidarität» keine Bundesgarantie erhielt. Ein weiterer Bundesbeschluss vom 9. März 1978 genehmigte die Schaffung des Kantons Jura. Am 5. September 1978 unterzeichneten Kurt Furgler, Ernst Jaberg und François Lachat im Namen des Bundesrats, des Berner Regierungsrats und der verfassunggebenden Versammlung das Abkommen über die Aufteilung der Güter zwischen den beiden Kantonen.Die Aufnahme eines neuen Kantons in die Eidgenossenschaft erforderte die Änderung von Artikel 1 der Bundesverfassung, der die Anzahl und die Auflistung der Kantone enthielt. Aus diesem Grund fand am 24. September 1978 ein obligatorisches Referendum statt. 82,3 % der Abstimmenden und sämtliche Kantone stimmten der Gründung des 23. Kantons zu, die geringste Unterstützung resultierte erwartungsgemäss im Kanton Bern mit 69,6 %. Am selben Tag zogen mehrere Tausend Jurassier zum Rathausplatz von Delémont, wo kurz nach 16 Uhr das offizielle Ergebnis verkündet wurde. Im November wählten die Jurassier ihre Regierung, ihr Parlament und ihre Vertreter in der Bundesversammlung. Die gesetzgeberische Arbeit der verfassunggebenden Versammlung war am 6. Dezember abgeschlossen und am 1. Januar 1979 erlangte der Kanton Jura seine volle Souveränität. Seither wird der Begriff Berner Jura nur noch für die südlichen, beim Kanton Bern verbliebenen Bezirke verwendet.
=== Spannungen unter den Separatisten ===
Unmittelbar nach der Kantonsgründung wichen die Interessen des RJ und der jurassischen Regierung voneinander ab. Der harte Kern um Roland Béguelin setzte seine kompromisslose Politik fort und verunglimpfte weiterhin den Berner Regierungsrat sowie den Bundesrat, da diese in der Jurafrage weiterhin unbeweglich seien. Die jurassische Regierung strebte zwar ebenfalls eine Wiedervereinigung mit dem Berner Jura an, wollte dies aber mit Dialog und Versöhnung erreichen. In der Folge verschlechterte sich ihr Verhältnis zu Béguelin zusehends und es kam zum Bruch zwischen den einstigen Weggefährten. Ebenfalls nicht mit dem Kurs ihrer Regierung einverstanden waren die Béliers. Während die Sangliers ihre Aktivitäten nach den Zwischenfällen von Tramelan und Cortébert deutlich zurückfuhren, lösten sich erstere 1981 organisatorisch vom RJ und gingen dazu über, Bern auf symbolische Weise zu bekämpfen. Beispielsweise stürzten sie am 1. Juni 1984 das Denkmal Le Fritz vom Sockel und stahlen zwei Tage später den kulturhistorisch bedeutenden Unspunnenstein, der über 15 Jahre lang verschwunden blieb.
=== Wechselwünsche von Vellerat und Ederswiler ===
Ab 1979 versuchte der Berner Regierungsrat, mit der jurassischen Regierung über die Gemeinden Vellerat und Ederswiler zu verhandeln, die nicht an der dritten Runde der Juraplebiszite teilnehmen durften. Dabei stellten sich die Berner den Tausch von Vellerat gegen Ederswiler vor. Der Bundesrat war jedoch im Januar 1980 der Ansicht, dass «der Anschluss […] an einen anderen Kanton keine einfache Grenzbereinigung, sondern eine Gebietsabtretung zwischen Kantonen» darstellte. Weiter hiess es, dass dies «die gegenseitigen Machtverhältnisse und das eidgenössische Gleichgewicht verändert […] Daher ist eine solche Angliederung an die Zustimmung von Volk und Ständen gebunden». Der Bundesrat war auch der Meinung, dass es besser sei, die Klärung der Frage zum Bezirk Laufen abzuwarten, bevor die Fälle Vellerat und Ederswiler geregelt werden. Die Jurassier lehnten den Tausch ab und beschuldigten die Berner, «das jurassische Territorium amputieren» zu wollen. Ein Tausch sei nur bei Abtretung des gesamten Berner Jura akzeptabel. Vertreter des Jura, Berns und des Bundes versuchten ab 1981 eine einvernehmliche Lösung zu finden. Aus Protest gegen die schleppenden Verhandlungen erklärte sich Vellerat am 11. August 1982 zur «freien Gemeinde». Sie richtete einen Grenzposten ein und stellte «Gemeindepässe» aus. Die Einwohner nahmen nicht mehr an kantonalen Abstimmungen teil und boykottierten auch die Volkszählung. Ederswiler wiederum reichte vergeblich mehrere Petitionen ein.
=== Noch kein Kantonswechsel des Laufentals ===
Seit 1974 stand fest, dass das Laufental vorläufig eine Berner Exklave sein würde. Ab 1976 prüfte die vom Volk gewählte Bezirkskommission Laufental sowohl einen Sonderstatus innerhalb des Kantons Bern als auch die Zugehörigkeit zu den Kantonen Basel-Landschaft, Basel-Stadt oder Solothurn. Zunächst zeigte nur Basel-Stadt ein echtes Interesse, den Bezirk Laufen aufzunehmen, was die beiden anderen in Zugzwang brachte: Basel-Landschaft hatte Bedenken, dass die Frage der Wiedervereinigung der beiden Basel gestellt werden könnte, und Solothurn befürchtete, dass in seinen Exklaven Kleinlützel und Leimental ebenfalls Sezessionswünsche entstehen könnten.Das parteiübergreifende Komitee «Ja zur besten Lösung» lancierte eine Volksinitiative mit der Frage «Wollt Ihr das Verfahren für den Anschluss des Bezirks Laufen an einen Nachbarkanton einleiten?» und reichte sie mit Unterstützung der Bezirkskommission am 18. November 1977 ein. Am 18. Juni 1978 nahmen die Laufentaler die Initiative mit 65,1 % der Stimmen an. In einem zweiten Schritt stimmten sie am 13. Januar 1980 darüber ab, welchem Kanton sie im Falle eines Anschlussverfahrens den Vorzug geben würden. Ihre Wahl fiel mehrheitlich auf Basel-Landschaft (51,5 %), während Solothurn (32,5 %) und Basel-Stadt (16,0 %) die Stimmen der Minderheit auf sich vereinten. In der dritten Runde am 16. März 1980 erhielt Basel-Landschaft (65,0 %) den Vorzug gegenüber Solothurn (35,0 %). Die Bezirkskommission erhielt somit den Auftrag, mit den Baselbieter Behörden sämtliche Modalitäten eines möglichen Kantonswechsels auszuhandeln. Die Verhandlungen dauerten knapp drei Jahre und mündeten in den Laufentalvertrag, der am 10. Januar 1983 unterzeichnet wurde.Die entscheidende Volksabstimmung war auf den 11. September 1983 angesetzt. Beide Seiten lieferten sich einen emotional geführten Abstimmungskampf, mit dem Probaselbieter Komitee «Ja zur besten Lösung» auf der einen und der Aktion bernisches Laufental (ABL) auf der anderen Seite, wobei letztere den Bezirk mit einer beispiellosen Propagandawelle überzog. Die Stimmberechtigten entschieden sich schliesslich bei einer Beteiligung von 93 % und mit 56,7 % der Stimmen überraschend deutlich für den Verbleib bei Bern. Die Berntreuen schienen sich durchgesetzt zu haben, doch dann überschlugen sich die Ereignisse.
== Auswirkungen der Berner Finanzaffäre ==
=== Beeinflussung durch geheime Zahlungen ===
Im August 1984 machte Rudolf Hafner, ein Revisor der bernischen Kantonsverwaltung, als Whistleblower die Verletzung verschiedener Vorschriften des Finanzhaushaltsgesetzes sowie den Missbrauch von Steuergeldern und Mitteln aus dem SEVA-Lotteriefonds öffentlich. Über ein Konto für «Unvorhergesehenes» sollen unter anderem heimlich hohe Geldbeträge an berntreue Organisationen im Jura und im Laufental geflossen sein. Ebenso sollen Gelder rechtswidrig dazu gedient haben, gesellige Anlässe der Kantonsverwaltung sowie Vergnügungsreisen und private Ausgaben von Regierungsräten zu begleichen. Als Folge der Enthüllungen setzte der Grosse Rat eine «Besondere Untersuchungskommission» ein. Ihr erster Bericht bestätigte im August 1985 sämtliche Vorwürfe, wobei die Geldbeträge zum Teil noch höher waren als ursprünglich angenommen. Allein in den Jahren 1980 bis 1983 hatte die Force démocratique 120'000 Franken für die Finanzierung ihrer Aktivitäten erhalten. 125'000 Franken gingen an Radio Jura bernois und 333'281 Franken an die ABL. Der Berner Regierungsrat gab im Oktober 1985 die Vorwürfe zu und erklärte, dass die geheimen Zahlungen zum Teil bereits 1974 begonnen hätten. Bis 1982 seien insgesamt 730'000 Franken an probernische antiseparatistische Organisationen gezahlt worden, um die Juraplebiszite und die Laufental-Abstimmungen zu beeinflussen. Der im März 1986 veröffentlichte Revisionsbericht der ABL wies ergänzend dazu nach, dass 85 % ihres Budgets durch Geheimzahlungen aus Bern finanziert worden war. Dies hatte es ihr ermöglicht, die Meinungsbildung im Laufental regelrecht zu dominieren. Die Berner Finanzaffäre beschäftigte Politik und Justiz für mehrere Jahre.
=== Neue Auseinandersetzung um das Laufental ===
Auftrieb erhielt angesichts der Enthüllungen die Laufentaler Bewegung, der im Jahr zuvor gegründete Dachverband der Probaselbieter Organisationen. Fünf Mitglieder reichten im September 1985 eine Abstimmungsbeschwerde im Grossen Rat ein und der Bezirksrat (wie die Bezirkskommission mittlerweile hiess) formulierte eine formelle Eingabe, um eine genauere Untersuchung durchzuführen und die ohne Rechtsgrundlage ausbezahlten Gelder zurückzuerstatten. Hinzu kam eine von Grossrat Jürg Schärer (POCH) eingereichte Motion, die angesichts der massiven Beeinflussung eine erneute Abstimmung im Laufental forderte. Der Grosse Rat beschloss einen Monat später, gar nicht erst auf die Beschwerde der fünf Laufentaler einzugehen – mit Hinweis auf die abgelaufene Beschwerdefrist; ebenso wies er Schärers Motion zurück. Die Eingabe des Bezirksrates nahm er lediglich als unverbindliche Petition entgegen.Daraufhin unternahm der Bezirksrat weitere Schritte und richtete eine neue Beschwerde an den Bundesrat, damit dieser eine unabhängige Untersuchungskommission einsetze und eine neue Abstimmung organisiere. Die Laufentaler Bewegung wiederum gelangte mit einer staatsrechtlichen Beschwerde ans Bundesgericht, das die Beschwerde am 18. März 1987 guthiess. Der Grosse Rat musste sich doch noch mit der Angelegenheit befassen, lehnte die Beschwerde am 3. November 1987 aber ab. Die Laufentaler Bewegung reichte eine weitere staatsrechtliche Beschwerde ein und machte geltend, dass der Kanton Bern widerrechtlich Einfluss auf die Meinungsbildung genommen habe. Am 20. Dezember 1988 verfügte das Bundesgericht, dass die Abstimmung von 1983 wiederholt werden müsse. Es war der Ansicht, dass der Berner Regierungsrat nicht das Recht gehabt habe, sich finanziell an der Abstimmungskampagne zu beteiligen.
=== Klage des Kantons Jura vor dem Bundesgericht ===
Am 14. November 1985 verlangte die jurassische Regierung vom Bundesrat eine detaillierte Untersuchung, da die finanzielle Unterstützung der antiseparatistischen Organisationen die Juraplebiszite von 1974/75 in unzulässiger Weise verfälscht hätten. Sie sollten wiederholt werden, um der Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, ihren Willen ohne Beeinflussung kundzutun. Der Bundesrat erklärte sich am 22. Januar 1986 für nicht zuständig und übertrug den Fall ans Bundesgericht. Gleichzeitig erklärte er sich bereit, weiterhin allen interessierten Parteien als Vermittler zu dienen. Als er am 24. Juni 1987 ein Wiedererwägungsgesuch ebenfalls ablehnte, forderte die jurassische Regierung die Bundesversammlung auf, den Bundesrat anzuweisen, sich mit ihrem Antrag zu befassen oder selbst die erforderlichen Massnahmen zu ergreifen. Die Bundesversammlung lehnte die Beschwerde am 9. Juni 1988 ab. Am 16. Januar 1989 ersuchte die jurassische Regierung das Bundesgericht, ihre Eingabe als staatsrechtliche Beschwerde zu behandeln. Sie forderte eine detaillierte Untersuchung der Geldströme, die Ungültigerklärung des zweiten und dritten Juraplebiszits in den Bezirken Courtelary, La Neuveville und Moutier sowie eine Wiederholung dieser Abstimmungen, wobei der Kanton Bern sämtliche Kosten und Auslagen zu tragen hätte.Das Bundesgericht wies die Eingabe am 13. März 1991 zurück. Der Kanton Jura habe nicht das Recht, sich in dieser Angelegenheit über mögliche Unregelmässigkeiten zu beschweren, da er zum fraglichen Zeitpunkt noch gar kein staatsrechtliches Subjekt war. Darüber hinaus seien die angefochtenen Abstimmungen vom Kanton Bern organisiert worden, weshalb sich grundsätzlich nur Berner Stimmberechtigte auf die internen Regeln berufen können, welche die Organisation dieses Kantons regeln – einschliesslich der Abspaltung eines Teils seines Territoriums und seiner Bevölkerung. Die jurassische Regierung ersuchte um eine Unterredung beim Bundesrat, die am 9. April stattfand. Sie kritisierte, dass die Fakten der Berner Finanzaffäre nicht sanktioniert würden, obwohl der Bezirk Laufen vor Bundesgericht Recht erhalten habe. Zudem zeige der Fall Moutier, wo sich die Mehrheitsverhältnisse geändert hatten, dass die Jurafrage noch lange nicht gelöst sei.
=== Wechsel des Laufentals zu Basel-Landschaft ===
Die Annullierung der Laufental-Abstimmung löste umgehend eine neue Debatte aus, die schon bald vergleichbare Ausmasse wie jene von 1983 annahm. Die Laufentaler Bewegung gab sich deutlich kämpferischer und aktivistischer als das Vorgängerkomitee «Ja zur besten Lösung». Sie pflegte auch enge Beziehungen zu den jurassischen Separatisten und besass mit der Jungen Kraft Laufental eine Jugendbewegung, deren Vorbild eindeutig die Béliers waren. Ebenso heftig und emotional trat die ABL auf. Daneben hob sich das gemässigte Komitee «Jo zum Baselbiet» durch sachliche Information und den Verzicht auf persönliche Angriffe ab. Die Volksabstimmung vom 12. November 1989 verzeichnete eine rekordhohe Stimmbeteiligung von 93,6 %. Dabei setzten sich die Befürworter des Anschlusses an Basel-Landschaft mit 51,7 % der Stimmen durch. Obwohl bei einer Nachkontrolle keinerlei Unregelmässigkeiten festgestellt worden waren, annullierte der Grosse Rat am 5. Februar 1990 die Abstimmung mit 102:78 Stimmen, indem er eine Beschwerde der ABL, entgegen der Anträge von Regierungsrat und Justizkommission, guthiess. Einen Monat später ging eine Beschwerde der Laufentaler Bewegung beim Bundesgericht ein. Dieses hob am 13. März 1991 den Grossratsbeschluss auf und wies die Vorinstanz an, die Abstimmung für gültig zu erklären. Der Grosse Rat fügte sich am 25. Juni mit 95 zu 20 Stimmen.Am 22. September 1992 sprachen sich die Stimmberechtigten des Kantons Basel-Landschaft mit 59,3 % der Stimmen für die Anpassung der Bestimmungen des Laufentalvertrags aus, worauf der Regierungsrat und der Landrat den Anschluss des Laufentals am 22. November 1991 bzw. am 22. Februar 1992 genehmigten. Nachdem auch die Bundesversammlung ihren Segen dazu gegeben hatte, folgte am 26. September 1993 das obligatorische Referendum auf Bundesebene. 75,2 % der Abstimmenden und alle Kantone stimmten dem Kantonswechsel zu, im Laufental selbst betrug die Zustimmung 52,6 %. Seit dem 1. Januar 1994 gehört der Bezirk Laufen zum Kanton Basel-Landschaft.
== Angespannte Beziehungen ==
=== UNIR-Initiative ===
Die Beziehungen zwischen den Kantonen Bern und Jura blieben weiterhin angespannt. 1988 reichte das Rassemblement jurassien eine kantonale Volksinitiative mit dem Namen UNIR («vereinigen») ein. Die Abkürzung stand für Une Nécessité Incontournable: la Réunification («Eine unumgängliche Notwendigkeit: die Wiedervereinigung»). Die Initiative forderte, dass «die institutionelle Einheit des Jura eines der Hauptziele des Kantons» sein müsse. Er müsse deshalb «die politischen, finanziellen, kulturellen und rechtlichen Mittel vorsehen, die zur Erreichung dieses Ziels geeignet sind». Konkret verlangte sie also die Ausarbeitung einer Ausführungsgesetzgebung zu dem seinerzeit von der Bundesversammlung nicht akzeptierten Wiedervereinigungsartikel 138. Nachdem das Parlament am 20. Dezember 1990 die Initiative ohne Gegenstimme angenommen hatte, reichte der Berner Regierungsrat umgehend eine staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht ein. Dieses erklärte die Initiative am 17. Juni 1992 für ungültig und forderte die jurassischen Behörden auf, ihr keine Folge zu leisten. Dennoch verabschiedete das jurassische Parlament ein Wiedervereinigungsgesetz.
=== Kommission Widmer ===
Am 9. März 1992 setzten der Bundesrat, der Berner Regierungsrat und die jurassische Regierung eine unabhängige Kommission ein, die eine Lösung der Jurafrage finden sollte. Ihr Vorsitzender war Sigmund Widmer, ehemaliger Nationalrat und früherer Stadtpräsident von Zürich. In ihrem Bericht, den sie am 7. April 1993 veröffentlichte, stellte die fünfköpfige Kommission fest, dass die Teilung des Jura ein Fehler gewesen sei. Sie schlug die Wiedervereinigung bis zum Jahr 2000 in zwei Etappen vor. Zuerst sollte eine paritätisch zusammengesetzte und von einem neutralen Vorsitzenden präsidierte Kommission mit Mitgliedern aus dem Kanton Jura und dem Berner Jura einen Dialog aufnehmen. Sie sollte Garantien zugunsten des Berner Jura nach einer möglichen Vereinigung ausarbeiten. Im Falle der Annahme einer Vereinbarung durch die Stimmberechtigten beider Regionen würde der Weg frei für die Gründung eines neuen Kantons. Sollte dieses Vorhaben scheitern, würde die Kommission einen Halbkanton «Jura-Süd» einem Autonomiestatut im Kanton Bern den Vorzug geben. Im schlechtesten Fall wäre ein Kantonswechsel von Gemeinden mit separatistischer Mehrheit ins Auge zu fassen.Die Kommission sprach auch die Regelung der Fälle Vellerat und Ederswiler an, die unverzüglich angegangen werden müsse. Während die Separatisten mit dem Kommissionsbericht zufrieden waren, reichten die Antiseparatisten eine von 19'000 Personen unterzeichnete Petition ein. Sie forderte den Berner Regierungsrat auf, nicht auf den Bericht einzugehen. Dieser lehnte die Schlussfolgerungen des Berichts am 2. Juli 1993 zwar ab, kam aber auch zum Schluss, dass der Fall Vellerat gelöst werden müsse, und nahm entsprechende Verhandlungen auf. Wieder kam die Idee eines Tausches von Vellerat gegen Ederswiler auf, was der Kanton Jura erneut ablehnte. In Ederswiler selbst war das Interesse an einem Kantonswechsel mittlerweile verflogen, auch hatte die Gemeinde keine gemeinsame Grenze mit dem Kanton Bern mehr.
=== Affäre Hêche und weitere Anschlagswelle ===
In der Nacht des 13. Oktober 1986 wurden der Gerechtigkeitsbrunnen in der Berner Altstadt vandaliert und die auf der Brunnensäule befindliche Justitiastatue fast vollständig zerstört. Obwohl sich die Béliers nie dazu bekannten, rechnete man ihnen diese Tat zu. Im Zusammenhang mit einer anderen Straftat legte der Aktivist Pascal Hêche ein Geständnis ab. Das Amtsgericht Bern verurteilte ihn im März 1989 zu 22 Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 200'000 Franken. Im Juli 1990 bestätigte das Berner Obergericht das Urteil, im Dezember 1991 auch der Kassationshof des Bundesgerichts. Der im Berner Jura wohnhafte Hêche floh in den Kanton Jura, wo er um Asyl ersuchte. Gestützt auf einen seit 70 Jahren nicht mehr angewandten Artikel der Bundesverfassung verweigerte die jurassische Regierung die Auslieferung Hêches an Bern, da seine Tat politisch motiviert gewesen sei; stattdessen sollte er die Haft im Kanton Jura absitzen. Kurz nach Haftantritt ging das Parlament im März 1993 auf ein Gnadengesuch ein und erliess die Hälfte der Haftstrafe. Der Berner Regierungsrat verzichtete auf eine Beschwerde vor Bundesgericht, da er eine solche für aussichtslos hielt.Eine unbekannte Täterschaft, die sich auf die zwei Jahrzehnte zuvor zerschlagene FLJ berief, verübte im September 1987 mehrere Brandanschläge auf Munitionsdepots der Armee und Schiessstände. Während die jurassische Regierung die Taten verurteilte und sie als kontraproduktiv für die Erreichung des Ziels der Wiedervereinigung bezeichnete, zeigten das RJ und die Béliers ein gewisses Verständnis. Am 5. April 1989 zerstörte ein Brandanschlag die historische Holzbrücke in Büren an der Aare. Ein beim Tatort gefundener Zeitungsartikel liess darauf schliessen, dass die Béliers damit die erstinstanzliche Verurteilung von Pascal Hêche rächen wollten; ein direkter Zusammenhang konnte jedoch nie nachgewiesen werden und die Täterschaft blieb unauffindbar. Im Mai 1992 brannte die kleine deutschsprachige Schule in der Mennonitensiedlung Montbautier nieder, ein Monat darauf das Sägewerk von Nationalrat Marc-André Houmard in Malleray (das bereits 1963 betroffen gewesen war). Die Anschlagswelle fand Anfang 1993 ein abruptes Ende: Der radikalisierte Separatist Christophe Bader, der sich zunehmend von den Béliers distanziert hatte, wollte aus Solidarität mit Hêche mehrere Sprengstoffanschläge verüben, darunter auf das Berner Rathaus. Als er am Morgen des 7. Januar auf dem Weg dorthin war, ging in seinem Auto eine Sprengladung zu früh hoch und er kam in der Explosion ums Leben. Die Bundesanwaltschaft verhaftete zwei Komplizen und fand in mehreren Verstecken Zünder und grössere Mengen Sprengstoff. Baders Beteiligung an den übrigen Anschlägen konnte nie restlos geklärt werden, ist aber anzunehmen.
=== Verständigung und Kantonswechsel von Vellerat ===
Der missglückte Sprengstoffanschlag und der Bericht der Kommission Widmer gaben den Anstoss zur politischen Beilegung des Jurakonflikts. Unter Vermittlung des Bundes fanden im Kanton Solothurn Geheimverhandlungen statt, die zu einer Verständigung zwischen den beiden Kantonsregierungen führten. Am 25. März 1994 unterzeichneten Bundesrat Arnold Koller, der Berner Regierungsrat Hermann Fehr und der jurassische Minister Jean-Pierre Beuret das «Abkommen über die Institutionalisierung des interjurassischen Dialogs». Der Kanton Jura verpflichtete sich, die Ergebnisse der Juraplebiszite nicht mehr in Frage zu stellen und das UNIR-Gesetz zurückzustellen. Das Abkommen schuf auch die Interjurassische Versammlung, deren Ziel es war, einvernehmliche Lösungen in der Jurafrage zu finden. Fünf Tage zuvor hatten die separatistischen Organisationen Rassemblement jurassien und Unité jurassienne zum Mouvement autonomiste jurassien (MAJ) fusioniert. Dieser interpretierte die Unterzeichnung durch die jurassische Regierung als «Verrat». Die aus 24 ernannten Mitgliedern bestehende und paritätisch zusammengesetzte Interjurassische Versammlung nahm ihre Arbeit am 11. November auf, unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundesrats René Felber.Das Abkommen räumte der Gemeinde Vellerat das Recht ein, über ihre Kantonszugehörigkeit abzustimmen. Der Berner Regierungsrat präsentierte am 30. Juni 1994 das «Vellerat-Gesetz», das der Grosse Rat am 7. November verabschiedete. Am 12. März 1995 nahmen es die Berner Stimmberechtigten mit einem Ja-Anteil von 84,3 % an (Vellerat selbst ohne Gegenstimme). Die Jurassier erteilten am 25. Juni ihre Zustimmung zum Beitritt mit einem Ja-Anteil von 91,9 %. Die Bundesversammlung setzte gemäss der damaligen Rechtslage ein obligatorisches Referendum an. Die Abstimmung fand am 10. März 1996 statt und ergab eine Ja-Mehrheit von 91,6 % sowie die Zustimmung aller Kantone; erneut resultierte in Vellerat keine einzige Gegenstimme. Der Übertritt erfolgte am 1. Juli 1996. Seit der Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung 1999 unterliegen Gebietsabtretungen zwischen Kantonen nur noch dem fakultativen Referendum.
Auf Anregung von Gemeindepräsident Maxime Zuber beschloss der Gemeinderat von Moutier Ende 1997 die Durchführung einer kommunalen Volksabstimmung über den Kantonswechsel der Stadt. Der Berner Regierungsrat wies darauf hin, dass diese rein konsultativ und rechtlich nicht bindend sein würde. Sie fand am 29. November 1998 statt und ergab eine Ablehnung von 50,5 %. In der Interpretation des Ergebnisses waren sich die Separatisten einig, dass nicht etwa ein Stimmungsumschwung erfolgt sei, sondern dass sich ein Teil der eigenen Anhänger gegen einen Alleingang des Bezirkshauptorts ausgesprochen hatte.
== Versuch der endgültigen Lösung der Jurafrage ==
=== Interjurassische Versammlung ===
In den ersten Jahren ihrer Tätigkeit unterbreitete die Interjurassische Versammlung Resolutionen zu verschiedenen Themen wie Wirtschaft, Gesundheit, Verkehr, Bildung und Kommunikation. Am 20. Dezember 2000 verabschiedete sie die Resolution 44, in der sie den Kanton Bern aufforderte, den Berner Jura bis Ende 2003 mit einem Autonomiestatut auszustatten. Ebenso sollten die grenzüberschreitende Zusammenarbeit deutlich ausgebaut und die Grundlagen für einen neuen Kanton erarbeitet werden, der beide Regionen umfasst. Die jurassische Regierung nahm die Resolution im Jahr 2001 vollumfänglich an, der Berner Regierungsrat jedoch nur teilweise, da er die vorgeschlagene Autonomie als zu weitreichend empfand.Im September 2003 brachte das MAJ die Volksinitiative Un seul Jura («Ein einziger Jura») zustande, welche die Prüfung eines neuen jurassischen Kantons mit sechs Bezirken durch die Interjurassische Versammlung forderte. Gegen den Willen der Regierung nahm das Parlament die Initiative am 17. November 2004 an, das Ausführungsgesetz am 26. April 2006. Der bernische Grosse Rat verabschiedete am 16. Juni 2004 ein Sonderstatut für den Berner Jura, das eine gewisse Autonomie mit Zuständigkeiten in den Bereichen Schule und Kultur vorsah und am 1. Januar 2006 in Kraft trat. Der im selben Jahr geschaffene Conseil du Jura bernois übernahm die dezentralisierte Verwaltung in den festgelegten Bereichen, hatte aber keine gesetzgeberische Funktion. Da die Separatisten bei den ersten Wahlen zu diesem Rat überraschend gut abschnitten, fühlten sie sich ermutigt, weiterhin die Wiedervereinigung anzustreben.Im Juni 2006 nahm die Interjurassische Versammlung ihre Arbeit an der Studie über einen neuen Kanton mit sechs Bezirken auf. Der am 18. Februar 2008 veröffentlichte Zwischenbericht sah nicht nur die Wiedervereinigung vor, sondern auch eine umfangreiche Gemeindefusion. Der neue Kanton, der seinen Namen und seine Flagge ändern würde, hätte dann nur noch sechs Gemeinden statt wie bisher 132; als Hauptort war Moutier vorgesehen. Separatistische Kreise priesen den Vorschlag als kühn und zukunftsgerichtet, während er auf probernischer Seite als zum Scheitern verurteilt galt. Am 4. Mai 2009 lag der Schlussbericht vor, der vier Varianten präzisierte: Die Wiedervereinigung von Kanton Jura und Berner Jura, die Schaffung zweier Halbkantone, die Schaffung eines neuen Kantons mit sechs Gemeinden sowie den «Status quo+», also ein Sonderstatus für den Berner Jura innerhalb des Kantons Bern. Während die jurassische Regierung sich für die Wiedervereinigung aussprach, bevorzugte der Berner Regierungsrat den «Status quo+».
=== Ablehnung der Wiedervereinigung ===
Verhandlungen beider Kantonsregierungen über die Durchführung einer Volksbefragung mündeten am 20. Februar 2012 in der Unterzeichnung eines Abkommens durch die jurassische Ministerin Elisabeth Baume-Schneider und den Berner Regierungsrat Bernhard Pulver. Die Stimmberechtigten des Kantons Jura und des Berner Jura sollten darüber entscheiden können, ob Verhandlungen über einen aus beiden Regionen bestehenden neuen Kanton aufgenommen werden sollten. Für den Kanton Jura war eine Abstimmung über einen neuen Verfassungsartikel vorgesehen, im Berner Jura eine konsultative Abstimmung. Im Falle einer Zustimmung in beiden Gebieten würden Verhandlungen über ein interkantonales Konkordat beginnen, das die weiteren Schritte festlegen würde. Nach einer weiteren Abstimmung über das ausgehandelte Konkordat würde eine verfassunggebende Versammlung die Verfassung des neu zu schaffenden Kantons ausarbeiten. Sollte die dritte Abstimmung über die Verfassung ebenfalls eine Mehrheit ergeben, entstünde nach Zustimmung der Bundesversammlung ein neuer Kanton.Während am 24. November 2013 im Kanton Jura eine Ja-Mehrheit von 76,6 % für einen neuen gemeinsamen Kanton resultierte, sprach sich der Berner Jura mit einem Nein-Anteil von 71,9 % dagegen aus. Im Berner Jura verzeichnete nur Moutier eine zustimmende Mehrheit (55,4 %), in Belprahon gab es ein Unentschieden. Gemäss dem Abkommen von 2012 konnten innerhalb von zwei Jahren Gesuche für die Durchführung kommunaler Abstimmungen gestellt werden, bei denen verbindlich die Frage nach einem Wechsel zum Kanton Jura gestellt werden sollte. Neben Moutier machten auch Belprahon, Crémines, Grandval und Sorvilier von dieser Möglichkeit Gebrauch. Noch fehlte dafür eine gesetzliche Grundlage. Der Berner Regierungsrat legte im Oktober 2015 einen Entwurf vor, den der Grosse Rat am 26. Januar 2016 billigte. Im Mai 2017 erklärten die Gemeinden Crémines und Grandval, doch keine Abstimmung durchführen zu wollen; als Grund nannten sie den Verzicht auf ein Gemeindefusionsprojekt mit Moutier.Um Unregelmässigkeiten möglichst zu verhindern, vereinbarten Bundesrätin Simonetta Sommaruga und die Exekutiven beider Kantone im August 2016 mehrere für die Schweiz ungewöhnliche Massnahmen. Beispielsweise stellte das Bundesamt für Justiz Wahlbeobachter, die in keinem der beiden Kantone wohnten. Briefwahlstimmen mussten an das Bundesamt zurückgeschickt werden anstatt wie üblich an die Gemeindeverwaltung. Der Transport der Stimmzettel war zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen unterworfen. Zur Verhinderung von «Abstimmungstourismus» waren Personen, die nach einer festgelegten Frist (drei Monate vor der Abstimmung) zuzogen, von der Stimmabgabe ausgeschlossen. Im Gegensatz zu den Juraplebisziten der 1970er Jahre blieb es vor der Abstimmung friedlich, gegenseitige Provokationen und Anfeindungen beschränkten sich auf Beiträge in den sozialen Medien.
=== Kantonswechsel von Moutier ===
Bei der kommunalen Abstimmung am 18. Juni 2017 beschloss Moutier mit einem Anteil von 51,7 % den Wechsel zum Kanton Jura, die Beteiligung betrug 89,7 %. Hingegen sprachen sich am 17. September Belprahon mit 51,5 % und Sorvilier mit 66,1 % für den Verbleib beim Kanton Bern aus. In der Folge löste sich die Interjurassische Versammlung auf, während der Kanton Jura die Wiedervereinigungsgesetze UNIR und Un seul Jura aufhob. Nur wenige Tage nach der Abstimmung in Moutier gingen ein Dutzend Beschwerden wegen Unregelmässigkeiten ein. Allgemein rechnete man damit, dass sie zurückgewiesen würden. Umso grösser war die Überraschung, als Regierungsstatthalterin Stéphanie Niederhauser am 2. November 2018 das Ergebnis annullierte. Als Begründung nannte sie «Neutralitätsprobleme bei der von der Gemeinde herausgegebenen Abstimmungspropaganda» und «schwerwiegende Mängel bei der Organisation der Abstimmung». Die jurassische Regierung drückte ihre Verwunderung aus, da diese Abstimmung «die meistüberwachte in der Geschichte der Schweiz» gewesen sei; einige Tage später protestierten mehr als 5000 Personen in Moutier. Am 23. August 2019 wies das Berner Verwaltungsgericht eine Beschwerde des Gemeinderats und des Komitees Moutier ville jurassienne zum Teil zurück. Der Vorwurf der «fehlenden systematischen Kontrolle der Stimmberechtigten» sei zwar tatsächlich unzutreffend gewesen, jedoch hätten einzelne festgestellte Unregelmässigkeiten teilweise einen Einfluss auf das Ergebnis gehabt.Das Mouvement autonomiste jurassien verzichtete darauf, das Urteil ans Bundesgericht weiterzuziehen. Dieser Schritt machte den Weg frei zu weiteren Verhandlungen zwischen den kantonalen Exekutiven und dem Bund. Sie einigten sich im Grundsatz darauf, die Abstimmung zu wiederholen, das Stimmregister zwecks besserer Kontrolle in elektronischer Form zu führen und dem Bundesamt für Justiz die alleinige Kontrolle des Wahlbüros zu überlassen. Schliesslich fand die zweite Abstimmung am 28. März 2021 statt. Die Stimmberechtigten von Moutier sprachen sich überraschend deutlich für einen Kantonswechsel aus; bei einer Beteiligung von 88,4 % stieg der Anteil der Ja-Stimmen auf 54,9 %. Mehrere tausend Menschen feierten das Ergebnis auf dem Bahnhofplatz, obwohl wegen der COVID-19-Pandemie keine Bewilligung für eine öffentliche Versammlung erteilt worden war. Im August 2022 reichten elf Einwohner von Moutier eine Beschwerde gegen das Ergebnis ein. Sie machten geltend, dass der Kanton Jura Zusicherungen zur Zukunft des Spitals gemacht habe, die er nun nicht einhalten wolle. Zwei Monate später erklärte die Regierungsstatthalterin die Beschwerde für unzulässig.
=== Ausblick ===
Der Wechsel der Gemeinde Moutier zum Kanton Jura soll am 1. Januar 2026 erfolgen. Voraussetzung dafür ist, dass die Stimmberechtigten der Kantone Bern und Jura sowie die Bundesversammlung ihre Zustimmung geben. Dies soll im Laufe des Jahres 2024 geschehen. Mehrere Abteilungen der Verwaltungsregion Berner Jura, die bisher in Moutier konzentriert waren, werden schrittweise nach Tavannes und Reconvilier verlegt. Im Gegenzug hat der Kanton Jura zugesagt, mehrere Abteilungen der kantonalen Verwaltung von Delémont nach Moutier zu verlegen, darunter die Steuerverwaltung. Seitens der Kantons- und Bundesbehörden gilt die Jurafrage als gelöst. Gegenteiliger Meinung sind die Separatisten, die insbesondere auf das sehr knappe Ergebnis in Belprahon hinweisen. Die Antiseparatisten wiederum sind besorgt, dass der Berner Jura durch den Wegfall der mit Abstand bevölkerungsreichsten Gemeinde stark an Bedeutung verlieren wird und der Sonderstatus mit garantierten Sitzen im Regierungsrat und Grossen Rat in Frage gestellt werden könnte.
== Literatur ==
Christian Moser: Der Jurakonflikt – eine offene Wunde der Schweizer Geschichte. NZZ Libro, Zürich 2020, ISBN 978-3-03810-463-6.
Hans Peter Henecka: Die jurassischen Separatisten – Eine Studie zur Soziologie des ethnischen Konflikts und der sozialen Bewegung. Verlag Anton Hain, Meisenheim am Glan 1972, ISBN 3-445-00942-2.
Beat Junker: Geschichte des Kantons Bern seit 1798. Band III: Tradition und Aufbruch 1881–1995. Historischer Verein des Kantons Bern, 1996, ISSN 0250-5673 (unibe.ch [PDF; 1,5 MB; abgerufen am 22. März 2023]).
Jean-Pierre Molliet: Les événements qui ont modelé l’histoire jurassienne. Éditions D+P, Delémont 2017, ISBN 978-2-9701182-1-3.
Clément Crevoisier (Hrsg.): Atlas historique du Jura. Société jurassienne d’émulation, Porrentruy 2012, ISBN 978-2-940043-49-1.
== Weblinks ==
François Kohler, Bernard Voutat, Peter Gilg: Berner Jura. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
François Kohler: Jura (Kanton). In: Historisches Lexikon der Schweiz.
Jurafrage (Übersicht) im Lexikon des Jura / Dictionnaire du Jura
Laufentalfrage – Separatismus / Antiseparatismus im Laufental im Lexikon des Jura / Dictionnaire du Jura
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Jurafrage
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Kaditzer Linde
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= Kaditzer Linde =
Die Kaditzer Linde ist ein Naturdenkmal auf dem Kirchhof der Emmauskirche in Kaditz, einem Stadtteil von Dresden in Sachsen. Diese Sommerlinde (Tilia platyphyllos) hat eine Höhe von 20 Metern und ist nach unterschiedlichen Schätzungen 500 bis 1000 Jahre alt und damit der älteste Baum Dresdens. Der Umfang des Stammes beträgt etwa 9 Meter. Die Linde wurde 1818 bei einem großen Dorfbrand schwer beschädigt. Danach teilte sich der Stamm und bildete zwei getrennte Stämmlinge. Durch die Brandschäden entwickelte die Linde einen abnormalen Wuchs, um ihre Schäden so gut wie möglich zu kompensieren. Sie wurde oft beschrieben, abgebildet und war ein Anschauungsobjekt der Dendrologie. Bereits im 19. Jahrhundert zählte sie mit einem Umfang von über 10 Metern zu den größten Linden in Deutschland. Als Gerichtslinde soll sie im Mittelalter auch als Pranger gedient haben. Das „Deutsche Baumarchiv“ in Gießen zählt die Linde zu den „National bedeutsamen Bäumen (NBB)“, wobei der Stammumfang in einem Meter Höhe als wichtigstes Auswahlkriterium dient.
== Lage ==
Die Linde steht im Dorfkern von Kaditz, einem Dresdner Stadtteil am rechten Ufer der Elbe, auf einer flachen, hochwasserfreien Anhöhe, etwa sechs Kilometer nordwestlich der Inneren Altstadt Dresdens. Am Ortsrand führt südlich die Kaditzer Flutrinne vorbei, die zwischen 1918 und 1922 an der Stelle eines erodierenden, bei Hochwasser überfluteten Altarms der Elbe angelegt wurde, ein Teil des Hochwasserschutzes in Dresden. Die Linde steht in einer Höhe von etwa 110 Metern über Normalnull, etwa 10 Meter über dem Normalpegel der Elbe. Sie befindet sich neben der evangelischen Emmauskirche, die von einem 5400 Quadratmeter großen Friedhof umgeben ist. Durch Pfarrhaus und Kirche, die etwa 15 Meter voneinander entfernt stehen, ist sie vor Stürmen und Unwettern geschützt. Mit ihrer Krone überspannt sie einen großen Teil des Kirchhofs. In der Nähe der Linde steht ein Ehrenmal für gefallene Soldaten der beiden Weltkriege. Der Boden um die Linde ist nicht versiegelt, sondern teilweise mit Rasen bewachsen oder mit Erdboden bedeckt. Wenige Meter daneben steht die laut Kirchenbuch im Jahre 1622 gesetzte Schulmeisterlinde, der älteste Gedenkbaum Dresdens. Durch Kaditz führt der über 1200 Kilometer lange Elberadweg unmittelbar an der Linde vorbei.
== Geschichte ==
=== Entwicklung bis zum Jahr 1818 ===
Im Jahre 1273 wurde die Emmauskirche als „Laurentiuskapelle“, die dem heiligen Laurentius geweiht war, erstmals erwähnt. Vermutungen zufolge soll die Linde beim Bau der Kapelle in ihrer unmittelbaren Nähe gepflanzt worden sein. Im Jahre 1430 steckten die Hussiten die Laurentiuskapelle in Brand. Der Wind stand dabei günstig, so dass die Linde nur geringe Brandschäden davontrug. Um das Jahr 1500 wurde das Kirchengebäude neu gebaut und mit ihm der älteste Friedhof in Kaditz angelegt, der bis in das Jahr 1862 einzige und allgemeine Begräbnisstätte war. Im Jahre 1637, als der Dreißigjährige Krieg auch in Sachsen tobte, stand die Kirche erneut in Flammen. Die Linde blieb dabei wiederum wie durch ein Wunder beinahe unversehrt. Die Kirche war nach dem Brand jahrelang eine ausgebrannte Ruine, bis sie ab 1650 wiederhergestellt wurde. Reste der Laurentiuskapelle sind in dem heutigen Kirchturm enthalten. Im Dreißigjährigen Krieg lagerten schwedische Truppen unter der Linde. Im Jahre 1686 wurde das Pfarrhaus neben der Kirche erbaut, so dass sich nun die Linde zwischen den beiden Gebäuden befindet.
Der Kirchhof wurde im Jahre 1737 zwar vergrößert, aber aufgrund der noch immer bestehenden Platznot wurden die Gräber teilweise bis dicht an die Linde heran angelegt, so dass die Grabstellen in den bei Linden typischen weit verzweigten Wurzelbereich des Baumes hineinreichten. Im Jahre 1839 heißt es in der Zeitschrift Saxonia, dass sich die Linde „wahrscheinlich durch die umliegenden Leichen genährt“ hätte. Mit dem zunehmenden Alter und dem immer mächtiger werdenden Stammumfang wurde die Linde immer bekannter. Mit einem Stammumfang von 21 Ellen, das entspricht 11,90 Meter, war sie bereits ein markantes Objekt. Deshalb veranlasste der Herzog von Kurland, der dritte Sohn von Friedrich Augusts II. und Enkel von August dem Starken, um das Jahr 1750, sie geometrisch aufnehmen zu lassen. Die Emmauskirche wurde von 1750 bis 1756 im Inneren barock umgestaltet, wobei auch ein Deckengemälde angebracht wurde. Es zeigt einen Apokalyptischen Engel mit fünf Leuchtern und im Hintergrund einen starken, durch seinen Umfang und seine Größe merkwürdig erscheinenden Baum, der die Kaditzer Linde darstellen sollte. Auf einem Kupferstich des Radierers und Malers Johann Christian Klengel aus dem Jahre 1782 ist die Linde mit Gräbern im Kirchhof neben der Kirche zu Kaditz zu sehen. Dies ist die älteste bekannte bildnerische Darstellung des Baumes. Die Linde wurde im Jahre 1795 als „Flaggschiff aller Linden“ bezeichnet. Bei einem Brand im östlichen Teil von Kaditz im Jahre 1802, bei dem auch das Pfarrgebäude beschädigt wurde, blieb die Linde wiederum ohne größere Schäden. Eine Lithografie des Malers und Zeichners Gustav Taubert, vermutlich aus dem Jahre 1802, zeigt das bis auf die Außenmauern abgebrannte Pfarrhaus, dahinter die Linde und die Kirche. Napoleonische Truppen zogen im Jahre 1812 durch das Dorf an der Linde vorbei. Im Jahre 1818 heißt es in Dresden und das Elbgelände des Vereins zur Förderung Dresdens und des Fremdenverkehrs auf S. 128: „Auf dem Friedhof eine uralte Linde.“
=== 19. Jahrhundert ===
Ebenfalls im Jahre 1818 kam es in Kaditz zu einer großen Brandkatastrophe, diesmal mehr im westlichen Teil. Dabei brannten 19 Bauernhäuser und 30 Scheunen und auch das wenige Meter neben der Linde stehende Pfarrhaus nieder. Das Feuer sprang vom Pfarrhaus zur großen Linde über und zerstörte eine Stammhälfte, die bis über den Stammkern vollkommen verbrannte. Ein weiteres Überspringen des Feuers vom Pfarrhaus zur Kirche wurde durch die Linde verhindert. Trotz des großen Schadens blieb die Linde am Leben. Der bis dahin zwar hohle, aber noch vollständig geschlossene Stamm hatte nun eine große Öffnung zum Pfarrhaus hin. Im Inneren zerfiel die Linde allmählich. Der Hohlraum im Stamm war so groß, dass man ihn betreten und dort einen Tisch und Stühle aufstellen konnte. Auch sollen sich darin mehrmals Jugendliche zum Musizieren getroffen haben. Zur Erhöhung der Standfestigkeit des Baumes und zur Stärkung der Stammruine entwickelten sich im Laufe von Jahrzehnten Wurzeln zu starken Sekundärstämmen. Aufgrund dieses Phänomens war die Linde oft Exkursionsziel von Lehrenden und Lernenden auf dem Gebiet der Dendrologie, der Wissenschaft von der Baum- und Gehölzkunde. Die Bekanntheit der Linde wurde nach dem Brand und der Entwicklung zur Abnormität immer größer. Es entstanden von der Linde zahlreiche Zeichnungen und Gemälde, von denen eines auf einer Kunstausstellung in Dresden gezeigt wurde, was zur steigenden Popularität der Linde beitrug. In landesweit erscheinenden Journalen und Zeitschriften las man von ihrem Schicksal, wobei die Verfasser nicht mit Superlativen hinsichtlich Alter und Schicksal der Kaditzer Linde sparten.
Im Jahre 1823 berichtete Johann Gottfried Ziller, der damalige Kantor: „Bemerkenswert ist, dass die Natur die inneren Wände in der Höhlung des Stammes nach und nach wieder mit neuer Rinde überkleidet und dem Stamm neues Leben bereitet hat.“ Im Jahre 1829 wurde der unterste schwere Ast auf Veranlassung des Superintendenten Karl Christian Seltenreich, Pastor an der Kreuzkirche in Dresden, mit Säulen und Balken gestützt, um einem Ausbrechen entgegenzuwirken. Diese Konstruktion hatte die Form eines Tores, das wie Mauerwerk verputzt wurde, um ihr den Anschein eines steinernen Säulenwerkes zu geben. Sachsens Kirchen-Galerie aus dem Jahre 1836 enthält Angaben zur Größe des Stammes und einen Vergleich zu anderen Linden: „Auf dem Kirchhofe zu Kaditz befindet sich eine Linde, die ihres Umfanges und hohen Alters wegen bemerkenswerth ist. Die bekannte große Linde bei Augustusburg mißt 18 ½ Ellen im Umfange ihres Stammes. Eine Linde in Schwaben wird von 18 Ellen Stammesumfang und als die älteste und stärkste in Deutschland aufgeführt. Diese, auf dem Kirchhofe zu Kaditz, mißt am Fuße 19 ¾ Ellen. Der Greisenbaum ist hohl, und der größte Durchmesser seiner Höhlung beträgt 5 Ellen.“ Ein Beitrag in der Zeitschrift Saxonia aus dem Jahre 1839 mit der Überschrift Die große Linde auf dem Kirchhofe zu Kaditz bei Dresden vergleicht die Kaditzer ebenfalls mit der Augustusburger Linde: „Auf dasigem Kirchhofe, dem Hauptthore gegenüber zwischen der Kirche und dem Pfarrhause, befindet sich jene durch Größe und Alter ausgezeichnete Linde. Ihr Stamm übertrifft die Augustusburger Linde von 18 ½ Elle Umfang, denn die Kaditzer faßt in der stärksten Breite 21 Ellen.“ In der Zeitschrift Das Vaterland der Sachsen aus dem Jahre 1844 wird ausführlich über die Kaditzer Linde berichtet:
Der Zeichner und Lithograf Carl Wilhelm Arldt fertigte um das Jahr 1840 mehrere Ansichten von der Linde an. Zwei davon entstanden nach Zeichnungen von Julius Fleischmann, eine davon als farbige Lithografie mit dem Titel Die große Linde auf dem Kirchhofe zu Kaditz.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts knickte eine morsch gewordene Stütze unter der großen Last zusammen und der darauf liegende Hauptast brach ab. Im Jahre 1864 heißt es in der Zeitschrift Die Dioskuren: Deutsche Kunst-Zeitung im Kapitel Deutsche Waldbäume: „Noch kolossaler ist die alte Linde auf dem Kirchhofe des Dorfes Kaditz bei Dresden. Ihr Stamm hat einen Umfang von 40 Fuß und einen Durchmesser von 12 Fuß. Sie ist vollständig ausgehöhlt, doch sind die inneren Wände mit frischer Rinde bekleidet. Sie scheint, nach einem im Holze verwachsenen Halseisen zu urtheilen, in der Vorzeit als Pranger gedient zu haben.“ Um das Jahr 1875 wurde an der Bruchstelle des Astes ein Gitter angebracht, um das Eindringen in den Hohlraum des Stammes zu verhindern. Das Gitter soll von einigen Fenstern des alten Pfarrhauses stammen. Bis dahin wurde der Hohlraum von den Dorfbewohnern, vor allem von den Jugendlichen, genutzt, um darin Unfug zu treiben. Das Gitter wurde einige Jahre später mit einem Schloss versehen, für das man in der Pfarrei den Schlüssel erhalten konnte.Im Jahre 1890 wurde in der Zeitschrift Die Gartenlaube in der Reihe Deutschlands merkwürdige Bäume von der Kaditzer Linde berichtet: „Ungefähr in der Mitte des Dorfes liegt die hübsche Kirche; zwischen ihr und dem Pfarrhause, mitten unter grünbewachsenen und steingeschmückten Grabstätten aber erhebt sich die weitberühmte Kaditzer Linde. Der staunenswerthe Baumkoloß hat 11 Meter Stammumfang; das Innere des Stammes ist völlig hohl und deshalb sind seit lange Stützen nothwendig geworden. An der einen Seite ist die Rinde herausgebrochen; die Stütze war morsch geworden, die Rinde konnte den starken Ast nicht mehr tragen und wurde mit diesem fortgerissen. Besonders merkwürdig ist nun, daß sich innen ringsum die Rinde neu gebildet hat.“
=== Neuere Zeit ===
Die Gemeinde Kaditz verlor im Jahre 1903 ihre Selbstständigkeit und wurde nach Dresden eingemeindet. Aus der Dorflinde wurde ein Großstadt-Idyll, so pries man die Linde auf Postkarten an. In der Tageszeitung Sächsische Nachrichten stand im Jahre 1909: „Zu den ältesten Bäumen Sachsens, ja vielleicht Deutschlands, gehört die gewaltige Linde auf dem Friedhofe des Dorfes Kaditz, der Umfang betrug 12,5 und der Durchmesser 4 m.“ Am 7. Juni 1925 wurde in etwa 20 Meter Entfernung von der Linde ein Kriegerehrenmal mit einem großen, in Stein gehauenen Adler mit Blickrichtung zur Linde feierlich geweiht. Im Jahre 1945 soll sich in den ersten Tagen nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bewohner von Kaditz in der Nacht im hohlen Stamm versteckt haben, um so den Razzien in den Häusern zu entgehen. Um das Jahr 1960 wurden sehr alte Gräber im Wurzelbereich der Linde freigelegt und geräumt. Mit den Jahren bildeten sich aus dem hohlen und halbseitig geöffneten Stamm ein Hauptteil und ein sehr kleiner zweiter Stammteil. Der Raum zwischen den beiden Stammteilen wurde mit der Zeit immer größer. Der damalige Pfarrer Karl-Heinz Scharf, der sich intensiv mit der Biographie der Linde beschäftigte und damit zur Popularität der Linde beitrug, führte um das Jahr 1970 Brautpaare nach der kirchlichen Trauung durch den geteilten Stamm. Damit wollte er den Jungvermählten versinnbildlichen, dass sie auch auf ihrem gemeinsamen Lebensweg fest zusammenhalten müssen, was immer auch geschieht. Die zum Schutz angebrachten Gitter wurden jeweils für diesen Anlass geöffnet.
Der Stamm der Linde wird seit dem Jahre 1975 durch zwei neue Gitter geschützt. Sie wurde am 3. Januar 1985 mit 30 weiteren Bäumen im Stadtgebiet laut Beschluss 266/85 des Rates der Stadt Dresden mit der Objektnummer dd 041 zum Naturdenkmal erklärt. Mit der Unterschutzstellung sind regelmäßige Kontrollen und Pflegemaßnahmen verbunden. Im Jahre 1996 wurde für 16.000 Deutsche Mark eine neue Kronenverspannung angebracht. Im Jahre 1997 beantragte eine Schweizer Firma die Rechte für einen Kiestagebau auf Kaditzer Gemeindegebiet bis weit über das Jahr 2010 hinaus. Dadurch wäre der Grundwasserspiegel so weit gesunken, dass die Linde wohl trockengefallen wäre. Das Regierungspräsidium des Regierungsbezirks Dresden lehnte den Antrag nach dem Widerstand zahlreicher Bewohner und von öffentlichen Institutionen jedoch ab. Im Jahre 2008 drohte der Ast des kleinen Stammteiles mit dem oberen Rindenstück auszubrechen. Deshalb wurde er mit einer Metallstrebe gestützt. Beim Jahrhunderthochwasser der Elbe im Jahre 2002 war Kaditz völlig vom Wasser umschlossen, niedere Ortsteile waren überflutet. Die Jahrhundertflut überströmte die meterhohe Friedhofsmauer und überschwemmte die Gräber im Friedhof. Am höchsten Punkt der Umgebung, an der Schwelle der Kirche und kurz vor dem Stammfuß der Linde, machte die Flut halt. Im Jahre 2003 wurden neben dem alten Naturdenkmalzeichen mit der Eule das neue Zeichen und eine neue Informationstafel angebracht. Auch in jüngerer Zeit berichten regelmäßig Zeitungen und Bücher über die Linde. Der Forstwissenschaftler und Naturschützer Hans Joachim Fröhlich, Initiator des Kuratoriums Alte liebenswerte Bäume in Deutschland e. V., schrieb im Jahre 2000 in Alte Liebenswerte Bäume in Deutschland: „Die Linde ist ein Monument von einem Baum mit vielen Füßen, Armen und Körpern.“ Die Dresdner Neuesten Nachrichten berichteten am 3. April 2004 mit der Überschrift Methusalem der Bäume. Kaditzer Linde: „Älter als die Stadt: Seit einem Dorfbrand im Jahre 1818 nur ein Torso, treibt die Linde an der Kaditzer Kirche noch jedes Frühjahr neu aus. Mit einem geschätzten Alter von tausend Jahren gilt sie als Dresdens betagtester Baum.“
== Beschreibung ==
Die Baumart wird unterschiedlich benannt. Das Umweltamt der Landeshauptstadt Dresden als Untere Naturschutzbehörde hat die Linde als Sommerlinde (Tilia platyphyllos) auf dem Grundstück Altkaditz Nummer 27 erfasst. In einem Teil der Literatur wird sie ebenfalls als Sommerlinde bezeichnet. Bei anderen wird sie jedoch fälschlicherweise Winterlinde (Tilia cordata) genannt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass im Beschluss von 1985 von einer Winterlinde in Altkaditz 25 die Rede ist.
Der Stamm besteht aus zwei voneinander getrennten Teilen. Den kleineren Stammteil stützt eine Metallstrebe. Den größeren, der von einer Sitzbank umgeben ist, halten zwei Stahlstangen, die von der Krone schräg zum Boden gespannt und mit Gurten, die im Jahre 1995 die zuvor angebrachten Stahlringe ersetzten, in etwa halber Baumhöhe am Stämmling befestigt sind. Zwischen beiden Stammteilen befinden sich mehrere Schutzgitter, um ein Eindringen in die Stammhöhlung zu verhindern. Auf dem größeren Stammteil sitzt eine recht große Krone aus überwiegend jüngeren Ästen. In den vergangenen Jahrhunderten wurden die großen Äste immer wieder beschnitten, damit sie bei Stürmen an Kirche und Pfarrhaus keine Schäden anrichten konnten, aber auch, um den hohlen und geschwächten Stamm vor der Zerstörung durch die große und schwere Krone zu bewahren. Eine Kronensicherung mit drei im Boden verankerten Stahlseilen und mehreren Seilen zwischen den Ästen soll Astausbrüche vermeiden. Der Hauptstamm reicht weit nach oben und von dort gehen die zahlreichen Äste ab. Im Jahre 2004 hatte die Linde eine Höhe von 20 bei einem Kronendurchmesser von 17 Metern.Bis zum Brand im Jahre 1818 war der Stamm zwar bereits hohl, aber noch vollständig geschlossen. Damals verkohlte ein Teil der Ummantelung und es bildete sich eine Öffnung. Als der Baum später einen weiteren großen Hauptast verlor, weil eine morsche Stütze unter der Last gebrochen war, erweiterte sich die Öffnung. Mit der Zeit teilte sich der Stamm in zwei Hälften, deren Abstand zueinander immer größer wurde. Gegenwärtig besteht der kleinere Stammteil, der völlig isoliert in mehreren Metern Abstand zum Hauptstamm stehengeblieben ist, nur noch aus einem etwa 20 × 100 Zentimeter großen Stammstück. Mitbedingt durch Klimaeffekte wie die Dürre und Hitze in Europa 2018, verschlechterte sich der Zustand des kleinen Nebenstamms ab 2020. Im Jahr 2021 trieb er erstmals nicht mehr aus und starb in der Folge ab, wobei der einzige von ihm ausgehende Ast abbrach. Die größere Stammhälfte, die 1818 nicht vom Feuer beschädigt wurde, ist ungewöhnlich vielstämmig und weist Öffnungen auf. Die Linde bildete nach der Brandkatastrophe starke Sekundärstämmlinge, wodurch sich die Standfestigkeit erhöhte. Sie sind ein Teil des heutigen Stammes. Nach dem Feuer bildete sich über den Brandwunden und auch teilweise auf der Innenseite des hohlen Stammes neue Rinde, durch die die starken Hauptäste Nahrung erhalten. Die Sekundärstämmlinge und die Rindenbildung werden teilweise als „Phänomen“ oder „Wunder“ angesehen. An der Linde befindet sich eine Informationstafel mit folgender Inschrift:
=== Stammdurchmesser ===
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Berichte mit konkreten Maßangaben unterschiedlicher Längenmaß-Einheiten. Im 19. Jahrhundert wurde der Stammumfang noch über 10 Meter gemessen, der seit der Schädigung des Stammes bei der Brandkatastrophe im Jahre 1818 abgenommen hat. In Sachsens Kirchen-Galerie wurde im Jahre 1836 ein Stammumfang von 19 ¾ Ellen genannt. Saxonia nannte im Jahre 1839 einen Umfang von 21 Ellen. Das Vaterland der Sachsen des Jahres 1844 bezeichnete den Stammumfang mit 39 ½ Fuß. Im Jahre 1856 wurde in Flora oder allgemeine botanische Zeitung der Umfang am Stammfuß mit 18 Ellen angegeben. Im Archiv für die Sächsische Geschichte wurde im Jahre 1863 ein Umfang von knapp 40 Fuß genannt. Im Jahre 1874 hieß es in Unsere Zeit, einer Monatsschrift des Conversations-Lexikons, der heutigen Brockhaus Enzyklopädie, im Kapitel Die Pflanzenriesen unserer Erde: „Die größte Linde dürfte gegenwärtig die auf dem Kirchhofe zu Kaditz bei Dresden sein, die 27 Ellen Umfang messen soll.“ Der Botaniker und Paläontologe Heinrich Göppert gab im Jahre 1878 im Botanischen Jahresbericht einen Umfang von 13 Meter an. Die Gartenlaube des Jahres 1890 nennt einen Umfang von 11 Metern. Der Großherzogliche Oberförster Ern. Faber gab im Jahre 1897 in einem Artikel mit der Überschrift Unsere Baumriesen einen Umfang von immer noch 40 Fuß an, was etwa 12,2 Meter entspricht. Mit diesen Umfangsangaben des 19. Jahrhunderts von 11 bis über 12 Meter gehörte der Baum schon damals zu den größten Linden in Deutschland.Der Stammumfang der Linde wurde seit der Wende auf verschiedenen Höhen gemessen und betrug seither weniger als 10 m. Der Forstwissenschaftler Hans Joachim Fröhlich gab in Wege zu alten Bäumen für das Jahr 1994 auf 1,3 Meter Höhe, der Stelle des sogenannten Brusthöhendurchmessers (BHD), einen Umfang von 9,40 Metern an. Michel Brunner, Fotograf, Buchautor und Gründer von pro arbore, einer Inventarisierung von alten und kuriosen Bäumen der Schweiz, stellte 2007 in Bedeutende Linden einen Umfang von 9,60 Metern fest. In einer Broschüre des Staatlichen Umweltfachamts Radebeul, Baum-Naturdenkmale in der Region oberes Elbtal/Osterzgebirge aus dem Jahre 2004, ist ein Stammumfang von neun Metern angegeben. Das Deutsche Baumarchiv, das die alten Bäume in Deutschland dokumentiert und Herausgeber eines Buches über national bedeutsame Bäume (NBB) ist, ermittelte im Jahre 1998 in einem Meter Höhe einen Umfang von 9,55 Metern. Hierbei wurde der isolierte Stammteil mit einbezogen. An der Stelle des geringsten Durchmessers (Taille), die nur den Hauptteil umfasst, wurde vom Baumarchiv im Jahre 2001 ein Umfang von 6,97 Metern gemessen.
=== Alter ===
Eine Altersbestimmung ist auch mit modernsten Methoden nicht möglich, da der Stamm über die Jahrhunderte stark gelitten hat und nur noch ein Relikt ist. Eine Jahresringzählung, beispielsweise mit Hilfe einer Bohrkernentnahme oder durch eine Bohrwiderstandsmessung mittels Resistograph, ist nicht möglich, da im Zentrum des Stammes das älteste Holz fehlt. Aus dem gleichen Grund ist eine Altersbestimmung über den Gehalt an radioaktivem Kohlenstoff (Radiokohlenstoffdatierung, auch 14C-Datierung genannt) nicht durchführbar; entnommene Proben stammen von einem viel jüngeren Holzgewebe. Auch gibt es keinerlei Anhaltspunkte oder konkrete Hinweise in der Literatur über ein Pflanzdatum. Das Alter der Linde kann deswegen nur annähernd mit entsprechend unterschiedlichen Angaben bestimmt werden. In einem Teil der Literatur ist zu lesen, dass die Linde noch vor der Gründung des Ortes Kaditz von den Sorben gepflanzt wurde, um das Jahr 1000 oder noch davor, was einem Alter von etwa 1000 Jahren entspräche. Anderswo wird die Pflanzung der Linde mit dem Bau der ersten Kapelle im Jahre 1273 in Verbindung gebracht. Demnach wäre die Linde etwa 750 Jahre alt. Die Angaben schwanken zwischen 500 und 1000 Jahren. Das Deutsche Baumarchiv schätzte das Alter der Linde im Jahre 2012 auf 500 bis 700 Jahre. Hans Joachim Fröhlich nahm 1994 ein Alter von etwa 1000 Jahren an. Michel Brunner schätzte sie 2007 auf 800 Jahre. In der Broschüre Baum-Naturdenkmale in der Region Oberes Elbtal/Osterzgebirge des Staatlichen Umweltfachamts Radebeul wird ein Alter von 800 bis 1000 Jahren angegeben. Die ältere Literatur gibt überwiegend ein Alter von etwa 1000 Jahren an, wie die Zeitschrift Die Gartenlaube aus dem Jahre 1890.
== Veranstaltungen ==
Jedes Jahr finden traditionell an Johannistag mit den Gläubigen der Kirchengemeinde eine Abendandacht und danach ein Volksliedersingen statt. Bereits im Jahre 1830 wurde berichtet: „So zog man nach der Kirche, vor der die alte, ehrwürdige Linde, gewiß eine der größten in Teutschland (18 Ellen im Umfang), mit Kränzen behangen war.“Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 wurde das erste Spiel mit deutscher Beteiligung unter der Linde im Public Viewing übertragen.In der Emmauskirche werden mehrmals im Jahr Konzerte in der Konzertreihe Orgel plus veranstaltet, organisiert vom Förderkreis Kirchenmusik Laurentius Dresden e. V. Anschließend trifft man sich zu einem gemütlichen Beisammensein mit Ausschank unter der Linde.
== Erzählungen ==
=== Goethe ===
Johann Wolfgang von Goethe besuchte insgesamt siebenmal Dresden.
Als geschichtsinteressierter und belesener Künstler, der auf verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebieten forschte und publizierte, interessierte er sich wohl auch für die Linde, die schon damals auf Grund ihres hohen Alters und großen Wuchses bei naturwissenschaftlich Interessierten über die Grenzen von Sachsen hinaus bekannt war. Bei seinem letzten Dresdenaufenthalt im August 1813 oder bereits im Jahre 1810 soll er mit Freunden bei einem Ausflug auch die Kaditzer Linde besucht haben und von ihrem prächtigen Wuchs und hohem Alter sehr beeindruckt gewesen sein. Goethes Besuch der Linde soll in einem Buch vermerkt sein. Um welches es sich handelt, ist nicht bekannt.
=== Pranger ===
Den Überlieferungen nach soll die Linde im Mittelalter über einen längeren Zeitraum, wohl bis ins 18. Jahrhundert, als Gemeindepranger gedient haben. Dort wurden die Delinquenten, an ein Halseisen gekettet, öffentlich vorgeführt und den verachtenden Blicken und dem Spott der Gottesdienstbesucher ausgesetzt, deren Weg zur Kirche an der Linde vorbei führte. In Sachsens Kirchen-Galerie aus dem Jahre 1836 wird berichtet: „Nach Aussage der Alten, welche ihren Vätern nacherzählen, diente der Stamm, bei der sonst üblichen Kirchenbuße, als Pranger. Die zu diesem Behufe eingeschlagenen Halseisen sind an demselben noch vorhanden, aber die beiden Halbzirkel haben sich bei erfolgter Ausdehnung des Baumes zwei Ellen von einander entfernt.“ Im Jahre 1890 wurde in der Zeitschrift Die Gartenlaube in der Reihe Deutschlands merkwürdige Bäume ebenfalls über den Pranger berichtet:
Hinweise, dass es sich um eine Prangerlinde handelte, sind die am Stamm eingeschlagenen eisernen Ringe und Klammern, die schon vor 100 Jahren beinahe mit Rinde überwachsen waren. In der jüngeren und älteren Literatur werden eingeschlagene Ringe und Klammern als Haupthinweis auf eine Prangerlinde gedeutet. Es ist jedoch nicht gesichert, ob die Eisen am Stamm tatsächlich diesem Zweck dienten, da konkrete Nachweise in der Literatur fehlen.
== Siehe auch ==
Liste markanter und alter Baumexemplare in Deutschland
== Literatur ==
Bernd Ullrich, Stefan Kühn, Uwe Kühn: Unsere 500 ältesten Bäume: Exklusiv aus dem Deutschen Baumarchiv. 2. neu bearbeitete Auflage. BLV Buchverlag, München 2012, ISBN 978-3-8354-0957-6.
Stefan Kühn, Bernd Ullrich, Uwe Kühn: Deutschlands alte Bäume. 6. durchgesehene Auflage. BLV Verlagsgesellschaft, München 2010, ISBN 978-3-8354-0740-4.
Michel Brunner: Bedeutende Linden. 400 Baumriesen Deutschlands. Haupt-Verlag, Bern/Stuttgart/Wien 2007, ISBN 978-3-258-07248-7.
Siegfried Reinhardt: Ein Baum der Superlative: Die Kaditzer Linde – ein imposantes Naturdenkmal. In: Dresdner Neueste Nachrichten. Dresdner Nachrichten, Dresden 27. Juli 2007, S. 16.
Karen Trinks: Naturschutz regional: Baum-Naturdenkmale in der Region oberes Elbtal/Osterzgebirge. Hrsg.: Staatliches Umweltfachamt Radebeul. UBIK-Verlag, Radebeul 2004.
Siegfried Reinhardt: Eine Tausendjährige erzählt. In: Verein Neue Nachbarschaft Kaditz e. V. (Hrsg.): Typisch Kaditz: Geschichte und Geschichten. 1. Auflage. SV Saxonia, 2002, ISBN 3-9808406-4-6.
Hans Joachim Fröhlich: Alte liebenswerte Bäume in Deutschland. Cornelia Ahlering Verlag, Buchholz 2000, ISBN 3-926600-05-5.
O. Z.: Blätter und Blüthen. Deutschlands merkwürdige Bäume – Kaditzer Linde. In: Die Gartenlaube. Heft 4, 1890, S. 130 (Volltext [Wikisource]).
Eduard Sommer: Das Vaterland der Sachsen. Mittheilungen aus Sachsens Vorzeit und Gegenwart. Dritter Band. Dresden, im Verlag der Expedition dieses Werkes bzw. bei Ernst Blochmann, Dresden 1844, Kapitel Die Linde zu Kaditz, S. 133 (Digitalisat der SLUB Dresden).
Saxonia. Museum für Sächsische Vaterlandskunde. Vierter Band. Eduard Pietsch und Com., Dresden 1839, DNB 368100235, Kapitel Die große Linde auf dem Kirchofe zu Kaditz bei Dresden, S. 107 (Google Books).
Sachsens Kirchen-Galerie. Erster Band. Hermann Schmidt, Dresden 1837, Kapitel Kaditz, S. 65–66 (Google Books).
== Weblinks ==
Deutsches Baumarchiv
Kaditzer Linde bei der Evangelisch-Lutherischen Laurentiuskirchgemeinde Dresden (Memento vom 29. August 2014 im Internet Archive)
Kaditz auf dresdner-stadtteile.de
Linde in Dresden könnte älter als „Deutschlands ältester Baum“ sein, Redaktionsnetzwerk Deutschland, 28. Januar 2021
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kaditzer_Linde
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Kasberger Linde
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= Kasberger Linde =
Das Naturdenkmal Kasberger Linde (auch als Kunigundenlinde oder Franzosenlinde bekannt) ist eine Sommer-Linde (Tilia platyphyllos) am Rand des Gräfenberger Ortsteils Kasberg im Landkreis Forchheim. In der Nähe des Baumes wurden im Mittelalter vermutlich Gerichtstage abgehalten. Nach unterschiedlichen Schätzungen ist die Linde 600 bis 1000 Jahre alt und seit mindestens 1976 als Naturdenkmal bei der Unteren Naturschutzbehörde des Landkreises Forchheim gelistet. Direkt neben der alten Kasberger Linde steht eine weitere, etwa 150-jährige Linde.
== Beschreibung ==
=== Stamm ===
Der Stamm der Linde ist weitgehend ausgehöhlt, bis auf einen stark geneigten Rest zerstört und wird mit Eisenklammern und Gewindestäben zusammengehalten. Der Reststamm und ein annähernd waagerecht ausladender Hauptast werden von mehreren Eisen- und Holzstangen gestützt. Im Stamm siedelte sich ein Holunderstrauch an, der durch eine Öffnung nach außen wächst. Die Borke ist an vielen Stellen mit Moosen und Flechten bedeckt, die noch vorhandenen Teile der Krone sind von Misteln bewachsen.
Vollständig erhalten hätte der Stamm einen Umfang von etwa 16 Metern. 1987 betrug der Umfang des Stammes noch 11,2 Meter, davon sind gegenwärtig (2009) noch knapp acht Meter übrig. Messungen an der Stelle des geringsten Durchmessers ergaben 4,6 Meter Umfang. Die Gesamthöhe des Baumes betrug im Jahre 1990 11 Meter, bei einem Kronendurchmesser von 16 Metern.
=== Alter ===
Da das älteste Holz aus dem Zentrum des Stammes fehlt, ist weder eine Jahresringzählung noch eine Radiokohlenstoffdatierung möglich. Das tatsächliche Alter der Linde kann deshalb nur grob geschätzt werden. Ein Vertreter des Deutschen Baumarchivs schätzte im Jahr 2008 ihr Alter auf 600 bis 800 Jahre; mehrfach wurde auch ein Alter von über 1000 Jahren vermutet. Damit wäre die Linde eine der zehn ältesten Linden in Deutschland.
=== Standort ===
Kasberg liegt drei Kilometer nordwestlich von Gräfenberg und etwa 25 Kilometer nordöstlich von Nürnberg. Die Linde steht am westlichen Ortsrand in etwa 510 Meter Höhe über Normalnull neben der Kreuzung zweier alter Verkehrswege, nämlich der Straße zwischen Leutenbach und Gräfenberg (heute FO 14) und der Straße zwischen Walkersbrunn und Kasberg (FO 42/FO 14). Landschaftlich handelt es sich um eine Plateaulage am Südwestrand der Fränkischen Schweiz innerhalb der Fränkischen Alb. Der Boden um die Linde besteht aus kalkhaltigem, lehmigem Verwitterungsmaterial des Weißen Jura.
== Geschichte ==
Einer Sage zufolge soll die heilige Kaiserin Kunigunde, die Gemahlin von Kaiser Heinrich II., vor etwa 1000 Jahren die Linde eigenhändig gepflanzt oder sie besucht haben. Nach Kunigunde, die in Franken seit ihrer Heiligsprechung durch Papst Innozenz III. im Jahr 1200 eine hohe Popularität besaß, wurden im fränkischen Raum weitere Linden, wie in Gräfenberg und in dem südlich von Würzburg gelegenen Burgerroth, benannt. Über die Sage der Pflanzung der Kunigundenlinde steht in der Chronik von Gräfenberg von 1850:
In Kasberg wurden bis zum Ausgang des Mittelalters Rechtstage für den Bezirk des ehemaligen Landbezirks Auerbach in der Oberpfalz abgehalten. So soll der Auerbacher Landrichter im 13. Jahrhundert „zu Kasberg bei der noch stehenden Linde unter dem freien Himmel Schrannengericht mit ganzem Gerichtsstab“ abgehalten haben. Nach der Kasberger Ortschronik von 1920 hat auch der Sulzbacher Landrichter Volkelt von Taun um 1360 die Umgebung der Linde für Gerichtstage genutzt. Es ist allerdings fraglich, ob es sich bei einem der damals genannten Bäume tatsächlich um die heutige Kasberger Linde handelte.
Um die Linde ranken sich aus den Revolutionskriegen und den Napoleonischen Kriegen verschiedene Geschichten und Sagen: So hätten 1795 im Ersten Koalitionskrieg ungarische Soldaten unter der Linde gelagert, wobei sich ein Husar mit seinem Pferd in der Linde versteckt habe, so dass er nicht zu erkennen war und so den Feinden entkommen konnte. Als französische Truppen 1796 durch Kasberg zogen, sollen Soldaten des Generals Jean-Baptiste Jourdan mit einer Kanone auf die Linde geschossen haben, weshalb diese im Volksmund auch Franzosenlinde genannt wird.
In unmittelbarer Nähe Kasbergs fanden 1798 Kämpfe kaiserlicher Regimenter mit Truppen des französischen Generals Augereau statt. Bei einem Marsch französischer Soldaten durch Kasberg im Jahr 1806 wurde die Linde in Brand gesteckt, wobei der Stamm durch das unter dem Baum entfachte Feuer schwer beschädigt, aber nicht völlig zerstört wurde.Auf dem Uraufnahmeblatt NW 73-11 aus dem Jahr 1822 der ersten flächendeckenden Vermessung Bayerns von 1808 bis 1853 ist am Ortsrand an einer Straßenkreuzung die Kasberger Linde als einzelner Laubbaum auf einem mit „Gem.[einde]“ bezeichneten Grundstück zu erkennen. In dem im Jahre 1876 umgravierten Steuerblatt N. W. LXXIII ist der Baum als trigonometrischer Punkt hervorgehoben. Im Unterschied zu heute waren die Straßen seinerzeit unbefestigt.
H. Räbel zeigte 1905 im Baumbuch des Baumfotografen Friedrich Stützer eine Abbildung der Linde mit einem hohlen, geteilten Stamm, deren unterer Kronenbereich noch vollständig vorhanden war. In diesem Zusammenhang erwähnte Räbel, dass „vor etwa 50 Jahren neben unserer Linde noch zwei große Linden gestanden“ haben (also um 1850). Im Widerspruch dazu steht ein älteres Dokument aus dem Jahr 1764: Im Allgemeinen Oekonomischen Forst-Magazin wurden nur zwei mächtige Linden erwähnt, die „obere“ und die „untere Linde“. Die obere Linde wurde als völlig hohl beschrieben und sei schon zweimal ausgebrannt gewesen. Der Umfang dieser Linde wurde mit 45 Schuh (13,7 Meter) und die Höhe mit 60 Schuh (18 Meter) angegeben. Diese Angaben würden sich hochgerechnet mit den Maßen der heutigen Linde decken. Dem Deutschen Baumarchiv zufolge ist jedoch die untere Linde, die einige Schritte entfernt stand, die heutige Kasberger Linde. Sie soll 1764 äußerlich noch völlig gesund ausgesehen haben, einen Umfang von 28 Schuh (rund 8,4 Metern) und die Höhe mit 70 Schuh (21 Metern) gehabt haben. Aus der Zusammenschau dieser Angaben aus verschiedenen Zeiten ergibt sich, dass im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Linden als Alte Linde bezeichnet wurden.
In der Chronik von Gräfenberg von 1850 heißt es, „Sie mag tausend Jahr alt sein, und durch ihre innere, auf drei Seiten geöffnete Höhlung kann man bequem auf einem Pferde durchreiten.“ Der Stamm war in vier Teile zerrissen und hatte einen Umfang von 16 Metern. Der Hohlraum war drei Meter hoch und der mittlere Durchmesser der Linde betrug 4,5 Meter. Die Krone hatte einen Durchmesser von 20 bei einer Höhe des Baumes von 12 Metern. Der Überlieferung nach tanzten früher die Kasberger an Festtagen in der Linde, wobei sich sechs Tanzpaare im Hohlraum der Linde drehen konnten. Früher soll sich auch eine hölzerne Tanzplattform in der Krone befunden haben.Die Linde wurde vom Beginn des 20. Jahrhunderts an aufgrund mehrerer Berichte überregional bekannt. Im Jahre 1902 erschien in der Augsburger Abendzeitung ein Bericht über die Linde. Im selben Jahr berichtete das Bamberger Tagblatt über den Baum. Wenig später erschien ein Bericht über die Linde im Reiseführer Die Fränkische Schweiz.
== Sanierungsversuche ==
Im Sommer 1913 wurde versucht, den Zerfall der Linde hinauszuzögern, wobei der Bezirk Oberfranken und die Gemeinde Kasberg die Kosten trugen. Dabei wurden die Äste gestützt, der Hohlraum des Stammes wurde behandelt und der Baum eingezäunt. Der Zustand der Linde verschlechterte sich jedoch weiter. Nach einem Spendenaufruf 1970 erhielt der Baumpfleger Michael Maurer aus Röthenbach an der Pegnitz 1976 den Auftrag, den Baum zu sanieren. Die Kosten beliefen sich auf 28.000 Deutsche Mark.
== Weitere Linden ==
In unmittelbarer Nähe steht eine weitere Linde mit einem geschätzten Alter von etwa 100 bis 150 Jahren. Nach dem Absterben der alten Kasberger Linde soll sie diese als prägnanten Baum ersetzen.Auch an anderen Stellen in und um Kasberg gibt es mehr oder weniger alte Linden, so befindet sich beispielsweise im Ortskern von Kasberg ein vermutlich mehrere Jahrhunderte alter Lindenbaum. Wenn in der Literatur von einer oberen und einer unteren Linde gesprochen wird, sind Verwechslungen deshalb nicht völlig auszuschließen. Die meisten anderen Bäume stehen allerdings deutlich tiefer als der traditionell als Kasberger Linde bezeichnete Baum.
== Siehe auch ==
Liste markanter und alter Baumexemplare in Deutschland
Gerichtslinde
== Literatur ==
Bernd Ullrich, Stefan Kühn, Uwe Kühn: Unsere 500 ältesten Bäume: Exklusiv aus dem Deutschen Baumarchiv. BLV Buchverlag GmbH & Co. KG, München 2009, ISBN 978-3-8354-0376-5.
Michel Brunner: Bedeutende Linden: 400 Baumriesen Deutschlands. Haupt Verlag AG, Bern/Stuttgart/Wien 2007, ISBN 978-3-258-07248-7.
Stefan Kühn, Bernd Ullrich, Uwe Kühn: Deutschlands alte Bäume. BLV Verlagsgesellschaft, München 2007, ISBN 978-3-8354-0183-9.
Anette Lenzing: Gerichtslinden und Thingplätze in Deutschland. K. R. Langewiesche, Heiligenhaus 2005, ISBN 3-7845-4520-3.
Thomas Fickert: „Pseudoepiphytismus“ auf der Kasberger Linde. In: Mitteilungen der Fränkischen Geographischen Gesellschaft. Band 52, 2005, S. 53–67.
Hans Joachim Fröhlich: Alte liebenswerte Bäume in Deutschland. Cornelia Ahlering Verlag, Buchholz 2000, ISBN 3-926600-05-5.
Hans Joachim Fröhlich: Bayern. In: Wege zu alten Bäumen. Band 2. WDV-Wirtschaftsdienst, Frankfurt 1990, ISBN 3-926181-09-5.
Hartwig Goerss: Unsere Baum-Veteranen. Landbuch, Hannover 1981, ISBN 3-7842-0247-0.
H. Räbel: Die Kunegundenlinde bei Kasberg (Oberfranken). In: Friedrich Stützer (Hrsg.): Die größten, ältesten oder sonst merkwürdigen Bäume Bayerns in Wort und Bild. Band 4. Piloty & Loehle, München 1905, S. 161–163, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00113454-7 (Durch einen Herstellungsfehler sind die Seiten nicht in der richtigen Reihenfolge enthalten.).
Georg K. Adler: Geschichte und Beschreibung des Städtchens Gräfenberg (in Oberfranken). Riegel und Wießner, Nürnberg 1850.
== Weblinks ==
Efferer: Die Kunigundenlinde bei Kasberg … (Nicht mehr online verfügbar.) September 2003, archiviert vom Original am 9. Oktober 2004; abgerufen am 26. August 2020.
Kasberger Linde – Artikel bei frankenjura.com, vom 4. Juli 2008
Kasberger Linde am Staffelstein – Artikel von Hans Joachim Fröhlich, Textauszug aus Alte liebenswerte Bäume in Deutschland, Seite 288–289, vom 4. Juli 2008.
Kunigundenlinde Kasberg (Memento vom 20. August 2007 im Internet Archive) – Artikel von Peter Frühauf, vom 4. Juli 2008.
Deutsches Baumarchiv
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kasberger_Linde
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König-Ludwig-Eiche
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= König-Ludwig-Eiche =
Die König-Ludwig-Eiche (auch Königseiche, Tausendjährige Eiche, bis Mitte des 19. Jahrhunderts Stolze Eiche) ist ein Naturdenkmal im Staatsbad Brückenau, einem Ortsteil des drei Kilometer nordöstlich gelegenen Bad Brückenaus im Landkreis Bad Kissingen in Bayern. Es handelt sich um eine Stieleiche (Quercus robur). Sie ist nach unterschiedlichen Schätzungen 370 bis 700 Jahre alt. Der Umfang des Stammes beträgt etwa sieben Meter. Sie hat ihren Namen von König Ludwig I., dessen Lieblingseiche sie bei seinen zahlreichen Kuraufenthalten im Staatsbad Brückenau war. Die Eiche wurde seit 1780 oft beschrieben und abgebildet. Zahlreiche Adelige aus dem Inland und Monarchen aus dem Ausland, die zur Kur in Brückenau weilten, besuchten die Eiche. Das Deutsche Baumarchiv zählt die Eiche zu den national bedeutsamen Bäumen (NBB).
== Lage ==
Die Königseiche steht auf etwa 300 Meter über Normalhöhennull im Sinntal am Fuße des Dreistelzberges. Bis zum vergangenen Jahrhundert befand sie sich inmitten des Kurparks von Brückenau. Heute steht sie mehr am Rande des Parks in der Nähe eines Parkplatzes auf einer plateauähnlichen Freifläche an einem Hang, etwa zehn Meter oberhalb der Sinn. An der Eiche führt ein Wanderweg mit Informationstafeln vorbei. Vom erhöhten Standort der Eiche aus ist beinahe das gesamte Kurgebiet einsehbar. Der zentrale Kurbereich mit dem Kursaalgebäude, dem Badhotel und der Wandelhalle liegt etwa 200 Meter südöstlich der Eiche. Dazwischen verläuft die Staatsstraße 3180 vom Staatsbad nach Züntersbach. Der im Jahre 1775 im Auftrag des Fürstbischofs Heinrich von Bibra als Sommerresidenz erbaute Fürstenhof, das heutige Schlosshotel Fürstenhof, in dem König Ludwig I. bei seinen Kuraufenthalten residierte, liegt etwa 150 Meter nordöstlich der Eiche. Nördlich schließt sich in der alten Schlossgärtnerei ein kleiner Tierpark und östlich ein Kräutergarten an. Im Westen kamen ab etwa 1900 mehrere Villen und die evangelische Kirche dazu.
== Beschreibung ==
Die Eiche ist seit dem 2. März 1987 als Naturdenkmal bei der Unteren Naturschutzbehörde des Landkreises Bad Kissingen mit der Nummer 672-N/009 gelistet und als Königseiche bezeichnet. Die Königseiche, die früher auch Stolze Eiche genannt wurde, wirkt im unteren Kronenteil extrem unsymmetrisch. Früher diente ihr Umkreis den Kurgästen als Fest-, Spiel-, Tanz- und Ruheplatz. Vor mehr als hundert Jahren konnten bei einem Kronendurchmesser von 45 Metern und der Fläche von 1500 Quadratmetern unter dem Baum mehr als 100 Sitzplätze eingerichtet werden. Um die Eiche nicht weiter zu belasten, werden dort keine Feste mehr abgehalten. Wenn die Angaben in den Quellen stimmen, wäre sie mit 45 Metern Kronendurchmesser die größte aller Alteichen in Deutschland gewesen. Gegenwärtig beträgt der Kronendurchmesser nur noch etwa 30 bei einer Höhe von 23 Metern, da einige Äste gekappt wurden.
Fünf Äste, die in etwa vier Meter Höhe einseitig waagerecht ausladen und wie auch andere Äste der Krone auf der Oberseite stark bemoost sind, liegen auf drei Eisenstäben und zwei Holzstangen, um den Baum zu entlasten. Der sich verjüngende Stamm strebt bis auf etwa 20 Meter Höhe senkrecht nach oben. Er ist mit etwa 20 Grad in die Richtung geneigt, an der die meisten waagerechten Hauptäste abgehen. Mit Stangen gestützte Eichen sind, im Gegensatz zu den gezogenen und gestützten Tanzlinden äußerst selten. Die Femeiche in Erle (etwa zwölf Meter Stammumfang), die Lenzeiche bei Sichertshausen (etwa 6,5 Meter Stammumfang) und die Königseiche sind die einzigen gestützten Eichen dieser Größe in Deutschland. Vor hundert Jahren hatte sie noch mehr als zehn Stützen und den Höhepunkt ihrer Wuchskraft. Der Stamm war noch vollständig geschlossen, die Krone dicht beastet. Sechs in etwa gleicher Höhe abgehende Äste bildeten einen Kranz. Wann die Stützen erstmals angebracht wurden, ist nicht überliefert. König Ludwig I. setzte sich bei seinen Kuraufenthalten in Brückenau für die Pflege der Eiche ein. Vermutlich wurden daraufhin die ersten Stützen angebracht, deren älteste Beschreibung aus dem Jahre 1838 stammt.
Als in den 1960er Jahren der mit 22 Meter längste waagerecht verlaufende Ast herausbrach, bildete sich auf der Nordseite ein tiefer Spalt im Stamm. Der Ast war mit einem Eisenring versehen, der ihn zusammenhalten sollte. Er war in den Ast eingewachsen, bis er ihn schließlich sprengte. Um den eingewachsenen Eisenring wurden 84 Jahresringe gezählt.Der Stamm ist völlig hohl und hat einen etwa vier Meter hohen und 0,6 Meter breiten Riss, der nach dem Herausbrechen des großen Astes entstanden und mit einem engmaschigen Drahtgeflecht verschlossen ist. Ein Teil der gestützten Altäste ist ebenfalls hohl und es fehlt teilweise die obere Wandung, so dass sie nur aus einer Halbschale aus Rindenmaterial bestehen. Zusätzlich zu den Stützen ist die Eiche mit einer Kronensicherung aus etwa 20 Stahlseilen versehen, die strahlenförmig von der Hauptachse zu den waagerechten Seitenästen führen. Es handelt sich um eine statische Kronensicherung, bei der die Äste durch die Stahlseile mit dem Stamm verspannt sind. Die Seile sind an Gewindestäben, die durch die Äste gebohrt sind, befestigt und führen zu den in den Stamm geschraubten, teilweise eingewachsenen Halteösen. Seit dem heißen Sommer 2003 mehren sich die vorher geringen Totholzanteile, die regelmäßig herausgeschnitten werden; eine nachlassende Vitalität der Eiche ist bemerkbar. Einer der unteren Hauptäste weist mehrere starke Faulherde auf.
=== Inschriftentafel ===
An der Eiche ist eine Holztafel mit folgender Inschrift angebracht:
Die Inschrift der Vorgängertafel lautete:
=== Stammdurchmesser ===
Der völlig hohle Stamm hatte im Jahre 2011 an der Stelle seines geringsten Durchmessers einen Umfang von 6,81 und in einem Meter Höhe von 7,11 Metern. Das Deutsche Baumarchiv gab im Jahre 2000 an der Stelle des geringsten Durchmessers einen Umfang von 6,68 und im Jahre 2001 in einem Meter Höhe von 7,00 Metern an. Der Stamm hat 2016 auf 1,3 Meter, der Höhe des sogenannten Brusthöhendurchmessers (BHD), einen Umfang von 7,00 und auf 1,5 Meter Höhe von 6,90 Metern. Im Jahre 1912 waren es auf gleicher Höhe noch 5,70 Meter. Der Überlieferung nach hat der Umfang in den vergangenen knapp hundert Jahren um etwa 1,2 Meter zugenommen, jährlich somit durchschnittlich um 1,2 Zentimeter. Dies deckt sich in etwa mit Messungen an der Stelle des geringsten Durchmessers im Jahre 1991 mit 6,60 und im Jahre 2016 mit 6,79 Metern. Ein Umfangszuwachs von 19 Zentimetern in 26 Jahren entspricht pro Jahr etwas unter 1 Zentimetern. Die Eiche wächst wegen des nährstoffarmen Bodensubstrats und der abgestützten Krone etwas langsamer als die meisten ihrer Art mit vergleichbarer Größe, bei denen die jährliche Umfangszunahme bei etwa 1,8 bis 2 Zentimetern liegt. Ähnlich langsam wuchs zwischen 1804 und 1996 mit einer jährlichen Umfangszunahme von 1,16 Zentimetern die im Umfang über zwölf Meter messende, etwa 800 Jahre alte größte Eiche im Tiergarten bei Ivenack, die stärkste Eiche in Deutschland und mit 140 Festmetern die massereichste in Europa.
=== Alter ===
Zum Alter der Eiche werden unterschiedliche Angaben gemacht. Die Untere Naturschutzbehörde schätzte es auf 400 bis 600, der Forstwissenschaftler Hans Joachim Fröhlich im Jahr 2000 auf 700 und das Deutsche Baumarchiv 2009 auf 360 bis 420 Jahre. Teilweise werden 1000 oder sogar 1500 Jahre angegeben. Dies dürfte aber erheblich zu hoch angesetzt sein. Da im Zentrum des Stammes das älteste Holz fehlt, ist weder eine Jahresringzählung, beispielsweise mit Hilfe einer Bohrkernentnahme oder durch eine Bohrwiderstandsmessung mittels Resistograph, noch eine Radiokohlenstoffdatierung möglich. Das tatsächliche Alter kann deshalb nur anhand des Stammumfangs und der Überlieferungen grob geschätzt werden. Aufgrund der Umfangszunahme in den vergangenen hundert Jahren von jährlich etwa 1,2 Zentimetern ist das Alter der Eiche auf maximal 500 Jahre anzusetzen, vorausgesetzt, dass die Eiche in jüngeren Jahren aufgrund ungünstiger Wachstumsbedingungen nicht langsamer gewachsen ist als in den letzten hundert Jahren. Die Zählung an einem im Jahre 2007 im äußeren Kronenbereich gestutzten Ast, der bis zur Mitte vollholzig war, ergab etwa 300 Jahresringe. Es ist jedoch nicht bekannt, wann die Eiche diesen Ast bildete. Vor etwa 120 Jahren kam es zu einer abrupten Änderung der Jahresringbreite. Die Jahresringe haben seitdem nur noch einen etwa halb so großen Abstand voneinander wie vorher. Dies könnte auf die Entlastung des Astes durch die Abstützung zurückzuführen sein.
== Geschichte ==
=== Älteste Überlieferungen ===
Im Jahre 1747 wurde unter dem Fuldaer Fürstabt Amand von Buseck die erste Heilwasserquelle gefasst. Dies war der Beginn des Kurbetriebs in dem fuldaischen Bad. Bei der Gestaltung der Gartenanlage im Kurpark wurde um die Eiche ein freier Platz gelassen, auf den einer der Hauptwege zuführt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zu einer ersten Blütezeit im Kurbetrieb des Bades, wie aus zahlreichen Schilderungen hervorgeht. In vielen dieser Berichte ist die Eiche erwähnt und abgebildet. Auf einem Kupferstich des Künstlers Egid Verhelst aus dem Jahre 1780 ist die Eiche mit einer spitz zulaufenden, hochreichenden Krone abgebildet. Dies ist die älteste bekannte bildnerische Darstellung des Baumes. Die älteste Beschreibung, in der sie als stolze Eiche bezeichnet wird, stammt ebenfalls aus dem Jahre 1780. Der Badearzt Melchior Adam Weikard schrieb damals in einer Brunnenschrift:
Eine Skizze des Staatsbades von 1781 zeigt die Kuranlage mit der Eiche und dem Wappen von Heinrich von Bibra, Fürstbischof von Fulda.
Leopold Friedrich Günther von Goeckingk, ein Publizist schrieb im Jahre 1782 in Deutsches Museum, einer Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben:
Zwei Jahre später, im Jahre 1784, schrieb er in der monatlich erscheinenden Zeitschrift Journal von und für Deutschland: „auch verdient eine stolze Eiche bewundert zu werden, unter deren Schatten mehr als hundert Personen, auf den, rings angebrachten, Rasenbänken und Kanapeen, Platz finden.“Auf weiteren Kupferstichen des Staatsbads vom Ende des 18. und des folgenden Jahrhunderts ist die Eiche zu erkennen. Ein überarbeiteter Stich von Verhelst aus dem Jahre 1790 zeigt sie mit einer großen, halbkugelförmigen Krone. Christian von Eggers schrieb 1810 in Reise durch Franken, Baiern, Oesterreich, Preußen und Sachsen über seine Reise nach Brückenau im Jahre 1804: „In dem Garten, der zum allgemeinen Spaziergang dient, sind schöne Alleen. Ich bemerkte eine sehr große Eiche von acht Ellen im Umfange, die einen ungemein breiten Gipfel hat. Er umschattet reichlich die in der Runde angebrachten Sitze.“
=== Ludwigszeit ===
Nach mehreren Herrschaftswechseln wurde Brückenau 1816 durch den Wiener Kongress dem Königreich Bayern zugesprochen. Eine der ersten Ansichten des bayerischen Kurbads aus dem Jahre 1817/1818 stammt von dem Architekturmaler Domenico Quaglio, der auf einem Aquarell die Eiche mit einer großen Krone darstellte. Im Jahre 1818 besuchte Kronprinz Ludwig von Bayern zum ersten Mal das Staatsbad. Er war ein Förderer der Künste und Wissenschaften und stellte im gleichen Jahr die Laubwälder und insbesondere die alten Eichen im Staatsbad Brückenau unter seinen besonderen Schutz. Bei seinen insgesamt 26 oft monatelangen Kuraufenthalten zwischen 1818 und 1862 in Brückenau, ab 1825 als König von Bayern, besuchte er regelmäßig die Königseiche und ruhte darunter. Im Jahre 1822 schrieb der Arzt Johann Evangelist Wetzler in Gesundbrunnen und Heilbäder:
Im Jahre 1823 schrieb der Königlich Bayerische Forstmeister Stephan Behlen in Der Spessart:
Zwei Jahre später, im Jahre 1825, schrieb der Brückenauer Kurgast H. von Martin in Briefe aus dem Bade Brückenau:
Um das Jahr 1835 ging eine andere Eiche ein, die etwa 150 Meter westlich der Königseiche etwas höher als diese stand. Sie hatte einen ähnlichen Umfang, war ungefähr gleich hoch und ist ebenfalls in den älteren Schilderungen des Kurbads beschrieben und abgebildet. Der Schriftsteller Gustav Kühne erwähnte im Jahre 1838 in der Zeitung für die elegante Welt erstmals Stützen zur Entlastung der großen Krone: „Der König unterhält das Bad auf eigene Kosten, setzt aber dabei noch immer jährlich nicht unansehnlich zu. In der Nähe seiner Wohnung ist eine berühmte Eiche, deren Zweige mit Eisenstangen unterstützt werden, und deren Alter auf fünfzehnhundert Jahre geschätzt wird.“Am 29. Juli 1840 schrieb Ludwig I., der später auch von seinem Enkel, dem späteren Bayernkönig und Kunstliebhaber Ludwig II., begleitet wurde, unter der Eiche das Gedicht Unter der großen Eiche im Bade Brückenau:
In einer Topografie des Bades Brückenau schrieb der Badearzt Franz Kilian Josef Schipper im Jahre 1847 über die Eiche:
Bei der ersten flächendeckenden Vermessung im damaligen Königreich Bayern in den Jahren 1808 bis 1853 wurde die Eiche auf dem Uraufnahmeblatt Bad Brückenau – NW CIV 56 vom November 1848 mit der Flurnummer 284 und der Bezeichnung Königseiche eingetragen.
Der Kurbetrieb in Brückenau hatte von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts eine zweite Blütezeit, als zahlreiche Monarchen aus dem Ausland zur Kur kamen und den Baum besuchten. Unter der Eiche weilten König Maximilian II. im Jahre 1856 und im Jahre 1873 die Königin Amalie von Griechenland bei ihren längeren Kuraufenthalten in Brückenau. Weitere Besucher des Kurbades und der Eiche waren im Jahre 1857 die Zarinwitwe Alexandra Fjodorowna, die Zarin Marija Alexandrowna und die Königin von Bayern, Marie Friederike.Der Gärtner und Gartenschriftsteller Hermann Jäger schrieb im Jahre 1861 in der Zeitung zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnis und Naturanschauung für Leser aller Ständ: „Ich kenne eine Eiche bei Brückenau am südlichen Fuße des Rhöngebirges, welche seine 4 Fuß Stammdurchmesser und noch keinen trockenen Ast hat, also verhältnismäßig noch jung (etwa 200 Jahre alt) ist, die mit ihren 35 dichtbelaubten Ästen eine Krone von 125 Fuß Durchmesser bildet, also noch mehr’ als die starke Eiche in Frankreich.“
=== Luitpoldzeit ===
Prinzregent Luitpold enthüllte 1897 in Brückenau ein zu Ehren seines Vaters Ludwig I. errichtetes Denkmal. Bei der Königseiche trank er ein Glas Wein auf eine erfolgreiche Zukunft von Brückenau. Auch Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn weilte im Jahre 1898 vier Wochen dort. Aus dem Jahre 1900 stammt die erste detaillierte Beschreibung der Eiche. Der Baumfotograf Friedrich Stützer, Inspektor der königlich bayerischen Staatseisenbahn in München, schrieb in seinem Baumbuch Die größten, ältesten oder sonst merkwürdigen Bäume Bayerns in Wort und Bild:
Etwa ab 1900 wurde die Eiche auf Ansichtskarten abgebildet. Um die Jahrhundertwende und in den Jahren danach schwankte die Anzahl der Stützen. 1912 waren es 13, zeitweise bis zu 16, also deutlich mehr als heute mit 5. In den Mitteilungen der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft des Jahres 1912, einem Jahrbuch des 1892 gegründeten Vereins, schrieb der Königliche Landesökonomierat August Siebert:
=== Neuere Zeit ===
In Schneiders Rhönführer aus dem Jahre 1928 steht: „Aus dem Schloßgarten führt westlich ein durch das Ineinanderwachsen von 16 Lindenbäumen gebildetes Laubgewölbe zur Königseiche, welche wohl über 1000 Jahre alt sein mag und durch lange, horizontal ausgestreckte Äste eine Strecke von ca. 30 m im Durchmesser bedeckt.“
In den letzten 50 Jahren wurden an der Eiche mehrmals Baumpflegemaßnahmen durchgeführt. Im hohlen Stamm wurde das morsche und pilzbefallene Holz entfernt, dann wurde er gedexelt, der Rest geglättet und die Oberfläche mit pilztötenden Mitteln behandelt. Um den Stamm zu stabilisieren, wurden mehrere sich kreuzende Gewindestäbe mit Überrohren im Hohlraum angebracht. Die Krone wurde mit einer Kronensicherung versehen, Äste wurden eingekürzt und zurechtgestutzt und an Schnittflächen Wundverschlussmittel aufgebracht. Drei der Holzstützen wurden durch Eisenstäbe ersetzt, mit denen die Äste durch Gewindestäbe mit offenen Bögen verbunden sind. Eine Sitzbank rings um den Stamm aus dem 19. Jahrhundert wurde entfernt, um eine weitere Bodenverdichtung im Wurzelbereich zu vermeiden.
Im Jahre 1996 wurde der Baum saniert und dabei ein Nachlassen der Vitalität sowie ein hoher Anteil an Totholz festgestellt. Ein Fachunternehmen führte eine Kronenpflege durch, erneuerte die Abstützungen und baute eine neue Stütze ein. Alte Wunden und Faulstellen wurden überprüft und die Verankerungen der Halteseile kontrolliert. Gleichzeitig wurde die Bodenart bestimmt und eine Nährstoffanalyse durchgeführt. An einem hohlen Starkast wurde eine Restwandstärkenmessung durchgeführt. Die Eiche hat sehr unter dem heißen (dem wärmsten seit mindestens 250 Jahren) und teilweise trockenen Sommer des Jahres 2003 gelitten. Ihre bis dahin noch gute Vitalität hat dabei weiter nachgelassen. Im äußeren Kronenbereich starben mehrere Äste ab. Dies ist wohl auf die Grundwasserabsenkung und den sich daraus ergebenden Wassermangel zurückzuführen. Es wurde begonnen, dem Verfall entgegenzuwirken, indem die Baumscheibe jährlich mit einem Bodenaktivator gedüngt wird, um über die Bodenstruktur günstigere Bedingungen für die Wurzeln zu schaffen. In trockenen Phasen wird die Eiche bei Bedarf im möglichen Maß gewässert. Die abgestorbenen Äste wurden im Winter 2005/2006 entfernt; die Krone wurde zurechtgestutzt und die Kronensicherung überprüft.
Die Gärtnerei des Staatsbades brachte im Frühjahr 2006 spezielle Vitalpilze (Mykorrhiza) in den Wurzelbereich ein. Seit 2008 wird im Herbst der Boden im Kronenbereich mit einer Laubschicht abgedeckt, die das ganze Jahr dort verbleibt, um eine Austrocknung der oberen Bodenschichten zu vermeiden. Aufgrund der weiter nachlassenden Vitalität fanden im Frühjahr 2009 weitere Pflegemaßnahmen durch ein Fachunternehmen statt. Hierbei wurden erneut tote Äste entfernt und die Stahlseilanbindungen überprüft. Zusätzlich wurde eine Kronensicherung nach dem BOA-System durchgeführt. Bei dieser neueren Form der Astsicherung wurden die seitlich abstehenden Äste mittels Seilverbindungen, die in Schlaufen enden, an einem oder mehreren Hauptästen angebunden, so dass sich die Last innerhalb des Baumes verteilt. Im September 2012 wurden zehn neue Stahlstützen angebracht. Von den bisherigen Holzstützen blieben zwei übrig. Von den zehn neuen Stützen aus etwa acht Zentimeter dicken Rundrohren sind sieben als A-Stützen ausgeführt, die auch seitliche Kräfte abfangen können. Die Äste sind mit Spanngurten auf den Stützen befestigt, deren Auflagefläche mit Gummi beschichtet ist. Durch Lücken im Gummi kann das Wasser besser abfließen. Ein Teil der Stützen besitzt ein Gewindeteil und kann nachjustiert werden. Die Stützen sind in 20 Zentimeter tiefe Betonfundamente eingelassen.
== Siehe auch ==
Liste der Naturdenkmäler im Landkreis Bad Kissingen
Liste der dicksten Bäume in der Rhön
Liste markanter und alter Baumexemplare in Deutschland
== Literatur ==
Rainer Gerber: 175 Jahre Baumpflege: Die König-Ludwig-Eiche. In: TASPO BaumZeitung, 03/2014, Seiten 31–34.
Bernd Ullrich, Stefan Kühn, Uwe Kühn: Unsere 500 ältesten Bäume: Exklusiv aus dem Deutschen Baumarchiv. BLV Buchverlag, München 2009, ISBN 978-3-8354-0376-5, S. 264.
Stefan Kühn, Bernd Ullrich, Uwe Kühn: Deutschlands alte Bäume. 5. erweiterte Auflage. BLV Verlagsgesellschaft, München 2007, ISBN 978-3-8354-0183-9.
Gabriele Zieschank: Bad Brückenau und sein Altlandkreis. In: Die Reihe Archivbilder. Sutton Verlag GmbH, Erfurt 2004, ISBN 3-89702-687-2.
Hans Joachim Fröhlich: Alte liebenswerte Bäume in Deutschland. Cornelia Ahlering Verlag, Buchholz 2000, ISBN 3-926600-05-5.
Ewald Wegner und Helmut Wehner: Bad Brückenau im Wandel der Jahrhunderte. Hrsg.: Bad Brückenau. 2. überarbeitete Auflage. 1994.
Hans Joachim Fröhlich: Bayern. In: Wege zu alten Bäumen. Band 2. WDV-Wirtschaftsdienst, Frankfurt 1990, ISBN 3-926181-09-5.
Aloys Bernatzky: Baum und Mensch. Mit Beiträgen über Baumchirurgie von Michael Maurer. 2. Auflage. Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-7829-1045-1.
Michael Renner: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte. C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1964, Leopold Friedrich Goeckingks Bad Brückenauer Impressionen 1781: Ein Dichter auf Badereise (Digitalisat [abgerufen am 18. Oktober 2021] bei Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte (ZBLG)).
Halbfas-Ney, Fritz Dunkel: Brückenau – Bäderstadt der südwestlichen Rhön – Führer durch das Staatsbad Brückenau und das Heilbad Stadt Brückenau. 3. verbesserte und erweiterte Auflage. Druck Schneider & Co, Neuwildflecken 1959.
Gustav Schneider: Schneider Rhönführer. 15. verbesserte Auflage. Druck und Verlag der Universitätsdruckerei H. Stürtz A. G., Würzburg 1928.
Deutsche Dendrologische Gesellschaft (Hrsg.): Mitteilungen der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft. Nr. 21. Hermann Beyer & Söhne (Beyer und Mann), Langensalza 1912 (us.archive.org [PDF; 100,0 MB; abgerufen am 18. Oktober 2021]).
Friedrich Stützer: Die größten, ältesten oder sonst merkwürdigen Bäume Bayerns in Wort und Bild. Band 2. Piloty & Loehle, München 1901, Die Königseiche im Kurgarten zu Brückenau, S. 37–39 mit Lichtdruck-Tafel (Digitalisat [abgerufen am 18. Oktober 2021]).
Hermann Jäger: Zeitung zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnis und Naturanschauung für Leser aller Ständ. In: Die Natur. G. Schwetschke, Halle 1861 (Google Books).
Franz Kilian Schipper: Topographisch-geschichtliche Beschreibung des Bades Brückenau zur Erinnerung der hundertjährigen Jubiläums-Feier im Juli 1847. J. L. Uth, Fulda 1847 (Google Books).
Ferdinand Gustav Kühne: Zeitung für die elegante Welt. Verlag von Leopold Boß, Leipzig 1838 (Google Books).
H. von Martin: Briefe aus dem Bade Brückenau. Heller und Rohm, Frankfurt am Main 1825 (Google Books).
Stephan Behlen: Der Spessart: Versuch einer Topographie diesen Waldgegend, mit besonderer Rücksicht auf Gebirgs, Forst-, Erd- und Volkskunde. F. A. Brockhaus, Leipzig 1823 (Google Books).
Johann Evangelist Wetzler: Ueber Gesundbrunnen und Heilbäder überhaupt, oder über deren Nutzen, Einrichtung und Gebrauch. Florian Kupferberg, Mainz 1822 (Digitalisat [abgerufen am 18. Oktober 2021] des Göttinger Digitalisierungszentrums (GDZ)).
Christian Ulrich Detlev Eggers (Freiherr): Reise durch Franken, Baiern, Oesterreich, Preußen und Sachsen. Erster Teil. Leipzig 1810 (Google Books).
Melchior Adam Weikard: Neueste Nachricht von den Mineralwässern bei Brückenau im Fuldischen. 2. verbesserte Auflage. Johann Christian Dieterich, Göttingen 1790 (Google Books).
Leopold Friedrich Günther von Goeckingk: Journal von und für Deutschland 1784 – Januar bis Juni. Hrsg.: Leopold Friedrich Günther von Goeckingk. Frankfurt am Main 1784, Kurbrunnen bey Brückenau (Online bei Universität Bielefeld).
Leopold Friedrich Günther von Goeckingk: Deutsches Museum. Weysandschen Buchhandlung, Leipzig 1782, Von dem Kurbrunnen bei Brückenau im Fuldischen (Online bei Universität Bielefeld).
Melchior Adam Weikard: Neueste Nachricht von den Mineralwässern bei Brückenau im Fuldischen. Fulda 1780 (Digitalisat – gedruckt mit Stabelischen Schriften vom Göttinger Digitalisierungszentrums (GDZ)).
== Weblinks ==
König-Ludwig-Eiche im Verzeichnis Monumentaler Eichen.
König-Ludwig-Eiche. In: DeutschesBaumarchiv.de
König-Ludwig-Eiche. In: BR.de
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6nig-Ludwig-Eiche
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Kirchenburg Ostheim
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= Kirchenburg Ostheim =
Die Kirchenburg Ostheim ist eine Kirchenburg in der unterfränkischen Stadt Ostheim vor der Rhön im Landkreis Rhön-Grabfeld. Die dortige Stadtkirche St. Michael befindet sich innerhalb einer zwischen 1400 und 1450 entstandenen doppelten Ringmauer mit dazwischenliegendem Zwinger. Die doppelte Ringmauer weist fünf Wehrtürme auf und ist mit sechs Bastionen auf halber Mauerlänge verstärkt. Die im Renaissancestil auf den Fundamenten einer Vorgängerkirche erbaute evangelische Kirche stammt aus den Jahren 1615 bis 1619. Innerhalb der Befestigungsanlage befinden sich 66 Gewölbekeller mit 72 Gaden, die als Schutzbehausung bei kriegerischen Auseinandersetzungen dienten und in denen die Ortsbewohner in Krisenzeiten ihr Hab und Gut sicher aufbewahrten. Sie gilt mit einer Grundfläche von 75 mal 75 Metern als die größte und besterhaltene Kirchenburg in Deutschland. Ein Teil der Gewölbekeller wird von der einheimischen Bevölkerung als Vorratskeller genutzt.
== Lage ==
Die Kirchenburg befindet sich am nördlichen Ortsrand von Ostheim. Sie steht auf einer Ebene, die leicht nach Süden hin zur Streu, einem rechten Nebenfluss der Fränkischen Saale, geneigt ist. Auf 310 Meter Höhe über Normalnull gelegen überragt sie den Ort um etwa 10 bis 15 Meter. Sie steht im Grenzgebiet zwischen den einstigen Herrschaftsbereichen der Bischöfe von Würzburg im Süden, der Äbte von Fulda im Westen und der Grafen von Henneberg im Norden. Bei kriegerischen Auseinandersetzungen fand die Bevölkerung in der Kirchenburg sicheren Unterschlupf. Sie steht unmittelbar an der schon zur Keltenzeit benutzten Handelsstraße, dem Ortesweg, sowie an der Hohen Straße, der historischen Fernstraße von Fulda nach Bamberg.
== Bedeutung ==
Die Kirchenburg zählt mit einer Fläche von etwa 0,6 Hektar zu den größten Kirchenburgen in Deutschland. Vergleichbare Anlagen wie etwa die Kirchenburgen in den thüringischen Orten Walldorf und Rohr kommen auf etwa 0,3 bis 0,4 Hektar. Sie ist wie keine zweite Kirchenburg in Deutschland von einer doppelten Ringmauer mit dazwischenliegendem Zwinger und mehreren Türmen und Bastionen umgeben. Die Kirchenburg ist bis auf die Südwestseite erhalten; sämtliche Gewölbekeller und Gaden sind noch begehbar. Die Kirchenburg wurde im Jahre 2003 zum Denkmal von nationaler Bedeutung erklärt.
== Geschichte ==
Ostheim mit seiner Kirchenburg und die umliegende Region lagen in einem territorial zersplitterten Gebiet mit häufigen Besitzerwechseln. Von 1409 an gehörten sie zum Erzstift Mainz, 1423 bis 1433 zum Hochstift Würzburg. Im Jahre 1433 übernahmen die Grafen von Henneberg-Römhild das Ostheimer Gebiet, ab 1548 die Grafen von Mansfeld. Ab 1555 regierten dort die Herzöge von Sachsen und ab 1741 die Herzöge von Sachsen-Weimar-Eisenach. 1920 kam Ostheim zum Land Thüringen und 1945 zu Bayern. Seit 1410 ist es kirchlich selbstständig und erhielt im Jahre 1596 das Stadtrecht. Der Adel konnte sich bei kriegerischen Auseinandersetzungen in die zwei Kilometer nördlich gelegene Lichtenburg zurückziehen. Die städtische Bevölkerung an anderen Orten fand hinter einer Stadtmauer Schutz, während die Bewohner von Ostheim den Kriegsgefahren schutzlos gegenüberstanden. Die Ostheimer schützten sich deshalb dadurch, dass sie die Kirche verstärkten und ausbauten. Der Bau der Kirchenburg erfolgte ohne Unterstützung von geistlichen und weltlichen Herren, und auch den späteren Unterhalt übernahmen ausschließlich die Ostheimer Bürger und Bauern.Die erste Kirche Beatae Mariae Virginis wurde im Jahre 1419 fertiggestellt. Sie befand sich wehrtechnisch an ungünstiger Stelle, da sie von ebenem Gelände umgeben war. Zu ihrem Schutz wurde ab 1417/1418 um den Kirchhof eine erste Mauer errichtet. Bis zum Jahre 1450 entstand eine Wehrmauer mit hohen, schlanken Wehrtürmen an den Eckpunkten. Zur Zeit der Hussiteneinfälle in den 1430er Jahren entstanden zusätzlich ein Zwinger und eine weitere, äußere Mauer. In den Jahren 1579 und 1580 wurde die Anlage wegen der Türkenbedrohung weiter ausgebaut. Es entstand eine vollständige turmbewehrte Außenmauer mit dem dazwischenliegenden Zwinger. An den Türmen der inneren Mauer wurden Maulscharten für Hakenbüchsen angebracht. Die Nordseite wurde durch einen weiteren, mittig liegenden Rundturm verstärkt.
In den Jahren 1589 bis 1620 wurde an gleicher Stelle eine neue Kirche erbaut, da die bisherige für die Stadtbevölkerung zu klein geworden war. Im Jahre 1634 kam es während des Kroateneinfalls im Dreißigjährigen Krieg zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Zehn Bürger verteidigten die Kirchenburg mit Hakenbüchsen, mussten die Burg jedoch übergeben, um ein Abbrennen der Stadt zu vermeiden. Die Kirchenburg wurde geplündert, jedoch nicht zerstört.
Innerhalb der Befestigungsmauern befinden sich Speicherhäuser (Gaden) mit darunterliegenden Gewölbekellern mit überwiegend bogenförmigen Türen, die teilweise mit Jahreszahlen versehen sind. Dadurch lassen sich einzelne Gaden auf die Jahre 1547, 1575, 1576, 1855 und 1864 datieren. Durch den Anschluss der Gaden an die Außenseite der inneren Mauer entstand ein zusätzlicher umlaufender Schutzwall. Die meisten Gaden bestehen aus gemauerten Kellern mit Tonnengewölben und darüberliegenden, hüttenartigen Aufbauten. Die Erdgeschosse sind größtenteils aus Bruchstein gemauert, die Obergeschosse bestehen aus Fachwerk. In den Gaden wurden Rüben, Obst, Most, ab etwa 1780 Kartoffeln, teilweise auch Wertsachen aufbewahrt. Da die Gaden im Laufe der Zeit zahlreiche Um- und Ausbauten erfuhren, haben die Firste ungleiche Höhen und die Dächer sind unterschiedlich eingedeckt. Im Rahmen von Bausanierungen und der Bauerhaltung wurden die Gaden teilweise vereinheitlicht.
Da im Laufe des 19. Jahrhunderts die Kirchenburg ihre wehrtechnische Bedeutung verloren hatte, wurde sie nicht mehr weiter ausgebaut, sondern nur noch renoviert. Im 19. Jahrhundert wurde in beide Mauerzüge im Norden der Kirche ein Durchbruch als weitere Zugangsmöglichkeit geschaffen. Beim großen Stadtbrand im Jahre 1878 wurde auch die Kirchenburg beschädigt. In den Jahren 1935 und 1936 wurden die hölzernen Turmstuben der Ecktürme erneuert. Kirchenrenovierungen wurden in den Jahren 1960 und 1961 durchgeführt. Dabei wurde das Deckengemälde farblich rekonstruiert; die Wandfresken an der Süd- und Westseite wurden freigelegt. An der Ostseite wurden zwei kleine, übereinander liegende Emporen entfernt und der Anstrich der Brüstungen der anderen Emporen erneuert.
Nach dem Erwerb der Gaden durch die Stadt Ostheim wurde die Kirchenburg 1982 umfassend saniert. Weitere gründliche Renovierungen der Kirchenburg und der Kirche wurden in den Jahren 2002 und 2003 vorgenommen. Im Sommer 2008 wurde das Museum Lebendige Kirchenburg gegenüber dem Eingangstor eröffnet. Es zeigt auf drei Stockwerken die Geschichte der Ostheimer Kirchenburg und weiterer Kirchenburgen im fränkischen und thüringischen Raum.
== Beschreibung ==
Die Kirchenburg ist von zwei Mauerringen umgeben und hat einen rechteckigen Grundriss. Die innere Fläche misst 60 mal 60 Meter und ist von einer sechs bis acht Meter hohen Mauer umschlossen. An jedem Eckpunkt des Mauerringes befindet sich ein etwa 25 Meter hoher Eckturm. Die beiden Osttürme sind rund, die beiden Westtürme haben einen rechteckigen Grundriss. Die Türme sind jeweils 66 Meter voneinander entfernt. In der Mitte der nördlichen Begrenzungsmauer befindet sich eine Rundbastion als Verstärkung. Um die innere Mauer verläuft ein 7,5 Meter breiter Zwinger. Die äußere Mauer ist fünf Meter hoch, besitzt turmartige Eckbastionen und jeweils eine weitere Bastion auf den Längsseiten. Nicht mehr erhalten ist eine runde Bastion an der Ostseite der Außenmauer. An der südwestlichen Ecke befindet sich ein fünfter Wehrturm. Ein sechster Wehrturm am südöstlichen Eckpunkt der äußeren Mauer ist ebenfalls nicht erhalten geblieben. Fundamente dieses Turmes wurden bei Bauarbeiten im Jahre 1911 gefunden. Auch der an den Turm anschließende Teil der Ostmauer wurde abgebrochen.Im Zwinger befanden sich Wehrgänge, die nur noch an der Südseite erhalten sind. Die Wehrmauern aus Bruchsteinen sind stellenweise verputzt. Zur Bauzeit der Kirchenburg wurde mit Bogen und Armbrust gekämpft, deshalb wurden senkrechte Schlitzscharten für die Armbrustschützen angebracht. Waagrechte Maulscharten dienten in späterer Zeit dem Gebrauch von Handfeuerwaffen. Der militärische Nutzen der Anlage trat jedoch immer mehr in den Hintergrund.
An die Außenmauern stoßen die teilweise noch erhaltenen Stadtbefestigungsmauern an. Zugänglich war die Kirchenburg an der Südostecke durch ein rundbogiges Eingangstor mit einem Fallgatter. Davor lag ein Befestigungsgraben, der die gesamte Anlage umschloss. In späteren Jahren wurde der Graben verfüllt und durch die nördlichen Mauerteile ein weiterer Zugang von außen gebrochen.Die Gaden der Kirchenburg stehen überwiegend dicht an der Innenseite des inneren Mauergürtels, im nördlichen und östlichen Teil stehen sie auch frei. Sie haben ein bis zwei Stockwerke und sind durch teilweise schmale Gassen und über mehrere Treppen erreichbar. Südlich der Kirchenburg befinden sich teilweise gewölbte, teilweise in den Felsen gehauene Keller, die bis unter den südlichen Zwinger reichen. Bei bevorstehenden Angriffen zogen sich die Bewohner von Ostheim mit ihren wichtigsten Habseligkeiten und Vorräten und einem Teil des Nutzviehs in die Kirchenburg zurück, wo sie vorübergehend Schutz fanden. Die Keller und Gaden nahmen Menschen, Vieh und Vorräte auf. In Friedenszeiten dienten sie der Vorratshaltung, wobei meistens jeweils eine Gade mit Keller im Besitz einer Familie war. Teilweise teilten sich auch mehrere Familien eine Gadenanlage. In den Kellern blieben im Sommer und Winter die Temperaturen beinahe konstant. Dadurch hielten sich eingelagerte Waren lange frisch. Nach der Ernte wurden Getreide, Heu, Most, Rüben oder Wein eingelagert. Wein und Früchte kamen in die dunklen, gleichmäßig temperierten Keller, Heu und Getreide in die Obergeschosse.
Inmitten der Kirchenburganlage steht die Stadtpfarrkirche. Neben dem Torhaus befindet sich die ehemalige Kirchhofschule, die heute ein Naturkundemuseum beherbergt. Das Eingangstor der Kirchenburg befindet sich in der Nähe des südöstlichen Eckpunktes an der Ostmauer innerhalb der Ostheimer Stadtmauer. Das rundbogige Tor ist noch im Originalzustand erhalten. Es trägt auf einem eisenbeschlagenen Torflügel, in dem zusätzlich eine kleine Türöffnung für den Personenverkehr eingebaut ist, die Jahreszahl 1622. Hakensteine dienten einem aufziehbaren Fallgatter. Die Kirchhofschule war im 16. Jahrhundert eine Lateinschule, später eine Mädchenschule. Die Wohnung des Lehrers befand sich im Fachwerkgeschoss. Urkundlich belegt ist, dass das Gebäude seit Mitte des 16. Jahrhunderts als Ostheimer Schule genutzt wurde. Im 19. Jahrhundert wurde das Gebäude mehrmals umgebaut. Um das Jahr 1980 wurde das Gebäude zum letzten Mal umgebaut und grundlegend saniert. Heute werden dort wechselnde Ausstellungen gezeigt. Der Steingaden wurde in den Jahren 1466 und 1467 an die Wehrmauer angebaut und ist ein Teil der weitläufigen Gaden und Kelleranlagen innerhalb der Befestigung. Das aus Bruchsteinen errichtete Gebäude besitzt zwei Rundbogenportale und mehrere Schlitzfenster und wurde in den Jahren 1560 und 1664 umgebaut.
=== Kirche ===
Die alte Kirche aus dem 15. Jahrhundert, die 1589 im Osten, Westen und Norden ummauert worden war, wurde im Jahre 1615 bis auf den Turm abgerissen. An der gleichen Stelle wurde 1615 bis 1620 die jetzige Kirche erbaut. Sie zählt zu den frühesten evangelischen Stadtkirchen in Mitteldeutschland. Der Turm auf der Ostseite, der dem Kirchenschiff aufsitzt, wurde in den Jahren 1579 und 1580 gebaut und ersetzte an gleicher Stelle einen Vorgänger mit hölzernem Aufsatz. Der Turm trägt eine der frühesten welschen Hauben der Region, besitzt spitzbogige Fenster und überragt die Befestigungstürme. Zwei Quader an der Südostecke des Turmgeschosses tragen die Jahreszahl 1579 und die Namen des von 1575 bis 1591 amtierenden Pfarrers Johann Schultheiß und des Schultheißen Conrad Zinn. Beide sind auf der Südfassade der Kirche im Profil einander zugewandt abgebildet.
Der rechteckige Bau besitzt ein Satteldach über drei Schiffe. Die Außenwände der Kirche waren anfangs regelmäßig gequadert verputzt. Im Inneren wurde die Westempore mehrmals umgebaut und im Jahre 1975 nach historischem Vorbild erneuert. Im Jahre 1695 wurden größere Restaurierungsarbeiten durchgeführt. 1738 erhielt die Kirche neue Fenster; die Emporen wurden weiß gestrichen. Nach dem Stadtbrand von 1878 wurde die Kirche im Jahre 1881 umfassend renoviert und letztmals 2002 und 2003 in größerem Umfang restauriert.Das große Tonnengewölbe aus Holz wurde im Jahre 1619 von Nicolaus Storant aus Meiningen mit einem Deckenbild, direkt auf das Holz gemalt, ausgestattet. Es zeigt den himmlischen Thron Gottes, wie er in der Offenbarung, Kapitel 4 und 5 beschrieben ist. Ebenfalls aus dem Jahre 1619 stammt ein steinerner Opferstock von Hans Markert. Auf der nördlichen Längsseite und auf der hinteren Seite befinden sich zwei übereinander liegende, auf die Kanzel mit den vier Evangelisten ausgerichtete bestuhlte Emporen. Der Kirchenraum verfügt einschließlich der Emporen über 1000 Sitzplätze. Der Haupteingang der Kirche an der Südseite aus dem Jahre 1616 ist prunkvoll im Renaissance-Stil gehalten. Das Ostportal, ebenfalls im Renaissance-Stil mit einem Obelisken, stammt aus dem Jahre 1615. An der Südwand sind um die Fenster herum christliche Szenen in Graumalerei angeordnet, die Gottes Liebe, Treue und Fürsorge, Kain und Abel, David sowie Goliat zeigen. An den Wänden sind Grabsteine angebracht, die in den Jahren 1961 bis 1975 neu angeordnet wurden. In der Gruft unter dem Chor ist ein Freiherr von Stein beigesetzt.
Im Dreißigjährigen Krieg wurden die älteren Glocken der Kirche umgeschmolzen. Wandernde Lothringer Glockengießer gossen im Jahre 1645 zwei Glocken für die Stadtkirche, wobei eine mit dem Stadtwappen und die andere mit den Namen der beiden Geistlichen Ostheims und des Stifters versehen wurden. Im Jahre 1714 zersprang die große Glocke und wurde von Mattheus Ulrich neu gegossen. Er arbeitete die Namen des regierenden Herzogs von Sachsen sowie von Beamten und Geistlichen ein.
=== Orgel ===
Die Orgel im Chorraum stammt von Johann Ernst Döring aus dem Jahre 1738. Sie stand von 1894 bis 1975 auf der erweiterten Westempore. Bei der Zurückverlegung in den Chorraum im Jahre 1975 wurden am Gehäuse zwei seitlich angebrachte Turmaufbauten von 1894 entfernt. Die Orgel hat zwei Manuale und Pedal mit insgesamt 37 Register. Das Gehäuse wurde mit der früheren Farbgebung neu gefasst und vergoldet. Renoviert wurde das Orgelwerk im Rahmen der Zurückverlegung durch Orgelbaumeister Otto Hoffmann und Söhne. In der Mitte ist das herzoglich sächsische Wappen mit zwei vergoldeten Löwen als Wappenhalter und darüber der Zimbelstern angebracht. Darunter steht ein Posaunenengel mit beweglichen Armen, der bei der Renovierung neu vergoldet wurde. Neu geschnitzt wurden auch die beiden großen Blattranken-Einfassungen. Eine Besonderheit ist, dass bei Betätigung des Registers Trompete 8’ im Hauptwerk ein Mechanismus in Gang gesetzt wird, durch den die Engelsfigur unterhalb des Wappenschildes die Trompete an den Mund setzt. Von der Orgel aus ist auch die Chororgel spielbar.
=== Türme ===
An der inneren Umfassungsmauer stehen vier Türme. Der runde Schulglockenturm an der Südostecke mit einem Hocheingang im zweiten Stockwerk umfasst fünf Stockwerke. Aufgrund seiner Lage am ehemals einzigen Zugang kam ihm eine größere Bedeutung zu. Er wurde in zwei Bauphasen errichtet. Der Turmschaft stammt aus den Jahren 1417 und 1418. Die obere Turmstube und das Dachgeschoss wurden nach 1426 errichtet. Im Turm befand sich früher die Schulglocke, von der er den Namen hat. Er hat eine Höhe von 26 Metern und mit über fünf Metern den größten Durchmesser aller Türme der Burg.
Der Achtlöchrige Turm am Nordwesteck hat seinen Namen von den acht Fenstern im Fachwerkobergeschoss. Er ist 22 Meter hoch und hat sechs Stockwerke, von denen die fünf unteren massiv aus Bruchsteinen gemauert sind. In den Stockwerken, die über eine Leiter zugänglich sind, befindet sich jeweils ein Raum. Die unteren Geschosse mit nahezu quadratischem Grundriss wurden in den Jahren 1417 und 1418 errichtet. Die Turmstube wurde nach einer Inschrift im Jahre 1666 fertig gestellt. 1935 wurden die Fachwerkwände erneuert.
Der Waagglockenturm mit rechteckigem Grundriss und Buckelquadern an den Ecken steht an der Südwestecke. Die Außenmaße des Turmes betragen etwa 4,5 mal 4,8 Meter. Die unteren fünf Stockwerke sind aus Bruchstein gemauert, das obere Drittel besteht aus Fachwerk. Das Fachwerkobergeschoss besitzt einen Glockenerker, das Dach ist achteckig. Das Baujahr des Turmes ist nicht bekannt. Der Turmhelm und die Turmstube stammen aus der Zeit nach 1436. Im Turm befand sich früher die Stadtwaage, von der sich der Name ableitet. Aus dem Jahre 1618 ist bekannt, dass der Turm eine Uhr trug. Mittels eines eisernen Uhrwerks wurde die Glocke stündlich angeschlagen und die Zeit auf einem großen Zifferblatt angezeigt. Die Glocke, die in einer 1739 erneuerten Luke hängt, diente auch als Feuerglocke und als Signalzeichen, dass die Stadtwaage benutzt werden durfte. Deswegen hieß der Turm früher auch Schlagturm. Der Waagglockenturm ist mit 26,5 Metern und sechs Geschossen der höchste der Kirchenburg. Er kann als Aussichtsturm bestiegen werden.
Der runde Pulverturm an der Nordostecke hat eine Höhe von 16,5 und einen Durchmesser von etwa 4,5 Metern. Der massive Turm ist in die innere östliche und nördliche Zwingermauer eingebunden und über einen Wehrgang zugänglich. Auffällig ist die unterschiedliche Mauerstruktur aus Bruchsteinen über drei Stockwerke. Als Pulverturm wurde er bereits im Jahre 1642 in einer Stadtrechnung bezeichnet. Einen Nachweis, dass er als Lagerort für Schießpulver diente, gibt es allerdings nicht. Das Baujahr ist nicht bekannt. Der Turm soll nach den Beschädigungen im Dreißigjährigen Krieg im Jahre 1664 neu errichtet worden sein.Der runde Wächterturm, auch Zwingerturm genannt, steht in der Nähe des Waagglockenturms am südwestlichen Eckpunkt der Außenmauer. Er ist der einzige erhaltene Turm an der äußeren Umfassungsmauer und besitzt ein nachträglich aufgesetztes Fachwerkobergeschoss sowie ein achteckiges Zeltdach. Der Turm hat drei Stockwerke und ist unterkellert. Seine Höhe beträgt 11,75 Meter. Der Zugang geschieht über eine Holztreppe im Obergeschoss. Innen führt eine weitere Treppe zum zweiten Obergeschoss mit zwei kleinen Räumen und einem größeren, die als Schlaf- und Wohnräume dienten. Dort wohnte vom 17. bis zum 19. Jahrhundert der Feuer- und Nachtwächter. Der Turm wurde im 20. Jahrhundert zeitweise Kißlingsturm nach einem darin wohnenden Mann namens Kißling benannt.
== Literatur ==
Annette Faber: Kirchenburg St. Michael – Ostheim vor der Rhön. 12. Auflage. Schnell & Steiner, Regensburg 2005, ISBN 978-3-7954-4570-6.
Edmund Zöller, Dieter Dietrich: Wehrkirchen und Kirchenburgen in Unterfranken: Steigerwald – Rhön – Spessart – Fränk. Weinland. Seehars, Uffenheim 1994, ISBN 3-927598-14-3.
Klaus Leidorf, Peter Ettel, Walter Irlinger, Joachim Zeune: Burgen in Bayern: 7000 Jahre Geschichte im Luftbild. Konrad Theiss Verlag GmbH & Co., Stuttgart 1999, ISBN 3-8062-1364-X.
Ursula Pfistermeister: Wehrhaftes Franken. Verlag Hans Carl, Nürnberg 2001, ISBN 3-418-00386-9.
Diethard H. Klein: Frankens Burgen einst und heute. Druckhaus Bayreuth, Bayreuth 1991, ISBN 3-922808-31-X.
Wilfried Bahnmüller, Michael B. Weithmann: Burgen und Schlösser in Franken und der Oberpfalz. J. Berg Verlag im C. J. Bucher Verlag GmbH, München 2006, ISBN 3-7658-4114-5.
== Weblinks ==
Die Kirchenburg – Einmalig in Deutschland
Lebendige Kirchenburg
Kirchenburgmuseum. In: Rhoenline.de
Kirchenburg Ostheim – Denkmalschutzliste für den Landkreis Rhön-Grabfeld (Memento vom 4. Februar 2019 im Internet Archive; PDF, 2,3 MiB)
Kirche Sankt Michael – Denkmalschutzliste für den Landkreis Rhön-Grabfeld (Memento vom 21. Januar 2019 im Internet Archive; PDF, 3,8 MiB)
360° Rundgang durch die Kirchenburg Ostheim
Informationen zur Orgel. In: orgbase.nl. Abgerufen am 18. April 2023 (deutsch, niederländisch).
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kirchenburg_Ostheim
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Kloster Oelinghausen
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= Kloster Oelinghausen =
Das Kloster Oelinghausen im Arnsberger Ortsteil Holzen wurde um 1174 zunächst als Doppelkloster gegründet, ehe es sich zu einem reinen Prämonstratenserinnenkloster entwickelte. Im 17. Jahrhundert erfolgte die Umwandlung in ein weltliches Damenstift, ehe es nach einigen Jahrzehnten erneut zum Prämonstratenserorden kam. Das Kloster wurde im Zuge der Säkularisation im Jahr 1804 aufgehoben.
Die den hll. Petrus und der Maria geweihte Klosterkirche ist seitdem Pfarrkirche. Die weitgehend gotische Kirche stammt im Wesentlichen aus dem 14. Jahrhundert. Der Innenraum wurde im 18. Jahrhundert einheitlich im barocken Stil umgestaltet. Zu den bemerkenswerten Ausstattungsstücken gehören die sogenannte Kölsche Madonna aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts sowie die Orgel, die in Teilen noch aus dem 16. Jahrhundert stammt.
Seit 1992 wird das restaurierte Klostergebäude von Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel bewohnt. Seit einigen Jahren besteht ein Klostergartenmuseum. Das Kloster und der zugehörige Gutshof liegen in einem überwiegend land- und forstwirtschaftlich genutzten Gebiet deutlich entfernt von den nächsten geschlossenen Ortschaften Herdringen und Holzen. Das Kloster liegt im Landschaftsschutzgebiet Oelinghausen.
== Historische Entwicklung ==
=== Gründungszeit ===
Gestiftet wurde das Kloster 1174 nach der bislang gängigen Darstellung von Siegenand von Basthusen, einem Ministerialen in Diensten des Kölner Erzbischofs, und seiner Frau Hathewigis. Dazu übertrugen die Stifter dem Kloster Güter in Oelinghausen und Bachum. Einige Jahre später bedachte der Gründer das Kloster erneut und übertrug die Vogtei des Klosters einem Grafen Reiner von Freusburg. Nach seinem Tod wurde der Stifter in der Klosterkirche beigesetzt.
An dieser Darstellung der Gründungsgeschichte meldete der Archivar und Historiker Manfred Wolf jüngst Zweifel an. Demnach seien die von Siegenand von Basthusen gestifteten Güter zu klein gewesen, um eine Klostergemeinschaft zu erhalten. Folgt man Wolf, handelte es sich lediglich um eine Zustiftung. Die eigentliche Gründung müsste danach vorher in einer Zeit zwischen 1152 und 1174 stattgefunden haben. Als Grundausstattung nimmt Wolf den Oberhof Oelinghausen an, der unter anderem über die Grafen von Northeim an Heinrich den Löwen gekommen war und den dieser dem Kloster Scheda übereignete. Scheda habe danach Oelinghausen als Tochterkloster gegründet. Dabei lebten zunächst nur männliche Ordensangehörige in Oelinghausen, bis später auch Nonnen hinzu kamen.Auch dies widerspricht der bisher gängigen Darstellung, nach der zunächst Frauen in Oelinghausen lebten, bis sich ein Doppelkloster herausbildete. Dabei lebten Chorherren und -frauen räumlich getrennt in einem Gebäudekomplex zusammen. Nach der Historikerin Edeltraud Klueting sei Oelinghausen anfangs eine Einrichtung für Frauen gewesen, für die das Kloster Scheda bei Wickede die seelsorgerische Betreuung übernahm. Erst nach einer gewissen Konsolidierungsphase lässt sich in den Quellen der Nachweis für einen Doppelkonvent greifen. Diese Lebensform war für die frühe Ordensgeschichte nicht ungewöhnlich, bis das Generalkapitel des Prämonstratenserordens 1188 die Trennung von Männer- und Frauenklöstern beschloss. Unklar ist jedoch, wann in Oelinghausen und anderen Klöstern die Einrichtung als Doppelkloster endete, in Oelinghausen nicht vor dem frühen 13. Jahrhundert. Nachweisbar ist sie noch für 1194, aber auch 1238 ist noch von „fratrum et sororum“ die Rede.Oelinghausen war nicht unabhängig, sondern unterstand anfangs dem Abt des Klosters Scheda und ab 1228 der Paternität des Klosters Wedinghausen bei Arnsberg. Im Gegensatz zum Kloster Rumbeck konnte es die freie Wahl des Propstes bewahren. Klueting vermutet, dass der Wechsel der Paternität mit dem Ende des Doppelklostercharakters einherging. Aber statt eines klaren Bruches hat es wohl eine Übergangszeit gegeben, die bis ins vierte Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts andauerte.
=== Bedeutungsgewinn und Aufschwung ===
Das Kloster wurde durch die Kölner Erzbischöfe gefördert. Philipp von Heinsberg bestätigte 1174 die Gründung, befreite es 1179 von der Zugehörigkeit zur Pfarrei Hüsten und schenkte ihm einen Zehnten. Adolf I. befreite es nach 1194 von der Archidiakonatsgerichtsbarkeit. Er schenkte dem Kloster zudem einen Wald und bestätigte die bisherigen Rechte und Besitzungen. Bruno IV. befreite es 1208 von der Vogtei durch Adelsfamilien. Engelbert von Berg stiftete das Gnadenbild der thronenden Madonna. Auch vermittelte er dem Kloster wohl die Bestätigung der Gründung durch Papst Honorius III. von 1225. Darin heißt es, dass er „Prior und Konvent Oelinghausen beziehungsweise den Ort und die sich dort dem Gottesdienst widmenden Menschen mit allen Gütern unter den Schutz von St. Peter und Paul und von sich“ nehme. Er bestätigt auch alle bereits vom Kölner Erzbischof verliehenen Freiheiten.Nach dem Vorbild der Erzbischöfe beschenkten auch zahlreiche Adelige und Ministeriale das Kloster. Darunter war schon 1184 Simon von Tecklenburg. Anfang des 13. Jahrhunderts folgten Adolf I. von Dassel und Hermann II. von Ravensberg.
An erster Stelle der Förderer standen aber bis zum Ende ihrer Herrschaft die Grafen von Arnsberg. Als erster aus dem Grafenhaus trat Gottfried II. 1204 auf. Er schlichtete auch Konflikte zwischen dem Kloster und den Markgenossen aus Herdringen. Dem Vorbild des hohen Adels folgten zahlreiche weitere Stifter. So schenkten Conradus von Allagen und dessen Erben 1194 dem Kloster ihr Eigengut bei Allagen für ihr Seelenheil. Lambert, Dompropst in Paderborn, überließ 1207/1212 seine Güter bei Neheim dem Kloster. Trotz der Befreiung von der Vogteigewalt nahmen die Grafen von Arnsberg erheblichen Einfluss auch auf das Leben des Konvents. So gelang es, einen unliebsamen Propst abzusetzen. Als Hauptgönner setzten die Grafen Wohlverhalten voraus. Sie gelangten im Laufe der Zeit zu einer vogtähnlichen Stellung.Dem ersten namentlich bekannten Propst Radolf gelang es 1232, die Einkünfte aus der Pfarrstelle in Altenrüthen mit dem Propstamt in Oelinghausen zu verbinden, was über Jahrzehnte zum Streit mit dem Kloster Grafschaft führte. Im 15. Jahrhundert kamen die Rechte wieder an Grafschaft. In die Zeit des Propstes Radolf fiel auch die Übertragung des Patronatsrechts an der Kapelle in Hachen an das Kloster Oelinghausen durch Gottfried II. von Arnsberg.Im 14. Jahrhundert kam es zur Gebetsverbrüderung mit zahlreichen anderen Klöstern und Stiften. Diese bestanden nachweislich mit den Klöstern Varlar, Siegburg, St. Alban in Trier und Altenberg. Spätestens seit Mitte des 14. Jahrhunderts bestand in Oelinghausen eine Bruderschaft (Fraternität) in die auch Stifter und Wohltäter des Klosters aufgenommen wurden. Dazu zählten Angehörige der Familie der Grafen von Arnsberg, adelige Gönner aber auch einfache Klosterbauern. Bei den Adeligen und entfernt lebenden Gönnern war die Mitgliedschaft eher nominell und sie beteiligten sich kaum am religiösen Leben der Bruderschaft. Die Bruderschaft St. Johannes Evangelist hatte in der Kirche einen eigenen Bruderschaftsaltar. Sie verfügte über eigenen Besitz und spielte eine wichtige Rolle etwa für die Finanzierung des Hospitals. Die Bruderschaft verlor im 17. Jahrhundert an Bedeutung.Neben dem Chorgebet erfüllte das Kloster weitere Aufgaben. So existierten ein Armenhaus und ein Hospital, die etwa im 13. Jahrhundert eigene Einkünfte erhielten. Das Hospital bestand noch am Ende des 15. Jahrhunderts.
=== Krise in Spätmittelalter und Früher Neuzeit ===
Noch 1391 lobte der Kölner Erzbischof das Kloster dafür, dass es den Gottesdiensten wachsamer als andere nachkommen würde. Gleichzeitig wurden aber auch erhebliche materielle Probleme deutlich. Der Erzbischof erließ Oelinghausen die offenbar stark belastende Aufzucht von Jagdhunden. Gleichzeitig beklagte er, dass immer mehr abhängige Bauern in die Städte und Freiheiten zogen. Durch diesen „Diebstahl“ der Person würde dem Kloster großer Schaden zugefügt. Der Erzbischof und Landesherr des Herzogtums Westfalen verbot den Städten in seinem Machtbereich die Aufnahme dieser Flüchtlinge. Die Erteilung des Bürgerrechtes erklärte er für unzulässig. Die Betroffenen sollten eine hohe Strafe zahlen und gefesselt ins Kloster zurückgeführt werden.Weitere desintegrierende Momente kamen hinzu. Es gab deutliche Tendenzen zur Bildung von Sondervermögen und zur Lockerung der Klausurvorschriften. Stark getroffen wurde das Kloster Anfang des 15. Jahrhunderts von der Pest, durch die ein Großteil der Nonnen umkam. Die Notwendigkeit, zahlreiche junge Schwestern aufzunehmen, nutzte Erzbischof Dietrich II. von Moers, um auf die Notwendigkeit der Beachtung der Klausurvorschriften zu dringen. „Die jungen Mädchen, die im Kloster Oelinghausen das Ordenskleid angenommen haben, um Gott zu dienen, sollen nicht durch häufigen und unnützen Umgang mit weltlichen Personen abgelenkt werden. Der Erzbischof schreibt allen bindend vor, die Klausur des Klosters so gewissenhaft zu beachten“ und niemanden zum Inneren der Klausur zuzulassen. Letztlich blieb dies aber vergeblich. Aus dem 15. Jahrhundert wird sogar von einem Gasthaus berichtet, das ein Konventuale aus Wedinghausen betrieb.
Die Soester Fehde in den Jahren 1444 bis 1449 brachte erhebliche wirtschaftliche Belastungen mit sich. Propst Heinrich von Rhemen führte in seiner Amtszeit 1483 bis 1505 anstelle der bisherigen Kleidung den üblichen Habit der Prämonstratenserinnen ein. Allerdings gelang es nicht, die Bildung von Einzelhaushalten zu verhindern. Um Zuwendungen von außen nicht ganz abzuschneiden, wurde der Zustand 1491 vom Generalabt gedeckt. Dieser erlaubte im Gegensatz zu den Ordensstatuten, dass die Familien den Nonnen weltliche Güter für deren eigene Bedürfnisse übertragen durften. Auf diese Weise war eine weitere Lockerung der Lebensweise nicht zu verhindern. Außerdem mangelte es an Priestern, die den Propst bei seinen gottesdienstlichen Verpflichtungen unterstützten. Selbst das Generalkapitel der Äbte mahnte an, mehr Kapläne oder Kanoniker heranzuziehen. Propst Gottfried von Ulfte gab vor diesem Hintergrund 1539 sein Amt auf, das daraufhin für ein Jahrzehnt unbesetzt blieb. Auch später konnte ein geordneter Gottesdienst nicht gewährleistet werden.
1548 visitierte Erzbischof Adolf III. von Schaumburg Kloster Oelinghausen. Die Priorin, eine leibliche Schwester des Landdrosten Henning von Böckenförde gen. Schüngel, gab zu, dass die Regel nur noch teilweise eingehalten werde und das Hauptproblem das Leben in den Einzelhäusern sei. Anhängerinnen der lutherischen Lehre dagegen gebe es nicht. Trotz einiger kleinerer Maßnahmen, um das Einhalten der Ordensregel wieder durchzusetzen, wurden die Einzelwohnungen nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Das Leben in Oelinghausen ähnelte immer mehr dem in einem weltlichen Damenstift.1583 besetzten Truppen des dem Protestantismus anhängenden Kölner Erzbischofs Gebhard Truchsess das Kloster. Dieser ließ einen weltlichen Verwalter einsetzen und lutherische Prädikanten versuchten vergeblich, die Ordensfrauen zum Konfessionswechsel zu veranlassen. Die meisten Frauen verließen das Kloster und flohen zu ihren Familien. Nach Gebhards Niederlage kehrten die Frauen zurück. Das Kloster war in der Zeit der Besetzung ausgeplündert worden, was die bereits zuvor bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch verstärkte. Unter der Leitung von Kaspar von Fürstenberg hatte eine Gruppe verwandter Adeliger neue Konstitutionen für das Kloster entworfen. Danach sollte die Stelle des Propstes wegfallen und die alleinige Leitung in den Händen der Priorin liegen. Fürstenberg setzte auch die Wahl seiner Schwester Ottilia von Fürstenberg (1585–1621) durch.
=== Wiederaufschwung und Umwandlung in ein Damenstift ===
Bereits in der zurückliegenden Zeit war Kloster Oelinghausen zum bevorzugten Wohnort der Mutter Ottilias von Fürstenberg und entgegen der Konstitutionen zu einer Art Familienmittelpunkt geworden. Die Brüder Kaspar von Fürstenberg und Bischof Dietrich von Fürstenberg trugen stark dazu bei, dass Oelinghausen wirtschaftlich gesunden konnte. Allein Dietrich schenkte Oelinghausen im Gedenken an die Mutter 4334 Taler in Form einer Memorien- und Sakramentsstiftung. Insgesamt stiftete er 10.000 Taler. In der Folge konnte das Abteigebäude neu erbaut und die Propstei wieder hergestellt werden. Ottilia gelang es, Streitigkeiten um Besitz beizulegen und verlorene Güter wiederzugewinnen. Die Schulden von 20.000 Talern wurden abgetragen, und es konnte sogar ein Überschuss von 13.000 Talern zurückgelegt werden. Für den Wohlstand des Klosters spricht, dass es, wie es in einem Visitationsprotokoll heißt, den Erzbischof von Köln und den Bischof von Paderborn gleichzeitig bewirtete. In diese Zeit fielen allerdings auch Überfälle von Landsknechten aus den Niederlanden, die den Konvent zur zeitweisen Flucht zwangen. Hinzu kamen zwei Pestausbrüche.
Das Ziel Ottilias von Fürstenberg, die auch Äbtissin des Stifts Heerse war, war die Umwandlung von Oelinghausen in ein Damenstift. Begünstigt wurde diese Politik durch die innere Schwäche von Wedinghausen. Erst seit der Wahl des Abtes Gottfried Reichmann kam es ab 1613 zum offenen Konflikt. Letzterem ging es darum, Oelinghausen wieder fest in den Prämonstratenserorden zu integrieren. Ein Großteil des Adels des Herzogtums Westfalen mit den Fürstenbergern an der Spitze stand dagegen auf Seiten von Ottilia von Fürstenberg. Dietrich von Fürstenberg erbat daher von Papst Paul V. 1616 die Erlaubnis zur Umwandlung des Klosters in ein Damenstift. Eine Untersuchung erbrachte, dass von monastischem Leben ohnehin keine Rede mehr sein konnte. Danach gab es keine klösterliche Gewohnheit („nulla regularis vigeat observantia“). Die Jungfrauen lebten ohne Klausur, ohne Ablegung von Gelübden und hätten das Ordensgewand abgelegt. Daraufhin löste der Papst 1617 Oelinghausen aus dem Prämonstratenserorden.; ein Jahr später wurde es in ein Damenstift umgewandelt. Eine neue Ordnung trennte Abtei- und Kapitelvermögen ab und bestimmte, dass außer der Äbtissin, wie die Vorsteherin nun genannt wurde, zwanzig Stiftsdamen dort leben sollten. Auch nach dem Tod Ottilias von Fürstenberg führten ihre Nachfolgerinnen den eingeschlagenen Kurs fort.
=== Rückkehr zum Prämonstratenserorden ===
Während des Dreißigjährigen Krieges mussten die Stiftsdamen wiederholt Oelinghausen verlassen. Die Prämonstratenser, die die Trennung von Oelinghausen vom Orden nicht anerkannten, setzten sich dafür ein, es zurückzubekommen. Wedinghausen hatte die Verantwortung für Oelinghausen vorübergehend an das Kloster Knechtsteden abgegeben. Dessen Abt führte einen dreizehn Jahre andauernden Prozess durch drei Instanzen. Letztlich entschied der Nuntius Fabio Chigi, der spätere Papst Alexander VII., gegen ein Stift. Die Stiftsdamen waren indes nicht bereit, sich ihm zu beugen. Daher überfiel der Wedinghauser Abt Reichmann 1641 das Stift und besetzte es. Daraufhin mussten die Stiftsdamen gegen eine Abfindung Oelinghausen verlassen.Das Kloster wurde anfangs von Chorfrauen aus dem Kloster Rumbeck neu bezogen. Es kam wieder zur Wahl eines Propstes, der fortan stets aus Wedinghausen kam. Den Neuanfang erschwerten die Kriegsschäden. Erst Ende des 17. Jahrhunderts war die finanzielle Lage wieder einigermaßen gefestigt, so dass unter Propst Nikolaus Engel ein neues Propsteigebäude errichtet werden konnte. Unter Propst Theodor Sauter, der von 1704 bis 1732 amtierte, wurde ein neues Konventsgebäude errichtet, das Kircheninnere prachtvoll ausgestattet und ein Erweiterungsumbau der Orgel durchgeführt. Der Propst hinterließ eine Klosterchronik. In Hinsicht auf die Einhaltung der Konstitutionen zeigten sich die Visitatoren zufrieden.
=== Ende und Folgenutzung ===
In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts gefährdete das Vordringen der katholischen Aufklärung im Herzogtum Westfalen und im Erzstift Köln den Bestand des Klosters. Der Wedinghauser Konventuale Friedrich Georg Pape hatte einige Chorfrauen veranlasst, sich über die autoritäre Führung des Propstes zu beschweren und eine Visitation zu beantragen. Mit der Untersuchung wurde der geistliche Rat Maria Balduin Neesen beauftragt, der der Aufklärung verpflichtet und der klösterlichen Lebensform gegenüber kritisch eingestellt war. Er sprach von einem „Mönchsdespotismus“ und kritisierte einzelne Angehörige der Gemeinschaft und die Geistlichen hart. Sowohl die Priorin wie auch die Kellermeisterin mussten ihre Ämter abgeben. Der Propst wurde 1789 seines Amtes enthoben. Neesen plädierte zwar vergeblich dafür, das Kloster in eine Versorgungsanstalt für bürgerliche und adlige Frauen umzuwandeln, die Gemeinschaft aber blieb innerlich zerrissen. Vor allem jüngere Chorfrauen, geprägt von den Ideen der Freiheit und Gleichheit, verweigerten der Priorin den Gehorsam.1804 kam es im Zuge der Säkularisation nach dem Übergang des Herzogtums Westfalen an Hessen-Darmstadt zur Aufhebung des Klosters. Das Klostergut wurde zunächst verpachtet und 1828 vom Freiherrn von Fürstenberg aus Herdringen gekauft. Bereits 1806 wurde auf Basis von fürstenbergischen Stiftungen aus der frühen Neuzeit ein Kuratbenefizium eingerichtet. Dessen erster Inhaber und Vikar war der letzte Klostergeistliche Johann von Nagel. 1904 entstand die eigenständige Pfarrei St. Petri Oelinghausen. Heute gehört die Gemeinde zusammen mit St. Antonius und St. Vitus Herdringen sowie Heilig Geist Hüsten zum Pastoralverbund Kloster Oelinghausen.Von 1956 an lebten in Oelinghausen für einige Zeit Mariannhiller Missionare. Seit 1992 wird das restaurierte Klostergebäude von Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel bewohnt. Im alten Stallgebäude existiert seit 2005 ein vom Freundeskreis Kloster Oelinghausen e. V. betriebenes Klostergartenmuseum. Der Verein organisiert auch Führungen durch die Kirche und die Klosteranlage. Seit mehr als vierzig Jahren finden in der Klosterkirche regelmäßig Konzerte in der Reihe „musica sacra“ statt. Die barocken Apostelfiguren waren im März 2014 Denkmal des Monats in Westfalen-Lippe.
== Strukturen ==
=== Besitzungen ===
Das Kloster wurde nach der Gründung zunehmend wohlhabend und konnte bereits im 13. Jahrhundert Zehnten und Höfe kaufen. Bruno Abt von Deutz übertrug 1220 dem Kloster Oelinghausen die Villikationen der Haupthöfe Linne (Kirchlinde) und Ruggingshausen und legte die zu leistenden Abgaben fest. Um diese gab es in den kommenden Jahrhunderten immer wieder Streit. Insgesamt spielte Einkommen aus Villikationen nur eine geringe Rolle. Spätestens um 1300 dominierte die Verpachtung. Von unwirtschaftlichen Besitzungen, wie Anteilen an Weinbergen bei Remagen, trennte sich die Gemeinschaft aber auch wieder, wahrscheinlich wegen der hohen Transportkosten. Das Kloster bezog 1245 immerhin 5000 bis 6000 Liter Wein pro Jahr. Nur einen Teil verbrauchte es selbst, der Rest wurde verkauft. Nach Aufstellungen aus dem Jahr 1280 besaß Oelinghausen Besitzungen und Einkünfte in den Kirchspielen Enkhausen, Hüsten, Menden, in den Pfarreien Balve, Schönholthausen und Voßwinkel, in der Stadt und dem Amt Werl, im Gericht Körbecke sowie in der Stadt und Umgebung von Soest. Hinzu kamen Besitzungen am Hellweg bis nach Altenrüthen. Im Osten reichte der Besitz bis nach Horn und Mellrich. Zur Verwaltung des Besitzes gab es einige Vogteien des Klosters, beispielsweise eine auf dem Haupthof in Kirchlinde, die 1223 erwähnt wurde, und weitere in Dreisborn und Sümmern. Stadtvogteien gab es in Werl und Soest, vielleicht auch in Menden. Später wurden die Beauftragten zur Einziehung von Abgaben „Rezeptoren“ genannt. Solche gab es bei der Auflösung des Klosters 1804 in Werl, Neheim, Menden, Soest und Oestereiden. Neben Zehnten und anderen Gerechtsamen verfügte Oelinghausen in dieser Zeit noch über 130 Bauerngüter.
=== Eigenwirtschaft ===
Dem Kloster gelang es, alle Höfe im Umland in sein Eigentum zu überführen. Daraus ging eine bedeutende Eigenwirtschaft hervor. Organisiert wurde diese zunächst in Form des Grangien- oder Curiensystems. Vom Klosterhof wurden die Schultenhöfe in Stiepel, Mimberge und Holzen bewirtschaftet. Neben der Land- und Forstwirtschaft gehörten dazu von Konversen betriebene Werkstätten. Zu deren Berufen gehörten Weber, Kürschner, Schuhmacher, Bauhandwerker und Schmiede. Im 14. Jahrhundert nahm die Zahl der Konversen ab. Dies führte zur Aufgabe der Grangienwirtschaft. Mit Ausnahme des eigentlichen Klosterguts wurden alle Besitzungen verpachtet. Im 18. Jahrhundert gehörten dazu 650 Morgen (etwas mehr als 160 ha) landwirtschaftlich nutzbare Fläche und noch einmal 3000 Morgen Wald mit insgesamt dreißig weltlichen Beschäftigten. An Baulichkeiten bestanden Kirche, Klostergebäude, Kapelle und Wohnungen für zwei Priester. Hinzu kamen Knechte- und Mägdehaus, Brau- und Backhaus, Ställe, Gartenhäuschen, Scheune, Mahl- und Schneidemühle sowie eine Aschen- und eine Ziegelhütte. In Oestereiden kamen Scheune und Kornspeicher, in Soest ein Rezepturhaus und in Hachen und Kirchlinde die Kapellen hinzu.Die Eigenwirtschaft umfasste zur Zeit der Aufhebung zudem 17 Morgen Gemüse- und Obstgärten sowie 11 Morgen Fischteiche. Insgesamt besaß Oelinghausen 24 Fischteiche, in denen vornehmlich Karpfen gezüchtet wurden. Daneben wurde in Bächen und Flüssen der Umgebung Fischerei betrieben. Der Eigenbedarf war hoch. Dafür wurde Anfang des 17. Jahrhunderts Hering und Stockfisch in erheblichem Umfang zugekauft. Ein erheblicher Teil des Eigenfangs wurde vermarktet. Neben Getreide und anderen Ackerpflanzen wurde auch Hopfen angebaut. Das Kloster besaß 97 Stück Rindvieh, 78 Schweine und 260 Schafe. Auf eine große Ziegenherde musste das Kloster auf kurfürstliche Anweisung 1726 verzichten. Den Ertrag der Eigenwirtschaft versuchte Oelinghausen durch Köhler, die Einrichtung einer Ziegelbrennerei, einer Kornbrennerei und ähnlichem zu steigern.Zu den ältesten gewerblichen Betrieben im Bereich des Klosters gehören Mühlen. Wahrscheinlich gab es eine Mühle bereits bei der Gründung. Nachgewiesen ist die Schenkung einer Mühle bei Werl 1203 durch Gottfried II. Am Bieberbach erbaute das Kloster eine Bannmühle. Sie wurden anfangs von Konversen betrieben. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die Mühle verpachtet. Neben der Getreidemühle betrieb das Kloster eine Säge- und eine Ölmühle.Erst jüngst konnte nachgewiesen werden, dass es wohl im Mittelalter und in der frühen Neuzeit auch Bergbau und Verhüttungstätigkeit gab. Darauf weisen Pingen und Schürfstellen sowie eine archäologisch nachgewiesene Verhüttungsanlage in Form eines Stückofens hin. In der unmittelbaren Nähe des Ofens wurden Keramikreste gefunden, die auf die Zeit zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert datiert werden.Den Hof in Soest übernahm das Kloster nach der Soester Fehde vom Stift St. Walburgis. Für das Kloster Oelinghausen war das Steinhaus, das über eine eigene Kapelle verfügte, nicht nur der Mittelpunkt der Verwaltung des Klosterbesitzes um Soest, von Vorteil war auch die Anbindung an den städtischen Markt. Von dort aus konnten die für das Kloster nötigen Waren erworben und die produzierten verkauft werden. Das Haus diente dabei als Zwischenlager. Insgesamt werden die Einnahmen auf über 18.000 Taler pro Jahr geschätzt. Hinzu kam ein Aktivkapital von 16.000 Talern. Dies machte Oelinghausen zum wohlhabendsten Frauenkloster im Herzogtum Westfalen.
=== Konvent ===
Der Konvent galt als vornehmer als der in Rumbeck. Die Chorfrauen kamen daher in den ersten Jahrhunderten auch aus bedeutenden Adelsfamilien. Unter ihnen war die Schwester des Erzbischofs Engelbert von Berg oder Irmgard von Arnsberg, die Schwester Gottfrieds III. Eine ganze Reihe weiblicher Angehöriger der Familie der Grafen von Arnsberg waren bis ins 14. Jahrhundert hinein Chorfrauen in Oelinghausen. Auch Angehörige aus den hochadligen Häusern Tecklenburg, Waldeck, Dassel, zur Lippe oder Limburg gehörten dem Konvent an.Mit dem Ende des Arnsberger Grafenhauses im 14. Jahrhundert verlor Oelinghausen seinen vornehmen Ruf. An die Stelle der hochadligen Damen traten Angehörige des niederen Adels, etwa aus den Geschlechtern Plettenberg, Böckenförde genannt Schüngel, Fürstenberg, Vogt von Elspe, Hanxleden, Schade oder Wrede. Auch aus dem Patriziat der Stadt Soest kamen mehrere der Chorfrauen. Die Zahl an Eintritten war offenbar noch zu Anfang des 16. Jahrhunderts beachtlich. Visitatoren des Ordens stellten 1517 fest, dass Oelinghausen so viele Novizinnen aufgenommen habe, dass diese von den Einkünften des Klosters kaum versorgt werden konnten.Zur Gemeinschaft gehörten zumindest in den letzten dreihundert Jahren des Bestehens auch nichtadlige Laienschwestern, die für körperliche Arbeiten zuständig waren. Hinzu kamen männliche Konversen. Diese waren unter einem Kellner unter anderem zuständig für die Verwaltung des umfangreichen Besitzes. Auch grobe Arbeiten wurden zeitweise von Konversen verrichtet. Seit dem 16. Jahrhundert sind zudem Präbendare meist aus Bauernfamilien bezeugt, die insbesondere handwerkliche Arbeiten verrichteten.Ein Merkmal der Prämonstratenserinnenklöster war, dass an der Spitze des Konvents nicht unbeschränkt eine Äbtissin als Leiterin stand, sondern aus der Zeit als Doppelkloster her spielte der Propst eine zentrale Rolle. Dieser war sowohl für die geistliche Leitung als auch für die Verwaltung der Güter zuständig. Nur bei Verträgen, die die Substanz des Besitzes betrafen, musste er die Zustimmung des Konvents einholen. Auch die Pröpste wurden vornehmlich aus adligen Prämonstratenserklöstern wie Scheda oder Kloster Cappenberg gewählt. Seitdem in Wedinghausen seit dem 15. Jahrhundert vermehrt auch nichtadlige Kanoniker lebten, kam keiner der Pröpste mehr von dort.Die an der Spitze des Konvents stehende Priorin war für die inneren Angelegenheiten der Gemeinschaft zuständig. Weitere höhere Klosterämter waren das der Subpriorin und der Kellermeisterin. Hinzu kamen Ämter wie das der Küsterin und der Zeugmeisterin. Die Priorin wurde von den Chorfrauen unter Leitung des Propstes gewählt und später vom Wedinghauser Abt bestätigt. Anfangs lebte die Priorin noch mit den übrigen Schwestern zusammen, später hatte sie eine eigene Wohnung. Die Subpriorin vermittelte zwischen Konvent und Priorin. Die Zahl der Chorfrauen betrug im 13. und 14. Jahrhundert um die 60, Anfang des 16. Jahrhunderts waren es sogar 80 gewesen sein. Diese Zahl ging bis Mitte des Jahrhunderts auf 40 und im 17. Jahrhundert auf 30 zurück.Am Ende der frühen Neuzeit wandelte sich der Charakter des Konventslebens stark. Oelinghausen zählte im 18. Jahrhundert 34 Religiosen. Davon waren zwei Drittel Chorfrauen und ein Drittel Laienschwestern. An die Stelle der adligen Chorfrauen traten, sieht man von Angehörigen einiger Erbsälzerfamilien ab, hauptsächlich Frauen aus wohlhabenden Bürger- oder Bauernfamilien. Diese stammten sowohl aus dem Herzogtum Westfalen wie auch aus dem Erzstift Köln sowie aus den Hochstiften Paderborn, Münster und dem Erzstift Mainz. Die Laienschwestern kamen ausschließlich aus bäuerlichen Familien der Region.
=== Archiv und Bibliothek ===
Das Archiv des Klosters kam nach der Aufhebung 1804 zunächst ins Archivdepot in Arnsberg. In dieser Zeit wurden die Überlieferungen intensiv genutzt, um strittige Besitz- und Rechtsverhältnisse zu klären. Später kamen die Urkunden und Akten ins Provinzialarchiv nach Münster (heute Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Westfalen). Der Archivar Peter von Hatzfeldt erstellte von 1850 bis 1860 ein erstes Findbuch. Im Vergleich zu anderen, teilweise weit verstreuten Klosterarchiven des Sauerlandes ist der Oelinghauser Urkundenbestand nach Meinung des Historikers Manfred Wolf „ungemein reich“.Teil des Oelinghauser Bestandes im Staatsarchiv Münster ist auch ein Nekrolog mit mehr als 3000 Einträgen. Dieser gibt über die Verkehrskreise des Klosters und die personellen Verbindungen Auskunft. Das noch existierende Exemplar aus dem 18. Jahrhundert enthält auch den Inhalt älterer Verzeichnisse. Die Einträge reichen bis in die Zeit der Klostergründung zurück. Das Verzeichnis enthält nicht nur die Namen der Chor- und Laisenschwestern und der Pröpste, sondern auch Gründer, Stifter, Wohltäter, Angehörige des Klosters Wedinghausen sowie zahlreiche Familienangehörige der Klosterfrauen. Der Nekrolog wurde auch nach der Aufhebung des Klosters von einer Gruppe ehemaliger Chorfrauen, die in Arnsberg das gemeinsame Leben fortsetzten, bis in die 1830er Jahre weitergeführt.Der Bibliotheksbestand der Frauenklöster und -stifte im Herzogtum Westfalen ist nur unzureichend überliefert. Einige von ihnen, darunter auch Oelinghausen und Rumbeck, besaßen wohl nie einen nennenswerten Buchbestand. Bei der erneuten Umwandlung des Damenstifts in ein Kloster 1641 verbrannten die Stiftsdamen Bücher. Dabei dürfte es sich vor allem um Breviere und andere liturgische Bücher gehandelt haben.
== Bauten und Ausstattungen ==
=== Kirchenbau ===
Die Baugeschichte der Klosterkirche ist wegen fehlender schriftlicher Quellen nicht völlig klar. Bei archäologischen Grabungen kamen unterhalb der Kirche Reste zum Vorschein, die zu einem anderen Gebäude gehören. Es wird vermutet, dass es sich dabei um ein Wohn- oder Wirtschaftsgebäude der Stifterfamilie handelt. Hinsichtlich der Baugeschichte der Kirche selbst stellte A. Dünnebacke 1907 die These auf, der sich vor einigen Jahren auch Wilfried Michel im Westfälischen Klosterbuch anschloss, dass die heutige Sakristei identisch mit dem älteren Kirchenbau sei. Dies gilt mittlerweile als widerlegt.Es gab zumindest einen romanischen Vorgängerbau der heutigen gotischen Kirche. Dieser war schmaler und kürzer als das Langhaus der bestehenden Kirche. Von diesem ist ein Kapitell erhalten geblieben, das heute als Basis des Osterleuchters dient. Aus romanischer Zeit um 1200 stammt auch die Krypta unterhalb der Nonnenempore. Dieser Raum ist einschiffig, dreijochig und hat ein Kreuzgratgewölbe. Die Krypta dient seit den 1960er Jahren als Gnadenkapelle und ist Aufstellungsort der sogenannten Kölschen Madonna. An die Krypta schließt sich eine Vorhalle an, die sich zum Kirchenschiff hin in drei spitzbogigen Arkaden öffnet. Dieser dreischiffige und einjochige Raum wird in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert. Auch die in drei Bauphasen entstandene Sakristei ist in Teilen älter als die eigentliche Kirche. Die ältesten Teile sind frühgotisch, ein Umbau erfolgte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit dem Kirchenneubau, weitere Veränderungen stammen aus dem Barock.
Die heutige gotische Kirche insgesamt stammt aus dem 14. Jahrhundert. Es handelt sich um einen einschiffigen, neunjochigen Saalbau mit einem 5/8-Chor. Erbaut wurde das Hauptschiff in drei Bauabschnitten. Der Chor und das Langhaus sind durch Kreuzrippen mit Schlusssteinen im Scheitel einheitlich gewölbt.
Ab dem vierten Joch ist im Hauptschiff eine erhöhte Nonnenempore eingezogen, die man über zwei Treppen erreicht. Sie überspannt etwa die Hälfte der Kirche. Zwei Kapellen liegen an der Südseite. Von ihnen ist die westliche („Kreuzkapelle“) dreijochig, die östliche (die Sakristei) ist zweijochig mit einer Wandapsis. Im Norden dient ein früherer, mittlerweile vermauerter Eingang als kleine Marienkapelle. Die Fenster der Kirche sind spitzbogig, zweiteilig mit Maßwerk. In der Sakristei sind die Fenster einteilig. Die Kirche ist mit einem Schieferdach gedeckt. Auf der Südseite setzt es sich ohne Unterbrechung über Sakristei und Kreuzkapelle nach unten fort. Erst im 16. Jahrhundert erhielt die Kirche einen kleinen Glockenturm.
=== Ausstattung ===
Im Inneren der Kirche sind seit einer Generalrestaurierung zwischen 1957 und 1960 wieder gotische Wand- und Deckenmalereien aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts sichtbar. Noch älter sind die weißgrauen Flächentönungen mit aufgemalter rötlicher Quaderung und Rankenornamenten um den Schlussstein. Der an Pflanzen erinnernde Gewölbeschmuck, zwei Engel und weitere Elemente stammen von 1499. Die 1933 wiederentdeckte große Darstellung eines heiligen Christophorus stammt vom Beginn des 16. Jahrhunderts.Die Barockisierung der Kirche zog sich über einen längeren Zeitraum hin. Erste Ansätze dazu stammen aus der Zeit des Damenstifts unter den Äbtissinnen Ottilia und Anna von Fürstenberg. Bei den folgenden Phasen der barocken Umgestaltung spielten der Konvent und die Äbtissinnen keine Rolle mehr. Die Initiativen gingen von den Pröpsten aus. Die zweite Phase der Barockisierung fällt in die Zeit von Propst Christian Bigeleben (1656–1678). Die dritte fällt in die Amtszeit von Propst Theodor Sauter 1704 bis 1732. Der Bildschnitzer Wilhelm Spliethoven genannt Pater aus Volbringen schuf eine umfassende Einrichtung mit Hochaltar, lebensgroßen Apostelfiguren und Orgelprospekt. Nur in Oelinghausen ist das Werk dieses Künstlers, der mehrere Kircheneinrichtungen Westfalens geschaffen hat, bis heute vollständig erhalten geblieben. Auch die Illumination (Ausmalung) der barocken Einrichtung durch Alexander La Ruell (Münster) ist nur in Oelinghausen bewahrt worden.
Die Marienfigur in der Krypta wird als „liebe Frau von Köllen“, „Königin des Sauerlandes“ oder „Kölsche Madonna“ bezeichnet. Sie stammt aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts. Die selige Jungfrau sitzt auf einem Thron und ist mit einem langen Gewand bekleidet, Gesicht und Körper sind dem Betrachter frontal zugewandt. Das Jesuskind wurde bereits im Mittelalter hinzugefügt. Es trägt in der linken Hand ein Buch, die Rechte ist zum Segen erhoben. Zusammen mit dem Thron ist die Statue 57 cm hoch. Neu geschaffen wurden nach Verlusten die Hände, das Jesuskind und die Krone. Auf neuere kunstgeschichtliche Untersuchungen gestützt, erhielt das Bild 1976 seine heutige, sich dem Original annähernde Farbgestaltung. Eine in der Region vergleichbare, wenn auch etwas jüngere Darstellung findet sich in der Merklinghauser Kapelle.Der 10 m hohe Hauptaltar mit zahlreichen Statuen ist barock und wurde 1712 von Wilhelm Spliethoven – möglicherweise nach Vorgaben des Propstes Sauter – nach italienischen Vorbildern geschaffen. Die Bemalungen stammen von Alexander La Ruell. Auch die zwölf Apostelfiguren im Hauptschiff stammen von Spliethoven und La Ruell.In der Kreuzkapelle befinden sich mehrere Grabsteine ehemaliger Pröpste. Dominierend ist aber das heute als Altaraufsatz dienende Epitaph für Ottilia von Fürstenberg. Geschaffen wurde das Grabmal wahrscheinlich von Gerhard Gröninger oder einem italienischen Künstler. Im Gewölbe der Kreuzkapelle befindet sich eine spätgotische Mondsichelmadonna aus der Zeit um 1530.Die Marienkapelle enthält ein gotisches Tafelbild mit der Anbetung der Hirten. Außerdem befindet sich hier ein Gemälde aus dem Barock, das die Ermordung des Erzbischofs Engelbert I. von Köln zeigt. Den Überlieferungen des Klosters zufolge, die jedoch nicht den tatsächlichen historischen Abläufen entsprechen, soll der Bischof die Nacht vor seiner Ermordung in Oelinghausen verbracht haben.Auf der Nonnenempore befindet sich rechts und links an der Wand das Chorgestühl mit 46 Sitzen, deren hintere Reihen aus dem 18. Jahrhundert stammen. In den Vorderreihen wurden die spätgotischen Wangen aus der Zeit um 1380 wiederverwertet. Auf der Empore steht darüber hinaus ein Triumphkreuz aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Unter dem Gewölbe befindet sich eine zwei Meter hohe barocke Doppelmadonna aus der Zeit um 1730. Die Rückwand der Orgel deckt ein großer Johannesaltar ab, neben dem die sogenannten Aposteltürme stehen. Die dort aufgestellten Figuren sind spätgotisch und stammen möglicherweise aus einem verschwundenen Schnitzaltar, einige der jüngeren werden Gertrud Gröninger zugeschrieben. Auch auf den Chorbänken der Empore befinden sich Skulpturen aus der Zeit zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert.Der Dachreiter der Klosterkirche trägt ein dreistimmiges Geläut mit Gussstahlglocken aus dem Jahre 1921. Die Glocken hängen in einem Holzglockenstuhl, der noch aus der Bauzeit der Kirche stammt und erklingen in der Tonfolge es'-ges'-as'.
=== Orgel ===
Zum ersten Mal wurde in einer Memorienstiftung des Dompropstes Wilhelm Freseken eine Orgel, wohl in Form einer Schwalbennestorgel, in Oelinghausen erwähnt. Allerdings sagt die Quelle nichts dazu aus, dass diese von Freseken gestiftet worden sei, wie teilweise behauptet wurde. Das Orgelwerk wurde im Jahr 1499 erweitert. Zu dieser Zeit gab es vermutlich schon eine größere zweite Orgel. Im Jahr 1585 war eine Springladenorgel mit zwei Manualen registriert. Am 2. Februar des folgenden Jahres überfielen niederländische Truppen des Martin Schenk von Nideggen das Kloster und zerstörten dabei auch die Orgel. Nach der Zerstörung des älteren Instruments stiftete der Paderborner Fürstbischof Theodor von Fürstenberg im Jahr 1599 seiner Schwester und Priorin Ottilia zwei neue Orgeln. Die neue Orgel baute Marten de Mare an der Stelle, an der sie auch heute noch steht, und verwendete das ihm zur Verfügung stehende, 1586 nicht zerstörte Material der Vorgängerorgeln. Johann Berenhard Klausing aus Herford begann im Jahr 1713 an der Orgel mit Erneuerungs- und Erweiterungsarbeiten. 1717 waren Klausings Arbeiten abgeschlossen. Der Orgelprospekt wurde von Spliethoven und La Ruell geschaffen. Das Besondere an der Orgel in Oelinghausen ist, dass die meisten Pfeifen seit 1599 beziehungsweise 1717 unverändert erhalten blieben. Die Stimmen von 1599 sind dabei besonders bemerkenswert, weil sie in dieser Form in Deutschland und dem benachbarten Ausland kaum noch zu finden sind. Die Tafelgemälde an der Orgelrückwand gehen auf die ursprünglichen Flügeltüren De Mares zurück. In den Jahren 2000 bis 2002 wurde das Instrument durch die Schweizer Firma Orgelbau Kuhn mit finanzieller Unterstützung des Freundeskreises Oelinghausen e. V. (gegründet 1983) umfassend restauriert und rekonstruiert, wobei der Zustand von 1717 maßgeblich war.Die Orgel hat folgende Disposition:
A = unbekannter Orgelbauer vor 1586
M = Marten de Mare (1599)
K = Johann Berenhard Klausing (1717)
R = Rekonstruktion Orgelbau Kuhn (2002)Koppeln: II/I (Schiebekoppel); I/P.
Tremulant für das ganze Werk
SternAnmerkungen
=== Weitere Gebäude ===
Neben der Kirche sind von den früheren Klostergebäuden nur wenige erhalten. Nach der Aufhebung des Klosters abgebrochen wurde etwa das Torgebäude. Ebenso nicht erhalten ist die aus dem 14. Jahrhundert stammende Michaelskapelle im Eingangsbereich des Klosters. Auch das Hospital ist nicht mehr vorhanden.Das eigentliche Klostergebäude war im Westen an die Kirche angebaut. Der letzte Bau hatte drei Flügel. Davon sind jedoch nur der östliche und der südliche Flügel erhalten. Der nördliche Flügel wurde nach der Säkularisation abgebrochen. Das Klostergebäude wurde zu Anfang des 18. Jahrhunderts errichtet. Es ruht allerdings auf den Grundmauern der Vorläuferbauten. So sind im Keller zwei Kamine erhalten. Davon trägt einer das Wappen und die Lebensdaten Ottilias von Fürstenberg. An der Stelle des ehemaligen Nordflügels wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Wirtschaftsgebäude errichtet. Dieses steht unter Denkmalschutz und beherbergt heute das Klostergartenmuseum. Im Südwesten von Kirche und Konventsgebäude steht ein Fachwerkhaus. Von einigen wird es als „Schäferhaus“ bezeichnet, andere sehen in ihm eines der Einzelwohnhäuser aus der Zeit des Damenstifts. Unmittelbar rechts vor dem sogenannten Schäferhaus befindet sich die ehemalige „Oberförsterscheune“, ein Gebäude mit Grundmauern aus dem 16. Jahrhundert. Aufwendig restauriert beherbergt es heute eine Praxis für Ergotherapie einer der in Oelinghausen lebenden Stiftsdamen. Umgeben ist der Klosterbereich von einer 400 Meter langen denkmalgeschützten Mauer. Diese war früher etwa acht Meter hoch und war sogar mit Türmen versehen. Die Klostermauer ist Lebensraum für verschiedene Pflanzen und Tiere. Östlich der Klosterkirche liegt der rekonstruierte Klostergarten.Zwar auf ehemaligem Klostergelände gelegen, gehört das Gut Oelinghausen, das im Besitz der Familie von Fürstenberg ist, heute nicht mehr zum eigentlichen Bereich des früheren Klosters. Teile des Guts sind ebenfalls denkmalgeschützt. Dazu gehören Toreinfahrten und ein Verwalterhaus, das während der wilhelminischen Ära mit Anklängen an den Jugendstil erbaut worden ist. Bemerkenswert ist auch das große Taubenhaus im Wirtschaftshof, das, obwohl erst im 19. Jahrhundert erbaut, an die alte Eigenwirtschaft des Klosters anknüpft.
== Personenlisten ==
== Literatur ==
Die Baudenkmäler der Stadt Arnsberg. Erfassungszeitraum 1980–1990. Arnsberg 1990, S. 187–197
Franz Fischer: Zur Wirtschaftsgeschichte des Prämonstratenserinnenklosters Ölinghausen. Arnsberg 1912
Friedrich Jakob: Die Orgel der Kloster- und Pfarrkirche St. Petri zu Oelinghausen. Arnsberg 2006, ISBN 978-3-930264-59-9
Stephanie Keinert: Die Bedeutung von Monitoring-Verfahren in der präventiven Konservierung – erläutert am Beispiel der barocken Ausstattung der Klosterkirche Oelinghausen, in: Denkmalpflege in Westfalen-Lippe 2018/1, ISSN 0947-8299, S. 23–26. Online (PDF; 4,6 MB)
Magdalena Padberg (Hrsg.): Kloster Oelinghausen, Strobel, Arnsberg 1986, ISBN 3-87793-018-2Darin unter anderem:
Anton Dünnebacke: Das innere Ordensleben, S. 25–35
Helmut Richtering: Kloster Oelinghausen, S. 46–65
Franz Fischer: Aus der Wirtschaftsgeschichte des Klosters Oelinghausen, S. 66–71
Wilfried Michel: Die Orgeln des Klosters Oelinghausen, S. 104–112Harald Polenz, Wilfried Michel: Kloster Oelinghausen und die historischen Orgeln. Iserlohn 1989, ISBN 3-922885-44-6
Helmut Richtering: Kloster Oelinghausen. In: Westfälische Zeitschrift. 123. Band. Münster 1973, S. 115–136 PDF-Datei
Werner Saure: Kloster Oelinghausen. Kirchenführer. Arnsberg 2005
Werner Saure (Hrsg.): Oelinghauser Beiträge. Freundeskreis Oelinghausen e.V. Arnsberg 1999Darin unter anderem:
Michael Gosmann: Die Grafen von Arnsberg und die „Vogtei“ über das Kloster Oelinghausen, S. 9–32
Manfred Wolf: Bemerkungen zur Geschichte und Verfassung des Klosters Oelinghausen, S. 33–40
Bernhard Padberg: Oelinghausen und seine Klosterwirtschaft, S. 59–84Freundeskreis Oelinghausen e.V. (Hrsg.): Barmherzigkeit, Armenfürsorge und Gesundheitspflege im Kloster Oelinghausen. Arnsberg, 2017
== Quellen ==
Manfred Wolf (Bearb.): Die Urkunden des Klosters Oelinghausen. Regesten. Fredeburg 1992. ISBN 3-922659-39-7
Nekrolog des Klosters Oelinghausen. Digitalisat
== Weblinks ==
360° Luftbildpanorama der Umgebung von Kloster Oelinghausen
Kloster Oelinghausen
Freundeskreis Oelinghausen e. V.
Barockorgel in der Klosterkirche (ausführliche Infos zu Baugeschichte und Restaurierung)
Quellen in NRW-Archiven
Klostergartenmuseum bei LWL-GeodatenKultur des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe
Orgel der Klosterkirche Oelinghausen – Beitrag auf Orgel-Verzeichnis
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kloster_Oelinghausen
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Katze in der leeren Wohnung
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= Katze in der leeren Wohnung =
Katze in der leeren Wohnung (polnisch Kot w pustym mieszkaniu) ist ein Gedicht der polnischen Lyrikerin Wisława Szymborska. Es entstand nach dem Tod ihres Lebensgefährten, des im Februar 1990 verstorbenen polnischen Schriftstellers Kornel Filipowicz. Im Zentrum des Gedichts steht eine Hauskatze, die in einer verlassenen Wohnung auf ihren verstorbenen Besitzer wartet. Der Standpunkt einer Katze, die den Tod nicht erfassen kann, führt zu einer ungewöhnlichen Sicht auf die menschliche Vergänglichkeit.
Szymborska veröffentlichte das Gedicht 1991 in der Zeitschrift Odra und nahm es 1993 in ihre Gedichtsammlung Koniec i początek (Ende und Anfang) auf. Die deutsche Übersetzung von Karl Dedecius erschien 1992 im Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts unter dem Titel Die Katze in der leeren Wohnung. 1995 folgte die Buchausgabe Auf Wiedersehn. Bis morgen im Suhrkamp Verlag. Insbesondere nach der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1996 an Szymborska fand das Gedicht internationale Verbreitung in zahlreichen Übersetzungen. Es wurde vor allem in Polen eines ihrer bekanntesten und populärsten Gedichte.
== Inhalt ==
Das Gedicht beginnt mit der Zeile:
Anschließend wird eine Hauskatze beschrieben, die in einer leeren Wohnung auf ihren verstorbenen Besitzer wartet. Äußerlich sind die Räume unverändert, doch für die Katze hat das Leben seine Ordnung verloren. Zwar kümmert sich weiterhin ein Mensch um sie, doch es ist nicht mehr ihre vertraute Bezugsperson. Allen Verboten zum Trotz durchsucht sie die gesamte Wohnung, bis ihr am Ende nichts weiter bleibt, als zu schlafen und zu warten. Sie malt sich aus, wie sie dem verschwundenen Menschen wiederbegegnen wird. Beleidigt und ohne ein Zeichen von Freude will sie ihm zeigen, dass man einer Katze ein solches Verschwinden nicht antut.
== Form ==
Das Gedicht Katze in der leeren Wohnung umfasst fünf Strophen, die aus einer unterschiedlichen Anzahl reimloser, freier Verse gebildet sind. Die einfache Sprache bezeichnet Gerhard Bauer als „Elegie im Kinderton“. Häufig besteht zwischen den Zeilenpaaren eine Antithese, etwa wenn in Strophe zwei auf einen Sinneseindruck jeweils die Negation der vertrauten Erinnerung folgt („Auf der Treppe sind Schritte zu hören,/ aber nicht die.“). Drei Indefinitpronomen in Strophe drei (zweimal „Etwas“, einmal „Jemand“) verweisen auf die Unbestimmtheit der Erinnerungen, wobei die Pronomen im polnischen Original („Coś“ und „Ktoś“) in ihrer lautlichen Ähnlichkeit einen Zusammenhang zwischen dem fehlenden Ereignis und der verschwundenen Person erkennen lassen. Nachdem die ersten drei Strophen der Wahrnehmung der Katze gelten, zeigen die abschließenden beiden Strophen ihre Reaktionen, die von Aktivität in einen resignierten Rückzug übergehen („Was bleibt da noch zu tun./ Schlafen und Warten.“).Das Gedicht bleibt im polnischen Original unbestimmt zwischen einem Rollengedicht und erlebter Rede, indem die Sätze, in denen die Katze agiert, im Infinitiv oder der unpersönlichen Form (dritte Person Singular Neutrum mit Reflexivpronomen) verfasst sind. Diese Form, der im Deutschen die direkte Entsprechung fehlt, übertrug Dedecius durch Ellipsen ohne finites Hilfsverb und Personalpronomen, die der Leser wahlweise mit der ersten oder dritten Person vervollständigen kann, während sich das Verb im Partizip II als Passivkonstruktion oder Perfekt deuten lässt („Alle Schränke durchforscht./ Alle Regale durchlaufen.“). Lediglich im Futur der letzten Strophe wird die Übersetzung zur Eindeutigkeit gezwungen, wobei sich Dedecius für die dritte Person entschied („Sie wird ihm entgegenstolzieren“).
== Interpretation ==
=== Sprecher ===
Die unpersönliche Form, in der die Aktionen der Katze im Gedicht geschildert sind, führt bei den Interpreten zu sehr unterschiedlichen Urteilen über den Sprecher des Gedichts. So spricht für Janusz Orlikowski schlicht „die Katze“, für Wojciech Kajtoch dagegen „eine anthropomorphisierte Katze oder jemand, der auf Katzenart denkt“. Stanisław Żak macht einen Repräsentanten sowohl „der Katze“ als auch „der Dichterin namens Wisława Szymborska“ aus. Für Tadeusz Nyczek äußert sich mit der Katze ein „allwissender Narrator“ und ein unpersönliches „sich“ (polnisch: „się“), das er mit Heideggers „Man“ assoziiert. Dagegen erkennt Katarzyna Kuczyńska in der unpersönlichen Form schlicht die grammatische Entsprechung einer Vereinsamung, in der die Katze nach dem Verlust des „du“ auch aufgehört habe, „ich“ zu sagen.Für Dörte Lütvogt offenbaren die ersten drei Zeilen einen Menschen als Sprecher des Gedichts. Bereits der einleitende Begriff „Sterben“, der durch den trennenden Bindestrich zusätzlich herausgestellt ist, liege außerhalb des Bewusstseinshorizonts einer Katze. Der Vorwurf „das tut man einer Katze nicht an“, der gleichermaßen an den Verstorbenen wie den Tod an sich gerichtet sein könne, lege eine emotionale Beteiligung des menschlichen Sprechers am Geschehen offen. Dieser verstecke sein eigenes, unangemessenes Gefühl von Beleidigtsein hinter der nachvollziehbaren Kränkung eines Tieres. Obwohl der Sprecher ab der vierten Zeile fast vollständig in den Hintergrund trete, bleibe er bis zum Schluss hinter der vorgestellten Innenwelt einer Katze präsent.
=== Tier und Mensch ===
Der Versuch, sich in das Bewusstsein eines Tieres zu versetzen, steht laut Lütvogt stets im Spannungsfeld zwischen Anthropomorphismus und Behaviorismus oder, wie es Wisława Szymborska in der Besprechung eines Buches von Konrad Lorenz formulierte, einer „Vermenschlichung oder Entmenschlichung der Psyche von Tieren“. Die Dichterin fand ihren Mittelweg in Lorenz’ Konzept der vergleichenden Verhaltensforschung, durch das sowohl tierische als auch menschliche Verhaltensweisen auf „etwas Vormenschliches“ zurückgeführt würden. In ihrem Werk ist das Verhältnis von Mensch und Tier stets geprägt von einer besonderen Verantwortung des Menschen für die Kreatur, aber auch deren unantastbarer Autonomie, die von ihm zu respektieren sei.Bereits das Gedicht Ich bedenke die Welt (Obmyślam świat) in Syzmborskas frühem Gedichtband Rufe an Yeti (Wołanie do Yeti) aus dem Jahr 1957 verkündete eine „Sprache der Pflanzen und Tiere“. Im späteren Werk folgten zahlreiche Gedichte über Tiere, etwa im Auswahlband Tarsjusz i inne wiersze aus dem Jahr 1976. Eine ähnliche Einfühlung in die Psyche eines wartenden Tieres wie in Katze in der leeren Wohnung äußerte Szymborska in einem 1981 veröffentlichten Feuilleton, in dem sie die Besprechung eines Buches über Hundekrankheiten zum Anlass nahm, über psychische Belastungen eines Haushundes zu räsonieren: „Jedes Mal, wenn wir das Haus verlassen, büßt es der Hund mit einer Verzweiflung, als wären wir für immer fortgegangen. Jedes Mal, wenn wir zurückkommen, ist dies für den Hund eine Freude, die an einen Schock grenzt – als wären wir durch ein Wunder gerettet worden.“ Der Mensch habe keine Möglichkeit, das wartende Tier durch das Datum seiner Rückkehr zu vertrösten. „Der Hund ist verurteilt zu einer Ewigkeit hoffnungslosen Wartens“.
=== Kränkung und Vorwurf ===
Die Katze in der leeren Wohnung ist dem Verständnis Szymborskas nach zu bewusster Erinnerung und Antizipation fähig. Ihre Erwartungen an die Zukunft stimmen mit der Erinnerung vergangener Abläufe überein. Auf das Verschwinden der menschlichen Bezugsperson reagiert sie mit einem Gefühl von Kränkung und Verrat, dem Vorwurf, dass man ihr so etwas nicht antun dürfe. Solche Art Vorwürfe sind für Wojciech Kajtoch typisch menschlich, und die imaginierte Reaktion bei der Rückkehr des Abwesenden ist für ihn Ausdruck einer „spezifisch fraulichen (aber auch mädchenhaften und kindlichen) Koketterie“. Für Dörte Lütvogt liegt in dem zur Schau gestellten Beleidigtsein, trotz seiner Durchschaubarkeit und Komik, eine Form von Machtausübung des eigentlich Machtlosen und Abhängigen. Zwar sei die Katze von ihrem Wesen her weit weniger stark auf ihren Besitzer fixiert als etwa der wartende Hund, dafür liege die Abhängigkeit des Gewohnheitstiers Katze vor allem in dem Wunsch nach der vom Verschwundenen aufrechterhaltenen und nun gestörten Ordnung.Obwohl die Situation des Gedichts der Katzenperspektive Unrecht gibt, neigt der Leser laut Gerhard Bauer unwillkürlich dazu, sich auf die Seite der Katze zu stellen und wie das Tier der durch den Tod eingetretenen Situation die Anerkennung zu verweigern. Dazu trage gerade der Charme und das „kindische“ Verhalten der Katze in ihrem Anrennen gegen die unumstößliche Gewissheit des Todes bei. Für Marian Stala bestreitet das Gedicht die Selbstverständlichkeit und Macht des Todes, mit der sich jedes Lebewesen abzufinden habe: „Er wird zu einem metaphysischen Skandal“, etwas, „was man nicht tun [etwa: niemandem antun] darf, was sich nicht ereignen darf“. Barbara Surowska schließt sich an: „ein sensibles, lebendiges Wesen verurteilt man nicht zu einem Warten, das nie ein Ende findet…“ Tadeusz Nyczek hingegen betont die Ironie des Gedichts, nach der Lebewesen auf ihnen zugefügtes Unrecht zu Beginn mit Gekränktsein reagierten. „Erst dann springen wir ihm mit einem Quiekser auf die Schulter“.
=== Hoffnung und Erkenntnis ===
In der letzten Strophe überlagern sich das menschliche und das tierische Bewusstsein und schaffen so einen Kulminationspunkt von Komik und Tragik, in dem für Lütvogt die besondere Wirkung des Gedichts liegt, von Tadeusz Nyczek auch als dessen „klaffendste Wunde“ bezeichnet. Das ohnmächtig-hoffnungsvolle Warten des Tieres auf eine Wiederbegegnung stößt auf die nur dem Menschen begreifliche Realität, dass der Tod irreversibel ist. Nicht zufällig endet das Gedicht mit den Worten „zu Beginn“ („na początek“), denn für das Tier, dem das menschliche Zeitbewusstsein fehlt, ist nichts anderes denkbar als eine zyklische Wiederkehr des ewig Gleichen, während nur der Mensch erfassen kann, dass eine gänzlich veränderte Situation eingetreten ist, in der keine Wiederholung mehr möglich ist.Im impliziten Vergleich eines trauernden Menschen mit einer wartenden Katze stellt das Gedicht für Lütvogt die Frage, ob der Leser die Hoffnung der Katze gegen die Hoffnungslosigkeit des Menschen eintauschen wolle oder ob ganz im Gegenteil die Fähigkeit des Menschen, sich mit einer Situation aktiv zu arrangieren, der fortwährend enttäuschten Erwartung des Tieres vorzuziehen sei. Damit breche Szymborska eine traditionelle Denkschablone auf, nach der im Nichtwissen um den Tod ein paradiesischer Zustand liege. Laut Renate Ingbrant verwendet Szymborska häufig einen ungewöhnlichen Standpunkt wie jenen im Gedicht, durch den der Leser nicht nur die Katze beobachte, sondern selbst in ihre Katzenartigkeit hineingezogen werde, um neue, ungewöhnliche Einsichten in scheinbar vertraute Vorgänge zu ermöglichen. Die Katze in der leeren Wohnung krönt für Barbara Surowska „eine lange Reihe von Gedichten, in denen Szymborska zu sagen versucht, daß uns nie etwas Selbstverständliches begegnet“.
=== Autobiografischer Bezug ===
Katze in der leeren Wohnung steht in einer Reihe von Gedichten, die Szymborska 1993 in der Gedichtsammlung Koniec i początek (deutsch: „Ende und Anfang“) veröffentlichte und die als Reaktion auf den Tod ihres langjährigen Lebensgefährten Kornel Filipowicz im Jahr 1990 aufzufassen sind. In Wachsein (Jawa) beschreibt Szymborska den Gegensatz zwischen Traum- und Wachwelt, zwischen der traumhaften Erinnerung an einen Toten, die den Zeitablauf aufhebt, und der unumstößlichen realen Vergänglichkeit. Die Elegische Bilanz (Rachunek elegijny) bilanziert die verstorbenen Bekannten eines lyrischen Ichs, wobei der Versuch der Annäherung an den Tod im Begriff „Abwesenheit“ mündet. Der Abschied vom Ausblick (Pożegnanie widoku) kontrastiert die Vergänglichkeit des Individuums mit dem Lebenszyklus der Natur.All diese Gedichte in Koniec i początek drücken laut Lütvogt die persönliche Betroffenheit der Autorin vom Thema Tod in einer „unvergleichlichen Diskretion“ aus, auf der die starke Wirkung von Katze in der leeren Wohnung beruhe. Indem die Autorin ihre eigene Trauer durch ein anderes, ebenso vom Tod betroffenes Wesen ausdrückt, gelingt es ihr laut der Interpretationen von Żak, Kajtoch/Orlikowski und Stala, die eigenen Emotionen zu kontrollieren, noch im Schmerz Haltung und Würde zu bewahren, sich gegen den Tod zu stellen und eine Gegenwelt der Hoffnung aufzuzeigen. Dabei nimmt das Gedicht laut Justyna Sobolewska direkten Bezug auf die Erzählung Der Kater im nassen Gras des verstorbenen Prosaisten Filipowicz. Offen bleibt für den Leser, inwiefern das Gedicht tatsächlich auf einer realen Begebenheit nach dem Tod Filipowiczs basiert. Jedenfalls erinnert sich György Gömöri an eine fotografisch festgehaltene Begegnung mit Szymborska, bei der eine Katze auf ihrem Schoß ruhte.
== Veröffentlichungen und Rezeption ==
Kot w pustym mieszkaniu erschien erstmals im Jahr 1991 in der Zeitschrift Odra. Zwei Jahre später nahm Szymborska das Gedicht in ihre Sammlung Koniec i początek auf. Die deutsche Übersetzung von Karl Dedecius, dem langjährigen Übersetzer Szymborskas, erschien erstmals 1992 in Deutsch-polnische Ansichten zur Literatur und Kultur, dem Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts, unter dem Titel Die Katze in der leeren Wohnung. 1995 erschien das Gedicht im Band Auf Wiedersehn. Bis morgen des Suhrkamp Verlags das erste Mal in Buchform. 1997 veröffentlichte der Verlag eine Gesamtausgabe von Szymborskas Gedichten, die 2006 im Rahmen einer Edition der Zeitschrift Brigitte unter Federführung von Elke Heidenreich erneut herausgegeben wurde. Die englische Übersetzung Cat in an Empty Apartment von Stanisław Barańczak und Clare Cavanagh publizierte 1993 die New York Review of Books.Kot w pustym mieszkaniu gehört zu Szymborskas bekanntesten, beliebtesten und in Polen häufig zitierten Gedichten. Laut Barańczak wurde das Gedicht in Szymborskas Heimat zu einem regelrechten Kultobjekt. Im Jahr 2007 hatte es den Status einer Pflichtlektüre an polnischen Grundschulen erreicht. Insbesondere nach der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1996 an Szymborska fand es auch über Polens Grenzen hinaus Verbreitung in zahlreichen Übersetzungen und wurde von der internationalen Kritik gerühmt. Anlässlich der Meldung ihres Todes am 1. Februar 2012 kolportierten abermals zahlreiche Medien das Gedicht.Verschiedene Rezensenten hoben das Gedicht als eines ihrer Lieblingsgedichte aus Szymborskas Werk hervor, so György Gömöri und Elke Heidenreich. Für Gerhard Bauer spielt das Gedicht Katze in der leeren Wohnung „Takt und Vernunft in einer solchen Vollendung aus, daß wir es […] nur bewundern können.“ Die Wiener Zeitung lobte es als „Meisterwerk“ mit einer „unvergesslichen Anfangszeile“. Małgorzata Baranowska nannte es „eines der ungewöhnlichsten und schönsten Liebesgedichte“. Auch Peter Hamm sprach von einem „der schönsten und schmerzlichsten Liebesgedichte überhaupt“. Für eines der bemerkenswertesten Klagelieder seit Jan Kochanowskis Treny hielt Małgorzata Anna Packalén das Gedicht. In einer Reaktion auf Katze in der leeren Wohnung vergegenwärtigte die polnische Lyrikerin Marianna Bocian in dem Gedicht Im Haus der Verstorbenen eine Tote in den Möbeln und Gegenständen ihres Hauses.
== Ausgaben ==
=== Originalfassung ===
Wisława Szymborska: Kot w pustym mieszkaniu. In: Odra Nr. 6 1991, S. 3–4.
Wisława Szymborska: Kot w pustym mieszkaniu. In: Wisława Szymborska: Koniec i początek. Wydawnictwa A5, Poznań 1993, ISBN 83-85568-03-4, S. 20–21.
=== Deutsche Übersetzung ===
Wisława Szymborska: Die Katze in der leeren Wohnung. Übersetzt von Karl Dedecius. In: Deutsch-polnische Ansichten zur Literatur und Kultur. Jahrbuch 1991. Deutsches Polen-Institut, Darmstadt 1992, S. 145–147.
Wisława Szymborska: Katze in der leeren Wohnung. In: Wisława Szymborska: Die Gedichte. Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-40881-X, S. 284–285.
Wisława Szymborska: Katze in der leeren Wohnung. In: Wisława Szymborska: Die Gedichte. Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius. Brigitte-Edition 12. Gruner und Jahr, Hamburg 2006, ISBN 3-570-19520-1, S. 280–281.
== Literatur ==
Gerhard Bauer: Frage-Kunst. Szymborskas Gedichte. Stroemfeld/Nexus, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-86109-169-0, S. 206–207.
Dörte Lütvogt: Zeit und Zeitlichkeit in der Dichtung Wisława Szymborskas. Sagner, München 2007, ISBN 978-3-87690-914-1, S. 264–279.
== Weblinks ==
Volltext-Link zum polnischen Original sowie zu Übersetzungen ins Deutsche und Englische des Gedichts Katze in der leeren Wohnung.
Wisława Szymborska – Kot w pustym mieszkaniu auf dem offiziellen Förderportal der Republik Polen.
Maria Diersch: „Sterben – das tut man einer Katze nicht an. Denn was soll eine Katze in einer leeren Wohnung.“ Auf der Seite der Sächsisch-Polnischen Gesellschaft Leipzig. Mit dem deutschen Volltext des Gedichts Katze in der leeren Wohnung (pdf; 165 kB).
Wisława Szymborska: Cat in an Empty Apartment. In: The New York Review of Books vom 21. Oktober 1993 (englische Fassung).
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Katze_in_der_leeren_Wohnung
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LMS-Klasse 7P „Coronation“
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= LMS-Klasse 7P „Coronation“ =
Die Dampflokomotiven der LMS-Klasse 7P „Coronation“ (englisch Coronation Class; teilweise auch als Princess Coronation Class, Coronation Scot Class, Duchess Class oder City Class bezeichnet) wurden zwischen 1937 und 1948 mit insgesamt 38 Stück von der britischen Bahngesellschaft London, Midland and Scottish Railway (LMS) beschafft. Die für den Expresszugdienst vorgesehenen Schlepptenderlokomotiven mit der Achsfolge 2’C1’ wurden von William Stanier, dem Chefingenieur der LMS, entworfen und in den Crewe Works der LMS in Crewe für den Einsatz auf der West Coast Main Line (WCML) zwischen London und Schottland erbaut. 24 der Maschinen wurden mit Verkleidung als Stromlinienlokomotiven gebaut. In den Nachkriegsjahren wurden die Verkleidungen jedoch wieder demontiert. 1937 erzielte die erste Maschine der Klasse mit 114 mph (ca. 183,4 km/h) einen Geschwindigkeitsrekord für britische Dampflokomotiven. Ab 1948 gehörten die Maschinen zum Bestand von British Railways, nachdem die LMS infolge des Transport Act 1947 verstaatlicht worden war. Bis Ende der 1950er Jahre bespannten sie die meisten wichtigen Expresszüge auf der WCML, bevor sie allmählich durch Diesellokomotiven ersetzt wurden. In den Jahren 1962 bis 1964 wurden die Lokomotiven ausgemustert. Drei Exemplare der Klasse blieben museal erhalten, davon ist noch eines betriebsfähig.
== Geschichte ==
=== Vorgeschichte ===
Nachdem die LMS 1935 eine erste Serienlieferung von zehn Exemplaren der seit 1933 erprobten Klasse 7P „Princess Royal“ erhalten hatte, die sich sehr gut bewährt hatte, wurde im Sommer 1936 die Bestellung weiterer Exemplare für einen zur Einführung im Folgejahr vorgesehenen neuen schnellen und luxuriösen Expresszug zwischen London Euston und Glasgow vorbereitet. Zudem sollten mit den zusätzlichen Pacifics die bislang überwiegend immer noch erforderlichen Lokomotivwechsel in Carlisle oder Crewe abgeschafft werden. Entsprechend der seitdem gesammelten Betriebserfahrungen überarbeitete das technische Büro der LMS die Konstruktionszeichnungen geringfügig und sah lediglich leichte Anpassungen in Details wie etwa den Überhitzerelementen und dem Radstand vor.Der Erfolg der konkurrierenden London and North Eastern Railway (LNER) mit ihren neuen, ab 1935 ausgelieferten Stromlinienlokomotiven der Klasse A4 wie auch die Erfahrungen mit Testfahrten einer Princess Royal bewogen die LMS und ihren Chief Mechanical Engineer (CME) William Stanier jedoch dazu, den Entwurf gründlicher zu überarbeiten. Insbesondere wurden größere Treibräder vorgesehen und der Kessel bis zu den maximal möglichen Maßen innerhalb des Lichtraumprofils der LMS vergrößert. Auch das Vierzylinder-Triebwerk (ohne Verbundwirkung) der Princess Royal wurde umfassend überarbeitet und die Außenzylinder etwas weiter nach vorne versetzt. Eine Stromlinienverkleidung wurde analog zu den A4 ebenfalls vorgesehen. Stanier schätzte diese zwar eher als Modeerscheinung ein, musste aber hier dem Druck der LMS-Führung nachgeben, die aus Marketinggründen Wert darauf legte. Letztendlich entstand damit eine neue Bauart und die Beschaffung der Princess Royal Class wurde zugunsten des neuen Entwurfs nicht fortgesetzt. Da Stanier in dieser Zeit mit einer Untersuchung zur Ursache von Entgleisungen von Pacific-Lokomotiven in Britisch-Indien befasst war, wurden die Konstruktionsarbeiten bei der LMS weitgehend von Thomas F. Coleman, dem Chefzeichner des LMS-Konstruktionsbüros, Staniers Assistenten Robert Riddles und dem späteren CME von British Railways, Roland C. Bond, übernommen.
=== Bau und Erprobung ===
Im Vergleich mit den Princess Royals konnte bei den Lokomotiven der Coronation Class eine spürbare Leistungssteigerung erzielt werden, bspw. durch eine deutlich größere Heizfläche. Sie waren die größten und leistungsfähigsten Schnellzuglokomotiven aller britischen Eisenbahngesellschaften. Dennoch wogen die Maschinen voll ausgerüstet lediglich eine Tonne mehr als ihre Vorgänger, was auf die umfangreiche Verwendung nickellegierten Stahls zurückzuführen ist. Wie die Princess Royal Class wurde die Coronation Class in der von der LMS verwendeten Leistungsklassifizierung aller Lokomotiven als 7P eingestuft. British Railways änderte die Einstufung zum 1. Januar 1951 auf 8P.Die ersten fünf Maschinen der neuen Coronation Class entstanden 1937 in den LMS-eigenen Werkstätten in Crewe. Sie erhielten die Nummern 6220 bis 6224. Mit ihnen sollte der neue Expresszug Coronation Scot bespannt werden, der in diesem Jahr den Dienst zwischen London und Glasgow mit lediglich einem Zwischenhalt in Carlisle aufnehmen sollte. Die erste Lokomotive wie auch der Zug erhielten ihre Namen zur Feier der im gleichen Jahr stattfindenden Krönung von König Georg VI. Passend zur für den Coronation Scot beschafften neuen Zuggarnitur und zum Ziel des Zuges in Schottland bekamen die Lokomotiven abweichend von der normalen Farbgebung der LMS eine Lackierung in Blau mit silbernen Längsstreifen in den traditionellen Farben der Caledonian Railway, einer der Vorgängerbahnen der LMS.Auf einer Pressefahrt zur Vorstellung der neuen Lokomotive und des Coronation Scot erzielte die Maschine 6220 zwischen London Euston und Crewe am 29. Juni 1937 kurzzeitig eine Geschwindigkeit von 114 Meilen pro Stunde (mph, ca. 183 km/h) und errang damit den britischen Geschwindigkeitsrekord für Dampflokomotiven, den zuvor mit rund 181 km/h eine Lokomotive der LNER-Klasse A4 gehalten hatte. Die Fahrt hätte beinahe in einer Katastrophe geendet, da der Zug vor Crewe erst relativ spät abgebremst werden konnte und im Bahnhof über abzweigende Weichenstraßen geführt wurde. Statt den erlaubten 20 mph (ca. 32 km/h) passierte der Zug die Weichen mit gut 52 mph (ca. 84 km/h), nach anderen Angaben sogar mit 57 mph (ca. 92 km/h). Das neu entwickelte Fahrwerk der Lokomotive bewährte sich jedoch und der gesamte Zug blieb trotz kräftiger Wankbewegungen im Gleis. Einen Totalschaden gab es lediglich im mitgeführten Speisewagen, in dem das gesamte Geschirr der heftigen Querbewegung zum Opfer fiel. Mehrere Fahrgäste trugen dabei leichte Verletzungen wie Prellungen und blaue Flecken davon. Der LMS-Vizepräsident Ernest Lemon bemerkte gegenüber den bleich gewordenen Pressevertretern im Zug mit typisch britischem Understatement, dass man bei den regulären Fahrten natürlich nicht vorhabe, das zu wiederholen, der Zug wäre lediglich ein wenig schneller gewesen als fahrplanmäßig vorgesehen („a little faster than in the ordinary course“). Gut ein Jahr später eroberte die LNER am 3. Juli 1938 mit der Weltrekordfahrt der A4 4468 Mallard allerdings auch den britischen Rekord zurück.Stanier ließ während der bereits begonnenen Serienlieferung die Konstruktion der Coronation Class in diversen Details verbessern und erprobte neue Bauteile. Die Lokomotive 6234 Duchess of Abercorn erhielt daher kurz nach ihrer Ablieferung einen Doppelschornstein, der in Testfahrten ausführlich erprobt wurde. Im Rahmen einer solchen Testfahrt beförderte die Lokomotive am 26. Februar 1939 einen aus 20 Reisezugwagen bestehenden Zug von Crewe nach Glasgow und zurück. Obwohl die Zuglast mit 604 Tonnen damit fast das Doppelte der Last des Coronation Scot betrug, benötigte die Lokomotive gegenüber dessen vorgesehener Fahrtzeit lediglich 1,5 Minuten mehr. Die Messungen während der Fahrt ergaben eine Leistung von 2.282 PS am Zughaken, was einer indizierten Leistung von 3.333 PSi entsprach und damit die größte je bei einer britischen Dampflokomotive gemessene Leistung war. Zuvor war die Lokomotive mit Einfachschornstein vor einem vergleichbaren Zug erprobt worden und hatte erhebliche Probleme gehabt, den Zug auf der West Coast Main Line über die langen Rampen des Shap Summit und bei Beattock zu befördern. In der Folge erhielten alle neuen Lokomotiven von Beginn an Doppelschornsteine, bei den bereits gelieferten Exemplaren wurden sie nachgerüstet.
=== Serienlieferung ===
Nachdem sich die ersten fünf Lokomotiven bewährt hatten, gab die Führung der LMS Ende 1937 die Beschaffung einer ersten Serie von zehn Maschinen für das Jahr 1938 frei. Zuvor waren noch einzelne Brücken auf den außer der WCML vorgesehenen weiteren Einsatzstrecken für die Achslast der Coronation Class ertüchtigt worden; mit 22,50 Long tons (22,86 t) waren die Lokomotiven nur auf wenigen Hauptstrecken der LMS uneingeschränkt einsetzbar. Aus dieser Bestellung folgten zunächst 1938 weitere fünf Maschinen mit den Nummern 6225 bis 6229 und mit Stromlinienverkleidung, jedoch nun wieder im gewohnten Dunkelrotbraun (LMS Maroon) der LMS lackiert. Stanier sah seine Zweifel an der Nützlichkeit der Stromlinienverkleidung aufgrund der ersten Erfahrungen und Messfahrten bestätigt und ließ die fünf weiteren Maschinen, die Nummern 6230 bis 6234, erstmals ohne Verkleidung bauen. Vergleichsfahrten zwischen verkleideten und unverkleideten Lokomotiven der Klasse zeigten keine großen Vorteile der Stromlinie beim Kohlenverbrauch – hochgerechnet auf einen Monat belief sich die Differenz auf etwa sieben bis 12 Tonnen, was im Schnitt ungefähr einer Tenderfüllung entsprach. Insgesamt ergab sich eine Einsparung von etwas über zwei Prozent. 1939 und 1940 folgten jeweils weitere fünf Maschinen, jedoch auf Druck der für Öffentlichkeitsarbeit Zuständigen der LMS wieder mit Stromlinienverkleidung.
Bedingt durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der statt Expresszuglokomotiven den Bau von Güterzuglokomotiven erforderte, endete die Beschaffung 1940 zunächst. Erst 1943 gelang es der LMS, die Beschaffung weiterer Maschinen genehmigt zu bekommen. Die in diesem Jahr gebauten Lokomotiven mit den Nummern 6245 bis 6248 erhielten nochmals eine Stromlinienverkleidung. Alle weiteren Maschinen wurden ohne Verkleidung geliefert: 1944 kamen zunächst die vier Lokomotiven 6249 bis 6252 in den Bestand der LMS. Nach einer Pause erhielt die LMS 1946 und 1947 die letzten vier Lokomotiven der Klasse mit den Nummern 6253 bis 6256. Mit Verzögerung wurde schließlich im Mai 1948 die letzte Maschine der Coronation Class ausgeliefert, nunmehr an die infolge des Transport Act 1947 zum 1. Januar 1948 neugegründeten British Railways (BR), in der alle verstaatlichten britischen Privatbahnen zu diesem Datum aufgegangen waren. Sie erhielt die BR-Nummer 46257.
Die letzten beiden Maschinen wichen leicht von den vorigen Serienlieferungen ab. George Ivatt, der letzte CME der LMS, ließ die Maschinen u. a. mit Wälzlagern anstelle von Gleitlagern ausstatten. Um ausreichend Platz für einen breiteren Aschkasten und Schüttelrost zu erhalten, wurde der Nachlaufradsatz mit einem Delta-Schleppgestell ausgestattet. Die Überhitzerfläche wurde vergrößert und auch weitere Details bei Kessel und Steuerung verändert. Mit diesen Maßnahmen wurde das Ziel verfolgt, die Intervalle zwischen zwei Hauptuntersuchungen von 70.000 Meilen auf 100.000 Meilen zu vergrößern.
=== Vorführfahrt durch die USA ===
Die Erfolge der LMS mit ihren neuen Pacific-Lokomotiven erweckten auch im Ausland Interesse. Anlässlich der Weltausstellung von 1939 (1939 New York World’s Fair) erhielt die LMS den Vorschlag, eine Lokomotive und einen der neuen Wagenzüge des Coronation Scot in New York auszustellen und auf einer Rundfahrt über die Strecken mehrerer Eisenbahngesellschaften vorzuführen. Am 20. Januar 1939 verließ der norwegische Schwergutfrachter Belpamela mit der Lokomotive 6229 Duchess of Hamilton und der ersten der neu bestellten Zuggarnituren den Hafen Southampton auf dem Weg nach Baltimore. Um den prestigeträchtigen Namen der gesamten Lokomotivklasse präsentieren zu können, tauschte die LMS zuvor Nummern und Namensplaketten der Duchess of Hamilton mit denen der Lokomotive 6220 Coronation.
Nach der Ankunft wurde die Lokomotive in Baltimore in einem Depot der Baltimore and Ohio Railroad für die vorgesehene Rundfahrt hergerichtet. Nötig waren diverse Anpassungen an die abweichenden technischen Parameter des US-amerikanischen Eisenbahnnetzes und die Anforderungen der Interstate Commerce Commission – die Lokomotive erhielt unter anderem als auffällige äußere Anbauten einen großen Scheinwerfer und ein Läutewerk – sowie die Montage von Teilen, die für die Schiffspassage abmontiert worden waren. Am 18. März 1939 fand eine erste Pressefahrt von Baltimore nach Washington, D.C. statt, wo der Zug ausgestellt wurde. Der 286 t wiegende Zug bestand aus 8 Wagen und bot 173 Plätze sowie 12 Betten. Staniers Assistent Robert Riddles und weiteres LMS-Personal führten mit dem Zug anschließend zwischen dem 21. März und dem 14. April von Baltimore aus eine Rundfahrt über die Strecken von acht US-Eisenbahngesellschaften (Baltimore and Ohio Railroad, Pennsylvania Railroad, Louisville and Nashville Railroad, Alton Railroad, Michigan Central Railroad, New York Central Railroad, Boston and Albany Railroad, New York, New Haven and Hartford Railroad) in den Staaten der Ostküste und des Mittleren Westens bis nach New York durch. In insgesamt 37 Städten konnten die Lokomotive und der Zug durch das Publikum besichtigt werden, wovon tausende Besucher Gebrauch machten, trotz jeweils relativ kurzer Aufenthalte von wenigen Stunden bis zu höchstens einem Tag. Selbst in der Kleinstadt Kent im Bundesstaat Ohio, wo der Zug lediglich eine Stunde Aufenthalt hatte, erwarteten ihn rund 3000 Menschen. Während der über 5000 km langen Rundfahrt traten lediglich einmal in St. Louis ernsthafte technische Probleme mit dem Feuerschirm der Feuerbüchse auf, die jedoch mit Unterstützung lokaler Eisenbahner behoben werden konnten. Anschließend wurde der Zug auf der Weltausstellung in New York gezeigt. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs verhinderte jedoch zunächst eine Rückkehr von Lokomotive und Zuggarnitur nach Großbritannien. Die Lokomotive kehrte schließlich 1942 zurück, um den kriegsbedingt ständig steigenden Bedarf der LMS an leistungsfähigen Lokomotiven zu decken. Die Zuggarnitur wurde erst 1946 nach Ende des Krieges zurückgebracht, kam aber nicht mehr zum Einsatz.
=== Einsatz ===
==== London, Midland and Scottish Railway ====
Am 5. Juli 1937 nahm die LMS den Betrieb ihres neuen Spitzenprodukts auf und der Coronation Scot verkehrte erstmals zwischen London Euston und Glasgow Central. Der regulär aus neun passend blau-silber lackierten und mit besonders luxuriöser Inneneinrichtung versehenen Wagen bestehende Zug verkehrte jeweils um 13:30 Uhr ab den Endbahnhöfen und benötigte in beiden Richtungen genau sechs Stunden und 30 Minuten bis zum Ziel. Mit Ausnahme eines nicht im Fahrplan genannten Halts in Carlisle, der lediglich dem Personalwechsel auf der Lokomotive diente, verkehrte der Coronation Scot ohne Zwischenhalt. Mit dieser Reisezeit konnte die LMS für den Coronation Scot einen deutlichen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Flying Scotsman der LNER erzielen, der trotz Non-Stop-Fahrt für die Fahrt zwischen Edinburgh Waverley und London King’s Cross sieben Stunden und 20 Minuten benötigte. Aufgrund des Erfolgs bestellte die LMS drei neue, vollständig klimatisierte Zuggarnituren, nachdem sie zunächst überwiegend auf bereits vorhandene und entsprechend umgebaute Wagen zurückgegriffen hatte, um das Angebot zwischen London und Glasgow weiter auszubauen. Bei der Farbgebung von Lokomotiven und Zug kehrte die LMS wieder zum traditionellen Dunkelrot zurück. Schrittweise übernahmen die neuen Lokomotiven weitere Leistungen vor hochwertigen Expresszügen auf der West Coast Main Line (WCML).
Nach Kriegsbeginn sollten alle 19 zu dieser Zeit vorhandenen Lokomotiven der Coronation Class auf Anordnung der britischen Regierung für die Dauer des Konflikts abgestellt werden, ebenso wie die Stromlinienlokomotiven der LNER. Nach wenigen Wochen erkannte man, dass gerade unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft leistungsfähige Lokomotiven für schwere Schnellzüge unverzichtbar waren und die Anordnung wurde aufgehoben. Die Lokomotiven, die fast alle im Londoner Depot Camden stationiert waren, kamen wieder in den Einsatz, wo sie dringend benötigt wurden. Durch den Krieg war die Nachfrage im Reiseverkehr deutlich gestiegen und die Züge zwischen London und Schottland stellten in den nächsten Jahren die Hauptaufgabe der Coronation Class dar. Einzelne Lokomotiven wurden während des Krieges durch Luftangriffe leicht beschädigt, jedoch ohne irreparable Folgen. Mit der Auslieferung weiterer Lokomotiven während und kurz nach dem Krieg kamen Exemplare der Klasse auch in die Depots Crewe North, Glasgow Polmadie und Carlisle Upperby. Kurze Zeit waren Lokomotiven der Klasse auch in Holyhead und Rugby stationiert. Bis zum Übergang an British Railways blieben Stationierung und Einsatzgebiete der Coronation Class weitgehend unverändert. Ab 1946 entfernte die LMS die Stromlinienverkleidung von den damit ausgerüsteten Lokomotiven. Wie die unverkleideten Exemplare bekamen die Lokomotiven stattdessen Windleitbleche.
==== British Railways ====
Die infolge des Transport Act 1947 neugegründeten British Railways (BR) standen vor der schwierigen Aufgabe, die vier Vorgängergesellschaften mit ihren unterschiedlichen Vorschriften, eigenen Lokomotiven und Wagen und nicht zuletzt auch Traditionen schrittweise zusammenzuführen. In der Organisationsstruktur spiegelte sich das durch die Einteilung von BR in Regionen wieder, die mit Ausnahme der Scottish Region, in der die schottischen Strecken der LMS und der LNER zusammengeführt wurden, weitgehend den vier bisherigen Gesellschaften entsprachen. Um im Lokomotivpark in Richtung Vereinheitlichung zu kommen, führte BR 1948 mit den Locomotive Exchange Trials umfangreiche Vergleichsfahrten mit den neueren Konstruktionen der Vorgängergesellschaften durch. Für den Bereich der Expresszuglokomotiven zog man die Coronation Class der LMS heran. Ausgewählt wurde die Lokomotive 46236 City of Bradford, die mit einer Lokomotive der ebenfalls aus dem Besitz der LMS stammenden Royal Scot Class (einer deutlich leistungsschwächeren 2’C-Lokomotive) sowie mit Lokomotiven der LNER-Klasse A4, der Merchant Navy Class der Southern Railway (SR) und der King Class der Great Western Railway (GWR) Vergleichsfahrten auf wichtigen Strecken der jeweiligen Regionen durchführte. Obwohl die Lokomotive 46236 mit niedrigem Kohlenverbrauch, guten Leistungsziffern und weiteren Vorteilen gut abschnitt, konnte sie sich nicht signifikant von ihren Konkurrentinnen absetzen, die Vergleichsfahrten ergaben keine eindeutigen Sieger. Letztlich entschied sich BR – abgesehen von einzelnen Ausnahmen einiger bis 1957 weiterbeschaffter älterer Konstruktionen – dafür, statt Weiterbeschaffungen älterer Konstruktionen ein neues Programm für Standardlokomotiven, die sogenannten BR standard classes, aufzulegen.Gegenüber den Zeiten der LMS änderte sich daher an Stationierung und Einsatzgebiet der nunmehr insgesamt 38 Lokomotiven der Coronation Class wenig. Bereits 1949 verlor das letzte Exemplar der Klasse seine Stromlinienverkleidung. 1955 war als neues Depot lediglich das Depot Edge Hill beim Bahnhof Liverpool Lime Street hinzugekommen, wo die Lokomotiven den kommenden Jahren aber eher sporadisch beheimatet waren. Sie bespannten weiterhin vor allem die hochwertigen Expresszüge auf der WCML und ihren Zweigstrecken. Zu den von London Euston aus angesteuerten Zielen gehörten neben Glasgow unter anderem auch Perth, Liverpool, Manchester und Holyhead. Züge wie der Royal Scot und der Caledonian zwischen Euston und Glasgow gehörten zu ihren Aufgaben, ebenso auch der Irish Mail nach Holyhead oder der Nachtzug Royal Highlander in Richtung Inverness bis Perth. Zeitweise setzte British Railways von Perth aus die mit dem Royal Highlander am Morgen angekommenen Lokomotiven tagsüber für Leistungen nach Aberdeen und Glasgow ein, um zu lange Standzeiten im Umlaufplan zu vermeiden. Der Coronation Scot der Vorkriegszeit wurde jedoch nicht wieder eingeführt. Für den umfangreichen und zunehmenden Verkehr entlang der Westküste besaßen die London Midland Region und die Scottish Region mit den lediglich 38 Exemplaren der Coronation Class und 12 Exemplaren der Princess Royal Class jedoch bald zu wenig leistungsfähige Triebfahrzeuge. Ab 1951 übernahmen daher auch neue Lokomotiven der Standardklasse 7 „Britannia“ Leistungen auf der WCML.
Anfang 1956 wurden zwei Exemplare der Klasse kurzzeitig an die Western Region von BR abgegeben, um dort mit technischen Problemen ausgefallene Lokomotiven der King Class der ehemaligen GWR zu ersetzen. Von Ende Januar bis Mitte Februar übernahmen sie Leistungen im hochwertigen Fernverkehr zwischen London Paddington und Bristol sowie Plymouth. Bis auf diese kurzzeitigen Einsätze blieben die Lokomotiven in Depots entlang der West Coast Main Line, die weiterhin das Haupteinsatzgebiet der gesamten Klasse war.Im Ende 1954 beschlossenen Modernisierungsplan für British Railways war für die WCML eine zügige Elektrifizierung vorgesehen. Dies ließ jedoch nicht so schnell wie erwartet umsetzen – erst 1974 war die gesamte Strecke zwischen London und Glasgow unter Fahrdraht. BR setzte daher kurzfristig auf die Verdieselung und beschaffte, teils ohne ausreichende Erprobung umfangreich neue Serien von Diesellokomotiven unterschiedlicher Bauarten. Als Ersatz für die Dampftraktion vor den Expresszügen der WCML wurden die von English Electric entwickelten schweren dieselelektrischen Lokomotiven des Typs 4, die spätere BR-Klasse 40, vorgesehen. Rechnerisch waren diese schweren Lokomotiven zwar in der Lage, eine Coronation Class zu ersetzen, in der Realität blieben ihre Leistungen jedoch deutlich hinter den Pacifics zurück. Anders als die Eastern Region, die auf eine Beschaffung zugunsten der Nachfolgegeneration deutlich leistungsfähigeren Deltics verzichtete, bestellte die London Midland Region trotz der ernüchternden Ergebnisse von Testfahrten eine größere Serie, um mit ihnen die Dampftraktion schnellstmöglich abschaffen zu können. Die Annahme war, dass man die Diesellokomotiven nur für eine kurze Zeit bis zur vollständigen Elektrifizierung brauche. Dabei wurde in Kauf genommen, dass sich die Reisezeiten gegenüber der Dampftraktion nicht verbesserten und in einzelnen Fällen sogar verschlechterten.Ab 1959 wurden die neuen Diesellokomotiven ausgeliefert und verdrängten die ehemaligen LMS-Pacifics von den hochwertigen Expresszugleistungen. Sie bespannten ab etwa 1960 lediglich noch nachrangige Leistungen und dienten als Reserve. Da die neuen Diesellokomotiven – außer der English Electric Type 4 auch andere neue Bauarten – bedingt durch die überhastete Beschaffung erhebliche Kinderkrankheiten und technische Mängel aufwiesen, waren die Coronations dennoch zunächst noch erheblich gefordert und mussten immer wieder für ausgefallene Diesellokomotiven einspringen. Sie wurden nun gelegentlich auch im Güterverkehr eingesetzt, bspw. vor Schnellgüterzügen mit Fisch aus schottischen Häfen. Mit der allmählich doch steigenden Zuverlässigkeit der Diesellokomotiven konnte die London Midland Region jedoch beginnend ab 1962 auf ihre Pacifics verzichten. Die etwas weniger leistungsfähigen Lokomotiven der Princess Royal Class waren bereits Ende 1962 vollständig aus dem Dienst geschieden. Im Dezember dieses Jahres wurden auch die ersten drei Exemplare der Coronation Class ausgemustert. Im Laufe des Jahres 1963 wurden weitere 13 Maschinen abgestellt. Der reguläre Einsatz nach London Euston endete am 28. Dezember 1963, danach waren die Maschinen nur noch nördlich von Crewe im Einsatz. Anfang 1964 waren noch 22 Maschinen im Bestand, die bis September dieses Jahres abgestellt wurden. Als letzte Maschine der Klasse bespannte die Lokomotive 46256 Sir William A. Stanier F.R.S. am 26. September 1964 einen Sonderzug für Eisenbahnenthusiasten von Crewe nach Carlisle und zurück und wurde mit den übrigen 16 noch vorhandenen Lokomotiven im Oktober formell ausgemustert. Kurzzeitig war von BR überlegt worden, einen Teil der Lokomotiven auf der Hauptstrecke der Southern Region zwischen London Waterloo und Bournemouth einzusetzen, diese Planung scheiterte jedoch aufgrund des abweichenden Lichtraumprofils.
== Technische Merkmale ==
Wie ihre Vorgängerinnen der Princess Royal Class waren die Maschinen der Coronation Class Vierzylinderlokomotiven mit einfacher Dampfdehnung. In vielen grundlegenden Bauteilen und Konstruktionsmerkmalen bauten sie auch auf der Vorgängerklasse auf. Vor allem aufgrund des größeren Kessels und der etwas größeren Zylinder waren sie jedoch deutlich leistungsfähiger.
=== Rahmen ===
Der Rahmen der Coronation Class war als Blechrahmen ausgeführt. Er bestand aus Stahlplatten, im Vergleich mit der Princess Royal Class wurden sie aus Gründen der Gewichtsersparnis mit 11/8 in (ca. 2,86 cm) etwas dünner ausgeführt. Beide Rahmenwangen waren 4 ft 1/2 in (ca. 1,22 m) weit auseinander montiert. Analog zu der Vorgängerklasse war der Rahmen am hinteren Ende mit separaten Platten erweitert und in einen Innen- und Außenrahmen aufgesplittet, um eine ausreichende Abstützung der Feuerbüchse zu gewährleisten, wobei die äußeren Rahmenplatten einen Knick nach oben aufwiesen, damit das Nachlaufgestell ausreichend Bewegungsspielraum bekam. Die Rahmenwangen wurden von der vorderen Pufferbohle und dem Schieberkasten, den Innenzylindern, dem Drehgestellträger, dem Rauchkammersattel, einer horizontalen Platte neben dem Sattel, einer vertikalen Trägerplatte zwischen dem vorderen Kuppelradsatz und dem Treibradsatz, einer weiteren zwischen den hinteren Kuppelrädern und einem Querträger am Beginn des aufgeteilten Rahmens abgestützt. Am Querträger im Bereich der Aufteilung war auch das nachlaufende Bisselgestell aufgehängt. Die Kesselauflagen waren oberhalb des Innenzylinders und des hintersten Querträgers. Auch die Rahmenerweiterung besaß entsprechende Querträger. Verwendet wurde hochwertiger Chrom-Mangan-Stahl, der auch hinsichtlich seiner Eignung fürs Schweißen ausgewählt wurde. Die beiden letzten Maschinen erforderten Anpassungen am Rahmen, um das statt des Bisselgestells als Nachlaufradsatz verwendete Delta-Schleppgestell mit seinem Außenrahmen unterbringen zu können. Statt der aufgesplitteten inneren und äußeren Rahmenplatten wurde mittig ein 2 in (ca. 5 cm) dicker Barrenrahmen angenietet, der die hintere Pufferbohle stützte.
=== Antrieb und Steuerung ===
Auch der Antrieb wurde weitgehend von der Princess Royal Class übernommen. Der Kolbenhub der vier Zylinder, die alle mit Frischdampf versorgt wurden – Verbundtriebwerke konnten sich mit wenigen Ausnahmen im britischen Eisenbahnwesen nicht durchsetzen – blieb gleich, allerdings wurde der Durchmesser der Zylinder etwas vergrößert. Außerdem wurden die Ein- und Ausströmrohre zu und von den Zylindern neu und strömungsgünstiger entworfen. Die LMS-Konstrukteure griffen dabei auf Ergebnisse der Arbeit von André Chapelon an französischen Schnellzuglokomotiven zurück. Die Außenzylinder wurden gegenüber den Princess Royals, wo sie in Höhe des hinteren Drehgestellradsatzes lagen, etwas nach vorne versetzt, jedoch nicht bis ganz in die Drehgestellmitte. Außen- wie Innenzylinder waren 1 zu 50 geneigt, alle vier Zylinder trieben den mittleren, gekröpften Kuppelradsatz an. Die Zylinderblöcke bestanden aus Gusseisen, ab 1952 wurden sie bei Erneuerungen durch solche aus Gussstahl ersetzt. Die Kolbenschieber entsprachen dem üblichen LMS-Standard, erhielten jedoch einen etwas größeren Durchmesser. Treib- und Kuppelstangen fielen in ihren Maßen etwas größer als bei der Princess Royal Class aus, durch die Verwendung hochlegierten Nickelstahls waren sie dennoch etwas leichter.Die verwendete Walschaerts-Steuerung entsprach grundsätzlich der bereits bei der Vorgängerklasse verwendeten Steuerung, ihre Bauteile wie etwa Kreuzkopf und Schwinge waren ebenfalls identisch. Jedoch hatte nicht mehr jeder Zylinder eine separate Steuerung, die Innenzylinder wurden jetzt durch Hebel von der Steuerung der Außenzylinder angesteuert. Damit war es möglich, die Außenzylinder zwischen den Achsen des Vorlaufgestells zu positionieren und nicht wie bei den Princess Royals vor dessen zweiter Achse. Die versetzten Positionen sorgten zudem für größere Stabilität des Zylinderblocks und die kombinierte Steuerung reduzierte den Aufwand für Wartung und Pflege. Bei den beiden letzten Maschinen wurde die Position der Steuerung im Führerhaus verändert und auf der linken Seite links vom Platz des Lokomotivführers untergebracht, nicht wie bislang direkt vor ihm. Äußerlich war dies an der aus dem Führerhaus kommenden und links seitlich des Stehkessels diagonal zum Umlauf und dann zur Schieberschubstange verlaufenden Steuerschraube erkennbar.
=== Kessel ===
Der aus Nickelstahl bestehende und mit einem Dampfdom ausgestattete konische Kessel der Coronation Class reizte das verfügbare Lichtraumprofil der LMS maximal aus. Anders als bei der Princess Royal Class, die einen nur teilweise konischen Kessel besaß, waren beide Kesselschüsse zwischen Rauchkammer und Stehkessel konisch. Im Bereich der Rauchkammer besaß er den gleichen Durchmesser wie der Kessel der Princess Royal Class, im Bereich der Feuerbüchsrohrwand besaß er einen um 21/2 in (6,4 cm) größeren Durchmesser. Bei den Lokomotiven mit Stromlinienverkleidung musste die Rauchkammer oben etwas abgeflacht werden, nach Entfernung der Verkleidungen waren diese Maschinen daran eine Weile zu erkennen. Bei späteren Werkstattaufenthalten erhielten letztlich alle Maschinen normale Rauchkammern. Der Überhitzer war in der Rauchkammer untergebracht und besaß 40 Dreifach-Elemente. Der Überhitzer der beiden letzten Maschinen erhielt vergrößerte Elemente, die dessen Gesamtfläche auf bis dahin im britischen Lokomotivbau unerreichte 979 sq ft (90,9 m²) erhöhte. Die aus Kupfer bestehende Feuerbüchse im Belpaire-Stehkessel wies ebenfalls größere Ausmaße auf, sowohl bei der Rostgröße als auch der Strahlungsheizfläche, sie besaß zudem eine Verbrennungskammer. Der Rost war dreigeteilt und teilweise als Kipprost ausgeführt, bei Umbauten nach dem Krieg wurde er vollständig als Kipprost ausgeführt. Auch der Aschkasten war aufgeteilt, um die Asche links und rechts des Nachlaufradsatzes entleeren zu können. Die Kesselspeisung erfolgte durch zwei Injektoren beidseits unterhalb des Führerstands, von denen der auf der rechten Seite mit Abdampf und der auf der linken Seite mit Frischdampf betrieben wurde. Auf dem Stehkessel waren vier Sicherheitsventile und die Lokomotivpfeife montiert.Die bei den ersten Lokomotiven ursprünglich verwendeten einfachen Schornsteine wurden nach den erfolgreichen Messfahrten der 6234 Duchess of Abercorn durch Doppelschornsteine ersetzt, spätere Lieferungen waren von Beginn an damit ausgestattet. Die durch diese Bauart vergrößerte Oberfläche des Blasrohrs sorgte für einen verbesserten Luftzug und damit eine bessere Sauerstoffversorgung der Feuerbüchse. Kurzzeitig wurde eine Kylchap-Saugzuganlage in der Lokomotive 6245 City of London erprobt. Bei den beiden letzten Maschinen wurde durch die Ausstattung mit selbstreinigender Rauchkammer und selbstleerendem Aschkasten die Wartungsfreundlichkeit der Lokomotiven verbessert.
=== Laufwerk ===
Das Laufwerk der Coronation Class wurde weitgehend von der Princess Royal Class übernommen. Sowohl das vorlaufende Drehgestell wie auch der mit Ausnahme der beiden letzten Maschinen als Bisselgestell ausgeführte Nachlaufradsatz waren mit der Vorgängerklasse identisch. Lediglich der Durchmesser der Kuppelräder wurde um 3 in auf 6 ft 9 in (2057 mm) vergrößert. Alle Kuppelräder wurden einseitig vorne abgebremst. Zur Gewichtsersparnis erhielten die Kuppelradsätze Hohlachsen. Lokomotive wie Tender besaßen Dampfbremsen, der Bremszylinder saß unterhalb des Kessels oberhalb des hinteren Kuppelradsatzes. Die Kuppelradsätze und alle Tenderradsätze wurden einseitig abgebremst. Sandfallrohre wurden vor dem ersten Kuppelradsatz sowie beidseits des Treibradsatzes vorgesehen. Für jedes Rohr wurden separate Sandkästen innerhalb des Rahmens platziert, die vom Umlauf her zugänglich waren. Während die Radsätze der Serienlieferungen noch mit Gleitlagern ausgestattet waren, die denen entsprachen, die Stanier nach dem Muster der GWR bei der Princess Royal Class eingeführt hatte, erhielten die beiden letzten Maschinen Wälzlager des US-amerikanischen Herstellers Timken. Die verwendeten Blattfedern bestanden aus Silizium-Mangan-Stahlblechen nach LMS-Standard, sie wurden an den Achslagern befestigt und von Federstützen getragen.Die beiden letzten Maschinen erhielten für den Nachlaufradsatz anstelle des Bisselgestells ein Delta-Schleppgestell. Erforderlich wurde diese Änderung aufgrund des nach dem Vorbild der während des Krieges in Großbritannien eingesetzten amerikanischen USATC-Klasse S 160 neugestalteten Aschkastens, der nicht zum bisherigen Nachlaufgestell kompatibel war. Das neue Schleppgestell lief allerdings zunächst nicht wie vorgesehen und erforderte erhebliche Nacharbeiten.
=== Stromlinienverkleidung ===
Die Stromlinienverkleidung wurde von Thomas F. Coleman, dem Chefzeichner des LMS-Konstruktionsbüros, entwickelt. Die Detailgestaltung erfolgte anhand von Holzmodellen im Windkanal der Forschungsabteilung der LMS in Derby. Die einzelnen Platten der Verkleidung wurden auf einem 1:1-Holzmodell geformt und dann auf einem leichten Rahmen rund um den Kessel montiert. Im Vergleich mit der allgemein als sehr elegant aussehend eingeschätzten A4 der LNER kritisierten viele Beobachter die Verkleidung der Coronation Class als wenig ästhetisch und bauchig. Die Messungen zeigten zwar, dass die Verkleidung der Coronations etwas wirksamer als die der A4 waren, jedoch gab es mehr Sichtbehinderungen durch verwirbelten Rauch und Dampf. Die Front der Stromlinienverkleidung ließ sich beidseitig aufklappen, um den Zugang zur Rauchkammer und der Steuerung der Innenzylinder zu ermöglichen.Bald nach Kriegsende beschloss die LMS, die Stromlinienverkleidungen abzubauen, da sie nur in höheren Geschwindigkeitsbereichen leichte Vorteile beim Kohlenverbrauch bewirkten. Mit Ausnahme der vorne oben abgeflachten Rauchkammer und des im Frontbereich unterbrochenen Umlaufs unterschieden sich die „entstromten“ Lokomotiven nicht nennenswert von denjenigen, die ohne Stromlinienverkleidung gefertigt wurden. Im April 1946 verlor als erste die heutige Museumslokomotive 46235 City of Birmingham ihre Verkleidung. Mit Beginn der Ära von British Railways existierten zu Jahresbeginn 1948 noch drei verkleidete Lokomotiven. Jedoch erst im Mai 1949 verlor mit der Lokomotive 46243 City of Lancaster das letzte Exemplar der Klasse die Verkleidung, sie war auch die einzige, die noch mit BR-Nummer und Beschriftung als Stromlinienlokomotive eingesetzt worden war. Alle unverkleideten Lokomotiven erhielten beginnend ab 1945 leicht schräg montierte große Windleitbleche, um die Sichtbehinderungen des Personals durch verwirbelten Rauch und Dampf zu reduzieren.
=== Tender ===
Stanier hatte bald nach seinem Amtsantritt bei der LMS eine neue Tendergeneration entwickeln und einführen lassen. Sie umfasste mehrere Bauarten, die sich vor allem im Wasser- und Kohlenvorrat unterschieden, und die bei fast allen seinen Konstruktionen Anwendung fanden, auch der Coronation Class. Anders als die Lokomotiven der Princess Royal Class, die während ihrer Laufbahn mit verschiedenen Tenderbauarten mit unterschiedlichen Vorräten ausgestattet wurden, erhielt die Coronation Class einheitlich dreiachsige Tender mit 10 Tonnen Kohlenvorrat und 4000 Gallonen (ca. 18.184 Liter) in geschweißter Bauform, die sie abgesehen von einigen Austauschen untereinander bis zur Ausmusterung behielten. Sie unterschieden sich jedoch äußerlich, abhängig davon, ob sie vor Lokomotiven mit oder ohne Stromlinienverkleidung vorgesehen waren. Bei ersteren wurden die Seitenwände nach hinten bis zur Höhe der Puffer verlängert, um den Zwischenraum zum Wagenzug zu minimieren. In der üblichen LMS-Bauform wurden die drei Radsätze in einem Außenrahmen gelagert. Versuchsweise bekamen die Radsätze der ersten beiden Tender Wälzlager, bei den weiteren Tendern mit Ausnahme der letzten beiden fanden jedoch wieder Gleitlager Anwendung. Zu den technischen Einrichtungen gehörte ein Schöpfrüssel zur Wasseraufnahme während der Fahrt aus den bei der LMS üblichen Wassertrögen zwischen den Gleisen. Dank der insgesamt elf Wassertröge zwischen Euston und Glasgow konnte so der Wasservorrat zugunsten des Kohlevorrats relativ klein gehalten werden. Als Besonderheit erhielten die Coronation-Tender eine dampfgetriebene Kohlenschubeinrichtung. Diese war im Hinblick auf die Non-Stop-Fahrten zwischen London und Carlisle eine erhebliche Erleichterung für die Heizer. Im Unterschied zur LNER verzichtete die LMS auf die Ausrüstung der Lokomotiven mit Korridortendern, für den erforderlichen Personalwechsel des Coronation Scot wurde ein Betriebshalt in Carlisle Kingmoor eingeplant.
== Namensgebung ==
In der Literatur ist keine einheitliche Namensgebung der gesamten Klasse zu finden, zumal die LMS anders als bspw. die LNER keine einheitlichen Klassenbezeichnungen kannte. Meistens wird sie als Coronation Class bezeichnet, es finden sich aber auch die Bezeichnungen Princess Coronation Class, Coronation Scot Class, Duchess Class und City Class. Zu dieser Konfusion trug bei, dass mehrere Gruppen von Namensgebern vorhanden waren:
Der Prototyp der Reihe, die Lokomotive 6220, erhielt zur Feier der in ihrem Baujahr erfolgten Krönung von König Georg VI. den Namen Coronation.
Die nächsten vier Maschinen wurden in Fortsetzung der Namen der Princess Royal Class nach weiblichen Angehörigen des britischen Königshauses benannt.
Die Titel britischer Herzoginnen (Duchesses) dienten als Namen der nächsten zehn Lokomotiven. Da darunter auch die erste Serie unverkleideter Lokomotiven war, wurde bei den Klassenbezeichnungen zunächst auch zwischen der stromlinienförmigen Coronation Class und der nicht stromlinienförmigen Duchess Class unterschieden.
Alle übrigen Maschinen erhielten bei ihrer Auslieferung mit einer Ausnahme – der nach ihrem Konstrukteur benannten Lokomotive 6256 Sir William A. Stanier F.R.S. – Namen von Städten im Einzugsbereich der LMS, beginnend mit Lokomotive 6235 City of Birmingham. Zu Ehren des Königs wurde die Lokomotive 6244 City of Leeds 1941 in King George VI umbenannt, die Stadt Leeds bekam zwei Jahre später wieder eine nach ihr benannte Maschine, die Lokomotive 6248.Für die nach Städten benannten Lokomotiven fanden meist in den jeweiligen Patenstädten Feiern zur Namensgebung statt, bei denen die Namensplakette an der jeweiligen Lokomotive enthüllt wurde. Die Namensgebung nach Mitgliedern des Königshauses erforderte jeweils die Zustimmung des Königs.Das Lokomotivpersonal der LMS bezeichnete die Lokomotiven jedoch als „Big Lizzies“, orientiert am Spitznamen „Lizzies“ für die Vorgängerlokomotiven der Princess Royal Class, der nach der zweiten Maschine der Klasse entstanden war. Diese hatte nach der späteren Königin Elisabeth II. den Namen Princess Elizabeth erhalten.
== Farbgebung ==
Von Beginn an wurden die Maschinen in mehreren Farbgebungen bei der LMS zum Einsatz gebracht. Bedingt durch die Kriegszeiten und die Verstaatlichung kamen während der gesamten Einsatzdauer weitere Lackierungen zur Anwendung, so dass die Coronation Class zu den britischen Lokomotivklassen gehört, die mit den meisten unterschiedlichen Farbgebungen in Betrieb standen. Dazu trug auch bei, dass British Railways nach 1948 mehrfach mit den Farbgebungen für Wagen und Lokomotiven experimentierte und die einzelnen Regionen zeitweise relativ große Freiheiten bei der Farbwahl bekamen. Insgesamt wurden unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Versionen der Zierlinien elf verschiedene Farbvarianten für die Coronation Class verwendet.
Caledonian Blue: Die ersten fünf Lokomotiven erhielten passend zum Wagenmaterial des Coronation Scot eine blaue Farbgebung in den Farben der Caledonian Railway mit silbernen Längsstreifen, angelehnt an die Farben des Saltire, der schottischen Flagge.
LMS Crimson Lake: Die LMS hatte die dunkelrote Farbgebung für Expresszuglokomotiven und Personenwagen von ihrer Vorgängergesellschaft Midland Railway übernommen. Für die zweite Serienlieferung der Stromlinienlokomotiven kam diese Farbgebung zur Anwendung, ergänzt um goldgelbe Längsstreifen. Die ab 1938 gebauten Exemplare ohne Stromlinienverkleidung wurden ebenfalls in Dunkelrot (jedoch ohne goldgelbe Längsstreifen) lackiert. Lediglich die Rauchkammer und die Windleitbleche wurden schwarz lackiert – dies wurde auch bei allen nachfolgenden Farbgebungen der unverkleideten Lokomotiven beibehalten.
LMS Wartime Black: Ab 1943 versah die LMS als kriegsbedingte Einsparung ihre Lokomotiven einheitlich mit einer schwarzen Lackierung ohne Zierlinien. Nicht nur die in dieser Zeit ausgelieferten Exemplare der Coronation Class erhielten diese Farbe, auch fast alle bereits vorhandenen Lokomotiven wurden bis 1946 umlackiert. Nach Kriegsende kehrte die LMS nicht zu ihrer Vorkriegsfarbgebung zurück, sie ergänzte die schwarze Farbgebung jedoch um gelb-dunkelrote Zierlinien.
Experimental Grey: Eine Maschine, die Lokomotive 6234 Duchess of Abercorn wurde 1946 versuchsweise mit einer grauen Farbgebung versehen, die sie bis 1948 behielt.
BR lined Black: Zunächst wurde von British Railways eine einheitliche schwarze Farbgebung für Lokomotiven gewählt, versehen mit rot-weißen Zierlinien. Einige Lokomotiven der „Coronation Class“ erhielten diese Farbgebung in den Jahren bis 1950.
Experimental Blue: Die Scottish region von British Railways wählte 1948 statt der eigentlich vorgesehenen schwarzen Farbgebung eine eigenständige blaue Farbgebung für die in Schottland stationierten Lokomotiven der Coronation Class, angelehnt an das traditionelle Caledonian Blue. 1949 setzte British Railways jedoch das Ende dieser Lackierung durch.
Standard Express Blue: 1949 führte BR eine neue Farbgebung für die wichtigsten Expresszuglokomotiven ein, ein kräftiges dunkles Blau. Bis 1951 erhielten 27 der 38 Lokomotiven diese Farbgebung, die allerdings nur kurze Zeit verwendet wurde.
BR Brunswick Green: Bereits Ende 1951 wechselte British Railways erneut ihr Farbkonzept. Neue Standardfarbe für Express- und Personenzuglokomotiven wurde nunmehr ein dunkles Grün. Bis Mitte 1955 verloren alle blauen Lokomotiven diese Farbe wieder und alle 38 Lokomotiven trugen seitdem die dunkelgrüne Farbgebung.
BR Maroon: Ende der 1950er Jahre versuchte BR, durch Rückgriff auf die Traditionen der vier Vorgängergesellschaften vermehrt Akzeptanz bei Beschäftigten und Fahrgästen zu erzielen. Der London Midland Region wurde daher gestattet, die Expresslokomotiven im traditionellen Dunkelrot der LMS zu lackieren. Ab Ende 1957 erhielten daher 16 in der Region stationierte Maschinen wieder ihre ursprüngliche, nun allerdings als Maroon bezeichnete Farbgebung, wobei die Zierlinien in zwei Varianten zunächst nach dem Muster der in Brunswick Green lackierten BR-Maschinen und später nach dem Muster der LMS gestaltet wurden. Bis zur Ausmusterung blieb diese Farbgebung der damit versehenen 16 Maschinen unverändert, während die außerhalb der London Midland Region stationierten Lokomotiven bis zum Schluss das BR-Grün aufwiesen.
== Unfälle ==
Im Laufe der sich über mehr als 25 Jahre erstreckenden Dienstzeit der gesamten Klasse waren mehrere der Lokomotiven in teils schwere Unfälle verwickelt. Jedoch musste keine Maschine aufgrund schwerer Unfallschäden vorzeitig ausgemustert werden.
Am 10. September 1940 explodierte bald nach der Abfahrt aus Glasgow der Kessel der Lokomotive 6224 Princess Alexandra, nachdem aufgrund von Fehlern des mit der Handhabung der Maschine nicht ausreichend vertrauten und unerfahrenen Personals die Feuerbüchsdecke auf einer Steigung der WCML vor Carstairs nicht mehr von Wasser bedeckt war. Der Heizer erlitt tödliche Verbrühungen. Ein zweiter Kesselzerknall ereignete sich auf der gleichen Strecke mit der gleichen Lokomotive ca. 20 Kilometer südlich von Carstairs bei Lamington acht Jahre später am 5. März 1948, diesmal kam der Lokomotivführer ums Leben.
Am 1. Mai 1944 entgleiste Lokomotive 6225 Duchess of Gloucester vor einem Nachtzug für Militärangehörige bei Mossband, nördlich von Carlisle, aufgrund kriegsbedingt schlechten Gleiszustands. Drei Reisende kamen dabei ums Leben.
Am 21. Juli 1945 fuhr Lokomotive 6231 Duchess of Atholl im Bahnhof von Ecclefechan mit einem Expresszug von Glasgow nach London auf einen dort rangierenden Güterzug. Das Lokomotivpersonal kam dabei ums Leben. Der Expresszug hatte aus ungeklärter Ursache ein haltzeigendes Signal überfahren.
Am 21. Juli 1947 entgleiste die Lokomotive 6244 King George VI in der Nähe des Bahnhofs von Polesworth vor einem mit über 800 Fahrgästen vollbesetzten Expresszug auf der Fahrt von London Euston nach Liverpool und kippte auf die rechte Seite. Die Ursache war schlechter Gleiszustand aufgrund kriegsbedingter Unterhaltungsrückstände. Der entgleiste Zug blockierte alle Gleise der in diesem Bereich viergleisigen West Coast Main Line, sich nähernde Züge auf den anderen Gleisen konnten noch rechtzeitig gestoppt werden. Die ersten beiden Wagen hinter der Lokomotive entgleisten ebenfalls und kippten auf die Seite, die nächsten sechs Wagen wurden erheblich beschädigt. Der Unfall forderte fünf Menschenleben und 64 zum Teil schwer Verletzte.
Am 17. April 1948 fuhr die Lokomotive 46251 City of Nottingham mit einem Postzug im Bahnhof von Winsford auf einen stehenden Expresszug auf, der aufgrund einer gezogenen Notbremse zum Stehen gekommen war. Aufgrund eines Irrtums des zuständigen Stellwerkmitarbeiters war der vom Expresszug belegte Streckenabschnitt für den Postzug freigegeben worden. In den letzten Wagen des Expresszuges starben 24 Menschen, 32 weitere wurden verletzt. Es war der erste größere Unfall für British Railways.
Am 8. Oktober 1952 war die Lokomotive 46242 City of Glasgow in den bislang schwersten Unfall im britischen Eisenbahnnetz in Friedenszeiten verwickelt. Mit einem Nachtschnellzug von Perth nach London Euston fuhr sie im Bahnhof Harrow & Wealdstone im Norden von London auf einen dort haltenden, mit über 800 Fahrgästen vollbesetzten Lokalzug auf. Das Personal des Nachtzugs hatte aus ungeklärter Ursache die Halt zeigenden Signale missachtet. Wenige Sekunden nach dem Zusammenstoß fuhr aus der Gegenrichtung ein von Euston nach Liverpool verkehrender Expresszug in die über mehrere Gleise verteilten Trümmer der ersten Kollision. Insgesamt kamen bei dem Unfall 122 Menschen ums Leben, darunter auch das Personal der City of Glasgow. Weitere 340 Menschen wurden teils schwer verletzt.
== Verbleib ==
Insgesamt sind drei Maschinen der Coronation Class erhalten geblieben. Eine der Maschinen ist mit Stand 2023 als betriebsfähige Museumslokomotive mit Zulassung durch Network Rail auf dem britischen Eisenbahnnetz im Einsatz, die beiden anderen sind in Museen zu besichtigen.
=== Lokomotive 46229 Duchess of Hamilton ===
Die Lokomotive wurde im September 1938 in Crewe mit Stromlinienverkleidung ausgeliefert, lackiert in Dunkelrot mit goldenen Streifen. 1939 wurde sie mit Namen und Nummer von 6220 Coronation in die Vereinigten Staaten überstellt. Kriegsbedingt kehrte sie erst 1943 nach Großbritannien zurück und erhielt wieder ihre ursprünglichen Bezeichnungen. 1947 verlor die Lokomotive ihre Stromlinienverkleidung. Ihre Beheimatung wechselte mehrfach zwischen Camden und Crewe Nord. In ihrem letzten Depot Edge Hill in Liverpool wurde sie im Februar 1964 ausgemustert. Nach ihrer Ausmusterung wurde die Lokomotive von Billy Butlin, dem Betreiber der Feriencamp-Kette Butlin’s erworben und als Attraktion zusammen mit einer Dampflokomotive der LB&SCR-Klasse A1 im Butlin’s-Camp in Minehead, Somerset, aufgestellt. 1975 gab Butlin’s die Lokomotiven nach einer Neuausrichtung des Camp-Konzepts ab. Die Duchess of Hamilton wurde als Dauerleihgabe von der Vereinigung der Freunde des National Railway Museums (NRM) in York übernommen und betriebsfähig aufgearbeitet. Ab 1980 wurde sie vor Sonderzügen des National Railway Museums eingesetzt. Zwischen 1985 und 1989 erfolgte eine umfassende Überholung der Maschine, die das Museum schließlich 1987 von Butlin’s erwarb. Bis 1996 setzte das Museum die Lokomotive erneut vor Sonderzügen ein, seitdem wurde sie als statisches Ausstellungsstück in York neben der A4 Mallard der LNER ausgestellt. Im Jahr 2005 kündigte das NRM an, die Lokomotive erneut mit einer Verkleidung zu versehen. Seit 2009 steht sie mit neuer Stromlinienverkleidung im Museum in York.
=== Lokomotive 46233 Duchess of Sutherland ===
Im Juli 1938 lieferte Crewe Works die Lokomotive als Teil des ersten Loses von Lokomotiven ohne Stromlinienverkleidung aus und zunächst in Camden stationiert. Ab 1944 war sie im Depot Crewe Nord, wo sie bis Ende der 1950er Jahre blieb. Ab da wechselte die Beheimatung mehrfach zwischen Carlisle und Camden. Zuletzt kam sie wie die 46229 Duchess of Hamilton nach Edge Hill, wo sie im Februar 1964 ausgemustert und nach ihrer Ausmusterung von Billy Butlin erworben und in einem seiner Feriencamps in Schottland in Ayr aufgestellt. 1971 gab das Unternehmen die Lokomotive an das Bressingham Steam Museum in Norfolk ab. Dort wurde sie auf einem kurzen Gleisabschnitt betriebsfähig für Führerstandsmitfahrten eingesetzt, bis sie 1974 aufgrund von Problemen mit der Feuerbüchse abgestellt werden musste. Sie blieb bis 1996 als statisches Ausstellungsobjekt in Bressingham. In diesem Jahr erwarb der The Princess Royal Class Locomotive Trust die Lokomotive und ließ sie bis 2001 betriebsfähig herrichten. Seitdem wird sie, abgesehen von teils längeren Werkstattaufenthalten für Hauptuntersuchungen und Reparaturen, von ihrem Eigentümer vor Sonderzügen auf dem britischen Eisenbahnnetz eingesetzt.
=== Lokomotive 46235 City of Birmingham ===
Die LMS übernahm die mit Stromlinienverkleidung ausgestattete Lokomotive im Juli 1939 in ihren Bestand und stationierte sie in Crewe Nord. Im Unterschied zu vielen anderen Lokomotiven der Klasse blieb 46235 City of Birmingham ihre gesamte Dienstzeit bis zu ihrer Ausmusterung in diesem Depot beheimatet. 1946 verlor sie als erste Lokomotive der gesamten Klasse die Stromlinienverkleidung und erhielt stattdessen Windleitbleche. Nach ihrer Ausmusterung im September 1964 wurde die Lokomotive 46235 von British Railways zur Erhaltung vorgesehen und zunächst in einem Lokschuppen in Nuneaton hinterstellt. 1966 übergab British Railways die Lokomotive als Geschenk an das Birmingham Museum of Science and Industry in der namensgebenden Stadt. 1997 zog die Lokomotive zusammen mit dem seitdem als Thinktank, Birmingham Science Museum bezeichneten Museum an einen neuen Standort, wo sie seitdem wieder als Ausstellungsobjekt dient.
== Galerie ==
== Rezeption und Modelle ==
Ähnlich wie der Expresszug Flying Scotsman der LNER mit seiner A4-Stromlinienlokomotive bildete der Coronation Scot mit seiner Coronation-Stromlinienlokomotive den Paradezug der LMS am Ende der 1930er Jahre bis zum Kriegsausbruch im September 1939. Mit den ikonographischen Motiven dieser Züge wurde auf Plakaten und Anzeigen für die konkurrierenden Angebote beider Bahngesellschaften zwischen London und Schottland geworben. Die LMS ließ sowohl den Zug wie auch die Lokomotiven auf Plakaten abbilden, die von Künstlern wie Norman Wilkinson, Bryan de Grineau und Lili Réthi gezeichnet wurden. Die LMS musste vielen Anfragen von Besuchergruppen und Delegationen aus dem In- und Ausland zur Besichtigung der neuen Stromlinienlokomotiven nachkommen, so bspw. durch eine Delegation der Deutschen Reichsbahn 1938. Dem bulgarischen Zaren Boris III., der für seine Eisenbahnbegeisterung bekannt war, ermöglichte die LMS eine Fahrt auf dem Führerstand, bei der er selber die Lokomotive steuern durfte. Der Monarch bedankte sich beim LMS-Lokomotivpersonal mit wertvollen Uhren.Die neuen Stromlinienlokomotiven wurden bereits kurz nach ihrem erstmaligen Einsatz 1937 von verschiedenen Modellbahnherstellern nachgebaut. Ab 1937 bot Bassett-Lowke ein Modell der Coronation Class in der Ausführung in Caledonian Blue für die Spur 0 an, Trix Twin Railways folgte kurz vor Kriegsausbruch 1939 mit einem Modell für die kleineren Tischbahnen. Auch nach dem Krieg blieb die Coronation Class mit und ohne Stromlinienverkleidung ein beliebtes Objekt für die Modellbahnhersteller. Vor allem die britischen Hersteller Hornby Railways und Graham Farish hatten diverse Modelle dieser Lokomotivklasse in unterschiedlichen Ausführungen und Farbgebungen für die Nenngrößen 00 und N auf den Markt gebracht.
== Literatur ==
Cecil J. Allen: British Pacific Locomotives. Ian Allan, Shepperton 1990, unveränderter Nachdruck der 2. Auflage 1971, ISBN 0-7110-0261-4, S. 131–155
O. S. [Oswald Stevens] Nock: The British Steam Railway Locomotive, Volume 2, 1925–1965. Ian Allan Ltd., London 1966, S. 140–144.
Andrew Roden: The Duchesses. The Story of Britain’s Ultimate Steam Locomotives. Aurum Press, London 2008, ISBN 978-1-78131-378-7.
J. W. P. [John Westbury Peter] Rowledge: The L.M.S. Pacifics. David & Charles, Newton Abbot/London 1987, ISBN 0-7153-8776-6.
Ian Sixsmith: The Book of the Coronation Pacifics. Irwell Press, Clophill 1998, ISBN 1-871608-94-5.
== Weblinks ==
LMS locomotive designs: Coronation 4-6-2 (englisch)
Preserved British Steam Locomotives: 8P 46220 – 46257 4-6-2 LMS Stanier Princess Coronation or Duchess (englisch)
steamlocomotive.com: LMS 4-6-2 Locomotives in Great Britain; Class Duchess (englisch)
Historischer Film zum Bau und zur Expresszugfahrt mit dem Coronation Scot auf Youtube, abgerufen am 10. Februar 2023 (englisch)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/LMS-Klasse_7P_%E2%80%9ECoronation%E2%80%9C
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KZ-Außenlager Ladelund
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= KZ-Außenlager Ladelund =
Das KZ-Außenlager Ladelund, 20 km nordöstlich von Niebüll an der deutsch-dänischen Grenze gelegen, wurde am 1. November 1944 als Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme im Zusammenhang mit dem Bau des so genannten Friesenwalls mit Häftlingen belegt. Der Friesenwall war eine geplante, aber nur teilweise ausgeführte Wehranlage, die an der deutschen Nordseeküste gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erstellt werden sollte. Das Konzentrationslager bei Ladelund war hierbei für die Errichtung von Schützengräben und Geschützstellungen einer militärisch sinnlosen „Riegelstellung“ südlich der dänischen Grenze zuständig. Am 16. Dezember 1944 wurde das Lager aufgelöst. Innerhalb der anderthalb Monate, in denen es bestand, starben 300 von über 2.000 Häftlingen.
== Geografische Lage ==
Das Areal, auf dem 1938 zunächst ein Arbeitslager des Reichsarbeitsdienstes (RAD) und später das KZ-Außenlager errichtet wurde, liegt nordöstlich von Ladelund im ehemaligen Kreis Südtondern (im heutigen Kreis Nordfriesland, Amt Südtondern) nahe der dänischen Grenze.
Zirka acht Kilometer vom eigentlichen Lager entfernt befindet sich in Achtrup der Bahnhof, an dem 2000 Häftlinge aus vielen Ländern Europas in gedeckten Güterwagen eintrafen. Die Häftlinge mussten zu Fuß von Achtrup nach Ladelund laufen. Ladelund wurde als Außenlager-Standort wegen seiner Lage, des vorhandenen RAD-Lagerareals und der guten Transportwege gewählt.
== Vorgeschichte ==
1938 richtete der Reichsarbeitsdienst nordöstlich von Ladelund ein Barackenlager für 250 junge Männer ein. Diese erbauten parallel zur dänischen Grenze eine 34 Kilometer lange Straße von Süderlügum bis Flensburg; diese wurde „Betonstraße“ oder „Panzerstraße“ genannt.
Außerdem arbeiteten sie bei Entwässerungsmaßnahmen, bei der Ödlandkultivierung und bei der Aufforstung mit.
Das Arbeitslager Ladelund war nicht eingezäunt und nicht bewacht.
== KZ-Außenlager Ladelund ==
Am 28. August 1944 befahl Hitler, an der Nordseeküste den sogenannten Friesenwall zu errichten. Für den Bau wurden 16.000 Kriegsgefangene herangezogen, sowie 6.000 KZ-Häftlinge, die aus dem KZ Neuengamme in neu errichtete Außenlager in den KZs Engerhafe (2.000 Gefangene) in Ostfriesland, Meppen-Versen (3000 Gefangene) und Dalum im Emsland (1.000 Gefangene) und Schwesing (bis zu 2500 Gefangene) sowie Ladelund in Nordfriesland verfrachtet wurden. Im Oktober 1944 begann dort die Umwandlung des Arbeitslagers in ein Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme. Dazu wurde es mit Stacheldraht umzäunt und erhielt vier Wachtürme. Am 1. November wurde es mit über 2000 Insassen aus Neuengamme belegt. Diese trafen auf dem Bahnhof Achtrup in Güterwaggons ein. Die meisten Häftlinge waren nach der KZ-Systematik – mit Ausnahme der Kapos – als „Politische“ klassifiziert und stammten aus ganz Europa. Sie waren als Widerstandskämpfer, Geiseln oder Zwangsarbeiter verhaftet worden. Die größte Gruppe stammte aus den Niederlanden; viele kamen aus dem Dorf Putten. Dort waren mehr als 600 niederländische Männer im Alter ab 17 Jahren aufwärts im Rahmen einer Strafaktion im Namen des deutschen Wehrmachtsbefehlshabers am 1. Oktober 1944 in Putten festgenommen worden. Der „Fall Putten“ galt als Vergeltungsaktion, nachdem Widerstandskämpfer in der Nähe des Dorfes einen Anschlag auf einen Geländewagen der Wehrmacht durchgeführt hatten. Dabei wurden ein Fahrzeuginsasse und ein Widerstandskämpfer getötet.
Am 2. Dezember 1944 wurden die Festgenommenen in das Durchgangslager Amersfoort und von dort in das KZ Neuengamme gebracht. Von den 588 sind nur 48 zurückgekehrt, die übrigen sind im KZ Neuengamme oder in anderen Konzentrationslagern umgekommen, so auch in Ladelund, wo schon bald die ersten Häftlinge an den unmenschlichen Bedingungen starben.
Ursprünglich war Ladelund als Reichsarbeitsdienstlager für 200 bis 250 Männer angelegt worden. Nach der Umwandlung in ein KZ-Außenlager hausten hier über 2000 Häftlinge in 50 Meter langen und acht bis zehn Meter breiten ungeheizten Baracken. In einer Barackenstube von knapp 40 m² Größe wurden 80–120 Häftlinge eingepfercht. Einzig der „Stubenälteste“ hatte ein eigenes Bett; die „Stubendienste“ teilten sich ein Bett. Alle anderen Häftlinge schliefen auf dem Fußboden oder auf groben Holzgestellen dicht an dicht, ohne Strohsäcke, ohne Matratzen, lediglich auf ein wenig ausgestreutem Stroh. Die sanitären Anlagen waren im Zuge der Umwandlung in ein KZ-Außenlager nicht ausgebaut worden und stammten noch aus dem alten Arbeitslager. Sie reichten, wie die Küche auch, für höchstens 250 Menschen aus. Die hygienischen Umstände im Lager waren katastrophal; Ungeziefer und Krankheiten verbreiteten sich. Trotz der widrigen Wetterbedingungen im November und Dezember 1944 waren die Baracken nicht beheizt. Dazu kam die schwere Arbeit, die viele Häftlinge vor allem an Panzergräben leisten mussten. Ein Panzergraben war vier bis fünf Meter breit und drei bis fünf Meter tief. Unterernährt, den Schlägen von Kapos ausgeliefert, arbeiteten Häftlinge oft elf bis zwölf Stunden täglich im eiskalten Wasser.
Waren die Häftlinge bereits unterernährt und geschwächt in Ladelund eingetroffen, sahen sie sich nun Ernährungssätzen ausgesetzt, die schon in ihrer offiziellen Version Hungerrationen waren. In Ladelund erhielten sie nicht einmal diese, da der Kommandant Lebensmittel unterschlug. Schon bald war die Todesrate so hoch, dass das Außenlager in Neuengamme als „Todeslager“ galt.
Am 16. Dezember 1944 war der „Friesenwall“ durch die veränderte militärische Lage vollends sinnlos geworden. Das Lager in Ladelund wurde aufgelöst und die überlebenden Häftlinge wurden nach Neuengamme zurückgebracht.
=== Lagerorganisation ===
==== Kommandantur ====
Kommandant des KZ-Außenlagers Ladelund war SS-Untersturmführer Hans Hermann Griem. Er unterschlug Lebensmittel, hatte Vergnügen an sadistischen Quälereien, erschoss persönlich mehrere Häftlinge und war häufig angetrunken. Nach der Auflösung der Lager war er bis März 1945 Kommandant im Emslandlager Dalum. Für seine Taten wurde Griem nie verurteilt.Lager- und Verwaltungsführer war der SS-Oberscharführer Friedrich Otto Dröge. Für die Logistik des Lagers zeichnete ein SS-Unterscharführer Georges als „Rapport- und Blockführer“ verantwortlich. Er war damit unmittelbar für die Lebensbedingungen, die Versorgung und die Unterbringung verantwortlich.
==== Wachpersonal ====
Die Wachmannschaft eines Lagers bestand oft aus SS-Totenkopfverbänden, die durch ältere, nicht mehr felddienstfähige Marinesoldaten verstärkt wurden. Ladelund war eines von rund 80 Außenkommandos des KZ Neuengamme und eines von über 340 Lagern im gesamten Deutschen Reich. Die SS-Totenkopfverbände, die Wachmannschaften in den Lagern stellten, waren zur Bewachung all dieser Lager längst nicht mehr ausreichend. Dies führte in Ladelund dazu, dass nur der Kommandant und wenige Unterscharführer zur SS gehörten, während die Wachmannschaften aus Soldaten der Marine bestanden. Vermutlich stellte diese hierfür zwei Kompanien (rund 200 Mann) zur Verfügung, welche aus älteren Soldaten bestanden. Hitler hatte ihren Einsatz 1944 persönlich befohlen. Für ihren Einsatz in den Lagern wurden sie notdürftig ausgebildet, unter anderem mit Zeichnungen aus einem Bilderbuch für KZ-Wachmannschaften. Diese Soldaten wurden im Dorf Ladelund untergebracht.
==== Kapos ====
Als Blockälteste und Vorarbeiter waren kriminelle KZ-Häftlinge, die Kapos, eingesetzt, welche die Häftlinge quälten. Sie waren in der Regel verurteilte Gewaltverbrecher, die aus Zuchthäusern und Gefängnissen in den KZ-Dienst geholt worden waren, da man ihnen eine hohe Gewaltbereitschaft zutraute. Viele der als Kapos eingesetzten Häftlinge waren schon als Kapos im Lager Husum-Schwesing eingesetzt, so unter anderem Wilhelm Schneider. Er wurde 1911 in Dortmund geboren, hatte viele Vorstrafen und saß seit 1939 in „Vorbeugungshaft“. Im September 1944 wurde er Kapo in Husum-Schwesing und ab November 1944 aufsichtsführender „Arbeitseinsatz-Kapo“ in Ladelund. Wilhelm Demmer, 1904 in Moers geboren, wurde nach 1922 mehrfach straffällig. Er war seit März 1944 im KZ Neuengamme und wurde danach ebenfalls Kapo in Husum-Schwesing. Ab November war auch er Kapo in Ladelund.
Ihre Aufgaben bestanden darin, die Häftlinge zu bewachen, einzuschüchtern, zur Arbeit anzutreiben und zu bestrafen.
Den als reine Aufsichtspersonen tätigen Kapos, die selbst nicht arbeiteten, waren Vorarbeiter zugeordnet. Die relativ großen Privilegien korrumpierten viele der zu Kapos Ernannten. Teilweise suchte die SS von vornherein solche Häftlinge aus, die sich ihre Privilegien durch besondere Brutalität zu verdienen bereit waren und sich schon im Lager Husum-Schwesing „bewährt“ hatten.
=== Reaktion der Bevölkerung ===
In Ladelund und Umgebung wurden in den Kriegsjahren Zwangsarbeiter vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt. Die Errichtung des KZ-Außenlagers konfrontierte das Dorf mit der ganzen Wirklichkeit nationalsozialistischer Gewaltverbrechen.
Viele sahen die Häftlinge auf dem Weg zur Arbeit und hörten die Schreie der Geprügelten. Die Wachmannschaften waren in Häusern des Dorfes einquartiert. Ein Ladelunder Bauer musste die Leichen mit seinem Fuhrwerk zum Friedhof bringen. Täglich wurden beim Standesamt Sterbeurkunden aufgesetzt. Manche Ladelunder glaubten, dass im KZ-Außenlager gerechte Strafen verbüßt würden; es gab jedoch auch einige Versuche zu helfen.
=== Grabstätte ===
Die Opfer des Konzentrationslagers Ladelund wurden am Rande des Dorffriedhofs in neun Gräbern beigesetzt. Aber anders als allgemein üblich wurden die KZ-Toten von dem damaligen Gemeindepastor Johannes Meyer (der selbst lange Mitglied der NSDAP und Deutscher Christ war und es ablehnte, an der Verfolgung der Täter von Ladelund mitzuwirken) so gut, wie es denn möglich war, nach christlicher Tradition auf kirchlichem Land begraben. Ihre Namen wurden in den Kirchenbüchern der Kirchengemeinde St. Petri Ladelund und an den Gräbern verzeichnet. Pastor Meyer berichtete in der Kirchenchronik ausführlich über „Das Konzentrationslager“ und rechtfertigte die Haltung der Gemeinde. Die Aufzeichnungen dienten zugleich seiner Entlastung. Aufgrund seines frühen Bekenntnisses zum Nationalsozialismus musste er die Amtsenthebung durch die britische Besatzungsmacht fürchten. 1948 erreichte er den Abschluss seines Entnazifizierungsverfahrens. Nach Kriegsende suchte Pastor Meyer Kontakt zu trauernden Angehörigen. Die Grabanlage wurde würdevoll hergerichtet und bereits ab 1950 zum Ausgangs- und Mittelpunkt des Gedenkens und internationaler Begegnungen.
== Nach 1945 ==
Das Lagergelände bei Ladelund diente 1945/46 als Lazarett zur Nachbehandlung von amputierten Soldaten. Von 1946 bis 1959 wurden hier bis zu 200 Flüchtlinge und Vertriebene untergebracht. Danach wurden die Baracken von der zuständigen Kreisverwaltung nach und nach verkauft und das Grundstück wieder an den Pächter übergeben. 1970 wurde die letzte verbliebene Baracke abgerissen, nachdem Land, Kreis und Gemeinde den Eigentümer mit 5500 DM entschädigt hatten.
=== Juristische Aufarbeitung ===
Ab 1945 begann die britische Militärjustiz mit den Ermittlungen im Fall KZ Ladelund. Dem Kommandanten Griem, anderen SS-Angehörigen und den Kapos wurde ab 1947 der Prozess gemacht, in dem sie zu hohen Strafen verurteilt wurden. Friedrich Otto Dröge und SS-Unterscharführer Georges waren nach dem Krieg nicht mehr auffindbar. Kommandant Griem gelang es, kurz vor Prozessbeginn zu entkommen. Erst 1963 nahm die Staatsanwaltschaft Flensburg die Ermittlungen gegen Griem wieder auf, kam in ihren Ermittlungen jedoch nicht recht voran, bis 1965 der Aufenthaltsort von Griem ermittelt werden konnte. Er hatte sich in Hamburg-Bergedorf niedergelassen, woraufhin das Verfahren 1966 an die Staatsanwaltschaft Hamburg abgegeben wurde. Sie begann mit systematischen Untersuchungen und strebte einen Prozess gegen Griem an, am 16. Januar 1969 eröffnete das Landgericht Hamburg die gerichtliche Voruntersuchung gegen Griem. Kurz vor Beginn des eigentlichen Prozesses starb Griem am 25. Juni 1971.
=== Gedenkstätte ===
Die KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund ist die älteste KZ-Gedenkstätte Schleswig-Holsteins und eine der ältesten in Deutschland. Sie begann mit der Aufarbeitung der Geschichte bereits 1950 auf Initiative des dortigen Gemeindepastors, der die Register über die auf dem kirchlichen Friedhof 1944 bestatteten Häftlinge geführt hatte, offiziell und mit Beteiligung von Betroffenen und Angehörigen der Opfer die Gedenkarbeit. In den 1980er Jahren gestaltete der Flensburger Gymnasiallehrer Jörn-Peter Leppien eine Ausstellung, die bis 2017 zu sehen war. Seit 1995 gibt es eine hauptamtliche Leitung. Die Gedenkstätte befindet sich in der Trägerschaft der örtlichen evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde und wird seither auch vom Land Schleswig-Holstein, von der Nordkirche und vom Kirchenkreis Nordfriesland gefördert.
In Sichtweite der Gräber wurde 1989 ein Dokumentenhaus errichtet, das eine historische Dauerausstellung über die Geschichte des KZ-Außenlagers mit ihrer Vor- und Nachgeschichte sowie einen kleinen Medienraum, der auch als Seminarraum genutzt werden kann, beherbergt. Im Sommer 2006 konnte die Erweiterung des Gebäudes eingeweiht werden, so dass die Gedenk- und Begegnungsstätte der wachsenden Zahl von Besuchern gerecht werden kann.
Am Rande des ehemaligen Lagergeländes, dessen letzte Baracke 1970 abgerissen wurde, erinnert ein Gedenkstein an die Ereignisse von 1944. Dieser trägt die Inschrift:
Jugendliche des Theodor-Schäfer-Berufsbildungswerkes Husum errichteten im Mai/Juni 2002 im Rahmen eines gemeinsamen Projektes mit der Gedenkstätte Ladelund eine Stahlskulptur, die an das Schicksal der KZ-Häftlinge erinnert.
Am Volkstrauertag 2010 wurde am ehemaligen Panzergraben die Stahl-Stele „Das Mal“ von Ansgar Nierhoff († 2. August 2010) als „Mahnmal, Landmarke und Sühnezeichen“ enthüllt.
Die Ausstellung, die seit 1990 im Dokumentenhaus beheimatet ist, wurde auf Wunsch des amtierenden Leiters der Gedenkstätte nach 25 Jahren modernisiert. Mit Hilfe von Fördergeldern der Bundesregierung, dem Land Schleswig-Holstein und der Nordkirche kommen seit 2017 moderne Erzähltechniken zum Einsatz. Insgesamt kostete die Überarbeitung 500.000 Euro. In der im November 2017 eröffneten Ausstellung informieren Schautafeln, Hör- und Filmstationen sowie Biografien auf Deutsch, Dänisch, Englisch und Niederländisch über das Schicksal der Häftlinge.
== Literatur ==
Raimo Alsen: Der Putten-Ladelund loop. Ein Staffellauf zum Gedenken an die KZ-Opfer. In: Grenzfriedenshefte, 2/2015, S. 149–160 (online).
Raimo Alsen, Angelika Königseder (Hrsg.): Das KZ im Dorf. Geschichte und Nachgeschichte des Außenlagers Ladelund. Metropol Verlag, 2017, ISBN 978-3-86331-374-6, Inhaltsverzeichnis (PDF; 1,4 MB)
Klaus Bästlein: Der Haupttäter wurde verschont. Zur Strafverfolgung der in den nordfriesischen Konzentrationslagern verübten NS-Gewaltverbrechen. In: Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein e. V. (Hrsg.): Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte. Heft 54, Kiel 2013, S. 56–113.
Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten (Hrsg.): Gedenkstätten und Erinnerungsorte zur Geschichte des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein. Wegweiser und Bildungsangebote, Redaktion: Harald Schmid, Husum Druck und Verlagsgesellschaft, Rendsburg 2021, Online-Fassung: https://gedenkstaetten-sh.de/file/gedenkstaetten-wegweiser-schleswig-holstein_online-fassung.pdf
Pieter Dekker, Gert van Dompseler: Van naam tot nummer. Slachtoffers van de Puttense razzia. Uitgeverij Louise, Leeuwarden 2014.
Detlef Garbe: Die nordfriesischen Außenkommandos des KZ Neuengamme. Geschichte und Gedenken. In: Grenzfriedenshefte, 3/2008, S. 257–268 (online).
Christine Gundermann: Die versöhnten Bürger. Der Zweite Weltkrieg in deutsch-niederländischen Begegnungen 1945–2000. Waxmann, Münster 2014.
Uwe Haupenthal: „Das Mal“. Ansgar Nierhoffs Stele am ehemaligen Panzerabwehrgraben in der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund. In: Grenzfriedenshefte, 2011, Heft 2, S. 117–126 (online).
Madelon de Keizer: Razzia in Putten. Verbrechen der Wehrmacht in einem niederländischen Dorf. Dittrich, Köln 2001, ISBN 3-920862-35-X.
Willi Kramer: Die Öffnung des Panzerabwehrgrabens bei Ladelund. Was hinter den Dingen steht. In: Grenzfriedenshefte, 2011, Heft 3, S. 167–174 (online).
Jörn-Peter Leppien: „Das waren keine Menschen mehr …“, aus der Chronik der Kirchengemeinde. Pastor Johannes Meyer über das Konzentrationslager Ladelund 1944. Eine quellenkritische Studie. In: Grenzfriedenshefte. Husum 1983, 3.
Jörn-Peter Leppien, Klaus Bästlein, Johannes Tuchel (Hrsg.): Konzentrationslager Ladelund 1944. Wissenschaftliche Dauerausstellung in der KZ-Gedenkstätte Ladelund Schleswig-Holstein. 2. Auflage. Ev.-luth. Kirchengemeinde Ladelund, 1995.
Jörn-Peter Leppien: Erinnern für Gegenwart und Zukunft. Die historische Dokumentation in der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund. In: Grenzfriedenshefte. 2006,4, S. 277–294 (online).
Jörn-Peter Leppien: Sklavenarbeit für den „Endkampf“. Die Grenzstellung 1944/45 und das KZ Ladelund. In: Grenzfriedenshefte, 3/2010, S. 203–236 (online).
Jörn-Peter Leppien: Von der Nummer zum Namen. Die KZ-Toten in Ladelund 1944. In: Grenzfriedenshefte, Jahrbuch 2014, S. 79–114 (online).
Karin Penno (Hrsg.): Minderheiten in der NS-Zeit. Vom getrennten Gestern zum verbindenden Heute. Ladelund 2000.
Jannes Priem, Willem Torsius: Vergeben nicht vergessen. Beiträge zum 50. Jahrestag der Befreiung in Ladelund am 4. Mai 1995. Schriftenreihe der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund. H 1. Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Petri, Ladelund 1995 (Deutsch u. Niederländ.).
Harald Richter: Wir haben das Selbstverständliche getan – Ein Außenlager des KZ Neuengamme bei uns in Ladelund, Gräber auf dem Friedhof und Erfahrungen, für die wir dankbar sind. In: Detlef Garbe (Hrsg.): Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS Terrors in der Bundesrepublik. Lamuv, Bornheim-Merten 1983, ISBN 3-921521-84-X, S. 121–143.
Harald Richter: Hinabgestiegen in das Reich des Todes. Das Konzentrationslager, Pastor Meyer und kirchliche Gedenkstättenarbeit in Ladelund. Luth. Verlagshaus, Hannover 2014, ISBN 978-3-7859-1183-9.
Harald Schmid: Ein Wendepunkt in der regionalen Erinnerungskultur: Die erste KZ-Gedenkstätte Schleswig-Holsteins in Ladelund 1950/90. In: Schleswig-Holstein. Die Kulturzeitschrift für den Norden. Themenheft „Wendepunkte in der Schleswig-Holsteinischen Geschichte“, 2018, S. 72–77.
== Weblinks ==
KZ-Gedenkstätte Ladelund
Über die Ereignisse, die sich in Putten am 1. und 2. Oktober 1944 abgespielt haben
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/KZ-Au%C3%9Fenlager_Ladelund
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Bahnstrecke Landau–Rohrbach
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= Bahnstrecke Landau–Rohrbach =
Die Bahnstrecke Landau–Rohrbach ist eine 92 Kilometer lange Hauptbahn, die unter anderem über Annweiler am Trifels, Rodalben, Zweibrücken und Blieskastel verläuft. Sie entstand im Zeitraum von 1857 bis 1895 teilweise aus bestehenden Strecken. Der bedeutendste Abschnitt Landau–Zweibrücken ging am 25. November 1875 vollständig in Betrieb. Teilabschnitte der Strecke werden wahlweise als Südpfalzbahn (Landau–Zweibrücken), Queichtalbahn (Landau–Pirmasens Nord) oder Schwarzbachtalbahn (Pirmasens Nord–Rohrbach) bezeichnet. In ihren ersten Jahrzehnten war sie im Güterverkehr Bestandteil einer wichtigen Ost-West-Magistrale von der Saargegend nach Süddeutschland und besaß zusätzlich Bedeutung im Personenfernverkehr. Seit Ende der 1980er Jahre findet ausschließlich Nahverkehr statt. Die Strecke wurde ab 1994 im Kursbuch der Deutschen Bahn (DB) in zwei getrennten Kursbuchtabellen (Saarbrücken–Pirmasens und Pirmasens–Landau) aufgeführt. Gleichzeitig entfiel weitgehend der durchgehende Verkehr zwischen Landau und Saarbrücken zugunsten von Direktverbindungen nach Pirmasens. Der Güterverkehr kam 2002 zum Erliegen.
== Geschichte ==
=== Übersicht ===
Historisch betrachtet ist die Magistrale Landau–Rohrbach ein Konglomerat mehrerer Strecken. Dies hängt damit zusammen, dass die Erweiterung des pfälzischen Streckennetzes nach Eröffnung der Ludwigsbahn Ludwigshafen–Bexbach sich an letzterer orientierte. Die bedeutendste ist die 1874 und 1875 eröffnete Südpfalzstrecke Landau–Zweibrücken. Die restlichen, teilweise zuvor eröffneten Abschnitte entstanden hauptsächlich aufgrund lokaler Interessen als Teilstück anderer Strecken. Erst seit 1895 besteht die Strecke von Landau bis Rohrbach in ihrer heutigen Form. Errichtet wurden alle Teilstrecken von der Pfälzischen Ludwigsbahn-Gesellschaft, die ab 1. Januar 1870 Bestandteil der Pfälzischen Eisenbahnen war.
=== Entstehung der Abschnitte Zweibrücken–Einöd und Bierbach–Würzbach ===
Der älteste Teil ist der Abschnitt Einöd–Zweibrücken, der als Teil der Bahnstrecke Homburg–Zweibrücken entstand. Bereits 1844 bildete sich in Zweibrücken ein Komitee, das eine Zweigbahn von Homburg aus anstrebte. Zunächst stieß dieses Vorhaben jedoch in beiden Städten auf Widerstand. In Homburg wurden Befürchtungen laut, dass Handel und Gewerbe erheblichen Schaden hinnehmen müssten. In Zweibrücken beruhten die Vorbehalte hingegen darauf, dass die Stadt fortan erheblicher Rußbelästigung ausgesetzt wäre. Es mangelte auch an Fachkräften für eine Projektierung.Erst als die Pfälzische Ludwigsbahn von Ludwigshafen nach Bexbach 1849 auf voller Länge fertig gestellt war, konnte sich ihr Erbauer, der Eisenbahningenieur Paul Denis, diesem Projekt zuwenden. 1852 begann er mit den Planungen und der Kalkulation. Er kam zu dem Ergebnis, dass eine Strecke von Homburg über Schwarzenacker und Einöd nach Zweibrücken rentabel sei. Nachdem die Bauarbeiten am 1. Juni 1856 begonnen hatten, wurde die Strecke schon am 7. Mai 1857 eröffnet.Bereits im Zuge der Planungen der Ludwigsbahn gab es Erwägungen, die Stadt St. Ingbert wegen ihrer Kohlevorkommen und des dortigen Eisenwerks an das Eisenbahnnetz anzuschließen. Jedoch wurde stattdessen auf preußischen Druck eine Variante nach Bexbach vorgesehen, um später von dort aus ins Sulzbachtal einschwenken zu können. Zunächst war eine Bahnlinie auf kürzestem Weg von St. Ingbert nach Homburg geplant. Für eine solche hatte Denis bereits 1856 plädiert.Die Gemeinden entlang der Blies und des Würzbaches plädierten gegen den Widerstand der beiden Städte vehement für eine Streckenführung über ihr Gebiet. Eine Berechnung der Direktion der Ludwigsbahn kam zu dem Ergebnis, dass diese lediglich unwesentlich teurer sei als eine direkte Strecke der Relation Homburg–St. Ingbert, zumal die Grundbesitzer aus St. Ingbert hohe Preise für Abtretungen forderten. Dennoch sprach die befürchtete Verteuerung der Kohleförderung dieser Stadt gegen den geplanten Umweg. Die Ludwigsbahn-Gesellschaft gewichtete die Interessen der Orte entlang der beiden genannten Flüsse schließlich höher als die der St. Ingberter Grube. Sie stellte jedoch die Bedingung, dass die Erzeugnisse aus dieser Grube nicht teurer sein dürften als bei einer Direktstrecke. Die geplante Strecke sollte im Bahnhof Schwarzenacker von der Stichbahn nach Zweibrücken abzweigen und anschließend über Bierbach, Lautzkirchen, Niederwürzbach und Hassel nach St. Ingbert führen. Das Teilstück Schwarzenacker–Hassel wurde am 28. November 1866 eröffnet, die Durchbindung bis St. Ingbert durch den Hasseler Tunnel folgte am 1. Juni des Folgejahres.
=== Entstehung des Abschnitts Landau–Zweibrücken ===
Erste Bestrebungen für einen entsprechenden Bahnbau gehen bis 1837 zurück. Im Zuge der Aktienzeichnung der Pfälzischen Ludwigsbahn im Folgejahr gab es einen Vorschlag, die geplante Bahnstrecke über Zweibrücken und von dort aus entlang des Schwarzbaches über Rodalben, Annweiler und Langenkandel an den Rhein verlaufen zu lassen, der sich jedoch nicht durchsetzte. Dennoch setzten sich vor allem die Orte entlang der Queich für einen Bahnanschluss ein. Die pfälzische Eisenbahnverwaltung lehnte ihn jedoch zunächst ab, da er teuer sei und eine Konkurrenz zur Ludwigsbahn darstelle. Trotzdem konkretisierten sich ab 1863 entsprechende Pläne. Vor dem Hintergrund des Standpunktes der Bahnverwaltung zog ein lokales Komitee zunächst als Ersatzlösung die Einrichtung einer Zweigbahn von Landau nach Annweiler in Erwägung. Dann jedoch änderte es auf Betreiben der Stadt Landau seine Konzeption und setzte sich ebenfalls für den Bau einer Linie Landau–Pirmasens–Zweibrücken ein. Diesmal waren seine Bestrebungen erfolgreich: Die Genehmigung, einen geeigneten Entwurf unter Übernahme der Kosten anzufertigen, wurde erteilt. Die hierzu erforderliche Konzession wurde am 1. April 1865 erteilt.Über den Verlauf der Trasse zwischen Pirmasens und Zweibrücken herrschte Uneinigkeit, die sich in zwei unterschiedlichen Entwürfen niederschlug. Der erste Entwurf plädierte für eine Trasse über Hengsberg, während der zweite eine Führung über Walshausen und entlang der Trualb unter Einschluss von Hornbach und Ixheim bevorzugte. Genauere Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass eine direkte Linienführung der Südpfalzbahn über Pirmasens aufgrund der schwierigen topographischen Situation in beiden Fällen große technische Probleme mit sich bringen würde. Eine neue Konzeption schlug einen Verlauf einige Kilometer nördlich der Stadt vor. Von Osten kommend führte er durch das Tal von Rodalb und Schwarzbach. Diese Linienführung hatte den Vorteil, dass nur eine geringfügige Steigung zu überwinden war und mit dem Neuhof-Tunnel bei Rodalben lediglich ein Tunnel gebaut werden musste.Zunächst wurde die Teilstrecke Landau–Annweiler fertiggestellt, die Inbetriebnahme fand am 12. September 1874 statt. Dabei wurden Teile des im ausgehenden 17. Jahrhundert errichteten Albersweilerer Kanals überbaut. Am 25. November des Folgejahres wurde die Strecke bis nach Zweibrücken verlängert. Gleichzeitig wurde vom Bahnhof Biebermühle aus, der im Mündungsbereich der Rodalb in den Schwarzbach entstand, eine Stichstrecke nach Pirmasens eröffnet, sodass eine Anbindung der Stadt an das neu entstandene Eisenbahnnetz gesichert war. Der Verwaltungsrat der Pfälzischen Eisenbahnen erachtete den seitherigen Bahnhof von Zweibrücken als Durchgangsstation für ungeeignet; es entstand stattdessen ein neuer weiter südlich. Obwohl die Strecke zunächst eingleisig war, wurde sie auf gesamter Länge zweigleisig projektiert. Unterbau, Kunstbauten und Überfahrten wurden entsprechend hergerichtet.
=== Entwicklung zur wichtigen Ost–West–Verbindung (1875–1890) ===
Der nördliche Ausgangspunkt der projektierten Bliestalbahn sollte anfangs im Bereich um Lautzkirchen liegen. Der zuständige Ingenieur, der aus Zweibrücken kam, sorgte jedoch dafür, dass die Strecke in seiner Heimatstadt begann und bis Einöd parallel zur 1857 eröffneten Bahnstrecke Homburg–Zweibrücken folgen sollte. Dies hatte mehrere Gründe: Die Orte im Bliestal gehörten größtenteils zum Bezirksamt Zweibrücken. Darüber hinaus sollte das benachbarte Homburg nicht zu viel Macht als Eisenbahnknotenpunkt erhalten. Des Weiteren sollte die Strecke ins Bliestal konzeptionell als Fortsetzung der Strecke Landau–Zweibrücken dienen. Bereits am 15. Oktober 1877 wurde der Streckenabschnitt Zweibrücken–Bierbach eröffnet, um Züge der Relation Zweibrücken–St. Ingbert zu ermöglichen.Nachdem die 1870 eröffnete Bruhrainbahn Bruchsal–Rheinsheim im Mai 1877 nach Germersheim durchgebunden worden war, entwickelte sich die Verbindung in Kombination mit der Strecke von Homburg nach Zweibrücken zu einer der wichtigsten Güterverkehrsstrecken in Deutschland. Sie diente vor allem dem Transport von Kohle und Eisen aus der „Saargegend“ zu den Industriezentren am Oberrhein und nach Süddeutschland. Dennoch mussten die aus Richtung Bexbach und Saarbrücken kommenden Kohlezüge im Bahnhof Homburg „Kopf machen“, sofern sie über die Südpfalzstrecke fuhren. Am 15. Oktober 1879 folgte die Durchbindung der Würzbachbahn nach Saarbrücken. Dadurch entfiel der Umweg über Neunkirchen und Bexbach der aus Saarbrücken kommenden Züge, zumal diese zuvor die Richtung in Homburg wechseln mussten. Folglich wurde der Transport von Kohle billiger und kürzer. Zwei Jahre später war es ebenso möglich, von Bexbach aus ohne Richtungswechsel über Zweibrücken und Landau zu fahren.Die zunehmende Verkehrsverdichtung machte es notwendig, die Kapazitäten der Strecke weiter auszubauen, sodass ab 1888 die Strecke von Landau bis Zweibrücken durchgängig zweigleisig befahrbar war. Im selben Jahr begann die Errichtung eines zweiten Gleises im Abschnitt Zweibrücken–Bierbach zusammen mit der sich anschließenden Bliestalbahn. Diese Maßnahme war zwei Jahre später abgeschlossen. Damit einhergehend sowie aufgrund einer neuen Betriebsordnung für bayerische Hauptbahnen erhielten die Bahnhöfe neue Signale für die Aus- und Durchfahrt.
=== Entwicklung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (1890–1918) ===
Der seit 1867 zwischen Hassel und St. Ingbert bestehende Hasseler Tunnel wies zunehmend bauliche Mängel auf, sodass Züge ihn aus Sicherheitsgründen nur mit geringer Geschwindigkeit passieren konnten. Außerdem war das Tunnelprofil mit einer Breite von 3,08 Metern und einer lichten Höhe von 4,44 Metern sehr klein, was den Kapazitäten weitere Grenzen setzte. Vor allem das Militär kritisierte diesen Zustand, da dadurch im Kriegsfall der schnelle Transport von Truppen und Material Richtung Frankreich nicht ausreichend gewährleistet war. Insgesamt drei Optionen standen zur Wahl: Bei der ersten sollte der Bestandstunnel neu ausgemauert werden. Die zweite sah einen neuen Tunnel vor und die dritte eine komplett neue Trasse, die über Rohrbach ohne einen Tunnel ausgekommen wäre. Aufgrund der strategischen Bedeutung der Strecke fiel auf Druck der Reichsregierung die Wahl auf die letztgenannte Variante. Da die Pfälzischen Eisenbahnen außerstande waren, die Maßnahme allein zu finanzieren, bezuschusste das Deutsche Reich das Projekt. Zwischen Würzbach und St. Ingbert entstand eine insgesamt 5,7 Kilometer längere Umgehungsstrecke über Rohrbach, die am 7. September 1895 in Betrieb ging. Dies machte zudem die Verlegung des Bahnhofs Hassel erforderlich. Die Direktverbindung von Würzbach–St. Ingbert wurde stillgelegt und abgebaut, alle Züge fuhren ab diesem Zeitpunkt über die neue Verbindungsstrecke zwischen Hassel und Rohrbach.
Am 1. Januar 1904 wurde ebenfalls aus strategischen Gründen zusammen mit der vier Monate später eröffneten Glantalbahn eine Direktverbindung von Homburg nach Rohrbach in Betrieb genommen, die über Kirkel und Limbach führte. Dies hatte zur Folge, dass der Verkehr der Relation Homburg–Bierbach–St. Ingbert seine Bedeutung verlor. Während dieser Zeit wurden Streckenfernsprecher eingerichtet, die von Germersheim über Landau und Zweibrücken bis nach Saarbrücken reichten. Am 1. Januar 1909 ging die Magistrale zusammen mit den übrigen Bahnstrecken innerhalb der Pfalz in das Eigentum der Bayerischen Staatseisenbahnen über.
In Zusammenhang mit der 1911 eröffneten nach Bundenthal-Rumbach führenden Wieslauterbahn entstand für diese neue Verbindung zwischen den Bahnhöfen Hinterweidenthal-Kaltenbach und Hauenstein der neue Abzweigbahnhof Kaltenbach Ost, der bereits wenige Jahre später in Hinterweidenthal umbenannt wurde. Der bisherige Bahnhof Hinterweidenthal-Kaltenbach erhielt die Bezeichnung Kaltenbach (Pfalz). Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 fuhren zwischen dem 9. und 16. August pro Tag 50 von Germersheim kommende Militärzüge zwischen Landau und Zweibrücken, 30 von ihnen fuhren über die Bliestalbahn nach Saargemünd, die restlichen über Rohrbach bis nach Saarbrücken.
=== Zwischenkriegszeit (1918–1939) ===
Nachdem Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte, wurde der Streckenabschnitt westlich von Zweibrücken mit Wirkung des 10. März 1920 dem neu geschaffenen Saargebiet zugeteilt, das auf Initiative der Siegermächte für die Dauer von 15 Jahren der Kontrolle durch den Völkerbund unterstand und während dieser Zeit französisches Zollgebiet war. Folglich war für ihn die Saareisenbahn zuständig, die aus der preußischen Eisenbahndirektion Saarbrücken hervorgegangen war. Entsprechend fanden in den Bahnhöfen Einöd und Zweibrücken Zollkontrollen statt. Der östliche Abschnitt ging im selben Jahr in das Eigentum der neu gegründeten Deutschen Reichsbahn über, die ihn zwei Jahre später der Reichsbahndirektion Ludwigshafen unterstellte.
Mit der Rückgliederung des Saargebiets 1935 war die Reichsbahn für die Gesamtstrecke zuständig, wodurch die Zollkontrollen entfielen, die bisherige Saareisenbahn wurde in „Reichsbahndirektion Saarbrücken“ umbenannt. Im Zuge der Auflösung ihres Ludwigshafener Pendants gelangte der Abschnitt Godramstein–Zweibrücken am 1. April 1937 zur Direktion in Saarbrücken, der zuvor bereits das Teilstück Einöd–Rohrbach unterstand. Der Abschnitt Landau Hauptbahnhof – Landau West wurde zeitgleich in die Reichsbahndirektion Mainz eingegliedert.Die Nationalsozialisten ließen den Knotenbahnhof Biebermühle zur Vorbereitung auf den Westfeldzug in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre grundlegend umbauen. Zum 1. Juli 1938 erhielt er den neuen Namen „Pirmasens Nord“, womit seiner Bedeutung für die Schuhstadt Rechnung getragen wurde, obwohl er sich nicht auf deren Gemarkung befand. Daneben verbesserten technische Neuerungen die Leistungsfähigkeit der Strecke. Zur selben Zeit entstand nördlich des Bahnhofs Pirmasens Nord eine Verbindungskurve, die im Zweiten Weltkrieg direkte Zugläufe der Relation Zweibrücken–Kaiserslautern über die Biebermühlbahn ermöglichen sollte.
=== Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit (1939–1960) ===
Im Zweiten Weltkrieg war die Bahnlinie aufgrund ihrer strategischen Bedeutung mehreren Angriffen ausgesetzt, die sich ab 1944 verstärkten. Deshalb wurde der Verkehr teilweise eingeschränkt. Zunächst war am 25. April Landau betroffen, am 28. Juni war Zweibrücken das Ziel und am 21. Juli erneut Landau. Im September folgten Albersweiler und Godramstein und am 29. Dezember Annweiler. Im selben Monat sowie vom 3. bis 5. Januar des Folgejahres war abermals Landau Angriffsziel. Gegen Kriegsende befuhren ab 4. März 1945 Nachschubzüge der US Army die Strecke. Die Kampfhandlungen in den Folgetagen führten dazu, dass es ab dem 24. März zwischen Landau und Zweibrücken keinen Zugverkehr gab. Noch 1946 war der Streckenabschnitt Hinterweidenthal–Pirmasens Nord gesperrt.In der Folge der deutschen Kriegsniederlage demontierte die französische Besatzungsmacht als Teil deutscher Reparationsleistungen zwischen 1945 und 1948 das zweite Gleis der Bahnstrecke. Zudem wurde der westliche Abschnitt abermals dem erneut abgetrennten, nun Saarland genannten Gebiet zugeteilt. Für ihn waren ab diesem Zeitpunkt die Saarländischen Eisenbahnen (SEB) beziehungsweise ab 1951 die Eisenbahnen des Saarlandes (EdS) zuständig; erneut fanden in Einöd Zollkontrollen statt. Der restliche Teil der Bahnstrecke unterstand fortan der Betriebsvereinigung der Südwestdeutschen Eisenbahnen (SWDE), die 1949 in die neu gegründete Deutsche Bundesbahn (DB) überging.
Bereits seit 1945 unterstand der innerhalb des ein Jahr später neu gegründeten Bundeslandes Rheinland-Pfalz befindliche Streckenabschnitt Landau–Zweibrücken der Mainzer Direktion. Im Juni 1949 wurde der Personenverkehr wieder aufgenommen. Im Streckenabschnitt Pirmasens Nord–Zweibrücken entstanden mit Höhmühlbach, Dellfeld Ort und Stambach drei neue Haltepunkte. Zur besseren Auslastung der Magistrale Saarbrücken–Neunkirchen–Ludwigshafen wurde der Durchgangsgüterverkehr mit Wirkung vom 1. Mai 1955 gesperrt. Mit der wirtschaftlichen Rückgliederung des Saarlandes 1959 wurde die Bundesbahn Eigentümerin der gesamten Strecke, die Zollkontrollen entfielen. Vom Bund erhielt die DB finanzielle Zuwendungen, die im Rahmen des Kalten Kriegs auf den Erhalt des Streckenabschnitts Landau–Zweibrücken aus strategischen Gründen abzielten.
=== Schrittweiser Bedeutungsverlust (1960–1993) ===
Weitere Auswirkungen auf die Entwicklung der Südpfalzstrecke hatte die bereits am 24. März 1945 gesprengte Germersheimer Rheinbrücke, die erst 1967 wiederhergestellt wurde. Dies führte zu einer Konzentration der Verkehrsströme auf die Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken. Zweimal diente die Magistrale von Landau nach Rohrbach in der Folgezeit als Umleitungsstrecke, so zunächst während der schrittweisen Elektrifizierung der Strecke Mannheim–Saarbrücken von 1960 bis 1964. Vor allem im Abschnitt Kaiserslautern–Neustadt führten diese Arbeiten wegen der zahlreichen Tunnels zeitweilig zu eingleisiger Streckenführung und Geschwindigkeitsbeschränkungen, so dass die Kapazität der Strecke stark eingeschränkt war. Aus diesem Grund fand in jenem Zeitraum der Güterverkehr verstärkt über die Bahnstrecke Landau–Rohrbach statt. Nach dem Eisenbahnunfall im Heiligenberg-Tunnel am 28. Juni 1988 war die Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken für die Dauer von 56 Stunden gesperrt. Ein Teil der Züge wurde während dieser Zeit ab Rohrbach erneut über Zweibrücken und Landau umgeleitet.Um 1967 wurde die Telegrafen-Freileitung entlang der Strecke abschnittsweise durch Fernmeldekabel ersetzt.Im Zuge der schrittweisen Auflösung der Mainzer Direktion 1971 wechselte der Abschnitt Landau–Wilgartswiesen mit Wirkung zum 1. Juni in den Zuständigkeitsbereich der Karlsruher Direktion, während für die Reststrecke ab dem 1. August die Saarbrücker Behörde verantwortlich zeichnete. 1975 wurde das hundertjährige Jubiläum des Streckenabschnitts Landau–Zweibrücken gefeiert, bei dem auch Dampfzüge verkehrten. 1982 fand das 125-jährige Jubiläum der in Einöd abzweigenden Bahnstrecke Homburg–Zweibrücken statt. Bei den Feierlichkeiten verkehrte ein Triebwagen des Trans-Europ-Express im Ring Zweibrücken–Homburg–Saarbrücken–Zweibrücken. In den 1980er Jahren baute die DB mehrere Unterwegsbahnhöfe zu Haltepunkten zurück. Die Stationen Einöd (Saar) (1989), Stambach (1984), Zweibrücken-Niederauerbach (1985) und Albersweiler (1984) gab sie für den Personenverkehr auf, dafür entstand für letztere ein näher am gleichnamigen Ort liegender Haltepunkt.
Mit Einführung des Interregio gab es vor Ort Bemühungen, diesen auch hier verkehren zu lassen. Die DB veranstaltete am 16. März 1991 eine Werbefahrt zwischen Landau und Zweibrücken, obwohl sie nicht plante, die neue Zuggattung im Regelverkehr einzuführen. Dies brachte ihr Kritik ein. 1993 hegte die Bundesbahndirektion Saarbrücken Pläne, den Streckenabschnitt Annweiler–Zweibrücken stillzulegen.
=== Deutsche Bahn (seit 1994) ===
Nach der Bahnreform setzten sich die Umstrukturierungen zunächst fort. Zwar wurden die Planungen zur vollständigen Stilllegung der Strecke nicht realisiert, das Zugangebot wurde jedoch weiter reduziert. 1994 entstand der so genannte Rheinland-Pfalz-Takt, der eine Verbesserung des Zugangebotes sowie die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken innerhalb von Rheinland-Pfalz vorsah. Im selben Jahr wurde die Strecke im Kursbuch in zwei Abschnitte aufgeteilt, wobei der Abschnitt Pirmasens–Saarbrücken fortan als Kursbuchstrecke 674 („Schwarzbachtalbahn“) und der Abschnitt Pirmasens–Landau als Kursbuchstrecke 675 („Queichtalbahn“) erschien. 1996 folgte die Integration des Abschnitts Landau–Rinnthal in den Tarifbereich des Verkehrsverbundes Rhein-Neckar (VRN), im selben Jahr galt der Karlsruher Verkehrsverbund (KVV) bereits innerhalb des Streckenabschnittes Landau–Godramstein.Am 1. Juli 1997 wurde auf der Wieslauterbahn der regelmäßige Ausflugsverkehr wieder aufgenommen und der zwischenzeitlich nicht mehr bediente Abzweigbahnhof Hinterweidenthal Ost zu den Betriebszeiten der Nebenstrecke für den Personenverkehr reaktiviert. Im September 2000 wurde das 125-jährige Jubiläum der Bahnstrecke mit Dampfzugfahrten der Ulmer Eisenbahnfreunde (UEF) gefeiert, sodass die Strecke erneut in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte. Anders als 25 Jahre zuvor beschränkten sich die Feierlichkeiten jedoch auf den Abschnitt Landau–Pirmasens Nord. Im selben Jahr wurde der Abschnitt Wilgartswiesen–Zweibrücken wie die gesamte Westpfalz zunächst Teil des Westpfalz-Verkehrsverbundes (WVV), ehe dieser sechs Jahre später im Verkehrsverbund Rhein-Neckar (VRN) aufging. Seit 2005 ist der saarländische Streckenabschnitt Teil des Saarländischen Verkehrsverbundes (SaarVV).
In der Folgezeit kamen mit Landau Süd, Annweiler-Sarnstall und Hauenstein Mitte drei neue Haltepunkte hinzu, mit Stambach und Einöd wurden zwei weitere reaktiviert. Die Infrastruktur der Strecke erfuhr in den Folgejahren eine Modernisierung. So ging im April 2010 das elektronische Stellwerk Landau in Betrieb, das seither den Landauer Hauptbahnhof und den Bahnhof Godramstein von Neustadt aus fernsteuert. Zur selben Zeit wurden viele Unterwegshalte darüber hinaus mit Fahrgastinformationsanlagen ausgestattet. Im September 2017 wurde der Teilbereich „Südpfalz“ des ESTW „Südliche Pfalz“ in der regionalen Bedienzentrale Neustadt (Weinstraße) in Betrieb genommen. Seither werden hierüber die Bahnhöfe Zweibrücken Hbf, Dellfeld, Pirmasens Nord, Pirmasens Hbf, Münchweiler (Rodalb) und Hinterweidenthal ebenfalls aus Neustadt ferngesteuert. Dies war ursprünglich bereits für den 19. Dezember 2016 geplant.
== Zukunftspläne ==
Es wird immer wieder über die Einführung schneller Regionalexpress-Züge der Relation Saarbrücken–Karlsruhe diskutiert. Für die Realisierung wären nach Angaben des Zweckverbandes Schienenpersonennahverkehr Rheinland-Pfalz Süd (ZSPNV Süd) die Einrichtung einer Kreuzungsmöglichkeit in Thaleischweiler-Fröschen sowie ein weiterer Kreuzungsbahnhof notwendig.Für den Bundesverkehrswegeplan 2030 hat das Land Rheinland-Pfalz den zweigleisigen Ausbau und die Elektrifizierung der gesamten Strecke als „Ausbaukonzept West-Ost-Korridor/nördlicher Oberrhein“ angemeldet. Darüber hinaus sollen langfristig im Berufsverkehr Züge der Relation Landau–Dahn verkehren.Im Rahmen der Reaktivierung der Bahnstrecke Homburg-Zweibrücken soll der Abschnitt Zweibrücken Hbf – Einöd (Saar) elektrifiziert werden.Ab Dezember 2025 ist der Einsatz von Akkutriebwagen des Typs FLIRT Akku geplant.
== Verkehr ==
=== Personenverkehr ===
==== Zeit der Pfälzischen Ludwigsbahn-Gesellschaft ====
Da vor allem derjenige Abschnitt westlich von Zweibrücken bauhistorisch ein Konglomerat unterschiedlicher Strecken bildete, fand in den ersten Jahrzehnten kein durchgehender Nahverkehr statt. Der Personenverkehr zwischen Zweibrücken und Einöd bestand ab 1857 als Teilstück der Bahnstrecke Homburg–Zweibrücken. Zwischen Bierbach und Würzbach war der Verkehr als Bestandteil der Würzbachbahn auf die Relation Homburg–St. Ingbert ausgerichtet. Entsprechend verkehrten dort in den ersten Jahren drei Zugpaare.Als 1877 in Zusammenhang mit dem Bau der Bliestalbahn eine Verbindung zwischen Einöd und Bierbach entstanden war, verkehrten zwei Jahre später nach Fertigstellung dieser Strecke Züge von Zweibrücken über Bierbach bis nach Saargemünd. Der Personenverkehr zwischen Landau und Zweibrücken spielte anfangs lediglich eine untergeordnete Rolle. Da die Würzbachbahn 1879 eine Fortsetzung bis nach Saarbrücken erhalten hatte, verkehrte ein Jahr später erstmals ein Fernzug der Relation München–Oostende über die neu entstandene Magistrale Landau–Zweibrücken–Bierbach–St. Ingbert–Saarbrücken. Zeitgleich war auf diese Weise eine deutlich kürzere Verbindung zwischen Homburg und Saarbrücken entstanden als die seit 1852 bestehende Verbindung über Bexbach und Neunkirchen, sodass auf dem Abschnitt Bierbach–Würzbach fortan Züge von Ludwigshafen nach Saarbrücken fuhren. Der Sommerfahrplan von 1880 wies ein Schnellzugpaar der Relation Bruchsal–Saarbrücken auf, das sich mehrere Jahrzehnte lang hielt. 1897 existierten Kurswagenverbindungen nach Metz und München, die über die Bliestalbahn fuhren.
Erst nachdem die Würzbachbahn zwischen Würzbach und St. Ingbert 1895 eine neue Trasse über Rohrbach erhalten hatte, war die heutige Strecke vollendet. Dennoch gab es keinen umsteigefreien Nahverkehr von Landau bis Rohrbach. Der Fahrplan von 1897 enthielt durchgehende Nahverkehrszüge von Zweibrücken bis Germersheim, daneben verkehrten solche zusätzlich zwischen Zweibrücken und Biebermühle bis Pirmasens. Da aus strategischen Gründen 1904 eine Direktverbindung zwischen Homburg und Rohrbach und damit einhergehend die Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken in ihrer jetzigen Form entstand, verlor der Abschnitt Bierbach–Rohrbach für den Durchgangsverkehr der Relation Ludwigshafen–Saarbrücken an Bedeutung. Zwischen Landau und Zweibrücken verkehrten während dieser Zeit fünf Nahverkehrs- und zwei Schnellzüge; hinzu kam ein weiteres Zugpaar der Relation Zweibrücken–Pirmasens.
==== Nach der Verstaatlichung bis zum Zweiten Weltkrieg ====
1910 existierten Schnell- und Eilzüge nach Saarbrücken, München und Metz. 1914 fuhr an Sonn- und Feiertagen auf dem Streckenabschnitt Landau–Hinterweidenthal ein Zugpaar, das über die 1911 eröffnete Wieslauterbahn bis nach Bundenthal-Rumbach verkehrte. Aus diesem entwickelte sich in den Folgejahrzehnten der sogenannte „Bundenthaler“. 1931 verkehrte letzterer bereits ab Neustadt, er begann vormittags und fuhr abends zurück. Bis Landau benutzte er die Pfälzische Maximiliansbahn. Ab dem Sommer 1930 verkehrte zwischen Rohrbach und Bierbach außerdem ein Ausflugszug der Relation Saarbrücken–Bingerbrück entlang der Glantalbahn.Die Bahnstrecke selbst war weiterhin Teil der West-Ost-Magistrale Saarbrücken–Bruchsal. Mit Inbetriebnahme der festen Rheinbrücke zwischen dem pfälzischen Maximiliansau und dem badischen Maxau entlang der Bahnstrecke Winden–Karlsruhe 1938 änderte sich jedoch der Fahrtweg der meisten, teilweise bereits in Trier beginnenden Fernzüge: Sie fuhren nach einem Fahrtrichtungswechsel in Landau fortan bis Winden über die Maximiliansbahn und anschließend weiter bis nach München. Entsprechend war die Relation Saarbrücken–Karlsruhe 1939 als Kursbuchstrecke 242 geführt. In diesem Jahr verkehrte unter anderem ein Eilzug der Relation Mannheim–Landau–Saarbrücken. Der Fahrplan von 1944 wies zum Teil durchgehende Nahverkehrszüge von Karlsruhe über Landau und Zweibrücken bis nach Saarbrücken auf.
==== Nachkriegszeit und Deutsche Bundesbahn ====
Die erneute Trennung des nun Saarland genannten Territoriums hatte zur Folge, dass bis Ende der 1950er Jahre mit Ausnahme eines Fernzuges der Relation München–Saarbrücken kein durchgehender Verkehr über Zweibrücken hinaus existierte. Der Bundenthaler wurde 1951 reaktiviert und verkehrte während dieser Zeit bereits ab Ludwigshafen. Bis Neustadt an der Weinstraße folgte er der Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken, um nach einem Richtungswechsel bis Landau die Maximiliansbahn und danach bis Hinterweidenthal die Bahnstrecke Landau–Rohrbach zu benutzen. Dieser Ausflugszug war stark frequentiert. Bis Landau bediente er alle Unterwegshalte und fuhr bis Hinterweidenthal als Eilzug; entsprechend hielt er in diesem Abschnitt ausschließlich in Albersweiler, Annweiler und Wilgartswiesen. Nach der Rückgliederung des Saarlandes an Deutschland war Zweibrücken weiterhin für die meisten Nahverkehrszüge End- beziehungsweise Ausgangspunkt. 1959 verkehrten über die Strecke außerdem Eilzüge der Relation Tübingen–Trier, die in Hinterweidenthal, Pirmasens Nord und Zweibrücken hielten; ebenso existierte eine Kurswagenverbindung bis nach Salzburg. Im Nahverkehr existierten sowohl Zugläufe Pirmasens Hauptbahnhof–Zweibrücken–Homburg als auch solche der Relation Landau–Homburg sowie von Landau und Pirmasens Hauptbahnhof, bei letzteren war im Bahnhof Pirmasens Nord ein Fahrtrichtungswechsel erforderlich.
Die in den 1980er Jahren erfolgten Rückbauten hatten zunächst keine Auswirkungen auf den Personenverkehr zwischen Rohrbach und Landau. So wurden ab dem 31. Mai 1985 im Zwei-Stunden-Takt Schnell- beziehungsweise Eilzüge über die Bahnstrecke der Verbindungen Saarbrücken–Stuttgart, Saarbrücken–München, Saarbrücken–Karlsruhe, Saarbrücken–Basel und Berchtesgaden–Saarbrücken geführt. In Landau machten diese Züge Kopf, um über die Maximiliansbahn den Weg in Richtung Karlsruhe und München zu nehmen. In der Folge kam es jedoch zu einer kontinuierlichen Verringerung der Fernverkehrs auf dieser Strecke, was schließlich zu seiner Aufgabe führte.Nachdem der Fernverkehr in West-Ost-Richtung bereits nach dem Zweiten Weltkrieg seine einstige Bedeutung eingebüßt und sich diese Entwicklung nach dem Ende des Kalten Kriegs noch verstärkt hatte, verkehren auf der Bahnstrecke seit 1988 keine Fernzüge mehr, da in dem Jahr die letzte durchgehende D-Zugverbindung von Saarbrücken über die Strecke nach Stuttgart und München eingestellt wurde. Fortan verkehrten zwischen Rohrbach und Landau neben Zügen des Nahverkehrs ausschließlich Eilzüge. Zudem fuhren diese Züge nur noch bis Stuttgart, manchmal nur noch bis Karlsruhe. Weitere Einschränkungen waren 1991 zu verzeichnen: Die bisherigen Eilzüge wurden durch Regionalschnellbahnen (RSB) ersetzt, die grundsätzlich nur noch bis Karlsruhe fuhren.
==== Verkehr der Deutschen Bahn ====
Der westliche Abschnitt ist seit 1994 Teil der Kursbuchstrecke (KBS) 674 Saarbrücken–Pirmasens, der östliche bildet die KBS 675 Pirmasens–Landau. Die Züge im östlichen Abschnitt verkehren meistens im Stundentakt mit Kreuzung in Annweiler und Münchweiler zu den üblichen Symmetrieminuten und bedienen mit Ausnahme von Hinterweidenthal Ost alle Unterwegshalte; am Abend gibt es zwischen Landau und Pirmasens Nord in Fahrtrichtung West Taktverdichtungen. Seit 1994 machen die Züge in Pirmasens Nord Kopf, um nach Pirmasens zu fahren. Von 1994 bis 1999 wurden sie über die Maximiliansbahn bis nach Neustadt geführt. Die Züge im westlichen Abschnitt verkehren seit 1994 ebenfalls überwiegend nach Pirmasens. Letztere werden bis nach Saarbrücken durchgebunden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen halten die Züge zwischen Rohrbach und Saarbrücken ausschließlich in St. Ingbert. Werktags findet der dortige Verkehr zwischen Saarbrücken und Pirmasens Nord von 5 bis 23 Uhr statt, am Wochenende beginnt der Betrieb einige Stunden später. In Fahrtrichtung Pirmasens fährt ein Zug lediglich von Saarbrücken nach Zweibrücken sowie einer ausschließlich zwischen Zweibrücken und Pirmasens Hauptbahnhof. Im Westpfalz-Netz sind ab 19 Uhr alle Züge mit Zugbegleitern besetzt.
1997 wurde der sogenannte „Rosengartenexpress“ eingeführt; er verkehrte an Sonn- und Feiertagen von Landau nach Zweibrücken und wurde als Regional-Express gefahren. Der Name bezog sich auf den Rosengarten Zweibrücken. Doch wurde der Zug zwei Jahre später aufgrund geringer Inanspruchnahme eingestellt. Ebenfalls 1997 folge die Reaktivierung des „Bundenthalers“, der anfangs in Neustadt und inzwischen in Mannheim beginnt. Zunächst verkehrte er ganzjährig am Wochenende, seit 2008 ausschließlich von Mai bis Oktober. Im selben Jahr kam der in Karlsruhe beginnende „Felsenland-Express“ hinzu, der über die Bahnstrecke Winden–Karlsruhe und die Maximiliansbahn ebenfalls ins Wieslautertal fährt. Beide Züge verkehren mittwochs, sams-, sonn- und feiertags. Mit dem Fahrplanwechsel im Dezember des Jahres entfiel zudem die letzte durchgehende Verbindung von Landau nach Saarbrücken. Seit Ende 2010 existieren abends an Werktagen Direktverbindungen von Annweiler nach Karlsruhe.
=== Güterverkehr ===
Der Güterverkehr war auf der Bahnstrecke in den ersten Jahrzehnten vor allem für den Kohletransport aus der Saargegend sehr bedeutend. Anfang des 20. Jahrhunderts verkehrten über die Strecke Güterzüge der Relationen Kaiserslautern–Homburg–Landau–Germersheim, Saarbrücken–Landau–Germersheim, St. Ingbert–Zweibrücken, Homburg–Hinterweidenthal und Pirmasens–Biebermühle–Rodalben. Mehrere Bahnhöfe entlang des Streckenabschnitts Albersweiler–Pirmasens Nord waren darüber hinaus für die Verladung von Holz bedeutend. In den 1930er Jahren wies die Strecke im Zuge der Errichtung des Westwalls den stärksten Güterverkehr in ihrer Geschichte auf.Die Demontage des zweiten Gleises nach dem Zweiten Weltkrieg verhinderte dauerhaft einen leistungsfähigen Gütertransport. Im Laufe der Jahrzehnte ging das Aufkommen deutlich zurück. Dies verstärkte sich nach der Elektrifizierung der Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken. Aufgrund der seit 1971 bestehenden Direktionszugehörigkeiten erfolgte die Bedienung der Bahnhöfe des Abschnitts Landau–Wilgartswiesen von Landau aus, während der restliche Streckenabschnitt von Kaiserslautern, Homburg und Saarbrücken aus versorgt wurde. Aufgrund der alliierten Streitkräfte, die in und um Pirmasens sowie Zweibrücken ansässig waren, kam es zudem jahrzehntelang zu Militärtransporten über die Strecke, die sich jedoch mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem damit einhergehenden Truppenabzug erübrigten. Die hohe Anzahl an Zugkreuzungen in den Bahnhöfen und den damit einhergehenden Verspätungen im Personenverkehr brachte eine Umleitung der meisten noch vorhandenen Güterzüge mit sich, die vorzugsweise die Magistrale Mannheim–Saarbrücken befuhren.Bereits in den 1980er Jahren bestimmten Übergabezüge das Betriebsgeschehen. 1996 endete der Güterverkehr zwischen Hinterweidenthal und Pirmasens Nord. Der Abschnitt Landau–Wilgartswiesen wurde zu diesem Zeitpunkt lediglich sporadisch bedient, sodass er 1998 ebenfalls zum Erliegen kam. Zwischen Rohrbach und Pirmasens Nord wiesen zuletzt lediglich Zweibrücken und Thaleischweiler-Fröschen Güterbeförderung auf; diese endete 2002, sodass seither kein Güterverkehr mehr stattfindet. In der Folge wurden in den Bahnhöfen die Gütergleise stillgelegt und demontiert.
== Fahrzeuge ==
=== Dampflokomotiven ===
Im Schnellzugverkehr kamen anfangs die Baureihen P 1.I, P 1.II, P 1.III, P 3.I, P 3.II und P 4 zum Einsatz. Die P 2.I war für den Nahverkehr zuständig. Die P 2.II fand für beide Zuggattungen Verwendung. Stationiert waren diese überwiegend in Ludwigshafen. In westlicher Richtung gelangten sie bis nach Saarbrücken, in östlicher bis nach Bruchsal. Das Schnellzugpaar zwischen Saarbrücken und Bruchsal wurde dagegen ausschließlich von Saarbrücker 1B-Personenzugloks der KED Cöln (linksrheinisch) gefahren. Erst ab dem Sommer 1894 kamen pfälzische Lokomotiven wie die P 1 vor den Flügelzügen Zweibrücken–Saargemünd und P 2 im Durchlauf Bruchsal–Saargemünd zum Einsatz. Den Güterverkehr bestritten die Baureihen G 2.I, G 2.II, G 4.I, G 4.II, G 4.III und G 5 aus Kaiserslautern. Sowohl für den Personen- als auch für den Güterverkehr kamen die Baureihen T 1, T 3, T 5 zum Zuge. Teilweise fuhren ebenso Lokomotiven der Preußischen sowie der Großherzoglich Badischen Staatseisenbahnen über die Strecke.Die später eingesetzten Baureihen kamen teilweise aus den zwischenzeitlich neu entstandenen Bahnbetriebswerken Homburg, Landau und Zweibrücken. Bereits zu Zeiten der Bayerischen Staatseisenbahnen zogen in Kaiserslautern stationierte Bayerische S 3/6 die Schnellzüge. Zu Reichsbahnzeiten versah die dem Bahnbetriebswerk Landau zugeteilte Preußische G 8 (bei der Reichsbahn als Baureihe 55 geführt) den Dienst im Güterverkehr. Im Fernverkehr wurde ebenso die Baureihe 39 eingesetzt. Von 1967 bis 1971 fand die Baureihe 01 für die Schnell- und Fernzüge Verwendung. Die reguläre Nutzung von Dampflokomotiven endete 1972, obwohl es im September des Folgejahres noch einmal einzelne planmäßige Fahrten mit Dampfbetrieb gab. Die D-Züge hatten das übliche Wagenmaterial der DB.
=== Diesellokomotiven ===
Ab Ende der 1950er Jahre kamen im Rangierdienst des Landauer und des Zweibrücker Hauptbahnhofs Loks der Baureihen 261 und 323 zum Einsatz. Wenige Jahre später wurden sie durch solche der Baureihen 331–335 ergänzt, die darüber hinaus für Übergaben Verwendung fanden. Die dampflokgeführten Züge, die zuletzt meistens mit drei- und vierachsigen Umbau-Wagen fuhren, wurden ab den 1960er Jahren zunehmend ebenfalls durch solche mit Diesellokomotiven abgelöst. Ab 1964 fanden Dieselloks der Baureihen 211 und 212 im Schnell- und Personenzugdienst Verwendung. Ab 1968 war ebenso die Baureihe 216 anzutreffen. In den 1970er Jahren kamen Silberling-Nahverkehrswagen zum Einsatz. Bei allen Zuggattungen wurden ab 1972 Loks der Baureihe 218 verwendet. Sie bestritten bis in die 1980er Jahre den Nahverkehr unter anderem in Form von Wendezügen, die neben den Dieselloks aus Minttürkis/Pastelltürkis/Lichtgrau lackierten vierachsigen Personenwagen gebildet wurden. In den letzten Jahren des Güterverkehrs wurden Loks der Baureihe V 90 eingesetzt.
=== Triebwagen ===
Bereits zur Zeit der Pfälzischen Eisenbahnen wurden ab dem frühen 20. Jahrhundert auf der Teilstrecke Landau–Annweiler Akkumulatortriebwagen der Typen MC und MBCC und ab 1906 ebenso MBCL eingesetzt.Ab 1955 wurden die meisten Nahverkehrszüge aus hauptsächlich in Landau und vereinzelt in Zweibrücken stationierten Uerdinger Schienenbussen gebildet, die bis zur endgültigen Schließung des Landauer Werkes 1993 zum Einsatz kamen. Vor allem in den 1970er Jahren verkehrten hauptsächlich auf dem Streckenabschnitt Pirmasens Nord–Rohrbach zudem Triebwagen der Baureihe 634. Vereinzelt übernahmen von Mitte der 1960er bis Ende der 1980er Jahre Akku-Triebwagen der Baureihe ETA 150 Leistungen.Ab Ende der 1980er Jahre ersetzten allmählich Dieseltriebwagen der Baureihe 628 beide Zugkombinationen. Sie dominierten bis Dezember 2010 das Betriebsgeschehen und wurden von Triebwagen der Baureihe 642 abgelöst, die zurzeit auf der Strecke eingesetzt werden.Ähnliches gilt für den westlichen Teil der Strecke, hier übernahm im Dezember 2000 die Baureihe 643 zwischen Pirmasens Nord und Saarbrücken die Zugleistungen. Seit 2008 sind auch auf diesem Streckenabschnitt die Dieseltriebwagen der Baureihe 642 im Einsatz. Seit der Sommersaison 2010 verkehren planmäßige Personenzüge der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG), zwischen Landau und Hinterweidenthal Ost. Sie bedienen samstags, sowie an Sonn- und Feiertagen von Mai bis Oktober mit einem historischen Esslinger Triebwagen den „Felsenland-Express“ Karlsruhe – Bundenthal-Rumbach.
== Streckenbeschreibung ==
=== Streckenbezeichnungen ===
Die Bezeichnung „Queichtalbahn“ für den östlichen Streckenabschnitt rührt daher, dass die Bahnstrecke von Landau bis Hauenstein der Queich folgt. Die Strecke zwischen Landau und Zweibrücken wurde als eine betriebliche Einheit gebaut und erhielt zunächst die Bezeichnung „Südpfalzbahn“ beziehungsweise „-strecke“, wobei sich – nach heutigem Verständnis – nur der Abschnitt Landau–Hinterweidenthal innerhalb der Südpfalz befindet. Der westliche Streckenteil wird oft als „Schwarzbachtalbahn“ bezeichnet, da seine Trasse von Pirmasens Nord bis Zweibrücken durch das Tal des Schwarzbaches verläuft.
=== Verlauf ===
==== Abschnitt Landau–Pirmasens Nord ====
Die Strecke beginnt im Hauptbahnhof von Landau. Die Pfälzische Maximiliansbahn nach Wissembourg lässt sie anschließend links zurück und umfährt die Stadt Landau in einem großen Bogen. Dabei passiert sie die frühere Güterabfertigung. Im Landauer Stadtgebiet weist sie mit dem Haltepunkt Landau Süd, Landau West und dem Bahnhof Godramstein noch drei Stationen auf. Zwischen den beiden erstgenannten kreuzen insgesamt drei Bahnübergänge die Strecke. Anschließend erreicht sie das Queichtal und tritt in den Landkreis Südliche Weinstraße ein. Zwischen Godramstein und Albersweiler durchquert sie das Weinbaugebiet der Pfalz und kreuzt unmittelbar vor dem Haltepunkt Siebeldingen-Birkweiler die Deutsche Weinstraße. Innerhalb von Albersweiler passiert sie außerdem den Kirchberg-Tunnel.
Hinter Albersweiler führt die Strecke in den Pfälzerwald. Im Einzugsbereich von Annweiler am Trifels befinden sich die Burgen Trifels, Anebos und Scharfenberg in Sichtweite; hinzu kommen mehrere Felsformationen zwischen Rinnthal und Wilgartswiesen. Am westlichen Ortsrand von Rinnthal kürzt sie eine Schleife der Queich in Form des Schwerwoogkopf-Tunnels ab. Kurz vor Hauenstein verlässt sie das namensgebende Queichtal. In diesem Bereich passiert sie außerdem die Wasserscheide von Queich und Lauter. Nach dem Bahnhof Hinterweidenthal Ost, der ausschließlich von Mai bis Oktober mittwochs sowie an Sonn- und Feiertagen bedient wird, zweigt die Wieslauterbahn nach Bundenthal-Rumbach ab. Bis Hinterweidenthal verläuft die Bahnstrecke in eine schmale Einsenkung, die den Wasgau vom Mittleren Pfälzerwald trennt; sie befindet sich dort bereits im Landkreis Südwestpfalz. Die Strecke verlässt anschließend den Wasgau und passiert das Gräfensteiner Land, den südwestlichen Teil des Mittleren Pfälzerwaldes; dabei wird mittels des Münchweiler Tunnel (⊙) die Pfälzische Hauptwasserscheide unterquert. Anschließend verläuft die Strecke, der Rodalb folgend, durch Münchweiler an der Rodalb sowie nach Passieren des Neuhof-Tunnel (⊙) durch die Stadt Rodalben. Am westlichen Rand des Pfälzerwaldes erreicht sie den Eisenbahnknotenpunkt Pirmasens Nord.
==== Abschnitt Pirmasens Nord–Rohrbach ====
Unmittelbar nachdem die Strecke die Biebermühlbahn nach Kaiserslautern hinter sich gelassen hat, unterquert sie die Schwarzbachtalbrücke, die der Überführung der A 62 dient. Ab Thaleischweiler-Fröschen durchquert sie bis Zweibrücken die vorwiegend landwirtschaftlich geprägte Westricher Hochfläche. In vielen und großen Kurven schlängelt sie sich durch das von moderaten Hügeln eingerahmte, namensgebende Schwarzbachtal, dessen Talboden meist zur Grünlandbewirtschaftung genutzt wird, während seine Hänge bewaldet sind. In diesem Bereich passiert sie die Ortsgemeinden Thaleischweiler-Fröschen, Rieschweiler-Mühlbach und Dellfeld. Hinter Contwig erreicht die Bahnstrecke kurz vor der Mündung des Schwarzbaches in die Blies den früheren Knotenpunkt Zweibrücken Hauptbahnhof, von dem von 1913 bis 1971 die Bahnstrecke Zweibrücken–Brenschelbach abzweigte. Anschließend überquert die einstige Magistrale den Schwarzbach und bei Einöd die Landesgrenze zum Saarland, sie befindet sich fortan im Saarpfalz-Kreis.
Hinter Einöd zweigte die Strecke nach Homburg ab, deren Abschnitt bis Schwarzenacker demontiert ist. Zwischen Einöd und Blieskastel-Lautzkirchen verläuft sie durch die breite Talniederung der Blies, die hauptsächlich von Wiesen und Weiden bedeckt ist. Vor dem Bahnhof Bierbach unterquert sie die Bundesstraße 423 und die Bundesautobahn 8. Von rechts kommt aus nördlicher Richtung die inzwischen ebenfalls stillgelegte und als Teil der Würzbachbahn errichtete Verbindungskurve aus Schwarzenacker. Kurz vor Erreichen des Haltes Blieskastel-Lautzkirchen zweigte bis 1997 die bereits 1991 im Personen- und Güterverkehr eingestellte Bliestalbahn nach Süden ab, die in diesem Bereich parallel zur Strecke nach Rohrbach verlief. Ab Lautzkirchen wird das waldreiche Würzbachtal genutzt. Sie passiert in diesem Bereich das Naherholungsgebiet am Niederwürzbacher Weiher. Kurz vor Hassel biegt die Bahntrasse seit 1895 nach Norden ab und mündet kurz vor Rohrbach nach einem Schwenk in die westliche Richtung in die von Homburg kommende Trasse der Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken.
==== Verwaltungszugehörigkeit und Kilometrierung ====
Mit Landau in der Pfalz, dem Landkreis Südliche Weinstraße, dem Landkreis Südwestpfalz, Zweibrücken und dem Saarpfalz-Kreis werden insgesamt fünf Landkreise beziehungsweise kreisfreie Städte durchquert. Aufgrund der Bauhistorie existierte zunächst keine durchgehende Kilometrierung der Strecke. Entlang des Abschnitts Bierbach–Würzbach lag der Nullpunkt der Kilometrierung ursprünglich im Bahnhof St. Ingbert. Eine durchgängige Kilometrierung existierte von Landau bis Zweibrücken mit Landau als Nullpunkt. Der Abschnitt Zweibrücken–Bierbach war zunächst ab Zweibrücken kilometriert und setzte sich bis Saargemünd fort. Erst unter der Deutschen Reichsbahn fand eine neue Kilometrierung statt, die bis heute besteht. Deren Nullpunkt befindet sich etwa 1,5 km östlich der Rheinbrücke der Bruhrainbahn zwischen Rheinsheim und Germersheim an der Landesgrenze zwischen Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Anschließend setzt sie sich entlang der Bahnstrecke Germersheim–Landau und von dort aus über Annweiler, Pirmasens Nord und Zweibrücken bis nach Rohrbach fort.
== Bahnhöfe und Haltepunkte ==
=== Landau (Pfalz) Hauptbahnhof ===
Der Landauer Hauptbahnhof hat von allen Bahnhöfen entlang der historischen Bahnstrecke die größte Bedeutung. Er entstand 1855 im Zuge der Errichtung der von Neustadt nach Wissembourg führenden Pfälzischen Maximiliansbahn, die in den Jahren 1864 und 1865 mit der Zweigstrecke von Winden über Kandel und Wörth nach Karlsruhe erweitert wurde. 1872 kam die Bahnstrecke Germersheim–Landau hinzu, die sich zusammen mit der einige Jahre später errichteten Strecke nach Zweibrücken zu einem Teil der Fernverkehrsmagistrale Bruchsal–Saarbrücken entwickelte. In diesem Zusammenhang wurden seine Gleisanlagen erweitert und leicht nach Westen verlegt. 1877 erhielt der Bahnhof ein neues Empfangsgebäude.1898 kam eine Stichstrecke nach Herxheim hinzu, von 1913 bis 1953 führte vom Bahnhofsvorplatz aus mit der Pfälzer Oberlandbahn eine Überlandstraßenbahn bis Neustadt, die mehrere Dörfer abseits der Maximiliansbahn anband. Da das zweite Bahnhofsgebäude im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war, wurde das derzeitig noch existierende 1962 in Betrieb genommen. Die einst umfangreichen Gütergleise wurden ab 1990 abgebaut. Der Rangierbahnhof sowie das nahe, seit den 1920er Jahren existierende Bahnbetriebswerk wurden während dieser Zeit ebenfalls stillgelegt und abgebaut. Ab 2009 wurde der Bahnhof samt Umfeld grundlegend renoviert und barrierefrei ausgebaut. Der Abschluss der Baumaßnahmen war 2014.
=== Landau (Pfalz) Süd ===
Der Haltepunkt Landau (Pfalz) Süd bietet der Landauer Südstadt und dem Wohnpark Am Ebenberg eine Nahverkehrsanbindung. Zugleich erschließt er das Gelände der 2015 in Landau stattfindenden Landesgartenschau, das sich in der Umgebung des Haltepunktes befindet.Der Haltepunkt befindet sich direkt am Vinzentius-Klinikum. Er liegt östlich des Bahnüberganges zur Weißenburger Straße und besitzt einen zusätzlichen direkten Ausgang zur Bürgerstraße und zum dortigen Gebäude der Universität Koblenz-Landau.
=== Landau (Pfalz) West ===
Der Haltepunkt Landau (Pfalz) West befindet sich am südwestlichen Rand der Landauer Innenstadt. Er entstand auf Initiative der Stadt bereits im Zuge der Eröffnung des Abschnitts Landau–Annweiler am südlichen Ende der Straße An 44. Sein Empfangsgebäude war ursprünglich dasjenige des Bahnhofs Bad Dürkheim, war dort jedoch lediglich ein Provisorium. Während der Zeit der Bayerischen Staatseisenbahnen war er als Stationstyp 3 geführt, was bedeutete, dass er „Personen-, Gepäck- und beschränkten Güter-Verkehr“ aufwies.In den 1970er Jahren wurde das Empfangsgebäude abgerissen. An seiner Stelle entstand das „Haus am Westbahnhof“, das jedoch trotz seines Namens nie Bedeutung für den Bahnbetrieb aufwies. Der frühere Bahnhof wurde zwischenzeitlich zum Haltepunkt zurückgebaut. Die einst umfangreichen Gütergleise wurden komplett zurückgebaut. Auf diesem Terrain entstand eine Park-and-ride-Anlage.
=== Landau (Pfalz) Kreisverwaltung ===
Der neue Haltepunkt Landau (Pfalz) Kreisverwaltung soll am Bahnübergang Kanalweg angelegt werden. Südlich dieses Standortes befinden sich in fußläufiger Entfernung die Verwaltung des Landkreises Südliche Weinstraße und das Wohngebiet Wollmesheimer Höhe. Die Realisierung wird langfristig angestrebt.
=== Godramstein ===
Der Bahnhof Godramstein südlich des Landauer Stadtteils Godramstein ist zwischen dem Landauer Hauptbahnhof und Annweiler die einzige verbliebene Möglichkeit für Zugkreuzungen und besitzt den Status einer Blockstelle. Dennoch finden Zugkreuzungen selten statt. Er wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgebaut und verfügt über einen Inselbahnsteig.
Der Güterschuppen aus Holz stammt aus der Zeit der Pfälzischen Eisenbahnen und hat für den Bahnbetrieb keine Bedeutung mehr. Das Empfangsgebäude wurde ab den 1930er Jahren umgebaut. Um 1940 wurde ein mechanisches Stellwerk mit Fahrdienstleiter untergebracht, das seit 2010 zurückgebaut wurde. Gesteuert wird es jetzt vom ESTW Landau aus Neustadt/Weinstr.Die einstigen Gütergleise, von denen eines in ein benachbartes Gaslager führte und zweimal pro Woche von Landau aus bedient wurde, sind ebenfalls verschwunden. Im Güterverkehr wird der Bahnhof seit 1998 nicht mehr bedient. Zuletzt war er unter anderem für die in Ramberg ansässige Spielwarenfabrik Theo Klein GmbH zuständig, da es in Albersweiler und Annweiler keine Güterverladung mehr gab.
=== Siebeldingen-Birkweiler ===
Der frühere Bahnhof Siebeldingen-Birkweiler befindet sich auf der Gemarkung der Ortsgemeinde Birkweiler unweit der Nachbargemeinde Siebeldingen. Unmittelbar östlich davon kreuzt die Strecke die Deutsche Weinstraße. Das Empfangsgebäude, das dem von Godramstein entsprach, wurde um 1970 als einziges zwischen Godramstein und Pirmasens Nord abgerissen. 2009 wurde der Bahnsteig erneuert und barrierefrei ausgebaut.Lediglich der Güterschuppen aus der Zeit um 1900, der zwischenzeitlich in ein neues Gebäude einbezogen wurde, und ein Schrankenwärterhaus am östlichen Ende der Bahnstation aus den 1930er Jahren blieben erhalten. Letzteres besitzt ein Walmdach und wurde als Wartehäuschen umfunktioniert.
=== Albersweiler ===
Der Bahnhof Albersweiler befand sich auf der Gemarkung von Queichhambach – seit 1972 Stadtteil von Annweiler am Trifels – auf Höhe des Weilers Neumühle. In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens trug er die Bezeichnung Albersweiler-Sankt Johann; der zweite Namensteil rührt von der gleichnamigen zu Albersweiler gehörenden Siedlung her. Sämtliche Bahnhofsbauten wie Empfangs- und Nebengebäude sowie Güterschuppen existieren noch, haben für den Bahnbetrieb jedoch keine Bedeutung mehr. Bis 1906 war ein nahe gelegener Granitsteinbruch ein bedeutender Güterkunde vor Ort.Mit seiner Architektur stellt das Empfangsgebäude innerhalb der Pfalz eine Singularität dar. Es besteht aus einem Kopfbau mit drei Stockwerken und einem kurzen Längsbau. Einige Jahre nach der Streckeneröffnung erhielt es an der Bahnsteigseite ein Dach für Fahrgäste. In den 1930er Jahren wurde im Erdgeschoss ein Stellwerk eingerichtet. Das Nebengebäude am westlichen Bahnhofsteil fungierte als Güterabfertigung. Zur weiteren Ausstattung gehörte eine Signalbrücke am Westkopf des Bahnhofs. Aufgrund geringer Siedlungsnähe wurde er aufgegeben und 1984 durch einen neuen Haltepunkt auf der Gemarkung der gleichnamigen Ortsgemeinde ersetzt. Das Empfangsgebäude wurde als Wohnhaus umgebaut; zeitgleich verschwanden die Anlagen des Stellwerks. 2009 wurde der Haltepunkt modernisiert.
=== Annweiler am Trifels ===
Der 1874 eröffnete Bahnhof Annweiler am Trifels war in den ersten 14 Monaten seines Bestehens Endpunkt der Strecke, die erst im November 1875 bis Zweibrücken durchgebunden wurde. Er ist zwischen Landau und Pirmasens Nord der Bahnhof mit der größten Bedeutung. An ihm hielten viele Fernzüge. Er besaß drei Gleise für den Personenverkehr, von denen eines jedoch inzwischen als Abstellgleis zurückgebaut wurde. Die Bedienung im Güterverkehr kam 1994 zum Erliegen. Das Bahnhofsgebäude steht unter Denkmalschutz.Daneben existieren noch ein früheres Nebengebäude aus der Eröffnungszeit, ein Güterschuppen und ein Stellwerk aus den 1930er Jahren. Die beiden Erstgenannten haben für den Bahnverkehr keine Bedeutung mehr.
=== Annweiler West ===
Der Haltepunkt Annweiler West soll zukünftig in der Nähe des Freibads am Bahnübergang zur August-Bebel-Straße entstehen. Die Einrichtung dieses Halts wird langfristig gesehen.
=== Annweiler-Sarnstall ===
Der Halt Annweiler-Sarnstall liegt in Sarnstall südöstlich des Bahnüberganges zur Wasgaustraße. Baubeginn war im April 2012, die Inbetriebnahme erfolgte am 9. Dezember 2012. Wenige Meter entfernt befinden sich die Kartonagefabrik Buchmann und ein zugehöriger großer Parkplatz. Die Anlage des neuen Haltepunktes im relativ kleinen Sarnstall (etwa 220 Einwohner) war nach der Eröffnung des Haltepunktes Hauenstein Mitte der letzte wichtige Schritt zur Umsetzung des neuen Zug-Bus-Systems im Queichtal. Mit der Inbetriebnahme wurde der ehemals stündliche bahnparallele Busverkehr zwischen Landau und Hauenstein bis auf wenige Schulbusse eingestellt, um mit den „freiwerdenden Buskilometern“ ohne signifikante Zusatzkosten Orte abseits der Bahnstrecke an den ÖPNV anzubinden.
=== Rinnthal ===
Der ehemalige Bahnhof Rinnthal befindet sich am südöstlichen Siedlungsrand der Ortsgemeinde Rinnthal. Bei der Streckeneröffnung trug er die Bezeichnung Rinnthal-Sarnstall. Das Empfangsgebäude besaß einen Fahrkartenschalter, einen Warteraum und ein Zimmer für Gepäck. Der örtliche Güterverkehr wurde einst durch eine örtliche Stuhlfabrik sowie die Verladung von Holz und die Papierfabrik Buchmann in Sarnstall getragen. Letztere besaß darüber hinaus ein Anschlussgleis.
Zwischenzeitlich wurde der Bahnhof zum Haltepunkt zurückgebaut; bereits ab den 1980er Jahren wurde er schrittweise sämtlicher Nebengleise entledigt. Dennoch sind einige stillgelegte Ladegleise in Richtung Sarnstall sowie eine Gleiswaage erhalten geblieben. 2006 wurde Rinnthal als erster Unterwegshalt im Abschnitt Landau–Pirmasens Nord modernisiert. Das Empfangsgebäude für den Bahnbetrieb spielt mittlerweile keine Rolle mehr und wurde in ein Wohnhaus umgewandelt.
=== Wilgartswiesen ===
Der Bahnhof Wilgartswiesen befindet sich am südöstlichen Ortsrand von Wilgartswiesen. Zwischen Annweiler und Hinterweidenthal Ost ist er die einzige Station, in der noch Zugkreuzungen möglich sind, wenngleich sie selten stattfinden. Das frühere Empfangsgebäude hat für den Bahnbetrieb inzwischen keine Bedeutung mehr. Ein Toilettenhäuschen existiert bis heute.Bis zur Einstellung des Güterverkehrs 1998 hatte der Bahnhof für die Holzverladung eine große Bedeutung. 2010 wurde der Bahnsteig modernisiert. Am 6. Juli 2013 erhielt der Bahnhof Wilgartswiesen als mittlerweile sechste Bahnstation in Rheinland-Pfalz das Prädikat „Wanderbahnhof“.
=== Hauenstein Mitte ===
Der Haltepunkt Hauenstein Mitte wurde am 30. Mai 2010 in Betrieb genommen, um die Hauensteiner Ortsmitte besser zu erschließen. Er befindet sich noch auf der Gemarkung der Gemeinde Wilgartswiesen, die lange Widerstand gegen dessen Realisierung leistete, da sie den Fortbestand ihres eigenen Bahnhofs gefährdet sah. Als erster Bahnstation in Rheinland-Pfalz wurde dem Haltepunkt ein Jahr nach dessen Eröffnung das Prädikat „Wanderbahnhof“ verliehen.
=== Hauenstein (Pfalz) ===
Der heutige Haltepunkt trug ehemals die Bezeichnung Hauenstein und ab 1910 die Bezeichnung Hauenstein i Pfalz. Der ehemalige Bahnhof wurde in den 1980er Jahren zum Haltepunkt zurückgebaut. Er liegt am nordwestlichen Siedlungsrand von Hauenstein. Das Bahnhofsgebäude befindet sich in einer Hanglage. Das Nebengebäude wurde in den 2000er Jahren abgerissen.
=== Hinterweidenthal Ost ===
Der zwischenzeitlich stark zurückgebaute Bahnhof Hinterweidenthal Ost befindet sich rund zwei Kilometer nordöstlich des Siedlungsgebietes der Ortsgemeinde Hinterweidenthal und hieß in seinen ersten Betriebsjahren Kaltenbach Ost. Er entstand erst im Zuge des Baus der Wieslauterbahn und diente ausschließlich für den Umstieg zur Anschlussstrecke. In seiner Anfangszeit hielten entlang der Hauptstrecke Schnellzüge an diesem Bahnhof. Später erhielt er den Namen Hinterweidenthal. Nach der vorübergehenden Einstellung des Personenverkehrs auf der Wieslauterstrecke fungierte er ausschließlich als Güter- und Betriebsbahnhof. Seit 1970 trägt er die Bezeichnung Hinterweidenthal Ost.Bereits beim Bau erhielt er einen Bahnsteigtunnel und verfügte über insgesamt sechs Gleise, darunter ein Überhol- und vier Abstellgleise. Letztere wurden inzwischen zurückgebaut.An seinem Hausbahnsteig beginnen die Züge der Wieslauterbahn. Züge der Hauptstrecke halten im Bahnhof lediglich zu den Betriebszeiten der Wieslauterbahn, von Mai bis Oktober mittwochs, an Wochenenden und feiertags, da er aufgrund seiner ortsfernen Lage genau wie früher ausschließlich dem Umstieg auf die Anschlussstrecke dient. Sein Stellwerk sowie die Formsignale wurden zwischenzeitlich abgebaut.
=== Hinterweidenthal ===
Der ehemalige Bahnhof und spätere Haltepunkt Hinterweidenthal befindet sich auf Höhe des zu Hinterweidenthal gehörenden Weilers Kaltenbach. Er hieß zum Zeitpunkt der Eröffnung der Strecke Hinterweidenthal-Kaltenbach und wurde nach Inbetriebnahme des Bahnhofs Hinterweidenthal Ost in Kaltenbach (Pfalz) umbenannt. 1970 erfolgte eine weitere Umbenennung, diesmal in Hinterweidenthal.Für die Dauer mehrerer Jahrzehnte war hier eine für den Streckenabschnitt Hauenstein–Rodalben zuständige Bahnmeisterei untergebracht.Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte der Bahnhof zwei Unterführungen, die nach dem eingleisigen Rückbau der Strecke ihre Funktion verloren, jedoch noch immer bestehen.
=== Münchweiler (Rodalb) ===
Der Bahnhof Münchweiler (Rodalb) befindet sich am nordwestlichen Rand der Ortsgemeinde Münchweiler an der Rodalb. 1910 wurde der Bahnhof von „Münchweiler a. d. Rodalb“ in „Münchweiler a Rodalb“ umbenannt. Zwischen Hinterweidenthal und Pirmasens Nord bildete Münchweiler den letzten Gütertarifpunkt, ehe der Güterverkehr in diesem Abschnitt 1996 eingestellt wurde. Das inzwischen abgerissene US-Militärkrankenhaus in Münchweiler an der Rodalb verfügte über ein Anschlussgleis. Im Bahnhof finden wie in Annweiler regelmäßig Zugkreuzungen statt. 2007 wurde er erneuert, nachdem bereits 2004 der Insel- durch einen Seitenbahnsteig ersetzt worden war. Das noch vorhandene Empfangsgebäude spielt für den Bahnbetrieb inzwischen keine Rolle mehr.
=== Rodalben-Neuhof ===
Der Haltepunkt Rodalben-Neuhof soll am Parkplatz an der Schwallbornanlage eingerichtet werden. Die Planung läuft, die Zeitpunkt für Bau und Inbetriebnahme stehen noch nicht fest.
=== Rodalben ===
Der ehemalige Bahnhof Rodalben befindet sich im Zentrum der Kleinstadt Rodalben und besaß einst neben dem Haus- einen Inselbahnsteig. Während oder nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Bahnhof betrieblich zum Haltepunkt. Erst Ende 1948 wurde wieder ein Überholungsgleis in Betrieb genommen. Ende der 1980er Jahre wurde er erneut zum Haltepunkt zurückgebaut. Das ehemalige mechanische Fahrdienstleiterstellwerk, das die Bezeichnung Rf führte, wurde zeitgleich außer Betrieb genommen. 2011 folgte die Modernisierung des Bahnsteiges. Das örtliche Wasserwerk verfügte einst über ein Anschlussgleis. Er ist Ausgangspunkt der 54 Kilometer langen Tour 1 des Streckennetzes des Mountainbikepark Pfälzerwald. Im Oktober 2012 erhielt er das Prädikat „Wanderbahnhof“. Das frühere Empfangsgebäude besitzt für den Bahnverkehr keine Bedeutung mehr und dient inzwischen einem Gastronomiebetrieb.
=== Pirmasens Nord ===
Der auf der Gemarkung der Ortsgemeinden Donsieders, Rodalben und Thaleischweiler-Fröschen liegende Bahnhof Pirmasens Nord hatte trotz seiner peripheren Lage von allen Zwischenstationen stets die größte Bedeutung. Seine Entstehung verdankt er im Wesentlichen der Tatsache, dass eine direkte Anbindung der Stadt Pirmasens an den schwierigen topographischen Verhältnissen scheiterte. Aus diesem Grund wurde einige Kilometer nördlich dieser Bahnhof errichtet, von dem eine Stichstrecke nach Pirmasens abzweigte. Er fungiert daher vor allem als Umsteigestation. Von 1904 bis 1913 entstand außerdem mit der Biebermühlbahn eine Verbindung in nördliche Richtung nach Kaiserslautern.
In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens trug er nach dem unmittelbar östlich gelegenen, zu Donsieders gehörenden Weiler Biebermühle die Bezeichnung Biebermühle, die in der Umgangssprache bis heute erhalten blieb. Erst 1938 erhielt er den Namen Pirmasens Nord, obwohl er sich nie auf Pirmasenser Gemarkung befand. In diesem Zusammenhang wurde er außerdem aus strategischen Gründen erheblich umgestaltet; so wurde das Empfangsgebäude, das sich seit 1904 mit Eröffnung des Biebermühlbahn-Abschnitts nach Waldfischbach in einer Insellage befunden hatte, durch ein neues ersetzt.Im Güterverkehr, der 2005 zum Erliegen kam, diente er in den letzten Jahrzehnten als Verteilerbahnhof für Güterzüge, die vom Rangierbahnhof Einsiedlerhof aus bis Pirmasens Nord gelangten und von dort aus in mehrere Züge geteilt wurden, die zwischen Hauenstein und Zweibrücken die Bahnhöfe entlang der Magistrale Landau–Rohrbach und diejenigen an der Biebermühlbahn bedienten.
=== Thaleischweiler-Fröschen ===
Der Haltepunkt Thaleischweiler-Fröschen liegt in der Mitte zwischen den Orten Thaleischweiler und Thalfröschen, die 1969 im Zuge der rheinland-pfälzischen Verwaltungsreform zur neuen Ortsgemeinde Thaleischweiler-Fröschen zusammengelegt wurden. Der Güterverkehr wurde hauptsächlich durch den Schuhhandel Reno getragen und 2002 eingestellt; der Bahnhof war damals der letzte Gütertarifpunkt zwischen Pirmasens Nord und Rohrbach.Seine Funktion als Kreuzungsbahnhof hat er inzwischen eingebüßt. Das frühere Empfangsgebäude hat für den Bahnbetrieb keine Bedeutung mehr und wurde 1990 an eine Privatperson verkauft. Es beherbergt eine Mietwohnung und ein Geschäft. Das ehemalige Stellwerk Twf existiert ebenfalls noch.
=== Höhmühlbach ===
Der Haltepunkt Höhmühlbach wurde zum 14. Mai 1950 in Betrieb genommen, um den gleichnamigen Ort anzuschließen. Er wurde in den Jahren 2008 und 2009 ausgebaut und erhielt einen neuen, 55 Zentimeter hohen Bahnsteig und ein neues Wartehäuschen.
=== Rieschweiler ===
Der ehemalige Bahnhof Rieschweiler befindet sich am südlichen Ortsrand von Rieschweiler unweit des Schwarzbaches. Er wurde zwischenzeitlich zum Haltepunkt zurückgebaut. In den Jahren 2008 und 2009 wurde er barrierefrei ausgestattet.
Das Bahnhofsgebäude und der Güterschuppen haben für den Bahnverkehr keine Funktion mehr. Das ehemalige mechanische Fahrdienstleiterstellwerk, mit der Bezeichnung Rf wurde zwischenzeitlich ebenfalls außer Betrieb genommen.
=== Dellfeld Ort ===
Da der Bahnhof Dellfeld vom Ortszentrum weit entfernt liegt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit Dellfeld Ort ein ortsnaher Haltepunkt errichtet. Zur Inbetriebnahme gibt es zwei unterschiedliche, voneinander abweichende Daten: den 14. Mai 1950 und den 3. Juni 1951. Der Haltepunkt war bis 1968 Personal besetzt und diente ausschließlich dem Personenverkehr.
=== Dellfeld ===
Der Bahnhof Dellfeld befindet sich im Dellfelder Ortsteil Falkenbusch. Heute gehört er zur Preisklasse 6. Zwischen Pirmasens Nord und Zweibrücken stellt er die einzige verbliebene Kreuzungsmöglichkeit dar. Das Empfangsgebäude sowie der frühere Güterschuppen haben für den Bahnverkehr keine Bedeutung mehr.
Er besitzt ein immer noch in Betrieb befindliches mechanisches Stellwerk mit der Bezeichnung Df, das nach 1938 nach Einheitsbauart entstand und mit einem Fahrdienstleiter ausgestattet ist. Früher verfügte er über ein weiteres, ebenfalls aus dem Jahr 1938 entstandenes mechanisches Wärterstellwerk namens DM, das inzwischen außer Betrieb genommen wurde.Ende 2009 erhielt er einen neuen Außenbahnsteig in Fahrtrichtung Osten. Dieser wurde mit einem Wartehaus, einem Schriftanzeiger, Beschilderung und einer Beleuchtungsanlage ausgestattet. Er ersetzte den bisherigen Inselbahnsteig, der demontiert wurde.
=== Stambach ===
Der Haltepunkt Stambach liegt am südöstlichen Ortsrand. Bis zum 31. Mai 1968 war er noch mit Personal besetzt. In den 1980er Jahren wurde er mangels Rentabilität aufgelassen, Ende 2009 reaktiviert.
=== Contwig ===
Der ehemalige Bahnhof Contwig befindet sich am südöstlichen Ortsrand von Contwig und gehört zur Preisklasse 7. Er wurde zwischenzeitlich ebenfalls zum Haltepunkt zurückgebaut. Das unter Denkmalschutz stehende Empfangsgebäude und der Güterschuppen haben für den Bahnbetrieb keine Bedeutung mehr. Der Güterschuppen nutzt inzwischen ein Industriebetrieb.
=== Tschifflick-Niederauerbach ===
Bei seiner Eröffnung hieß der Bahnhof Tschifflick-Niederauerbach. Der erste Namensteil rührt vom nahe gelegenen Lustschloss Tschifflik her. Nachdem Niederauerbach 1938 in Zweibrücken eingemeindet worden war, erhielt er zum 1. Oktober 1941 den neuen Namen Zweibrücken-Niederauerbach. Mangels Rentabilität wurde er zwischenzeitlich aufgelassen.
Das Empfangsgebäude und der Bahnsteig existieren noch. Das Bahnhofsgebäude steht inzwischen unter Denkmalschutz und wird als Restaurant genutzt.
=== Zweibrücken Rosengarten ===
Der bereits für 2009 angestrebte Eröffnungstermin für den neu geplanten Haltepunkt Zweibrücken Rosengarten, der die östliche Kernstadt und den Rosengarten erschließen soll, wurde aufgrund von Finanzierungsfragen immer wieder verschoben und war angesichts der politischen Auseinandersetzung im Zweibrücker Stadtrat unklar.
Die Hauptbauarbeiten erfolgten schließlich im Sommer 2021. Zum Fahrplanwechsel am 12. Dezember 2021 wurde der Haltepunkt in Betrieb genommen.
=== Zweibrücken Hauptbahnhof ===
Der Bahnhof, der zunächst nur den Namen Zweibrücken trug, wurde im November 1875 eröffnet. Seine Entstehung verdankt er der Tatsache, dass der Verwaltungsrat der Pfälzischen Eisenbahnen eine Fortführung der seit 1857 bestehenden Strecke aus Homburg über den bestehenden Bahnhof durch die damals junge Vorstadt ablehnte. Aus diesem Grund erwarb die Ludwigsbahn-Gesellschaft ein unbenutztes Gelände weiter südlich am westlichen Rand der Stadt. Seinen heutigen Namen erhielt der Bahnhof zum 1. Oktober 1941. Seine Entwicklung war ähnlich wie die des Landauer Hauptbahnhofs. Der einstige Fernverkehrshalt wird nur noch von Nahverkehrszügen angefahren, seine Gleisanlagen wurden deutlich verringert. Die Bedeutung im Güterverkehr verschwand ebenfalls komplett. Im Zuge der Einstellung der früher abzweigenden Bahnstrecke Zweibrücken–Brenschelbach und der Verbindung nach Homburg verlor er zudem seine einstige Funktion als Knotenpunkt.
Der Hauptbahnhof von Zweibrücken besaß einst umfangreiche Gleise für den Güterverkehr, die jedoch komplett abgebaut wurden. In den 1990er Jahren erfuhr der Zweibrücker Hauptbahnhof eine größere Demontage: Von 13 Gleisen wurde er auf 3 reduziert. Bereits 1985 wurde das ehemalige Zweibrücker Betriebswerk, das die letzten zwei Jahrzehnte als Außenstelle seines Pendants in Saarbrücken gedient hatte, samt Lokschuppen aufgegeben. Zudem erfolgte 2000 die Demontage sämtlicher Gleisanschlüsse innerhalb von Zweibrücken.Geplant ist jedoch, den Bahnhof in das Netz der S-Bahn RheinNeckar zu integrieren, wofür die Verbindung nach Homburg wieder in Betrieb genommen werden soll. Über dieses Vorhaben stehen das Saarland und Rheinland-Pfalz seit einigen Jahren in Verhandlungen, wobei bisher vor allem Finanzierungsfragen eine Realisierung des Projektes verzögert haben.
=== Einöd (Saar) ===
Der Bahnhof Einöd (Saar) wurde 1857 als Teil der Bahnstrecke Homburg–Zweibrücken eröffnet. Nachdem beim Bau der Bliestalbahn eine Verbindungskurve nach Bierbach entstanden war, wurde er zum Eisenbahnknotenpunkt. Die Strecke nach Homburg wurde 1989 stillgelegt und der Bahnhof aufgelassen. Ende 2009 erhielt Einöd einen neuen, ortsnahen Haltepunkt.
=== Bierbach ===
Der ehemalige Bahnhof und heutige Haltepunkt Bierbach befindet sich am südwestlichen Rand von Bierbach. Er wurde 1866 als Teil der Würzbachbahn Schwarzenacker–Hassel eröffnet, deren Verlängerung nach St. Ingbert ein Jahr später erfolgte. Ab 1879 war er durch die Eröffnung der damals in Zweibrücken beginnenden Bliestalbahn Berührungsbahnhof. Bedingt durch die Veränderung der Verkehrsströme, die nach den beiden Weltkriegen durch die Bildung des Saarlandes entstanden, wurde er Trennungsbahnhof der in Ost-West-Richtung verlaufenden Bahnstrecke Landau–Rohrbach und den Zügen der Bliestalbahn, die fortan vorzugsweise in Nord-Süd-Richtung über Schwarzenacker nach Homburg verkehrten. Die Bliestalbahn sowie die Verbindung nach Schwarzenacker samt ihrer Weiterführung nach Homburg wurden 1991 stillgelegt. Der frühere Bahnhof ist inzwischen nur noch ein Haltepunkt. Drei Jahre später wurde außerdem das seit 1969 bestehende Stellpult im Bahnhofsgebäude außer Betrieb genommen.
=== Blieskastel-Lautzkirchen ===
Der Bahnhof Blieskastel-Lautzkirchen befindet sich am südlichen Rand von Lautzkirchen. Da Blieskastel 1879 im Zuge der Eröffnung der Bliestalbahn einen stadtnahen Bahnhof erhalten hatte, wurde er in Lautzkirchen umbenannt. Er wurde zwischenzeitlich als Haltepunkt zurückgebaut. Mit der Rückumbenennung wurde der Eingemeindung von Lautzkirchen nach Blieskastel und seiner Bedeutung für Letztere Rechnung getragen. Außerdem ist er seit Stilllegung der Bliestalbahn der nächstgelegene Bahnhof zur Kernstadt von Blieskastel.
=== Würzbach (Saar) ===
Der Bahnhof Würzbach (Saar) befindet sich in Niederwürzbach. Seinen Namen erhielt er, da er als gemeinsame Bahnstation der Ortschaften Niederwürzbach und Oberwürzbach dienen sollte. Unmittelbar nördlich schließt sich der Niederwürzbacher Weiher an. Östlich vom Bahnhof befand sich früher ein Kohlenlager. Zu den Güterkunden vor Ort zählte unter anderem ein Backstein- und Ziegelunternehmen, das über ein Anschlussgleis verfügte. Das Bahnhofsgebäude besitzt einen einstöckigen Anbau. Zu den Bauten des Bahnhofs gehörten ein Güterschuppen und zwei weitere kleinere Häuser. Um 1970 folgte die Demontage des Güterschuppens. In den 1970er Jahren wurde das Empfangsgebäude für den Bahnbetrieb aufgelassen und 1980 verkauft. Inzwischen ist darin ein gastronomischer Betrieb untergebracht. Der Bahnhof stellt seit 2000 zwischen Rohrbach und Zweibrücken die einzige verbliebene Kreuzungsmöglichkeit für Züge dar.
=== Hassel (Saar) ===
Im Zuge der Neutrassierung der Würzbachbahn 1895 und der damit einhergehenden Umfahrung des Hasseler Tunnels wurde der bisherige Bahnhof Hassel am südlichen Ortsrand aufgegeben. Stattdessen erhielt der Ort einen neuen Bahnhof am östlichen Ortsrand.
=== Rohrbach (Saar) ===
Der Bahnhof Rohrbach (Saar) befindet sich am südwestlichen Ortsrand von Rohrbach und gehört der Preisklasse 6 an. Er entstand 1895 als Teil der Neutrassierung der 1867 eröffneten Würzbachbahn Schwarzenacker–St. Ingbert, die als Ersatz für den in den Jahren 1866 und 1867 eröffneten Streckenverlauf mit dem Hasseler Tunnel diente. 1904 wurde er mit der Freigabe des aus strategischen Gründen eröffneten Abschnitts Homburg–Rohrbach – heute Bestandteil der Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken – Eisenbahnknotenpunkt. Aus der Würzbachbahn und den Strecken weiter östlich ging später die heutige Bahnstrecke Landau–Rohrbach hervor, deren westlichen Endpunkt der Bahnhof seither bildet.
== Rezeption ==
Der Prediger Johann Joseph Candidus beschrieb in seinem 1884 erschienenen Buch Über die Kaltenbach und Wegelnburg nach Wörth und Fröschweiler. Reisebilder aus der Südpfalz und dem Unter-Elsaß seine Eindrücke einer Bahnfahrt von Zweibrücken nach Kaltenbach im Sommer 1877. Loriot kommentierte den Fahrplan der Bahnstrecke Landau–Rohrbach – gemeinsam mit der Bahnstrecke Germersheim–Landau – in seinem Sketch Literaturkritik.
== Literatur ==
Faszination Eisenbahn – Heimat-Jahrbuch 2008 Landkreis Südliche Weinstraße. Verlag Franz Arbogast, 2008, ISSN 0177-8684.
Hans Döhn: Die Entwicklung des Verkehrswesens in der Pfalz. In: Michael Geiger, Günter Preuss, Karl-Heinz Rothenberger (Hrsg.): Pfälzische Landeskunde. Beiträge zu Geographie, Biologie, Volkskunde und Geschichte. Band 3. Selbstverlag der Herausgeber, Landau/Pfalz 1981, S. 244–265.
Fritz Engbarth: 100 Jahre Eisenbahnen im Wieslautertal. 2011 (Online [PDF; 2,8 MB; abgerufen am 14. September 2012]).
Fritz Engbarth: 100 Jahre Eisenbahnverbindung Pirmasens–Kaiserslautern. 2013 (Online [PDF; abgerufen am 9. Oktober 2013]).
Daniel Häberle: Der Pfälzerwald, ein Beitrag zur Landeskunde der Rheinpfalz. Georg Westermann Verlag, Braunschweig und Berlin 1913.
Michael Heilmann, Werner Schreiner: 150 Jahre Maximiliansbahn Neustadt-Straßburg. pro MESSAGE, Ludwigshafen am Rhein 2005, ISBN 3-934845-27-4.
Klaus D. Holzborn: Eisenbahn-Reviere Pfalz. transpress, Berlin 1993, ISBN 3-344-70790-6, S. 115–122.
Albert Mühl: Die Pfalzbahn. 1. Auflage. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1982, ISBN 3-8062-0301-6.
Andreas M. Räntzsch: Die Eisenbahn in der Pfalz. Dokumentation ihrer Entstehung und Entwicklung. Verlag Wolfgang Bleiweis, Aalen 1997, ISBN 3-928786-61-X.
Heinz Sturm: Die pfälzischen Eisenbahnen (= Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Band 53). Neuausgabe. pro MESSAGE, Ludwigshafen am Rhein 2005, ISBN 3-934845-26-6, S. 147–148, 165–168, 177–183 und 201–203.
Walter Weber: Die Bliestalbahn. Von Anfang bis Ende. Edition Europa, Walsheim 2000, ISBN 3-931773-37-X.
== Weblinks ==
Streckenplan Landau-Annweiler mit Nivellement aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München von 1879
Streckenplan Annweiler-Hinterweidenthal mit Nivellement aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München von 1879
Streckenplan Hinterweidenthal-Rieschweiler und Biebermühle-Pirmasens mit Nivellement aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München von 1879
Streckenplan Rieschweiler-Zweibrücken mit Nivellement aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München von 1879
Informationen der DB Regio RheinNeckar zum Südpfalznetz (Betrieb der KBS 674)
Informationen der DB Regio RheinNeckar zum Westpfalznetz (Betrieb der KBS 675)
Informationen zur Strecke von Wolfgang Grabitzky
Informationen zur Strecke von Michael Strauß
Bilder einer Sonderfahrt im September 1988 von Jörg Klawitter
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke_Landau%E2%80%93Rohrbach
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Aufbahrung der Märzgefallenen
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= Aufbahrung der Märzgefallenen =
Die Aufbahrung der Märzgefallenen ist ein Gemälde des deutschen Malers Adolph Menzel aus dem Jahr 1848. Es zeigt eine Menschenmenge auf dem Berliner Gendarmenmarkt. Die Figuren wohnen der Sargaufbahrung von Zivilisten bei, die während der Berliner Märzrevolution ums Leben kamen. Menzel hatte persönlich an der Zeremonie teilgenommen. Noch während des Ereignisses oder kurz danach begann er mit der Arbeit an ersten Vorstudien zum Gemälde. Die linke untere Ecke des Bildes ist nicht in Ölfarbe ausgeführt, weshalb es in der Forschung überwiegend als unvollendet gilt. Über die möglichen politischen oder ästhetischen Beweggründe des Malers dafür besteht unter Kunsthistorikern Uneinigkeit. Das Bild gehört zu der Gruppe der in Deutschland nur selten entstandenen Revolutionsgemälde.
Menzel folgte mit seinem Bild nicht den Vorgaben der traditionellen Historienmalerei. Es wird von der Kunstkritik somit einerseits als „Historienmalerei der Gegenwart“ eingeordnet, andererseits wird die Einordnung als „Historienmalerei“ auch ganz zurückgewiesen. In der öffentlichen Wahrnehmung spielte die Aufbahrung der Märzgefallenen zunächst keine Rolle, da es im Künstleratelier des Malers verblieb. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde es nach Zürich an eine Privatgalerie verkauft und ging erst 1902 in den Besitz der Hamburger Kunsthalle über, die es erstmals der Öffentlichkeit zugänglich machte.
== Bildbeschreibung ==
Bei dem Gemälde handelt es sich um eine mit Ölfarbe bearbeitete, 45 × 63 Zentimeter messende Leinwand. Der Betrachter blickt leicht erhöht über eine Menschenmenge hinweg, die sich vor dem nördlichen Säulengang des Deutschen Doms auf dem Berliner Gendarmenmarkt versammelt hat. Die meisten Särge sind bereits auf den Stufen der Kirche aufgestellt worden. Sie bilden einen pyramidenförmigen, verschwommen wirkenden, dunklen Fleck, der vom Zentrum des Gemäldes etwas nach links verschoben ist. In seiner Mitte – auf der Höhe der waagerechten Horizontlinie – befindet sich der Fluchtpunkt des Gemäldes. Die zentrale Achse des Bildes wird links durch eine Gruppe Trauernder und rechts durch die Treppenmauern des Schauspielhauses hervorgehoben.Die im Vordergrund befindliche Menschenmenge nimmt den Großteil des Bildes ein. Sie macht einem weiteren herangetragenen, hellbraunen Sarg Platz, der ebenfalls auf den Stufen des Deutschen Doms abgesetzt werden soll. Die meisten Menschen haben den Blick auf die Särge gerichtet, einige sind jedoch in Gespräche vertieft. Sie scheinen sich, wie der amerikanische Historiker Peter Paret vermutet, über die Ereignisse der letzten Tage und der Zukunft auszutauschen. Vor der Treppenmauer des Schauspielhauses sind weitere Menschen zu sehen, die die dort angeschlagenen Kundmachungen lesen.Die Berliner Bürgerwehr hat bei dem herangetragenen hellbraunen Sarg Aufstellung genommen. Sie verwehrt Zuschauern den Zutritt in die unmittelbare Nähe der auf der Domtreppe aufgestellten Särge. Eine Gruppe aus drei Figuren, die von der Treppe des Schauspielhauses aus versucht, die Absperrung zu umgehen, wird von einem Mitglied der Bürgerwehr zurückgewiesen. Zwei davon sind bereits im Begriff, wieder umzukehren. Die dritte Person bleibt jedoch stehen und blickt zu den Särgen. Am rechten Bildrand haben sich auf den Treppenmauern des Schauspielhauses mehrere Figuren niedergelassen, wohl des besseren Überblicks wegen. Im linken Hintergrund zieren schwarz-rot-goldene Flaggen mehrere Häuser. Sie stehen als Symbole für die Forderung nach nationaler Einheit Deutschlands. Die Nationalfarben tauchen auch im Vordergrund auf: Rechts, unterhalb des hellbraunen Sargs, trägt ein kleines Mädchen lustlos eine schwarz-rot-goldene Flagge verkehrt herum und unterhält sich dabei mit einem größeren Mädchen. Neben beiden scheint ein Herr in grünem Mantel dem Betrachter entgegenzutreten. Er ist die am größten wirkende Figur des Bildes, die sich auch durch ihre dunkler gehaltene Erscheinung von der Umgebung absetzt. Die Kuppel des Deutschen Doms wird vom Bild ausgespart.Menzel hielt die soziale Heterogenität der Menge fest; zu sehen sind Bürger, Handwerker, Studenten und Angehörige der Bürgerwehr, auch einige Frauen, Kinder und ein Arbeiter. Nach Ansicht Peter Parets sind die meisten dargestellten Personen Gruppen zuzuordnen, welche den Großteil der Barrikadenkämpfer gestellt hatten, vor allem Gesellen, Handwerksmeister und die soziale Mittelschicht. Obwohl üblicherweise bei öffentlichen Zusammenkünften Uniform getragen wurde, sind – abgesehen von den Studenten – die meisten Bürger zivil gekleidet. Die Figuren formieren sich zwar partiell um den herangetragenen Sarg, nehmen aber keine zeremoniell vorgegebene Aufstellung ein.An der linken unteren Ecke des Bildes wurde die Unterzeichnung nicht farbig übermalt. In dem Bereich befinden sich auch die Künstlersignatur „Ad. Menzel 1848“ und zwei trauernde weibliche Figuren. Ihr Blick ist auf den Boden gerichtet. Rechts von ihnen blickt eine männliche Figur, die der Bürgerwehr angehört, zu dem gerade Richtung Kirche getragenen Sarg. Sie trägt über der Schulter ein Gewehr und nimmt eine aufrechte, stolze Pose ein. Zu ihrer linken Seite bilden mehrere Studenten ein Spalier um den Sarg. Im Vordergrund der Szene hat ein großbürgerlich gekleideter Herr seinen Zylinder gezogen. Er erweist damit dem Sarg, aber auch dem Mann der Bürgerwehr die Ehre. Sein Blick ist gleichzeitig abgewandt von dem eigentlichen Geschehen vor dem Deutschen Dom. Die Figur behält ihre linke Hand in einer Manteltasche und steht in einem leeren, halbkreisförmigen Raum.
== Entstehungsgeschichte ==
=== Das historische Ereignis und der Künstler ===
Der Maler des Bildes Adolph Menzel war einer der bedeutendsten Vertreter des Realismus, einer Stilform der ungeschönten, detailreichen Bilddarstellung. In seinem langen Leben (1815–1905) wurde der Künstler Zeuge zahlreicher soziopolitischer Ereignisse. Hierzu zählen auch die untrennbar mit dem Bild verbundenen politischen Entwicklungen des Revolutionsjahres 1848.
In diesem Jahr kam es in europäischen Hauptstädten wie Paris und Wien zu gewaltsamen Konfrontationen. Am 18./19. März ereigneten sich auch in Berlin schwere Straßenkämpfe zwischen Zivilisten und königlichen Soldaten. Ziel der Aufständischen in Berlin waren unter anderem eine freiheitliche preußische Verfassung, Pressefreiheit und ein deutscher Nationalstaat. Den Gefechten fielen mehr als 300 Zivilisten und 20 Soldaten zum Opfer. Die umgekommenen Revolutionäre gingen als sogenannte Märzgefallene in die Geschichte ein. Nachdem König Friedrich Wilhelm IV. die Situation in den Straßen Berlins nicht hatte militärisch zu seinen Gunsten entscheiden können und seine Soldaten aus Berlin abgezogen hatte, wurde die Beisetzung der Märzgefallenen organisiert.
Menzel hielt sich während der Kampfhandlungen noch in Kassel auf. Erst am 21. März 1848 kehrte er in die preußische Hauptstadt zurück. Am selben Tag besichtigte er die Überreste von Barrikaden und sah sich Einschusslöcher an den Wänden an. Am Morgen des 22. März 1848 nahm er wahrscheinlich an der Begräbnisfeier der Märzgefallenen teil. Die Zeremonie nahm ihren Anfang auf dem Gendarmenmarkt: Auf den Stufen des Deutschen Doms wurden die mit Kränzen und Schleifen verzierten Särge von 183 Gefallenen aufgebahrt. Menzel beobachtete diese Szene aller Wahrscheinlichkeit nach von den Stufen des Französischen Doms aus. Eben jene Perspektive zeigte er später auf dem Gemälde.Die Versammelten drückten auf dem Gendarmenmarkt ihre Solidarität mit den Märzgefallenen aus. Sie gehörten allen Gesellschaftsschichten an, darunter waren Kaufleute, Mitglieder des Berliner Handwerkervereins, die Fabrikarbeiter des Lokomotivenherstellers August Borsig und Delegationen aus anderen Städten. Darüber, wie viele tausend Menschen an der Trauerfeier teilnahmen, gibt es unterschiedliche zeitgenössische Angaben. Nach heutigen Schätzungen waren es aber etwa 20 000 Teilnehmer. Am Mittag hielten protestantische, katholische und jüdische Geistliche Predigten im Deutschen Dom. Nach dem Ende der kurzen Gottesdienste brach der Trauerzug in Richtung des eigens angelegten Friedhofs der Märzgefallenen vor den Toren der Stadt auf. Dort wurden die Märzgefallenen in ihren Särgen beigesetzt.Menzel schilderte seine Eindrücke seinem Freund und Förderer, dem Tapetenfabrikanten Carl Heinrich Arnold, in einem Brief wie folgt:
Als Augenzeuge wohnte Menzel auch einem weiteren symbolischen Akt bei. Als sich die Särge dem Berliner Stadtschloss näherten, forderte die Menge den König und sein Gefolge dazu auf, vor den Märzgefallenen ehrerweisend die Kopfbedeckung abzunehmen. Menzel schrieb darüber: „So oft nun ein neuer Zug Särge vorbeikamen, trat der König baarhaupt heraus, und blieb stehen, bis die Särge vorüber waren. Sein Kopf leuchtete von ferne wie ein weisser Flecken. Es mag wohl der fürchterlichste Tag seines Lebens gewesen sein“. Aussagen wie diese belegen, dass Menzel einerseits Mitleid mit dem König empfand, sich angesichts der Ereignisse andererseits aber auch begeistert zeigte. Da Menzel auch die Gräber der Märzgefallenen in Friedrichshain zeichnete, geht der Kunsthistoriker Werner Busch davon aus, dass er den Trauerzug bis zum Ende begleitete.
=== Vorstudien und Arbeit am Gemälde ===
Der 22. März 1848 schien zunächst symbolisch für den Sieg der Revolution in Berlin zu stehen. Davon beeindruckt begann Menzel das Gemälde Aufbahrung der Märzgefallenen anzufertigen. Das Bild sollte den morgendlichen Gendarmenmarkt kurz vor dem eigentlichen Beginn der Trauerfeier zeigen. Menzel erinnerte sich noch etwa ein halbes Jahrhundert nach den Geschehnissen daran, dass er „auf den Beinen [war], fast wie ein Zeitungsreporter, um zu skizzieren“. Tatsächlich haben sich in dem Skizzenbuch des Künstlers mehrere Bleistiftzeichnungen erhalten. Mit ihnen lässt sich der Entstehungsprozess des Gemäldes nachvollziehen. Der Großteil dieser Vorstudien zeigen vor allem architektonische Elemente des Gendarmenmarktes. Auf die noch wenigen im Vordergrund stehenden menschlichen Figuren wird nur mit Strichen verwiesen. Die aufgebahrten Särge der Märzgefallenen kommen in den Zeichnungen noch nicht vor. Nur ein zum Deutschen Dom getragener Sarg ist bereits zentral im Bild zu erkennen. Die Skizze zeigt noch mehrere Passanten, die den Gendarmenmarkt offenbar überqueren wollen. Sie ließ Menzel im Gemälde weg.Wann Menzel mit den Vorarbeiten zum Gemälde begann, ist Gegenstand einer Debatte unter Kunsthistorikern. Werner Busch nimmt an, dass die der Forschung bekannten Zeichnungen erst nach der Begräbniszeremonie entstanden. Er begründet seine Vermutung mit dem Fehlen von Flaggen und aufgebahrten Särgen, die während der Zeremonie noch zu sehen gewesen waren. Beide Elemente treten erst in der Ölfassung wieder in Erscheinung. Es sei wahrscheinlicher, dass Menzel während des Ereignisses selbst mit der Skizzierung von Personengruppen auf dem Gendarmenmarkt beschäftigt war. Die dazugehörigen Vorarbeiten gingen jedoch verloren. Christopher B. With geht von anderen Entstehungsumständen aus: Die ersten nur flüchtig ausgeführten Vorarbeiten sprechen ihm zufolge dafür, dass Menzel während der Begräbniszeremonie emotional zu überwältigt war, um bereits Details wie Personengruppen auf dem Gendarmenmarkt zeichnerisch festzuhalten. In der Konsequenz hätte er das Gemälde wesentlich aus der Erinnerung schaffen müssen.
=== Menzels Motivation ===
Hoch umstritten sind Menzels Motive bei der Entstehung des Bildes. Die Frage besteht darin, ob oder inwieweit er eine politische Botschaft bezweckte. Peter Paret misst der Aufbahrung der Märzgefallenen keine von Menzel beabsichtigte politische Bedeutung bei. Vielmehr sei das Bild ein „Werk von auffallender Unparteilichkeit“. Vergleiche mit schriftlichen Beschreibungen des Ereignisses würden nahelegen, dass Menzel den Moment genau so festhielt, wie er sich tatsächlich zutrug. With meint, dass Menzel eine Kompromisslösung zwischen der miterlebten Wirklichkeit des Ereignisses und einer politischen Botschaft anstrebte. Für den Versuch einer Annäherung an die Realität beruft sich With auf mehrere Gemeinsamkeiten zwischen der Bleistiftzeichnung und dem späteren Gemälde. So steht bereits in der Bleistiftzeichnung die Mehrzahl der Personen im Vordergrund. Auch der Bildausschnitt entspricht dem des Gemäldes. Gleichzeitig sei das Gemälde aber auch als eine politische Botschaft entstanden. Es sei Menzel darum gegangen, Kritik an der Herrschaft Friedrich Wilhelms IV. zu üben. Mit den Särgen werde an die blutige, vom König verschuldete Eskalation erinnert. Die verschiedenen dargestellten sozialen Gruppen sollten eine revolutionäre Geschlossenheit zum Ausdruck bringen. Dieser Einschätzung schließt sich teilweise auch Claude Keisch an. Die Kunsthistorikerin hält allerdings die „Utopie einer sozialen Eintracht“ für zentraler als konkrete demokratische Ideale: Das Bild zeige bezeichnenderweise gerade nicht die Szene, bei welcher der preußische Monarch vom Balkon des Berliner Stadtschlosses aus den Märzgefallenen die Ehre erwies, sondern die Anwesenheit sämtlicher sozialer Gruppen während der Sargaufbahrung auf dem Gendarmenmarkt.Für Werner Busch spricht die möglichst realistische Darstellungsweise dagegen, das Gemälde als ein „politisches Bekenntnisbild“ zu deuten. Vielmehr habe Menzel versucht, die „widerstreitenden Impulse [der …] Ordnung und Unordnung“ einer versammelten Menschenmenge einzufangen: Einzelne Personengruppen seien zwar zu erkennen, bilden aber keine klaren Einheiten. Ein Ordnungselement sei hingegen der Bereich der schwarzen Särge vor dem Deutschen Dom. Er akzentuiert die waagerechte Mittelachse des Gemäldes.
Françoise Forster-Hahn hält die Entscheidung Menzels, die Morgenstunden kurz vor der offiziellen Zeremonie festzuhalten, für ein Indiz der politischen Unentschiedenheit des Künstlers. Die Abbildung eines morgendlichen Zeitpunktes ermöglichte es ihm, eine weniger auf die Särge beziehungsweise die Revolution konzentrierte Menschenmenge darzustellen. Im Vergleich dazu, so Françoise Forster-Hahn, beschwört eine Zeichnung des Trauerzuges von Johann Jakob Kirchhoff in der Leipziger Illustrirten Zeitung vom 15. April 1848 eine geschlossene Einigkeit der Versammelten.
=== Möglicher Arbeitsabbruch ===
Die nicht kolorierte linke untere Ecke des Bildes wird in der Forschung meist als Indiz dafür gedeutet, dass Menzel die Arbeit am Gemälde abbrach. Diskutiert wird dabei vor allem, ob dafür politische Enttäuschungen oder eher ästhetische Probleme verantwortlich waren. Laut With habe Menzel zunächst noch erwartet, dass der gemeinsam auf den Barrikaden errungene Sieg eine zukünftige Annäherung zwischen Adel, Bürgertum und Proletariat bewirken würde. Angesichts des weiteren Verlaufs der Revolution habe sich diese Hoffnung dann allerdings spätestens im September 1848 als Illusion erwiesen. Auch Françoise Forster-Hahn bringt die Arbeitseinstellung mit politischer Erbitterung in Zusammenhang, denn der dargestellte Gendarmenmarkt wurde bereits im November 1848 zu einem Schauplatz für das sich abzeichnende Ende der Revolution: General Wrangel besetzte den Platz, und die im Schauspielhaus tagende preußische Nationalversammlung musste ihre Sitzungen in Berlin beenden. Außerdem sei vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse die Wahrscheinlichkeit gesunken, das Gemälde öffentlich präsentieren zu können.Paret sieht hingegen die wahrgetreue visuelle Schilderung als entscheidenden Grund dafür, dass Menzel das Bild nicht vollendete: Während sich die Figuren im mittleren Vordergrund nicht zufällig eher statisch und weniger kommunikativ zu verhalten scheinen, sind bei den Akteuren auf der rechten Bildseite viel stärker Bewegungen und Gespräche angedeutet. Menzel sei es nicht gelungen, den historisch korrekt gezeigten Widerspruch zwischen „feierliche[m] Ernst“ und der „große[n] Erregung“ überzeugend in Einklang zu bringen. Zudem störe die individuelle Ausgestaltung einiger Figuren ihre Integration in eine einheitlich wirkende Menschenmenge. Diese ästhetischen Probleme hätten Menzel frustriert und daher die Arbeit an dem Bild einstellen lassen. Busch zufolge beendete Menzel keineswegs seine Arbeit an dem Bild aus politischer Enttäuschung: Die Aufbahrung der Märzgefallenen hing immerhin in Menzels Atelier. Auch seine für den privaten Gebrauch verwendeten Gemälde Balkonzimmer und Schlafzimmer blieben in einem ähnlichen Zustand. Als in der Öffentlichkeit wenig anerkannte Ölskizze schienen die Chancen eines Verkaufs gering. Der amerikanische Kunsthistoriker Michael Fried meint, dass Menzel die Arbeit abgebrochen habe, da er mit der verschwommenen fleckhaften Darstellung der 183 Särge unzufrieden gewesen sein könnte. Folglich sei das Bild nicht den vielen individuellen Schicksalen der Märzgefallenen gerecht geworden. Unklar ist auch der genaue Zeitpunkt der Signierung beziehungsweise der Aufgabe des Bildes. Nach Ansicht von Detlef Hofmann könnte die Signatur noch im Jahr 1848 entstanden sein, da diese eine konkrete Jahreszahl angibt („Ad. Menzel 1848“). Dieser Interpretation widerspricht Fried, da nicht selbstverständlich sei, wann Menzel die Signatur tatsächlich auftrug.Die Meinung einer Unabgeschlossenheit des Bildes ist in der Forschung nicht unwidersprochen geblieben: Die Verwendung einer Künstlersignatur sieht die österreichische Kunsthistorikerin Karin Gludovatz als Beleg für eine Fertigstellung des Bildes an. Signaturen seien nur bei vollendeten Bildern üblich gewesen. Menzel habe bewusst den Produktionsprozess sichtbar gelassen, um so auf den subjektiven Konstruktionscharakter seines Gemäldes aufmerksam zu machen. Es zeige nicht die Realität, sondern lediglich seine Wahrnehmung und künstlerische Verarbeitung des Ereignisses. Werner Busch argumentiert, dass die Signatur zwar durchaus eine Abgeschlossenheit betonen sollte, durch die Platzierung am unfertigen Rand das Bild jedoch gleichzeitig als nicht vollwertiges Werk ausweisen sollte.
== Provenienz und Äußerung Menzels zum Bild ==
Die Aufbahrung der Märzgefallenen blieb zunächst im Atelier des Künstlers, wo es nur wenige Gäste wie der Maler Alexander von Ungern-Sternberg zu Gesicht bekamen. Folglich spielte das Bild in der öffentlichen Wahrnehmung anders als Revolutionsgemälde wie Eugène Delacroixs Die Freiheit führt das Volk keine Rolle. Der genaue Standort des Bildes in Menzels Atelier lässt sich unter anderem dank einer Fotografie präzise rekonstruieren. Es hing nahe einer Tür, links davon reihten sich mehrere Pferdestudien aneinander. Auch sie nahmen teilweise, wie vermutet wird, auf die Revolution von 1848 Bezug: Als Vorlage verwendete Menzel im April 1848 nämlich abgeschlagene Pferdeköpfe aus einer Berliner Schlachterei. Die Studien thematisieren somit wie das Aufbahrungsbild gewaltsam zu Tode gekommene Körper. In Menzels Atelier befand sich rechts von der Aufbahrung der Märzgefallenen seine Skizze Friedrich der Große in Lissa: Bonsoir, Messieurs!.Aus Anlass von Menzels 80. Geburtstag 1895 stellte die Berliner Akademie der Künste das Bild erstmals aus. 1896 folgte eine Präsentation in der Menzel-Ausstellung der Hamburger Kunsthalle. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde das Bild für eine Schweizer Privatsammlung aufgekauft. Käufer war der Seidenfabrikant und Kunstfreund Gustav Henneberg, welcher in Zürich 1897 eine eigene Galerie ins Leben rief. Er zeigte sich an mehreren Hauptwerken Menzels interessiert, darunter die Aufbahrung der Märzgefallenen und Friedrich der Große in Lissa: Bonsoir, Messieurs.1902 gelang dem Direktor der Kunsthalle, Alfred Lichtwark, die Eingliederung des Bildes in die Hamburger Sammlung. Der Direktor hatte auch die Gelegenheit, den Maler über das Bild zu befragen. Dieser antwortete ihm, er „wäre mit Herzklopfen und hoher Begeisterung für die Ideen, in deren Dienst die Opfer gefallen [sind] an die Arbeit gegangen, aber ehe es fertig gewesen wäre, hätte er gesehen, dass alles Lüge oder dummes Zeug gewesen wäre. Daraufhin hätte er das Bild mit dem Gesicht gegen die Wand gestellt und in seinem Ekel keine Hand mehr daran legen mögen“.Menzels Distanzierung von dem Bild wird von Kunsthistorikern wie Helmut Börsch-Supan kritisch hinterfragt: Das Interview fand immerhin 54 Jahre nach der Entstehung des Gemäldes statt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kaiser Wilhelm II. den Künstler bereits zum Ritter des Schwarzen Adlerordens ernannt. In den gehobenen Kreisen des kaiserzeitlichen Berlins genoss er eine Reputation, welche er mit einem zu offensichtlichen Bekenntnis zur Revolution von 1848 gefährdet hätte. Gegen eine Abneigung Menzels seinem Bild gegenüber spricht ebenfalls die Fotografie von Menzels Atelier in der Berliner Sigismundstraße, welche das Gemälde an der Wand hängend zeigt. Keisch sieht Menzels Kommentar als eine Ablehnung weiterer sozialer Unruhen: Mit Blick auf Ereignisse wie den Berliner Zeughaussturm vom 14. Juni 1848 habe Menzel seine Position zur Revolution überdacht. Als Beleg führt sie einen Brief Menzels vom September 1848 an, in welchem er die aktuelle politische Entwicklung bewertete: „Zur (gerechten) Indignation über Oben ist nun nur die Indignation über Unten gekommen“. Auch Fried meint, dass Menzel „als typischer Liberaler sich vor allem der Bourgeoisie verbunden fühlte und angesichts der Bereitschaft der Arbeiter, Gewalt anzuwenden“ von der Revolution abwandte.
== Einordnung ==
=== Bedeutung für Menzels Werk ===
Menzels Malerei wandte sich nach seiner Arbeit an der Aufbahrung der Märzgefallenen erneut Friedrich dem Großen zu und begann mit Vorarbeiten zu den Gemälden Tafelrunde in Sanssouci und Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci. Die genauen Gründe für diese Interessensverschiebung werden in der Forschung diskutiert. Laut dem Kunsthistoriker Gisold Lammel wollte Menzel in dem längst verstorbenen preußischen Herrscher einen Monarchen sehen, der den Wünschen des Volkes entgegengekommen sei. Eine vom Volk angestoßene Reformierung der Staatsordnung wurde hingegen unrealistischer. Der Kunsthistoriker Hubertus Kohle kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Menzel schätzte König Friedrich Wilhelm IV., der als Monarch für die Eskalation der Gewalt im März 1848 verantwortlich war, als einen schwachen Herrscher ein und setze dem folglich das Ideal des heroischen Königs der Aufklärungszeit gegenüber. Er betont gleichzeitig auch Kontinuitäten: Die „Aufbahrung der Märzgefallenen“ sei als ein „Vorgriff auf die Eigenarten der Friedrich-Bilder“ zu verstehen, denn bereits das Aufbahrungsbild stelle „einen eher marginalen, wenig fruchtbaren Moment“ dar. Es werde nicht der dramatische Höhepunkt des Ereignisses selbst, sondern das Geschehen davor oder danach thematisiert.
Die Aufbahrung der Märzgefallenen war Menzels erster Beitrag zu einer „Historienmalerei der Gegenwart“. Auch seine Berlin-Potsdamer Eisenbahn von 1847, Die Abreise Wilhelms I. aus Berlin im Juli 1870 und das Eisenwalzwerk von 1875 können zeitgenössischen Themen zugeordnet werden. Diese Bilder nehmen entweder auf moderne städtische Räume oder Gesellschaftsausschnitte Bezug. Zum Teil setzen sie sich – wie die Aufbahrung der Märzgefallenen – mit großstädtischen Menschenmengen auseinander, welche Ordnungsstrukturen und soziale Hierarchien negieren. Menzel hat nach Meinung von Keisch diese in dem Märzgefallenenbild angelegte Darstellung noch etwa 50 Jahre lang weiterentwickeln können. So gehe beispielsweise der preußische Monarch in dem Gemälde Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870 in der Menschenmenge unter und trete nicht als Hauptfigur in Erscheinung. Bedeutend für Menzels Werk ist die Aufbahrung der Märzgefallenen noch aus einem weiteren Grund: Menzel erprobte hier erstmals eine Ansicht, bei welcher die Vordergrundfiguren gleichzeitig aus der Nähe und einem erhöhten Standpunkt aus betrachtet werden. Dadurch musste er eine perspektivische Verzerrung berücksichtigen und die Körper von oben nach unten verkürzend darstellen. Die Köpfe der Vordergrundfiguren scheinen sich somit räumlich weiter vorne zu befinden als die Füße. Es entsteht der Eindruck, als würden sich die Vordergrundfiguren vom Platz entfernen wollen und aus dem Bild in den Betrachterraum streben.
=== Opposition zum Historienbild ===
Eine Gattungszuordnung der Aufbahrung der Märzgefallenen erweist sich als schwierig. Das Bild kann nach Meinung von Karin Gludovatz nicht der Historienmalerei zugesprochen werden, denn es bezieht keine klare Position zu dem historischen Ereignis. Die Aufbahrung der Märzgefallenen könne einerseits als Ausdruck der Ehrerweisung gegenüber den Aufständischen interpretiert werden. Andererseits verzichte das Gemälde auf eine Verklärung des Kampfes. Es unterscheidet sich auch von anderen Revolutionsbildern, da es die Opfer in den Fokus rückt und damit keine Erzählung der nationalen Identität stützt. Die Aufbahrung der Märzgefallenen war nicht Menzels erstes Historienbild, welches die traditionellen akademischen Regeln unterlief. Das sogenannte Kasseler Karton entstand bereits 1847/1848 in Kassel und stellt den Einzug der Herzogin von Brabant in Marburg dar. Die zentrale Figur der Szene, der Dynastiegründer des Hauses Hessen, sticht jedoch nicht aus der versammelten Menge hervor. Die für Historienbilder charakteristische Handlungserzählung eines Helden wird auf diese Weise gestört.Laut Susanne von Falkenhausen existiert auch in dem Aufbahrungsbild weder eine eindeutig zu identifizierende Haupthandlung noch eine Hauptperson. Im kompositorischen Zentrum – dort, wo üblicherweise die zentrale Figur wirkt – befindet sich eine menschenleere Bodenfläche. Der Sarg, der dorthin getragen wird, scheint sich in der Weite bis zum Deutschen Dom zu verlieren. Der amerikanische Kunsthistoriker Albert Boime wertet die Leerstelle als ein Mittel, mit dem Menzel einen Gegensatz zwischen der Menschenmenge und der Haupthandlung – den aufgebahrten Särgen – konstruiert. Auch die im Bild angedeuteten Bewegungen würden nicht alle auf die Särge verweisen, sondern darauf abzielen, den Eindruck einer zufällig erscheinenden Wirklichkeit zu erwecken. Zu einer ähnlichen Bewertung des Bildes gelangt auch der deutsche Kunsthistoriker Detlef Hoffmann: Menzel wolle mit seiner fotografisch anmutenden Darstellung vieler, auch unwichtiger Details – die vom Hauptgeschehen ablenken – veranschaulichen, „wie sich auch große historische Momente in Zufälligkeiten auflösen“. Dies sei ganz im Sinne der Malerei des Realismus gewesen.
=== Bedeutung als Revolutionsbild ===
Jost Hermand stuft die Aufbahrung der Märzgefallenen als das „bedeutendste Bild der deutschen Revolution von 1848“ ein. Es handle sich um ein Bild, welches ganz im Sinne der Malerei des Realismus festhalte, was Menzel als Augenzeuge des Ereignisses tatsächlich gesehen habe. Das Gemälde zeichne dabei „weniger die Hoffnung auf einen möglichen Sieg [der Revolution] als die Trauer um Verlorenes“ aus. Der nach Meinung von Jost Hermand unfertige Zustand habe das Bild zu einem „aufrüttelnden Mahnmal“ werden lassen. Es rufe dazu auf, die noch fehlgeschlagene Revolution von 1848 in der Zukunft erfolgreicher zu verwirklichen. Die in dem Gemälde formulierte radikal ungeschönte „Zeitzeugenschaft“ hält Verena Hein für einmalig in Deutschland beziehungsweise charakteristisch allein für Menzel. Ein derartiges Phänomen lasse sich sonst vor allem bei französischen Malern wie Ernest Meissonier beobachten. Dessen Barrikade in der Rue de la Mortellerie zeige die bei der Revolution getöteten Zivilisten allerdings deutlich schonungsloser als Menzel. Die Aufbahrung der Märzgefallenen zeigt keine Leichen. Die Särge sind geschlossen. Nach Einschätzung der Kunsthistorikerin Claude Keisch verunklart Menzel auf diese Weise eine politische Positionierung. Wolfgang Kemp wertet das Revolutionsbild als „bezeichnend für die deutschen Verhältnisse“. Die Menschenmenge ist, so Kemp, durch das Trauerritual gebändigt und tritt nicht als ein handelnder Akteur auf.Neben der Aufbahrung der Märzgefallenen existieren nur wenige Bilder bedeutender deutscher Künstler, die auf die Revolution von 1848 referieren. Dazu gehören beispielsweise der Totentanz von Alfred Rethel und der Barrikadenkampf im Mai 1849 von Julius Scholtz. Werner Busch vergleicht die Aufbahrung der Märzgefallenen mit dem „Schwur im Ballhaus“ von Jacques-Louis David. Das Werk thematisiert ebenso wie Menzels Bild ein Ereignis, welches zu seinem Entstehungszeitpunkt noch nicht lange zurücklag. Es wird ein Moment der Französischen Revolution dargestellt: Die Abgeordneten des Dritten Standes geloben im Ballhaus von Versailles nicht auseinanderzugehen, bevor sie Frankreich eine Verfassung gegeben hätten. Das Gemälde hat David nie vollendet, da viele der auf dem Bild zu sehenden Persönlichkeiten kurz darauf der Guillotine zum Opfer fielen. Durch die veränderten politischen Verhältnisse schien das Thema an Relevanz und Angemessenheit verloren zu haben. Ähnliches gälte laut Busch auch für Menzels Aufbahrung der Märzgefallenen. Erst mit großem zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen hätten sowohl Davids als auch Menzels Revolutionsbild ihre ursprüngliche historische Bedeutung zurückgewonnen.Die Aufbahrung der Märzgefallenen stand vor allem zur Zeit des Deutschen Kaiserreiches im Schatten der Friedrich-Bilder Menzels. Während der preußische König aus dem 18. Jahrhundert als Wegbereiter zum deutschen Nationalstaat umgedeutet wurde und Menzels Königsbilder entsprechend populär wurden, schien die Erinnerung an die Revolution von 1848 zu verblassen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das Interesse an dem Bild zu. Zum einen lag dies an einer politischen Rehabilitierung der Revolution von 1848 als Thema. Zum anderen passte das Bild zu dem Trend eines in den 1970er Jahren neu aufkommenden Realismusstils. In der kollektiven Erinnerung an die Begräbniszeremonie vom 22. März 1848 kommt dem Aufbahrungsbild inzwischen eine Schlüsselrolle zu. Der amerikanische Historiker Peter Paret meint, dass ohne Menzels Gemälde heute „die gemeinschaftsstiftenden und politischen sowie die menschlichen Züge der Feier“ unterschätzt werden würden. Die Aufbahrung der Märzgefallenen inspirierte 1953 den Leipziger Maler Bernhard Heisig zu mehreren gleichnamigen Zeichnungen und Lithografien. Vorlage für den DDR-Maler war dabei nicht Menzels Original in der Hamburger Kunsthalle, sondern eine fotografische Reproduktion des Bildes. Wie Menzel zeigt auch Heisig in einer Bleistiftzeichnung die Beförderung der Särge auf den Berliner Gendarmenmarkt. Anders als bei Menzel versammelt sich die Menge jedoch um einen einzelnen Sargkarren. Die aus der Nähe gezeigten Figuren scheinen im Vergleich zu denjenigen in Menzels Gemälde einen größeren Anteil am Schicksal des Märzgefallenen zu nehmen. Die US-amerikanische Kunsthistorikerin April Eisman hält die Bilder für eine Reaktion auf den Aufstand vom 17. Juni 1953 in der Deutschen Demokratischen Republik. Da ein öffentliches Trauern um die bei dem Protest getöteten Bürger verboten war, habe Heisig stellvertretend ein länger zurückliegendes Ereignis thematisiert.Die Aufbahrung der Märzgefallenen fand auch Einzug in Schulbücher und Geschichtsatlanten, wobei es häufig zur Illustration des revolutionären Lagers genutzt wird. Der Kunsthistoriker Andreas Köstler kritisiert eine solche Verwendung. Das Bild sei politisch zu unbestimmt und zu unvollendet, um als „Abbild […] eines historischen Ereignisses“ geeignet zu sein. So macht Köstler darauf aufmerksam, dass die auf den Treppenwänden des Schauspielhauses niedergelassenen Figuren den Eindruck erwecken, als gäbe es keine freien Flächen mehr auf dem Platz. Tatsächlich weist der von Menzel dargestellte Gendarmenmarkt aber eine große Lücke in direkter Nähe zu den aufgebahrten Särgen auf. Für den Kunsthistoriker ist Menzels Gemälde ein „Stellvertreterbild des an mangelnder Entschiedenheit gescheiterten Berliner Revolutionsversuchs“. Zu einer ähnlichen Beurteilung kommt auch Hubertus Kohle: Menzel habe einen sozialen Gegensatz zwischen dem Bürgertum und den „unteren Klassen“ im Bild festgehalten: Während erstere eine feierliche Haltung annehmen, würden letztere lebhafter miteinander debattieren und gestikulieren. Diese Uneinigkeit habe auch entscheidend zum Fehlschlagen der Revolution beigetragen.
=== Deutung einzelner Figuren ===
In der Forschung gilt die soziale Zugehörigkeit der Figur, die vor dem Sarg steht und ihren Hut zieht, als strittig. With hält sie für einen Repräsentanten des Adels und Anhänger des preußischen Königs. Paret stuft sie dagegen als einen „Gebildeten und wirtschaftlich Saturierten“ ein. Es handle sich um einen Befürworter des Barrikadenkampfes und liberal gesinnten Bürger. Dem schließt sich auch Gludovatz an. Die Figur sei als ein Vertreter des Bürgertums anzusehen. Nach ihrer Meinung zeigt die Figur ebenso wie das Bürgertum eine ambivalente Haltung zur Revolution. Das Hutziehen könne einerseits als grüßendes Zeichen gegenüber dem Bürgerwehrmann interpretiert werden. Dies würde eine politische Zustimmung zum Ausdruck bringen. Andererseits erinnere die Szene an den preußischen König. Friedrich Wilhelm IV. selbst war auf Druck der versammelten Menschenmenge dazu gezwungen, sein Haupt vor den auf den Hof des Berliner Stadtschlosses getragenen Särgen der Märzgefallenen zu entblößen. Der Monarch erwies mit der Geste ähnlich wie die genannte Figur in Menzels Bild zwar den Revolutionären die Ehre. Dieser Akt geschah jedoch nicht aus Überzeugung. So lässt Menzel die Figur halbherzig abgewendet zu der eigentlichen Handlung stehen. Gleichzeitig belässt der Herr seine linke Hand in der Tasche, was Paret als eine Respektlosigkeit deutet: Menzel könnte damit auf die eigentliche ablehnende Haltung der Figur angespielt haben. Boime sieht in der Figur einen Offizier, der in ziviler Kleidung an der Zeremonie teilnimmt. Der Kunsthistoriker begründet seine Zuordnung mit einer militärisch-aristokratisch wirkenden Körperhaltung und hervorstechend vornehmen Kleidung der Figur. Sie scheint sich genau in die entgegengesetzte Richtung zu jenem Sarg zu drehen, welcher Richtung Deutschen Dom getragen wird. Die durch den Sarg beziehungsweise Märzgefallenen betonte diagonale Achse werde somit von der Figur gestört.Gludovatz meint, dass Menzel auch sich selbst im Bild positionierte. So berührt seine Künstlersignatur einerseits die trauernden Frauen. Andererseits scheint der gezogene Hut der besonders vornehm gekleideten Figur dem Bürgerwehrsoldaten und der Signatur Respekt zu zollen. Die Huldigung des bewaffneten Bürgers scheine so auch im Sinne Menzels zu sein. Busch hält die obere, auf der Treppe des Schauspielhauses stehengebliebene Figur für zentral. Die Bürgerwehr verwehrt ihr den Zutritt zu den Särgen. Somit bleibt ihr – ebenso wie Menzel als historischem Zeugen des Ereignisses – nur die Möglichkeit des Beobachtens. Von dem eigentlichen Bildgeschehen bleibt die Figur ausgeschlossen.
== Literatur (Auswahl) ==
Werner Busch: Adolph Menzel, Leben und Werk, Beck, München 2004, ISBN 978-3-406-52191-1, S. 85–91.
Susanne von Falkenhausen: „Zeitzeuge der Leere. Zum Scheitern nationaler Bildformeln bei Menzel“, in: Claude Keisch/Marie Ursula Riemann-Reyher (Hrsg.), Ausstellungskatalog Adolph Menzel. 1815-1905, das Labyrinth der Wirklichkeit, Berlin 1996, ISBN 978-3-7701-3704-6, S. 494–502.
Françoise Forster-Hahn: „Die Aufbahrung der Märzgefallenen“. Menzel’s Unfinished Painting as a Parable of the Aborted Revolution of 1848. In: Christian Beutler, Peter-Klaus Schuster, Martin Warnke (Hrsg.): Kunst um 1800 und die Folgen. Prestel, München 1988, ISBN 978-3-7913-0903-3, S. 221–232 (englisch).
Karin Gludovatz: Nicht zu übersehen. Der Künstler als Figur der Peripherie in Adolph Menzels „Aufbahrung der Märzgefallenen in Berlin“ (1848). In: Edith Futscher u. a. (Hrsg.): Was aus dem Bild gefällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur. München u. a. 2007, ISBN 978-3-7705-4347-2, S. 237–263.
Françoise Forster-Hahn: Das unfertige Bild und sein fehlendes Publikum. Adolph Menzels „Aufbahrung der Märzgefallenen“ als visuelle Verdichtung politischen Wandels. In: Uwe Fleckner (Hrsg.): Bilder machen Geschichte: Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst. De Gruyter, Berlin 2014, ISBN 978-3-05-006317-1, S. 267–279.
Christopher B. With: Adolph von Menzel and the German Revolution of 1848. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 24 (1979), S. 195–215.
== Weblinks ==
Information der Hamburger Kunsthalle zum Bild
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aufbahrung_der_M%C3%A4rzgefallenen
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Liberei
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= Liberei =
Die Liberei, auch Liberey oder Andreana genannt, in Braunschweig gilt als ältester freistehender Bibliotheksbau nördlich der Alpen. Er wurde zwischen 1412 und 1422 in der Kröppelstraße im Weichbild Neustadt, nur wenige Meter südöstlich der Andreaskirche errichtet. Durch Schenkungen, unter anderem von Johann Ember und vor allem Gerwin von Hameln, war die Bibliothek über die Grenzen der Stadt bekannt und galt bis zu ihrer Auflösung 1753 mehr als 300 Jahre lang als eine der bedeutendsten Bücher- und Handschriftensammlungen im norddeutschen Raum.
Die Schenkung von 336 Bänden durch Gerwin von Hameln im Jahre 1495 markiert gleichzeitig Höhe- und auch Wendepunkt in der Geschichte der Bibliothek. Nach Gerwins Tod kam es über Jahrzehnte zu Streitigkeiten zwischen dem Stadtrat und Gerwins Erben, sodass Gebäude und Buchbestand dauerhaft Schaden durch Vernachlässigung und Diebstahl nahmen. Obwohl zeitgenössische Gelehrte wie Johannes Bugenhagen im 16. oder Hermann von der Hardt im beginnenden 18. Jahrhundert sowohl auf die Bedeutung der Liberei als Quelle des Wissens als auch auf ihren bedrohten Zustand hinwiesen, war ihr Niedergang nicht mehr aufzuhalten. 1753 wurden die Restbestände in eine größere Bibliothek überführt. Nach heutigem Forschungsstand sind noch 137 Bände aus Gerwins Nachlass erhalten.Der kapellenartige Backsteinbau misst im Grundriss nur 5,50 Meter × 5,14 Meter. Das Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und erst ab 1963 restauriert. Die Liberei ist das einzige Zeugnis mittelalterlicher Backsteingotik in der Stadt und dürfte zudem das älteste erhaltene Gebäude in Deutschland sein, das ausschließlich als Bibliothek erbaut wurde. Das Bauwerk steht heute unter Denkmalschutz.
== Geschichte ==
=== Ursprung ===
Die Ursprünge der Bibliothek gehen auf das Ende des Jahres 1309 zurück. Kurz zuvor war Magister Jordanus, Pfarrer der Andreaskirche, verstorben und hatte seiner Pfarrkirche testamentarisch „auf ewige Zeiten“ seine Sammlung von 18 Handschriften hinterlassen.Im Degedingbuch der Neustadt wurden die Titel einzeln aufgeführt und dazu vermerkt:
Die Bedeutung dieser Sammlung lässt sich daran ermessen, dass seine Nachfolger, allen voran Magister Bruno Luckemann als unmittelbarer Amtsnachfolger (1310–1336), gegenüber dem Dekan des St. Blasiusstiftes als Inhaber des Patronats der Andreaskirche, eine Urkunde unterzeichnen musste, die nicht nur die einzelnen Titel des Bestandes aufführte, sondern auch die Verpflichtung enthielt, diese der Kirche unversehrt zu erhalten und keinesfalls zu verkaufen. Abschließend musste jeder Nachfolger eine Kaution für die Bibliothek hinterlegen. Das von Magister Bruno am 18. Mai 1310, also knapp sechs Monate nach dem Tod des Bibliotheksgründers Jordanus, unterzeichnete Dokument enthält die älteste Auflistung des Bestandes.Auf Magister Bruno Luckemann folgte Ortghisus, der ein ähnliches Dokument am 10. Oktober 1336 unterzeichnete und mit ihm einen Bestand von vier weiteren Titeln aus dem Besitz seines Vorgängers übernahm. Auf Ortghisus († 1358) folgten Klaus von Solvede († um 1360) und Ludolf von Steinfurt († wohl 1393), aus deren Zeit aber über die Bibliothek keine Nachrichten überliefert sind. Der Nachfolger Steinfurts war Johann Ember.
=== Stiftung ===
Ember, seit ca. 1399 Pfarrer der Andreaskirche, ließ 1412 einen Vertrag aufsetzen, von dem ein Entwurf erhalten ist. In ihm wird erstmals der Bau eines eigenen Gebäudes für die Bibliothek der Andreaskirche erwähnt:
Johann Ember, Bücherliebhaber und -sammler des ausgehenden Mittelalters, wollte also das Gebäude stiften und für dessen Baukosten aufkommen. Darüber hinaus verpflichtete er sich, den Bibliotheksbestand zu erweitern. Von den Kirchenältesten verlangte Ember lediglich eine Beteiligung von zehn Mark. Darüber hinaus regelte der Vertrag die Aufbewahrungsmodalitäten der Werke. So war jede der Handschriften mit einer Kette zu sichern und auf einem Pult zu lagern. Die Schlüssel, mit denen die Bände von den Ketten gelöst werden konnten, befanden sich im Besitz des Rates der Neustadt und der Kirchenältesten. Diesem Personenkreis oblag vertraglich auch die Führung eines Verzeichnisses des Bibliotheksbestands sowie dessen mehrmalige Kontrolle im Laufe eines Jahres. Der Schlüssel zum Gebäude selbst befand sich ausschließlich in der Obhut des jeweiligen Pfarrers von St. Andreas.Ausdrücklich verfügte Ember, dass die Bücher neben dem Klerus der Stadt auch „allen sonstigen ehrwürdigen Personen“ zugänglich sein sollten. Des Weiteren bestimmte er, dass – außer ihm selbst – niemand Bände entleihen oder entfernen dürfe. Es handelte sich also um eine Präsenzbibliothek. Für sich selbst beanspruchte Ember das Recht, maximal zwei Bücher gleichzeitig ausleihen zu können, wobei die Kirchenältesten jeweils vorher davon zu unterrichten waren. Schließlich enthielt die Urkunde auch zwei Bestandslisten mit ausführlichen Beschreibungen, zum einen die derjenigen Handschriften, die sich bereits von alters her in der Kirchenbibliothek befunden hatten, zum anderen jene, die Johannes Ember von seinem Vorgänger Ludolf von Steinfurt übernommen hatte, und schließlich eine Liste des Bestandes, den er selbst der Liberei zu vermachen gedachte. Darin hatte er nicht nur die einzelnen Bände mit den darin enthaltenen Werken angegeben, sondern diese auch detailliert beschrieben, so z. B. deren äußere Kennzeichen, wie Einbandmaterial und Kennzeichnungen und ob es sich bei den Seiten um Papier oder Pergament handelte. Texte, die keinen eindeutigen Titel oder Verfasser hatten, hatte Ember durch ein Incipit gekennzeichnet.Als „Gegenleistung“ für diese großzügige Stiftung wurde vertraglich vereinbart, dass zwei Mal im Jahr für Johann Ember und dessen Eltern Memorien in der Andreaskirche abgehalten würden.Die „Alterleute“ der Andreaskirche, das heißt, der Kirchenvorstand, beteiligte sich mit zehn Mark an den Baukosten, während sich Ember verpflichtet hatte, für den Restbetrag aufzukommen. Um Pfingsten 1413 dürfte das Gebäude also im Rohbau fertiggestellt gewesen sein. Doch erst Mitte 1422, zehn Jahre nach Baubeginn, wurde das Dach gedeckt und die Inneneinrichtung eingebracht. Diese erhebliche Verzögerung bei der Fertigstellung wurde durch den sogenannten Braunschweiger Pfaffenkrieg verursacht. Wann die Bauarbeiten an der Liberei genau abgeschlossen wurden, lässt sich heute nicht mehr feststellen.
Nach der Fertigstellung handelte es sich um eine frühe Art „öffentlicher Bücherei“ und macht die Braunschweiger Liberei somit zu einer der ersten für die Allgemeinheit nutzbaren Bibliotheken auf deutschem Boden. In ihr wurde der schon damals große Buchbestand der Andreaskirche aufgenommen.
=== Gebäude und Bibliotheksbestand ===
Am 25. September 1412 wurde in einem Vertrag zwischen Ember, den Alterleuten und dem Lüneburger Baumeister Meister Heinrich, Werners Sohn im Detail geregelt, wie das Gebäude auszusehen habe und aus welchen Materialien es zu errichten sei. So wurde die Tiefe des Fundamentes, das Baumaterial (teygelsteyne = Ziegelstein), die Stärke der Mauern, die Anzahl der Fenster und Pfeiler, den Gewölbetyp sowie der Bau einer Steintreppe im Inneren festgelegt. Als Datum der Fertigstellung hatte man sich auf Pfingsten 1413 geeinigt.Die Liberei wurde im Stil der norddeutschen Backsteingotik erbaut. Das Bauwerk hat einen besonderen Stellenwert, da es der einzige mittelalterliche Backsteinbau in Braunschweig ist und gleichzeitig zu den südlichst gelegenen im Verbreitungsgebiet der Backsteingotik gehört. Backsteine waren damals in der Stadt ungebräuchlich – in Braunschweig baute man hauptsächlich Fachwerkhäuser. Im Inneren befanden sich zwei rippengewölbte Geschosse, die getrennt voneinander von außen zugänglich waren. Das Untergeschoss war teilweise in die Erde gebaut und hatte lediglich auf der Ostseite kleine Doppelfenster.
Das Gebäude hat sowohl auf der Nord- als auch auf der Südseite gotische Treppengiebel mit glasierten Formsteinen und Reliefziegeln, die besonders die Senkrechten betonen. Zudem befinden sich auf der Südseite profilierte, spitzbogige Blendnischen. Unter diesen verläuft über fast die gesamte Gebäudebreite ein Schmuckfries mit 17 von rechts nach links schreitenden Löwen, die sich dem Betrachter zuwenden. Ob es sich dabei um den Braunschweiger Löwen handelt bzw. was die Bedeutung dieses Frieses ist, ist unbekannt. Unterhalb des Frieses sind drei Wappen angebracht. Der Zweck dieser Wappenaufreihung ist, wie die der schreitenden Löwen, nicht eindeutig geklärt und Gegenstand vielfältiger Spekulationen, z. B. in Bezug auf den Pfaffenkrieg und Embers Rolle darin. Es scheint aber sicher zu sein, dass das linke Wappen jenes Herzog Bernhards I. (bzw. des Blasiusstiftes) ist. Das mittlere stellt den Braunschweiger Löwen dar und symbolisiert den Rat. Ganz rechts befindet sich jenes des Auftraggebers des Bauwerkes, Pfarrer Johann Ember, dessen Name Zuber oder Eimer bedeutet und in dessen Wappen dementsprechend drei Eimer dargestellt sind.
==== Verzögerung der Fertigstellung ====
Wie vertraglich vereinbart, dürfte das Gebäude um Pfingsten 1413 im Rohbau fertig gestellt gewesen sein. Aber erst am 25. April 1422, zehn Jahre nach Baubeginn, gibt eine weitere Urkunde darüber Auskunft, dass sich Ember und die Kirchenältesten über die endgültige Fertigstellung des Baus verständigt hätten. Im Dokument explizit erwähnt wurde alles, was noch zum Abschluss der Arbeiten fehlte, nämlich Treppen, Fenster, Bänke, Pulte, Türen, Dach und Schlösser.Verursacht wurde diese zehnjährige Verzögerung durch den Braunschweiger Pfaffenkrieg. Dieser innerstädtische „Krieg“ zwischen dem Blasiusstift und dem „Gemeinen Rat“ währte von 1413 bis 1420. Er wurde jedoch nicht mit Waffen, sondern mit Worten und kirchlichen Erlassen sowie gegenseitigen Bannen ausgetragen. Auslöser war der Streit um die Besetzung einer frei gewordenen Pfarrersstelle an St. Ulrici, woraus sich in der Folge noch ein weiterer Streit um die Einrichtung zweier neuer Lateinschulen anschloss. Daraus entspann sich ein insgesamt acht Jahre dauernder innerstädtischer Zwist. Während des Pfaffenkrieges waren zahlreiche Kirchen der Stadt, darunter die Andreaskirche, geschlossen. Wegen eines Banns gegen Johann Ember musste dieser 1413 aus Braunschweig an die Kurie des Gegenpapstes Johannes XXIII. fliehen und konnte erst 1420 wieder zurückkehren. In beiden Kirchen fand zeitweise über mehrere Jahre hinweg kein Gottesdienst mehr statt. So erklärt man sich auch die mehrjährige unfreiwillige „Baupause“ durch die Blockadehaltung der Andreasgemeinde. Dass es sich bei der Stiftung der Liberei um eine „Sühneleistung“ Embers, wie Meier und Steinacker vermuten, gehandelt haben soll, lässt sich durch die überlieferten Dokumente nicht stützen.Wann genau die Bauarbeiten an der Liberei wieder aufgenommen wurden, wann sie vollständig beendet waren und wann das Gebäude schließlich seiner Bestimmung übergeben wurde, lässt sich nicht mehr feststellen. Nach der Fertigstellung war die Liberei eine frühe Art „öffentlicher Bücherei“ und somit eine der ersten von (einem, wenn auch sehr eingeschränkten Kreis) der Bevölkerung nutzbaren Bibliotheken auf deutschem Boden.Die o. g. Urkunde vom 25. April 1422 ist darüber hinaus das letzte bekannte Dokument, das zu Embers Lebzeiten entstand. Eine erneute Kautionsurkunde vom 24. März 1424 nennt Ember bereits als „verstorben“ und ist von seinem Amtsnachfolger Ludolf Quirre unterzeichnet.
==== Schenkung Gerwins von Hameln ====
Über einen Zeitraum von etwa 300 Jahren, vom Ursprung der Bibliothek unter Magister Jordanus um 1309 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, wuchs der Bestand an Handschriften, Inkunabeln etc. durch Zukäufe und Schenkungen.
Die bedeutendste und umfangreichste Schenkung war die des Braunschweiger Stadtschreibers Gerwin von Hameln. Sie markiert gleichzeitig den Höhepunkt der Geschichte der Liberei. Gerwin entstammte einer angesehenen Braunschweiger Familie, die seit Anfang des 14. Jahrhunderts als Bürger und Hausbesitzer zunächst in der Altstadt, später auch in anderen Teilen der Stadt, belegt ist. 1438, im Alter von etwa 23 Jahren, wurde Gerwin Stadtschreiber des Gemeinen Rates und damit höchster Beamter der Stadt. Er bekleidete diese Position über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren. Etwa 80-jährig verfasste er 1494 sein noch heute erhaltenes Testament und schloss dieses am 23. September 1495 ab. Er hinterließ darin „myne liberie to sunte Andrease“ ausdrücklich „als ewigen Besitz“ seine Sammlung von 336 Büchern und Handschriften. Umfang und Qualität dieser Sammlung waren für das ausgehende 15. Jahrhundert auch über die Grenzen Braunschweigs hinaus außergewöhnlich. Keine der heute bekannten Stadtschreiberbibliotheken des 15. und 16. Jahrhunderts ist mit jener Gerwins von Hameln vergleichbar. Es handelte sich um eine der bedeutendsten Privatbibliotheken jener Zeit.In Gerwins Testament heißt es:
Gerwins Sammlung umfasste hauptsächlich theologische, kanonisch- und römischrechtliche Werke, die wegen der großen Anzahl über beide Stockwerke der Liberei verteilt werden mussten. Die Bibliothek war durch die Schenkung dermaßen angewachsen, dass das kleine Gebäude die Bände kaum noch fassen konnte. Im Gegensatz zu den früheren Stiftungen durch Magister Jordanus, der verfügt hatte, dass die Bände lediglich den Priestern der Andreaskirche zur freien Verfügung stünden und der Johannes Embers, der den Nutzerkreis um „alle Priester und ehrwürdigen Personen der Stadt“ erweitert hatte, bestimmte Gerwin von Hameln ausdrücklich, dass seine Familienangehörigen Bände ausleihen durften, was bis dahin niemandem gestattet war und schließlich zum Niedergang der Bibliothek beitrug.
Obwohl der Rat das Testament nicht gelten ließ, hinterlegte er es aber dennoch am 29. Dezember 1496 beim Rat der Neustadt. Warum das Testament nach Auffassung des Rates ungültig sein sollte, ist unbekannt. Gerwin von Hamelns Sammlung blieb indes in der Liberei.
==== Die Liberei im Urteil zeitgenössischer Gelehrter ====
Zu einer weiteren, wohl letzten, großen Bücherschenkung kam es 84 Jahre später, 1579. Diesmal stammten die Bände aus dem Nachlass Johannes Alßhausens, Sekretär des Rates der Stadt Braunschweig. In einem Nachlassinventar heißt es dazu:
Die Liberei hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den Rang einer bedeutenden Stätte der Forschung und genoss auch über die Grenzen der Stadt hinaus großes Ansehen. Der 1528 in Braunschweig wirkende Reformator Johannes Bugenhagen hatte ihre Bedeutung erkannt und in seiner Braunschweiger Kirchenordnung von 1531 ausdrücklich auf die Liberei als Quelle des Wissens hingewiesen. Schon zu diesem Zeitpunkt scheint aber auch ihr Verfall bereits deutlich spürbar gewesen zu sein, denn Bugenhagen schrieb:
Auch andere Gelehrte haben die Bibliothek genutzt, so um 1555 der protestantische Theologe Matthias Flacius, der ebenfalls feststellte, dass bereits Bücher aus dem Bestand fehlten. Hermann von der Hardt, Professor an der Universität Helmstedt und Bibliothekar an der dortigen Universitätsbibliothek, suchte die Liberei, von ihm „Andreana“ genannt, mehrfach auf, um dort nach Material für seine Arbeiten über die Reformkonzilien von Konstanz und Basel zu suchen. Im Vorwort zum 3. Teil des ersten Bandes seines „Magnum oecumenicum Constantiense concilium“ beschreibt Flacius ausführlich, was er in der Liberei fand. Ihm zur Seite stand Heinrich Weiß, der seit 1691 Pastor von St. Andreas und vormals Bibliothekar des Welfen-Herzogs Rudolf August von Braunschweig-Wolfenbüttel gewesen war. Hardt bezeichnete das, was er vorfand, als „Reliquiae“, also „Überreste“ dessen, was diese Bibliothek einst ausgemacht und ihren Ruhm begründet hatte. Am 22. August 1695 beklagte er in einem Brief an den Herzog den bedauernswerten Zustand von Gebäude und Bibliotheksbestand. Am 13. September 1695 erkundigte sich Hardt beim Herzog: „Wie ist es mit der Andreana zu Braunschweig hergegangen, daraus E. Durchlaucht noch einige gute reliquien errettet?“ Hardt sorgte wohl dafür, dass die Restbestände der Bibliothek zwischen 1702 und 1706 größtenteils in die „Bibliotheca Rudolphea“, die Privatbibliothek Herzog Rudolf Augusts übergingen, die wiederum 1702 in der Bibliothek der Universität Helmstedt und schließlich in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel aufgingen. Ein weiterer Teil ist in die Bibliothek der Universität Helmstedt und ein kleinerer Teil des Liberei-Bestandes ist wohl direkt in Hardts eigene Büchersammlung übergegangen. Als 1786 die Bibliothek seines Neffen Anton Julius von der Hardt, ebenfalls Professor in Helmstedt, versteigert wurde, fanden sich in ihr etliche Werke aus dem Besitz Gerwins von Hameln.1714 schrieb der Universalgelehrte Caspar Calvör an seinen Vater Joachim Calvör, Pfarrer an St. Andreas, über die Liberei:
=== Niedergang ===
==== Bausubstanz ====
In den Jahrzehnten nach der Alßhausenschen Schenkung von 1579 wurden die Nachrichten über die Liberei allmählich spärlicher. Meist ging es nun um Streitigkeiten zwischen den Nachkommen Gerwins von Hameln und dem Rat der Neustadt sowie den Alterleuten der Andreaskirche, wer für den Unterhalt des Gebäudes sowie für Pflege und Sicherung des Bibliotheksbestandes aufzukommen habe.
Zum Universalerben und Testamentsvollstrecker hatte Gerwin von Hameln seinen Neffen Gerwin Wittekop († 1510) eingesetzt. Dieser war Großer Bürgermeister des Weichbildes Hagen, das unmittelbar östlich an die Neustadt grenzt. Einer dessen Enkel war wiederum Heinrich Wittekop († 1608), Ratsherr der Neustadt. Durch ihre besondere Stellung in der Stadt betrachteten Gerwins Nachfahren sowohl das Gebäude als auch die darin befindliche Bibliothek als ihren Familienbesitz. Dies führte über viele Jahre wiederholt zu Streitigkeiten. So wurden seitens des Neustadtrates mehrfach Versuche unternommen, die Liberei anderweitig zu nutzen: 1585 beabsichtigte der Rat, das Gebäude in zwei Lakenmacherhäuser umzuwandeln, was aber von Heinrich Wittekop verhindert werden konnte. Am 27. März 1587 beschwerte sich Wittekop schriftlich in barschem Ton, dass sowohl die Prediger der Andreaskirche, als auch Bürgermeister und Kämmerer der Neustadt „undankbar“ seien und sich „schamlos“ an der Stiftung „versündigten“. Um 1600 sollte direkt an die Liberei grenzend eine Latrine eingerichtet werden, was nach Meinung Wittekops nicht nur gegen die Bauvorschriften der Stadt verstoße, sondern die weitere Nutzung der Bibliothek aufgrund der Geruchsbelästigung unmöglich mache.Diese anhaltenden Streitigkeiten, zuletzt Ende 1602 wegen (angeblich mutwillig) zerbrochener Fensterscheiben und daraufhin eindringenden Regenwassers, eskalierten schließlich: Der Rat forderte die Familie Wittekop am 22. Dezember 1602 ultimativ auf, die entstandenen Schäden bis Ende des Jahres zu beheben. Nachdem man die Frist ohne der Aufforderung nachzukommen hatte verstreichen lassen, legte der 76-jährige Heinrich Wittekop am 4. Januar 1603 Widerspruch ein und wies gleichzeitig jede Schuld und Verpflichtung zurück. Daraufhin wurde der Familie Wittekop schließlich das Patronatsrecht an der Liberei entzogen. In der Folgezeit scheint die Liberei sogar einige Jahre geschlossen gewesen zu sein. Nach Wittekops Tod versuchten dessen Nachkommen nochmals 1609 Ansprüche geltend zu machen, wurden dann aber endgültig abgewiesen. Da sich infolge der Streitigkeiten niemand für den Unterhalt von Bauwerk und Bibliothek verantwortlich fühlte, wurde die Liberei allmählich derart baufällig, dass sie schließlich um das Jahr 1700 an den Rat der Neustadt fiel.
1753 wurden die Restbestände der Bibliothek ausgeräumt. Anschließend diente das Bauwerk zunächst als Waschhaus, später als Pfarrwitwenhaus. Erst 1862 wurde es durch Stadtbaumeister Carl Tappe restauriert. Danach richtete die Andreaskirche dort ihre Registratur ein. Um 1941 diente das Gebäude nur noch als Aufbewahrungsort für Gartengeräte.
==== Bestandsverluste ====
Die Schenkung Gerwins von Hameln war gleichzeitig Höhe-, aber auch Wendepunkt der Bedeutung der Liberei. Schon bald nach dem Tode Gerwins begann ihr allmählicher Niedergang. Obwohl man sich in Braunschweig der Bedeutung der Bibliothek in Gelehrtenkreisen auch außerhalb der Stadtgrenzen bewusst war, wurden Pflege und Schutz von Gebäude und Sammlung versäumt. Auch führte gerade die Bekanntheit des Buchbestandes dazu, dass es über Jahrzehnte hinweg zu schleichenden Verlusten durch Diebstähle kam, da die Bücher weiterhin öffentlich zugänglich waren. So stahlen andere Büchersammler Werke für ihre eigenen Bibliotheken, oder es wurden Bände entwendet, weil das darin enthaltene Papier bzw. Pergament weiter verwendet werden konnte.Wie groß der Gesamtbestand an Handschriften war, ist unbekannt, da etliche Werke bereits zu Lebzeiten Embers und seiner Nachfolger verloren gingen, während gleichzeitig Neuerwerbungen hinzukamen. Herbst nennt „etwa 400 Bände, davon einen großen Teil in Folioformat“. Nach dem Tode Johann Embers verwaltete zunächst dessen Nachfolger Quirre den Nachlass Embers, auch war er für die Betreuung der Bibliothek zuständig. Aus Quirres Zeit (1423–1463) ist zur Geschichte der Liberei fast nichts überliefert. Er scheint auch der Letzte gewesen zu sein, der, wie seine Amtsvorgänger, eine Kautionsurkunde bei der Übernahme unterzeichnen musste. Von Ember übernahm er einen Bestand von 52 Bänden. Die Bestandsliste, die Quirre unterzeichnete, stellt heute das jüngste Bibliotheksverzeichnis dar. Das Original ist als „Sunte Andreases Bok“ erhalten. Der Vergleich der Inventare zu Embers Zeiten und der Liste, die Quirre bei seinem Amtsantritt Anfang 1424 aufstellte, macht deutlich, dass bereits zu diesem Zeitpunkt Werke fehlten. Zudem sind Quirres Angaben oft ungenau oder sogar falsch. Häufig fehlen z. B. beigebundene Werke.Gerwin von Hameln hatte seinen Nachkommen 1496 testamentarisch ein Sonderrecht eingeräumt: Sie hatten das alleinige Recht, Bände auszuleihen. Ein Recht, das bis dahin lediglich ein Mal eingeräumt worden war, nämlich für Johann Ember, der sich dieses Recht als Stifter ausbedungen hatte.
Im Jahre 1753 erließ Herzog Karl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel eine Verordnung, wonach sämtliche Kirchenbibliotheken der Stadt Braunschweig aufzulösen seien, um ihre Bestände in die Bibliothek des Geistlichen Ministeriums bei der Brüdernkirche zusammenzuführen. Damit löste Karl I. die Liberei faktisch auf.
=== Erhaltene Restbestände der Liberei ===
Da es keine verlässigen Zahlen zum Gesamt-, geschweige denn Restbestand der Liberei gibt, kann heute fast nur der verbliebene Bestand an Bänden Gerwins von Hameln untersucht werden. Nach heutigem Forschungsstand sind von den 336 Bänden Gerwins aus dem Jahre 1495 noch 137 (41 %) erhalten. Sie befinden sich zu größeren Teilen in der Stadtbibliothek Braunschweig sowie der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Geringere Bestände sind in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart, der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe und in der Anhaltischen Landesbücherei in Dessau-Roßlau.Bände aus der Sammlung Gerwins von Hameln lassen sich aufgrund individueller Merkmale eindeutig zuordnen. So ist der Schnitt beschriftet, und alle sind mit dem Familienwappen gekennzeichnet, „… das auf blauem Grunde einen halben nach links ansteigenden weißen Steinbock mit roter Zunge, roten Hörnern und Hufen zeigt. Daneben steht allemal von seiner Hand: Orate pro Gherwino de Hamelen d[on]atore. [Betet für Gerwin von Hameln, den Schenker.]“. Das Wappen befindet sich jeweils auf der ersten Seite, gelegentlich auch auf dem Vorsatz oder dem Titelblatt. Darüber hinaus finden sich in vielen Bänden Randbemerkungen von Gerwin, wie „perlegi“ („gelesen“) oder „perlegi totum librum“ („das ganze Buch gelesen“).
=== Kriegsschäden und Restaurierung ===
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Braunschweiger Innenstadt, zu der auch die Neustadt gehört, durch die zahlreichen Luftangriffe der Royal Air Force und der United States Army Air Forces großflächig zerstört. Die Liberei wurde insbesondere durch die Bombardements vom 10. und 15. Februar 1944 schwer beschädigt. Das Bauwerk brannte aus, die Gewölbe stürzten ein, das Satteldach brannte ab, beide Giebel wurden schwer beschädigt, wobei Teile des Südgiebels auf die Kröppelstraße stürzten.
Angesichts der schweren Gebäudeschäden machten Denkmalschützer kurz nach Kriegsende den Vorschlag, lediglich den Nordgiebel zu belassen und den schwer in Mitleidenschaft gezogenen Südgiebel sowie die ebenfalls beschädigten Seitenwände unter Verwendung anderer Materialien wiederherzustellen. Dieser Vorschlag wurde jedoch aufgrund der historischen Bedeutung des Gebäudes nicht umgesetzt. 1947 gelang es zunächst, den Bestand des Bauwerks zu sichern. Das äußere Erscheinungsbild der einstigen Bibliothek konnte aber erst 1963/64 in vereinfachter Form wiederhergestellt werden. Erst zu diesem Zeitpunkt waren Ziegeleien technisch wieder in der Lage, die Formsteine herzustellen und zu glasieren. Die Innenraumrestaurierung konnte dank privater Spenden, aber auch öffentlicher Geldmittel, 1984/85 vorgenommen werden, wobei auch wieder eine Außentreppe – diesmal aus Stahl – an der Nordseite errichtet wurde, um in das Innere gelangen zu können.In den Jahren darauf wurde die Liberei gelegentlich von Jugendgruppen oder für Sitzungen des Kirchenvorstands genutzt. Auch Kunstaktionen und kleinere Feiern fanden in den Räumlichkeiten statt. Die ursprünglich geplante Einrichtung eines Steinmuseums konnte wegen Geldmangels bisher nicht umgesetzt werden.
== Literatur ==
Elmar Arnhold: Liberei. In: Mittelalterliche Metropole Braunschweig. Architektur und Stadtbaukunst vom 11. bis 15. Jahrhundert. Appelhans Verlag, Braunschweig 2018, ISBN 978-3-944939-36-0, S. 196–197.
Reinhard Dorn: Mittelalterliche Kirchen in Braunschweig. Verlag CW Niemeyer, Hameln 1978, ISBN 3-87585-043-2.
Hermann Dürre: Geschichte der Stadt Braunschweig im Mittelalter. Braunschweig 1861. (Digitalisat)
Anette Haucap-Naß: Der Braunschweiger Stadtschreiber Gerwin von Hameln und seine Bibliothek. (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. Band 8). Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1995, ISBN 3-447-03754-7.
Hermann Herbst: Die Bibliothek der Andreaskirche zu Braunschweig. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen. Jg. 58, Heft 9/10, Sept./Okt. 1941, S. 301–338 (online).
Jürgen Hodemacher: Braunschweigs Straßen – ihre Namen und ihre Geschichten. Band 1: Innenstadt. Cremlingen 1995, ISBN 3-927060-11-9.
Wolfgang Kimpflinger: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Baudenkmale in Niedersachsen. Band 1.1: Stadt Braunschweig. Teil 1, Verlag CW Niemeyer, Hameln 1993, ISBN 3-87585-252-4.
Paul Lehmann: Gerwin van Hameln und die Andreasbibliothek in Braunschweig. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen. Jg. 52, 1935, S. 565–586.
Paul Jonas Meier, Karl Steinacker: Die Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Braunschweig. 2., erweiterte Auflage. Braunschweig 1926.
Heinrich Nentwig: Das ältere Buchwesen in Braunschweig. Beitrag zur Geschichte der Stadtbibliothek. Nach archivalischen Quellen und anderen Urkunden. (XXV. Beiheft zum Centralblatt für Bibliothekswesen). Otto Harrassowitz, Leipzig 1901, S. 19–38. (Digitalisat)
Brigide Schwarz: Hannoveraner in Braunschweig. Die Karrieren von Johann Ember († 1423) und Hermann Pentel († nach 1463). In: Horst-Rüdiger Jarck (Hrsg.): Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte. Band 80, Selbstverlag des Braunschweigischen Geschichtsvereins, Braunschweig 1999, ISSN 1437-2959, S. 9–54 (Digitalisat)
Werner Spieß: Geschichte der Stadt Braunschweig im Nachmittelalter. Vom Ausgang des Mittelalters bis zum Ende der Stadtfreiheit 1491–1671. 2. Band, Braunschweig 1966.
== Weblinks ==
DNB 1009001299
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Liberei
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Lily-Mottle-Virus
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= Lily-Mottle-Virus =
Das Lily-Mottle-Virus (LMoV oder LiMV), selten als Lilienscheckungsvirus bezeichnet, ist ein Pflanzenvirus der Virusfamilie Potyviridae, das bei Pflanzen aus der Familie der Liliengewächse (Liliaceae) zu symptomlosen bis milden Erkrankungen einzelner Pflanzenteile führt. Eine häufig vorkommende gleichzeitige Infektion mit anderen Pflanzenviren, die alleine nur milde oder keine Erkrankungen hervorrufen, kann jedoch ein Absterben der gesamten Pflanze verursachen. Diese Koinfektion führt zu erheblichen Ernteschäden beim Lilienanbau und ist daher von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Das Lily-Mottle-Virus wird durch Blattläuse und bei der vegetativen Vermehrung durch Spaltung der Lilienzwiebel im Gartenbau verbreitet.
Das LMoV galt als synonyme Bezeichnung eines bei Lilien auftretenden Subtyps des Tulip-breaking-Virus (TBV), das jedoch seit 2005 als nahe verwandte, aber eigenständige Virusart der Gattung Potyvirus eingestuft wird.
== Entdeckung ==
Die Symptome der von LMoV verursachten Pflanzenkrankheit waren bereits im 19. Jahrhundert bekannt. Erst 1944 gelang es P. Brierley und F. F. Smith, durch Infektionsexperimente an mehreren Tulpen- und Lilienarten eine Koinfektion mit zwei Viren als Ursache nachzuweisen. Bei mehreren in den USA angebauten Lilienarten (Lilium auratum, L. speciosum, L. longiflorum), die streifige Aufhellungen (Chlorosen) oder einzelne nekrotische Flecken auf den Blättern aufwiesen, konnten sie das Lily-symptomless-Virus (LSV, Ordnung Tymovirales: Betaflexiviridae: Carlavirus) nachweisen, das stets mit dem Gurkenmosaikvirus oder dem Lily-Mottle-Virus gleichzeitig vorlag.
Sie konnten auch zeigen, dass alle drei Viren durch Blattläuse der Art Aphis gossypii übertragen werden.
== Virusaufbau ==
=== Morphologie ===
Virusteilchen (Virionen) des Lily-Mottle-Virus bestehen aus einem fadenförmigen Kapsid mit helikaler Symmetrie, in das eine einzelsträngige RNA als Genom verpackt ist; eine Virushülle ist nicht vorhanden. Das Kapsid ist 13 nm dick und etwa 740 nm lang. Die Länge des Kapsids nimmt bei Anwesenheit zweiwertiger Kationen (besonders Calcium-Ionen) in der Präparation zu und nach deren Bindung durch Zugabe von EDTA ab. Die einzelnen Kapsomere, aus denen das Kapsid zusammengesetzt ist, benötigen für eine Helixwindung eine Ganghöhe von 3,4 nm. Diese Ganghöhe ist im Vergleich zu Viren mit starren Stäbchen und vergleichbarem Aufbau (z. B. dem Tabakmosaikvirus) relativ groß und ermöglicht die Flexibilität und Biegungsfähigkeit der LMoV-Kapside. Für eine Windung werden 7,7 Kapsomere benötigt, so dass das ganze Kapsid aus etwa 1700 Kapsomeren zusammengesetzt ist. Die einzelnen Kapsomere bestehen aus nur einem Molekül des LMoV-Kapsidproteins (CP, coat/capsid protein) mit einer Länge von 274 Aminosäuren (33 kDa). Das CP ist mehrfach so gefaltet, dass N- und C-Terminus nach außen zeigen. Diese äußeren Enden des Kapsidproteins sind sehr variabel. Der vorragende N-Terminus bestimmt überwiegend die spezifische Anheftung an die Wirtszelle und ermöglicht die serologische Unterscheidung verschiedener Virusisolate. Die innerhalb der verschiedenen Mitglieder der Potyviridae sehr konservierten Abschnitte in der Mitte des CP (216 Aminosäuren) zeigen im Kapsid nach innen und wechselwirken mit der viralen RNA.Die Virionen sind gegenüber Ethanol stabil und verlieren im Pflanzensaft erst nach 10 Minuten bei 65–70 °C ihre Infektiosität. Das LMoV hat eine Dichte von 1,31 g/ml in der Dichtegradientenzentrifugation (Cäsiumchlorid) und eine Sedimentationsgeschwindigkeit von 137 bis 160 S.
=== Genom ===
Als Genom besitzt das LMoV eine lineare, einzelsträngige RNA mit positiver Polarität [(+)ssRNA] und einer Länge von 9644 Nukleotiden. Ein virales Protein (VPg) ist kovalent an das 5'-Ende der RNA gebunden. Wie bei zellulären messenger-RNAs befindet sich am 3'-Ende des Virusgenoms ein Poly(A)-Schwanz von 20 bis 160 Adenosinen. Zwischen den beiden nicht codierenden Enden (NCR: non-coding region) liegt ein Offener Leserahmen (ORF), der für ein 3095 Aminosäuren großes Polyprotein codiert. Dieses Polyprotein wird durch Proteasen schon während der Translation in die einzelnen Virusproteine gespalten.
In der 5'-NCR von Potyviren wurde eine IRES-Struktur vermutet, da die Translation ohne eine 5'-Cap-Struktur eingeleitet wird. Weder besitzt das LMoV eine Cap-Struktur, noch konnte aus Sequenzdaten eine IRES bestätigt werden. Das an die 5'-NCR gebundene VPg-Protein dient möglicherweise als Primer für die RNA-Polymerase zur Vervielfältigung der RNA. Das VPg anderer Potyviren interagiert aber zusätzlich direkt mit den Translations-Initiationsfaktoren eIF4E und eIFiso4E. Dies könnte einen bisher nicht näher charakterisierten, Cap- und IRES-unabhängigen Translationsweg darstellen.
=== Virusproteine und Replikation ===
Das Virus gelangt nach der Infektion über die Leitbündel in die Pflanze und wird von den Zellen durch Membranbläschen (Endozytose) aufgenommen. Im Zytoplasma zerfällt das Kapsid und die RNA wird freigesetzt. Die virale RNA kann zusätzlich sehr effektiv über infizierte Nachbarzellen durch Zellkontaktstellen (Plasmodesmen) in die Zelle gelangen. Dieser direkte Transport nackter, infektiöser RNA wird durch mehrere Virusproteine gesteuert, unter anderem dem sogenannten HC (helper component), die einen sogenannten Movement Complex bilden. Wie bei allen (+)ssRNA-Viren wird die aufgenommene RNA zuerst an den Ribosomen in Protein translatiert, da für die Vermehrung der RNA mindestens eine Kopie der viralen RNA-abhängigen RNA-Polymerase benötigt wird. Nachdem diese mehrere Kopien der viralen RNA synthetisiert hat, werden die LMoV-Proteine in großen Mengen produziert. Diese ballen sich an den Syntheseorten des Viroplasmas zu morphologisch sichtbaren Einschlusskörperchen (inclusion bodies) zusammen. Diese Einschlusskörperchen haben bei der Infektion mit LMoV im Zytoplasma eine charakteristische, zylindrische bis spiralartige Form; jenes Virusprotein, das überwiegend diese Zylinder bildet, wird daher auch als CI (cylindrical inclusion) bezeichnet. Im Zellkern bilden sich amorphe Einschlusskörper, die aus zwei Virusproteinen NIa und NIb (nuclear inclusions) bestehen. Da bei der Translation der RNA die Virusproteine immer im gleichen Verhältnis gebildet und größere Mengen des Kapsidproteins im Vergleich zu anderen Proteinen benötigt werden, bilden diese nicht in vielen Kopien benötigten Proteine Einschlusskörperchen, werden abgebaut oder aus der Zelle ausgeschieden.
Das Polyprotein des LMoV wird durch virale Proteasen in acht einzelne Proteine gespalten. Am N-Terminus spaltet sich die virale Protease 1 (P1) selbst vom Polyprotein ab. Als nächstes folgt das HC-Protein, das für die Übertragung durch Blattläuse von Bedeutung ist; der Mechanismus ist jedoch ungeklärt. Das HC besitzt am C-Terminus eine Papain-ähnliche Proteindomäne, mit der sich das HC ebenfalls selbstständig vom Polyprotein abspaltet. Alle weiteren Proteine werden durch die NIa-Protease abgespalten. Es folgt eine weitere Protease (P3) mit noch ungeklärter Funktion und das CI, von dem (möglicherweise zur Aktivierung) ein kleines Peptid 6K1 abgespalten wird. Das CI ist bei der RNA-Replikation als Helikase aktiv. Das VPg bildet zusammen mit einer Protease-Komponente das NIa. Das NIb ist die virale RNA-Polymerase, von der das virale Kapsidprotein CP abgespalten wird. Sind genügend virale (+)ssRNA und CP gebildet worden, kann die Verpackung in das Kapsid erfolgen und reife Viren in den Pflanzensaft durch Exozytose abgegeben werden. Die viel effektivere Infektion der nackten RNA von Zelle zu Zelle erklärt das Auftreten von sich fleckförmig ausbreitenden Läsionen der Blätter.
== Systematik ==
Die Gattung Potyvirus ist mit derzeit 168 Virusspezies die größte Gruppe aller Pflanzenviren. Diese Vielzahl an Potyviren erschwert die Unterscheidung und Abgrenzung einzelner Arten oder Subtypen, dies gilt besonders für das Lily-Mottle-Virus und das Tulip-breaking-Virus (TBV), die lange Zeit als Synonyme einer einzigen Art betrachtet wurden. Das LMoV galt als der bei Lilien verbreitete Subtyp des TBV (TBV-Subtyp Lily). Erschwert wurde diese Unterscheidung noch dadurch, dass die echte Spezies TBV ebenfalls bei Lilien Erkrankungen hervorrufen kann. Mit immer mehr Vergleichssequenzen des Genoms verschiedener Virusisolate konnten bislang falsche Zuordnungen nachgewiesen werden. Bei einer Untersuchung an 187 vollständigen Genomsequenzen und 1220 Teilsequenzen für das Kapsidprotein von Potyviren wurden mehrere Untergruppen innerhalb der Gattung festgestellt und die Kriterien für die Speziesgrenzen auch für das LMoV und TBV neu festgelegt. Demnach gilt eine Übereinstimmung in der Nukleotidsequenz zwischen zwei vollständigen Genomen von mehr als 76 % als Speziesgrenze (entspricht 82 % Übereinstimmung in der Aminosäuresequenz). Der das Kapsidprotein CP codierende Teil der Nukleotidsequenz zeigte eine Speziesgrenze bei 76–77 %. Am besten erschien die Sequenz des CI-Proteins zur Unterscheidung geeignet. Mehrere Sequenzen von Potyviren (einschließlich TBV und LMoV), die in der internationalen Genbank GenBank veröffentlicht waren, mussten daraufhin anderen Spezies zugeordnet werden.
Die vom „International Committee on Taxonomy of Viruses“ festgelegte Taxonomie und seit 2005 gültige Zuordnung der Subtypen des LMoV bezieht bisher als TBV klassifizierte Subtypen mit ein:
Familie PotyviridaeGattung PotyvirusSpezies Lily-Mottle-Virus (en. Lily mottle virus, LMoV)Subtyp Lily-Mild-Mottle-Virus
Subtyp Lily-Mottle-Virus
Subtyp Tulip-band-breaking-VirusSpezies Tulip-breaking-Virus (en. Tulip breaking potyvirus, offiziell Tulip breaking virus, TBV)Subtyp Mild tulip breaking virus (MTBV)
Subtyp Severe tulip breaking virus (STBV)
== Infektion und Erkrankung durch LMoV ==
Etwa zwei Wochen nach der Infektion mit LMoV zeigt sich eine hellgrüne Scheckung (engl. mottle) an jungen Blättern. Die Aufhellung kann auch streifig entlang der Blattnervatur auftreten. Im Verlauf weniger Tage wird das Blatt an den hellen Flecken dünner und die Pflanzenzellen können bei einer schweren Verlaufsform in diesen Bereichen absterben; die unregelmäßig begrenzten Flecken erscheinen nun dunkelbraun und ausgetrocknet. Alle neuen Triebe und Blüten, die nach einer Infektion austreiben, sind verkleinert und oft deformiert.
Diese Ausprägung der Erkrankungssymptome ist bei verschiedenen Lilienarten und -hybriden jedoch sehr unterschiedlich. Selbst die Erkrankung identischer Spezies in einem einzelnen Anbaugebiet verläuft unterschiedlich schwer. Dieses Phänomen kann durch den Einfluss der Wachstumsphase zum Infektionszeitpunkt, der Eintrittstelle und der Infektionsdosis des Virus erklärt werden. Bei der Oster-Lilie (L. longiflorum) entwickelt sich regelmäßig keine Erkrankung, obwohl sich das Virus in der Pflanze vermehrt. Bei der Tiger-Lilie (L. lancifolium) tritt nur eine sehr leichte hellgrüne Scheckung auf. Auch können bei einigen LMoV-Infektionen nur ein geringeres Längenwachstum und verkleinerte Blüten und Zwiebeln festgestellt werden. Die wirtschaftlich wichtige Art L. formosanum erkrankt immer nach einer LMoV-Infektion, dies gilt auch für die auf Taiwan vorkommenden Wildsorten. Eine erhöhte Virusresistenz besitzt nur die besonders ausgelesene Sorte Lilium formosanum „Little Snow White“. Sehr empfänglich für das LMoV und weiterer bei Lilien vorkommenden Pflanzenviren ist die 1941 von Jan de Graaff gezüchtete Hybride „Enchantment“ und aller von ihr abgeleiteten Züchtungen wie beispielsweise das in Asien weit verbreitete Kultivar Lilium Asia. Hybrid cv. Enchantment.Die alleinige Infektion mit dem LMoV führt nie zum Absterben der gesamten Pflanze, sondern bleibt lokal auf einige Pflanzenteile begrenzt. Besonders häufig ist jedoch eine Koinfektion des LMoV mit dem Lily-symptomless-Virus, das alleine keine Erkrankungssymptome, sondern nur einen verminderten Pflanzenwuchs hervorruft. Wird eine Pflanze von beiden Viren infiziert, so verläuft die Erkrankung erheblich schwerer und schneller. Nach den anfänglichen typischen Symptomen einer ausgeprägten LMoV-Infektion kommt es zum Befall größerer Leitbündel wie dem gesamten Phloem, was schließlich die gesamte Pflanze absterben lässt. Eine doppeltinfizierte Lilienzwiebel kann bereits in der Lagerhaltung schwer geschädigt werden, die Austriebsfähigkeit verlieren und absterben.
== Übertragung und Verbreitung ==
=== Übertragung ===
Das Lily-Mottle-Virus wird während des Saugaktes von Röhrenblattläusen (Aphididae) übertragen. Die Blattläuse nehmen das in hoher Konzentration im Pflanzensaft vorkommende Virus während des Saugaktes auf und können mit einer Verzögerung von wenigen Stunden weitere Pflanzen infizieren. Das Virus kann sich in der Blattlaus selbst nicht vermehren. Nach Aufnahme des Pflanzensaftes in den Mitteldarm der Blattlaus wird das Virus im Blutkreislauf verteilt und gelangt in den Speichel des Saugapparates; beim nächsten Saugakt kann nun eine neue Pflanze infiziert werden. Jene Blattlausarten, die überwiegend das LMoV übertragen, sind Aphis gossypii, Myzus persicae, Macrosiphum euphorbiae und Doralis fabae. Gelagerte Zwiebeln können auch durch Anuraphis (Yezabura) tulipae mit dem Virus infiziert werden. Geflügelte Exemplare der Blattlauspopulation ermöglichen eine Übertragung über große Distanzen.
Beim Anbau der Pflanzen wird das Virus beim Schneiden und Verletzen der Pflanzen mit kontaminierten Messern und Scheren übertragen. Experimentell wird dieser Infektionsweg durch gezieltes Anritzen der Pflanzen genutzt. Die Spaltung der Lilien-Zwiebeln bei einer vegetativen Vermehrung verbreitet das Virus auf alle Tochterpflanzen. Gleiches gilt bei einer vegetativen Vermehrung durch Stecklinge in Gewebekulturen, die im industriellen Gartenbau sehr verbreitet ist. Das Virus wird nicht durch Samen verbreitet; keimt eine neue Pflanze aus dem Samen einer LMoV-infizierten Pflanze, so ist diese nicht infiziert.
=== Verbreitung ===
Die natürliche geographische Verbreitung des Virus ist nicht bekannt, da bei seiner Entdeckung in den USA 1944 bereits eine anthropogene Verbreitung durch weltweiten Blumen- und Zwiebelhandel vorlag. Durch die Aufzucht von Lilien in großen Gewächshäusern und Feldern als Monokultur wird die Übertragung gegenüber dem natürlichen Vorkommen der Wildpflanzen besonders begünstigt. Das Virus ist weltweit verbreitet und in Ländern mit bedeutendem Lilienanbau endemisch. Dies betrifft neben den Vereinigten Staaten auch die Niederlande, Polen, Nord- und Südkorea, Japan, Taiwan, China und Israel.
Das Lily-Mild-Mottle-Virus als Subtyp des LMoV, wurde bei einer Untersuchung von 185 Lilienproben aus südkoreanischen Kulturen in 26,3 % aller Pflanzen nachgewiesen, eine Koinfektion von LMoV und dem Tomato-Ringspot-Virus wurde in weiteren 23,2 % beobachtet.In den Niederlanden konnte mehrfach in allen Pflanzen einzelner Lilienfelder des Kultivars „Enchantment“ das LMoV nachgewiesen werden. Häufig bestand zusätzlich eine Infektion mit dem Lily-symptomless-Virus. In den so betroffenen Plantagen wird vermehrt eine Nekrose des Stammes und der Blätter beobachtet, der meist das Absterben der Pflanze folgt. Sind alle Lilien einer Plantage nur mit dem LMoV infiziert, hat dies meist nicht einen Ausfall der gesamten Blumenernte zur Folge; verkleinerte Blüten oder Pflanzen mit Minderwuchs werden dann zu geringeren Preisen angeboten.
Bei allen etwa 340 in größerem Umfang angebauten Lilien-Kultivaren konnte das LMoV nachgewiesen werden. Die unerkannte Verbreitung durch weltweiten Transport ist besonders durch jene Lilienarten gegeben, die keine oder nur geringe Infektionssymptome aufweisen, aber das Virus vermehren können wie beispielsweise die Oster-Lilie und Tiger-Lilie. Das Virus besitzt ein größeres Wirtsspektrum als durch frühere Untersuchungen angenommen wurde. So konnte in der Winterendivie (C. endivia L. var. latifolium Lam.) ebenfalls das LMoV nachgewiesen werden.
== Infektionsverhütung ==
Die Verbreitung des LMoV wird in der industriellen Produktion vorwiegend durch eine Bekämpfung der Blattläuse als Überträger verhindert. Überwiegend im Juni und Juli, weniger im Mai und August wird das Virus durch die sich ausbreitende Blattlaus-Populationen übertragen. Eine wöchentliche Bekämpfung der Insekten ab Mai und zweiwöchentlich im August und September wird im industriellen Maßstab durchgeführt. Die Lilien werden am häufigsten mit Paraffinöl oder Pyrethroiden als Aerosole behandelt.
Für die Infektionsverhütung ist die Vermeidung einer Weiterverbreitung durch Saatzwiebeln und weltweiten Pflanzenhandel bedeutsam. Jene Lilienarten, bei denen keine oder nur milde Symptome auftreten, sind in besonderer Weise eine Quelle für Infektionsausbrüche, da die Infektion hier unerkannt bleibt. Oft wird aus diesem Grund eine gleichzeitige Anzucht resistenter und empfänglicher Liliensorten vermieden, da sich das Virus in den resistenten Sorten unbemerkt ausbreiten kann ohne Krankheitssymptome zu entwickeln. Diese bilden ein ständiges Reservoir für die Infektion der empfänglichen Sorten. Bei einer Monokultur empfänglicher Sorten können befallene Pflanzen aussortiert und damit die Ausbreitung des Virus in einem gewissen Maß kontrolliert werden. Da das Virus nicht wie andere Mitglieder der Gattung Potyvirus durch Samen übertragen wird, kann eine Kultur durch aufwändigere, erneute Aufzucht aus Samen von einer Infektion mit dem LMoV befreit werden.
Der Transport und Handel mit Pflanzenteilen wie Blüten, Stecklinge oder Zwiebeln aus Anbaugebieten, in denen das LMoV nachgewiesen wurde, unterliegt in vielen Ländern einer gesetzlichen Beschränkung oder einem Einfuhrverbot. Insbesondere die zur Vermehrung und Aufzucht gehandelten Pflanzenteile müssen seit 1998 in Deutschland gemäß einer Umsetzung mehrerer EU-Richtlinien auf LMoV getestet sein.
Zum Nachweis des LMoV finden immunologische Tests auf LMoV-Virusproteine (ELISA) und selten der Nachweis des Virusgenoms durch PCR Anwendung. Sowohl die Blätter („leaf test“) als auch die geernteten Zwiebeln („bulb test“) werden als Testprobe zur Diagnostik verwendet. Neuere Verfahren zum gleichzeitigen Nachweis mehrerer Pflanzenviren aus einer Probe durch DNA-Hybridisierung (Makroarray) werden derzeit erprobt.
== Quellen ==
=== Literatur ===
Gerhart Drews, Günter Adam, Cornelia Heinze: Molekulare Pflanzenvirologie. Berlin 2004; ISBN 3-540-00661-3
Sondra D. Lazarowitz: Plant Viruses. In: David M. Knipe, Peter M. Howley (Red.): Fields’ Virology. 5. Auflage. 2 Bände, Philadelphia 2007, S. 641–705; ISBN 0-7817-6060-7
Kenneth M. Smith: A Textbook of Plant Virus Diseases. 3. Auflage. Edinburgh 1972
P. H. Berger et al.: Family Potyviridae. In: C. M. Fauquet, M. A. Mayo et al.: Eighth Report of the International Committee on Taxonomy of Viruses. London, San Diego 2005, S. 819–841; ISBN 0-12-249951-4
Juan José López-Moya, Juan Antonio García: Potyviruses. In: Allan Granoff, Robert G. Webster (Hrsg.): Encyclopedia of Virology. Band 3, Academic Press, San Diego 1999, S. 1369–1375; ISBN 0-12-227030-4
=== Einzelnachweise ===
== Weblinks ==
Virionen des TBV mit gleicher Morphologie wie das LMoV (TEM-Aufnahme)
Einschlusskörperchen im Zytoplasma (TEM)
Lily mottle virus in der Datenbank des ICTV
Lily mottle virus in der Taxonomie-Datenbank des NCBI
Genom- und Polyproteinsequenz des LMoV (NC 005288)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lily-Mottle-Virus
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Linzer Lokalbahn
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= Linzer Lokalbahn =
Die Linzer Lokalbahn (LILO) ist eine 1912 eröffnete regelspurige, eingleisige Lokalbahn in Oberösterreich. Sie führt von der Landeshauptstadt Linz über die Bezirksstadt Eferding nach Neumarkt im Hausruckkreis. In Niederspaching zweigt eine Stichstrecke nach Peuerbach ab. Der seit 1908 bestehende, eigenständige Streckenteil Neumarkt – Waizenkirchen – Peuerbach wurde 1998 der Linzer Lokalbahn angegliedert. Mit einem modernen Fahrzeugpark werden jährlich etwa 1,6 Millionen Fahrgäste befördert. Die Lokalbahn ist die bedeutendste der von der Betreibergesellschaft Stern & Hafferl unterhaltenen Bahnen. Sie erschließt das landwirtschaftlich und touristisch bedeutende Gebiet westlich der Stadt Linz an der Donau.
Seit 11. Dezember 2016 ist die Linzer Lokalbahn im Abschnitt Linz–Eferding als S 5 Teil der S-Bahn Oberösterreich.
== Geschichte ==
=== Anfänge ===
Eines der frühesten Bahnprojekte nach Errichtung der wichtigsten Hauptstrecken in Oberösterreich hatte zum Ziel, die Regionen Eferding, Aschach, Waizenkirchen und Peuerbach mit der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz zu verbinden. Bereits Anfang der 1880er Jahre gab es Bestrebungen, eine solche Lokalbahn zu bauen. Nach Eröffnung der Westbahn folgten rasch weitere Planungen für von Wels ausgehende Lokalbahnen. Die Strecke Wels – Haiding – Aschach an der Donau wurde bereits am 20. August 1886 fertiggestellt. Die Betriebsführung dieser Bahn oblag der Firma Stern & Hafferl aus Gmunden. Diese Lokalbahn zweigte von der Staatsbahn nach Passau bei der Station Haiding ab und verband das fruchtbare Eferdinger Becken und den Aschachwinkel mit dem österreichischen Staatsbahnnetz und der Stadt Wels.Wegen dieser bereits vorhandenen Lokalbahn und Unstimmigkeiten zwischen Wels und Linz konnte das Projekt jahrelang nicht verwirklicht werden. Deshalb wurde ein Aktionskomitee unter dem Vorsitz des kaiserlichen Rats Mathias Poche gebildet. 24 weitere namhafte Persönlichkeiten, darunter auch der Linzer Bürgermeister und der Landeshauptmann-Stellvertreter, gehörten dem Komitee an, das sich zur Aufgabe stellte, eine Bahnverbindung zwischen der Landeshauptstadt Linz und Eferding herzustellen. Als Option wurde eine Verlängerung der Bahn nach Waizenkirchen und eventuell bis Neumarkt im Hausruckkreis mit einer Abzweigung nach Peuerbach ins Auge gefasst.
Nach vehementem Widerstand der Stadt Wels legte das Aktionskomitee einen Alternativplan vor, der eine von der Station Eferding abzweigende Lokalbahn über Haiding (bei Aschach) nach Aschach an der Donau in die eine Richtung und über Waizenkirchen nach Peuerbach in die andere Richtung vorsah – dagegen gab es keine Einwände. Am 6. und 7. Juli 1900 tagte das Trassenrevision- und Stations-Comitee über dieses Projekt, und, obwohl die Vertreter der Städte Wels und Linz dem Projekt zustimmten, scheiterte die Verwirklichung am Veto der Welser Lokalbahngesellschaft. Vertreter von Waizenkirchen fassten daraufhin den Plan, eine von Eferding unabhängige Bahnverbindung zwischen Waizenkirchen und Neumarkt-Kallham entlang der Staatsbahnlinie Wels–Passau mit einer Abzweigung nach Peuerbach zu bauen. Zur Projektausarbeitung wurde wiederum ein eigenes Komitee ins Leben gerufen. Da es gegen dieses Projekt keinerlei Einwände gab, erteilten die Behörden am 13. Oktober 1907 eine Konzession für den „Bau einer mit elektrischer Kraft zu betreibenden normalspurigen Lokalbahn, von der Staatsbahnstation Neumarkt-Kallham nach Waizenkirchen, mit einer Abzweigung nach Peuerbach“.
=== Lokalbahn Neumarkt–Waizenkirchen–Peuerbach ===
Diese Konzession führte noch im selben Jahr zur Gründung der Neumarkt–Waizenkirchen–Peuerbach AG. Der Bau der Bahn begann ein Jahr später im Mai 1908. Die Projektierung und Bauleitung führte die Firma Stern & Hafferl aus, die in Waizenkirchen, Peuerbach und Niederspaching Stationsgebäude errichten ließ. In Niederspaching und Peuerbach wurde jeweils eine Fahrzeugremise errichtet. Die Stromversorgung wurde durch ein in Niederspaching errichtetes Umformerwerk gesichert. Die gesamte elektrische Ausrüstung dieser Lokalbahn lieferte die AEG-Union. Alle für die Betriebsaufnahme gebauten Fahrzeuge stammten von der Grazer Waggonfabrik. Nach mehreren Monaten Bauzeit konnte die Bahn am 18. Dezember 1908 eröffnet werden.1919 war eine Fortsetzung der Strecke von Peuerbach nach Neukirchen am Walde sowie nach Engelhartszell geplant. Hr. Fuchsing aus Schärding gründete ein Aktionskomitee, um diesen Ausbau zu verwirklichen. Am 24. Februar 1927 fand eine Versammlung mit etwa 300 Teilnehmern statt. Da die für den Ausbau erforderlichen Geldmittel nicht aufgebracht werden konnten, wurde dieses Projekt nicht realisiert.
=== Lokalbahn Linz–Eferding–Waizenkirchen ===
1907 tagte das Aktionskomitee, das für den Bau des eigentlichen Lokalbahnprojektes ins Leben gerufen worden war, erneut. Ingenieur Josef Stern erreichte dabei, dass statt des ursprünglich geplanten Dampfbetriebs die Strecke elektrisch betrieben werden sollte, und erklärte sich bereit, hierüber ein Detailprojekt auf eigenes Risiko und eigene Kosten auszuarbeiten. Dieses Projekt erhielt nach einer Überprüfung der k.k. Staatsbahn-Direktion Linz ein Baukapital von 3,5 Mio. Kronen (knapp 9,5 Mio. Euro). Die Vorschläge von Josef Stern wurden bei einer Sitzung am 4. Mai 1909 angenommen und ein Finanzierungsplan mit dem Ziel erstellt, die Bahn ohne staatliche Subventionen betreiben zu können. Darüber hinaus sollte die Finanzierung mit einer Anleihe von 1,2 Mio. Kronen, Stammaktien um 200.000 Kronen sowie Prioritätsaktien im Wert von 2,1 Mio. Kronen erfolgen. Die Stadt Linz kaufte nach dem Gemeinderatsbeschluss vom 17. November 1909 Prioritätsaktien im Wert von 1,5 Mio. Kronen. Weitere Aktien wurden von verschiedenen angrenzenden Orten und der Allgemeinen Sparkasse Linz erworben. Der Landtag unterstützte die Bahn mit dem Kauf von Stammaktien im Umfang von 200.000 Kronen.
Die Firma Stern & Hafferl erklärte sich bereit, den Bau der Bahn zu übernehmen und den Betrieb zwölf Jahre lang gegen eine Zahlung von 50 Heller pro Zugkilometer zu führen. Somit waren alle Bedingungen für eine Konzessionserteilung beim k.k. Eisenbahnministerium erfüllt.
Vom 6. bis 17. Oktober sowie vom 9. bis 15. Dezember 1908 wurde eine politische Begehung durchgeführt. Zwei Jahre nach dieser Begehung ordnete das Eisenbahnministerium die Konzessionsverhandlungen an.
==== Bahnbau und Eröffnung ====
Nachdem am 12. Jänner 1911 die im Reichsgesetzblatt vom 25. Jänner 1911 verlautbarte Konzession zum Bau und Betrieb „der normalspurigen Lokalbahn von Linz über Eferding nach Waizenkirchen“ erteilt worden war, begann am 1. Dezember desselben Jahres der Bau der Lokalbahn.
Die Firma Stern & Hafferl gab Obligationen im Wert von 1,2 Mio. Kronen in Zahlung, neben denen auch noch einige Prioritätsaktien gekauft wurden. Die Obligationen wandelte man nach der Eröffnung der Lokalbahn in Aktien um. Das knappe Investitionskapital zwang die Bauleitung unter Ingenieur Josef Stern, den Bau so sparsam wie möglich durchzuführen. Deshalb wurde der Ausgangspunkt der Lokalbahn in Linz, die Lokalbahnstation, auf Pachtgrund der Staatsbahn errichtet. Es entstand ein Kopfbahnhof mit zwei Bahnsteiggleisen und einem Nebengleis. Diese als Provisorium gedachte Anlage hielt sich bemerkenswerterweise bis 2005. Nach der polizeitechnischen Überprüfung am 22. Dezember 1911 konnte das erste Teilstück Linz – Eferding am 21. März 1912 in Betrieb genommen werden. Eine offizielle feierliche Einweihung gab es nicht. Weitere Bahnhöfe wurden in Alkoven, Eferding, Prambachkirchen und Waizenkirchen errichtet. An 15 Haltestellen entstanden zudem hölzerne Wartehäuschen.
Umformerwerke in Dörnbach, Eferding und Waizenkirchen sicherten die Versorgung der Bahn mit Gleichstrom mit einer Spannung von 750 V. Eine Remise mit Werkstätte für Wartungen und Reparaturen an den Triebfahrzeugen entstand in Eferding. Auf der gesamten Strecke wurden Vignolschienen auf Holzschwellen verlegt und Holzmasten zum Tragen der Oberleitung aufgestellt. Die gesamte elektrische Ausrüstung stammte von den Siemens-Schuckertwerken in Wien. Die Strecke war ursprünglich für eine Achslast von maximal 11 Tonnen und einer Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h ausgelegt.Der weiterführende Bau des Teilstücks Eferding – Waizenkirchen kam nicht ganz reibungslos voran. Ein verregneter Sommer und schwieriges Terrain bescherten viele Probleme. Trotz dieser Schwierigkeiten konnte das Teilstück termingerecht fertiggestellt werden. Die behördliche Überprüfung fand am 10. Dezember 1912 statt.
Die Linzer Tages-Post blickte in einer Ausgabe vom 13. Dezember 1912 auf den Bau zurück und berichtete über die Fertigstellung:
[…]Am 9. und 10. des Monats hat die polizeitechnische Prüfung der Lokalbahnstrecke Eferding Waizenkirchen stattgefunden und ein vollständig befriedigendes Resultat ergeben, sodass nun trotz aller Hindernisse, die durch ungünstige Witterung und das schwierige Bauterrain herbeigeführt wurden, dank der Energie der Bauunternehmung Stern & Hafferl die Bahnstrecke Linz – Eferding – Waizenkirchen rechtzeitig fertig gestellt erscheint. Die Eröffnung der Bahn findet am Montag den 16. des Monats mit den ab Waizenkirchen um 6 Uhr 7 Min. früh nach Linz und von Linz um 7 Uhr 18 Min. früh nach Waizenkirchen abgehenden Zügen statt, was wir hiermit unter Hinweis auf den gleichzeitig veröffentlichten Fahrplan zur allgemeinen Kenntnis bringen.[…]
==== Betrieb in den Anfangsjahren ====
Für den Betrieb der Bahn wurden vier Motorwagen, vier Beiwagen, vier Arbeitswagen, 16 Güterwagen und eine Elektrolokomotive bei der Grazer Waggonfabrik in Auftrag gegeben. Nach der Fertigstellung des zweiten Teilstücks wurde die Lokalbahn Linz – Eferding – Waizenkirchen am 16. Dezember 1912 feierlich eröffnet. Am 1. Jänner 1913 übernahm Stern & Hafferl die Betriebsführung einschließlich der Stromlieferung. Die Betriebsleitung befand sich in Eferding.Eine Fahrt von Linz nach Waizenkirchen dauerte 1912 zirka 130 Minuten. 1912 wurde eine umfangreiche Übersicht aufgestellt, die über die Tarife von Personen- und Güterfahrten aller Art Auskunft gab. Demnach kostete eine einfache Fahrt von Linz nach Eferding 1,50 Kronen, bis Waizenkirchen 2,50 Kronen (beides in der 3. Klasse). Für die 2. Klasse musste man den doppelten Preis bezahlen. Eine Hin- und Rückfahrt kostete das Doppelte einer einfachen Fahrt. Beim Güterverkehr gab es zahlreiche verschiedene Frachtklassen. Der Transport einer Wagenladung Holz oder Steine nach Eferding kostete 32 Kronen. Im ersten vollen Betriebsjahr 1913 wurden 202.445 Personen und 11.825 Tonnen Güter transportiert, was als wirtschaftlicher Erfolg betrachtet wurde.
=== Kriegsjahre, Krise und Aufschwung ===
Der Erste Weltkrieg brachte zunächst keinen Rückgang der Beförderungszahlen, die Fahrzeuge wurden allerdings durch den desolaten Zustand der Gleisanlagen und des Unterbaus sehr in Mitleidenschaft gezogen. Die vorherrschende schlechte Versorgungslage ließ Reparaturen in größerem Umfang nicht zu. Die Lokalbahn führte in dieser Zeit zahlreiche Sonderfahrten durch, bei denen die Stadtbewohner nach Eferding reisten, um dort Lebensmittel zu erwerben. Auch einige Schäden durch Kriegshandlungen erlitt die Bahn.
Das Ende des Kriegs brachte eine drastische Verschlechterung der Wirtschaftslage mit sich. Ein Großteil der Einnahmen blieb aus. Gleise und Oberleitung waren durch Kriegseinwirkungen teilweise beschädigt, zwei von vier Motorwagen defekt und vier Güterwaggons konnten nicht eingesetzt werden, da wichtige Ersatzteile nicht lieferbar waren. Deshalb wurden die täglich verkehrenden Zugpaare zwischen Eferding und Waizenkirchen eingeschränkt, nur die Verbindung Linz – Eferding war von dieser Maßnahme nicht betroffen. Wegen des desolaten Zustands der Anlagen dauerte eine Fahrt von Linz nach Eferding 72 Minuten. Sogar 1912 waren die Reisezeiten kürzer gewesen. Neben den schwierigen geologischen Verhältnissen hatte die Bahn auch noch mit dem schlechten Oberbau zu kämpfen. Deshalb wurden 1936 verschiedene Verbesserungen durchgeführt, was eine Erhöhung des zulässigen Achsdrucks auf 12,5 Tonnen möglich machte.1919 wurde ein weiterer Motorwagen bei der Grazer Waggonfabrik bestellt, baugleich mit den ursprünglichen Fahrzeugen der Strecke Linz – Eferding – Waizenkirchen, obwohl sich deren hölzerne Konstruktion bisher nicht bewährt hatte. Dieses Fahrzeug wurde als 23.001 in den Bestand eingereiht. Außerdem wurden zwei Personenwagen nachbestellt, die als Cl 4 und Cl 5 bezeichnet wurden. Alle drei Fahrzeuge kosteten, bedingt durch die Inflation, insgesamt vier Millionen Kronen.
1926 wurde die Remise in Eferding verlängert, um den erweiterten Fuhrpark unterbringen zu können. In den 1930er-Jahren führte eine starke Zunahme des Güterverkehrs zu einem Mangel an leistungsfähigen Lokomotiven. Die Zugkraft der vorhandenen Lok 1 reichte nicht mehr aus. Aus diesem Grund wurde 1935 die vierachsige Lokomotive Wöllsdorf III gekauft, die ab 1937 auf der Strecke Linz – Eferding – Waizenkirchen als EL 51.01 zum Einsatz kam. Ab 1933 konnte die Fahrzeit zwischen Linz und Eferding wieder schrittweise verkürzt werden, sie betrug vor 1945 66 Minuten. Ab 1936 konnten erstmals wieder mehr Zugpaare in Verkehr gesetzt werden.1935 gab es ein Preisausschreiben der Stadt Linz für die Umgestaltung des Lokalbahnhofs. Die aus dieser Aktion gewonnenen Ideen wurden, wie viele weitere Projekte, nie verwirklicht. 1937 feierte man das 25-jährige Jubiläum. Im Jahr 1939 wurde die Lokalbahn Linz–Eferding–Waizenkirchen AG in Linzer Lokalbahn AG umbenannt.Zu Beginn der 1940er-Jahre kam es durch kriegsvorbereitende Aktivitäten zu einem sprunghaften Anstieg der Beförderungszahlen sowohl im Güter- als auch im Personenverkehr. Der Mangel an Triebfahrzeugen führte sogar zu Überlegungen, Dampflokomotiven anzumieten. Alle Bemühungen zur Beschaffung neuer Fahrzeuge schlugen fehl. 1939 konnten von der Deutschen Reichsbahn lediglich, 50 Jahre alte, ehemalige Wiener Stadtbahnwagen übernommen werden. Zerbrochene Fenster durften aus kriegswirtschaftlichen Gründen nicht repariert, sondern nur durch Sperrholz ersetzt werden. Neben den Personenwagen konnten schließlich auch Elektrolokomotiven erworben werden. Drei Jahre später kamen noch zwei Triebwagen und zwei Personenwagen hinzu. Diese Fahrzeuge besaßen allerdings eine andere Kupplung als die ursprünglichen Fahrzeuge, weshalb sie vorerst nur allein eingesetzt werden konnten. Stern & Hafferl kaufte 1940 eine weitere vierachsige Lok, Wöllsdorf IV, die als EL 51.02 in den Bestand aufgenommen wurde. Ab 21. April 1943 wurde das heute noch gültige Stern & Hafferl-Nummernschema auch auf der Linzer Lokalbahn eingeführt.1944 ereignete sich in Eferding ein Remisenbrand, dem eine der erst kürzlich erworbenen Loks, zwei Triebwagen und ein Personenwagen zum Opfer fielen. Da vor dem Brand nur drei E-Loks und fünf Triebwagen vorhanden waren, bedeutete dies einen empfindlichen Verlust für die Bahn. Nach diesem Vorfall wurde eine komplett neue Remise errichtet. Als vorübergehende Notlösung mussten von der Hohenfurther Lokalbahn in Südböhmen die beiden Triebwagen ET 184.02 und ET 184.04 sowie die zwei Beiwagen EB 184.06 und 16 angemietet werden. Diese Fahrzeuge besaßen allerdings eine Mittelpufferkupplung, weshalb sie mit den anderen Triebfahrzeugen ebenfalls nicht kompatibel waren. 1951 wurden die angemieteten Fahrzeuge schließlich gekauft.Die Bombenangriffe auf Linz im Zweiten Weltkrieg zogen auch die Lokalbahn schwer in Mitleidenschaft. Oft wurden Gleise und Fahrleitungen beschädigt. Die Schäden konnten wegen der herrschenden Materialknappheit nur provisorisch behoben werden. Bei Fliegeralarm wurden vom Bahnhof Eferding sofort alle Fahrzeuge abgezogen und auf der freien Strecke unter Baumreihen abgestellt, die Triebfahrzeuge waren aufgrund ihres braunen Anstrichs gut getarnt. Im Jänner 1945 begann die Deutsche Reichsbahn mit dem Bau einer Bunkeranlage und einer dazugehörigen Feldbahn. Diese Anlagen wurden nach dem Krieg wieder abgebaut. Der Krieg stellte enorme Anforderungen an die Lokalbahn. Die Transportkapazitäten reichten nicht aus und die rapide Fahrgastzunahme konnte nicht bewältigt werden. Außerdem mangelte es an Personal, weshalb Frauen nicht nur als Schaffnerinnen, sondern auch als Triebfahrzeugführerinnen eingesetzt wurden. Die vom Verkehrsministerium angeordneten Verdunklungsmaßnahmen erschwerten den Betrieb zusätzlich. Alle Fenster der Motorwagen mussten bestmöglich verdunkelt werden. Zu diesen Problemen kam ein Mangel an Triebfahrzeugen, ein zu schwacher Oberbau und eine unzureichende Stromversorgung. 1944 wurde ein bis heute geltender Rekord aufgestellt – die Lokalbahn beförderte in diesem Jahr 2.790.593 Fahrgäste. Anfang 1945 war auf der Strecke zwischen Linz und Untergaumberg wegen Bombenschäden kein Betrieb möglich, der Betrieb musste vorerst eingestellt werden.
=== Nach dem Zweiten Weltkrieg ===
Die US-amerikanischen Truppen besetzten die Betriebsleitung in Eferding und auf dem Bahnhof wurde ein provisorisches Kriegsgefangenenlager eingerichtet. Deshalb war auch dieser Bereich nicht befahrbar und es musste ein Notfahrplan eingerichtet werden, der erst nach der Wiederinstandsetzung des Abschnitts Linz – Untergaumberg geringfügig erweitert werden konnte. Mitte Mai 1945 durften wieder Personenzüge verkehren, allerdings, wie die nach Bedarf eingesetzten Güterzüge, nur mit militärischer Begleitung. Wie nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einem rapiden Anstieg der Reisezeiten.Nach dem Krieg nutzte die Linzer Bevölkerung die Lokalbahn für die sogenannten „Hamsterfahrten“ um sich in den Gemeinden im Eferdinger Landl mit Nahrungsmitteln einzudecken.
Von 1946 bis 1952 wurde in der Werkstätte Eferding ein Reparaturprogramm für das vorhandene Rollmaterial durchgeführt. Die Motorwagen erhielten statt ihres hölzernen Wagenkastens einen neuen aus Blech. Ab 1952 verfügten alle Personentriebwagen über eine pneumatische Sicherheitsfahrschaltung, wodurch auf einen Beimann verzichtet werden konnte. Durch den teilweisen Einmannbetrieb sanken die Betriebskosten erheblich. Nach der Reparatur der Fahrzeuge und Bahnanlagen konnte die Reisezeit auf der gesamten Strecke wieder deutlich verkürzt werden. Verstärkt verkehrten Eilzüge, die grundsätzlich nicht mehr an allen Haltestellen hielten, aber durch ein Haltewunschsystem wieder an Attraktivität verloren und schließlich eingestellt wurden. Erstmals kam es auch zu Fahrten mit lokbespannten Personenzügen.In den 1950er-Jahren wurden auch an der Strecke zahlreiche Verbesserungen vorgenommen. In kleinen Schritten wurde der gesamte Oberbau erneuert. Durch den Einbau von neuen Schienen und Weichen mit stärkerem Schienenprofil konnte die Achslast auf 20 Tonnen und die Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h erhöht werden. Außerdem wurden stärkere Holzschwellen eingebaut und das Schotterbett erneuert. Die hölzernen Wartehäuschen ersetzte man durch Neubauten aus Beton und Glas.Neben diesen Verbesserungen erwarben die Betreiber auch neue Fahrzeuge. Die Linzer Lokalbahn AG bestellte bei der Simmering-Graz-Pauker AG sechs vierachsige Personenwagen und zwei neue Triebwagen, die als ET 22.106 und 107 in den Bestand aufgenommen wurden. Die elektrische Ausrüstung lieferte die ELIN AG. Die Jungfernfahrt dieser Fahrzeuge fand am 22. März 1951 statt, das Linzer Volksblatt berichtete darüber:
„In Anwesenheit von Ing. Stern […] fand gestern nachmittags die Eröffnungsfahrt der neuen dreiteiligen Triebwagengarnitur auf der Strecke Linz — Eferding — Waizenkirchen statt. […] Dass es sich dabei um eine gute Wertarbeit handelte, konnten alle Teilnehmer der Eröffnungsfahrt übereinstimmend feststellen. […] Durch vier 120 PS Motoren angetrieben wird mit einer Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h eine 80-prozentige Fahrplanverbesserung erzielt.“ Wegen Vermurungen entgleiste am 11. Mai 1954 der Personenzug 6922, ET 22.103 wurde dabei leicht beschädigt. Am 4. August desselben Jahres kam es zu einer Entgleisung des Personenzugs 6929. Das Triebfahrzeug ET 22.103 überstand auch diesen Unfall ohne größere Schäden. Die 3. Klasse wurde in Österreich am 1. August 1956 abgeschafft, die Klassenbezeichnungen wurden entweder auf 2. Klasse umgeändert oder weggelassen. Im selben Jahr lieferte SGP Graz eine in Auftrag gegebene Güterzuglok ab, die die Maschine E 20.006 ersetzte. Die Lok wurde mit der Bezeichnung 20.007 versehen.
In den 1960er-Jahren waren mehrere Neuanschaffungen geplant, die jedoch mangels erforderlicher finanzieller Mittel nicht zu realisieren waren. Hingegen konnten in den 1970er-Jahren von der Köln-Frechen-Benzelrather Eisenbahn sieben Triebwagengarnituren angekauft werden, die nach einer Hauptuntersuchung als ET 22.130–136 und ES 22.230–236 bezeichnet wurden. Die Werkstätte in Eferding und die Voest Alpine arbeiteten die Garnituren auf. Zum 60-jährigen Jubiläum der Bahn wurden die ersten beiden Fahrzeuge der Öffentlichkeit präsentiert. Diese Fahrzeuge stellten fortan die Flaggschiffe der LILO dar, denn sie waren weitaus moderner ausgestattet als die anderen Triebwagen (automatisch schließende Türen, Haltewunschtaste und Scharfenbergkupplung). Da die Motorwagen aus den 1950er-Jahren immer noch unverzichtbar waren und gemeinsam mit den neuen Garnituren im Mischbetrieb eingesetzt wurden, verkürzten sich die Reisezeiten nicht.In den 1970er-Jahren ereigneten sich mehrere schwere Unfälle, so auch der schwerste Unfall in der Geschichte der Bahn am 13. Oktober 1974 infolge eines Schienenbruchs bei Kilometer 26,3 in der Nähe von Eferding. Der Triebwagen 21.151 wurde dabei so schwer beschädigt, dass das Fahrzeug als irreparabel ausgemustert werden musste.
1971 wurde ein Rekord mit 219.282 Tonnen beförderten Gütern aufgestellt, da die Bahn beim Bau des Donaukraftwerks Ottensheim-Wilhering zum Einsatz kam. Am 1. Dezember 1973 wurde die Florianerbahn, die ebenfalls von Stern & Hafferl betrieben wurde, eingestellt. Im Juli 1977 sorgte ein Werbegag der Lufthansa für Aufsehen, in dem berittene Indianer einen Zug der LILO in der Nähe von Kirchberg-Thürnau „überfielen“. 1978 wurde das Grundkapital der Linzer Lokalbahn AG auf 4,75 Mio. Schilling (etwa 354.200 Euro) erhöht.
Am 17. Mai 1980 fand auf der Linzer Lokalbahn eine vielbeachtete Sonderfahrt mit dem Gläsernen Zug, gezogen von der Stern & Hafferl-Lok E 22.001. 1975 konnte die Reisedauer zwischen Linz und Neumarkt auf 92 Minuten gesenkt werden. Im selben Jahr wurde eine Waschanlage für die Fahrzeuge errichtet.
1987 feierte die Linzer Lokalbahn AG das 75-jährige Bestehen der Bahn mit einem großen Fest. Zu Beginn des Jubiläumsjahres konnten gebrauchte Triebwagengarnituren von der Köln-Bonner Eisenbahnen (Original-Nummern: ET 53, 55, 59, 60) übernommen werden. ET 59 und 60 trafen am 25. Februar, ET 53 und 55 am 29. März im Bahnhof Eferding ein. Alle Fahrzeuge wurden generalüberholt und den geltenden Sicherheitsstandards angepasst. Die Fahrzeuge wurden als ET 22.141 bis 144 in den Bestand der LILO aufgenommen. Beim Festprogramm 75 Jahre Linzer Lokalbahn zählten diese neuen Triebwagen am 11. und 12. September 1987 zu den Hauptattraktionen.
Durch diese Maßnahme konnten alle alten Garnituren ersetzt werden, wodurch sich die Fahrzeiten abermals verkürzten. Außerdem erübrigten sich die bei den Motorwagen notwendigen Rangierarbeiten. Die Lokalbahn Neumarkt – Waizenkirchen – Peuerbach fusionierte am 1. Jänner 1998 handelsrechtlich mit der Linzer Lokalbahn.
Immer wieder gab es Überlegungen, die LILO in den Linzer Hauptbahnhof einzubinden. Noch im Jubiläumsjahr 1987 erklärte Karl Zwirchmayr, der damalige Betriebsleiter der Linzer Lokalbahn, in seiner Ansprache: „… wegen der enormen Kosten lässt sich derzeit keine Verwirklichung dieses Projekts absehen …“. 18 Jahre später konnte es schließlich doch realisiert werden: Seit 18. November 2005 hat die LILO ihren Endbahnhof nicht mehr im alten Bahnhofsprovisorium in der Coulinstraße, sondern fährt direkt am Nahverkehrsgleis des Linzer Hauptbahnhofs ein. Der 24 Mio. Euro teure Umbau des Linzer Hauptbahnhofs zum zentralen Umsteigepunkt erforderte einen um zehn Meter in Richtung Bahnhofspark verschobenen Neubau des Bahnhofsgebäudes, um Raum für die Gleise der Lokalbahn zu schaffen. Die neuen Bahnsteige wurden mit Aufzügen und Rolltreppen versehen und barrierefrei ausgebaut. Der alte Lokalbahnhof wurde am 8. November des Jahres 2005 verabschiedet, wobei Sonderfahrten mit dem ET 22.105 und eine Versteigerung des Bahnhofsinventars durchgeführt wurden. Am 18. November desselben Jahres fand die feierliche Eröffnung der Einbindung in den Linzer Hauptbahnhof statt.Mit der Eröffnung des neuen Ausgangspunktes in Linz ging eine deutliche Verbesserung für die Fahrgäste der Linzer Lokalbahn einher. So bestehen seither bequeme Umsteigemöglichkeiten zur ÖBB, der Straßenbahn Linz, dem Oberleitungsbus Linz und den städtischen Omnibus-Linien. Die Dynamische Fahrgastinformation (Zugzielanzeiger) am Bahnsteig und in den Fußgängertunnels verbesserte die Orientierung für die Fahrgäste.Voraussetzung für die Einbindung der Linzer Lokalbahn in den Linzer Hauptbahnhof waren neue Zweisystemfahrzeuge, die ihre Betriebsspannung von 750 V Gleichstrom umschalten können auf 15 Kilovolt Wechselstrom für ÖBB-Stecken um den Hauptbahnhof. Zwischen Linz und Eferding, Linz und Peuerbach sowie Waizenkirchen und Neumarkt wurde 2005 gleichzeitig teilweise ein Taktfahrplan eingeführt. Seit 2005 ist die Strecke für eine Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h und 20 t Achslast ausgelegt. In den Jahren 2006 und 2007 wurden weitere Maßnahmen für Barrierefreiheit umgesetzt.
Mit der Errichtung des Straßenbahntunnels unter dem Hauptbahnhof Linz um 2015 erfolgte ein kurzwegiger, regengeschützter Umsteige-Anschluss auch der LiLo.
== Betrieb in der Gegenwart ==
Die Linzer Lokalbahn AG ist eine Aktiengesellschaft nach österreichischem Recht mit einem eingetragenen Grundkapital von 690.391 €. Die Anteile befinden sich zu 54,3 % im Besitz der Stadt Linz. Einen weiteren Hauptanteil von 35,3 % hält die Stern & Hafferl Verkehrs-GmbH, der auch die Betriebsführung obliegt. Ein Anteil in Höhe von 2,6 % gehört der Stadt Eferding; jeweils 1,0 % halten die Städte Leonding und Peuerbach. Die restlichen Anteile verteilen sich auf mehrere Anrainergemeinden (5,0 %) oder befinden sich in Streubesitz (1,0 %).Die Linzer Lokalbahn beförderte im Jahr 2005 über 1,6 Mio. Fahrgäste. Gefahren wird teilweise im Taktfahrplan. Seit der Änderung des Zugfahrplans in Österreich ab 15. Dezember 2013 besteht außerdem die Möglichkeit, von Linz nach Neumarkt-Kallham ohne Umsteigen zu fahren. Zuvor war dies nicht möglich, in Waizenkirchen oder Niederspaching mussten die Fahrgäste in einen anderen Zug wechseln. Der Zugverkehr selbst wird über ein Global Positioning System mit Zugbeeinflussung abgewickelt.
Die Kreuzungsvereinbarungen erfolgen seit 1987 über Funk. Die für die planmäßigen Zugkreuzungen notwendigen Weichen sind als Rückfallweichen ausgeführt und verfügen über eine Weichenheizung. Man erkennt sie an einem blauen Lichtsignal, das leuchtet, wenn die Weiche sich in der Grundstellung befindet. Bis auf die Weichen im Bahnhof Eferding, die mittels Seilzug von einem Stellwerk der Bauart 5007 fernbedient werden können, müssen sie händisch gestellt werden. Sämtliche Weichen von Anschlussbahnen sind in Abhängigkeit eines Sperrschuhs schlüsseltechnisch gesichert.
An 44 Haltestellen wird gehalten, bei 37 davon allerdings nur auf Verlangen durch Handzeichen auf dem Bahnsteig oder Fahrgastmeldung im Zug.
Unfälle reduzierten sich auf wenige umweltbedingte Entgleisungen, bei denen die Fahrzeuge aber nie schwer beschädigt wurden. Zusammenstöße mit Straßenfahrzeugen kommen häufiger vor, hauptsächlich an den nur durch Stopptafeln gesicherten Bahnübergängen.Im Dezember 2022 wurde Detlef Wimmer vom Aufsichtsrat zum Vorstand der Linzer Lokalbahn AG ab Februar 2023 gewählt.
== Ausbildung ==
Um Triebwagen- oder Lokführer bei der Linzer Lokalbahn werden zu können, durchlaufen Bewerber grundsätzlich eine Ausbildung im eigenen Haus, unabhängig von einem bereits vorher erlernten oder ausgeübten Beruf. Diese Ausbildung dauert etwa acht Monate und hat folgenden Inhalt: Signal- und Fahrdienstvorschrift, Grundlagen der Elektrotechnik, elektrischer und mechanischer Aufbau der Fahrzeuge, Bremssystem, Bahnstromversorgung und Sicherheitseinrichtungen. Danach folgt der praktische Teil aus Reparaturen an den Triebfahrzeugen (Werkstätte in Eferding oder der Hauptwerkstätte in Vorchdorf) und Ausbildungsfahrten. Danach werden neue Mitarbeiter etwa ein Jahr lang als Schaffner und Zugführer eingesetzt und auf die ÖBB-Prüfung geschult und vorbereitet. Nach erfolgreich abgelegter ÖBB-Triebfahrzeugführer-Prüfung dürfen die Mitarbeiter bis in den Bahnhof Linz fahren.
== Fuhrpark ==
Seit 2001 wird die Strecke von Niederflurtriebwagen vom Typ Stadler-GTW befahren, welche die 1970 von der Kölner Verkehrs-Betrieben und 1987 von den Köln-Bonner Eisenbahnen übernommenen Fahrzeuge ersetzen. Die GTW wurden als ET 22.151–164 in den Fahrzeugpark eingereiht. Alle Fahrzeuge besitzen zusätzlich eine Ausrüstung für eine 15 kV 16,7 Hz-Anlage, sind klimatisiert, barrierefrei ausgerüstet und verfügen über 126 Sitz- und 108 Stehplätze. Die Triebwagen besitzen luftgefederte Laufdrehgestelle und automatisch schließende Türen. Zudem ist eine Vielfachsteuerung von bis zu drei Einheiten möglich. Stern & Hafferl installierte zusätzlich in jedem Triebfahrzeug Haltewunschtasten.Zwischen Peuerbach bzw. Niederspaching und Neumarkt-Kallham wird unter der Woche von Betriebsbeginn bis Mittag entweder der ET 22.106 oder ET 22.107 aus dem Jahr 1951 eingesetzt.
Die LILO verfügt derzeit über vier Elektrolokomotiven und 18 Elektrische Triebwagen auf ihrer Strecke. Zwei weitere ehemalige LILO-Triebwagen wurden nach Vorchdorf verliehen. Drei historische Fahrzeuge blieben als Nostalgiefahrzeuge erhalten. Die Lokomotive 1 „Liesel“ wird heute noch teilweise für Rangierarbeiten verwendet. Die Stadler-GTW stellen die Paradefahrzeuge der Linzer Lokalbahn dar.
Die Reparatur und Wartung der Fahrzeuge besorgt die Betriebswerkstätte in Eferding. Größere Schäden werden in der Hauptwerkstätte von Stern & Hafferl in Vorchdorf behoben. Die Lokalbahn verfügt über vier Remisen, in denen die Fahrzeuge abgestellt werden. Von den einstigen Paradefahrzeugen der Bahn, den Kölner Garnituren, ist nur mehr 22.137 vorhanden, der als Arbeitswagen verwendet wird, vier weitere Wagen sind noch als Reserve im Bestand; alle anderen „Kölner“ wurden in Lambach verschrottet.
1 Ab 1943 wurde das Fahrzeug als ET 22.105 bezeichnet. Die Umstationierung des Triebwagens zur Haager Lies im Jahre 1985 führte zur Umbenennung in ET 25.105 und Einsatz auf der Haager Lies. 1995 wurde das Fahrzeug an die Marizeller Museumstramway abgegeben, wo es in den Originalzustand zurückversetzt wurde. Im Jahre 2000 kam der Triebwagen im Austausch gegen ET 22.101 wieder zur Linzer Lokalbahn zurück. Das Fahrzeug trägt heute die Nummer 22.105 und befindet sich im Nostalgiebestand der LILO.2 ET 22.137 wurde zu einem Arbeitswagen umgebaut, das Fahrzeug verfügt über einen Schmierstromabnehmer. Der rot/elfenbein lackierte ET 22.109 ist mit einer Werbung einer Bäckerei beklebt.
Neben den Triebwagen, Lokomotiven und Beiwagen verfügt die Linzer Lokalbahn nur über wenige Güterwagen, die für den Gütertransport eingesetzt werden. Die meisten ihrer Güterwagen wurden entweder verschrottet oder zu Arbeitswagen umfunktioniert, die für Instandhaltungsarbeiten eingesetzt werden.
=== Nummerierung und Beschriftung ===
Das Nummernschema hat, wie bei allen Fahrzeugen von Stern & Hafferl üblich, fünfstellige Zahlen. Dabei geben die erste und die zweite Stelle den Eigentümer an: 21 stand für die Lokalbahn Neumarkt – Waizenkirchen – Peuerbach und 22 für die Lokalbahn Linz – Eferding – Waizenkirchen. Seit der Fusionierung zur LILO ist nur mehr der Eigentumsvermerk 22 üblich. Die darauf folgenden drei Ziffern (dritte bis fünfte Stelle) geben die Fahrzeugbauart und die Ordnungsnummer an (siehe Stern & Hafferl-Nummerierungsschema)
Vor der Betriebsnummer steht noch ein Buchstabe, der über das Fahrzeug Auskunft gibt. E steht beispielsweise für eine E-Lok, ET für einen Elektrotriebwagen, P für einen Personenwagen und G für einen Güterwaggon. Bahnwagen werden mit X bezeichnet.
Alle Fahrzeuge waren ursprünglich mit dem vollen Namen der Strecke, auf der sie eingesetzt wurden, beschriftet: – Lokalbahn Neumarkt–Waizenkirchen–Peuerbach AG oder Lokalbahn Linz–Eferding–Waizenkirchen. Diese Aufschriften hatten alle Fahrzeuge des ursprünglichen Bestands, sie waren in goldenen Lettern aus Messing an den Triebfahrzeugen angebracht. Im Jubiläumsjahr 1937 wurde diese lange Beschriftung von der Abkürzung der Streckennamen abgelöst (LEW oder NWP). 1939 wurde diese Beschriftung durch Schilder mit der Aufschrift Linzer Lokalbahn AG ersetzt. Diese Aufschrift wurde oft mit LLB abgekürzt. Diese Abkürzung wurde später durch die heute noch übliche Aufschrift <LILO> ersetzt.
Die ursprünglichen Triebwagen hatten eine braune Lackierung, die Lokomotiven wurden dunkelgrün lackiert. Dieser grüne Anstrich wurde bei allen Loks außer Nr. 1 1975 durch eine rote Lackierung ersetzt. Die heute noch in Originallackierung vorhandene Lok 1 repräsentiert damit den ursprünglichen Zustand der Triebfahrzeuge. Die modernen Triebwagen erhielten das heute noch für Fahrzeuge von Stern & Hafferl typische Farbkleid weiß/verkehrsrot.
=== Ursprünglicher Fahrzeugpark ===
Aus Kostengründen wählte man preisgünstige zweiachsige Triebfahrzeuge. Für die beiden Strecken wurden sie bei der Grazer Waggonfabrik und bei Siemens-Schuckert Wien in Auftrag gegeben.
Die für die Strecke Linz – Eferding – Waizenkirchen gelieferten Motorwagen hatten einen Holzaufbau. Sie verfügten über 16 Plätze in der zweiten Klasse und über 39 Plätze in der 3. Klasse, wobei die Sitzplätze der 2. Klasse gepolstert waren, jene der 3. Klasse verfügten lediglich über Lattenrostbänke. Jedes Fahrzeug besaß zwölf Fenster mit aufklappbaren Oberlichten. Die Plattformen waren nicht verglast, das Fahrpersonal war somit der Witterung ausgesetzt. Die Motorwagen besaßen einen Schleifringfahrschalter, eine Vakuumbremse und eine Handspindelbremse. Eine Tretglocke, eine Dachglocke und ein Signalhorn dienten als Sicherungseinrichtungen. Die Motorwagen wurden als 22.000 bis 22.003 eingereiht, sie erhielten später die Nummern 22.101 bis 22.104.Auch die Lokomotiven besaßen einen hölzernen Wagenkasten und die elektrische Ausrüstung entsprach prinzipiell der der Motorwagen. Bei der bis heute erhalten gebliebenen Lok (Spitzname Liesel) ist dies noch ersichtlich. Die Lok befindet sich heute im Nostalgiebestand der Linzer Lokalbahn.Die vier Personenwagen mit einem Gewicht von jeweils nur 6,2 Tonnen hatten ebenfalls einen hölzernen Wagenkasten und verfügten über 38 Sitzplätze der 3. Klasse. Jeder Wagen hatte acht Fenster mit aufklappbaren Oberlichten.
Für die Strecke Neumarkt – Waizenkirchen – Peuerbach wurden 1908 ebenfalls zweiachsige Motorwagen angeschafft. Diese drei Fahrzeuge wurden als 21.001 bis 003 eingereiht. Die Fahrzeuge waren mit einem Lyrastromabnehmer ausgerüstet. Die elektrische Ausrüstung war der der Fahrzeuge der LEW sehr ähnlich. Außerdem wurden auch einige Güterwaggons angeschafft (siehe Tabelle).
== Strecke ==
=== Trassenführung ===
Die Strecke ist 58,5 km lang und überwindet einen Höhenunterschied von 127 Metern. Die LILO hat insgesamt 44 Haltestellen, es gibt 252 Eisenbahnkreuzungen.Kreuzungsstellen für Zugbegegnungen befinden sich in Bergham (seit Dezember 2021, davor in Leonding), Hitzing (Dörnbach), Thürnau, Alkoven, Eferding, Prambachkirchen, Waizenkirchen, Niederspaching, Peuerbach und Neumarkt, Güteranschlussgleise in Alkoven, Eferding, Waizenkirchen und Neumarkt. Insgesamt 109 mal queren Straßen und Fahrwege schienengleich die Strecke. Rund ein Viertel dieser Bahnübergänge ist durch Lichtzeichenanlagen gesichert. Zu den Kunstbauten der Strecke gehören neben den Bahnhofsgebäuden in Leonding, Alkoven, Eferding und Peuerbach zwei Straßenunterführungen und vier Straßenüberführungen. An vier Stellen werden größere Wasserläufe mit Brücken oder Durchlässen überquert. Die bei der Eröffnung der beiden Strecken errichteten Kunstbauten sind heute noch weitgehend im Originalzustand vorhanden.
Für die Instandhaltung der Strecke sind einzelne Bahnerhaltungspartien zuständig.
=== Elektrische Ausrüstung ===
Ursprünglich wurde der Wechselstrom, der vom Traunfallkraftwerk produziert wurde, über eine 25.000 V-Leitung zum Umspannwerk in Niederspaching geleitet. Dieses Werk speiste wiederum die drei Umformerwerke mit rotierenden Umformern, die schließlich den Gleichstrom für den Betrieb lieferten. Alle drei Umformerwerke waren baugleich ausgeführt.
Die Fahrleitung bestand ursprünglich aus hartgezogenem Kupfer von 50 mm² Querschnitt. Sie war mit einer zweifachen Isolation gegen Erde versehen und wurde von insgesamt 1450 Holzmasten getragen. 1929 wurde ein Unterwerk mit Quecksilberdampf-Glasgleichrichtern mit 200 Ampere ausgestattet. 1942 erfolgte ein weiterer Austausch der Gleichrichteranlagen. Da diese nicht leistungsfähig genug waren, war es immer wieder zu Spannungsabfällen gekommen. Deshalb wurden zwischen 1968 und 1973 die Unterwerke mit Silizium-Gleichrichteranlagen zu je 1000 A ausgestattet. Den Fahrdraht tauschte man nach starker Abnutzung gegen einen neuen Rillenfahrdraht mit 80 mm² Querschnitt aus, später auch gegen Fahrdraht mit 100 mm² Querschnitt. Er besteht aus der heute üblichen Kupfer-Silber-Legierung.
Die beim Bau der Bahn aufgestellten, ungeschützten Nadelholzmasten wurden nach dem Ersten Weltkrieg durch imprägnierte ersetzt. Nach 1945 stellte man diese Masten auf Mastfüße aus Stahl, die aus Altschienen hergestellt wurden. Mittlerweile wurden diese stählernen Mastfüße durch Betonsockel ersetzt. Alle Masten besitzen heute Aluminiumrohr- und Isolierstoffausleger.
Den für den Betrieb der Lokalbahn benötigten Strom liefert die Energie AG Oberösterreich.
== Fahrplankonzept ==
Seit November 2005 verkehren die Züge der Linzer Lokalbahn zu bestimmten Tageszeiten, hauptsächlich nachmittags, im liniengebundenen Taktfahrplan. So besteht dann bei der Ankunft in Linz ein exakter 30-Minuten-Takt, in der Gegenrichtung meist ein alternierender 28-32-Minuten-Takt. Diejenigen Kreuzungen in Alkoven, die zwischen Minute 28 und 29 stattfinden, entsprechen genau der in Mitteleuropa üblichen Symmetrieminute. Je nach Beförderungsanspruch liegt der Takt werktäglich bei den Relationen Linz–Eferding zwischen 30 und 60 Minuten, Linz–Peuerbach zwischen 30 und 90 Minuten und Waizenkirchen–Neumarkt bei 120 Minuten mit kurzen Übergangszeiten zu Relationen der ÖBB in Neumarkt. Zu den Stoßzeiten (morgens in Richtung Linz, sowie um 14:00 und 17:00 Uhr in Richtung Eferding) wird ein 15-Minuten-Takt angeboten. Sinngemäß gelten die angegebenen Zeittakte auch für die umgekehrten Relationen Neumarkt–Waizenkirchen, Peuerbach–Linz und Eferding–Linz.Die Fahrzeit von Linz nach Eferding beträgt 40 Minuten, nach Peuerbach 82 Minuten und mit Umsteigen in Niederspaching Bahnhof (Gemeinde Waizenkirchen) nach Neumarkt 92 Minuten. Somit wird auf der Strecke Linz–Neumarkt eine durchschnittliche Reisegeschwindigkeit von 35 km/h erreicht. Dauerte vor der Fahrplanumstellung 2013 das Umsteigen in Waizenkirchen oder Niederspaching noch 20 Minuten, so muss seitdem keine zusätzliche Zeit einberechnet werden, da die Züge entweder gleichzeitig abfahren, oder überhaupt kein Umstieg mehr nötig ist.
Seit der Fahrplanänderung 2013 fahren die Züge der LILO immer zur 19. und 49. Minute bzw. seit 2014 immer zur 20. und 50. Minute vom Linzer Hauptbahnhof ab. Dieser Taktfahrplan wird außer in den Randzeiten immer eingehalten, am Wochenende (stündliche Fahrten) nur zur 50. Minute.
Zwischen 11:50 und 18:20 Uhr wird zwischen Linz und Peuerbach ein 30-Minuten-Takt angeboten:
Züge, die zur 20. Minute abfahren, fahren nach Peuerbach; die, die zur 50. Minute abfahren, nach Neumarkt-Kallham, wobei in Niederspaching ein Umstieg in einen Zug Richtung Peuerbach möglich ist.
REX-Züge (ehem. Abfahrt um 13:32/15:32/17:32) gibt es seit der Umstellung 2013 nicht mehr, die LILO hält wie, wenn verlangt, in allen Haltestellen.
Im Dezember 2016, beim Start der S-Bahn OÖ, wurde der Taktfahrplan dem S-Bahn-System angepasst, sodass alle S-Bahn-Linien möglichst gleichzeitig den Linzer Hauptbahnhof erreichen bzw. verlassen, um das Umsteigen zu erleichtern.
Im Jahr 2019 wurde angekündigt, dass die Aschacher Bahn mit 1. Jänner 2021 durch das Land Oberösterreich übernommen werden soll. Dabei stand eine Direktverbindung von Linz über Eferding nach Aschach im Raum, die über die LILO und die Aschacher Bahn verlaufen würde. Auch eine Betriebsführung durch Stern & Hafferl wurde überlegt. Im Jahr 2021 findet sich die Aschacher Bahn noch immer im ÖBB-Streckenverzeichnis für die Jahre 2021 und 2022.
== Wirtschaftlichkeit ==
Die Haupteinnahmequelle der Linzer Lokalbahn stellt aktuell der Personenverkehr dar. Güter werden nur mehr selten transportiert, lediglich der Transport von Zuckerrüben bringt zusätzliche Einnahmen. Weil die Bahn keine eigenen Güterwaggons mehr besitzt, werden für diese Rübenzüge jedes Jahr Wagen angemietet. Regelmäßig werden auch Sonderfahrten mit historischen Triebfahrzeugen durchgeführt. ET 22.105 kann für Sonderfahrten mit Rahmenprogramm, Fotohalten und einer Betriebsbesichtigung jederzeit angemietet werden.
Grundsätzlich werden auf der Relation Linz–Waizenkirchen noch Zugbegleiter eingesetzt, probeweise wird auch im Einmannbetrieb gefahren. Im oberen Streckenabschnitt (Waizenkirchen, Neumarkt, Peuerbach) wird regelmäßig im Einmannbetrieb gefahren.
Die LILO beschäftigt 2007 insgesamt 103 Mitarbeiter. Seit 1999 gehört die Bahn zum Linzer Verkehrsverbund (LVV) (seit 2005 Mitglied im Oberösterreichischen Verkehrsverbund (OÖVV)) und genießt dadurch einen angemessenen Kostenausgleich.Die Einnahmen von etwa 2 Millionen zahlenden Fahrgästen (Stand 2016) und 70.000 Tonnen beförderter Güter (Stand 2005) decken nicht annähernd die Betriebskosten. Die an der Strecke liegenden Gemeinden, allen voran die Städte Linz und Eferding, leisten seit Jahren erhebliche Zuschüsse zum Betrieb der LILO. Andere Anrainergemeinden kommen laut Pressemeldungen dieser Verpflichtung nicht jedes Jahr in voller Höhe nach, was sowohl zu ständigen politischen Diskussionen als auch zu Schwierigkeiten in Bezug auf notwendige Investitionen führt.
Dennoch ist der Betrieb der Bahn Jahr für Jahr dank der gewährten Subventionen gesichert.
In der Gemeinderatssitzung vom 31. März 2004 gewährte die Stadt Linz eine Subvention an die Linzer Lokalbahn AG in Höhe von 290.690 Euro jeweils für die Jahre 2004 bis 2006 für die Aufrechterhaltung des laufenden Betriebs und weiterhin einen Betrag für die Jahre 2004 bis 2007 in Höhe von 1.125.000 Euro pro Jahr für den Ankauf von sechs weiteren Triebwagen und zusätzlich die Bereitstellung von 109.310 Euro für das Jahr 2004 für die Vorfinanzierung der Fahrzeuge. In gleicher Sitzung stimmte die Stadt Linz der Weitergabe der vom Land Oberösterreich voraussichtlich gewährten Bedarfszuweisung in Höhe von 545.000 Euro je Jahr für 2007 und 2008 zu.
== Entwicklung der Fahrgastzahlen ==
Beförderte die Linzer Lokalbahn 1978 auf der Strecke Linz–Eferding–Waizenkirchen noch knapp über 1,6 Millionen Fahrgäste, sank die Beförderungszahl in den folgenden zehn Jahren kontinuierlich auf weniger als die Hälfte, hauptsächlich zurückgeführt auf einen überalterten Fahrzeugbestand und unattraktive Fahrzeiten. Erst der Einsatz komfortablerer Triebwagengarnituren der Köln-Bonner Eisenbahnen 1987 und die damit verbundene Fahrzeitverkürzung ließen die Fahrgastzahlen wieder ansteigen. Jedoch sollten weitere zwölf Jahre vergehen, bis 1998 annähernd die früheren Zahlen erreicht werden konnten. Zur Jahrtausendwende pendelte sich die Beförderungsleistung wieder auf jährlich 1,6 Millionen Fahrgäste ein. Danach stiegen die Fahrgastzahlen wieder und 2016 wurde die Zwei-Millionen-Marke durchbrochen.
== Literatur ==
Karl Zwirchmayr: 75 Jahre Linzer Lokalbahn, Linzer Lokalbahn AG, 1987.
Helmut Weis: Die Unternehmung Stern & Hafferl II. Bahn im Bild, Band 26, 1982.
Ludger Kenning: Eisenbahnhandbuch Österreich. Verlag Kenning, Nordhorn 1992, ISBN 3-927587-08-7, Seiten 77–78.
Helmut Marchetti: Stern & Hafferl – Visionen mit Tradition. GEG Werbung, Gmunden 2003, ISBN 3-9501763-0-6.
Andreas Christopher, Gunter Mackinger, Peter Wegenstein: Privatbahnen in Österreich. Motorbuch Verlag, 1997, ISBN 3-613-71052-8.
== Weblinks ==
Aktueller Fahrplan im ÖBB-Kursbuch
LILO – Linzer Lokalbahn – Offizielle Homepage
Stern & Hafferl Verkehrsgesellschaft – Linzer Lokalbahn
PDF-Datei mit den aktuellen Daten (PDF-Datei 143 kB)
Historische und aktuelle Bilder der Linzer Lokalbahn
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Linzer_Lokalbahn
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Ludwig Münchmeyer
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= Ludwig Münchmeyer =
Ludwig Johannes Herbert Martin Münchmeyer (* 2. Juni 1885 in Hoyel bei Melle; † 24. Juli 1947 in Böblingen) war ein evangelischer Pastor auf der ostfriesischen Nordseeinsel Borkum, der sich durch besonders aggressive antisemitische Hetzreden hervortat. Reichsweites Aufsehen erregte er 1926 im sogenannten Münchmeyer-Prozess, in dessen Verlauf er sich gezwungen sah, sein Amt als Pastor aufzugeben. Danach wurde er Reichsredner der NSDAP. Mit deren erstem größeren Wahlerfolg bei der Reichstagswahl 1930 zog Münchmeyer als Abgeordneter des Wahlkreises 33 (Hessen-Darmstadt) in den Reichstag ein.
== Familie, Ausbildung, erste Pfarrstellen ==
Ludwig Münchmeyer entstammte einer alten, ursprünglich niedersächsischen Pastorenfamilie, deren direkte Stammreihe mit Heinrich Münchmeyer (um 1654–1728), Lizenzbeamter (Steuerbeamter) und Bürger zu Einbeck, begann. Er wurde als Sohn des Carl Hans Wilhelm Ludwig Münchmeyer und der Henriette Friederike Adelgunde Münchmeyer, geb. Brakebusch, geboren. Sein Großvater war der Theologe August Friedrich Otto Münchmeyer. In Rinteln besuchte er das humanistische Gymnasium.
In Erlangen, Leipzig und Göttingen studierte er evangelische Theologie und legte im März 1911 seine Zweite theologische Prüfung ab. Am 17. Juni desselben Jahres wurde er ordiniert. Von 1911 bis zum Kriegsausbruch 1914 zunächst Pfarrer der evangelisch-lutherischen Seemannsseelsorge in Cardiff (Großbritannien), dann erster Auslandspfarrer der beiden deutschen Gemeinden in Cardiff und Swansea (Südwales). Im März 1915 wurde er Felddivisionsprediger. Nach dem Krieg wurde er als Lazarettpfarrer in Hannover angestellt.Er war mit Agnes Marie Margerete Maseberg, Tochter des Großkaufmanns Wilhelm Maseberg und dessen Ehefrau Marie Winkelmann, verheiratet und hatte mit ihr vier Kinder.
== Münchmeyer auf Borkum ==
1920 wurde Münchmeyer Pastor der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde auf Borkum. Dort hatte der sogenannte Bäder-Antisemitismus – die Ausgrenzung jüdischer Gäste – lange vor 1933 besonders starke Tradition. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren antisemitische Zwischenfälle zu verzeichnen. Im Borkumlied, das die Kurkapelle mit Billigung des Gemeinderates öffentlich intonierte, hieß es:
Damit setzte Borkum antisemitische Rassenhetze im Konkurrenzkampf gegen das Seebad Norderney ein, um völkisch-nationale Gäste zu gewinnen. Münchmeyer heizte die rechtsradikale und antisemitische Stimmung auf Borkum mit zahlreichen Vorträgen an. Diese trugen Titel wie „Seid unverzagt, bald der Morgen tagt“, „Gott – Freiheit – Ehre – Vaterland“ oder „Borkum, der Nordsee schönste Zier, bleib du von Juden rein“.Dabei unterstützte ihn der 1920 für antisemitische Kurgäste gegründete „Bund zur Wahrung deutscher Interessen auf Borkum“. Dieser wachte über die „Judenfreiheit auf der Insel“. In den Folgejahren trat Münchmeyer energisch für „deutsche Bezeichnungen“ auf den Speisekarten sowie „deutsche Ausdrücke“ an den Inschriften von Häusern ein und kontrollierte gelegentlich die Personalien von Borkumer Kurgästen, an deren „arischer“ Abstammung er zweifelte.1922 wies der hannoversche Oberpräsident und ehemalige Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) den Regierungspräsidenten Jann Berghaus (DDP) in Aurich mündlich an, dem „hetzerischen Treiben“ auf Borkum ein Ende zu machen. Er gab seinem „lebhaften Befremden darüber Ausdruck, dass dem Skandal auf Borkum nicht energisch entgegengetreten worden ist“. Im Wiederholungsfall drohte er die Herabsetzung der polizeilichen Sperrstunde auf 22 Uhr an. Daraufhin wurde das Borkumlied 1922/23 nicht mehr abgespielt.
1924 erneuerte der Landrat des Landkreises Emden, Walter Bubert (SPD), das Verbot. Dagegen organisierten der „Borkumpastor“ Münchmeyer und der völkische Badedirektor Hempelmann Protestkundgebungen, auf denen sie Bubert, Berghaus und Noske beschimpften und dazu aufriefen, das Spielverbot zu ignorieren. Die Protestversammlungen wurden jeweils mit demonstrativem Absingen des Borkumliedes beendet. Auf Anweisung des Badedirektors begann die Kurkapelle bald darauf, das Lied wieder zu spielen. Landrat Bubert ging dagegen mit eigens verstärkter Borkumer Lokalpolizei vor, ließ einige Musiker noch während eines Konzerts in polizeilichen Gewahrsam nehmen und beschlagnahmte deren Instrumente. Er entließ zudem den Badedirektor mit sofortiger Wirkung. Dieser klagte dagegen vor dem Amtsgericht Emden und erhielt Recht: Das Urteil bezeichnete das Spielverbot als „vollendete Rechtsbeugung“ und damit als nichtig. Im Wiederholungsfalle drohte das Gericht dem preußischen Staat eine Geldbuße von 100.000 Goldmark an. Die nächste Instanz, das Preußische Oberverwaltungsgericht in Berlin, bestätigte das Urteil. Münchmeyer feierte diesen Beschluss zum Borkumlied als persönlichen Erfolg.
1924 ließ er sich als Kandidat der Deutschnationalen Volkspartei in den Gemeindeausschuss wählen und wurde Mitglied der Badedirektion. 1925 trat er der NSDAP (Mitgliedsnummer 80.984) bei. Nun fing er an, neben Juden auch Katholiken anzugreifen, wodurch sich viele rheinländische Badegäste verprellt fühlten. Die Rheinische Presse berichtete über die „Katholikenhetze auf Borkum“ und die Borkumer Badezeitung schrieb darüber 1924: „Alte Badegäste haben sich, durch diese Treibereien angewidert, mit den Worten verabschiedet: Auf Nimmerwiedersehen“. Daraufhin wuchs auf Borkum, das sich in seinen wirtschaftlichen Interessen bedroht sah, allmählich die Opposition gegen Münchmeyer. Die Badedirektion setzte sich vorsichtig von ihm ab. Auch die Leitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, die seinen Antisemitismus nie öffentlich kritisiert hatte, begann sich nun von Münchmeyer zu distanzieren, bot ihm aber eine Superintendentur an.Nach weiteren Vorfällen entschloss sich der Deutsche Bäderverband, Fahrten nach Borkum nicht mehr zu empfehlen. Im Herbst 1925 eröffnete schließlich das Landeskirchenamt der Hannoverschen Landeskirche ein Disziplinarverfahren gegen Münchmeyer.
== Der Münchmeyer-Prozess ==
Etwa zur gleichen Zeit veröffentlichte der Borkumer Albrecht Völklein unter dem Pseudonym Doktor Sprachlos eine satirische Streitschrift gegen Münchmeyer mit dem Titel „Der falsche Priester oder der Kannibalenhäuptling der Nordsee-Insulaner“. Unterstützt wurde er dabei von Julius Charig vom Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) und dem jüdischen Kaufmann Lazarus Pels. In der Schrift wurde Münchmeyer, ohne namentlich genannt zu werden, als „falscher Priester“ attackiert, der mit Gesinnungsgenossen in „heidnischer und kannibalischer Absicht“ die Insel terrorisiere. Weiterhin wurden ihm Erpressung, Falschaussage, Vorspiegelung falscher Tatsachen, Amtsanmaßung und sexuelle Verfehlungen vorgeworfen. Der Evangelischen Landeskirche hielt Völklein in der Schrift vor, „den falschen Priester als den ihren anzuerkennen“ und möglicherweise selbst von „falschen Priestern“ durchsetzt zu sein.Damit wollte der C.V. eine Beleidigungsklage erzwingen, um vor Gericht die antisemitische Hetze Münchmeyers zu verhandeln. Tatsächlich strengte die Evangelische Landeskirche einen Prozess an und zwang Münchmeyer, als Nebenkläger aufzutreten. Das Verfahren gegen Völklein, Charig und Pels wegen Beleidigung fand im Mai 1926 vor dem Großen Schöffengericht in Emden statt. Zur Verteidigung schickte der Centralverein den angesehenen Rechtsanwalt Bruno Weil. Durch dessen Verteidigungsstrategie wurde aus der Beleidigungsklage vor einem Provinzgericht ein reichsweit als Münchmeyer-Prozess beachteter politischer Prozess, in dessen Verlauf Weil mit großem Aufwand die Richtigkeit der gegen Münchmeyer erhobenen Vorwürfe nachzuweisen versuchte.
In der Urteilsverkündung am 18. Mai gab das Gericht der Verteidigung in fast allen Punkten Recht. Die Streitschrift wurde zwar als „formale Beleidigung“ eingestuft und die Angeklagten zu 1500 Reichsmark Strafe verurteilt, Münchmeyers Verhalten in der Urteilsbegründung aber wörtlich als „eines Geistlichen nicht würdig“ beschrieben, weshalb es legitim sei, dass dieser „als nicht richtiger Priester, als falscher Priester bezeichnet werden kann“ und sich weiterhin „ein falscher Priester nennen lassen muss“.Im Einzelnen wurde im Urteil aufgeführt, dass Münchmeyer
sich „wiederholt an Frauen herangemacht habe“ und sie sich „teils unter Ausübung eines unzulässigen Druckes, teils indem er sich als reicher Kaufmann ausgab“, gefügig machen wollte. Ein solcher Geistlicher verdiene den Namen eines Geistlichen nicht, sondern müsse sich gefallen lassen, wenn er als falscher Priester bezeichnet werde.sich wiederholt als Arzt und medizinischer Sachverständiger ausgegeben habe, ebenso als Jurist – ohne jemals Medizin oder Jura studiert zu haben. Die Behauptungen, die „wiederholt von Münchmeyer abgegeben wurden, waren wissenschaftlich falsch und eine Lüge, und eines Geistlichen unwürdig“.unter der lächerlichen Ausrede, eine Narbe am Körper eines jungen Mädchens kontrollieren zu wollen, unsittliche Berührungen vorgenommen habe.die Gewohnheit habe, „nach Art alter Klatschweiber Gerüchte in die Welt zu setzen, um einwandfreie Menschen in Mißkredit zu bringen“.Damit war Münchmeyer ruiniert. Die Ausführungen der Verteidigung in der Frage der sexuellen Übergriffe Münchmeyers gegenüber Mädchen seiner Gemeinde führten dazu, dass Münchmeyer seinen Dienst als Pfarrer quittierte, um sich dem immer noch gegen ihn laufenden Disziplinarverfahren des Landeskirchenamtes zu entziehen. Dieses verbot ihm dennoch einige Monate nach dem Prozess, den Titel Pfarrer a. D. zu führen. Dessen ungeachtet taucht Münchmeyer in Cuno Horkenbachs 1931 erschienenem Handbuch „Das deutsche Reich von 1918 bis heute“ immer noch als „Pastor a. D.“ auf. Das Ende seiner Tätigkeit in der evangelisch-lutherischen Kirche wird dort, ohne Erwähnung des Prozesses, lakonisch wie folgt wiedergegeben: „Legte 1926 Pfarramt nieder, widmet sich ausschließlich der Politik.“Am 26. Februar 1929 gab das evangelisch-lutherische Landeskirchenamt in Hannover eine Mitteilung heraus, dass Münchmeyer den Titel als Pastor, die Anstellungsfähigkeit im Kirchendienst, die Pensionsansprüche und die Fähigkeit zur Vornahme geistlicher Amtshandlungen endgültig verloren habe.
== Weiterer Lebensweg ==
1928 verließ Münchmeyer Borkum, um fortan als Agitator und Reichsredner für die NSDAP zu wirken. Dabei handelte es sich um eine parteiamtliche Funktion für rhetorisch bzw. propagandistisch als besonders befähigt beurteilte Parteifunktionäre, die z. B. im Wahlkampf auf Massenveranstaltungen auftreten sollten. Die NS-Propaganda setzte gezielt nationalsozialistisch gesinnte evangelische Pfarrer oder Theologiestudenten als Werberedner ein, die unermüdlich auf die Verankerung des Christentums in der NSDAP hinwiesen. Münchmeyer war einer der aktivsten NS-Redner im nordwestdeutschen Raum. Dabei hielt er auch auf Borkum Veranstaltungen ab. Mit dem ersten größeren Wahlerfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen am 14. September 1930 zog er als Abgeordneter des Wahlkreises 33 (Hessen-Darmstadt) in den Reichstag ein.
Im Dezember 1930 war Münchmeyer an den Tumulten bei der dritten Vorführung des Filmes Im Westen nichts Neues beteiligt. Kurz nach Beginn der Aufführung im Berliner Mozartsaal begannen einige hundert Nationalsozialisten mit nationalistischen und antisemitischen Zwischenrufen, später warfen sie Stinkbomben und setzten weiße Mäuse aus. Dazu schrieb der Filmkurier am 6. Dezember 1930:
„Es waren mehrere nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete anwesend, so Dr. Goebbels und Pfarrer Münchmeyer, die ihre Anhänger durch Zurufe aufmunterten und den Skandal dirigierten. Die Vorführung musste schließlich unterbrochen werden. Es kam zu Schlägereien mit Besuchern, die sich gegen den Terror wandten. Die inzwischen herbeigerufene Polizei musste den Saal gewaltsam räumen. Die Demonstranten hatten dann noch die Unverfrorenheit, ihr Eintrittsgeld wegen Abbruch der Vorstellung zurückzufordern, sie zerschlugen eine Scheibe der Kasse und bedrohten die Kassiererin. Auf dem Nollendorfplatz nahmen die Demonstrationen ihren Fortgang. Die Direktion des Mozartsaals sah sich genötigt, die 9-Uhr-Vorstellung ausfallen zu lassen.“
Nach mehrfachen gewaltsamen Störaktionen durch SA-Schlägertrupps wurde der Film abgesetzt und bald darauf wegen „Gefährdung des deutschen Ansehens“ verboten. Die NSDAP verbuchte dies als ihren Sieg.
Im August 1933 trat Münchmeyer nochmals auf Norderney auf. Er forderte von den Bewohnern, aus ihrer Insel unverzüglich eine „judenfreie“ zu machen. Vor 1.200 Zuhörern sagte er: „Die Juden sind immer das störende Element der ganzen Welt zu allen Zeiten.“ 1934 veröffentlichte er sein Werk Kampf um deutsches Erwachen. 1936 erschien Deutschland bleibe wach – 10 Jahre Redner der Partei, das er 1938 nochmals unter dem Titel Deutschland bleibe wach – 12 Jahre Redner der Partei veröffentlichte. Reichsredner der NSDAP zu sein, sah Münchmeyer weiterhin als seine Hauptaufgabe. Im Lebenslauf in seinen Parteiakten heißt es:
„Auch nach der Machtübernahme hat Pg. Münchmeyer wohl als einer der wenigen Kämpfer der alten Garde und der alten Reichsredner fast an jedem Abend weiter in irgend einer Großkundgebung einer Parteiformation im Reichsgebiet gesprochen, ganz sonders im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Alle Kundgebungen mit Pg. Münchmeyer sind auch heute noch durchschlagende Erfolge, sowohl was die Besucherzahl als auch was die Zustimmung und Begeisterung der Bevölkerung anbetrifft.“ Mehrfach musste sich Münchmeyer auch parteiinternen Kritikern stellen. So leitete das Oberste Parteigericht der NSDAP auf Antrag des NSDAP-Kreisleiters von Hameln, Erich Teich am 7. Februar 1934 eine Untersuchung gegen Münchmeyer ein. Teich beschwerte sich darüber, dass Münchmeyer die Ortsgruppe der NSDAP bei einer öffentlichen Kundgebung kritisiert habe. In der dazugehörigen Akte finden sich auch mehrere Zeitungsartikel, in denen die 1926 gegen Münchmeyer ergangene Urteilsbegründung zitiert wird. Das Gericht stellte das Verfahren bald darauf ein.
Im Jahre 1935 war sein Wohnsitz in Düsseldorf, Humboldtstr. 51. Bis Mai 1945 war Münchmeyer Reichstagsmitglied, zuletzt als Abgeordneter des Wahlkreises 31 (Württemberg), trat jedoch öffentlich nicht mehr in Erscheinung, sodass über sein weiteres Wirken keine Akten vorliegen.
Von 1945 bis 1947 war Münchmeyer im Internierungslager. Bis zu seinem Tod am 24. Juli 1947 in Böblingen blieb er Nationalsozialist.
== Schriften ==
An die deutsche Jugend, Was kann Deutschlands Jugend schon jetzt tun, um eine bessere Zukunft vorbereiten zu helfen? Borkum nach 1920.
Weiherede. gehalten bei der Errichtung eines Denkmals für die Gefallenen der evangelisch-lutherischen Christus-Gemeinde auf Borkum. Ein Dankes- und Totenopfer, Borkum nach 1920.
Gedächtnisrede für Deutschlands unvergeßliche Landesmutter. Borkum 1921.
Eine Seepredigt. gehalten an den Gestaden der deutschen Nordsee über den Psalm 93,1–4. Ein Loblied Gottes aus der Natur, Borkum um 1921.
Bismarcks Vermächtnis an das deutsche Volk. Der einzige Weg zur Erkenntnis und zur Heilung unserer Krankheit. Borkum 1923.
Der Sieg in der Sache des Borkum-Liedes. Borkum 1924.
Sage mir, mit wem Du gehst, und ich will Dir sagen, wer Du bist! Borkum um 1924.
Krieg. Borkum um 1924.
Borkum die deutsche Insel. Borkum um 1925.
Das Sturmjahr 1925/26 oder: Unser Glaube ist doch der Sieg! Borkum 1926.
Der Grund, warum ich mein Amt niederlegte. Borkum 1926.
Auf Urkunden gestütztes Beweismaterial für den organisierten Landesverrat und den Dolchstoß der Marxisten aller Schattierungen, den Zerstörer deutscher Ehr und Wehr. München 1930.
Meine Antwort an den C.V., zugleich eine Antwort auf die Fragen: Wann ruft der Jude „Alarm“? und Was versteht der Jude unter „Wahrheiten“? München 1930.
Kampf um deutsches Erwachen. Dortmund 1934.
Deutschland bleibe wach! – 10 Jahre Redner der Partei. Dortmund 1936.
Deutschland bleibe wach! – 12 Jahre Redner der Partei. Dortmund 1938.
== Literatur ==
BücherUdo Beer: Der falsche Priester. In: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden. 66, 1986, S. 152–163.
Herbert Reyer (Bearb.): Das Ende der Juden in Ostfriesland. Katalog zur Ausstellung der Ostfriesischen Landschaft aus Anlaß des 50. Jahrestages der Kristallnacht. Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1988, ISBN 3-925365-41-9.
Frank Bajohr: Unser Hotel ist judenfrei. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2003, ISBN 3-596-15796-X.
Gerhard Lindemann: Typisch jüdisch. Die Stellung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919–1949. Duncker und Humblot, Berlin 1998, ISBN 3-428-09312-7.Artikel in ZeitschriftenBorkum, Artikel zum Münchmeyerprozeß- erschienen im Borkumer Beobachter. Borkum 1926.
Alfred Hirschberg: Disziplinarverfahren gegen Münchmeyer? In: Central-Verein-Zeitung. 14. Mai 1926.
Alfred Hirschberg: Münchmeyer-Prozess auf Borkum. In: Central-Verein-Zeitung. 21. Mai 1926.
Bruno Weil: Borkum. In: Central-Verein-Zeitung. 28. Mai 1926.
A.W.: Nachklänge zum 'Münchmeyer-Prozess. In: Central-Verein-Zeitung. 1. September 1926.
Erich Stockhorst: 5000 Köpfe. Wer war was im 3. Reich. Arndt, Kiel 2000, ISBN 3-88741-116-1 (Unveränderter Nachdruck der ersten Auflage von 1967).
== Weblinks ==
Literatur von und über Ludwig Münchmeyer im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Eintrag im Biographischen Lexikon für Ostfriesland (PDF; 55 kB)
Ludwig Münchmeyer in der Datenbank der Reichstagsabgeordneten
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_M%C3%BCnchmeyer
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Mainz
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= Mainz =
Mainz () (lateinisch Mogontiacum) ist die Landeshauptstadt des Landes Rheinland-Pfalz und mit 217.556 Einwohnern zugleich dessen größte Stadt. Mainz ist kreisfrei, eines der fünf rheinland-pfälzischen Oberzentren und Teil des Rhein-Main-Gebiets. Mit der angrenzenden hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden bildet sie ein länderübergreifendes Doppelzentrum mit rund 500.000 Einwohnern auf 301,67 Quadratkilometern. Mainz und Wiesbaden sind neben Berlin und Potsdam die einzigen beiden Landeshauptstädte deutscher Bundesländer mit einer gemeinsamen Stadtgrenze. Im Verbund mit den jüdischen Gemeinden der oberrheinischen Städte Speyer und Worms wurden die Monumente dieser SchUM-Städte am 27. Juli 2021 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.Die zu römischer Zeit gegründete Stadt ist Sitz der Johannes Gutenberg-Universität, des römisch-katholischen Bistums Mainz sowie mehrerer Fernseh- und Rundfunkanstalten, wie des Südwestrundfunks (SWR) und des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF). Mainz ist eine Hochburg der rheinischen Fastnacht.
== Name der Stadt ==
=== Entwicklung des Stadtnamens ===
Im Laufe der Geschichte veränderte sich der Name der Stadt mehrmals, von einer verbindlichen Schreibweise kann erst seit dem 18. Jahrhundert gesprochen werden. Der römische Name „Mogontiacum“ lässt sich von der keltischen Gottheit Mogon ableiten (Mogont-i-acum = „Mogons Land“). Mogontiacum wurde in der Historiographie erstmals von dem römischen Historiker Tacitus in seinem Anfang des 2. Jahrhunderts entstandenen Werk Historien im Zusammenhang mit dem Bataveraufstand schriftlich erwähnt. Auch abweichende Schreibweisen und Abkürzungen waren zu Zeiten der römischen Herrschaft bereits geläufig: „Moguntiacum“ oder verkürzt als „Moguntiaco“ in der Tabula Peutingeriana.
Im Mittellateinischen wurde der Name ab dem 6. Jahrhundert verkürzt und fortan „Moguntia“ bzw. „Magantia“ geschrieben und ausgesprochen. Im 7. Jahrhundert änderte sich der Stadtname zu „Mogancia“, „Magancia urbis“ bzw. „Maguntia“, im 8. Jahrhundert zu „Magontia“. Im 11. Jahrhundert war der Name wieder bei „Moguntiacum“ bzw. „Moguntie“ angekommen. Überhaupt wurde der Stadtname häufig nicht von wirklicher Sprachentwicklung, sondern von der jeweils herrschenden „Mode“ der Aussprache beeinflusst. Das 12. Jahrhundert bezeichnete die Stadt als „Magonta“, „Maguntia“, „Magontie“, und „Maguntiam“. Eine arabische Weltkarte aus gleicher Zeit nennt sie „maiansa“. Von 13./14. bis zum 15. Jahrhundert wandelte sich der Name von „Meginze“ zu „Menze“, wobei das die Namensentwicklung in lateinischen Quellen ist. Deutschsprachige Quellen sprechen 1315 von „Meynce“, 1320 von „Meintz“, 1322 von „Maentze“, 1342 von „Meintze“, 1357 wieder von „Meintz“ und 1365 von „Mayntz“. Der damals entstandene Familienname „Mayntz“ ist heute noch in dieser Schreibweise gebräuchlich. Später nannte man sich auch Mainzer. In der jüdischen Literatur des Mittelalters taucht auch die Bezeichnung Magenza auf.Im 15. Jahrhundert taucht zum ersten Mal die Schreibweise „Maintz“ auf. Geläufiger sind zu dieser Zeit aber noch die Schreibweisen „Menze“, „Mentz(e)“, „Meintz“ oder „Meyntz“. Die Namensformen mit ai oder ay setzten sich seit dem 16. Jahrhundert und endgültig in der Barockzeit durch. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es dann auch kaum noch Änderungen des Stadtnamens. Eine Ausnahme bildet die französische Namensform Mayence während der französischen Besetzung 1792/93 und während der Zugehörigkeit zu Frankreich von 1798 bis 1814.Im Mainzer Dialekt gibt es zwei Varianten des Stadtnamens, Meenz und Määnz, über deren Korrektheit in der Bevölkerung unterschiedliche Ansichten bestehen. Untersuchungen haben herausgefunden, dass die Schreib- und Ausspracheform Meenz (mit geschlossenem e-Laut ausgesprochen) in der Altstadt bevorzugt, die andere Variante Määnz (mit offenem e-Laut) eher in der Neustadt, den Vororten und dem rheinhessischen Umland verwendet wird.
== Geographie ==
=== Überblick ===
Mainz befindet sich auf einer Höhe von 82 am Rhein bis 245 m ü. NHN im Ortsbezirk Ebersheim. Die Stadt liegt am westlichen (linken) Ufer des Rheins, der die östliche Stadtgrenze bildet, mit Rheinkilometer 500 ungefähr auf halbem Wege zwischen Bodensee und Nordsee. Im Süden und Westen wird die Stadt im Mainzer Becken vom Rande der rheinhessischen Hochfläche begrenzt und im Norden dehnt sich ein vom Rhein zurückgewichenes Ufervorland aus. Durch Mainz hindurch läuft der 50. Breitengrad nördlicher Breite.
=== Lage ===
Die Stadt Mainz liegt gegenüber der Mündung des Mains am Rhein. Im näheren Umkreis liegen – außer dem unmittelbar benachbarten Wiesbaden – die Großstädte Frankfurt am Main, Darmstadt, Ludwigshafen am Rhein und Mannheim.
Eine politische Besonderheit bilden die sechs ehemaligen rechtsrheinischen Stadtteile Mainz-Amöneburg, Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim („AKK“) sowie Mainz-Bischofsheim, Mainz-Ginsheim und Mainz-Gustavsburg („BGG“). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden aufgrund der Grenzziehung zwischen der amerikanischen und der französischen Besatzungszone die AKK-Stadtteile der treuhänderischen Verwaltung der Stadt Wiesbaden übergeben bzw. wurden als Bischofsheim und Ginsheim-Gustavsburg selbständige Kommunen im hessischen Landkreis Groß-Gerau. Die AKK-Stadtteile gehören bis heute nach dem Lebensgefühl vieler Einwohner noch immer zu Mainz, was sich unter anderem in der auf Mainz ausgerichteten Infrastruktur äußert. Die Stadt Mainz bezeichnet sie als „de facto zu Mainz“ gehörig. Aufgrund der rechtlich nie ganz abgeschlossenen Gebietsübertragung nach Wiesbaden tragen sie in ihrem amtlichen Namen noch immer das Präfix „Mainz-“ (siehe auch AKK-Konflikt und rechtsrheinische Stadtteile von Mainz).
=== Nachbargemeinden ===
Folgende Städte und Gemeinden grenzen an die Stadt Mainz. Sie werden im Uhrzeigersinn beginnend im Norden genannt:
rechtsrheinisch (Hessen):Landeshauptstadt Wiesbaden (kreisfreie Stadt, einschließlich Mainz-Amöneburg, Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim) sowie Ginsheim-Gustavsburg (Landkreis Groß-Gerau).
linksrheinisch die zum Landkreis Mainz-Bingen gehörigen Gemeinden:Bodenheim, Gau-Bischofsheim und Harxheim (alle Verbandsgemeinde Bodenheim),Zornheim, Nieder-Olm, Ober-Olm, Klein-Winternheim und Essenheim (alle Verbandsgemeinde Nieder-Olm),Ingelheim am Rhein mit den Stadtteilen Wackernheim und Heidesheim am Rheinsowie Budenheim (verbandsfreie Gemeinde).
=== Stadtgliederung ===
==== Prinzipien ====
Das Stadtgebiet von Mainz ist in 15 Ortsbezirke aufgeteilt.
Jeder Ortsbezirk hat einen aus jeweils 13 direkt gewählten Mitgliedern bestehenden Ortsbeirat und einen ebenfalls direkt gewählten Ortsvorsteher, der Vorsitzender des Ortsbeirats ist.
Der Ortsbeirat ist zu allen wichtigen Fragen, die den Ortsbezirk betreffen, zu hören. Die endgültige Entscheidung über eine Maßnahme obliegt dann jedoch dem Gemeinderat der Stadt Mainz. Zudem bestehen sieben Planungsbereiche, 65 Stadtbezirke sowie 183 statistische Bezirke, die gleichzeitig den Stimmbezirken entsprechen.Die Ortsbezirke Altstadt, Hartenberg-Münchfeld, Neustadt und Oberstadt entsprechen (ohne das vorher zu Gonsenheim gehörende Münchfeld) dem ehemaligen Ortsbezirk Mainz-Innenstadt, der 1989 aufgelöst worden war.
==== Ortsbezirke ====
Anmerkung: Die Kennzahlen beziehen sich auf die Einwohner mit Hauptwohnsitz im jeweiligen Gebietsteil.
==== Eingemeindungen ====
Die Tabelle unter diesem Abschnitt listet ehemals selbständige Gemeinden und Gemarkungen auf, die im Rahmen der Eingemeindungen in die Stadt Mainz eingegliedert wurden. Die Abtrennung der rechtsrheinischen Stadtteile nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch weitere Eingemeindungen von 1969 wieder ausgeglichen. Ab 1962 entstand mit dem Lerchenberg sogar ein völlig neuer Stadtteil.
=== Klima ===
==== Überblick ====
Der Jahresniederschlag beträgt 613 mm und liegt damit im unteren Viertel der in Deutschland erfassten Werte. Der trockenste Monat ist der Februar, am meisten Regen fällt im Juni. In diesem Monat ist der Niederschlag im Schnitt 1,7-mal höher als im Februar. Die Niederschläge variieren kaum und sind gleichmäßig übers Jahr verteilt.
Die mittlere jährliche Durchschnittstemperatur lag in der Periode 1961 bis 1990 bei 10,1 °C und damit deutlich über dem deutschen Durchschnitt.
==== Klimadiagramm für die Stadt ====
==== Klimanotstand ====
In seiner Sitzung am 25. September 2019 hat der Mainzer Stadtrat den Klimanotstand ausgerufen. Ein gemeinsamer Ergänzungsantrag von Stadtratsmitgliedern mehrerer Parteien stimmte mit großer Mehrheit und einzig mit Gegenstimmen von der AfD dem entsprechenden Antrag zu. Laut Antrag sollen alle künftigen Entscheidungen, Projekte und Prozesse der Verwaltung unter einen Klimaschutzvorbehalt gestellt werden, um damit die Ziele des Pariser Klimaabkommens von 2015 zu erreichen.
== Geschichte ==
=== Territoriale Zugehörigkeit von Mainz ===
bis 1244: Erzbischöfliche Stadt
1244 – 1462: Freie Stadt
1462 – 1792: Kurfürstentum Mainz
ab Oktober 1792 unter französischer Besatzung
März – Juli 1793: Mainzer Republik
Juli 1793 – Dezember 1797: Kurfürstentum Mainz
Dezember 1797–1804: Erste Französische Republik (ab 1798 Département Donnersberg)
1804 – Mai 1814: Französisches Kaiserreich (Département Donnersberg)
Mai – Juni 1814: Generalgouvernement Mittelrhein
Juni 1814–1816: provisorische österreichisch-preußische Administration
1816–1918: Großherzogtum Hessen
1919–1945: Volksstaat Hessen
seit 1946: Rheinland-Pfalz
=== Vorgeschichte und römische Zeit ===
Das Stadtgebiet des heutigen Mainz war schon zur letzten Eiszeit vor 20.000 bis 25.000 Jahren eine Raststätte für Jäger, wovon bei Ausgrabungen im Jahr 1921 entdeckte Relikte zeugen.
Erste dauerhafte Ansiedelungen im Mainzer Stadtgebiet sind jedoch keltischen Ursprungs. Die Kelten waren in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr. die dominierende Kraft am Rhein. Aus diesen keltischen Siedlungen und der mit ihnen im Zusammenhang stehenden keltischen Gottheit Mogon (in etwa vergleichbar dem griechisch-römischen Apollon) leiteten die nach dem Gallischen Krieg (52 v. Chr.) am Rhein eintreffenden Römer die Bezeichnung „Mogontiacum“ für ihr neues Legionslager ab. Lange Zeit wurde angenommen, dass dieses Lager um 38 v. Chr. gegründet wurde. Neuere Forschungen haben jedoch ergeben, dass die Gründung des Lagers (und damit letztlich der Stadt Mainz) erst später, nämlich um 13/12 v. Chr. durch Drusus, erfolgte.
Nachdem das Doppellegionslager Mogontiacum gegründet worden war, wurde das Lager, das im Bereich des heutigen Kästrichs liegt, sehr schnell von einzelnen Ansiedelungen (lat. cannabae) umgeben. Die beiden Legionen brauchten Handwerker und Gewerbetreibende zur Aufrechterhaltung ihrer Einsatzfähigkeit. Diese Ansiedlungen sind der Ausgangspunkt der urbanen Entwicklung von Mainz. Die Stadt gehörte anschließend etwa 500 Jahre lang zum Imperium Romanum und war ab ca. 89 n. Chr. Hauptstadt der Provinz Germania superior und, ab dem 4. Jahrhundert, Germania prima. Im Unterschied zu Köln, der Hauptstadt der zweiten germanischen Provinz, scheint Mogontiacum dabei allerdings nicht zur colonia erhoben worden zu sein. Vor allem die große Rheinbrücke machte den Ort dabei wirtschaftlich und strategisch bedeutend. In der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts entstand die erste Stadtmauer. Spätestens ab der Mitte des 4. Jahrhunderts bestand in der Stadt eine christliche Gemeinde unter Leitung eines Bischofs. Bereits seit etwa 350 scheint keine Legion mehr in Mainz stationiert gewesen zu sein.
=== Mittelalterliche Bischofsstadt ===
Um 406 wurde Mainz von Vandalen, Alanen und Sueben erobert und geplündert. Nach der Zeit der so genannten Völkerwanderung, in der Westrom zerfiel, begann allmählich der Aufstieg der Stadt, die spätestens um 480 endgültig unter fränkische Herrschaft gelangte. Die Funktion als Umschlagplatz für Handelsgüter aller Art (später vor allem Messewaren, die für Frankfurt bestimmt waren) beschleunigte die Stadtentwicklung. Besiedelt blieb vor allem der Raum zwischen dem alten Römerlager und dem Rhein.
Am Ende dieser Entwicklung stand eine herausragende Bedeutung auf kultureller, religiöser und politischer Ebene. Ab Mitte des 8. Jahrhunderts wurde von Mainz aus durch Erzbischof Bonifatius aktiv die Christianisierung des Ostens, vor allem der Sachsen, betrieben. 782 ist Mainz zum Erzbistum erhoben worden. Die Kirchenprovinz entwickelte sich in der Folge zur größten jenseits der Alpen. Im 9. und 10. Jahrhundert erwarb sich Mainz den Titel Aurea Moguntia. Der Einfluss der Mainzer Erzbischöfe ließ diese zu Reichserzkanzlern, Landesherren des kurmainzischen Territoriums und Königswählern (Kurfürsten) aufsteigen. Erzbischof Willigis (975–1011) ließ den Mainzer Dom als Zeichen seiner Macht errichten und war zeitweise als Reichsverweser der bestimmende Mann im Reich. Im Zuge dieses Aufstieges der geistlichen Macht in weltlichen Angelegenheiten war die Stadt Mainz selber unter die Kontrolle ihres Erzbischofs gefallen.
Das Hochmittelalter brachte für die Bürger erstmals besondere Privilegien, die ihnen von Erzbischof Adalbert I. von Saarbrücken (1110–1137) verliehen wurden. Sie beinhalteten vor allem Steuerfreiheiten und das Recht, sich nur innerhalb der Stadt vor Gericht verantworten zu müssen. Nach der Ermordung des Erzbischofs Arnold von Selenhofen im Jahr 1160 wurden diese Privilegien jedoch wieder rückgängig gemacht. Zudem wurden die Stadtmauern auf Befehl Kaiser Friedrich Barbarossas geschleift. Obgleich derart gezeichnet, war Mainz schon bald wieder Zentrum der Reichspolitik. Friedrich Barbarossa lud schon 1184 die Elite des Reiches zu einem Hoftag anlässlich der Schwertleite seiner Söhne nach Mainz, der einigen Chronisten als größtes Fest des Mittelalters gilt. Schon 1188 kam er erneut nach Mainz, um dort auf dem „Hoftag Jesu Christi“ zum Dritten Kreuzzug aufzubrechen. Neben Speyer und Worms galt Mainz als eine der SchUM-Städte und als Geburtsstätte der aschkenasischen Kultur.
1212 krönte Siegfried II. von Eppstein den Stauferkaiser Friedrich II. im Mainzer Dom zum König. Friedrich II. kehrte 1235 nach Mainz zurück, um dort einen Reichstag abzuhalten. Auf diesem wurde am 15. August der „Mainzer Landfriede“ erlassen.
=== Freie Stadt ===
In den Auseinandersetzungen, die zwischen den Staufern und ihren Gegnern in den 1240er-Jahren immer heftiger wurden, ließen sich die Mainzer Bürger von beiden Seiten umwerben. Die Folge dieser Politik war, dass die Bürger als Preis für ihre Unterstützung 1244 von Erzbischof Siegfried III. von Eppstein ein umfassendes Stadtprivileg erhielten. Der Erzbischof war danach nur noch formal Oberhaupt der Stadt, die Selbstverwaltung, Gerichtsbarkeit und die Entscheidungsgewalt über neue Steuern ging auf die Bürgerschaft bzw. den 24-köpfigen Stadtrat über. Außerdem entband das Privileg die Bürger von ihrem Gefolgszwang in allen kriegerischen Auseinandersetzungen, die nicht die Stadtverteidigung betrafen. Von diesem Zeitpunkt an war Mainz eine „Freie Stadt“.
Die Zeit als Freie Stadt (bis 1462) gilt als Höhepunkt der Stadtgeschichte. Der politische Einfluss der Bürgerschaft erreichte während dieser Zeit die höchste kommunale und überregionale Bedeutung, wovon die Gründung des Rheinischen Städtebundes 1254 ein deutliches Zeugnis ablegt. Handel und Gewerbe konnten in dieser Zeit nicht zuletzt unter dem Schutz des Städtebunds und der Garantie des Mainzer Landfriedens von 1235 florieren. Mainz stieg zu einem wichtigen Wirtschaftsstandort auf.
Ab 1328 begann durch Konflikte mit dem Erzbischof der Niedergang des freien Bürgertums und seiner Privilegien. In der Mainzer Stiftsfehde schlugen sich die Bürger auf die Seite des Erzbischofs Diether von Isenburg, der sich sowohl Kaiser als auch Papst zum Gegner gemacht hatte. Die Stadt wurde 1462 durch Adolf II., den Konkurrenten Diethers um das Erzbischofsamt, eingenommen. Adolf II. ließ sich von den Mainzer Bürgern daraufhin alle Privilegien aushändigen und beendete die Zeit der Freien Stadt. Mainz wurde kurfürstliche Residenzstadt und entwickelte sich in der Folge zur Adelsmetropole ohne eigene politische Bedeutung.
=== Kurfürstliche Residenzstadt ===
Als seinen Nachfolger empfahl Adolf II. dem immer mächtiger werdenden Mainzer Domkapitel ausgerechnet wieder Diether von Isenburg. Dieser gründete 1477 die schon von Adolf II. geplante Universität.
Die 1517 begonnene Reformation hatte zunächst gute Aussichten in Mainz. Der dort um 1450 von Johannes Gutenberg erfundene Buchdruck mit beweglichen Lettern ermöglichte eine rasche Ausbreitung der reformatorischen Schriften und der Mainzer Erzbischof und Kardinal Albrecht von Brandenburg stand ihren Ideen zunächst aufgeschlossen gegenüber. Letztendlich konnte sie sich aber in Mainz nicht durchsetzen. Zweimal wählte das Domkapitel mit knapper Mehrheit katholische Erzbischöfe. Mit Ausnahme von Garnisonsgemeinden durfte sich bis 1802 keine evangelische Gemeinde in der Stadt bilden.
Die mittelalterliche Stadtbefestigung war ab der Mitte des 16. Jahrhunderts einer moderneren Festungsanlage gewichen, die schließlich die ganze Stadt umfasste. Außerhalb dieser Festung durften keine Steinbauten entstehen, um anrückenden Truppen keinen Schutz bieten zu können. Deshalb konnte sich die Stadt nur in den innerhalb der Mauern verbliebenen Freiflächen entwickeln, was das Wachstum der Stadt bis in das 20. Jahrhundert hinein stark begrenzte.
Trotz dieser Festung wurde Mainz im Dreißigjährigen Krieg von der schwedischen Armee kampflos eingenommen. Maßgeblich zur Beendigung des Krieges trug Johann Philipp von Schönborn bei, der 1647 Erzbischof von Mainz wurde und unter dessen Pontifikat die Stadt sich schnell wieder von den Verheerungen des Krieges erholen konnte. Nach diesem Krieg wurde die Gerichtsbarkeit im Kurfürstentum Mainz neu geordnet und ab 1682 die allgemeine Schulpflicht eingeführt, die sonst bereits seit 1649 bestand.In der nun aufkommenden Barockzeit entstanden glanzvolle Bauten in der Stadt, die auch heute noch zum Stadtbild gehören. Mit der Amtszeit des Kurfürsten Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim (1763–1774) erhielt die Aufklärung auch auf politischer Ebene Einzug in die „Stadt des Adels“.
=== Ende der alten Ordnung ===
Die Ideen der Aufklärung führten in Frankreich schließlich zur Revolution. 1790 war es zum sogenannten Mainzer Knotenaufstand gekommen. Nachdem Frankreich in den Koalitionskriegen 1792 das linke Rheinufer einschließlich Mainz erobert hatte, musste Fürstbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal aus der Stadt fliehen. Die Besatzungsmacht veranlasste im März 1793 die Gründung der „Mainzer Republik“ und ließ erste freie Wahlen abhalten, doch diese endete bereits im Juli desselben Jahres nach der preußischen Belagerung und Beschießung der Stadt und dem Abzug der Franzosen. Eine französische Belagerung 1795 war nicht erfolgreich, doch der Abzug der österreichischen Festungsbesatzung nach dem Frieden von Campo Formio führte Ende 1797 zur nächsten französischen Besetzung der Stadt. Der Adel verschwand aus Mainz und ließ die Stadt bürgerlich werden. Wie alle linksrheinischen Gebiete wurde auch Mainz von Frankreich annektiert und als Mayence Hauptstadt des französischen Département du Mont-Tonnerre (benannt nach dem Donnersberg) unter Verwaltung des französischen Präfekten Jeanbon St. André.
=== Im Großherzogtum Hessen ===
Durch den Verlust ihrer Residenzfunktion provinzialisierte die seit 1816 zum Großherzogtum Hessen gehörende Stadt im 19. Jahrhundert sehr stark. Bedeutende überregionale Ereignisse sind in der Stadtgeschichte zu dieser Zeit daher kaum zu finden. Allerdings war Mainz zu dieser Zeit Sitz der Mainzer Zentraluntersuchungskommission im Rahmen der Demagogenverfolgung infolge der Karlsbader Beschlüsse. Von nachwirkender Bedeutung ist die sich ab 1837 entwickelnde Mainzer Fastnacht.
Die Festungsfunktion (nun Bundesfestung des Deutschen Bundes) behinderte außerdem die Ausdehnung der Stadt und die Entwicklung der Einwohnerzahlen. Bis zum Ende der Festung hatte die Stadt fast nie mehr als 30.000 Einwohner. Bei Mainz lagen um 1856 siebzehn Rheinmühlen zusammengekettet und an den Pfeilerresten einer Römerbrücke verankert. Als ab den 1850er-Jahren die letzten freien Räume innerhalb der Festung, wie beispielsweise der Kästrich, bebaut und das Rheinufer in den 1880er-Jahren nach Nordosten verschoben wurde, konnte die Einwohnerzahl innerhalb der Altstadt nennenswert ansteigen. Jedoch konnte die Stadt aufgrund der Festungsfunktion lange nicht so wachsen wie beispielsweise Wiesbaden.Die bedeutendste Entwicklung der Stadt geschah jedoch durch die Einverleibung des „Gartenfelds“ bzw. der Neustadt. Diese neu errichtete Stadtmauererweiterung löste ab 1872 einen Bauboom und Bevölkerungszuwachs in der Gründerzeit aus, der allerdings durch den Börsenkrach 1873 vorerst ausgebremst wurde. Möglich gemacht wurde diese Erweiterung nicht zuletzt durch den Bedeutungsverlust der Festung (von da an diente die Festung Metz als Bollwerk des Deutschen Reiches gegenüber Frankreich) nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Ab 1886 setzte sich dann zunehmend die Bautätigkeit in der Neustadt (und mit Verlegung des Hauptbahnhofs weg vom Rheinufer auch in dieser Zeit im Lauterenviertel) fort.
Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurden die alten Festungsstrukturen endgültig abgerissen, sodass die Stadt nun auch außerhalb der bisherigen Mauern expandieren konnte. Die dadurch und durch die umfangreichen Eingemeindungen ausgelöste Expansion der Stadt führte zu weiterem Bevölkerungswachstum.
1852 wurde auf einem Acker bei Mainz ein 1,7 Kilogramm schwerer Steinmeteorit des Typs L6 gefunden. Der Fundort ist heute bebaut und liegt in der Nähe der Pariser Straße.Nachdem Mainz bereits im Jahr 1860 den 4. Deutschen Feuerwehrtag ausrichtete, fand vom 3. bis 6. September 1904 in Mainz der 16. Deutsche Feuerwehrtag statt. Er war der erste nach der Jahrhundertwende.
=== Modernes Mainz ===
Der Erste Weltkrieg beendete den nach Schleifen der Stadtmauern begonnenen kurzen Aufschwung. Nach dem Krieg gingen die Goldenen Zwanziger am erneut, bis zum Juni 1930 von den Franzosen besetzten Mainz fast vollständig vorbei. Nach dem Ende der Besatzungszeit kam es erneut zu umfangreichen Eingemeindungen (siehe Tabelle oben), die das Stadtgebiet verdoppelten. Am 1. November 1938 wurde Mainz wie auch Offenbach am Main, Gießen, Darmstadt und Worms kreisfrei.
Der Nationalsozialismus konnte in Mainz zunächst nicht Fuß fassen. Noch zur Machtergreifung am 30. Januar 1933 demonstrierten mehr Menschen gegen das neue System als dafür. Dennoch wurde die 3000 Mitglieder umfassende jüdische Gemeinde von Mainz fast vollständig deportiert. Die Stadt blieb vom Zweiten Weltkrieg bis 1942 verschont. Die ersten schwereren Bombenangriffe steigerten sich zum schlimmsten Angriff am 27. Februar 1945, als Mainz durch britische Bomber fast völlig zerstört wurde und ca. 1200 Menschen getötet wurden. Durch Brandbomben war ein Feuersturm entfacht worden. Am Ende des Krieges war die Stadt zu 80 % zerstört. Am 21. März 1945 wurde Mainz schließlich von US-Truppen im Rahmen der Operation Undertone besetzt. Der andernorts in Deutschland noch fortgesetzte Krieg endete am 8. Mai mit der Bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht.
Nach dem Krieg wurde Mainz erneut von den Franzosen besetzt. Die Grenze zwischen französischer und amerikanischer Besatzungszone bildete auf der Höhe von Mainz der Rhein, weswegen die rechtsrheinischen Stadtteile abgetrennt wurden. Einem Vorschlag aus dem Wiesbadener Regierungspräsidium folgend wurden die Stadtteile nördlich der Mainmündung, Amöneburg, Kastel und Kostheim, nach Wiesbaden eingemeindet, was ein Grund für die heutige Rivalität zwischen beiden Städten ist. Die rechtsrheinischen Stadtteile südlich des Mains, Bischofsheim, Ginsheim und Gustavsburg, wurden wieder selbstständige Gemeinden im Landkreis Groß-Gerau. Die Neubildung der Länder Hessen und Rheinland-Pfalz zementierte diese Teilung. Schon 1946 wurde die 1798 aufgehobene Universität wieder errichtet. Mainz wurde 1946 durch die Verordnung Nr. 57 der französischen Besatzungsverwaltung zur Hauptstadt des neu gebildeten Landes Rheinland-Pfalz bestimmt und nahm diese Funktion 1950 anstelle des bisherigen provisorischen Regierungssitzes Koblenz auf. So konnte Mainz den fast 150-jährigen Prozess der Provinzialisierung beenden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Einwohnerzahl auf etwa 76.000 gefallen. Erst Mitte der 1960er-Jahre erreichte sie wieder den Vorkriegswert.
1962 beging die Stadt ihre 2000-Jahr-Feier, die auf der damaligen (unbelegten) Auffassung beruhte, dass die Römer unter Agrippa bereits 38 v. Chr. ein Militärlager am Zusammenfluss von Rhein und Main gegründet hatten. Die Entstehung von Mainz-Lerchenberg als neuem Stadtteil nach 1962 sowie großflächige Eingemeindungen rund um Mainz 1969 beendeten die durch den Zweiten Weltkrieg entstandene Stagnation in der Stadtentwicklung und boten umfassende Ausbau- und Entwicklungsmöglichkeiten. Mit der Ansiedlung des ZDF auf dem Lerchenberg begann ab 1976 der Ausbau zur Medienstadt, später folgte die Ansiedlung eines Studios des SWR und zeitweise des Sendezentrums von Sat.1. Diese Entwicklung wurde durch das mit zahlreichen Aktivitäten gefeierte Gutenbergjahr 2000 verstärkt. Neben anderen städtebaulichen Programmen wie beispielsweise der Altstadtsanierung ist Mainz seit dem vorgenannten Jahr auch am Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ beteiligt. Von 1969 bis Ende 1995 war das kreisfreie Mainz zudem Sitz der Kreisverwaltung Mainz-Bingen, ehe dieser nach Ingelheim verlegt wurde.
Am 25. März 2010 verlieh der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft der Stadt Mainz den Titel „Stadt der Wissenschaft“ des Jahres 2011. Von der Stadt wurden deshalb in Zusammenarbeit mit den Mainzer Hochschulen, den Vereinen und Bildungseinrichtungen zahlreiche Veranstaltungen, Ausstellungen und Vorträge durchgeführt.Am 23. Dezember 2010 ereignete sich gegen 02:36 Uhr ein Erdbeben der Stärke 3,5 auf der Richterskala. Das Epizentrum lag im Stadtteil Lerchenberg. Größere Schäden richtete das Erdbeben nicht an. Ein Nachbeben (2,8 auf der Richterskala) um 06:52 Uhr folgte. Im benachbarten Wiesbaden wurde ein Wert von 3,2 auf der Richterskala erreicht.
Im September 2010 wurde in der Mainzer Neustadt feierlich und unter Beisein des Bundespräsidenten die Neue Synagoge eröffnet. Mitte 2011 öffnete nach zweijähriger Bauzeit die Coface-Arena in den Feldern bei Bretzenheim als neue Spielstätte des 1. FSV Mainz 05 (heute MEWA Arena). Im Dezember 2016 wurde nach 2,5-jähriger Bauzeit und mit Kosten in Höhe von 90 Millionen Euro im Rahmen des bundesweit größten Straßenbahnprojektes die „Mainzelbahn“ in Betrieb genommen. Seitdem verbinden die Linien 51 und 53 den Hauptbahnhof über Bretzenheim und Marienborn mit dem Lerchenberg. Am 15. April 2018 fand erstmals ein Bürgerentscheid in Mainz statt. Etwas mehr als 40 % der etwa 161.000 abstimmungsberechtigten Einwohner nahmen daran teil und stimmten mit 77 % gegen ein vom Stadtrat mehrheitlich beschlossenes Bauprojekt, den „Bibelturm“, als neu zu bauendem Teil des Gutenbergmuseums.
=== Einwohnerentwicklung ===
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte Mainz zwischen 20.000 und 30.000 Einwohnern. Durch die Industrialisierung und die Erweiterung des Stadtgebiets in die heutige Neustadt wuchs diese Zahl in den folgenden Jahrzehnten und hatte sich zwischen 1850 und 1900 mehr als verdoppelt. Im Jahr 1908 erreichte die Stadt erstmals die Grenze von 100.000 Einwohnern, wodurch sie zur Großstadt wurde. Seit 1952 hat Mainz dauerhaft mehr als 100.000 Einwohner, diese Zahl stieg in den folgenden Jahrzehnten auch durch mehrere Eingemeindungen an. 2011 wurde auch die Grenze von 200.000 Einwohnern überschritten. Ende 2017 hatten 215.058 Einwohner ihren Hauptwohnsitz in Mainz. Im Sommer 2019 überschritt die Einwohnerzahl (Haupt- und Nebenwohnsitz) laut Angaben der Stadt die Schwelle von 220.000 Einwohnern.
== Politik ==
=== Hoheitssymbole ===
Die Stadt Mainz führt ein Dienstsiegel, ein Wappen sowie eine Hiss- und eine Bannerflagge. Ferner verwendet die Stadt ein Logo.
==== Entwicklung des Stadtwappens ====
Das Wappen der Stadt Mainz zeigt zwei durch ein silbernes Kreuz verbundene, schräg gestellte, sechsspeichige, silberne Räder auf rotem Untergrund. Die Stadtfarben sind rot-weiß.
Ursprünglich zeigte das Wappen den Patron der Stadt, den Heiligen Martin. Das Ratssiegel der Stadt von 1300 zeigte diesen erstmals in Verbindung mit dem Rad (zur genauen Entstehungsgeschichte siehe den Hauptartikel). Der Erzbischof von Mainz, der zugleich auch Fürst des Kurstaates war, übernahm das Rad auch in das Territorialwappen. Zur Unterscheidung dazu führte die Stadt nun allein das Doppelrad als Wappen, wobei ab dem 16. Jahrhundert das Rad schräg gestellt wurde. Während der Zugehörigkeit der linksrheinischen Gebiete zu Frankreich wurden zunächst alle Wappen in den besetzten Gebieten verboten. Das Siegel der neugeschaffenen Mairie – des französischen Bürgermeisteramts – zeigte die Freiheitsgöttin mit der Jakobinermütze. Nach der Kaiserkrönung Napoleons I. 1804 enthielt das Stadtsiegel den französischen Kaiseradler. Am 13. Juni 1811 wurde das Mainzer Rad wieder zugelassen. Dem Wappen wurden oben in einem Balken die drei Bienen des Hauses Bonaparte hinzugefügt. Die Farben allerdings waren vertauscht. Zwischen 1835 und 1915 trug das Wappen noch ein besonderes Schildhaupt. Damit sollte Mainz als Bundesfestung abgebildet werden. Im Laufe der Geschichte der Stadt änderte sich auch die Gestalt des Rades mehrmals. Es kamen Speichen hinzu, Zusätze wurden angefügt oder auch wieder entfernt. Seit dem 12. Juni 1915 hat das Wappen seine heutige Form, die ab 1992 geringfügig modifiziert wurde und somit auch ohne Probleme als Stadtlogo verwendet werden konnte. Im Mai 2008 wurde diese mit einem leichten Bogen am oberen Wappenschild sowie mit einem etwas kürzeren Kreuz versehen.
Entwicklung der Darstellung des Wappens der Stadt Mainz
=== Organisation ===
Die Stadt Mainz ist eine kreisfreie Stadt gemäß der Kommunalordnung des Landes Rheinland-Pfalz. Der Oberbürgermeister wird direkt gewählt; seine Amtszeit beträgt acht Jahre.
Die Stadt gehört zum Bundestagswahlkreis Mainz, dem neben Mainz auch Teile des Landkreises Mainz-Bingen angehören. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann Daniel Baldy (SPD) hier das Direktmandat vor Ursula Groden-Kranich (CDU), die den Wahlkreis damit nach zwei Legislaturen (2013 und 2017) verlor. Aus dem Bundestagswahlkreis Mainz gehören neben Baldy die über die Landeslisten gewählten Tabea Rößner (Grüne) und Sebastian Münzenmaier (AfD) dem Deutschen Bundestag an.
Auf Landesebene ist Mainz derzeit in drei (bis 2021 zwei) Landtagswahlkreise unterteilt. Der Wahlkreis Mainz I umfasst seit einer Neuzuschneidung zur Landtagswahl 2021 die innerstädtischen Stadtteile. Hier gewann Katharina Binz (Grüne) 2021 das Direktmandat von Johannes Klomann (SPD). Bretzenheim, Gonsenheim, Hechtsheim, Mombach und Weisenau gehören zum Wahlkreis Mainz II; direkte Abgeordnete ist Doris Ahnen (SPD). Der neue Wahlkreis Mainz III umfasst die Stadtteile Drais, Ebersheim, Finthen, Laubenheim, Lerchenberg und Marienborn sowie im Landkreis Mainz-Bingen die Verbandsgemeinde Bodenheim. Als erster Wahlkreisabgeordneter des neuen Wahlkreises wurde Patric Müller (SPD) gewählt.
=== Stadtrat ===
Der Stadtrat von Mainz besteht aus 60 ehrenamtlichen Ratsmitgliedern, die zuletzt bei der Kommunalwahl am 26. Mai 2019 in einer personalisierten Verhältniswahl gewählt wurden, und dem hauptamtlichen Oberbürgermeister als Vorsitzendem. Seit den Wahlen 2019 sind die Grünen stärkste Fraktion im Stadtrat und lösten damit die CDU nach 25 Jahren in dieser Rolle ab (Details siehe Tabelle). Im Dezember 2009 wurde erstmals in Mainz eine Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen gebildet. Sie wurde sowohl nach den Kommunalwahlen 2014 als auch nach den Wahlen 2019 fortgeführt.
Die Sitzverteilung im Mainzer Stadtrat:
FW = Wählergemeinschaft – Freie Wähler Mainz e. V.
Pro MZ = Pro Mainz.
=== Oberbürgermeister ===
Bei der Stichwahl am 25. März 2012 wurde Michael Ebling (SPD) mit 58,2 % zum Oberbürgermeister gegen Günter Beck (Grüne) mit 41,8 % gewählt. Die Wahlbeteiligung lag bei 34,3 %. Er folgte damit dem zuvor von 1997 bis Ende 2011 amtierenden Jens Beutel (SPD) im Amt des Oberbürgermeisters. Bei der Stichwahl zwischen Amtsinhaber Ebling und dem von CDU, ÖDP und Freien Wählern nominierten Herausforderer Nino Haase am 10. November 2019 wurde Ebling mit 55,2 % der Stimmen wiedergewählt. Die Wahlbeteiligung lag in der Stichwahl bei 40,2 %.Am 13. Oktober 2022 wurde Michael Ebling mit sofortiger Wirkung zum neuen rheinland-pfälzischen Innenminister ernannt, nachdem Roger Lewentz am Vortag von diesem Amt zurückgetreten war. Die erforderliche Neuwahl für das Amt des Oberbürgermeisters fand am 12. Februar 2023 statt. Da keine der sieben Bewerbungen die erforderliche Mehrheit erreichte, kam es am 5. März 2023 zu einer Stichwahl zwischen Nino Haase (parteilos; 40,2 % der Stimmen im 1. Wahlgang) und Christian Viering (Bündnis 90/Die Grünen; 21,5 %). Nino Haase wurde mit 63,6 % zum Oberbürgermeister gewählt. Die Wahlbeteiligung lag bei 40,1 %. Haase wurde am 22. März 2023 in sein Amt eingeführt.
Amtsinhaber seit 1945Folgende Personen waren nach Ende des Zweiten Weltkriegs Oberbürgermeister von Mainz:
Rudolph Walther (parteilos), 1945
Emil Kraus (parteilos), 1945–1949
Franz Stein (SPD), 1949–1965
Jockel Fuchs (SPD), 1965–1987
Herman-Hartmut Weyel (SPD), 1987–1997
Jens Beutel (SPD), 1997–2011
Günter Beck (Bündnis 90/Die Grünen), 2012 (kommissarisch)
Michael Ebling (SPD), 2012–2022
Günter Beck (Bündnis 90/Die Grünen), 2022/23 (kommissarisch)
Nino Haase, parteilos, seit 2023Für eine vollständige Übersicht siehe Liste der Stadtoberhäupter von Mainz.
=== Stadtvorstand ===
Der Stadtvorstand besteht aus dem Oberbürgermeister Nino Haase (parteilos), dem das Dezernat I unterstellt ist, und den hauptamtlichen Leitern der anderen städtischen Dezernate. Die amtierenden Dezernatsleiter sind der Bürgermeister Günter Beck (Grüne, Dezernat II – Finanzen, Beteiligungen und Sport) sowie die Beigeordneten Manuela Matz (CDU, Dezernat III – Wirtschaft, Stadtentwicklung, Liegenschaften und Ordnungswesen), Eckart Lensch (SPD, Dezernat IV – Soziales, Kinder, Jugend, Schule und Gesundheit), Janina Steinkrüger (Grüne, Dezernat V – Umwelt, Grün, Energie und Verkehr) und Marianne Grosse (SPD, Dezernat VI – Bauen, Denkmalpflege und Kultur). Die Juristin Manuela Matz wurde am 21. November 2018 mit Wirkung zum 8. Dezember überraschend zur neuen Wirtschaftsdezernentin gewählt, da der bisherige Amtsinhaber Christopher Sitte (FDP) seine Kandidatur kurzfristig zurückgezogen hatte und die Ampelkoalition in dieser Zeit keinen neuen Kandidaten aufstellen konnte.2020 wurde ein neues Dezernat für kommunales Fördermittelmanagement geschaffen, um die FDP nach dem Rückzug Christopher Sittes wieder im Stadtvorstand zu haben. Am 18. Dezember 2020 wählte der Stadtrat Volker Hans (FDP) zum ehrenamtlichen Dezernenten. Der Wahl waren monatelange politische Auseinandersetzungen um die Schaffung dieses Dezernats vorausgegangen.
== Religionen ==
=== Statistik ===
Nach den Ergebnissen des Zensus 2011 gehörten 37,0 % Einwohner der katholischen Kirche an, 23,6 % Einwohner waren evangelisch und 39,4 % hatten keine oder eine sonstige Konfessionszugehörigkeit. Ende Mai 2023 hatten 27,5 % der Einwohner die katholische Konfession und 17,6 % die evangelische. 54,9 % gehörten entweder einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos. In Mainz stellt die Gruppe derjenigen die Mehrheit, die einer sonstigen oder keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft angehört.
(Auflistung seit 1800)
=== Christentum ===
==== Evangelisch-lutherische Kirche ====
Jahrhundertelang war die Stadt als Sitz eines der höchsten (katholischen) Reichsfürsten immer katholisch geprägt. Mainz verfügt über den einzigen „Heiligen Stuhl“ (sancta sedes Moguntia) außerhalb von Rom. Eine frühchristliche Gemeinde bestand vielleicht schon seit der Spätantike, vielleicht auch bischöflich verfasst. 780/782 wurde Mainz zum Erzbistum erhoben. Erster Erzbischof von Mainz wurde Lullus, der bereits im Jahr 754 Nachfolger von Bonifatius (der als Missionsbischof nur den persönlichen Titel Erzbischof führte) geworden war. Mainz wurde in der Folge Hauptort des größten Metropolitanverbandes jenseits der Alpen (siehe Bistum Mainz). In dem sich im 13. Jahrhundert endgültig konstituierenden Kollegium der sieben Kurfürsten (Königswähler) nahm der Erzbischof von Mainz die führende Stellung ein (siehe auch: Geschichte des Bistums Mainz).
Der 1514 von Papst Leo X. ausgegebene Ablass für den Bau des neuen Petersdoms in Rom wurde Albrecht von Brandenburg (Erzbischof von Mainz) zur Veröffentlichung in Sachsen und Brandenburg anvertraut. Albrecht wies Johann Tetzel an, den Ablass zu predigen. Martin Luther schrieb später einen Protestbrief an Albrecht über das Verhalten von Tetzel.Zu ersten Berührungen mit dem Protestantismus kam es so erst mit dem Schmalkaldischen Krieg und dessen Auswirkungen auf die Stadt 1552 und im Dreißigjährigen Krieg mit der Besetzung durch schwedische Truppen. Durchsetzen konnte sich die neue Konfession damals aber nicht. Nach dem Zusammenbruch der schwedischen Herrschaft noch während des Dreißigjährigen Krieges gewann wieder der Katholizismus die Oberhand. Einwohnern mit evangelischem Bekenntnis wurden die Bürgerrechte verweigert.
Seit 1715 gab es in Mainz eine kleine lutherische Garnisonsgemeinde. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden vermehrt die inzwischen in die Stadt zugezogenen Protestanten nicht nur geduldet. Der vom Geist der Aufklärung erfasste Kurfürst Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim sowie der Großhofmeister Anton Heinrich Friedrich von Stadion beschäftigten sogar protestantische Offiziere und Kammerherren am Hof. Unter Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal erhielten sie auch Einfluss auf das Bildungswesen. Eigene Kirchen erhielten sie jedoch zunächst nicht. Erst 1802 nach dem faktischen Zusammenbruch des Kurstaates wurde die erste evangelische Kirchengemeinde als „unierte“ gegründet, das heißt, sie hatte sowohl lutherische als auch reformierte Gemeindemitglieder. Sie galt als Vorbild für die 1822 durchgeführte Union beider Konfessionen in Rheinhessen. Als fördernd erwies sich, dass die Bundesfestung Mainz eine teilweise preußische (und damit überwiegend protestantische) Besatzung hatte.
==== Römisch-katholische Kirche ====
Das katholische Bistum, 1803 aufgelöst und unter Napoleon neu umschrieben, wurde 1821 in seinen heutigen Grenzen festgeschrieben und umfasst im Wesentlichen die Grenzen des Großherzogtums Hessen, zu dem Mainz damals gehörte.
1832 wurde Rheinhessen auch kirchlich Bestandteil der evangelischen Kirche im Großherzogtum Hessen, wo Rheinhessen eine eigene Superintendentur bildete. Nach vorübergehender Verlegung des Sitzes der Superintendentur nach Darmstadt 1882 wurde Mainz 1925 erneut Sitz derselben. 1934 wurde aus der Superintendentur die Propstei Rheinhessen, in der nunmehr mit Nassau vereinigten Kirche. Die Kirchengemeinden der Stadt gehören seither – sofern sie nicht einer Freikirche angehören – zum Dekanat Mainz (Propstei Rheinhessen) der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Seit 1. Oktober 2017 wurde die Propstei um das Dekanat Nassauer Land erweitert.
1875 wurde das Heinrich-Egli-Haus für Obdachlose gegründet. Dieses steht heute unter Trägerschaft der evangelischen Mission Leben gGmbH.
Mit der Industrialisierung wuchs die Mainzer Gemeinde rasch. Gab es 1849 27.633 Katholiken und 5.037 Protestanten, waren es 1901 49.408 Katholiken und 31.151 Protestanten. 1930 gab es in der Stadt 78.500 Katholiken und 48.500 Protestanten. Im Jahr 1997 lebten in Mainz 87.367 Katholiken, 53.254 Protestanten und 203 Juden. Im Jahr 2021 lebten in Mainz 65.434 Mitglieder der katholische Kirche (30,2 % der Gesamtbevölkerung) und 41.555 (19,2 % der Gesamtbevölkerung) Mitglieder der evangelische Kirche.
==== Freikirchen und Sondergemeinschaften ====
Seit 1847 besteht die Freireligiöse Gemeinde Mainz. Sie hat ihr Gemeindezentrum in der Gartenfeldstraße in der Mainzer Neustadt. Das alte Gemeindezentrum in der Großen Bleiche 53 wurde beim Bombenangriff am 27. Februar 1945 total zerstört.
Auch andere christliche Religionsgemeinschaften sind in Mainz vertreten (in zeitlicher Reihenfolge, soweit ein Datum bekannt ist): Die Baptisten (im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, seit 1862), die Altkatholische Kirche (seit 1876), die Neuapostolische Kirche (seit etwa 1895), die Evangelisch-methodistische Kirche (seit 1906), die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten (seit 1907), Die Christengemeinschaft (seit Ende der 1920er), die Bibelgemeinde Mainz (seit 1978), das pfingstlich-charismatische „Christliche Zentrum DER FELS“ (im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP)) (seit 1981), die Freie evangelische Gemeinde (seit 1982), die Orthodoxe Kirche (seit 1992) mit einer überwiegend deutschsprachigen Gemeinde, die EnChristo Mainz (gehört Foursquare Deutschland, Freikirchlichen Evangelischen Gemeindewerk e. V. (fegw)) an (seit 1995), das Christliche Familienzentrum Freikirchliche Gemeinde (seit 1998), die Kirche des Nazareners (seit 2008), die Pfingstgemeinde „Die BASIS – Gemeinde für diese Generation“, Freie Baptisten-Gemeinde Mombach sowie die Zeugen Jehovas.
Mitglieder verschiedener christlicher Konfessionen haben sich zur Evangelischen Allianz zusammengeschlossen. Der Großteil der christlichen Kirchen und Gemeinden arbeitet seit 1997 in der örtlichen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen zusammen.Seit 2015 nutzt die Mazedonisch-Orthodoxe Kirche die Kirche Heiliger Nikolaus (Mainz-Hechtsheim).
=== Judentum ===
Die Ursprünge der Jüdischen Gemeinde Magenza sind nicht restlos geklärt. Für die These, die Juden seien mit den Römern nach Mainz gekommen, spricht sehr viel, ein Beweis ist jedoch bisher nicht gelungen. Die erste sichere Aufzeichnung stammt aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts und ist eine hebräische Überlieferung rabbinischer Rechtsgutachten, die sich mit einer bereits blühenden jüdischen Gemeinde befassen. Im Mittelalter gehörte die jüdische Gemeinde Mainz bis zu den Pestpogromen um das Jahr 1350 zusammen mit Spira und Worms zu den SchUM-Städten, die für das aschkenasische Judentum europaweite Bedeutung erlangten. Die angesehene Familie Kalonymos lebte hier. Bedeutend war auch das Wirken Gerschom ben Jehudas, einer der wichtigsten Gelehrten jener Zeit überhaupt. Auf dem Judensand, dem jüdischen Friedhof von Mainz, finden sich Grabsteine aus dem 11. Jahrhundert. Seit dem 27. Juli 2021 gehört der Friedhof als Teil der Stätten, die von der jüdischen Kultur in den SchUM-Städten zeugen, zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Die Gemeinde wurde mehrmals (siehe Geschichte der Stadt Mainz) durch Pogrome während der Zeit der Kreuzzüge und der Pestepidemien dezimiert. Am jüdischen Neujahrsfest wird in jeder Synagoge das Unetaneh tokef gesprochen, das an die erschlagenen Mainzer Juden von 1096 erinnert. 1435 wurden die Juden für Jahrhunderte aus Mainz vertrieben.Vor 1933 hatte die Gemeinde bis zu 3000 Mitglieder, 1946 gerade noch 59. 1997 gab es 203 Mitglieder, was etwa 0,1 % der Gesamtbevölkerung ausmacht.
Die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtete Mainzer Synagoge in der Neustadt wurde während der Zeit des Nationalsozialismus vollständig abgebrannt und zerstört. An der ursprünglichen Stelle wurden einige Säulen als Mahnmal wieder errichtet. 1999 wurde ein Wettbewerb für den Neubau einer Synagoge und eines Jüdischen Gemeindezentrums an dem Ort der alten Mainzer Synagoge durchgeführt, der von dem Architekten Manuel Herz gewonnen wurde. Die von ihm entworfene neue Synagoge Mainz ist seit dem 3. September 2010 der Nachfolgebau früherer Synagogen in Mainz. Die Synagoge in Weisenau überstand den Krieg unbeschadet. Sie wurde Ende der 1990er-Jahre restauriert und am 27. Mai 1996 der jüdischen Gemeinde durch Rabbiner Leo Trepp wieder als Gotteshaus übergeben.
=== Islam ===
Vor allem durch Einwanderung und Einbürgerung hinzugekommen sind muslimische Gemeinschaften. Im Jahr 2002 wurde die Zahl der Muslime auf ca. 15.000 beziffert, gleichzeitig gab es 15 Moscheevereine. Nach einer Berechnung aus den Zahlen des Zensus für die Personen mit Migrationshintergrund lag der Bevölkerungsanteil der Muslime in Mainz am 9. Mai 2011 bei 8,9 Prozent (rund 17.800 Personen).
== Stadtbild ==
=== Überblick ===
Die Stadt Mainz ist in ihrem weiteren Innenstadtbereich sowie in einzelnen Vororten (vor allem Mombach und Weisenau) zunehmend großstädtisch geprägt. In anderen Vororten (z. B. Drais, Finthen oder Marienborn) blieb der dörfliche Charakter weitgehend bestehen, auch wenn sich in den vergangenen Jahrzehnten das Ortsbild in den Stadtteilen teilweise veränderte (z. B. in Finthen mit den Neubaugebieten Katzenberg und Römerquelle). In der Innenstadt selbst sind jedoch auch viele andere Elemente des Städtebaus erhalten geblieben. Noch klar an das mittelalterliche und frühneuzeitliche Stadtbild erinnert die heutige „Altstadt“ mit ihren verwinkelten Straßen und Gassen rund um die Augustinerstraße. Dort finden sich auch bis heute noch Fachwerkhäuser. Große Teile der historischen Altstadt, vor allem nördlich der Ludwigsstraße, wurden durch die britischen Luftangriffe auf Mainz im Zweiten Weltkrieg beschädigt, später abgerissen und modern überbaut.
Die von Stadtbaumeister Eduard Kreyßig entworfene Neustadt war eines der größten Stadterweiterungsprojekte seiner Zeit, in dem sich die Stadtfläche fast verdoppelte. Die Neustadt entstand in der Gründerzeit um 1900, in der sich Mainz von der provinziell geprägten Festungsstadt zur Großstadt entwickelte.
Das Panorama der Stadt von der Rheinseite wird heute vor allem von Bauten zweier unterschiedlicher Bauepochen geprägt: Dem Rathauskomplex (von Arne Jacobsen und Otto Weitling) mit Hilton-Hotel und Rheingoldhalle aus der Moderne und dem Barock- bzw. Renaissance-Ensemble bestehend aus dem Neuen Zeughaus (heute Staatskanzlei), dem Deutschhaus (heute Landtag) und dem Kurfürstlichen Schloss.
Nachdem die Umsetzung einer ambitionierten Neuplanung der im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörten Innenstadt durch Marcel Lods gescheitert war, wurden nur die wichtigsten Gebäude wiedererrichtet. Dazu gehören die vielen barocken Adelspaläste, die sich vor allem am Schillerplatz befinden. Ansonsten wurden in Mainz zunächst überwiegend neue Wohnhäuser, beispielsweise die Siedlung Am Fort Elisabeth in der Oberstadt, gebaut. Bedingt durch den erst späten Aufschwung zu Beginn der 1960er Jahre sind diese Gebäude vor allem in dem Stil jener Dekade gehalten, was damals wie heute von Städtebauern kritisiert wurde. Auch viele Wohnsiedlungen im Umkreis der Stadt sind im Stil der 1960er Jahre entstanden.
Zu den bedeutendsten heute noch bestehenden Bauten des 19. Jahrhunderts in Mainz zählen die evangelische Christuskirche, der Hauptbahnhof, die Rheinbrücke, Teile des von Georg Moller errichteten Staatstheaters und die Festungsanlagen bzw. deren Reste. Die noch heute häufig im Stadtbild deutlich sichtbaren sonstigen Bau-Zeugnisse jener Zeit sind fast ausschließlich Wohnhäuser mit oder ohne Geschäftszeile. Von den bedeutenderen Bau-Epochen in Mainz, Romanik, Gotik, Renaissance (in Ansätzen) und vor allem Barock sind jedoch noch mannigfaltigere Beispiele erhalten geblieben.
=== Romanik und Gotik in Mainz ===
Auch heute sind in der Stadt Mainz viele Zeugnisse historischer Baukultur der Romanik und Gotik erhalten, die das Stadtbild prägen.
Bedeutendstes Bauwerk der Romanik in Mainz ist der Mainzer Dom, den Erzbischof Willigis zwischen 975 und 1009 errichten ließ. Da er bereits am Tag seiner Weihe weitgehend abbrannte, wurde er in den Folgejahren immer größer aufgebaut, denn auch 1081 und 1137 brannte der Dom. Er wurde von Erzbischof Bardo, Kaiser Heinrich IV., Erzbischof Konrad I. von Wittelsbach und Erzbischof Siegfried III. von Eppstein durch alle Bauepochen der Romanik weitergeführt. Zu Beginn der Epoche der Gotik wurden auch am Dom gotische Elemente verwirklicht. Unter anderem wirkte der als Naumburger Meister bekannt gewordene Künstler am Dom.
Westlich des Doms liegt die St.-Johannis-Kirche, die vermutlich über dem ersten Dom errichtet wurde und wohl selbst auch einmal Domkirche des Bistums war. Sie wurde 910 von Erzbischof Hatto geweiht und in spätkarolingischen Formen errichtet. Durch Umbauten und nach Zerstörungen vor allem im Zweiten Weltkrieg ist sie jedoch mehrfach überformt worden. Zusammen mit dem Dom und der 1793 zerstörten, dem Dom östlich vorgelagerten Liebfrauenkirche bildete die Johanniskirche einst eine zusammenhängende Einheit und mit den umliegenden Plätzen („Höfchen“) die erzbischöfliche Pfalz.
Nicht erhalten ist das historische Stift St. Alban vor Mainz, im 8. und 9. Jahrhundert wichtigstes geistiges Zentrum des Bistums. Die Kirche verfiel schon im Hochmittelalter. Die Reste wurden im Markgräflerkrieg zerstört.
Ebenfalls von Willigis gegründet ist die Stiftskirche St. Stephan, die jedoch bald durch einen gotischen Bau ersetzt wurde. Sie ist heute die größte gotische Kirche in Mainz und besitzt Fenster, die Marc Chagall Ende des 20. Jahrhunderts gestaltete. Aus der Stilepoche der Gotik stammen auch die Pfarrkirchen St. Emmeran (mit romanischem Turm vom Ende des 12. Jahrhunderts) und St. Quintin (gleichzeitig Pfarrkirche der ältesten Pfarrei von Mainz, Vorgängerbau schon im 8. Jahrhundert) und die Antoniterkapelle. Die im Zweiten Weltkrieg zerstörte gotische Kirche St. Christoph ist heute das Kriegsmahnmal der Stadt.
Als Profanbauten sind ein spätgotischer Wohnturm am Älteren Dalberger Hof erhalten, ferner aus dem 16. Jahrhundert das spätgotische Haus Zum Korb (Am Brand 6). Der Hof zum Homberg (14. bis 16. Jahrhundert) wurde rekonstruiert.
=== Renaissance ===
Bedeutendstes Bauwerk der Renaissance in Mainz ist das Kurfürstliche Schloss. Stilistisch gehört es zur Deutschen Renaissance, deren spätestes Zeugnis dieser Bau ist. Ebenfalls aus der Stilepoche der Renaissance stammt das Haus Zum Römischen Kaiser, das heute das Gutenberg-Museum beherbergt sowie der Ältere Dalberger Hof. Der Leininger Hof ist teils spätgotisch, teils barock. Der Knebelsche Hof (1588–98) wurde 1953–55 unter Wiederverwendung alter Teile rekonstruiert, ähnlich in den 1970er Jahren der Algesheimer Hof.
Der von Erzbischof Albrecht gestiftete Marktbrunnen gehört zu den prächtigsten Renaissancebrunnen Deutschlands. Das Alte Zeughaus entstand 1604/05. Als weiteres Zeugnis, freilich schon am Übergang zum Barock stehend, kann die ab 1615 in der Nähe des heutigen Gutenbergplatzes errichtete Domus Universitatis angesehen werden, welche für Jahrhunderte höchster Profanbau der Stadt war.
=== Barock und Rokoko ===
Die Barockzeit ließ die Stadt vor allem während des Episkopats Lothar Franz’ von Schönborn (1695–1729) einen beispiellosen Bauboom erleben, dessen Ergebnisse noch heute im Stadtbild zu sehen sind und dieses zum Teil sogar prägen. Am Schillerplatz, an der Großen Bleiche, in der Klarastraße sowie am Rhein finden sich heute etliche Adelshöfe des Mainzer Stiftsadels, beginnend mit der Errichtung des Schönborner Hofes ab 1668 am Schillerplatz, der einen frühen Barockbau darstellt, dessen Dekor noch Renaissanceelemente aufweist. Es folgten der Jüngere Dalberger Hof (bis 1718), der Stadioner Hof (1728–33), der Erthaler Hof (1734–39), der Eltzer Hof (ab 1742), der Osteiner Hof (1747–1752), der Bassenheimer Hof (1750), ferner das Deutschhaus (ab 1730, heute Landtag), das benachbarte Neue Zeughaus (1738–40, heute Staatskanzlei), die Johanniterkommende Zum Heiligen Grab (1740–48, heute Sitz des Bischöflichen Ordinariats) und die Golden-Ross-Kaserne (1766, heute Landesmuseum). Auch diese Gebäude sind oft teilweise oder ganz rekonstruiert.
Auch einige Kirchen finden sich noch, obwohl viele aus dieser Zeit in den Wirren der Geschichte wieder zerstört wurden. Bedeutende Kirchen sind die Augustinerkirche in der gleichnamigen Altstadtstraße und die in den Formen des Rokoko errichtete Peterskirche an der Großen Bleiche. Die ebenfalls zu jener Zeit errichtete Ignazkirche (ab 1763) wie auch der Erthaler Hof (ab 1743) sind jedoch schon frühe Beispiele des Klassizismus.
=== Festungsbauten ===
Aus der Festungszeit der Stadt sind etliche Relikte vorhanden, die aus verschiedenen Epochen stammen. Exponiertes Beispiel des Barocks ist dabei das Palais des Festungskommandanten, welches mit der Zitadelle über der Stadt thront. Doch auch frühere Teile der alten römischen und mittelalterlichen Stadtbefestigung sind noch vorhanden und zumindest in ihrem Mauerwerk noch original. Am Rhein erheben sich der Holzturm und der Eisenturm, die ihre Torfunktion jedoch durch die Aufschüttung des Rheinufers im 19. Jahrhundert und die dadurch bedingte Erhöhung des Straßenniveaus verloren haben. Im Holzturm war der Kerker des Räuberhauptmanns Schinderhannes.
Spätere Zeugen des Festungsbaus als Bundesfestung sind das Fort Malakoff im Süden der Stadt sowie das große, im Krieg nicht zerstörte, Proviant-Magazin in der Schillerstraße gegenüber dem Erthaler Hof.
=== Seit 1945 ===
Die Stadt zeichnet sich heute durch eine Durchmischung verschiedener Bauepochen aus. Die französische Militäradministration berief in den späten 1940er Jahren den berühmten französischen Städteplaner Marcel Lods, einen neuen Stadtplan auszuarbeiten. Dieser wurde damals als Mainz, modernste Stadt der Welt sehr bekannt. Der radikale Plan ist nie umgesetzt worden, die Akzeptanz war gering, aber auch das Geld ist nicht vorhanden gewesen. Es blieb bei einer evolutionären und behutsamen Änderung des alten Plans. Allgemein wurden die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges von den Kommunalpolitikern der 1960er Jahre auch als Chance begriffen, alte Fehler bei Bauten und der Generalanlage (Straßennetz, übrige Infrastruktur) der Stadt zu beheben. Im sakralen Bereich wurden neue Kirchen gebaut, deren künstlerische Ausstattung von Peter Paul Etz als beispielhaft gilt, die mit seinen Schülern Alois Plum und Gustel Stein und deren Projekten in ganz Deutschland bis heute wirkt.
Die der militärischen Entspannung folgende Konversion bot Gelegenheit Krongarten und Gonsbachterrassen zu entwickeln, was im Gegenteil zum Layenhof auch gelang. Das bedeutendste städtebauliche Projekt jüngster Zeit ist die Entwicklung des 22 Hektar großen Geländes des ehemaligen Zoll und Binnenhafens (bis 2011) zu einem Mischgebiet aus Wohnungen, Büros, Gewerbe- und Kultureinrichtungen. 2007 wurde ein entsprechender städtebaulicher Rahmenplan verabschiedet, der Gebäudenutzflächen bis zu 355.000 Quadratmetern vorsieht. Als nächstes größeres Objekt wird die Entwicklung des Heilig-Kreuz-Areals in Weisenau, auf dem ehemaligen IBM-Gelände unter anderen mit innovativen Bau- und Wohnformen in privat organisierter, generationenübergreifender Struktur realisiert. Auf der 30 Hektar großen Fläche sollen 3.000 neue Wohnungen, davon 900 sozial gefördert, für bis zu 4.500 Personen entstehen. Auf dem 8,7 Hektar großen Gelände der Generalfeldzeugmeister-Kaserne in der Oberstadt, zwischen Marienhaus Klinikum und Pariser Straße, sollten ab 2019 circa 500 Wohnungen gebaut werden. Ein im Stadtteil Mainz-Hechtsheim am östlichen Rand des Wohngebiets „Großberghöhe“ gelegenes Areal soll als „Wohnquartier Hechtsheimer Höhe“ erschlossen werden. Dort sollen auf einer Fläche von rund 17 Hektar Ein- und Zweifamilienhäuser mit rund 400 Wohnungen gebaut werden.
=== Sehenswürdigkeiten (Auswahl) ===
==== Brunnen, Büsten und Denkmäler ====
==== Kunst im öffentlichen Raum ====
Mainz kann mit einer Reihe von bedeutenden modernen Kunstwerken im öffentlichen Raum aufwarten.
=== Siehe auch ===
Liste der Kulturdenkmäler in Mainz
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
=== Allgemeine Informationen ===
Wirtschaft und Infrastruktur sind in Mainz von der Zugehörigkeit zum Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main geprägt. Bei Rankings, die sich an der Wirtschaftsleistung der Städte orientieren, belegte die Stadt seit den 2000er Jahren vordere Plätze. So erreichte Mainz in einer Studie der Wirtschaftswoche von 2005 im Vergleich von 50 deutschen Städten den vierten Rang, bei der Wiederholung 2006 den fünften Rang. Geprüft wurden innerhalb der Studie ökonomische und strukturelle Indikatoren wie Produktivität, Bruttoeinkommen und Investitionen. Im 2010er Städteranking von insm und wiwo.de liegt Mainz auf Platz 48 von 100 bewerteten Städten, hinter Speyer (31), Neustadt/Weinstraße (35) und Frankenthal (46), jedoch vor Worms (62) und Ludwigshafen (68). Mit einer Kaufkraft von 25.035 Euro pro Einwohner (2018) liegt die Stadt um 7,3 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Das Einkommensteueraufkommen betrug in Mainz 2016 89 Mio. Euro das Gewerbesteueraufkommen bei 112,8 Mio. Euro. Bei den Gewerbeanmeldungen im Verhältnis zu den Gewerbeabmeldungen belegte Mainz in der Studie, die am 30. Juni 2006 veröffentlicht wurde, den dritten Platz. Im Jahre 2016 erbrachte Mainz, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 11,577 Milliarden € und belegte damit Platz 33 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung und den zweiten Platz in Rheinland-Pfalz. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 54.696 € (Rheinland-Pfalz: 34.118 €, Deutschland 38.180 €) und damit über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. Das BIP je Erwerbsperson beträgt 74.345 € und liegt damit recht hoch. In der Stadt sind 2017 ca. 155.700 Erwerbstätige beschäftigt. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 5,2 % und damit über dem Durchschnitt von Rheinland-Pfalz von 4,1 % (im benachbarten Landkreis Mainz-Bingen betrug sie 3,2 %).Im Zukunftsatlas 2019 belegte die kreisfreie Stadt Mainz Platz 45 von 401 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „hohen Zukunftschancen“.
=== Verschuldung der Stadt Mainz ===
Binnen 23 Jahren stieg die Verschuldung der Stadt Mainz von 25 Millionen Euro (1994) auf über 1.200 Millionen Euro (2017).
In der Pro-Kopf-Verschuldung war Mainz 2014 hinter Darmstadt und Kaiserslautern die am dritthöchsten verschuldete kreisfreie Stadt in Deutschland. 2012 war die Stadt per Stadtratsbeschluss vom 14. Dezember 2011 dem Kommunalen Entschuldungsfonds Rheinland-Pfalz (KEF-RP) beigetreten. Die Stadt musste im Jahr 2011 rund 25 Millionen Euro Zinsen zahlen, bis 2014 stieg die Zinslast auf 54 Millionen Euro. Durch günstige Umschuldungen betrug die Zinslast 2017 25,9 Millionen Euro.Die Stadt Mainz plant, Ende 2022 schuldenfrei zu sein, da sie mit hohen Gewerbesteuereinnahmen des Unternehmens Biontech rechnet. Durch die rund eine Milliarde Euro betragenden Steuerzahlungen von Biontech sowie weitere Haushaltsüberschüsse im Jahr 2021 können voraussichtlich sämtliche Schulden getilgt werden.
=== Verkehrsinfrastruktur ===
==== Fernstraßenverkehr ====
Ein Autobahnhalbring, auf dem sich zwei Autobahnbrücken über den Rhein nach Hessen befinden, trennt die äußeren (Finthen, Drais, Lerchenberg, Marienborn, Hechtsheim, Ebersheim und Laubenheim) von den inneren Stadtteilen und dem Stadtkern. Dabei durchquert in West-Ost-Richtung die A 60 vom Dreieck Nahetal zum Rüsselsheimer Dreieck. Nach Wiesbaden zweigt die A 643 ab. Richtung Süden führt die A 63 über Alzey nach Kaiserslautern. Ferner führen die Bundesstraßen 9 und 40 durch das Stadtgebiet.
In den 1960er-Jahren bestanden in Mainz Pläne zur Errichtung zweier Stadtautobahnen. Dabei waren einerseits eine Nord-Süd-Strecke geplant, welche von der Anschlussstelle Mainz-Mombach auf der Schiersteiner Brücke durch das Industriegebiet Mombach vorbei am Hauptbahnhof, durch einen Tunnel unter der Oberstadt hindurch und über eine Hochstraße vorbei an Weisenau bis zur Anschlussstelle Mainz-Laubenheim an der A 60 führen sollte und andererseits ein Abzweig von besagter Nord-Süd-Strecke nordwestlich vom Hauptbahnhof, um an die nur zwei Kilometer westlich gelegene Anschlussstelle Mainz-Gonsenheim an der A 643 anschließen zu können. Über eine mögliche Weiterführung dieser kurzen Ost-West-Strecke, möglicherweise über den Rhein, gibt es heute keine gesicherten Erkenntnisse mehr. Von beiden Planungen wurden nur kleine Einzelbestandteile umgesetzt, welche niemals als Autobahn genutzt wurden. Dazu zählen die Führung der Mombacher Straße als Hochstraße im Bereich des Hauptbahnhofs (mit autobahngerecht ausgebauten Zufahrtsrampen, die 1998 teilweise abgerissen wurden); die etwa 1,5 Kilometer lange Hochstraße in Mombach, die die Mombacher Straße in Hartenberg-Münchfeld mit der Rheinallee in Mombach verband und bis heute vorbereitete Abfahrtsstümpfe für die Ost-West-Anbindung aufweist (wurde 2021 gesperrt und zum Abriss freigegeben) sowie ein 270 Meter langes, voll ausgebautes Autobahnstück am Ende der Anschlussstelle Mainz-Gonsenheim, welches nie in Betrieb ging.In Mainz und Wiesbaden werden die europaweit geltenden Grenzwerte für Luftschadstoffe regelmäßig überschritten. Um dem entgegenzuwirken, wurde zum 1. Februar 2013 zusammen mit der Nachbarstadt Wiesbaden eine Umweltzone eingerichtet. Es ist damit die erste Umweltzone in Rheinland-Pfalz, und gleichzeitig die erste länderübergreifende Umweltzone. Damit sollen die vom motorisierten Straßenverkehr ausgehenden ökologischen und gesundheitlichen Belastungen verringert werden. Aufgrund einer Klage der Deutsche Umwelthilfe (DUH) musste sich Mainz auf ein Dieselfahrverbot vorbereiten. Die Stadt Mainz war zuversichtlich, bis Ende 2019 den NO2-Grenzwert von 40 Mikrogramm je Kubikmeter Luft an der am meisten belasteten Messstelle Parcusstraße nahe dem Hauptbahnhof einhalten zu können, um dieses Verbot zu vermeiden.
==== Straßenschilder in Mainz ====
Eine Besonderheit des Mainzer Stadtbilds sind seit 1853 die Straßenschilder: Straßen mit roten Schildern verlaufen vorwiegend senkrecht zum Rhein (in den südlichen Stadtteilen und in der Innenstadt ist das die West-Ost-Richtung, in Mombach aufgrund des nach Westen biegenden Flussverlaufs dann schon eher Süd-Nord), während Straßen parallel zum Rhein mit blauen Straßenschildern versehen werden. Dabei steigen die Hausnummern in den Straßen mit roten Schildern in Richtung Rhein, in den Straßen mit blauen Schildern mit der Flussrichtung des Rheins, jeweils ungerade Zahlen links und gerade rechts. Die Anregung dazu gab bereits 1849 Josef Anschel durch einen Antrag auf „Umänderung der Häusernummern“, bei der er ebenfalls den einheitlichen Verlauf der Hausnummern vorschlug. Kleinere Straßen, insbesondere in den vom Rhein weiter entfernt liegenden Ortsteilen, und Straßen, deren Verlauf nicht eindeutig ist, sind mit weißen Schildern versehen.
Nach den letzten umfangreichen Eingemeindungen in den 1960er Jahren stand die Stadt Mainz vor dem Problem, dass es nunmehr zahlreiche namensgleiche Straßen im Stadtgebiet gab, was nicht nur bei der Postzustellung zu Verunsicherung und Verwechslungen führte. Daher entschloss man sich in den 1970er Jahren, alle Straßennamen nur noch einmalig zu vergeben, was zu zahlreichen Umbenennungen, nicht nur in den neu eingemeindeten Stadtteilen führte. So wurde zum Beispiel aus der Hollagasse die Holdergasse, aus der Mainzer Straße die Alte Mainzer Straße, aus der Adlergasse die Ölgasse und viele andere Umbenennungen mehr. Darüber hinaus achtete man damals sogar darauf, keine Straßennamen neu zu vergeben, die sich in den ehemaligen rechtsrheinischen Stadtteilen von Mainz befinden, um bei einer eventuellen Rückgliederung dieser Stadtteile nicht noch einmal vor dem gleichen Problem zu stehen. Das erklärt, dass es in Mainz bislang keine Wiesbadener Straße, Darmstädter Straße oder Frankfurter Straße gibt. Jedoch wurden keine in Mainz und seinen ehemaligen Stadtteilen doppelt vorkommende Namen extra umbenannt. So gibt es zum Beispiel nach wie vor die Eleonorenstraße, die Friedrichstraße u.v.m. in Mainz ebenso wie in AKK. Dieser Grundsatz wurde später aufgeweicht, und auch in AKK vorkommende Straßennamen werden wieder im Mainzer Stadtgebiet verwendet. Als Beispiele seien genannt in Bretzenheim und Kastel die Marie-Juchacz-Straße, in Ebersheim und Kastel die Römerstraße und in Drais und Kostheim Am Mainzer Weg.
==== Schienenpersonenfernverkehr ====
Am Mainzer Hauptbahnhof halten täglich 104 Fernverkehrszüge. Dabei wird er täglich von 60.000 Personen genutzt.
Mainz ist an das Intercity-Express-, Intercity- und Eurocity-Netz der Deutschen Bahn angebunden. Fernzüge erreichen die Stadt dabei aus Nordwest über die linksrheinische Strecke aus Richtung Köln über Koblenz und zwei Züge am Tag über den Wiesbadener Abzweig der Hochgeschwindigkeits-Neubaustrecke Köln–Frankfurt. Nach Süden fahren die Fernzüge über Mannheim bis Basel und Interlaken und über Frankfurt Flughafen nach Frankfurt Hauptbahnhof.
Seit Dezember 2005 existiert eine zweistündliche ICE-Anbindung von Wiesbaden über Mainz, Frankfurt Flughafen, Fulda, Erfurt und Leipzig nach Dresden.
Nachdem zwischen Mainz Hauptbahnhof und dem Bahnhof Mainz Römisches Theater ein zweiter Tunnel gebaut und der alte Tunnel aufgeweitet wurde, wurden im westlichen Gleisvorfeld des Hauptbahnhofes die Gleisanlagen umgebaut, um eine kreuzungsfreie Einfädelung des Wiesbadener Abzweigs zu ermöglichen.
==== Öffentlicher Personennahverkehr ====
Rückgrat des Öffentlichen Personennahverkehrs sind fünf Mainzer Straßenbahnlinien, mit einer Liniennetzlänge von 29,7 km, und 31 Buslinien der Mainzer Verkehrsgesellschaft (MVG), Verkehrsbetriebe der Stadtwerke Mainz, sowie anderer Verkehrsunternehmen, wie ESWE Verkehrsgesellschaft und Kommunalverkehr Rhein-Nahe. Die MVG verfügt über 41 Straßenbahn-Linienfahrzeuge und 150 Omnibusse, wobei sie mit ihrem Wiesbadener Kooperationspartner, der ESWE, ein gemeinsames Netz mit fortlaufenden Liniennummern bildet. Wiesbadener Buslinien beschränken sich auf den Bereich bis einschließlich 49, Mainzer Bus- und Straßenbahnlinien werden mit Zahlen ab 50 nummeriert. Mit den Buslinien sind von Mainz aus auch benachbarte kleinere Städte wie Ingelheim am Rhein und Nieder-Olm erreichbar. Um die Kooperation beider Verkehrsbetriebe besser zu organisieren, wurde der Verkehrsverbund Mainz-Wiesbaden gegründet. Mit den Bussen und Bahnen der MVG werden täglich etwa 180.000 Fahrgäste (Stand 2019) befördert.
Alle Linien im Mainzer und Wiesbadener Stadtgebiet innerhalb des Rhein-Main-Verkehrsverbunds (RMV) sind zu einheitlichen Preisen benutzbar, wobei die Stadt Mainz dem RMV angeschlossen ist und mit Wiesbaden eine Tarifzone bildet. Der Landkreis Mainz-Bingen gehört zum Rhein-Nahe-Nahverkehrsverbund (RNN). Für Verbindungen aus dem und in das Gebiet des Rhein-Nahe-Nahverkehrsverbunds (RNN) wird der RNN-Tarif auch bis Mainz und Wiesbaden angewendet.
Zwischen beiden Verbünden gibt es Übergangstarife, die in allen Bussen und Straßenbahnen der MVG, in allen Bussen der ESWE Verkehrsgesellschaft und der ORN und in allen Nahverkehrszügen (Regional-Express, Regionalbahn, S-Bahn) von allen Eisenbahnverkehrsunternehmen, beispielsweise Süwex, Vlexx, Hessische Landesbahn oder trans regio, gelten. Im Stadtverkehr der Stadt Mainz und der Stadt Wiesbaden, bei Fahrten zwischen Mainz und Wiesbaden (bzw. umgekehrt) sowie bei Fahrten in das übrige RMV-Gebiet gilt ausschließlich der Tarif des RMV.
Der Mainzer Hauptbahnhof wird täglich von 311 Nahverkehrszügen angefahren. Regionale Züge fahren nach Alzey, Frankfurt, Wiesbaden, Koblenz über Bingen, Saarbrücken (entlang der Nahe über Bad Kreuznach), Mannheim über Worms, Aschaffenburg (über Groß-Gerau und Darmstadt).
Ferner ist die Stadt an das Netz der S-Bahn Rhein-Main angeschlossen, die neben dem Hauptbahnhof die Bahnhöfe Mainz Nord und Mainz Römisches Theater bedient. Diese Bahnhöfe werden von der S-Bahn-Linie S8 aus Richtung Hanau, über Offenbach, Frankfurt Hbf und Frankfurt Flughafen sowie Wiesbaden in einem 30-Minuten-Takt, bedient. Weitere Bahnhöfe im Mainzer Stadtgebiet sind Mainz-Mombach, Mainz-Waggonfabrik, Mainz-Gonsenheim, Mainz-Marienborn und Mainz-Laubenheim. Das Mainzer Rheinufer in der Innenstadt ist über die Theodor-Heuss-Brücke vom S- und Regionalbahnhof Mainz-Kastel aus am schnellsten erreichbar. Die Strecke Mainz–Ludwigshafen wurde im Zuge der neuen Linie S 6 am 10. Juni 2018 in das S-Bahn-System RheinNeckar integriert. Die Züge der Linie S6 verkehren von Bensheim über Weinheim, Mannheim, Ludwigshafen am Rhein und Worms zum Mainzer Hauptbahnhof.
==== Fernbusverkehr ====
Seit der 2013 erfolgten Liberalisierung des Fernbusverkehrs in Deutschland wird Mainz von verschiedenen Fernbus-Unternehmen angefahren. Die Fernbushaltestellen befinden sich unweit des Hauptgebäudes des Mainzer Hauptbahnhofes am Kaiser-Wilhelm-Ring. Eine Verlegung der Haltestellen aus der Innenstadt heraus ist in der Diskussion, da es durch die Fernbusse zu starken Verkehrsbehinderungen kam.
==== Binnenschiffsverkehr ====
Mainz war von 1886 bis 1936 Endpunkt der Kettenschifffahrt auf dem Main. Mit Einsetzen der Rheinromantik wurde Mainz auch zum Ziel romantischer Flussreisen auf Flusskreuzfahrtschiffen. Die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrtsgesellschaft als Vorläuferin der Köln-Düsseldorfer Deutsche Rheinschiffahrt unternahm am 1. Mai 1827 eine Jungfernfahrt auf dem Rhein von Mainz nach Köln. Zahlreiche Schiffsanlegestellen befinden sich noch heute am Rheinufer zwischen Schloss und Winterhafen.Der alte Mainzer Zoll- und Binnenhafen hat eine Fläche von 30 ha, er wurde und wird in ein zentrumsnahes Baugebiet konvertiert. Der Bebauungsplan „Neues Stadtquartier Zoll- und Binnenhafen (N 84)“ ist seit Juni 2015 rechtskräftig. Die bei der Umwidmung des Gebietes weggefallenen Liegeplätze für Binnenschiffe wurden nicht ersetzt. Auch weitere Liegeplätze außerhalb des Zollhafens wurden entfernt. Mit einem Güterumschlag von 1,3 Millionen Tonnen wurde der alte Hafen jährlich von 2.200 Schiffen angefahren (2003). Die neue Containerentladestelle liegt an Rheinkilometer 501 flussabwärts der Kaiserbrücke. Die Frankenbach Container Terminals GmbH betreibt das Container-Terminal an der die Stadtwerke eine Minderheitsbeteiligung von 25,2 % halten. Eine günstige Autobahnanbindung besteht aufgrund des Neubaus der Schiersteiner Brücke und der Sprengung der Salzbachtalbrücke derzeit (2022) nicht.
==== Flugverkehr ====
Mainz verfügt im Stadtteil Finthen über einen ganzjährig geöffneten Verkehrslandeplatz mit 1000 m Asphaltbahn (ICAO-Code EDFZ), das ehemalige US Airfield Finthen.
Zum 25 km entfernten Flughafen Frankfurt fahren mehrmals in der Stunde Züge des Fern- und Nahverkehrs.
Der Flughafen Hahn, der etwas über 80 km von Mainz entfernt liegt, wird mit einer direkten Busverbindung angefahren.
==== Rheinbrücken ====
Im Mainzer Raum überqueren fünf Brücken den Rhein: zwei Autobahnbrücken (Weisenauer Brücke A 60 und Schiersteiner Brücke A 643), zwei Eisenbahnbrücken (die Südbrücke Richtung Frankfurt Flughafen und die Kaiserbrücke Richtung Wiesbaden) sowie als Straßenbrücke die Theodor-Heuss-Brücke (zwischen der Mainzer Innenstadt und Mainz-Kastel), in deren unmittelbarer Nähe auch die alte Römerbrücke gestanden hatte. Die nächste Rheinbrücke im Unterlauf ist die Koblenzer Südbrücke und im Oberlauf die Nibelungenbrücke Worms. An die den Rhein überspannende Schiersteiner Brücke schließt sich die 950 m lange Hochstraße Lenneberg an, ein Brückenbauwerk aus Spannbeton mit 31 Feldern, das das Mombacher Oberfeld seit 1964 überspannt und die Rheinbrücke mit der Hochterrasse am Lenneberg verbindet. Trotz langjähriger Sanierungsarbeiten und Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h mit Radarkontrolle musste die Autobahnbrücke wegen Verschleiß abgerissen werden. Seit dem 20. November 2017 rollt der Verkehr in beide Richtungen über eine neue Brückenhälfte.
=== Industrie ===
In Mainz gab es 2003 74 Betriebe des verarbeitenden Gewerbes mit mindestens 20 Angestellten. Insgesamt sind in den Betrieben über 11.000 Menschen beschäftigt, die einen Gesamtumsatz von über 2,2 Milliarden Euro erwirtschaften. Dazu gab es 2002 79 kleinere Betriebe mit weniger als 20 Angestellten. Industrielle Ansiedelungen finden sich vor allem zwischen der Innenstadt und dem Stadtteil Mombach. Größere dort angesiedelte Unternehmen sind das Mainzer Traditionsunternehmen Werner & Mertz („Erdal“), die Schott AG sowie die DWK Life Sciences. Die Wepa Papierfabrik hat 2006 das hier gelegene einstige Hakle-Werk von dem amerikanischen Hersteller Kimberly-Clark Corporation übernommen und fertigt am Standort Mainz Hygienepapiere.
Die Schott AG (früher Schott Glaswerke) hat ihren Hauptsitz in Mainz seit der Umsiedlung von Jena nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Mainzer Neustadt steht seit den 1950er-Jahren das Hauptwerk. 1988 wurde in Mainz-Marienborn das Schott-Forschungs- und Laborzentrum in Betrieb genommen. 2002 wurde in der Nähe des Hauptwerks in Mainz-Mombach auf dem Gelände der ehemaligen Rheinwerft ein weiterer Zweigbetrieb mit Schwerpunkt Ceran fertiggestellt. Derzeit arbeiten 2.400 der 15.500 Schott-Angestellten weltweit am Standort Mainz.Im Jahr 1965 begann IBM, in Mainz-Hechtsheim ein Werk für Speichersysteme zu errichten. Später wurden hier vor allem Festplatten hergestellt. 2002 wurde mit dem Verkauf des Festplattengeschäfts an Hitachi das Mainzer Werk geschlossen. An dem IBM-Standort arbeiteten aber weiterhin etwa 1700 Mitarbeiter im Bereich der Unternehmensberatung und Softwareentwicklung, deren Zahl bis auf 750 im Jahr 2015 sank. Der Mietvertrag für das Mainzer Areal endete im September 2016; die Verlagerung der bestehenden Arbeitsplätze an die Frankfurter IBM-Standorte Kelsterbach und Sossenheim ist abgeschlossen. Das nun als „Heilig-Kreuz-Areal“ bezeichnete Gelände wird als Baugebiet vermarktet.
Als weiteres Unternehmen im Bereich der Hochtechnologie ist das Pharmaunternehmen Novo Nordisk seit 1958 in der Stadt ansässig. Anfang 2008 arbeiteten dort ca. 450 Menschen. In der Oberstadt konnte 2008 mit Biontech eine expansive Biotechfirma auf dem Gelände der GFZ-Kaserne angesiedelt werden. Auf ältere Wurzeln kann die Niederlassung von Siemens zurückblicken. Sie entstand schon nach der Übernahme des ersten in Mainz errichteten Elektrizitätswerks (erbaut 1898) im Jahr 1903. Ebenfalls im Jahr 1903 wurde die Gewürzmühle Moguntia gegründet, die bis 2001 bestand.
In Mombach gab es die Waggonfabrik Gebrüder Gastell, in der später Straßenbahnen von Westwaggon und Omnibusse von Magirus-Deutz und Iveco gebaut wurden. In Weisenau befindet sich neben der Autobahnbrücke über den Rhein ein mittlerweile stillgelegter Steinbruch der HeidelbergCement, die Produktion wird im Zementwerk Weisenau mit Schiffstransporten weiterversorgt. Daneben befindet sich eine Anlage der ADM Mainz GmbH (früher ADM Soya Mainz) mit Biodiesel-Herstellung.
Im Jahr 1919 wurde in Mainz die Brezelbäckerei Ditsch gegründet, die im September 2012 an die Schweizer Valora-Gruppe veräußert wurde.Mit dem Zukunftsprojekt „BioTechHub“ will die Stadtspitze Mainz zum bedeutenden Biotechnologie-Standort machen. 30 Hektar Fläche sollen für neue Unternehmen im Stadtbereich bereitgestellt werden. Weitere Flächen von 50 Hektar werden seit April 2022 beplant.
=== Weinhauptstadt Mainz/Rheinhessen ===
Seit Mai 2008 sind Mainz und Rheinhessen Mitglied des 1999 gegründeten Great Wine Capitals Global Network (GWC) – einem Zusammenschluss bekannter Weinbaustädte weltweit. Neben Mainz befinden sich in diesem Verbund Städte und Regionen wie Bilbao: Rioja, Bordeaux: Bordeaux (Weinbaugebiet), Florenz: Toskana, Lausanne, Mendoza: Mendoza, Christchurch: South Island von Neuseeland, Porto: Dourotal sowie San Francisco: Napa Valley. Jedes Jahr präsentiert sich einer dieser Partner beim Mainzer Weinmarkt mit Weinen aus der jeweiligen Region und kulinarischen Spezialitäten.
=== Energieversorgung ===
In Mainz wird Strom von den Kraftwerken Mainz-Wiesbaden (KMW), die ein GuD-Kraftwerk Und Kraft-Wärmekopplungs Kraftwerk auf der Ingelheimer Aue betreiben. Das Unternehmen plante dort ab Mitte der 2000er Jahre den Bau eines neuen Kohleheizkraftwerks (KHKW) mit einer elektrischen Bruttoleistung von 820 Megawatt (MW). Obwohl der Bau des Kraftwerks anfangs von den Mainzer und Wiesbadener Stadtparlamenten mehrheitlich befürwortet wurde, scheiterte das Projekt aber an der Akzeptanz in der Bevölkerung. Nach einem Baustopp kurz nach Baubeginn 2009 wurde es im Juni 2012 offiziell beendet.Die Kraftwerke Mainz-Wiesbaden betreiben gemeinsam mit Remondis und der Stadt Mainz auch eine thermische Abfallverwertungsanlage neben dem GuD-Kraftwerk. Diese Entsorgungsgesellschaft ließ im Zeitraum von Juni 2001 bis November 2003 eine Anlage zur Müllverbrennung errichten, welche 2008 um einen dritten Ofen ergänzt wurde. Als weitere „Investition in die Zukunft“ wurde von 2017 bis 2021 eine Klärschlammverbrennungsanlage in Mainz-Mombach errichtet. Die Betreibergesellschaft der Anlage, die Thermische Verwertung Mainz (TVM) GmbH, setzt sich zusammen seit dem Beginn des Planungsprozesses 2011 aus den beteiligen Gebietskörperschaften, deren Klärschlamm zentral in Mainz verwertet wird, Mainz, Kaiserslautern und der Zweckverband Unterer Selz aus Ingelheim. Inzwischen hat sich auch die benachbarte Landeshauptstadt Wiesbaden entschieden, Klärschlamm in Mainz verbrennen zu lassen. Dieses Projekt rief ebenso wie die Müllverbrennungsanlage Widerstand in der Mombacher Bevölkerung hervor.
Bei den erneuerbaren Energien ist Mainz mit verschiedenen Technologien vertreten. Neben einigen Windenergieanlagen rund um die Stadtteile Ebersheim und Hechtsheim werden immer mehr Photovoltaikanlagen errichtet. Beispiele sind das Staatstheater, das Abgeordnetenhaus, das Bruchwegstadion oder Aussiedlerhöfe bei Bretzenheim. Zukünftig will sich die Stadt, die auf Platz 15 unter den Großstädten in der Solarbundesliga liegt (Stand April 2010) bzw. Platz 21 (Stand Januar 2018), noch stärker als bisher als Solarstadt profilieren.Der Bau eines großen Blockheizkraftwerks in Kombination mit einem Fernwärmespeicher auf dem KMW-Gelände sollte bis Frühjahr 2019 fertiggestellt werden. Die Inbetriebnahme fand tatsächlich am 12. Februar 2021 statt.Im Energiepark in Mainz-Hechtsheim wurde 2015 eine Anlage zur Wasserelektrolyse in Betrieb genommen. Als erstes Power-to-Gas-Projekt dieser Größenordnung in Deutschland wird hier mittels überschüssigem Strom Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten. Seit 2017 befindet es sich im kommerziellen Testbetrieb. Seine Energie bezieht es von den nahe gelegenen Windkraftanlagen zwischen Hechtsheim und Klein-Winternheim. Im Energiepark kann den Strom von bis zu drei 2-MW-Windrädern unter Volllast umgewandelt werden.
=== Medien ===
Die Stadt Mainz ist Sitz des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF), des Landesfunkhauses Rheinland-Pfalz des Südwestrundfunks (SWR), des Sendezentrums des Fernsehsenders 3sat, des privaten Radio Rockland Pfalz GmbH & Co. KG (seit Mai 2008) sowie des Studios Rhein-Main der privaten Rheinland-Pfälzischen Rundfunk GmbH & Co KG RPR. Seit Oktober 2011 sendet Antenne Mainz als erster privater Stadtradiosender für Mainz. An regionalen Fernsehangeboten gibt es neben einem Offenen Kanal auch den Sender gutenberg.tv, der sich als „Kultur- und Wissenschaftssender für und in Rheinland-Pfalz“ vorstellt; er wird auf den Kabelkanälen des ehemaligen Mainzer Senders K3 Kulturkanal verbreitet, dessen Sendelizenz im Jahr 2010 auslief. Seit März 2012 sendet gutenberg.tv aus finanziellen Schwierigkeiten nicht mehr.Weitere Medienunternehmen sind die BFE Studio und Medien Systeme GmbH, die komplette Studioeinrichtungen und Einrichtungen für Übertragungswagen produziert, und die VRM, die mit 21 täglich erscheinenden Druckerzeugnissen jeden Tag eine halbe Million Leser in Rheinland-Pfalz und Hessen erreicht.
Als Tageszeitung erscheint die Allgemeine Zeitung Mainz. Ende 2013 wurde der Ableger der Koblenzer Rhein-Zeitung, die Mainzer Rhein-Zeitung, eingestellt, da der Verleger Walterpeter Twer die Ausgabe für nicht mehr profitabel genug hielt. Weitere Printmedien sind die Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte sowie verschiedene Stadtmagazine wie z. B. die STUZ, der Sensor oder Der Mainzer.
Mainz war bis Ende 2010 Sitz des traditionsreichen Verlages Philipp von Zabern. 1802 in Mainz gegründet ist der Zabern-Verlag international auf den Gebieten der Archäologie, Geschichte und Kunstgeschichte führend und seit 2011 in Darmstadt ansässig.
Mainz ist ferner Sitz des Musikverlags Schott Music.
Seit 2001 findet in Mainz mit dem FILMZ – Festival des deutschen Kinos das erste Langfilmfestival des Landes Rheinland-Pfalz statt.
Die Medienunternehmen gehören zu den größten Arbeitgebern der Stadt. Allein das ZDF beschäftigte 2019 rund 3.500 feste Mitarbeiter, die Verlagsgruppe Rhein-Main 1.200 (2005).
=== Sonstige Dienstleistungsunternehmen (Auswahl) ===
In Mainz als Kongressstadt, die durch ihre Sehenswürdigkeiten und Veranstaltungen viele Besucher anlockt, sind zahlreiche Hotels ansässig. Im Transportsektor war die Stadt Sitz der Spedition G.L. Kayser, deren Gründung auf das Jahr 1787 zurückgeht. Das ehemalige Familienunternehmen ging in der Firma Kühne + Nagel auf, deren Mainzer Niederlassung in Mainz-Hechtsheim liegt. Ebenfalls in Mainz-Hechtsheim befindet sich der Sitz der J. F. Hillebrand Group. Der Logistikspezialist mit 48 Tochtergesellschaften ist Weltmarktführer für den Transport von Wein und Spirituosen.Mainz verfügt als Weinstadt über bedeutende Selbsthilfeeinrichtungen der Weinwirtschaft und auch sonst spielt Wein als Wirtschaftsfaktor und Tourismusattraktion eine große Rolle in der Stadt.
Im Mainz befinden sich die Mainzer Volksbank als größte rheinland-pfälzische Volksbank sowie die Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB). Die Berufsgenossenschaft Holz und Metall hat ihre Hauptverwaltung in Mainz-Weisenau. Die Lederindustrie-Berufsgenossenschaft hatte ihre Hauptverwaltung ebenfalls in Mainz. Zum 1. Januar 2010 schloss sie sich mit fünf weiteren Berufsgenossenschaften zur Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie zusammen, die in Mainz mit ihrer Bezirksdirektion für Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland vertreten ist. Darüber hinaus hat die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft eine Bezirksverwaltung im Gonsenheimer Gewerbegebiet Kisselberg.Im Gewerbegebiet Kisselberg haben neben der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft Coface Deutschland und die Aareon AG ihren Sitz.
=== Organisationen (Auswahl) ===
Mainz ist Sitz des Landgerichts Mainz und des Amtsgerichts Mainz. Mainz gehörte seit 1803 zum Gerichtsbezirk des Friedensgerichts Mainz I. Dieses wurde 1879 durch das Amtsgericht Mainz abgelöst.
Mainz ist Sitz des Landesverbandes Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland (THW LV HERPSL) sowie des Ortsverbandes Mainz (THW OV MZ) des Technischen Hilfswerks (THW).
Die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen hat einen Dienstsitz in Mainz.
Mainz verfügt über eine Berufsfeuerwehr mit zwei Wachen sowie mehreren Freiwillige Feuerwehren in den Stadtteilen.
=== Behörden und Einrichtungen (Auswahl) ===
Neben der Landesregierung von Rheinland-Pfalz befinden sich unter anderem folgende Behörden und Einrichtungen in Mainz:
Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Rheinland-Pfalz
Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz
Zollamt Mainz
IHK für Rheinhessen
Handwerkskammer Rheinhessen
Landesärztekammer Rheinland-Pfalz
Städtetag Rheinland-Pfalz
Landkreistag Rheinland-Pfalz
=== Bildung und Forschung ===
Mainz war schon in früher Zeit eine Stadt der Bildung. Erstes Zentrum war das Stift St. Alban vor Mainz, dessen Ruhm als Klosterschule auf den Alkuin-Schüler und Mainzer Erzbischof Rabanus Maurus († 856) zurückgeht. 1477 wurde Mainz Universitätsstadt. Nach Aufhebung Ende des 18. Jahrhunderts nahm die neue Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 15. Mai 1946 wieder ihren Lehrbetrieb auf. Für die Studienrichtung Medizin ist die Medizinische Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität die einzige Studienmöglichkeit in Rheinland-Pfalz. Ihr steht das Universitätsklinikum Mainz zur Verfügung, das ebenfalls die einzige Einrichtung dieser Art in Rheinland-Pfalz ist. Einmalig in der bundesdeutschen Hochschullandschaft ist die Integration der Hochschule für Musik, der Akademie der Bildenden Künste und des Sports in die Universität. Die Johannes Gutenberg-Universität gehört mit knapp 11.000 Beschäftigten, davon alleine 7700 bei der Universitätsmedizin, zu den größten Arbeitgebern der Stadt.
In Kooperation mit der Universität stehen das Max-Planck-Institut für Chemie (Otto-Hahn Institut) und das Max-Planck-Institut für Polymerforschung. Die Stadt Mainz ist außerdem „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft.1971 wurde die Hochschule Mainz als Teil der Fachhochschule Rheinland-Pfalz gegründet, die sich über mehrere Standorte verteilt. Vorgängereinrichtungen der Hochschule Mainz waren unter anderem Bildungseinrichtungen für Bauingenieure, Kunsthandwerker und Künstler. 1996 wurde sie als eigenständige Fachhochschule mit drei Fachbereichen neu gegründet (Architektur, Bauingenieurwesen, Geoinformatik und Vermessung; Gestaltung; Wirtschaftswissenschaften).
Ein Jahr später wurde die Katholische Hochschule (KH Mainz) für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Praktische Theologie gegründet. Sie wird von den Bistümern Mainz, Limburg, Fulda, Speyer, Trier und Köln getragen.
Das Peter-Cornelius-Konservatorium bietet Musikstudium (Orchesterfach, Künstlerische Reife, Diplom, auch in Kooperation mit der Hochschule für Musik der Universität) sowie eine umfangreiche Musikschulabteilung.
Daneben gibt es in Mainz noch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur, die hier 1949 gegründet wurde, das von Land Rheinland-Pfalz und Bund getragene Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (Mitglied der AHF) und die Volkshochschule Mainz, die auch eine Sternwarte betreibt.
Das Bildungswerk der Diözese Mainz wurde am 1. Mai 1963 gegründet. Es fördert „… die kirchliche Erwachsenenbildung im Bistum von der Gemeinde- bis zur Bistumsebene …“. Das Bildungswerk ist u. a. Mitglied der Katholischen Erwachsenenbildung Hessen – Landesarbeitsgemeinschaft.
Mit dem Thema Zeit Reise gehörte Mainz zu den zehn deutschen Städten zum Treffpunkt der Wissenschaft im Wissenschaftsjahr 2009. 2011 war Mainz Stadt der Wissenschaft.
=== Medizinische Versorgung ===
Die medizinische Versorgung in Mainz übernehmen insgesamt sechs Krankenhäuser mit unterschiedlichen Verwaltungsträgern sowie 713 niedergelassene Ärzte und 62 Apotheken. (Stand: 30. Juni 2014). Das Klinikum der Johannes Gutenberg-Universität als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist die größte Einrichtung zur medizinischen Versorgung in Mainz. Es teilt sich in 60 verschiedene Fachkliniken, Institute und Abteilungen auf. Mit einer Ausstattung von 1500 Betten werden pro Jahr circa 325.000 Personen behandelt, davon circa 65.000 ambulant. Zusätzlich dient das Klinikum der universitären Ausbildung der rund 3300 Studierenden der medizinischen Wissenschaft.
Das Marienhaus Klinikum Mainz (bis 2021 Katholisches Klinikum Mainz, kurz "kkm") fasste 2017 das St. Hildegardis-Krankenhaus und das St. Vincenz- und Elisabeth-Hospital am Standort „An der Goldgrube“ zusammen. Als Träger fungiert die Marienhaus Gruppe,. In der Einrichtung gibt es spezielle Fachzentren für Brust-, Darm-, Lungen- und Schilddrüsenerkrankungen sowie weiteren 19 Fachabteilungen. Mit insgesamt 717 Betten ausgestattet, werden pro Jahr circa 45.000 Patienten ambulant und stationär behandelt. Für das Klinikum in der Mainzer-Oberstadt wurde das Programm „kkm 2025“ aufgesetzt, welches einen Zuwachs von ca. 4.500 auf mehr als 50.000 Patienten jährlich bedeutet.Das DRK Schmerz-Zentrum Mainz steht unter der DRK Trägergesellschaft Südwest und ist eine Spezialklinik zur Abklärung und Behandlung akuter und chronischer Schmerzen. Mit 80 stationären Betten, 24 teilstationären Plätzen und einer Ambulanz mit 5.000 Patienten im Jahr gehört sie zu den größten Schmerzkliniken Europas. Die FONTANA-Klinik GmbH für Plastische Chirurgie in Mainz-Finthen sowie die Römerwallklinik GmbH als Klinik für HNO-Erkrankungen befinden sich beide in privater Trägerschaft.
Zu den genannten Einrichtungen kommt noch das überregional tätige Kinderneurologisches Zentrum Mainz, ein ambulantes Behandlungszentrum für Sozialpädiatrie mit Spezialambulanz für Spina bifida und Hydrocephalus. Es befindet sich in Trägerschaft des Landeskrankenhauses Rheinland-Pfalz.
=== Bundeswehr ===
Mainz ist seit 1956 Standort der Bundeswehr. Im Stadtgebiet befinden sich derzeit zwei Liegenschaften, in denen insgesamt rund 400 Soldaten und zivile Mitarbeiter beschäftigt sind.
Der größte Standort ist die Kurmainz-Kaserne (KMK) in Hechtsheim, gefolgt von der Generalfeldzeugmeister-Kaserne (GFZ) in der Oberstadt, deren Räumung bis 2021 noch nicht abgeschlossen war. In den Kasernen sind zahlreiche Dienststellen untergebracht, unter anderem die 8./ Feldjägerregiment 2, das Karrierecenter der Bundeswehr Mainz, das Landeskommando Rheinland-Pfalz sowie eine Sanitätsstaffel. Mainz ist außerdem Standort einer Sportfördergruppe sowie einer Außenstelle der MAD-Stelle 4.
Im ehemaligen Neuen Proviantamt an der Rheinallee, auch „Militärbrotbäckerei“ genannt, befand sich bis zu dessen Auflösung das Bundeswehr-Dienstleistungszentrum Mainz; durch die Wohnbau Mainz wir hier Wohnen und Kultur realisiert. In der Kapellenstraße in Gonsenheim hatte zudem das Kreiswehrersatzamt Mainz bis 2006 seinen Sitz.
Der prominenteste Standort in Mainz war der Osteiner Hof, von dessen Balkon alljährlich die Fastnacht ausgerufen wird. In dem historischen Gebäude am Schillerplatz befand sich der Dienstsitz des Befehlshabers des Wehrbereichskommandos II sowie das Offizierskasino. Der Osteiner Hof diente bis 31. März 2014 auch als Standortkommandantur der Bundeswehr. Die Standorte Osteiner Hof, Rheinallee und Kapellenstraße wurden mittlerweile durch die Bundeswehr aufgegeben und an private Investoren veräußert.
Aus Kosten- und Effizienzgründen gibt es Pläne, den Standort Mainz weiter umzustrukturieren. Alle Truppenteile aus der Generalfeldzeugmeister-Kaserne sollen zukünftig in die erweiterte und modernisierte Kurmainz-Kaserne umziehen.
Die Verbundenheit der Stadt zur Bundeswehr sollte auch durch ein öffentliches Feierliches Gelöbnis am 27. Mai 2008 gezeigt werden. Obwohl in Mainz selbst keine Grundausbildung durchgeführt wird, legten 130 Rekruten des Feldjägerbataillons 251 am 176. Jahrestag des Hambacher Fests vor dem Deutschhaus, dem Sitz des Rheinland-Pfälzischen Landtags, ihr Gelöbnis ab. Bereits 2000 fand in Mainz ein öffentliches Gelöbnis statt.
In Mainz gibt es zudem vier Reservistenkameradschaften (RK), die RK Mainz, die RK Kurmainz, RK Fürst Blücher sowie RK Finthen mit zusammen rund 400 Mitgliedern. Mainz ist auch Sitz der Landesgeschäftsstelle RLP + Kreisgeschäftsstelle Mainz des Vereins Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e. V.
Die Reservistenkameradschaften sind der Kreisgruppe Rheinhessen angegliedert.
== Kultur ==
=== Überblick ===
Als Stadt in der Großregion nahm Mainz am Programm des Europäischen Kulturhauptstadtjahres 2007 teil.
=== Film ===
Mit dem FILMZ – Festival des deutschen Kinos wurde im Jahr 2001 das erste Langfilmfestival in Rheinland-Pfalz gegründet. Das Festival gibt einen Überblick über die aktuellen deutschsprachigen Produktionen und die Bandbreite der jungen Filmentwicklung. Anfang Dezember jeden Jahres verleiht FILMZ Preise für Lang- und Kurzfilme. Die Regisseure, Schauspieler und weitere Teammitglieder der Filme sind als Gäste anwesend. Neben dem Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken, den Hofer Filmtagen und dem Festival des deutschen Films in Ludwigshafen ist das Mainzer FILMZ eines der wichtigsten Festivals, das die aktuelle Entwicklung des jungen deutschen Films verfolgt.
=== Theater ===
In Mainz gibt es mehrere Bühnen, auf denen Theateraufführungen und Konzerte stattfinden. Das größte und das Stadtbild am meisten prägende Theater ist das Staatstheater am Gutenbergplatz. Das Staatstheater ist unterteilt in das Große Haus (siehe Bild), das Kleine Haus, das Glashaus sowie die Studiobühne U17.
Der nicht nur als Theater fungierende „Frankfurter Hof“ existiert bereits seit 1800 und kann auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. Ursprünglich handelte es sich um ein Gasthaus mit Festsaal. Ab 1842 fanden hier die ersten Fastnachtssitzungen der gerade entstehenden Fastnacht statt. Während der Revolution von 1848 trafen sich hier die Demokraten der Stadt und bereiteten die Wahlen zur Nationalversammlung vor. Danach wurde der Hof mehrmals Schauplatz kirchlicher Veranstaltungen wie z. B. der Katholikentage von 1851 und 1871. 1944 wurde in den Sälen ein Kino eingerichtet. 1972 kaufte die Stadt das mittlerweile weitgehend ungenutzte und verfallene Gebäude. Nach einer Initiative zur Rettung des Hofes wurde er 1991 als „Kulturelles Zentrum“ renoviert und seiner heutigen Bestimmung zugeführt.
Neben diesen größeren Häusern gibt es mehrere kleinere Häuser wie die Mainzer Kammerspiele, das Mainzer Forumtheater unterhaus (mit dem „unterhaus im unterhaus“) oder das Theater im Loft des Tournéetheaters Teatro d’Arte Scarello sowie die 2005 gegründete Showbühne Mainz. In ihnen findet auch Kabarett, Comedy und Boulevardtheater statt. Auch wird hier jungen und unbekannten Künstlern eine Bühne geboten. Außerdem bietet das im Kulturzentrum M8-Bühne (im Haus der Jugend Mainz) beheimatete freie Jugendtheater Junge Bühne Mainz ein vielseitiges Programm für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Theaterinteressierte aller Altersstufen.
=== Orchester ===
Das Philharmonische Staatsorchester Mainz, gegründet 1876, hat seinen festen Sitz im Theatergebäude. Hauptaufgabe des Orchesters ist die musikalische Begleitung von Musiktheaterstücken wie Opern und Operetten am Theater. Daneben bildet die Aufführung von Sinfoniekonzerten einen weiteren wichtigen Bereich.
UniOrchester der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Mainzer Kammerorchester
Bläser-Ensemble Mainz – Das Ensemble wurde 1967 von Klaus Rainer Schöll gegründet und widmet sich der Musik von Gabrieli bis zur Moderne.
Akkordeon-Orchester Mainz
Sinfonisches Blasorchester des Peter-Cornelius-Konservatoriums, 1991 gegründet von Gerhard Fischer-Münster
Bläserensemble des Peter-Cornelius-Konservatoriums, 1981 gegründet von Gerhard Fischer-Münster
Sinfonietta Mainz
Rheinische Orchesterakademie Mainz e. V. (ROAM)
Landespolizeiorchester Rheinland-Pfalz
=== Chöre ===
Der Mainzer Domchor geht auf eine Gründung des Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler im Jahr 1866 zurück. Er bildet sich aus Knaben- und Männerstimmen und umfasst über 160 Mitglieder. Hauptaufgabe des Chores ist die Begleitung der Stifts- und Pontifikalämter im Mainzer Dom.
UniChor der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Die Domkantorei St. Martin ist ein 1987 gegründeter gemischter Chor. Neben der Begleitung der Domgottesdienste tritt er auch zu regulären Konzerten auf.
Der Mädchenchor am Dom und St. Quintin, Mainz wurde 1994 gegründet. Hauptaufgabe des Chores ist die musikalische Gestaltung der Gottesdienste im Hohen Dom zu Mainz und in der Pfarrkirche St. Quintin.
Bachchor Mainz
Der Mainzer Figuralchor wurde 1979 von Stefan Weiler gegründet und bis zu seiner Auflösung im Jahr 2014 geleitet. Er führte geistliche und weltliche A-cappella-Werke aller Stil-Epochen sowie oratorische Kompositionen auf. Ein besonderer Akzent lag auf den Werken Johann Sebastian Bachs und zeitgenössischer Komponisten.
Johanniskantorei Mainz
Das Ensemble Chordial wurde 2008 von Mainzer Studenten gegründet und probt in der Evangelischen Studierenden-Gemeinde. Das Repertoire des Chores reicht von Werken des Barocks über romantische und impressionistische Stücke bis hin zur Moderne.
Mainzer Singakademie
Colours of Gospel sind ein 1998 gegründeter und von Collins Nyandeje geleiteter Gospelchor
Die Uferlosen wurden 1997 als gemischter lesbischwuler Chor gegründet.
Das Ensemble Vocale Mainz wurde 1984 von Wolfgang Sieber als kleines Vokalensemble gegründet und hat sich innerhalb kurzer Zeit zu einem Kammerchor entwickelt, der sich vor allem A-cappella-Literatur widmet und mit der Pfarreikirche St. Bonifaz kooperiert.
convivium musicum mainz (Junger Chor am Musikwissenschaftlichen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
Capella Moguntina ist ein im Jahr 2006 gegründetes junges Ensemble für Kirchenmusik an St. Quintin. Der Chor besteht derzeit aus 20 Mitgliedern, die sich dem Studium und der Aufführung geistlicher Vokalmusik der Renaissance und des Barocks zur Aufgabe gemacht haben. Das Repertoire ist sowohl in die Liturgie an der Pfarrkirche St. Quintin als auch in verschiedene Konzerte eingebettet und umfasst Werke bis in die Moderne.
Die Kinder- und Jugendkantorei St. Alban, welche 1971 von ihrem Chorleiter Heinz Lamby gegründet wurde, zählt heute rund 40 Mitglieder.
Die 1988 gegründete Chorabteilung des Peter Cornelius Konservatoriums umfasst einen Kinder- und einen Jugendchor sowie den Peter-Cornelius-Chor.
Der 1978 gegründete Mainzer Madrigalchor ist ein gemischter Kammerchor und auf vokale Arrangements aus Renaissance und Barock spezialisiert.
=== Museen ===
Die Mainzer Museenlandschaft ist von historischen Museen geprägt. Das bereits 1852 gegründete Römisch-Germanische Zentralmuseum (RGZM) war im Kurfürstlichen Schloss untergebracht und wird als Leibniz-Zentrum für Archäologie in einem Neubau in der südlichen Mainzer Altstadt in direkter Nachbarschaft zum Museum für antike Schifffahrt Ende 2024 neu eröffnet werden. Neben Sammlungen zur Vor- und Frühgeschichte, zur römischen Geschichte und zum frühen Mittelalter besitzt das Museum umfangreiche Restaurierungswerkstätten. Diese gehören zu den weltweit größten Einrichtungen ihrer Art und genießen internationalen Ruf. Sie werden mit der Konservierung und Restaurierung weltweit bedeutender archäologischer Funde wie z. B. des Gletschermanns aus Südtirol oder des Goldschatzes von Sipán (Grabbeigaben eines vorinkazeitlichen Fürsten aus Peru) beauftragt.
Eine breiter angelegte Sammlung von der Steinzeit bis in die Moderne bietet das Landesmuseum Mainz. Das Landesmuseum Mainz wurde 1803 gegründet und ist somit eines der ältesten Museen in Deutschland. Es ist im Zentrum von Mainz in der Großen Bleiche im ehemaligen kurfürstlichen Marstall, der „Golden-Ross-Kaserne“, beheimatet und beherbergt die bedeutendste Kunstsammlung des Landes Rheinland-Pfalz. Aus der Zeit des römischen Mogontiacum wird eine Vielzahl von Exponaten ausgestellt. Beeindruckend sind vor allem die zum Teil monumentalen Steindenkmäler in der sogenannten Steinhalle, unter anderem auch die Originalfunde der Große Mainzer Jupitersäule und des Dativius-Victor-Bogens. Ebenfalls bedeutend sind der „Mainzer Römerkopf“, das qualitativ hochwertige Porträt eines Angehörigen des Julisch-Claudischen Kaiserhauses und der Bronzekopf einer Frau, möglicherweise der Kopf der keltischen Göttin Rosmerta. Die umfangreiche Gemäldesammlung des Museums geht auf eine Schenkung von 36 Bildern durch Napoleon zurück, die auch Anlass der Gründung des Museums war.
Einen weiteren tiefen Einblick in die Geschichte des römischen Mainz ermöglicht das Museum für Antike Schifffahrt, in dem die Römerschiffe ausgestellt sind, die 1980/81 bei den Bauarbeiten für einen Hotelkomplex am Rheinufer gefunden wurden, sowie das Heiligtum der Isis und Mater Magna, das ebenfalls bei Bauarbeiten entdeckt wurde und im Untergeschoss der heutigen Römerpassage zu besichtigen ist. Die im Heiligen Bereich gemachten Funde werden dort zusammen mit den baulichen Überresten seit 2003 in einer nach modernsten museumspädagogischen Aspekten multimedial inszenierten Ausstellung gezeigt.
Im weltweit einmaligen Museum für Druckkunst, dem Gutenberg-Museum, erhält man einen Einblick in die von Johannes Gutenberg in Mainz erfundene Drucktechnik. Das Museum verfügt zudem über zwei der 49 erhaltenen Gutenbergbibeln. Umfangreiche Exponate zur Geschichte der Drucktechnik, der Typographie und des mechanischen Drucks ergänzen die Sammlungen des Museums.
Das Bischöfliche Dom- und Diözesanmuseum im Kreuzgang des Mainzer Doms informiert über die Geschichte der romanischen Bischofskirche und des Bistums Mainz. Der närrischen Historie der Stadt ist das Mainzer Fastnachtsmuseum gewidmet. Daneben gibt es für einen allgemeinen Überblick auch noch das Stadthistorische Museum auf dem Gelände der Zitadelle Mainz. Das Naturhistorische Museum ist das größte seiner Art in Rheinland-Pfalz. Schwerpunkte der Museumsarbeit liegen in den Bio- und Geowissenschaften. Das Mainzer Garnisonsmuseum ist stilgerecht auf der Zitadelle in drei Kasematten zwischen dem Kommandantenbau und der Bastion Germanicus untergebracht und zeigt die über 2000-jährige Geschichte der Festungsstadt Mainz. Zeitgenössische Kunst zeigt die Kunsthalle Mainz im Mainzer Zollhafen.
=== Bibliotheken ===
Mainz kann als Geburtsstadt der Druckkunst auf eine lange Tradition von Bibliotheken und Büchersammlungen zurückblicken. Den Anfang machte die Bibliotheca Universitatis Moguntinae der 1477, also im Spätmittelalter, gegründeten Kurfürstlichen Universität. Diese bildete 1805 den Grundstock für die auf direkte Anordnung des französischen Innenministers Champagny gegründete Mainzer Stadtbibliothek. Weitere bis heute erhaltene Altbestände an Büchern der nunmehr städtischen Bibliothek resultieren aus den Büchersammlungen der Ende des 18. Jahrhunderts aufgelösten Klöster wie z. B. Kartause, Reichklara und Altmünster sowie der 1773 nach Aufhebung des Jesuitenordens aufgelösten Niederlassung des Ordens in Mainz.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand die Mainzer Stadtbibliothek ihre dauerhafte Bleibe in einem neu errichteten Jugendstilgebäude an der Mainzer Rheinallee in direkter Nachbarschaft zum Kurfürstlichen Schloss. Die Mainzer Stadtbibliothek gliedert sich heute in die Wissenschaftliche Stadtbibliothek und in die Öffentliche Bücherei mit breitem Angebot, das sich an alle Mainzer Bürger richtet. Diese fand Anfang der 1980er-Jahre als „Öffentliche Bücherei Anna Seghers“ ihren dauerhaften Platz in einem der beiden Hochhaustürme am Bonifaziusplatz in der Nähe des Mainzer Hauptbahnhofs. Teile der Öffentlichen Bücherei sind in Form von fünf Stadtteilbüchereien ausgelagert.
Der Aufbau der heutigen Universitätsbibliothek Mainz begann 1946 im Zuge der Wiedereröffnung der Mainzer Universität. Am Anfang der Nachkriegsgeschichte in Mainz stand der Aufbau von dezentralen Bibliotheken. Erst danach wurde die Universitätsbibliothek/Zentralbibliothek gegründet, die 1964 ein eigenes neues Gebäude bezog. Ihr Bestand umfasst in der Hauptsache Werke der letzten hundert Jahre. Das letzte Jahrzehnt stand im Zeichen des Aufbaus von fachübergreifenden Bereichsbibliotheken als Bestandteilen der Universitätsbibliothek und der Bereitstellung eines breiten elektronischen Angebots.
Die Martinus-Bibliothek im Arnsburger Hof in der Mainzer Altstadt ist die wissenschaftliche Diözesanbibliothek des Bistums Mainz. Sie ist mit etwa 300.000 Bänden und 200 dauernd gehaltenen Zeitschriften ausgestattet. Dazu kommen 900 Inkunabeln und 120 Handschriften, die bis ins 9. Jahrhundert zurückreichen. Sie ist eine der größten öffentlichen Spezialbibliotheken für Philosophie und Theologie.
=== Literatur ===
Durch die besondere Verbindung der Stadt Mainz mit dem Wirken Gutenbergs widmet sich die Stadt im kulturellen Bereich intensiv der Literatur und der dazugehörenden Druckkunst. Die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufene Mainzer Johannisnacht (drittes Wochenende im Juni) widmet sich im kulturellen Programmbereich mit zahlreichen Aktivitäten der Literatur und dem Andenken Gutenbergs.
Der Mainzer Stadtschreiber ist ein 1984 gestifteter Literaturpreis der Fernsehsender ZDF und 3sat sowie der Stadt Mainz. Namhafte Autorinnen bzw. Autoren werden für ein Jahr zur Mainzer Stadtschreiberin bzw. zum Mainzer Stadtschreiber mit Wohnsitz im Stadtschreiberdomizil des Gutenberg-Museums in Mainz ernannt. Unter den Mainzer Stadtschreiberinnen und Stadtschreiber finden sich bekannte Autoren wie z. B. Sarah Kirsch (1988), Horst Bienek (1989), Peter Härtling (1995), Hanns-Josef Ortheil (2000), Urs Widmer (2003) oder Monika Maron (2009).
Zusätzlich vergibt die Stadt Mainz den Literaturförderpreis der Stadt Mainz. Dieser Preis wird alle zwei Jahre vergeben. Preisträger sind junge Mainzer Autoren. Die Organisation obliegt dem LiteraturBüro Mainz.
Die Mainzer Minipressen-Messe (MMPM) ist die größte Buchmesse der Kleinverlage und künstlerischen Handpressen in Europa. Sie findet seit 1970 alle zwei Jahre in Mainz statt, bis 2011 in Großzelten am Mainzer Rheinufer, seit 2013 in der Mainzer Rheingoldhalle. Im Rahmen dieser Messe vergibt die Stadt Mainz seit 1979 zu Ehren von Victor Otto Stomps den V.O. Stomps-Preis für „herausragende kleinverlegerische Leistungen“.
Im November findet das Literaturjahr in Mainz mit der Mainzer Büchermesse im Rathaus seinen Ausklang. Diese Buchmesse wird seit 2001 in der heutigen Form von der Arbeitsgemeinschaft Mainzer Verlage organisiert, die dort ihre Werke vorstellen. Die Buchmesse steht jedes Jahr unter einem anderen Thema, welches in Form von Vorträgen, Lesungen, Workshops usw. dem interessierten Publikum dargeboten wird.
=== Clubs und Diskotheken ===
Die Clubs werden insbesondere von den zahlreichen Studierenden der Stadt besucht. Mittwochs ist der Eintritt in den Clubs vielerorts frei oder günstiger.
=== Regelmäßige Veranstaltungen ===
Januar/Februar/März: Mainzer Fastnacht mit zahlreichen Prunksitzungen (darunter Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht), Mainzer Rosenmontagszug und Fastnachtsbällen (z. B. der Prinzengardenball)
Februar: Verleihung des deutschen Kleinkunstpreises im unterhaus
März: Rheinland-Pfalz Ausstellung bis 2004 im Volkspark, ab 2005 im Gewerbepark Hechtsheim-Süd
März: Mainzer-Tanztage (9 Tage Programm zu Bewegung, Rhythmus und Tanz in Mainz und Umgebung bzw. Rheinhessen)
Mai: Mainzer Minipressen-Messe; Gutenberg-Marathon
Mai/Juni: Open-Ohr-Festival in der Zitadelle
Mai bis September: Kulturprogramm „Mainz lebt auf seinen Plätzen“
Juni: Johannisnacht (Volksfest)
Juni: Run for children – Benefiz-Veranstaltung für Kinderhilfsprojekte
Juli: Mainzer Bierbörse
Juli: Mainzer Sommerlichter
Letzter Samstag im Juli: Sommerschwüle – lesbisch-schwules Fest mit überregionalem Publikum (jährlich seit 1993; bis 2003 in der Alten Ziegelei, ab 2004 im KUZ)
Juli/August: Skate Nights
August/September: Mainzer Weinmarkt
September: Interkulturelle Woche; Mainzer Museumsnacht
Oktober: Mainzer Oktoberfest
Oktober: Mantelsonntag
Oktober: Stijlmarkt
November/Dezember: FILMZ – Festival des deutschen Kinos, Mainzer Büchermesse; Weihnachtsmarkt; ein- bis zweijährlich Akut-Festival für Jazz
=== Kulinarische Spezialitäten ===
Mainz ist sowohl aufgrund der Historie wie auch der geografischen Lage eng mit dem Weinanbau verbunden. Im Stadtgebiet von Mainz gibt es verschiedene Weinlagen, aus denen hochprämierter Mainzer Wein gewonnen wird. Der Wein wird dabei noch oft in der Mainzer Stange als „Schoppen“ serviert. Wer den Wein lediglich probieren will, trinkt aus einem Piffche. Aus der Weinkultur stammen auch einige der traditionellen Gerichte, die im Mainzer Raum seit langem nachzuweisen sind: Spundekäs, Handkäs mit Musik und der Mainzer Käse sind Gerichte, die in Weinstuben zum Wein gereicht werden. Auch die Kombination von Pellkartoffeln (im Dialekt Quellmänner), Butter, Leberwurst und Salz hat als früheres Mainzer Gericht für arme Bevölkerungsschichten noch überlebt. Auch Nierenspieße oder Nierenragout sind in der Mainzer Küche zu finden. Ebenfalls als typisches Mainzer Gericht gilt in dieser Kombination auch Weck, Worscht un Woi. Die Nähe zu Rheinhessen sorgt dafür, dass auch die kulinarischen Spezialitäten des Umlandes gerne gegessen werden und eine echte Abgrenzung nicht existiert. Durch die lange Tradition der Mainzer jüdischen Gemeinde haben sich auch Spezialitäten aschkenasischer Juden (miminhagei jehudei ashkenas) erhalten, die erstmals von Jakob ben Moses haLevi Molin beschrieben wurden. Dazu zählt beispielsweise die Grüne Sauce.
Zu den bekanntesten Sektkellereien gehört die Kupferberg-Sektkellerei. Aber auch Bier wurde früher in Mainz gebraut. Bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab es zahlreiche Gasthaus- und Großbrauereien. Zu den bekanntesten, heute nicht mehr existierenden Brauereien zählten die Mainzer Aktien-Bierbrauerei und die früh auf die Frankfurter Binding-Brauerei übergegangene Schöfferhof-Brauerei. Heute gibt es neben der Gasthausbrauerei Eisgrub auch die zwei Brauereien KuehnKunzRosen und Eulchen Brauerei, die für den lokalen und überregionalen Markt Bier herstellen.
Das Dom-Café wurde 1792 als erstes Kaffeehaus in Mainz und eines der ältesten überhaupt im heutigen Deutschland eröffnet. Franz-Anton Aliski erhielt vom Mainzer Domkapitel im Frühjahr 1792 die Konzession, in einem der gerade von Franz Neumann geschaffenen Domhäuser am Marktportal des Domes ein Kaffeehaus mit handwerklich produzierten Torten, Kuchen, Pralinés, Petits Fours, Speiseeis und Pâtisserie nach Wiener Art einzurichten. Mainz war zu diesem Zeitpunkt ein Zentrum der Konterrevolutionäre und beherbergte viele heimatlose Adelige. Die spätere österreichische Garnison nahm dieses heimatliche Angebot gerne an. Seitdem besteht in Mainz eine florierende Kaffeehausszene. Aus dieser Tradition heraus stammt auch noch die Beliebtheit von Brezeln und Salz-/Kümmelstangen.
Der Mainzer Schinken war eine Spezialität der Mainzer Metzger, die vor allem in Frankreich sehr populär war. Bis zum Ersten Weltkrieg exportierte Mainz die Delikatesse in die Markthallen von Paris. Von François Rabelais wird diese Spezialität in seinem mehrbändigen humoristischen Romanzyklus um die beiden Riesen Gargantua und Pantagruel mit dem Bayonner Schinken qualitativ gleichgestellt. In Frankreich wird der Jambon de Mayence nach wie vor in einem Kinderlied besungen und im heutigen Mainz als alte Mainzer Spezialität gerade wiederentdeckt und hergestellt.
== Sport ==
=== Sportveranstaltungen und Wettkämpfe (Auswahl) ===
Seit dem Jahr 2000 findet in Mainz alljährlich der Gutenberg-Marathon statt.
Von 2001 bis 2010 fand in Mainz die zuvor in Frankfurt durchgeführte Veranstaltung Chess Classic statt, bei der in der Rheingoldhalle der inoffizielle Titel des Schnellschachweltmeisters vergeben wurde.
Seit 2002 richtet der TriathlonClub EisheiligenChaos Triathlonwettkämpfe in Mainz aus, seit 2003 unter dem Namen Mainzer City-Triathlon. Seit dem Jahr 2004 werden außerdem Kinder- und Schülerwettkämpfe organisiert.
=== Mannschaftssport (Auswahl) ===
Mainz weist im sportlichen Bereich vor allem in den Stadtteilen und Vororten eine Vielfalt von Vereinen auf, so auch im Fußball. Der erfolgreichste Fußballverein der Stadt Mainz ist der 1. FSV Mainz 05. Die erste Mannschaft spielte seit ihrer Gründung nie tiefer als in der dritthöchsten Liga. Von 2004 bis 2007 gehörte sie der ersten Bundesliga an, in die sie 2009 wieder aufstieg. 2005 konnte sie sich zwar sportlich nicht für einen europäischen Wettbewerb qualifizieren, nahm aber über die Fairplay-Wertung und ein Losverfahren am UEFA-Cup teil. In der Saison 2010/2011 erreichte der 1. FSV Mainz 05 zum ersten Mal in seiner Vereinsgeschichte die sportliche Qualifikation zu einem europäischen Wettbewerb, in der sie jedoch am rumänischen Verein Gaz Metan Mediaș scheiterte. Die Mannschaft trägt ihre Heimspiele in der im Jahr 2011 eingeweihten MEWA-Arena aus. Die zweite Mannschaft spielt derzeit in der Fußball-Regionalliga Südwest. In den Saisons 2004/05 und 2014/15 spielten alle Mannschaften der 05er in der höchstmöglichen Spielklasse. Zum Abschluss der Saison 2015/2016 der Ersten Bundesliga belegten die Mannschaft den 6. Tabellenplatz und konnte sich damit direkt für die Gruppenphase der UEFA Europa League qualifizieren, der zurzeit beste sportliche Erfolg der 05er.
Die erste Damenmannschaft des Basketballvereins ASC Theresianum Mainz spielte schon ein Jahr nach ihrer Gründung in der ersten Bundesliga, nun wieder in der zweiten Bundesliga, während die erste Herrenmannschaft in der neu formierten ersten Regionalliga spielt. Die unteren Mannschaften spielen unter anderem in der Regionalliga, Oberliga (Damen) und Landes- und Bezirksliga (Herren). Auch im Jugendbereich ist der ASC einer der erfolgreichsten Vereine in Rheinland-Pfalz.
Die Mainz Athletics zählen zu den süddeutschen Spitzenmannschaften des Baseballs. Seit 1994 sind sie jedes Jahr in der Play-off-Runde um die deutsche Meisterschaft vertreten. 2007 und 2016 wurden sie Deutscher Meister. Im Juni 2011 zog der Verein ins neue Stadion im Gonsbachtal um.
Der TSV Schott ist der größte Mainzer Breitensportverein, er hat ca. 3700 Mitglieder und bietet 25 verschiedene Sportarten an. Die American Footballer des TSV Schott, die „Mainz Golden Eagles“, wurden 2007 Meister in der Oberliga und spielten zwei Jahre in der Regionalliga Mitte. Zurzeit spielt die Mannschaft wieder in der Oberliga. Die zur Saison 2009 erstmals angetretene Damenmannschaft gewann direkt in der Debütsaison die Meisterschaft der 2. Bundesliga. Gleichzeitig stellten sie für die Saison 2010 sechs Mitglieder der aktuellen deutschen Damen-Football-Nationalmannschaft. Auch die Jugendmannschaften der Golden Eagles errangen einige Erfolge, unter anderem die Qualifikation zu den deutschen Meisterschaften im Hallen-Flag-Football.
Der Rugby Club Mainz wurde 1999 als eigenständiger Verein gegründet. Seit dem Beginn der Saison 2012/2013 spielt die Herrenmannschaft in der 1. Bundesliga. Zuvor war der RCM in der 2. Bundesliga Süd vertreten. Die Reservemannschaft tritt in der rheinland-pfälzischen Regionalliga an. Größter Erfolg der bisherigen Vereinsgeschichte sind der Gewinn der deutschen Hochschulmeisterschaft 2009 in Zusammenarbeit mit der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der vorzeitige Erstliga-Klassenerhalt in der Saison 2012/2013. Die Damenabteilung des RC Mainz nimmt in mehreren Spielgemeinschaften am Ligabetrieb teil: In der SG Rhein-Main wird gemeinsam mit Eintracht Frankfurt Bundesliga-Rugby gespielt, die SG Mainz-Aachen tritt in der 7er-Regionalliga West an.Das SPORT-Netz Mainz e. V., Abteilung Lacrosse (Mainz Musketeers), ist seit 2007 in der Westdeutschen Lacrosse-Liga WDLL, jetzt 1. Bundesliga West, vertreten.
Die 1. Herrenmannschaft der Hockeyabteilung des TSV Schott Mainz spielt in der 2. Bundesliga, Gruppe Süd.
Floorball Mainz spielt in der Regionalliga West, setzt intensiv auf Nachwuchsarbeit und blickt auf eine erfolgreiche Deutschland-Pokal und Zweitliga-Vergangenheit zurück.
=== Sonstige Sportarten (Auswahl) ===
Der USC Mainz stellte bereits mehrere Teilnehmer an Olympischen Spielen, darunter Ingrid Mickler-Becker, Olympiasiegerin mit der 4 × 100-m-Staffel 1972, Lars Riedel, Diskus-Olympiasieger 1996, Marion Wagner, Niklas Kaul, Dekathlon-Weltmeister 2019, und Florence Ekpo-Umoh.
Der Mainzer Turnverein von 1817 ist der zweitälteste noch existierende Sportverein Deutschlands. Der MTV besteht aus den Sparten Turnen-Gymnastik, Badminton, Basketball, Fechten, Fußball, Handball, Kegeln, Modern Sports Karate, Ski, Tennis und Volleyball.
Die 1. Herrenmannschaft der Schachabteilung des TSV Schott Mainz spielt in der 2. Schachbundesliga, Gruppe West. Der 1. Damenmannschaft gelang in der Saison 2006/2007 der Aufstieg in die 1. Bundesliga, die 2. Damenmannschaft stieg in die 2. Bundesliga auf.
Der ASV Mainz 1888 errang in den Jahren 1973, 1977 und 2012 den Titel „Deutscher Mannschaftsmeister“, 1975 war er Vizemeister und 1969 Pokalsieger. Durch das Erreichen der Meisterschaft in der 2. Ringer-Bundesliga West 2006/07 tritt der Verein seit der Saison 2007 wieder in der 1. Ringer-Bundesliga an.
Der Mainzer Ruder-Verein (MRV) von 1878 ist seit 1912 im internationalen Spitzensport vertreten und ist einer der erfolgreichsten deutschen Rudervereine. Der erste internationale Titel konnte 1913 bei der Europameisterschaft in Gent errudert werden. Nach der Anzahl der Mitglieder (ca. 600) gehört er seit Jahren zu den größten deutschen Rudervereinen. Seit 2003 ist das Bootshaus des MRV am Winterhafen Sitz eines Landesleistungszentrums des Landesruderverbandes Rheinland-Pfalz, außerdem Olympiastützpunkt Rheinland-Pfalz/Saarland und seit 2013 Bundesstützpunkt Nachwuchs Mainz/Frankfurt. Im Jahr 2020 qualifizierte sich Jason Osborne in seiner Bootsklasse für eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio.
Die SG EWR Rheinhessen-Mainz ist ein Zusammenschluss aus insgesamt sechs Schwimmvereinen.
Die 1. Herrenmannschaft schwimmt seit der Saison 2006/07 in der 1. Bundesliga, die Damenauswahl in der 2. Bundesliga Süd. Darüber hinaus starten regelmäßig Sportler der Startgemeinschaft bei Europa- und Weltmeisterschaften sowie Olympischen Spielen. Bekannte Sportler der Trainingsgruppe von Nikolai Evseev sind Christian Hein, Angela Maurer und Johanna Manz.
Zu den leistungsstärksten und erfolgreichsten deutschen Hallenradsportvereinen gehören der Radsportverein 1925 Ebersheim, der Radfahrerverein 1905 Finthen und der Radfahrerverein 1910 Hechtsheim. Als Leistungssport, der seine nationalen und internationalen Erfolge einer guten Jugendarbeit verdankt, pflegen diese Vereine das Kunstradfahren (Einer-, Zweier-, Vierer- und Sechser-Kunstfahren) sowie den Radball. Bei den Weltmeisterschaften im Zweier-Radball knüpften Thomas Abel und Christian Hess 2006 und 2007 an die Titelgewinne Hechtsheimer Radsportler seit den frühen 1950er Jahren an; Katrin Schultheis und Sandra Sprinkmeier (RV Ebersheim) errangen seit 2004 drei Weltmeister-Titel und vier Vizeweltmeisterschaften und sind Inhaberinnen des aktuellen Weltrekordes. Julia und Nadja Thürmer (RV Finthen) gehören als Junioreneuropameisterinnen 2007 und Vizeweltmeisterinnen 2009 zur nationalen und internationalen Spitze im Zweier-Kunstfahren.
Der Tanz-Club Rot-Weiss Casino Mainz wurde im Jahr 1949 gegründet. Er gehört zu den zehn größten Tanzsportclubs in Deutschland und ist der zweitgrößte Tanzsportverein in Rheinland-Pfalz nach dem Tanzclub Rot-Weiss Kaiserslautern. Aushängeschilder des Clubs sind das Ehepaar Kiefer, amtierender Weltmeister der Senioren II Standard Klasse, und die Standardformationen, von denen das A-Team seit sechs Jahren in der ersten Bundesliga tanzt. Als einziger Verein in Deutschland hatte der Club in der Saison 2006/2007 drei Standardmannschaften am Start.
Der MGC Mainz, ein Minigolfverein, spielt in der ersten Bundesliga und ist mit vielen Nationalspielern besetzt.
Die 1. Herrenmannschaft des TriathlonClub EisheiligenChaos (TCEC) startete im Jahr 2013 in der Regionalliga.
=== Weitere Sportvereine (Auswahl) ===
TSV Schott Mainz (u. a. Fußball, Hockey, Leichtathletik, Kegeln, Schach, American Football, Tennis, Eishockey)
Mombacher Turnverein 1861, der drittgrößte Mainzer Verein
DLRG Mainz e. V.
Sektion Mainz des Deutschen Alpenvereins – Bergsteigen, Klettern, Wandern, Hochtouren, Expeditionen, Skisport
Luftfahrtverein Mainz e. V.
Budo-Sportclub Mainz 92 e. V.
Polizei-Sportverein Mainz e. V.
Postsportverein Mainz e. V.
Rugby Club Mainz 1997 e. V.
Schachfreunde Mainz 1928 e. V.
Segelclub Mainspitze e. V.
SVW Mainz e. V.
TriathlonClub EisheiligenChaos 1988 e. V. (abgekürzt: TCEC)
TC Manta Mainz e. V. – Tauchclub
YCM Yacht-Club Mainz e. V.
SC Moguntia 1896 e. V.
Taekwon-Do Armare Mainz e. V.
Weißer Kranich, Freunde des Taijiquan und Wushu e. V.
KSV Mainz 08 e. V.Hinweis: Sportvereine, die sich einem Stadtteil zuordnen lassen, befinden sich in den jeweiligen Stadtteilartikeln.
== Namenspatenschaften ==
Die Stadt Mainz war in der Geschichte schon mehrfach Namenspate:
Auswanderer im 18. und 19. Jahrhundert gründeten in den Vereinigten Staaten die Städte Mentz (New York) und Mentz (Texas).
Die SMS Mainz war ein Kleiner Kreuzer der deutschen Kaiserlichen Marine, der im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kam.
Die Mainz war ein Raddampfer der 1928/29 für die Köln-Düsseldorfer Deutsche Rheinschifffahrt gebaut wurde.
Die Mainz ist ein Bereisungsschiff, das 1943 gebaut wurde und heute vorrangig für Veranstaltungen der Bundesregierung genutzt wird, darunter Staatsbesuche und internationale Konferenzen.
Der Mainzer Schinken war eine Bezeichnung der Metzger in und um Mainz für einen nach einem bestimmten Rezept hergestellten Schinken.
Als Mainzer Modell bezeichnet man eine Form des Lohnkostenzuschusses.
Die Lufthansa hat einen Airbus A340-600 (Kennung D-AIHK) nach der Stadt benannt.
Die Deutsche Bahn hat seit Herbst 2006 einen ICE T der Baureihe 411 (Tz 1182) mit Zulassung für die Schweiz nach der Stadt benannt. Zuvor gab es seit dem 17. Januar 2003 ebenfalls einen ICE T, allerdings aus der Baureihe 415 (Tz 1582), der den Namen der Stadt trug.
Der hochalpine Mainzer Höhenweg in den Ötztaler Alpen wird von der DAV Sektion Mainz betreut. Um die Stadt Mainz herum befindet sich der Kleine Mainzer Höhenweg.
Der Name des Asteroiden (766) Moguntia ist abgeleitet von der lateinischen Bezeichnung der Stadt Mainz, Mogontiacum.
== Partnerstädte ==
Vereinigtes Konigreich Watford (Vereinigtes Königreich), seit 1956
Frankreich Dijon (Frankreich), seit 1958
Kroatien Zagreb (Kroatien), seit 1967
Spanien Valencia (Spanien), seit 1978
Israel Haifa (Israel), seit 30. März 1987
Deutschland Erfurt (Thüringen, Deutschland), seit 20. Februar 1988
Vereinigte Staaten Louisville (Kentucky, Vereinigte Staaten), seit Mai 1994Partnerstädte Mainzer Stadtteile:
Frankreich Longchamp (Frankreich), seit 1966 mit Mainz-Laubenheim
Italien Rodeneck (Südtirol, Italien), seit 1977 mit Mainz-FinthenFreundschaftliche Beziehungen:
Ruanda Kigali (Ruanda), seit 1982
Aserbaidschan Baku (Aserbaidschan), seit 1984
== Persönlichkeiten ==
Zu Personen, die in Mainz geboren sind oder in dieser Stadt gewirkt haben, siehe:
Liste Mainzer Persönlichkeiten
Liste von Söhnen und Töchtern der Stadt Mainz
Liste der Ehrenbürger von Mainz
Liste der Bischöfe von Mainz
Liste der Mainzer Weihbischöfe
Liste der Stadtoberhäupter von Mainz
Liste der Gouverneure der Festung Mainz
Liste der Klassischen Philologen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Liste der Künstler am Mainzer Dom
== Literatur ==
=== Allgemeine Schriften ===
(nach Erscheinungsjahr geordnet)
Karl Anton Schaab: Geschichte der Stadt Mainz. vier Bände, Mainz 1841–1851. Davon direkt zu Mainz Band 1 (1841) und Band 2 (1844).
Johann Heinrich Hennes: Bilder aus der Mainzer Geschichte, Verlag Franz Kirchheim Mainz 1857.
Städtebuch Rheinland-Pfalz und Saarland. Bd. 4,3. Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte. Teilband. Im Auftrage der Arbeitsgemeinschaft der historischen Kommissionen und mit Unterstützung des Deutschen Städtetages, des Deutschen Städtebundes und des Deutschen Gemeindetages, hrsg. von Erich Keyser. Kohlhammer, Stuttgart 1964.
Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte. Hrsg. v. d. Stadt Mainz. Krach, Mainz 1981ff. ISSN 0720-5945
Franz Dumont (Hrsg.), Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz: Mainz – Die Geschichte der Stadt. Zabern, Mainz 1999 (2. Aufl.), ISBN 3-8053-2000-0.
Wilhelm Huber: Das Mainz-Lexikon. Hermann Schmidt, Mainz 2002, ISBN 3-87439-600-2.
Michael Matheus, Walter G. Rödel (Hrsg.): Bausteine zur Mainzer Stadtgeschichte. Mainzer Kolloquium 2000 (Geschichtliche Landeskunde 55). Franz Steiner, Stuttgart 2002, ISBN 3-515-08176-3.
Peter C. Hartmann: Kleine Mainzer Stadtgeschichte. Pustet, Regensburg 2005, ISBN 978-3-7917-1970-2.
Wolfgang Dobras, Frank Teske: Kleine Geschichte der Stadt Mainz. Braun Verlag, Karlsruhe 2010, ISBN 3-7650-8555-3.
Franz Xaver Bischof, Maria Lehner-Helbig: Mainz. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
Mechthild Dreyer/Jörg Rogge (Hrsg.): Mainz im Mittelalter. von Zabern, Mainz 2009, ISBN 978-3-8053-3786-1.
Jörg Koch: Mainz. 55 Meilensteine der Geschichte. Menschen, Orte und Ereignisse, die unsere Stadt bis heute prägen. Sutton, Erfurt 2022, ISBN 978-3-96303-373-5.
=== Einzelthemen ===
==== Personen ====
(nach Autoren/Herausgebern alphabetisch geordnet)
Wolfgang Balzer: Mainz, Persönlichkeiten der Stadtgeschichte. Kügler, Ingelheim 1985–1993.
Bd. 1: Mainzer Ehrenbürger, Mainzer Kirchenfürsten, militärische Persönlichkeiten, Mainzer Bürgermeister. ISBN 3-924124-01-9.
Bd. 2: Personen des religiösen Lebens, Personen des politischen Lebens, Personen des allgemein kulturellen Lebens, Wissenschaftler, Literaten, Künstler, Musiker. ISBN 3-924124-03-5.
Bd. 3: Geschäftsleute, epochale Wegbereiter, Baumeister, Fastnachter, Sonderlinge, Originale. ISBN 3-924124-05-1.
Hans Berkessel, Hedwig Brüchert, Wolfgang Dobras, Ralph Erbar, Frank Teske (Hrsg.): Leuchte des Exils. Zeugnisse jüdischen Lebens in Mainz und Bingen, Mainz 2016, ISBN 978-3-945751-69-5.
==== Architektur ====
Denkmaltopographien nach Erscheinen geordnet
Angela Schumacher, Ewald Wegner: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Rheinland-Pfalz 2.1 = Stadt Mainz. Stadterweiterungen des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts:
1. Auflage: 1986. ISBN 978-3-590-31032-2
2. Auflage: Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1997. ISBN 978-3-88462-138-7
Ewald Wegner: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Rheinland-Pfalz 2.2 = Stadt Mainz. Altstadt.
1. Auflage: Schwann, 1988. ISBN 978-3-491-31036-0
2. Auflage: Schwann, 1990. ISBN 3-491-31036-9
3. Auflage: Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1997. ISBN 978-3-88462-139-4
Dieter Krienke: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Rheinland-Pfalz 2.3 = Stadt Mainz. Vororte mit Nachträgen zu Band 2.1 und Band 2.2. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1997. ISBN 978-3-88462-140-0Weitere Literatur nach Autoren / Herausgebern alphabetisch geordnet
Hedwig Brüchert (Hrsg.): Die Neustadt gestern und heute. Festschrift 125 Jahre Mainzer Stadterweiterung. Sonderheft der Mainzer Geschichtsblätter. Veröffentlichungen des Vereins für Sozialgeschichte, Mainz 1997.
Heinz Duchhardt: „Römer“ in Mainz. Ein Doppelporträt aus der Frühgeschichte der „neuen“ Mainzer Universität. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken. Band 94, 2015, S. 292–310 (Digitalisat).
Günther Gillessen (Hrsg.): Wenn Steine reden könnten – Mainzer Gebäude und ihre Geschichten. Philipp von Zabern, Mainz 1991, ISBN 3-8053-1206-7.
Ernst Stephan: Das Bürgerhaus in Mainz. Das deutsche Bürgerhaus. Bd. 18. Wasmuth, Tübingen 1974, 1982, ISBN 3-8030-0020-3.
Petra Tücks: Zur urbanistischen und architektonischen Gestaltung der Stadt Mainz während der napoleonischen Herrschaft. Die Entwürfe von Jean Fare Eustache St. Far. In: INSITU. Zeitschrift für Architekturgeschichte 1 (2/2009), S. 7–26.
Claus Wolf: Die Mainzer Stadtteile. Emons, Köln 2004, ISBN 3-89705-361-6.
==== Weitere Themen ====
(nach Autoren/Herausgebern alphabetisch geordnet)
Friedhelm Jürgensmeier: Das Bistum Mainz. Knecht, Frankfurt/Main 1988, ISBN 3-7820-0570-8.
Jörg Schweigard: Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein – Aufklärung, Reform und Revolution in Mainz. Casimir Katz, Gernsbach 2005, ISBN 3-925825-89-4.
== Siehe auch ==
== Weblinks ==
Offizielle Webpräsenz der Landeshauptstadt Mainz
Literatur von und über Mainz im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Literatur über Mainz in der Rheinland-Pfälzischen Landesbibliographie
Linkkatalog zum Thema Mainz bei curlie.org (ehemals DMOZ)
Digitales Stadtmodell: Mainz um 800 auf YouTube
Digitales Stadtmodell: Mainz um 1250 auf YouTube
Alte Stadtansichten von Mainz aus J. F. Dielmann, A. Fay, J. Becker (Zeichner): F. C. Vogels Panorama des Rheins, Bilder des rechten und linken Rheinufers, Lithographische Anstalt F. C. Vogel, Frankfurt 1833
Die Inschriften der Stadt Mainz. Teil 1: Die Inschriften des Domes und des Dom- und Diözesanmuseums von 800 bis 1350 via Deutsche Inschriften Online
F. K. Luft: Das neue Stadtkassen- und Verwaltungsgebäude der Stadt Mainz in: Deutsche Bauzeitung, 1926.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mainz
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Mainzer Jakobinerklub
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= Mainzer Jakobinerklub =
Der Mainzer Jakobinerklub wurde am 23. Oktober 1792 im Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses in Mainz als Zusammenschluss deutscher Jakobiner gegründet. Der offizielle Gründungsname lautete Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit. Die Gründung erfolgte zwei Tage nach der Eroberung von Mainz durch französische Revolutionstruppen unter General Adam-Philippe de Custine. Vorbild des Mainzer Jakobinerklubs war die französische Gesellschaft der Freunde der Verfassung, die seit Dezember 1789 im Pariser Jakobinerkloster tagte und dadurch den geläufigen Namen Jakobinerklub bekam.
Der Mainzer Jakobinerklub gilt als erste demokratische Bewegung Deutschlands und war eine prägende politische Kraft der kurzlebigen Mainzer Republik. Mit knapp 500 Mitgliedern war er der größte der revolutionären Klubs, die 1792/93 während der französischen Besetzung Südwestdeutschlands gegründet wurden. Politisch waren die Mitglieder im Sinne der Ideale der Französischen Revolution bis zur endgültigen Auflösung im Mai 1793 aktiv.
== Vorgeschichte ==
Nach der ersten Phase der Französischen Revolution 1789 bis 1791 wurden auf dem Fürstentag im Mainzer Lustschloss Favorite (19. bis 21. Juli 1792) die politischen Weichen für Gegenmaßnahmen gestellt. Der gerade gekrönte Kaiser Franz II., der preußische König Friedrich Wilhelm II., der gastgebende Mainzer Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal sowie zahlreiche weitere Fürsten und Diplomaten beschlossen hier ein weiteres, auch militärisches, Vorgehen gegen das revolutionäre Frankreich. In der Folge kam es zum Ersten Koalitionskrieg. Nach der für Frankreich siegreichen Kanonade von Valmy am 20. September 1792 ging die französische Revolutionsarmee zum Gegenangriff über und eroberte unter General Adam-Philippe de Custine am 21. Oktober 1792 Mainz. Hier fand er bereits eine größere Anzahl von Bürgern vor, die mit den Ideen der Französischen Revolution sympathisierten. Dies waren zumeist Professoren und Studenten der Mainzer Universität aber auch Beamte der Kurfürstlichen Verwaltung.
== Mögliche Vorgängereinrichtungen des Mainzer Jakobinerklubs ==
Die Frage, ob es zu dem Mainzer Jakobinerklub bereits zu kurfürstlichen Zeiten als Vorgängereinrichtungen zu interpretierende Institutionen gab, wird kontrovers diskutiert. Während dies unter anderem Historiker wie Heinrich Scheel, Walter Grab, Hans Grassl oder Jörg Schweigard eindeutig bejahen, spricht sich Franz Dumont dagegen aus.Als Vorgängereinrichtung des Mainzer Jakobinerklubs könnte vor allem die Mainzer Gelehrte Lesegesellschaft gelten. Diese wurde 1781/82 mit dem Ziel gegründet, moderne Literatur zu erschwinglichen Preisen zugänglich zu machen und eine Diskussionsplattform zu aktuellen Themen zu bieten. Alleine die 24 politischen Zeitschriften im angebotenen Bestand und eine hohe Anzahl aufgeklärt-liberaler Intellektueller als Mitglieder der Gesellschaft sorgten für eine zunehmende Politisierung der Lesegesellschaft. Dafür spricht auch, dass mit Mathias Metternich, Felix Anton Blau, Anton Joseph Dorsch oder Andreas Joseph Hofmann, allesamt Professoren der kurfürstlichen Universität, spätere führende und als radikal geltende Jakobiner Mitglieder der Lesegesellschaft waren. Als diese sich 1791 aufgrund inhaltlicher Differenzen ihrer Mitglieder über Schriften zur Französischen Revolution spaltete, waren Metternich und sein Kollege Andreas Joseph Hofmann federführend bei der Aufteilung der Lesegesellschaft in eine Aristokratische und eine Demokratische Lesegesellschaft.
Die Mainzer Gruppe der 1785 verbotenen politisch aktiven Illuminatenbewegung war ebenfalls ein Sammelbecken für vorrevolutionäre Aktivitäten. Zahlreiche spätere Mainzer Jakobiner wie beispielsweise der kurfürstliche Polizeibeamte und spätere Maire Franz Konrad Macké hatten hier ihre ersten Kontakte zu den Ideen der Aufklärung. Nach der Aufhebung der Mainzer Illuminatenloge im Februar 1786 gründete sich bereits im Mai desselben Jahres eine geheime Gesellschaft der Propaganda, deren Mitglieder sich größtenteils aus ehemaligen Mainzer Illuminaten rekrutierten und deren Aktivitäten denen des sechs Jahre später gegründeten Mainzer Jakobinerklubs größtenteils glichen. So verwundert es auch nicht, dass drei der Gründungsmitglieder des Mainzer Jakobinerklubs aus den Reihen des „Propagandaklubs“ kamen und der Ausschuss für Geschäftsführung und Korrespondenz des Mainzer Jakobinerklubs bis auf eine Person mit denselben aktiven Mitgliedern aus den Kreisen der ehemaligen Illuminaten und Propagandisten besetzt war.Bekannt ist auch, dass es in Mainz bereits vor 1792 zahlreiche private Zirkel und Kreise gab, in denen vor allem Intellektuelle, aber auch Studenten der kurfürstlichen Universität, die nicht in der Gelehrten Lesegesellschaft zugelassen waren, mehr oder weniger aktiv aufklärerisches und revolutionäres Gedankengut diskutierten.
== Der Mainzer Jakobinerklub ==
=== Gründung ===
Mit der Machtübernahme durch General Custine und der damit beginnenden Zugehörigkeit von Mainz als Mayence zur Ersten Französischen Republik waren alle notwendigen Voraussetzungen für eine politische Betätigung im Sinne der neuen Herren von Mainz geschaffen. Der Wormser Theologe, Kirchenrechtler und ehemalige Universitätsprofessor Georg Wilhelm Böhmer, mittlerweile Custines Sekretär, war mit den Französischen Truppen nach Mainz gekommen. Er rief bereits einen Tag später, am 22. Oktober 1792, öffentlich in der „Privilegirten Mainzer Zeitung“, deren Redakteur er gerade geworden war, zur Gründung einer dem Pariser Jakobinerklub gleichenden „Gesellschaft deutscher Freunde der Freiheit und Gleichheit“ auf:
Vorausgegangen war eine Besprechung am Vortag bei Custines Generaladjutant Stamm, die Böhmer leitete. Custine plante bereits während seines Feldzugs die Gründung revolutionärer Gesellschaften und suchte erfahrene Personen als geeignete Vermittler der Revolutionsideen in diesen Gremien. Ausdrücklich wurden die Aktivitäten Böhmers von ihm gefördert und unterstützt. Auch Geldzahlungen an die gründungswilligen Unterstützer der französischen Sache wurden von Custine über Böhmer veranlasst. Böhmer wiederum berief sich bei seinen Aktivitäten in Mainz mehrfach direkt auf General Custine und handelte offiziell in seinem Namen und Auftrag.20 Personen, überwiegend aus dem Umfeld der Mainzer Universität, erschienen am Abend des 23. Oktobers 1792 im Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses. Böhmer erschien in Begleitung des Arztes Georg von Wedekind und des Handelskaufmanns André Patocki. Er eröffnete die konstituierende Sitzung mit der Entschuldigung des Generals Custine, den „dringende Kriegsgeschäfte“ aufhalten würden, und ließ Propagandamaterial verteilen. Es folgte Reden des Hofgerichtsrats Kaspar Hartmann, der sich vom kurfürstlichen Hofbeamten zu einem der kompromisslosesten Mainzer Jakobiner entwickeln sollte, sowie der Professoren Georg Wedekind und Mathias Metternich, in denen vorrangig das alte Regime des Kurfürsten und dessen Aristokraten angegriffen wurden. Danach unterzeichneten die Anwesenden ein gemeinsames Protokoll. Man begrüßte in diesem die Befreiung und die Unterstützung durch die Franzosen, erklärte den förmlichen Zusammenschluss der Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit und hielt fest, dass man den Straßburger Jakobinerklub um die Zusendung seiner Statuten bitten werde. Mit dem feierlichen Schwur des Aufnahmeeids Frei leben oder sterben! endete diese erste Sitzung des Mainzer Jakobinerklubs.
Zu den Gründungsmitgliedern des Mainzer Klubs gehörten neben Böhmer die Universitätsprofessoren Mathias Metternich, Georg Wedekind sowie Andreas Joseph Hofmann, weitere Professoren und Studenten der Universität, aber auch Kaufleute wie André Patocki oder Georg Häfelin oder Militärs wie Rudolf Eickemeyer. Zum Gründungspräsident wurde bei der nächsten Sitzung am folgenden Tag Georg Häfelin gewählt, sein Stellvertreter wurde Mathias Metternich.
=== Wachstum und Höhepunkt ===
Bereits bei der zweiten Sitzung am 24. Oktober, bei der auch General Custine teilnahm und zu den Besuchern sprach, war der Akademiesaal überfüllt. In der darauf folgenden, circa zweiwöchigen Gründungsphase nahm die Anzahl der Mitglieder schnell zu und erreichte bis Ende November 1792 den Höchststand von genau 492 eingetragenen Mitgliedern. In dieser Phase wurde das politische Programm des Klubs in seinen Grundzügen erstellt.
Der Versuch konservativer und gemäßigter Kräfte, den Jakobinerklub lediglich als im Rahmen der nun folgenden Veränderungen passives Diskussionsforum zu nutzen, wurde in dieser Zeit ebenfalls deutlich abgelehnt. Die meisten Mitglieder wollten aktiv an dem nun anlaufenden Demokratisierungsprozess beteiligt sein. Dass sich die Klubmitglieder tatkräftig und aus eigenem Antrieb an Aktionen im Rahmen der gesellschaftlichen Veränderungen beteiligten, zeigte die öffentlichkeitswirksame Eigeninitiative zur Errichtung eines Freiheitsbaumes auf dem Höfchen und die Schaffung eines „Roten Buchs der Freiheit“ und eines „Schwarzen Buchs der Sklaverei“, in das sich die Mainzer Bevölkerung in freier Entscheidung eintragen und somit für oder gegen die Revolutionsideen der Franzosen stimmen sollte.
Zur weiteren Intensivierung der Klubarbeit trugen aus dem Elsass kommende Jakobiner wie beispielsweise Anton Joseph Dorsch, bis 1791 Inhaber eines Lehrstuhls für Philosophie an der Universität Mainz, aus Straßburg bei. Diese waren von Custine zu einem früheren Zeitpunkt zur Unterstützung der neugegründeten Jakobinerklubs im linksrheinischen Gebiet angeworben worden und prägten in der Anfangszeit nachhaltig Struktur, Organisation aber auch propagandistische Außenwirkung des Mainzer Jakobinerklubs. Popularität und Ansehen des Klubs stiegen zudem mit dem späteren Eintritt wichtiger und bekannter Mainzer Persönlichkeiten. Der Eintritt des beim Volk beliebten Polizeikommissars und später zum Maire gewählten Franz Konrad Macké hatte eine wichtige Signalfunktion für das noch wenig vertretene Zunftbürgertum. Der zwei Tage später – nach anfänglichen Vorbehalten und zögerndem Abwägen seiner zukünftigen politischen Haltung – erfolgte Eintritt des weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannten Forschers und Gelehrten Georg Forster wurde außerhalb von Mainz aufmerksam wahrgenommen.
General Custine berief Mitte November führende Mitglieder des Klubs wie Forster oder Dorsch in hohe Ämter der neu geschaffenen Zivilverwaltung. So wurde beispielsweise Dorsch Präsident der Allgemeinen Administration und damit höchster ziviler Repräsentant im gesamten französischen Besatzungsgebiet. Dieser Zuwachs an Autorität, Ordnungsmacht und Prestige und somit die Wertschätzung Custines für die im Klub aktiven Mainzer Jakobiner und der Höchststand der Mitgliederzahl Ende November mit knapp 500 Mitgliedern zeigen gleichzeitig den Höhepunkt des Wirkens des Mainzer Jakobinerklubs auf.
Ab Anfang Dezember 1792 kam es zu einer Stagnierung des bisher kontinuierlich verlaufenden Mitgliederzuwachses. Maßgeblich dafür verantwortlich waren die ersten militärischen Misserfolge der französischen Revolutionsarmee bei Frankfurt am Main gegen preußische und österreichische Truppen, verbunden mit der Rückeroberung von Frankfurt durch diese. Dazu kam am 13. Dezember 1792 die offizielle Ausrufung des Kriegszustandes für Mayence durch die französische Besatzungsmacht. Die Wahrnehmung der uneingeschränkten Machtbefugnisse durch den Militärrat unter Custine schränkte den Handlungsspielraum der zivilen Verwaltung drastisch ein. Der Mainzer Jakobinerklub wurde in seinen Möglichkeiten stark eingeschränkt und bisherige Sympathisanten und Mitglieder hielten wegen der unsicheren politischen Zukunft nun mehr Distanz zu den Mainzer Jakobinern. Eine weitere, für die Zukunft des Mainzer Jakobinerklubs äußerst negative Entwicklung, begann Ende Dezember 1792. Bereits ab Mitte November 1792 vorhandene unterschiedliche Auffassungen über die Zukunft des linksrheinischen Territoriums und hier vor allem eines möglichen Zusammenschlusses mit Frankreich führten zu internen ideellen und programmatischen Streitigkeiten. Es kam in der Folge zu einer Lagerbildung zwischen einem gemäßigten und einem eher radikal orientierten Flügel der führenden Klubmitglieder. Diese traten nun öffentlich zutage.
=== Auflösung, Ende, Neugründung und endgültige Auflösung ===
Der Niedergang des Mainzer Jakobinerklubs setzte sich mit Beginn des Jahres 1793 fort. Es kam zu heftigen, diesmal öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten zwischen dem gemäßigten und dem radikalen Flügel des Jakobinerklubs. Die radikal orientierte Klubführung um Dorsch, Wedekind und Böhmer sah sich mit einer wachsenden Opposition bei der Frage über die weitere Vorgehensweise bei der „Revolutionierung“ der Bevölkerung konfrontiert. Bei der Klubsitzung am 10. Januar 1793 sollte deshalb das Thema Warum finden die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit so wenig Beifall? diskutiert werden. Es kam zu einem Eklat, als Andreas Hofmann, Sprecher der unzufriedenen Klubmitglieder, reihum Wedekind, Dorsch als Leiter der Allgemeinen Administration, Forster, dessen Stellvertreter, Friedrich Georg Pape, den Vorsitzenden des einflussreichen Korrespondenzausschusses und letztendlich auch die französische Besatzungsmacht scharf angriff. Andreas Hofmann vertrat mittlerweile im Mainzer Jakobinerklub die Interessen der Mainzer Bevölkerung und dort insbesondere die der sozialen Unterschichten. Er wurde am nächsten Tag im Gegenzug von Custine der Verleumdung angeklagt und mit Hinrichtung wegen Verrates bedroht. Die von ihm angegriffenen Klubisten warfen Hofmann postwendend die – allerdings frei erfundene – Kollaboration mit dem Koadjutor und Stellvertreter des Kurfürsten, Karl Theodor von Dalberg, vor. Die Verschärfung dieser internen Streitigkeiten, zunehmende Handlungsunfähigkeit des Klubs, die erstmals so öffentlich vorgetragene Kritik an dem, im deutlichen Gegensatz zum Herbst 1792 stehenden Verhalten der französischen Soldaten und ihrer Führung, all dies führte letztendlich zu einer weiteren Stagnation der „Revolutionierung“ der Bevölkerung, dem Hauptziel des Mainzer Jakobinerklubs.
Diese kam nicht so schnell und nachhaltig voran wie von den Franzosen (und den meisten der deutschen Jakobiner) immer noch gewünscht. Beide, deutsche Jakobiner und die französische Administration, waren enttäuscht von den „Befreiten“, die sich ihrer Ansicht nach zu phlegmatisch verhielten und nicht von sich aus die Initiative zum politischen Kurswechsel ergriffen. Vor allem Forster äußerte sich in privaten Briefen – aber nie öffentlich – über das Unvermögen des Volkes zur eigenen Freiheit: Ich bleibe dabei, daß Deutschland zu keiner Revolution reif ist. … unser rohes, armes, ungebildetes Volk kann nur wüten, aber nicht sich konstituieren.Von dem am 26. Oktober 1792 durch Custine den Mainzern versprochenen Recht „Euer eigener, ungezwungener Wille soll euer Schicksal entscheiden. Selbst dann wenn ihr die Sklaverei den Wohltaten vorziehen werdet, mit denen die Freiheit euch winkt, bleibt es euch überlassen zu bestimmen, welcher Despot euch eure Fesseln zurückgeben soll.“ war bald nicht mehr die Rede. In einem Dekret des französischen Konvents vom 15. Dezember 1792 kam es zu einem sich bereits vorher schon abzeichnenden Paradigmenwechsel der bisherigen Revolutionspolitik in den besetzten linksrheinischen Gebieten. Das Selbstbestimmungsrecht der befreiten Bevölkerung wurde quasi außer Kraft gesetzt und der Konvent in Paris verstärkte nun seinen Druck in den besetzten deutschen Gebieten, die tatsächlich mehr und mehr den Status von „Kriegseroberungen“ bekamen. Urversammlungen zur Wahl und Einrichtung provisorischer Regierungen und Gerichte sollten durchgeführt werden, um endlich den Prozess der politischen Umbildung nach französischem Vorbild zu kontrollieren und beschleunigen. Der französische Konvent entsandte dazu die drei Konventsmitglieder Nicolas Haussmann, Merlin de Thionville und Jean François Reubell und zwei Nationalkommissare als direkte Abgesandte des Konvents und des Exekutivrats nach Mainz. Letztere vertraten vor Ort in Zusammenarbeit mit General Custine die Interessen der Besatzungsmacht Frankreich bei der zu wählenden provisorischen Regierung. Ihre vorab am gleichen Tag im Konvent beratenen und beschlossenen Instruktionen gaben ihnen weitreichende Vollmachten: die beiden Nationalkommissare sollten unverzüglich alle offen oder geheim agierende reaktionären und gegenrevolutionären Kräfte, insbesondere im Adel und im Klerus, beseitigen. Ihnen oblag die Kontrolle der französischen Besatzungsarmee und die Erforschung und Abstellung von Missständen bei Ausrüstung oder Verpflegung. Weitreichende Vollmachten hatten beide ebenfalls in politischen Fragen bei der noch zu wählenden und konstituierenden Administration in Mainz. Jean-Frédéric Simon, ein elsässischer Intellektueller, und Gabriel Grégoire, sein ebenfalls aus dem Elsass stammender Schwager, wurden am 13. Januar 1793 ernannt und trafen am 31. Januar in Mainz ein.
Zu dieser sich abzeichnenden deutlich strengeren Kontrolle durch Paris kamen zusätzlich militärische Niederlagen der französischen Truppen und das stetige Vorrücken alliierter Truppen (Preußen und Reichstruppen aus verschiedenen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches) in Richtung Mainz. All dies führte zu einem drastischen Rückgang der Mitgliedszahlen von 492 Mitgliedern Ende November 1792 bis auf etwa 150 im Februar 1793 und zu einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Klubs und seiner Aktivitäten.
Der französische Nationalkommissar des „Pouvoir exécutif“, Jean-Frédéric Simon, verkündete schließlich im März 1793 in Mainz die Schließung des Mainzer Jakobinerklubs sowie die gleichzeitige Neugründung einer „Société des Allemands libres“. Diese auf Deutsch Gesellschaft der Freunde der Republik benannte Nachfolgeeinrichtung sollte den bisherigen Klub bei gleichzeitigem Ausschluss der bisherigen gemäßigten Mitglieder ersetzen. Sie sollte, genauso wie ihr Vorbild, der Jakobinerklub in Paris, vornehmlich der inhaltlichen Vorbereitung der parlamentarischen Debatte im Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent dienen. Dieser „zweite Mainzer Jakobinerklub“ nahm seine Arbeit im März 1793 auf; ein letztes Lebenszeichen dieser bedeutungslosen Nachfolgeeinrichtung datiert Anfang Mai 1793. Spätestens mit der Einschließung von Mainz im Juni 1793 löste er sich in aller Stille auf. Unmittelbar nach der Rückeroberung von Mainz am 23. Juli 1793 waren viele Klubisten Repressalien der Bevölkerung ausgesetzt, es kam zu Misshandlungen und Plünderungen im Stadtgebiet und vor den Toren der Stadt. Goethe selbst war Augenzeuge solcher Misshandlungen von flüchtenden Klubisten und beschrieb diese später in seinem autobiografischen Werk Belagerung von Mainz:
Etwa hundert der aktivsten Klubisten, darunter beispielsweise Mathias Metternich oder Franz Macké, wurden als Geiseln auf die Festungen Königstein und Ehrenbreitstein verbracht und längere Zeit inhaftiert. Den letzten 39 ehemaligen, mittlerweile auf der Zitadelle Petersberg in Erfurt inhaftierten, prominenten Klubmitgliedern wurde Anfang 1795 die Auswanderung nach Frankreich erlaubt; im Gegenzug wurden dort 1793 deportierten Mainzer Einwohnern die Rückkehr erlaubt. Andere führende Klubisten wie beispielsweise Andreas Joseph Hofmann konnten unbehelligt aus der Stadt gelangen. Viele gingen ins Exil nach Straßburg oder Paris, wo es eine Societé des Refugiés Mayençais, eine Vereinigung von exilierten Mainzer Revolutionären gab.Aber auch die weniger aktiven oder sogar nur passiven Mitglieder des Mainzer Jakobinerklubs waren betroffen. So wurden beispielsweise Handwerker, die Mitglied im Klub waren, auf Betreiben ihrer regimetreuen Kollegen aus ihren Zünften ausgeschlossen. Ehemalige kurfürstliche Beamte oder Inhaber öffentlicher Ämter, die sich im Rahmen der Klubmitgliedschaft öffentlich exponierten, wurden mit verschiedensten Strafen, von Geldstrafen über Suspendierung vom Amt bis hin zur Ausweisung aus dem Kurfürstentum Mainz bestraft. Trotzdem sollten viele dieser „Klubisten“ ab 1798 wieder eine führende Rolle im nunmehr dauerhaft zu Frankreich gehörenden Mayence spielen.
=== Organisation ===
Nach der Konstitution des Klubs wurden in der darauffolgenden Zeit – bis Anfang Dezember 1792 – Organisation und Reglement festgelegt. Diese orientierten sich im Wesentlichen am Vorbild des Pariser und des Straßburger Jakobinerklubs, dem viele deutsche Emigranten angehörten. In der Gründungssitzung wurde unter anderem beschlossen, die Straßburger Jakobiner um ihre Statuten zu bitten. In der zweiten Klubsitzung am 24. Oktober wurde das Präsidium mit dem Kaufmann Georg Häfelin als Präsidenten und Mathias Metternich als Vizepräsident gewählt und beschlossen, prinzipiell öffentlich zu tagen.
Das Präsidium bestand aus dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten sowie vier Sekretären, die in vierwöchigem Turnus neu gewählt wurden. Organe des Klubs waren das öffentliche Plenum sowie das nichtöffentliche „Comité général“. Dazu kamen weitere fünf Komitees, deren Installation sich von November 1792 bis Januar 1793 hinzog. Diese widmeten sich unterschiedlichen Aufgaben: der Unterrichts-, Sicherheits-, Ökonomie-, Wohltätigkeits- und Korrespondenzausschuss. Dem Unterrichts- oder auch Belehrungsausschuss („Comité d’instruction“) kam eine besondere Bedeutung zu. Der Ausschuss bestand aus insgesamt 21 Mitgliedern, welche nicht nur die Tagesordnung der Klubsitzungen festlegte, sondern auch eigenständig revolutionäre Propaganda betrieb. Die Bevölkerung sollte im Rahmen von öffentlichen Vorlesungen von Mitgliedern umfassend über Themen wie Verfassung, Recht, Finanzen, Wissenschaft oder Religion aufgeklärt werden. Der Sicherheitsausschuss wurde entsprechend dem Pariser Vorbild zur Bekämpfung von Konterrevolutionären eingerichtet, erwies sich aber auch als wirksames Instrument gegen Opposition inner- und außerhalb des Klubs. Der Wohltätigkeitsausschuss sollte bedürftigen Jakobinern helfen aber auch Personen außerhalb des Klubs, die man damit für die Mitgliedschaft gewinnen wollte. Ebenfalls große Bedeutung hatte der bereits unmittelbar nach Klubgründung eingerichtete Korrespondenzausschuss. Mit Metternich, Wedekind, Patocki, Hofmann, Westhofen und später auch Forster und Pape hochkarätig besetzt, widmete sich dieser Ausschuss in vielfältiger Weise der Korrespondenz auf nationaler und internationaler Ebene. Er war auch für die „Affiliation“, die Verbrüderung des Mainzer Jakobinerklubs mit den Klubs in Straßburg und insbesondere in Paris zuständig; ein Vorgang, der dem Mainzer Jakobinerklub zum einen großen Prestige- und Autoritätsgewinn bescherte und zum anderen psychologisch für die Mainzer Jakobiner sehr wichtig war.Mitglieder konnten Männer ab dem 18. Lebensjahr, ab Anfang November ab dem 24. Lebensjahr werden. Von der Mitgliedschaft ausgenommen waren bestimmte soziale und Berufsgruppen wie Knechte, Tagelöhner und generell Frauen. Ein potentieller Aufnahmekandidat musste von einem Jakobiner „proporniert“ und von fünf weiteren Mitgliedern befürwortet werden. Erhoben dann in drei aufeinanderfolgenden Sitzungen nicht mehr als elf Mitglieder des Jakobinerklubs Einspruch, galt der Kandidat als aufgenommen.
Ein wesentlicher Aspekt der Tätigkeit des Mainzer Jakobinerklubs war sein prinzipiell öffentliches Wirken. Alle Sitzungen des Klubs waren gemäß einem am zweiten Tag seines Bestehens gefassten Beschluss öffentlich. Tagte man anfangs jeden Abend im Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses, traf man sich später nur noch an vier Abenden pro Woche. Als Anfang Dezember 1792 das Schloss zum Lazarett umfunktioniert wurde, zog der Klub in das „Comödienhaus“ um.
=== Größe und Zusammensetzung ===
Mit insgesamt 492 registrierten Mitglieder wies der Mainzer Jakobinerklub – auch im Vergleich zu später folgenden gleichartigen Einrichtungen in den ebenfalls französisch besetzten Städten Speyer und Worms – eine beachtliche Größe auf. Die etwa 450, in Mainz ansässigen, Klubmitglieder kamen aus dem Kreis der circa 7000 zum Eintritt berechtigten Mainzer Einwohner. Von den insgesamt 23.000–25.000 Einwohnern von Mainz im Jahr 1792 waren dies nur Männer über dem 18., später 24. Lebensjahr. Frauen und jüngeren Männern war der Eintritt in den Klub nicht erlaubt. Damit betrug der Grad der politischen Organisation innerhalb der Bevölkerung circa 6 %, ein Wert, den vergleichbare französische Organisationen oder heutige politische Parteien selten erreichen.Die schriftlich registrierten Mitglieder des Mainzer Jakobinerklubs setzten sich aus fast allen Schichten der Mainzer Bevölkerung zusammen. Nach den Formalitäten, die der offiziellen Aufnahme vorausgingen, trugen sich die neuen Mitglieder in eine ausgelegte Mitgliederliste ein, die von dem Notar Johann Baptist Bittong für den Klub geführt wurde. Diese Mitgliederliste, später im Hauptstaatsarchiv in Darmstadt aufbewahrt, war bis zu ihrer Vernichtung im Zweiten Weltkrieg die einzige authentische Quelle über die Mitglieder des Mainzer Jakobinerklubs. 50 Mitglieder des Jakobinerklubs waren Franzosen. Das prominenteste Mitglied war General Custine selbst, der allerdings erst am 18. November 1792 – aus kriegsbedingten Gründen wie er angab – dem Klub beitrat.Die mit circa 45 % zahlenmäßig größte, allerdings fast durchweg passive, Einzelgruppe bildeten kleinere Kaufleute und Handwerksmeister und -gesellen als Vertreter des Zunftbürgertums. Vertreter des Bildungsbürgertums und Intellektuelle wie Professoren, Geistliche, Ärzte, Juristen und Studenten folgten mit 21 %. Ihnen folgte mit gleicher Stärke die Gruppe der ehemals kurfürstlichen Beamten und der Französischen Bürger mit jeweils 10 %. 8 % der Klubmitglieder gaben bei ihrem Eintritt keine Berufsbezeichnung an, zu ihnen gehörten beispielsweise oft auch Bauern. Verschwindend gering war der Anteil der großbürgerlichen Handelskaufleute, die sich dem Mainzer Jakobinerklub fernhielten.
==== Professoren und andere Intellektuelle ====
Obwohl nur etwa jedes fünfte Mitglied des Jakobinerklubs zu dieser Gruppe gehörte, war ihr Einfluss auf dessen Aktivitäten überproportional groß. Fast alle der vor Oktober 1792 bereits politisch aktiven Professoren wie Wedekind, Metternich, Eickemeyer, Hofmann waren entweder direkt bei der Gründung des Jakobinerklubs beteiligt oder traten diesem bald bei. Mit dem international bekannten Forscher und Schriftsteller Georg Forster, der erst Anfang November dem Jakobinerklub beitrat, gewann die Institution zusätzlich an Renommee.Bis auf wenige Ausnahmen stellte die Gruppe der Professoren und Intellektuellen, wie beispielsweise der Jurist, Verleger und Publizist Christoph Friedrich Cotta, den Präsidenten und Vizepräsidenten des Mainzer Jakobinerklubs.
==== Studenten der Universität Mainz ====
Mit der Gründung des Klubs traten auch zahlreiche Studierende aus dem Umfeld Metternichs, Wedekinds und Hofmanns in den Klub ein. Das Eintrittsalter dort betrug anfangs 18 Jahre und wurde auf Vorschlag Dorschs trotz heftiger Proteste der jüngeren, überwiegend studierenden, Mitglieder am 7. November 1792 auf 24 Jahre hochgesetzt. Damit wurden zahlreiche Studierende von der Mitgliedschaft ausgeschlossen, die vorher eingetretenen konnten aber im Klub verbleiben.
Von diesen Studierenden sind vor allem Nikolaus Müller und Friedrich Lehne zu nennen, die bereits im Vorfeld politisch aktiv waren und schnell Karriere machten. Auch der Jurastudent Dominik Meuth war Gründungsmitglied und gab später zusammen mit dem ehemaligen Hofgerichtsrat Kaspar Hartmann den Fränkischen Beobachter heraus.
==== Kurfürstliche Beamte ====
Zu den Mitgliedern des Mainzer Jakobinerklubs zählten auch teils hohe kurfürstliche Hofbeamte. Der Anteil der Beamtenschaft bei der Gesamtzahl der Mitglieder betrug circa 11 %. So war der kurfürstliche Hofgerichtsrat Kaspar Hartmann bereits bei der Gründung des Klubs beteiligt und hielt bei dessen Gründungstreffen am 23. Oktober 1792 eine Rede für die „Wiederauferweckung der bisher unterdrückten Menschenrechte und (die) Einführung von Freiheit und Gleichheit“ und griff führende Mainzer Aristokraten an. Auch der frühe Eintritt des kurfürstlichen Mainzer Polizeikommissars Franz Konrad Macké wurde von der Mainzer Bevölkerung aufmerksam registriert.
==== Großkaufleute ====
Wie bereits geschrieben, war deren Anteil an den Mitgliedern äußerst gering. Einer der führenden Vertreter dieser kleinen Gruppe war allerdings der Handelskaufmann André Patocki. Er gehörte bereits in kurfürstlichen Zeiten zu dem prorevolutionären Kreis um Mathias Metternich und war Gründungsmitglied des Mainzer Jakobinerklubs. Zu dessen erstem Präsidenten wurde am 24. Oktober 1792, dem zweiten Tag seines Bestehens, bewusst der Kaufmann Georg Häfelin gewählt. Dieser hatte, zusammen mit Mathias Metternich als Vizepräsident, das Amt bis zum 24. November 1792 inne. Patocki und Häfelin spielten auch in der späteren Mainzer Munizipalität eine wichtige Rolle. Acht Tage nach der Konstituierung trat der 24-jährige jüdische Geldmakler Nathan Maas dem Jakobinerklub bei. Er begleitete auch den Zug, der vier Tage später, am 3. November 1792 den ersten Freiheitsbaum in Mainz auf dem Höfchen aufstellte. Am selben Tag, an dem er den Eid auf die revolutionäre Verfassung leistete, trat Maas im Frühjahr 1793 wieder aus dem Jakobinerklub aus. Für seine Unterstützung der revolutionären Umtriebe wurde er Ende 1794 auf kurmainzischem Gebiet verhaftet und eingekerkert und 1796 aus Mainz ausgewiesen.
==== Handwerker ====
Die noch in Zünften organisierten Handwerker stellten zusammen mit Kleinkaufleuten und niederen Beamten des kurfürstlichen Staates mit 45 % die größte Einzelgruppe der Klubmitglieder. In dieser Gruppierung waren die rund 200 jakobinischen Handwerker dominierend, in den organisierten Zünften repräsentierten sie jedoch lediglich 10 % der Zunftbürger. Die zahlenmäßige Dominanz der Handwerker schlug sich jedoch nicht in der Führungseben des Mainzer Jakobinerklubs nieder. Hier dominierten Intellektuelle wie Professoren, Publizisten, Studenten oder höhere Beamte des Kurfürstentums.
=== Politisches Wirken ===
Viele der führenden Klubmitglieder waren bereits im Vorfeld der Klubgründung im Sinne der französischen Revolution politisch engagiert. Mit der Gründung des Mainzer Jakobinerklubs und der Protegierung durch General Custine wurden diese Aktivitäten nun gebündelt, intensiviert und im weiteren Verlauf auch über die Stadtgrenzen hinausgetragen. Der Mainzer Jakobinerklub wurde zum wichtigsten Organ der Mainzer Jakobiner und das wichtigste Instrument der französischen Besatzungsmacht zur politischen Mobilisierung der Bevölkerung. Seine Hauptaufgabe sah dieser in der Aufklärung, Information und natürlich der Revolutionierung der Mainzer Bevölkerung. Dazu nutzten die aktiven Klubmitglieder vor allem die öffentlichen Versammlungsabende im Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses. Dort wurden, vor Klubmitgliedern und – zu Hochzeiten des Klubs – bis zu 1000 Besuchern, politische Reden gehalten und diese teilweise auch gleich ausgedruckt kostenlos verteilt oder später verkauft.Führende Mitglieder des Jakobinerklubs wie beispielsweise Mathias Metternich besuchten in ihrer Funktion als „Abstimmungskommissar“ (Sub-Commissair) Ende 1792/Anfang 1793 Ortschaften rund um Mainz und warben dort für die Ideen der Französischen Revolution sowie konkreter für die Errichtung einer Republik nach Pariser Vorbild und die Annahme der „fränkischen Konstitution“. Die von der Allgemeinen Administration, bestehend aus neun Mitgliedern des Klubs, initiierte Abstimmung über eine neue Konstitution und eine neue Staatsform („Mainzer Republik“) war der letzte und – bezogen auf die stimmfähigen Bürger – konkreteste Ansatz der Revolutionierung. Im Rahmen dieser Verfassungsabstimmung unterstützten die Mainzer Jakobiner massiv und mit persönlichem Einsatz die Aktivitäten vor Ort, dies allerdings mit sehr unterschiedlichem Erfolg.Bei den folgenden Wahlen der Ortsvorstände (in Mainz wurde ein Maire samt Stellvertreter gewählt) und Abgeordneten des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent, dem Parlament der angestrebten Mainzer Republik, vom 24. bis 26. Februar 1793 waren die Mitglieder des Mainzer Jakobinerklubs allerdings wenig vertreten. In den Namenslisten der Mainzer Wahlsektionen wurden insgesamt lediglich 168 Klubmitglieder und 15 vermutete Klubmitglieder verzeichnet, die in Summe 49 % der Gesamtwähler ausmachten. Da im gesamten Mainzer Stadtgebiet, gemessen an den 4626 stimmberechtigten Bürgern, nur 8 % (372 Bürger) zur Wahl gingen, ist es den aktiven Klubmitgliedern von ihrer Seite her nicht gelungen, ihre eigenen Mitglieder oder gar die stimmberechtigte Bevölkerung politisch zu mobilisieren. Im Gegenteil, die Wahlen wurden von dem größten Teil der wahlberechtigten Mainzer Bevölkerung – in deutlichem Gegensatz zu den anderen großen Städten Worms und Speyer – als Ausdruck einer bewussten politischen Demonstration boykottiert.Die politische Arbeit des mittlerweile aufgelösten Klubs wurde von dessen führenden Mitgliedern später in anderen Bereichen des öffentlichen und politischen Lebens weitergeführt. In der Munizipalverwaltung waren von Maire Macké abwärts alle gewählten Personen ehemalige, in der Regel führende, Klubmitglieder. Im Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent wurden mit Andreas Joseph Hofmann als Präsident und Georg Forster als Vizepräsident führende Mitglieder des Klubs gewählt. Ebenso waren von 45 Kandidaten, die überhaupt Stimmen bekamen, alle bis auf zwei ehemalige Klubmitglieder.Die politische Haltung des Mainzer Jakobinerklubs zu der Besatzungsmacht Frankreich und deren Zielen war während seiner aktiven Zeit durchaus ambivalent. War man anfangs noch in fast allen revolutionären Zielen mit den Franzosen einer Meinung, änderte sich dies zum Ende des Jahres 1792. Ein eher radikaler Flügel im Jakobinerklub um Wedekind, Dorsch, Pape und Metternich sah eine Verwirklichung der revolutionären Ideen und Ziele nur in unbedingter Zusammenarbeit mit den Franzosen zu erreichen. Ein möglichst enger Anschluss an Frankreich, aus dem nach der Gründung der Mainzer Republik eine Reunionsadresse mit Frankreich werden sollte, und der Rhein als Grenze der Republik gegenüber dem aristokratisch-despotischen Deutschland wurde von diesem Flügel verfochten. Der eher gemäßigte Teil des Mainzer Jakobinerklubs, zu denen beispielsweise Hofmann und Macké gehörte, dachte hier eher pragmatisch. Man sah einerseits die fehlende Unterstützung durch die Bevölkerung, insbesondere der Bauern und der Zunftbürger, andererseits die immer mehr zunehmende Gewalt und Restriktion durch die französische Besatzungsmacht, insbesondere auch durch die Armee. Hofmann und Macké vertraten in ihren jeweiligen Ämtern auch eher die Interessen der Mainzer Bevölkerung gegenüber der französischen Besatzungsmacht als ihre radikaleren Kollegen im Klub.
Trotz aller Querelen bildete die Arbeit der Mainzer Jakobiner und – zu einem späteren Zeitpunkt – die Zugehörigkeit von Mainz und Rheinhessen zu Frankreich einen Ansatzpunkt für die politische und gesellschaftliche Haltung der Bevölkerung im Südwesten Deutschlands in späteren Versuchen einer liberal-demokratischen Entwicklung Deutschlands. Das Hambacher Fest 1832 wurde nicht zufällig von Bürgern ausgerichtet, welche in einem deutlich liberaleren System als das übrige Deutschland politisch und gesellschaftlich aktiv waren oder aufwuchsen. Wichtige Bestandteile des Systems waren als Rheinische Institutionen bekannt und betrafen in erster Linie die aus der französischen Zeit übernommene liberale Gesetzgebung und Rechtsprechung. Teils waren Jakobiner der ersten Stunde wie Georg Friedrich Rebmann oder Franz Konrad Macké als Bürgermeister in Mainz zu dieser Zeit noch aktiv, teils waren es bereits Vertreter der nächsten oder übernächsten Generation wie Germain Metternich, Sohn von Mathias Metternich oder Franz Heinrich Zitz, Enkel des Klubisten Jakob Schneiderhenn. Und so konnte noch 1833, genau 40 Jahre nach der Auflösung des Mainzer Jakobinerklubs, der österreichische Staatskanzler und Namensgeber des Metternichschen Systems Klemens Wenzel Lothar von Metternich über Mainz sagen: „Mainz ist ein fürchterliches Jacobiner-Nest.“
== Gegenrevolutionäre Publizistik zum Mainzer Jakobinerklub ==
Die zeitgenössische Betrachtung des Mainzer Jakobinerklubs durch die gegenrevolutionären Kräfte ist in der Regel gleichzusetzen mit der der Mainzer Jakobiner und oft auch verbunden mit dem Themenkomplex der Mainzer Republik. Konservative Kräfte im gesamten Reichsgebiet begannen eine „gegenrevolutionäre Publizistik“, die stark personalisiert war und oftmals direkt führende Jakobiner des Mainzer Klubs angriff. Diesen wurde Verrat, Undank und auch mangelnde Moral vorgeworfen. Die kampflose Übergabe der mächtigen Reichsfestung Mainz an die Franzosen konnte, so der Tenor der Publizistik, nur durch Verrat erklärt werden. Hier wurde vor allem Rudolf Eickemeyer in seiner Eigenschaft als Mitglied des Militärrats und Führer der Kapitulationsverhandlungen mit Custine angegriffen. Georg Wedekind beschuldigte man, die Pläne der Mainzer Festungswerke bei einem Besuch Custines in Nierstein verraten zu haben.
Dem am meisten verbreiteten Vorwurf des Undanks gegenüber dem kurfürstlichen Gönner waren Wissenschaftler wie beispielsweise Georg Forster oder der mittellos nach Mainz gekommene Mathias Metternich ausgesetzt. So wurde Georg Forster von dem unter dem Pseudonym Gottlob Teutsch schreibenden Franz Joseph von Albini, seines Zeichens kurmainzischer Hofkanzler und Minister, in einem gegenrevolutionären Pamphlet 1793 als „wahre Schmarotzerpflanze auf Mainzer Boden“ bezeichnet.Mangelnde Moral und sittliches Fehlverhalten wurde vor allem den revolutionsbegeisterten und stark exponierten Klerikern wie Anton Joseph Dorsch oder Felix Anton Blau zuteil, da diese unter anderem das Zölibat gebrochen hatten. Bei der immer noch konservativen und streng katholischen Bevölkerung von Mainz und Rheinhessen fanden diese, oft voyeuristisch und exzessiv überzogenen und ausgeweiteten Vorwürfe durchaus Aufnahme und schwächten vor allem die Position des Politikers Dorsch. Weitere Motive der gegenrevolutionären Publizistik waren auch konfessionelle Vorurteile, die ebenfalls bei der katholischen Bevölkerung auf viel Akzeptanz stießen. Georg Forster und Georg Wedekind, beide Protestanten und führende Repräsentanten des Mainzer Jakobinerklubs, sind hier zu nennen. Ein antirevolutionäres Druckwerk brachte dies auf folgende Aussage: „Fremd sein und Protestant – das war die beste Empfehlung bei Hofe!“Subtiler und weniger direkt waren die Vorwürfe, die Mainzer Revolutionsbegeisterung sei von – zumeist landfremden – Intellektuellen, allen voran Professoren und Studenten der kurfürstlichen Mainzer Universität, vorangetrieben worden. Diese hätten nicht nur den sie fördernden Kurfürsten ent- und getäuscht, sondern hätten als Fremde auch keinerlei Interesse an Mainz und dem Wohlergehen der Einwohner. Hier spielten die konservativen Publizisten erfolgreich auf die in Mainz des späten 18. Jahrhunderts verbreitete latente Xenophobie sowie auf den sozialen Neid der einfachen Stadtbevölkerung gegenüber diesen bis vor kurzem kurfürstlich ausgiebig protegierten Außenseitern an.Eine umfangreiche Anzahl an konterrevolutionären Flugblättern speziell in den ländlichen Gebieten verunsicherte auch die Landbevölkerung. Ihnen wurde bei Kollaboration mit den Franzosen und Jakobinern der spätere Verlust ihres Eigentums angedroht; eine Drohung, die zusammen mit dem immer rigideren Vorgehen der französischen Armeeführung und ihrer Soldaten bei der Requirierung von Nahrungsmitteln durchaus Wirkung zeigte.
== Rezeption ==
Die umfangreiche Gegenpublizistik konservativer Kräfte im Reich gegenüber den führenden Jakobinern des Mainzer Jakobinerklubs in den Jahren 1792 und 1793 sieht Franz Dumont gekennzeichnet durch „ein hohes Maß an Diffamierung, ja Dämonisierung der Gegner“ und durch „polemische Übertreibungen“. Die Bezeichnung von Menschen als „Klubisten“ wurde zu einem geflügelten, ausschließlich pejorativ verwendeten Begriff. Man bediente sich, der revolutionären Propaganda folgend, Flugblätter und gedruckter Schriften aller Art, die großzügig und in großen Mengen unter dem Volk, auch linksrheinisch, verteilt wurden.Nach dem Ende der Mainzer Republik und des Klubs nahmen diese Aktivitäten ein schnelles Ende. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts und einige Zeit nach der Revolution von 1848/1849 beschäftigte man sich wieder mit diesem Kapitel der Mainzer und der gesamtdeutsch-französischen Vergangenheit. In der deutschen Historiographie dominierten über einen Zeitraum von fast 100 Jahren im Wesentlichen kritische Stimmen zur Mainzer Republik und deren Protagonisten, den Mainzer Jakobinern. Auch im Zuge der Deutsch-französischen Erbfeindschaft dominierten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Schlagworte wie „Franzosenherrschaft“, „Franzosenanhänglichkeit“ oder „Klubisterei“ die oft auch regionalgeschichtlichen Publikationen. Mainzer Historiker wie Karl Klein, der in seinem Werk Geschichte von Mainz während der ersten französischen Okkupation 1792–1793 1861 über die Zeit schrieb, in der „unser Land in die Hände des Erbfeindes geriet“ oder Karl Georg Bockenheimer unter anderem mit seiner Publikation von 1896 über Die Mainzer Klubisten der Jahre 1792 und 1793 sind hier zu nennen. Als Beispiel für die überregionale und negativ besetzte Bewertung der Mainzer Jakobiner sei auf die von Heinrich von Treitschke in seiner Deutschen Geschichte verwendete Formulierung und Reduzierung der Jakobiner auf „eine Handvoll lärmender Feuerköpfe“ verwiesen, die überdies Vaterlandsverrat begingen.Die Stationen der deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1850 und 1945 und insbesondere die enge Verflechtung von Mainz und dem linksrheinischen Gebiet mit Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg (Französische Besetzung des Rheinlands, Rheinischer Separatismus) prägten auch weiterhin die Sicht und sorgten immer wieder für das Wiederaufleben negativ besetzter, von der ursprünglichen gegenrevolutionären Sicht geprägten Parallelen zur Mainzer Republik. Eine Ausnahme hierbei bildete das ab 1931 erschienene vierbändige Werk Quellen und Geschichte des Rheinlands im Zeitalter der Französischen Revolution von Joseph Hansen, das in seinem zweiten Band auch auf andere Quellen zur Mainzer Republik einging.Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war das Bild der Mainzer Republik und ihren Protagonisten, den „Klubisten“ in der Historiographie und durch die konservativen Historiker eher negativ geprägt. In ersterem Fall wurde die revolutionärsgeschichtliche Episode der kurzlebigen Mainzer Republik mit ihrer Institution Jakobinerklub als unbedeutend und daher nicht erwähnenswert befunden. Auch die führenden Jakobiner in Mainz wurden entweder noch mit den herkömmlichen und unverändert übernommenen pejorativen Attributen der Gegenrevolution bezeichnet, so beispielsweise Helmut Mathy, der Anton Joseph Dorsch noch 1967 in seiner Arbeit Anton Joseph Dorsch (1758–1819). Leben und Werk eines rheinischen Jakobiners als „verstockt und selbstsüchtig in seinem Charakter“ beschreibt, oder waren kein Thema historischer Wissenschaftsarbeit. Erst mit Beginn der 1970er Jahre wurde auch der Mainzer Jakobinerklub mit seinen Mitgliedern Gegenstand der Forschung. In der DDR widmete man sich schon in den 1960er Jahren aus politisch-ideologischen Gründen dem Thema. Diese Arbeit gipfelte in dem dreibändigen Werk von Heinrich Scheel Die Mainzer Republik, deren zweiter Band sich unter anderem ausführlich den Protokollen der Sitzungen des Mainzer Jakobinerklubs widmet. Es ist heute weitgehend Konsens der Historiker, dass die Quellenarbeit Scheels, insbesondere in dem genannten Bereich, vorbildlich sei, viele der Schlussfolgerungen daraus allerdings gemäß der politisch-ideologischen Ausrichtung seiner Arbeit überholt sind.
Durch Anregungen aus dem Milieu der Intellektuellenszene der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung aber auch beispielsweise von dem Bundespräsidenten Gustav Heinemann, der aufrief, nach den Wurzeln des deutschen Demokratismus zu suchen, beschäftigte man sich in der Zeit nach 1968 und mit Hilfe einer neuen und weniger konservativ geprägten Historikergeneration erneut mit dem Thema, diesmal aber aus einer eher sozial-liberalen und arbeiterhistorischen Perspektive. Diese neuen Forschungsarbeiten standen oft im Gegensatz zur klassisch-geprägten etablierten Forschung.Ein weiteres Grundlagenwerk zu dem Themenkomplex ist das 1982 erstmals erschienene und 1992 überarbeitete und neu aufgelegte Buch von Franz Dumont Die Mainzer Republik von 1792/93. Dumont analysiert hier unter anderem auch ausführlich den Mainzer Jakobinerklub, seine Zusammensetzung und sein politisches Werk. Für ihn waren der Mainzer Jakobinerklub und seine Aktiven „das unbestrittene Zentrum aller Bemühungen um die Einführung der Demokratie“ und bei dem Prozess der durch die Franzosen angestoßenen politischen Mobilisierung der neuen Untertanen die „tragenden und gestaltenden, bisweilen auch die drängenden Kräfte“. Auch konstatiert Dumont dem Mainzer Jakobinerklub eine zum Ende des 20. Jahrhunderts (bei Historikern) kaum noch umstrittene Bedeutung als erste organisierte Gruppe deutscher Demokraten und Vorform einer politischen Partei. Gescheitert sei der Mainzer Jakobinerklub allerdings als Vertretung der „kleinen Leute“ oder der „werktätigen Masse“. Schuld daran waren zum einen die Diskrepanz zwischen der zahlenmäßig geringen aber politisch führenden Schicht der Intellektuellen einerseits und der im Verhältnis dazu deutlich größeren Anzahl der allerdings politisch nicht aktiven Handwerker andererseits. Und bei der Landbevölkerung war die Unterstützung des Klubs durch eine Mitgliedschaft mit 2 % (das heißt, weniger als zehn Mitglieder der Gesamtanzahl Mitglieder) bei der Gruppe der Bauern quasi nicht existent.
In größerem Umfang wurde über die Mainzer Republik und deren Protagonisten wieder 2013 diskutiert. Im Vorfeld der 220-Jahr-Feier der Ausrufung der Mainzer Republik am 17. März stellte der Ortsbeirat Altstadt in Mainz den Antrag zur Umbenennung des Deutschhausplatzes in „Platz der Mainzer Republik“. Dieser Antrag wurde in der Öffentlichkeit teilweise kontrovers diskutiert, wobei auch hier wieder die Frage der Legitimation und des Demokratieverständnisses der Mainzer Republik und ihrer Gründer, der Mainzer Jakobiner, diskutiert wurde. Nachdem der Mainzer Stadtrat mehrheitlich der Umbenennung zustimmte, wurde diese pünktlich zum 17. März 2013 und damit genau 220 Jahre nach Ausrufung der Mainzer Republik an gleicher Stelle vollzogen. Mit Franz Dumont fand sich ein prominenter Befürworter der Umbenennung, der kurz vor seinem Tod dazu in der Mainzer Tagespresse ausführlich Stellung nahm.
== Quellen ==
Heinz Boberach: Deutsche Jakobiner. Mainzer Republik und Cisrhenanen 1792–1798. Band 1: Handbuch. Beiträge zur demokratischen Tradition in Deutschland. 2. Auflage. Hesse, Mainz 1982.
Franz Dumont: Die Mainzer Republik von 1792/93. Studien zur Revolutionierung in Rheinhessen und der Pfalz (= Alzeyer Geschichtsblätter. Sonderheft 9). 2., erweiterte Auflage. Verlag der Rheinhessischen Druckwerkstätte, Alzey 1993, ISBN 3-87854-090-6 (Zugleich: Mainz, Universität, Dissertation, 1978).
Joseph Hansen: Quellen und Geschichte des Rheinlands im Zeitalter der Französischen Revolution 1780 – 1801. Band 2. 1792–1793, Droste Verlag, Düsseldorf 1933, Nachdruck der Ausgabe Hanstein Verlag, Bonn 1933, 2004, ISBN 3-7700-7619-2.
Heinrich Scheel (Hrsg.): Die Mainzer Republik. Band 1: Protokolle des Jakobinerklubs (= Schriften des Zentralinstituts für Geschichte. Bd. 42, ISSN 0138-3566). 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Akademie-Verlag, Berlin 1984.
== Literatur ==
Heinz Boberach: Deutsche Jakobiner. Mainzer Republik und Cisrhenanen 1792–1798. Band 1: Handbuch. Beiträge zur demokratischen Tradition in Deutschland. 2. Auflage. Hesse, Mainz 1982.
Franz Dumont: Mayence. Das französische Mainz (1792/98–1814). In: Franz Dumont, Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz (Hrsg.): Mainz. Die Geschichte der Stadt. 2. Auflage. Philipp von Zabern, Mainz 1999, ISBN 3-8053-2000-0, S. 319–374.
Franz Dumont: Die Mainzer Republik von 1792/93. Studien zur Revolutionierung in Rheinhessen und der Pfalz (= Alzeyer Geschichtsblätter. Sonderheft 9). 2., erweiterte Auflage. Verlag der Rheinhessischen Druckwerkstätte, Alzey 1993, ISBN 3-87854-090-6 (Zugleich: Mainz, Universität, Dissertation, 1978).
Franz Dumont: Die Mainzer Republik 1792/93. Französischer Revolutionsexport und deutscher Demokratieversuch (= Schriftenreihe des Landtags Rheinland-Pfalz. Heft 55). Präsident des Landtags Rheinland-Pfalz, Mainz 2013, ISBN 978-3-9811001-3-6.
Walter Grab: Eroberung oder Befreiung? Deutsche Jakobiner und die Franzosenherrschaft im Rheinland 1792 bis 1799. In: Archiv für Sozialgeschichte. Bd. 10, 1970, ISSN 0066-6505, S. 7–94 (Auch Sonderabdruck: Verlag für Literatur und Zeitgeschehen GmbH, Hannover 1970; auch: (= Schriften aus dem Karl-Marx-Haus. Bd. 4, ZDB-ID 517447-8). Karl-Marx-Haus, Trier 1971), online.
Heinrich Scheel (Hrsg.): Die Mainzer Republik. Band 1: Protokolle des Jakobinerklubs (= Schriften des Zentralinstituts für Geschichte. Bd. 42, ISSN 0138-3566). 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Akademie-Verlag, Berlin 1984.
Jörg Schweigard: Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein. Aufklärung, Reform und Revolution in Mainz. Casimir Katz, Gernsheim 2005, ISBN 3-925825-89-4.
Verein für Sozialgeschichte (Hrsg.): Rund um den Freiheitsbaum. 200 Jahre Mainzer Republik. (= Mainzer Geschichtsblätter. Heft 8, ISSN 0178-5761). Verein für Sozialgeschichte, Mainz 1993.
Bernd Blisch, Hans-Jürgen Bömelburg: 200 Jahre Mainzer Republik. Von den Schwierigkeiten des Umgangs mit einer sperrigen Vergangenheit. S. 7–29.
== Weblinks ==
mainzer-republik.de – Der Mainzer Jakobinerklub
mainz.de – Historisches Mainz: Die Mainzer Republik – Die politische und kulturelle Bedeutung der Stadt Mainz im ausgehenden 18. Jahrhundert
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mainzer_Jakobinerklub
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Max Silberberg
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= Max Silberberg =
Max Silberberg (* 27. Februar 1878 in Neuruppin; † nach 1942 im Ghetto Theresienstadt oder KZ Auschwitz) war ein deutscher Unternehmer, Kunstsammler und Mäzen. Er leitete in Breslau ein erfolgreiches Unternehmen, das die Stahlindustrie mit Magnesiterzeugnissen belieferte. Seine bedeutende Privatsammlung umfasste überwiegend deutsche und französische Malerei, Zeichnungen und Skulpturen des 19. und 20. Jahrhunderts. Hierunter befanden sich Werke namhafter Künstler wie Ernst Barlach, Max Liebermann, Pierre-Auguste Renoir und Vincent van Gogh, von denen sich der Sammler teilweise bereits 1932 infolge der Weltwirtschaftskrise trennen musste. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Silberberg als Jude ab 1933 systematisch enteignet. Seine Kunstwerke befinden sich heute in verschiedenen Museen und Privatsammlungen. Erst nach 1990 konnten die Erben die Restitution einiger Werke erreichen.
== Leben ==
Max Silberberg kam 1878 als Sohn des Schneiders Isidor Silberberg im brandenburgischen Neuruppin zur Welt. Die Familie, die zum assimilierten jüdischen Bürgertum gehörte, lebte in einfachen Verhältnissen. Während die Schwester Margarete eine Ausbildung zur Schneiderin erhielt, konnte Max Silberberg das Gymnasium besuchen. Nach Beendigung seines Militärdienstes zog die Familie nach Beuthen in Oberschlesien. Vermutlich erlernte Max Silberberg hier einen kaufmännischen Beruf und trat im Alter von 24 Jahren als Prokurist in die Fabrik für Metallverarbeitung M. Weißenberg ein. Das zum Kartell der Vereinigung der Magnesitwerke gehörende Unternehmen stellte feuerfeste Baustoffe zur Auskleidung von Hochöfen her. Silberberg heiratete später Johanna Weißenberg, die Tochter des Firmeneigentümers, und wurde Mitinhaber des Unternehmens. Der gemeinsame Sohn Alfred Silberberg kam am 8. November 1908 zur Welt.1920 zog Max Silberberg mit seiner Familie nach Breslau. Die Silberbergs bewohnten hier eine große Villa in der Landsberger Straße 1–3 (heute ul. Kutnowska). Das Esszimmer, einschließlich der Möbel und des Teppichs, entwarf der Architekt August Endell 1923 im Stil des Art Déco. Die Wände des Hauses schmückte schon bald eine herausragende Gemäldesammlung, überwiegend mit deutschen und französischen Werken des 19. und 20. Jahrhunderts. Silberberg verfügte zudem über eine umfangreiche Kunstbibliothek – vor allem mit französischsprachiger Literatur zur modernen Kunst. Durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise musste er sich 1932 von 30 seiner Spitzenwerke – darunter Arbeiten von Monet, van Gogh und Renoir – bei einer Auktion in Paris wieder trennen.
Silberberg engagierte sich im Breslauer Kulturleben und lud in sein Haus zu Vorträgen – beispielsweise zur Geschichte des Judentums. Er trat für die Bewahrung der jüdischen Kulturgeschichte ein und gehörte zu den Mitbegründern des Vereins Jüdisches Museum in Breslau, als dessen 1. Vorsitzender er seit März 1928 wirkte. Zusammen mit dem Direktor des Breslauer Schlossmuseums, Erwin Hinze, gehörte er 1929 zu den Organisatoren der Ausstellung Das Judentum in der Geschichte Schlesiens. Darüber hinaus unterstützte er das Jüdische Museum als Mäzen und stiftete einen silbernen Toraschild aus dem 18. Jahrhundert und einen silbernen Thorazeiger. Weiterhin gehörte er dem Kuratorium des Schlesischen Museums der bildenden Künste an und war Mitglied im Vorstand der Gesellschaft der Kunstfreunde, die das Museum als Fördereinrichtung unterstützte.Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann für Silberberg, wie für andere Juden, die systematische Ausgrenzung, Entrechtung und Enteignung. Umgehend verlor er alle seine öffentlichen Ämter. 1935 empfahl SS-Sturmbannführer Ernst Müller die Nutzung der Silberberg-Villa für den SS-Sicherheitsdienst und Silberberg musste sein Haus weit unter Verkehrswert verkaufen. In der Folge zog Silberberg mit seiner Familie in eine kleine Mietwohnung und trennte sich notgedrungen vom überwiegenden Teil seiner Kunstsammlung, die in mehreren Auktionen im Berliner Auktionshaus Graupe versteigert wurde. Neben Gemälden und Zeichnungen von Menzel, Degas, Cézanne und anderen, sowie Skulpturen von Rodin, gelangte auch seine umfangreiche Bibliothek zur Auktion.Während der Novemberpogrome 1938 wurde der Sohn Alfred Silberberg in das KZ Buchenwald verschleppt und verblieb dort für acht Wochen. Er konnte das Lager nur unter der Auflage verlassen, umgehend aus Deutschland zu emigrieren. Gemeinsam mit seiner Frau Gerta übersiedelte er kurz darauf nach Großbritannien. Durch diskriminierende Steuern wie die Judenvermögensabgabe verschlechterte sich die finanzielle Situation Max Silberbergs zusehends. Auch war er gezwungen die Reichsfluchtsteuer zu entrichten, obschon er und seine Frau nicht ausreisten. Ebenfalls im November 1938 kam es zur „Arisierung“ der Firma Weißenberg, die in den Besitz des Breslauer Industriellen Carl Wilhelm überging. Das Finanzamt Breslau-Süd verpfändete Silberbergs Besitz wegen angeblicher Steuerschulden und der vormals wohlhabende Kunstsammler lebte nun in ärmlichen Verhältnissen. Von den wenigen in seinem Besitz befindlichen Kunstgegenständen musste er einen Teil an das Schlesische Museum der bildenden Künste verkaufen. Der Verkaufserlös floss hingegen an die „arisierte“ Firma Weißenberg. Das Museum ließ zudem das Gemälde Stillleben mit Äpfeln und Porree von Carl Schuch abholen, das Silberberg bereits 1920 dem Museum schenkte, das aber bis zu seinem Tod in seiner Wohnung verbleiben sollte. Ein kleiner Rest seiner Sammlung mit einigen Zeichnungen sowie Kleinplastiken von Georg Kolbe verblieb bis 1940 in seinem Besitz, bevor sie vom Museum der bildenden Künste in Breslau „arisiert“ wurden.Ende 1941 erhielt der im Londoner Exil lebende Sohn Alfred das letzte Lebenszeichen seiner Eltern. Max und Johanna Silberberg kamen 1942 in das Sammellager Kloster Grüssau, von wo sie am 3. Mai 1942 – vermutlich in das Ghetto Theresienstadt – deportiert wurden. Über den genauen Tag und Ort des Todes gibt es keine Unterlagen. Verschiedene Historiker nehmen an, dass Silberberg und seine Frau im KZ Auschwitz ermordet wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ Alfred Silberberg seine Eltern per 8. Mai 1945 für tot erklären.
== Die Sammlung Silberberg ==
=== Entstehung der Sammlung ===
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts baute Max Silberberg eine der bedeutenden privaten Kunstsammlungen im Deutschen Reich auf. Bei deren Ausbau könnte ihn Heinz Braune beraten haben, der ab 1916 als Direktor das Schlesische Museum der bildenden Künste in Breslau leitete. Anders als etwa die Museen in Berlin, München, Hamburg oder Bremen zeigte sich das Museum in Breslau vor dem Ersten Weltkrieg gegenüber den modernen Kunstströmungen verschlossen. Dies änderte sich mit der Berufung von Braune, der zuvor als Assistent von Hugo von Tschudi an der Neuen Pinakothek in München arbeitete, wo dieser, wie zuvor an der Nationalgalerie in Berlin, den Aufbau insbesondere der Sammlungen der französischen Moderne initiierte. Als Indiz für den Austausch zwischen Braune und Silberberg können drei Schenkungen gelesen werden, die der Sammler an das Museum in Breslau übertrug. Hierzu gehört neben dem Stillleben mit Äpfeln und Porree von Carl Schuch je eine Zeichnung von Hans Purrmann und von Max Beckmann.
Da Breslau über keinen nennenswerten Kunsthandel verfügte, bezog Silberberg wie andere Breslauer Sammler – beispielsweise Leo Lewin und Ismar Littmann – Kunstwerke über den Berliner Kunsthandel. Hier war es vor allem Paul Cassirer, der Silberberg beim Aufbau seiner Sammlung beriet. Zudem stand er mit dem Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe in regem Austausch und traf sich wiederholt mit Künstlern wie Max Liebermann, Georg Kolbe und Hans Purrmann. Darüber hinaus kaufte er aber auch Werke in der Galerie Thannhauser in Luzern oder auf einer der sogenannten Russenauktionen in Berlin. Nachweisbar ist hier der Erwerb einer Zeichnung von Greuze, die sich vormals in der Sammlung der Eremitage befand und zur Devisenbeschaffung im Auftrag der Sowjetregierung auf den Kunstmarkt gelangte.Weiterhin erwarb Silberberg Kunstwerke direkt aus anderen Sammlungen. Hierzu gehörte beispielsweise Claude Monets Gemälde Boote auf der Seine, das er von der Familie des Künstlers erstand. Ebenso gelangten Werke aus Sammlungen in seinen Besitz, die aufgrund der Weltwirtschaftskrise oder durch Erbgang aufgelöst wurden. Beispielsweise erwarb er Gemälde aus der Dresdner Sammlung Adolf Rothermundt oder der Breslauer Sammlung Leo Lewin.
=== Beschreibung der Sammlung ===
Der genaue Umfang der Sammlung Silberberg ist heute nicht mehr bekannt, wird von Kunsthistorikern aber auf etwa 130 bis 250 Gemälde, Zeichnungen und Plastiken geschätzt. Anhaltspunkte bilden Beschreibungen der Sammlung, die zu Beginn der 1930er Jahre in deutschen Zeitschriften erschienen, sowie die Auktionskataloge der Jahre 1932 und 1935/36. Die bekannten Erwerbungen lassen sich von Silberbergs Zeit in Beuthen, wo er erste Werke der Münchner Schule erwarb, bis ins Jahr 1931 eingrenzen. Innerhalb dieser relativ kurzen Zeit gelang es Max Silberberg eine der bedeutendsten Kunstsammlungen im Deutschen Reich zusammenzutragen, wobei der Schwerpunkt auf deutscher und französischer Kunst des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts lag. Zu den wenigen älteren Arbeiten gehörte die genannte Zeichnung von Greuze sowie wertvolle Pokale und Becher aus der Zeit des Barock und der Renaissance.Zu den Werken deutscher Malerei des 19. Jahrhunderts in der Sammlung Silberberg gehörten mehrere Arbeiten von Wilhelm Leibl, darunter das Männerbildnis mit Brille. Von Wilhelm Trübner gehörten die Gemälde Der Weg zur Kirche in Neuburg bei Heidelberg und Dame mit weißen Strümpfen ebenso zur Kollektion, wie das Selbstbildnis mit gelbem Hut, das 1876 entstandene Bildnis Kleinenberg und Die Labung aus dem Jahr 1880 von Hans von Marées. Ein weiteres Bild eines deutschen Künstlers ist das von Silberberg dem Museum in Breslau gestiftete Stillleben mit Porreebündel, Äpfeln und Käseglocke von Carl Schuch, das sich heute im Warschauer Nationalmuseum befindet. Hinzu kamen Werke des deutschen Impressionismus wie In der Küche und Markt in Haarlem von Max Liebermann oder Flieder im Glaskrug von Lovis Corinth. Ergänzt hatte Silberberg diesen Teil seiner Sammlung durch Zeichnungen von Adolph Menzel, Hans Purrmann und Otto Müller und durch Skulpturen seines Zeitgenossen Georg Kolbe. Aus dem deutschsprachigen Ausland befanden sich in der Sammlung Zeichnungen von Gustav Klimt und Paul Klee sowie das Gemälde Stockhornkette mit Thunersee von Ferdinand Hodler.
Die Schwerpunkte der Sammlung Silberberg im Bereich französische Malerei lagen auf Werken des Realismus und des Impressionismus. Von Eugène Delacroix besaß der Sammler die Gemälde Algerische Frauen am Brunnen (heute Privatbesitz) und Odaliske auf einer Ottomane ruhend (Fitzwilliam Museum), von Jean-Baptiste Camille Corot die Arbeiten Poesie (Wallraf-Richartz-Museum) und Strohdachhütte in Normandie (Norton Simon Museum). Weiterhin sammelte Silberberg Werke von Honoré Daumier, Adolphe Monticelli, Jean-François Millet und vor allem Arbeiten von Gustave Courbet. Nachgewiesen sind dessen Gemälde Grand Pont (Yale University Art Gallery), Lesendes junges Mädchen (National Gallery of Art) und Der Felsen in Hautepierre (Art Institute of Chicago) in der Sammlung.
Zu den Werken des Impressionismus gehörten Pertuiset als Löwenjäger (Museu de Arte de São Paulo) und Junge Frau im orientalischen Kostüm (Stiftung Sammlung E. G. Bührle) von Édouard Manet und Die Lektüre (Louvre), Kleines Mädchen mit Reifen (National Gallery of Art) sowie die in Privatbesitz befindlichen Bilder Lachendes Mädchen, Gondel, Venedig und Rosenstrauß von Pierre-Auguste Renoir. Von Claude Monet besaß der Sammler die Gemälde Boote auf der Seine (Privatsammlung) und Schnee in untergehender Sonne (Musée des Beaux-Arts de Rouen). Weitere Werke des Impressionismus in dieser Sammlung waren Die Seine bei Saint-Mammès (Privatsammlung) von Alfred Sisley, Boulevard Montmartre, Frühling 1897 (Israel-Museum) und Weg nach Pontoise (Musée d’Orsay) von Camille Pissarro sowie Landschaft mit Schornsteinen (Art Institute of Chicago), La sortie du bain (Musée d’Orsay) und Balletttänzerinnen (Privatsammlung) von Edgar Degas.
Zu den Werken des Spätimpressionismus in Silberbergs Sammlung gehörte die Gemälde Stillleben mit Äpfeln und Serviette (Musée de l’Orangerie), Jas de Bouffan (Privatbesitz) und Landschaft in der Umgebung von Aix (Carnegie Museum of Art), sowie die Zeichnung Rückenansicht eines männlichen Aktes (Ermitage) von Paul Cézanne. Hinzu kamen Die Brücke von Trinquetaille, (Privatbesitz) von Vincent van Gogh, von dem Silberberg auch die Zeichnung L’Olivette besaß. Verzeichnet sind zudem Arbeiten von Paul Signac sowie die kubistischen Werke Strand in Dieppe (Moderna Museet) und Stillleben mit Kanne von Georges Braque. Auch Arbeiten von Georges Seurat, Alexej von Jawlensky und Paul Klee sind in seiner Sammlung nachgewiesen.
Neben den Skulpturen des schon genannten Georg Kolbe erwarb Silberberg Arbeiten von weiteren Bildhauern. So erstand er aus dem Besitz der Schauspielerin Tilla Durieux die Holzskulptur Die Trauer von Ernst Barlach, die im Hause Silberberg im Entrée ihren Platz fand. Weitere Arbeiten, meist Kleinbronzen, stammten von Künstlern wie August Gaul, Auguste Rodin, Aristide Maillol, Constantin Meunier, Renée Sintenis und Henri Matisse.
=== Restitutionen an die Erben Silberbergs ===
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Erben von Max Silberberg große Schwierigkeiten, Ansprüche an ihren ehemaligen Besitz geltend zu machen. Breslau war inzwischen eine polnische Stadt geworden und die Akten, die die schrittweise Enteignung des Silberbergschen Besitzes hätten dokumentieren können, waren entweder vernichtet oder für die Erben unzugänglich. Während die polnischen Behörden sich grundsätzlich weigerten ehemaligen deutschen Besitz – beispielsweise an Grundstücken – zu entschädigen, sahen sich deutsche Behörden nicht als zuständig an. Der ehemalige Kunstbesitz war durch die Auktionen und Weiterverkäufe weltweit zerstreut und der Verbleib in den meisten Fällen unbekannt. Zudem war zwar grundsätzlich durch alliiertes Recht anerkannt worden, dass auch „Eigentumsverlust durch Verkauf“ als Raub anzusehen ist, da die Veräußerung unter dem Druck der Verfolgung stattfand, doch einzelstaatliche Regelungen erschwerten oder verunmöglichten Rückgabeverlangen. Ab Ende der 1960er Jahre waren die Ansprüche zudem zum größten Teil verjährt. Erst mit der Washingtoner Erklärung von 1998, die insbesondere die Verjährung aufhob, erfolgte ein Umdenken bei Museen und im Kunsthandel. Nach dem Tod des Sohnes 1984 konnte die Schwiegertochter des Sammlers, Gerta Silberberg, nach 1998 erfolgreich die Restitution einiger Kunstwerke erreichen. Der größte Teil der Sammlung gilt allerdings nach wie vor als verschollen.Deutsche Museen waren von mehreren Restitutionsfällen betroffen. So übergab 2003 die Staatsgalerie Stuttgart das Gemälde Stillleben mit Kanne von Georges Braque an die Erbin. Bei Corots Gemälde Dichtung im Kölner Wallraf-Richartz-Museum einigte sich die Erbin mit dem Museum auf eine finanzielle Entschädigung. Die Berliner Nationalgalerie hatte 1935 bei der Versteigerung im Auktionshaus Graupe Hans von Marées Mann mit gelbem Hut erworben und im Juli 1999 an die Erbin erstattet. Das Museum erwarb das Bild im Dezember desselben Jahres von ihr zurück. Ein weiteres Gemälde des Künstlers aus der Auktion, Die Labung, gelangte 1980 als Schenkung in das Museum Wiesbaden. 2014 konnte zwischen den Silberberg-Erben und dem Museum eine finanzielle Einigung über den Verbleib des Bildes im Museum getroffen werden. Ebenfalls aus der Auktion bei Graupe 1935 stammt die Zeichnung Olivenbäume vor dem Alpillengebirge von Vincent van Gogh, die seinerzeit der Verein der Freunde der Nationalgalerie erworben hatte und sich als Geschenk in der Nationalgalerie beziehungsweise nachfolgend im Kupferstichkabinett befand. Diese Zeichnung erhielt Greta Silberberg von den Staatlichen Museen restituiert und gab sie im Dezember 1999 im New Yorker Auktionshaus Sotheby’s zur Versteigerung, wo sie für 8,5 Millionen Dollar einen neuen Besitzer fand. Eine weitere Zeichnung im Besitz des Kupferstichkabinetts war Frau mit Umschlagtuch von Caspar David Friedrich, die Max Silberberg 1940 dem Finanzamt Breslau zur Begleichung von angeblichen Steuerschulden überlassen musste. Auch diese Zeichnung erhielt die Erbin 1999 erstattet. Weitere Werke aus Silberbergs Besitz befinden sich im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt. Bei den dortigen Gemälden Markt in Haarlem von Max Liebermann und Kopf eines bayerischen Mädchens mit Inntaler Hut von Wilhelm Leibl konnte bisher keine Einigung mit der Erbin gefunden werden.
In der Schweiz fanden vor allem zwei Kunstwerke Beachtung, die bisher nicht an die Erbin zurückübertragen wurden. Das Gemälde Stockhornkette mit Thunersee von Ferdinand Hodler befindet sich als Leihgabe im Kunstmuseum St. Gallen. Die privaten Besitzer konnten sich bisher nicht zu einer Rückgabe des Bildes entschließen. Ebenfalls strittig ist die Eigentumsfrage an Édouard Manets Gemälde Junge Frau im orientalischen Kostüm (auch La Sultane) in der Zürcher Stiftung Sammlung E. G. Bührle. Das Museum geht – anders als die Erbin – davon aus, das Bild habe sich von 1933 bis zum Verkauf des Bildes 1937 nicht in Deutschland befunden und somit liege kein verfolgungsbedingter Verkaufsdruck vor. Restituiert wurde hingegen das Gemälde Nähschule im Waisenhaus Amsterdam von Max Liebermann, das sich zuvor im Besitz des Bündner Kunstmuseums befand.Nach Einigung mit der Erbin verblieben die Gemälde Der Felsen in Hautepierre von Gustave Courbet im Art Institute of Chicago und Boulevard Montmartre, Frühling 1897 von Camille Pissarro im Jerusalemer Israel Museum. Ebenfalls zu Einigungen kam es zwischen der Erbin und den Besitzern von Kunstwerken, die diese bei Auktionen veräußern wollten. So gab es 2006 bereits vor den Versteigerungen im Auktionshaus Sotheby’s entsprechende Vereinbarungen, als die Gemälde Die Seine bei Saint-Mammès von Alfred Sisley und Algerische Frauen am Brunnen von Eugène Delacroix den Besitzer wechselten.
Als sogenannte Beutekunst befindet sich in der Eremitage in Sankt Petersburg aus Silberbergs ehemaligem Besitz die Zeichnung Rückenansicht eines männlichen Aktes (auch L’écorché). Als Vorbesitzer ist dort der Berliner Auktionator Paul Graupe angeführt, obschon auch diese Zeichnung von der Nationalgalerie Berlin erworben wurde. Eine Rückgabe an die Erben Silberbergs ist, wie in ähnlich gelagerten Fällen, von russischer Seite nicht zu erwarten. Auch weigert sich Polen bisher, die im Warschauer Nationalmuseum befindlichen Werke der Sammlung Silberberg an die Erben zu erstatten.
== Siehe auch ==
Liste von Restitutionsfällen, insbesondere: Restitutionsfälle in Deutschland, Israel, Liechtenstein und der Schweiz.
== Literatur ==
Paul Abramowski: Die Sammlung Silberberg, Breslau. In Der Sammler – Deutsche Kunst- und Antiquitätenbörse, Nummer 20, Jahrgang 1930, S. 149–153.
Alice Landsberg: Eine große deutsche Privatsammlung. Die Sammlung Silberberg in Breslau. In Die Dame – Illustrierte Mode-Zeitschrift, Nummer 16, Jahrgang (1930), S. 12–15.
Karl Scheffler: Die Sammlung Max Silberberg. In Kunst und Künstler – Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe, Nummer 30, Jahrgang 1931, S. 3–18.
Catalogue des tableaux, pastels, aquarelles, gouaches, dessins… provenant des collections étrangères de MM ; S… et S. Katalog zur Auktion am 9. Juni 1932, Galerie Georges Petit, Paris 1932.
Gemälde und Zeichnungen des 19. Jahrhunderts aus einer bekannten schlesischen Privatsammlung und aus verschiedenem Privatbesitz. Katalog zur Auktion am 23. März 1935, Auktionshaus Paul Graupe, Berlin 1935.
Dorothea Kathmann: Kunstwerke aus jüdischen Sammlungen – Möglichkeiten und Grenzen der Provenienzermittlungen am Beispiel der Sammlung Silberberg aus Breslau In: Beiträge öffentlicher Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland zum Umgang mit Kulturgütern aus ehemaligem jüdischen Besitz, bearb. von Ulf Häder, Magdeburg 2001, ISBN 3-00-008868-7, S. 27–37.
Anja Heuß: Die Sammlung Max Silberberg in Breslau. In Andrea Pophanken, Felix Billeter (Hrsg.): Die Moderne und ihre Sammler. Französische Kunst in deutschem Privatbesitz vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Akademie-Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-05-003546-3, S. 311–325.
Monika Tatzkow, Hans Joachim Hinz: Bürger, Opfer und die historische Gerechtigkeit. Das Schicksal jüdischer Kunstsammler in Breslau. In: Osteuropa, Nummer 56, Jahrgang 2006, S. 155–171.
Marius Winzeler: Jüdische Sammler und Mäzene in Breslau. Von der Donation zur "Verwertung" ihres Kunstbesitzes. In: Andrea Baresel-Brand (Hrsg.): Sammeln, Stiften, Fördern. Jüdische Mäzene in der deutschen Gesellschaft. Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Magdeburg 2008, ISBN 978-3-9811367-3-9, S. 131–156.
Monika Tatzkow: Max Silberberg. In: Melissa Müller, Monika Tatzkow, Thomas Blubacher: Verlorene Bilder – verlorene Leben. Jüdische Sammler und was aus ihren Kunstwerken wurde. E. Sandmann Verlag, München 2009, ISBN 978-3-938045-30-5, S. 114ff.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Silberberg
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San Francisco Mechanics’ Institute
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= San Francisco Mechanics’ Institute =
Das Mechanics’ Institute in San Francisco ist eine 1855 gegründete Kulturinstitution, die heute eine der ältesten Bibliotheken an der Westküste der Vereinigten Staaten, verschiedene Initiativen zur Erwachsenenbildung sowie mit dem Mechanics’ Institute Chess Club den ältesten Schachklub der USA betreibt.
Das San Francisco Mechanics’ Institute entstand gegen Ende des Kalifornischen Goldrauschs aus der Überzeugung, dass die Bereitstellung von Wissen die Grundlage wirtschaftlichen Fortschritts sei. Nachdem die finanzielle Situation der Einrichtung zu Beginn äußerst angespannt war, verlegte sich das Mechanics’ Institute in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Ausrichtung von Gewerbe- und Industrieschauen in eigens zu diesem Zweck errichteten Ausstellungspavillons. Gleichzeitig stellte es seinen Mitgliedern zahlreiche Bildungsangebote zur Verfügung, unter denen Vorträge zu wissenschaftlichen und kulturellen Themen sowie die Bibliothek und der Schachklub eine besondere Rolle einnahmen. Von 1868, dem Gründungsjahr der Universität Berkeley, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte das Mechanics’ Institute Mitsprache bei der Verwaltung der ältesten Universität Kaliforniens. Nachdem alle Gebäude des Mechanics’ Institutes im schweren Erdbeben des Jahres 1906 zerstört worden waren, verkauften seine Mitglieder in den Folgejahren Grundstücke im Herzen San Franciscos und gaben einen Neubau in der Post Street 57 in Auftrag, in dem die Einrichtung bis heute beheimatet ist.
Zu den bekannten Mitgliedern des San Francisco Mechanics’ Institute gehören der Unternehmer Levi Strauss, die Schriftsteller Mark Twain und Jack London ebenso wie der Journalist und Schriftsteller Ambrose Bierce und weitere Persönlichkeiten San Franciscos. Der Mechanics’ Institute Chess Club erfreute sich zeit seines Bestehens zahlreicher Besuche internationaler Schachgrößen wie Johannes Hermann Zukertort, Emanuel Lasker, José Raúl Capablanca, Alexander Alexandrowitsch Aljechin und Max Euwe.
== Geschichte ==
=== Die Gründung im Jahr 1855 ===
Als eine kleine Gruppe von Unternehmern am 11. Dezember 1854 in San Francisco zusammenkam, um über die Gründung einer Bildungseinrichtung für Erwachsene unter dem Namen „Mechanics’ Institute“ zu beraten, hatte sich der 1848 begonnene Kalifornische Goldrausch bereits merklich abgekühlt. San Franciscos Warenhäuser waren überfüllt, die Preise befanden sich im freien Fall und mehrere Bankhäuser mussten ihre Geschäfte einstellen. Rund die Hälfte der Einwohner der Stadt war arbeitslos. Die Annals of San Francisco vermerkten hierzu, San Francisco befinde sich „in einer Phase großer wirtschaftlicher Bedrängnis“. Angesichts der ungewissen Zukunft Kaliforniens schien die Förderung technischen Wissens eine gute Antwort auf die Frage danach zu sein, was ökonomisch nach dem Goldrausch kommen solle. Da das noch junge Kalifornien zu jener Zeit in großem Maße auf den teuren Import von Gütern aller Art angewiesen war, wurde dem Aufbau einer eigenen Landwirtschaft und Industrie eine besondere Bedeutung zugemessen. Wobei die dem Mechanics’ Institute zugrundeliegende Idee keineswegs neu war. Bereits 1821 hatte der Schotte George Birkbeck mit der Gründung der School of Arts of Edinburgh den Anfang für eine ganze Reihe von Mechanics’ Institutes gemacht, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in allen Teilen der englischsprachigen Welt verbreitet hatten.Im März 1855 nahm der Plan des San Francisco Mechanics’ Institute Gestalt an. Unter dem Vorsitz des Fabrikbesitzers Benjamin Haywood beschlossen die in der Stadthalle von San Francisco versammelten Unternehmer die Einrichtung einer Leihbibliothek. Die Bücher dieser Bibliothek sollten – was zu damaligen Zeiten durchaus nicht immer üblich war – allen Mitgliedern in frei zugänglichen Regalen zur Verfügung stehen. Zugleich sollten die Räumlichkeiten ausreichend Platz für Schachspiele bieten, vermutlich um den Mitgliedern zugleich Gelegenheit zum gegenseitigen Kennenlernen und zum Training ihrer geistigen Fähigkeiten zu bieten. Zur Finanzierung wurde eine Kapitalgesellschaft gegründet, deren Anteilspreis zunächst auf 25 Dollar festgesetzt wurde. Die jährliche Mitgliedsgebühr betrug 5 Dollar. Am 24. April 1855 wurde die Kapitalgesellschaft offiziell eingetragen und dieses Datum gilt bis heute als das Gründungsdatum des San Francisco Mechanics’ Institute.
=== Finanzielle Schwierigkeiten: das erste Jahr ===
Während der Glaube an technischen Fortschritt und den Aufbau einer eigenständigen Wirtschaft Kaliforniens unter den Gründern des Mechanics’ Institute groß war, hielten sich die finanziellen Mittel der Einrichtung zunächst in engen Grenzen. Sechs Monate nach der Gründungsversammlung bezog das Mechanics’ Institute eigene Räumlichkeiten im Express Building an der nordöstlichen Ecke der im heutigen Finanzbezirk San Franciscos gelegenen Straßenkreuzung California und Montgomery. Der Buchbestand zählte drei Bände: eine Kopie der Verfassung der Vereinigten Staaten, eine Bibel und eine juristische Abhandlung zum Eigentumsrecht. An Finanzmitteln standen 300 Dollar zur Verfügung, wovon nach vier Monaten und der Anschaffung von 75 weiteren Bänden nur 125 Dollar übrig blieben. Schon ein Jahr nach seiner Gründung und einem zwischenzeitlichen Umzug in größere Räumlichkeiten ging dem Mechanics’ Institute das Geld aus.
Der drohende Bankrott der noch jungen Einrichtung konnte allein durch die Verpflichtung der Schauspielerin Julia Dean Hayne (1830–1868) abgewendet werden, die sich 1856 bereit erklärte, die Einnahmen aus einer Aufführung des Theaterstückes Madeleine, the Belle of Faubourg an das Mechanics’ Institute zu spenden. Was die Schauspielerin zu diesem Schritt bewog, ist nicht bekannt. Gesichert ist allerdings, dass die Erlöse in einer Höhe von 1029 Dollar das Mechanics’ Institute für weitere zwölf Monate vor dem finanziellen Ruin bewahrten und es ihm sogar ermöglichten, weitere Bücher anzuschaffen.
=== Gewerbe- und Industrieschauen ===
Als die Geldmittel des Mechanics’ Institute im Jahr 1857 erneut zur Neige gingen, entwickelten dessen Direktoren ein Konzept, das bis ins Jahr 1899 für die finanzielle Absicherung der übrigen Bildungsangebote sorgte. Nach dem Vorbild der Londoner Great Exhibition des Jahres 1851 und der New Yorker Exhibition of the Industry of All Nations des Jahres 1853 planten sie die erste große Gewerbe- und Industrieschau San Franciscos, die unter dem Titel The First Industrial Exhibition of the Mechanics’ Institute of the City of San Francisco am 7. September 1857 eröffnet werden sollte.
In der Ankündigung dieser Veranstaltung hieß es:
Als Ausstellungsgelände hatte der reiche Unternehmer James Lick ein Grundstück zwischen den Straßen Post und Sutter am südwestlichen Ende der Stadt kostenfrei zur Verfügung gestellt. Für den Bau des Ausstellungsgebäudes brachten die Mitglieder des Mechanics’ Institute 7000 Dollar in Barmitteln, Baumaterialien und kurzfristigen Darlehen auf.
Die erste Gewerbe- und Industrieschau San Franciscos dauerte 19 Tage und zeigte insgesamt 941 verschiedene Ausstellungsstücke, darunter Möbel, Sättel und Zaumzeug, Klaviere, Billardtische, Weintrauben der damals noch weitgehend unbekannten Rebsorte „Zinfandel“, Stücke versteinerter Bäume, ein Autograph Cotton Mathers sowie Lithografien, die ein gewisser E. J. Muygridge aus England importiert hatte. Aussteller erhielten Preise in 45 Kategorien. Am Abend eines jeden Tages unterhielt eine Kapelle die Besucher mit einem Konzert. Durch reges Besucherinteresse wurde die Ausstellung finanziell ein voller Erfolg: nach Abzug großzügiger Spenden an die beiden Waisenhäuser der Stadt und den Kosten für den Bau des Ausstellungsgebäudes blieben dem Mechanics’ Institute 2784 Dollar übrig.Angeregt durch den Erfolg dieser Unternehmung organisierte das Mechanics’ Institute bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen, eigens für diesen Zweck errichteten Ausstellungsgebäuden, weitere Gewerbe- und Industrieschauen. Im Jahr 1899 fand die letzte Ausstellung statt, bei der das Mechanics’ Institute einen Verlust von 7600 Dollar erlitt. Damit war die Ära der regelmäßigen Gewerbe- und Industrieschauen in San Francisco beendet. Das zu jenem Zeitpunkt genutzte Ausstellungsgebäude wurde bis zu seiner Zerstörung im Erdbeben von 1906 für andere Zwecke, wie etwa der Austragung von Boxkämpfen, für Konzerte, oder als Rollschuhbahn verwendet.
=== Mitsprache bei der Verwaltung der Universität Berkeley ===
Zu den zentralen Aufgaben eines jeden Mechanics’ Institutes gehörte die Ausrichtung von kostenfreien oder zu geringen Preisen angebotenen Vorträgen. Auch das San Francisco Mechanics’ Institute verpflichtete seit seiner Gründung bekannte Redner für solche Anlässe. Aufgrund der anhaltenden finanziellen Schwierigkeiten in den ersten Jahren waren solchen Initiativen zunächst jedoch enge Grenzen gesetzt. Dies änderte sich mit der Entdeckung von Silberlagerstätten in der Comstock Lode, die in den 1860er Jahren einen Silberrausch unweit der Grenze zwischen Nevada und Kalifornien auslöste. Durch den Zufluss von Kapital nach San Francisco und die Unterstützung von reichen Geschäftsleuten wie dem Unternehmer und Bankier William Ralston startete das Mechanics’ Institute im Jahr 1863 eine Reihe von Vorträgen, für das es Redner wie den Geologen Josiah D. Whitney oder den Sklaverei-Gegner Thomas Starr King gewinnen konnte.
Als dann im Jahr 1868 die University of California gegründet wurde, garantierten deren Statuten dem Mechanics’ Institute ein Mitspracherecht, indem sie einem Mitglied des Mechanics’ Institute einen dauerhaften Sitz im Verwaltungsrat der Universität Berkeley einräumten. Andrew Smith Hallidie, zur damaligen Zeit Präsident des Mechanics’ Institute und später bekannt als „Vater der San Francisco Cable Cars“, gehörte zu den ersten sechs „ex-officio regents“ der Universität, die diese Rolle aufgrund ihres Amtes einnahmen und zu denen unter anderem auch der Gouverneur des Staates Kalifornien, dessen Stellvertreter sowie der Sprecher des kalifornischen Repräsentantenhauses gehörten. Das Mitspracherecht des Mechanics’ Institute an der ersten Universität Kaliforniens spiegelte dessen Bedeutung im kulturellen Leben der Stadt San Francisco wider.
Wenngleich Hallidie den Campus der Universität Berkeley lieber in San Francisco anstatt an ihrem heutigen Standort im Osten der Bucht von San Francisco angesiedelt hätte, gab die enge Verzahnung zwischen der Universität und dem Mechanics’ Institute diesem die Gelegenheit, seine Rolle als Bildungseinrichtung zu stärken. Es hatte nicht allein Einfluss auf den Lehrplan der Universität, sondern war darüber hinaus auch in der Lage, bekannte Mitglieder der verschiedenen Fakultäten als Redner zu verpflichten. Über mehrere Jahrzehnte hinweg diente das 1866 errichtete Gebäude des Mechanics’ Institute in der Post Street als Außenstelle der staatlichen Universität in Berkeley. Vorlesungen von angesehenen Professoren wie dem Geologen Joseph LeConte, dem deutschstämmigen Agrarwissenschaftler Eugene Woldemar Hilgard und Ezra Carr, einem Freund John Muirs, zogen bis zu 500 Studenten in die Räume des Mechanics’ Institute.
Die in diese Zeit fallende und von Hallidie vorangetriebene Umwandlung des Mechanics’ Institute in eine Stiftung sicherte der Einrichtung die Möglichkeit, Spenden einzuwerben und auf diese Weise seine Einkünfte aus Gewerbe- und Industrieschauen und Mitgliedsbeiträgen zu ergänzen. Auf diese Weise erlebte das Mechanics’ Institute in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit. Das Mitspracherecht an der Verwaltung der Universität Berkeley erlosch erst im Jahr 1974.
=== Zerstörung und Neubeginn ===
In den frühen Morgenstunden des 18. April 1906 wurde San Francisco von einem Erdbeben erschüttert, das zu den schwersten Naturkatastrophen in der Geschichte der Vereinigten Staaten gehört. Um 5:12 Uhr Ortszeit wurden die Bewohner der Stadt von einem 20 bis 25 Sekunden dauernden Vorbeben aus dem Schlaf gerissen, bevor noch in derselben Minute das rund 42 Sekunden dauernde Hauptbeben einsetzte. Es waren jedoch nicht diese von Oregon über Nevada bis nach Los Angeles zu spürenden Erdstöße, die die fast völlige Zerstörung San Franciscos verursachten, sondern die zahlreichen Feuer, die nach dem Erdbeben ausbrachen und nicht unter Kontrolle gebracht werden konnten.
Von dem dreistöckigen Bibliotheksgebäude des Mechanics’ Institute in der Post Street 31 stand nach dem Beben nur noch diejenige Mauer, an der die Bronzetafel zu Ehren James Licks angebracht war. Neben dieser Bronzetafel konnten einige Sitzungsprotokolle, ein Mitgliederverzeichnis, ein paar Verträge sowie das Gründungsdokument des Mechanics’ Institute gerettet werden. Diese Schriftstücke hatten sich in zwei Tresoren befunden, die die Erdstöße überstanden hatten. Die zur Zeit des Bebens in der Bibliothek befindlichen Bücher hingegen waren zerstört. Der durch den Einsturz des Gebäudes verursachte Verlust seiner Bibliothek wog umso schwerer, als das Mechanics’ Institute nur wenige Monate zuvor die Bücher der Mercantile Library San Franciscos übernommen hatte. Von der auf diese Weise auf 200.000 Bände angewachsenen Sammlung blieben allein diejenigen übrig, die an die Mitglieder des Mechanics’ Institute zum Zeitpunkt des Erdbebens ausgeliehen waren.
Der große Ausstellungspavillon in der Nähe der City Hall dagegen hatte zunächst nur wenig Schaden genommen. Weil das im Untergeschoss der City Hall untergebrachte Central Emergency Hospital zerstört worden war, richteten ein Arzt und mehrere Krankenschwestern deshalb im Mechanics’ Pavilion noch in den Morgenstunden des 18. April ein Notkrankenhaus ein. Als sich die Feuer dann aber im Verlauf des Tages ausbreiteten, legten sie auch den Mechanics’ Pavilion in Schutt und Asche. Damit hatte das Mechanics’ Institute durch das Erdbeben und die anschließenden Brände einen nahezu vollständigen Verlust erlitten.
Schon vier Monate nach dem verheerenden Brand bezog das Mechanics’ Institute eine Behelfsunterkunft in der Grove Street 99. Durch Buchspenden von Bibliotheken und Privatpersonen sowie durch eigene Anschaffungen war der Buchbestand wieder auf 5000 Bände angewachsen. Im Jahr 1907 dann wurde unter der Führung des damaligen Präsidenten des Mechanics’ Institute, dem deutschstämmigen Rudolph J. Taussig, ein Neubau am ehemaligen Standort in der Post Street in Auftrag gegeben, der aufgrund einer Neuvergabe der Hausnummern nun die Nummer 57 trug. Die Kosten des neunstöckigen Neubaus wurden durch Grundstücksverkäufe getragen und als Architekt konnte Albert Pissis gewonnen werden, der in San Francisco schon vor dem Erdbeben durch seine im Beaux-Arts-Stil ausgeführten Gebäude einen guten Ruf genoss. Die Arbeiten in der Post Street begannen im April 1909 und schon im darauffolgenden Juli wurde die Bibliothek des Mechanics’ Institute wiedereröffnet.
=== Das Mechanics’ Institute im 20. und 21. Jahrhundert ===
Seit seiner Gründung war das Schachspiel ein fester Bestandteil der kulturellen Angebote des Mechanics’ Institute. Neben dem normalen Spielbetrieb richteten seine Mitglieder lokale Turniere sowie – über Telegrafenverbindungen – auch Fernschach-Turniere mit Spielern aus Kanada und anderen Teilen der Vereinigten Staaten aus. Die Schachabteilung des Mechanics’ Institute hatte sich auf diese Weise einen Ruf erarbeitet, der weit über Kalifornien hinausreichte. Waren schon im 19. Jahrhundert Schachgrößen wie Johannes Hermann Zukertort und Emanuel Lasker nach San Francisco gekommen, so setzte sich diese Tradition vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fort. Der kubanische Weltmeister José Raúl Capablanca spielte 1916 und dann wieder 1926 in Simultanschachveranstaltungen Partien gegen Mitglieder des Mechanics’ Institute. Der russisch-französische Weltmeister Alexander Alexandrowitsch Aljechin erinnerte sich später, dass er bei seiner Tour durch die Vereinigten Staaten im Jahr 1929 die stärksten Spieler „in San Francisco, an einem Ort genannt Mechanics’ Institute“ getroffen habe. Im Jahr 1949 trat der spätere Präsident des Weltschachbundes Max Euwe im Simultanschach gegen Mitglieder des Mechanics’ Institute Chess Club an.Allein im Jahr 1948 gab es kurzzeitig Auseinandersetzungen über die Zukunft des Schachklubs. Einzelne Mitglieder störten sich an dem aus ihrer Sicht verwahrlosten Äußeren der Schachspieler und setzten sich für eine Schließung des Klubs ein. Die Reaktion der lokalen Presse und der schachbegeisterten Mitglieder des Mechanics’ Institute auf dieses Vorhaben war jedoch so heftig, dass der Plan schnell aufgegeben wurde. In der Folge wurde die Möblierung des Schachraums in der vierten Etage des Gebäudes in der Post Street 57 erneuert und der Satz „Es soll einen Schachraum geben“ in der Satzung des Mechanics’ Institute festgeschrieben. Aktive Spieler der Schachabteilung nehmen bis heute Posten im Kuratorium des Mechanics’ Institute ein.
In den 1920er Jahren begann das Mechanics’ Institute Mitglieder zu verlieren. Richard Reinhardt, Verfasser der im Jahr 2005 zum 150-jährigen Jubiläum erschienenen Geschichte des Mechanics’ Institute, führt dies auf den zunehmenden Einfluss des Radios zurück. Er beschreibt, wie die in der San Francisco Bay Area verfügbaren Radiostationen bis zum Aufkommen des Fernsehens mit ihren Programmen in Konkurrenz zu den Leseräumen von Bibliotheken traten. Bis zum Beginn der 1940er Jahre verlor das Mechanics’ Institute auf diese Weise nahezu ein Viertel seiner Mitglieder. Als sich dann ab den 1950er Jahren das Fernsehen zum Massenmedium entwickelte, stellten zahlreiche Kulturinstitutionen San Franciscos ihren Betrieb ein und auch das Mechanics’ Institute geriet weiter unter Druck. Um dem Mitgliederschwund zu begegnen und eine zusätzliche Finanzquelle zu erschließen, folgte es – beginnend in den 1960er Jahren – anderen Vereinen, Museen und Alumni-Organisationen in den USA und bot im Rahmen des sogenannten „Affinity Charter System“ (dt. in etwa: „Charterflüge für Gleichgesinnte“) Billigflüge für Ferienreisen seiner Mitglieder an. Auf diese Weise stiegen die Mitgliederzahlen zunächst zwar stark an, als der Airline Deregulation Act des Jahres 1978 jedoch das Ende des Affinity Charter System einläutete, fielen die Mitgliederzahlen von zwischenzeitlich 12.000 auf unter 7.000 Mitglieder. Bis ins Jahr 2019 sank die Zahl der Mitglieder auf einen historischen Tiefstand von rund 4.000. Während das Mechanics’ Institute in früheren Zeiten noch zahlreiche Persönlichkeiten San Franciscos, darunter Levi Strauss, Ambrose Bierce, Mark Twain und Jack London zu seinen Mitgliedern zählte, gilt es heute als „verstecktes Kleinod“ und als „egalitäre Oase in einem sich schnell ändernden San Francisco“.Heute bietet das Mechanics’ Institute seinen Mitgliedern Autorenlesungen, Schreibworkshops, Kurse zu Computer- und Internetthemen, Buchzirkel und Filmvorführungen. Der Schachklub engagiert sich stark im Bereich Jugendarbeit und bietet darüber hinaus Schacheinführungen für Frauen an. Über das Videoportal Twitch können kommentierte Partien des Mechanics’ Institute Chess Club abgerufen werden. Die mehr als 160.000 Bände umfassende Bibliothek ist an allen Wochentagen geöffnet und bietet den Mitgliedern des Mechanics’ Institutes einen freien Zugang zum Internet. Den größten Teil seiner jährlichen Einnahmen erzielt das Mechanics’ Institute durch Vermietung von Büroflächen in der Post Street 57.
== Literatur ==
=== Quellen ===
Das Mechanics’ Institute in San Francisco selbst hält den umfangreichsten Bestand an Quellen zu seiner Geschichte. Im Zuge des Erdbebens im Jahr 1906 konnte der damalige Sekretär des Kuratoriums, Joseph Cummings, den Inhalt zweier Tresore aus dem eingestürzten Gebäude des Mechanics’ Institute in der Post Street 31 retten. Weitere Schriftstücke aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich im Keller des Gebäudes befanden, wurden dagegen zerstört. Der heutige Bestand umfasst unter anderem:
Satzungen
Constitution and by laws, 1870–1899
Constitution, by-laws, and rules of the Mechanics’ Institute of the City of San Francisco, California [1895].
Constitution of the Mechanics’ Institute of San Francisco, California, April 7, 1908.
Protokolle
Minutes of the Board of Trustees of the Mechanics’ Institute, Band 1: 1854–1857, Band 2: 1857–1860, Band 3: 1869–1874, Band 4: 1891–1895, Band 5: 1895–1897, Band 6: 1897–1899, Band 7: 1899–1904, Band 8: 1904–1913, Band 9: 1913–1923.
Berichte über abgehaltene Gewerbe- und Industrieschauen [1857–].
Jahresberichte [1855–].
Mechanics’ Institute lectures: 1855–1931 (maschinenschriftliche Aufstellung).
President’s report to the members of the Mechanics’ Institute [1965-].
=== Darstellungen ===
Hildie V. Kraus: A cultural history of the Mechanics’ Institute of San Francisco, 1855–1920, Leeds 2007 (15-seitiger Abriss, parallel veröffentlicht in der Zeitschrift Library history: official journal of the Library & Informationen Group of CILIP, Library History Group, Band 23, Juni 2007).
Richard Reinhardt: Four Books, 300 Dollars, and a Dream. An Illustrated History of the First 150 Years of the Mechanics’ Institute of San Francisco, San Francisco 2005, ISBN 0-9776435-0-6 (Maßgebliche Darstellung zur Geschichte des Mechanics’ Institute mit zahlreichen Abbildungen).
[William G. Merchant]: 100 years of Mechanics’ Institute of San Francisco, 1855–1955, San Francisco 1955 (Merchant war im Jubliäumsjahr amtierender Präsident des Mechanics’ Institute; neben einer 30-seitigen Abhandlung zur Geschichte enthält das Heft eine „List of Officers, 1855–1955“).
John Hugh Wood: Seventy-Five Years of History of the Mechanics’ Institute of San Francisco, San Francisco 1930.
== Weblinks ==
Mechanics’ Institute, offizielle Webseiten (in Englisch)
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/San_Francisco_Mechanics%E2%80%99_Institute
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