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Midlothian-Kampagne
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Die Midlothian-Kampagne (englisch Midlothian campaign) war eine Serie von Wahlkampfauftritten, die der liberale Politiker William Ewart Gladstone in den Jahren 1879 und 1880 in seinem neuen schottischen Wahlkreis Edinburghshire, gemeinhin Midlothian genannt, absolvierte. Vom liberalen Oberhausmitglied Earl of Rosebery unter großem Aufwand als Medienevent nach US-amerikanischem Vorbild organisiert, gilt die Midlothian-Kampagne als Meilenstein und als die erste moderne Wahlkampagne in der politischen Geschichte des Vereinigten Königreiches. Im Gegensatz zum vormals etablierten Modell sprach Roseberys Wahlkampforganisation breite Massen der örtlichen Bevölkerung an und versuchte die Auftritte unter Einbindung der Presse als ein mediales Großereignis zu inszenieren, um der Kampagne eine landesweite Aufmerksamkeit zu sichern. Dabei wurden die Auftritte wie in den USA auch durch ein Rahmenprogramm mit Umzügen, Reiterparaden und Feuerwerk begleitet.
Gladstone, der bei seinen Auftritten scharfe Attacken auf die konservative Regierung seines ihm verhassten langjährigen Rivalen Benjamin Disraeli ritt, bestätigte durch die Midlothian-Kampagne wiederholt seinen in früheren Jahrzehnten erworbenen Ruf als populärer und volksnaher Politiker („The People’s William“) und zementierte über die folgende Dekade hinaus seine Vorrangstellung als führender Mann innerhalb der Liberalen Partei. Bei den vorgezogenen Unterhauswahlen 1880 triumphierte er in Midlothian und bildete dank des landesweiten Erfolgs der Liberalen Partei nachfolgend seine zweite Regierung als Premierminister.
== Gladstones persönliche Situation Mitte der 1870er Jahre ==
Nach sechs Jahren an der Regierung hatten die Liberalen unter Premierminister William Ewart Gladstone bei den Britischen Unterhauswahlen 1874 eine eindeutige Niederlage hinnehmen und die Macht an die Konservative Partei unter ihrem Führer Benjamin Disraeli abgeben müssen. Nach einer kurzen Übergangsphase gab Gladstone auch die Führerschaft der Liberalen Partei ab, da er nicht erneut als Oppositionsführer agieren wollte. Er behielt jedoch seinen Parlamentssitz und beabsichtigte, weiterhin von den Hinterbänken aus zu agieren, sofern Belange der Church of England auf der politischen Tagesordnung erscheinen würden. Nach weiteren persönlichen Niederlagen – er musste im Zuge des im Unterhaus (House of Commons) beschlossenen Public Worship Regulation Act 1874 (der den wachsenden römischen Ritualismus in der anglikanischen Church of England verbieten sollte) eine für ihn äußerst schmerzliche Abstimmungsniederlage hinnehmen – fand sich Gladstone allerdings zunehmend bezugslos zur herrschenden Stimmung im Land, die der Agenda von Disraelis wieder aufstrebender konservativer Partei folgte.1875 machte er deshalb sein schon vor Jahrzehnten gegebenes privates Versprechen wahr und zog sich aus der Politik zurück. Er verbrachte stattdessen viel Zeit auf seinem walisischen Landsitz Hawarden Castle, wo er sich seinen Homer-Studien widmete, sich vor allem auch mit religiösen Studien befasste und unter anderem ein Traktat über himmlische Bestrafung nach dem Tod verfasste. Nach seinem selbstgewählten Rückzug übernahmen Lord Hartington im Unterhaus und Lord Granville im Oberhaus die Führung der Liberalen. Gladstones Biographen stimmen jedoch darin überein, dass sein Exil niemals vollständig war und er insgeheim mit einer Rückkehr in die aktive Politik liebäugelte, sobald sich ihm ein geeigneter Anlass dafür bot.
== Der bulgarische Aufstand ==
Während Gladstone sich in seinem Exil befand, hatte im April 1876 auf dem Balkan der bulgarische Aprilaufstand gegen die Osmanische Herrschaft begonnen. Dieser wurde durch die osmanische Armee und unterstützende irreguläre Truppen brutal niedergeschlagen; dabei wurden auch Massaker an der bulgarischen Zivilbevölkerung verübt. So kam die Orientalische Frage zum wiederholten Mal auf die politische Tagesordnung. London hielt seit langem enge Beziehungen zur osmanischen Regierung, der Hohen Pforte, aufrecht. Der Schutz des Osmanischen Reiches, inzwischen als „kranker Mann am Bosporus“ bekannt, galt London als unerlässlich für den britischen Handel, die machtpolitischen Interessen und den Schutz des britischen Empires vor der russischen Expansion. So hatte Großbritannien bereits im Krimkrieg Mitte der 1850er-Jahre gemeinsam mit dem napoleonischen Frankreich interveniert, um den Bestand des Osmanischen Reiches zu sichern. Vor allem Konstantinopel sowie die Meerengen an Bosporus und Dardanellen waren in britischen Augen der Schlüssel zur Verteidigung dieser Interessen. Diese strategisch neuralgischen Punkte in russische Hände fallen zu lassen, erschien unter diesem Gesichtspunkt undenkbar für das politische London, da dies unausweichlich zu einem rapiden Machtzuwachs Russlands geführt und das bestehende Machtgefüge gefährdet hätte. Zwar waren Stimmen in der konservativen Partei laut geworden, die dieses Dogma mittlerweile für veraltet hielten, dazu schien durch den Kauf des Suezkanals auch der Seeweg nach Britisch-Indien abgesichert. Jedoch bewies der Fall mehrerer unabhängiger Khanate in Zentralasien in den 1860er-Jahren, die unter russische Herrschaft gerieten, in den Augen von Disraeli erneut die Wichtigkeit des Osmanischen Reiches als Schutzschild vor der russischen Expansion. Mit Disraelis Wahlsieg endete die seit 1865 bestehende und von beiden Parteien unterstützte außenpolitische Inaktivität Großbritanniens. Disraeli selbst legte sein besonderes Augenmerk auf die Außenpolitik und auch insbesondere auf das Schicksal Britisch-Indiens. Für ihn lag der Schlüssel zur Sicherheit Britisch-Indiens und des Seewegs dorthin über den Suezkanal weiterhin in Konstantinopel, welches nicht in russische Hände fallen dürfe. Dem anwachsenden Nationalismus, der die treibende Kraft für den Aufstand gegen die osmanische Herrschaft bildete, stand er zudem generell misstrauisch gegenüber.
== Vorspiel zur Midlothian-Kampagne: Außerparlamentarische Protestbewegungen ==
Nachrichten über verübte Gräuel und Opfer in der bulgarischen Zivilbevölkerung erreichten Europa und die britische Öffentlichkeit zunächst nur sehr spärlich, fanden jedoch sofort großes Interesse. Im Juni berichtete die den Liberalen nahestehende Zeitung Daily News über verübte Gräueltaten und Tausende von Toten, was einen Sturm der Entrüstung in weiten Teilen der Öffentlichkeit auslöste. Die britische Regierung und Premierminister Disraeli ignorierten die eingehenden Berichte dagegen zunächst; Sir Henry Elliot, ab 1867 britischer Botschafter in Konstantinopel und ein überzeugter Turkophiler, gab die Beschwichtigungen der osmanischen Regierung nach London weiter. Der ebenfalls turkophile britische Konsul in Sarajewo, Holmes, gab ungeprüft die Ausführungen der örtlichen Behördenvertreter weiter und führte aus, dass es sich bei dem Aufstand eher um Unruhen von auswärtigen Banden handele, die von serbischen Agitatoren verursacht worden wären. Daraufhin tat Disraeli in einer Stellungnahme im Unterhaus die Berichte als „wenig mehr als Kaffeehausgeschwätz“ ab. Weiter erteilte er einer möglichen militärischen Intervention des zaristischen Russlands eine entschiedene Absage. Auch unter dem Druck von Königin Victoria drohte Disraeli für diesen Fall offen mit einem allgemeinen europäischen Krieg zwischen den Großmächten. Gleichzeitig ließ er diskret Lord Salisbury mit der russischen Seite bezüglich eines Kompromissabkommens verhandeln. Während Victoria sich betont militant gab und während der ganzen Krise viel konfrontativer agieren wollte als ihr Premierminister, sah sich Disraeli auf der anderen Seite einem skeptischen Kabinett gegenüber, das sehr vorsichtig agieren wollte.
Intellektuelle und Geistliche begannen unterdessen, Proteste zu organisieren. Nach anfänglichem Zögern – die Führer der Liberalen neigten eher dazu, die Politik der konservativen Regierung zu unterstützen – beschloss der tiefreligiöse Gladstone, sich an die Spitze der Protestbewegung zu setzen und begann einen regelrechten moralischen Kreuzzug. Er veröffentlichte ein Pamphlet, The Bulgarian Horrors and the Question of the East, von dem allein in vier Tagen 40.000 Kopien verkauft wurden. Darin klagte er die Türken als inhumane Rasse an, deren bestialische Gelüste sie dazu treibe, Freveltaten zu begehen. Er stellte drei Kernforderungen auf: Ein Ende der anarchischen Missregierung im Osmanischen Reich, die Verhinderung weiterer Gewalttätigkeiten durch administrative Reformen und die Wiederherstellung des britischen Namens, der schweren Schaden durch die Inaktivität der Regierung genommen habe. Als einzig mögliche Reaktion forderte er ein gemeinsames Eingreifen eines vereinten Europas und die Türken aus Europa zu vertreiben.Gladstone verurteilte die Politik seines langjährigen Kontrahenten und Gegenspielers Disraeli, der im August 1876 als Earl of Beaconsfield geadelt worden war und ab diesem Zeitpunkt im Oberhaus (House of Lords) saß, schärfer denn je und erfand dafür den Begriff „Beaconsfieldismus“. War die politische Rivalität zwischen beiden seit langen Jahren von großer Animosität und starker gegenseitiger Abneigung geprägt, wurde das Verhältnis zwischen ihnen im Urteil ihrer Biographen nun zunehmend hasserfüllt. Gladstone sprach bei einer Massenkundgebung in Blackheath in strömendem Regen vor etwa 10.000 Menschen und forderte, eine „Koalition der Willigen“ solle die Tyrannei bezwingen und die nationale Selbstbestimmung der Bulgaren herbeiführen. Dazu verteidigte er das Recht der russischen Regierung auf eine militärische Intervention auf dem Balkan. Bei einer Kundgebung in der Londoner St James’s Hall, bei der auch Anthony Trollope, John Ruskin und der Duke of Westminster anwesend waren und unterstützende Briefe von Thomas Carlyle, Charles Darwin und Robert Browning verlesen wurden, verurteilte er das militärische „Säbelrasseln“ des Premierministers. In immer schärferer Form forderte er bei seinen folgenden Auftritten ein Eingreifen. Dabei verwendete er auch stereotype Bilder gegen Juden und jüdischen Einfluss in Großbritannien. Der Historiker Geoffrey Alderman führte diese Angriffe zum Teil auch auf den Bruch zwischen Liberaler Partei und jüdischer Wählerschaft zurück. Einige Attacken auf Premierminister Disraeli in der liberalen Presse, die, wie die Church Times, teils nur vom „jüdischen Premier“ sprachen, waren von den Verfassern mit antisemitischen Stereotypen angereichert.
Disraeli, der lange über die Anwürfe von Gladstone und der Sensationspresse schwieg, bezeichnete schließlich in einer Rede umgekehrt Gladstone als einen Kriegstreiber. Die liberalen Parteiführer Hartington und Granville zeigten sich in Verlegenheit ob dessen politischem Feldzug, da sie, trotz der zunächst großen öffentlichen Empörung über die türkischen Gewalttaten, die Mehrheit der britischen Bevölkerung inzwischen (wieder) hinter der Position des Premierministers vereint sahen. Auch sahen sie in Gladstones Taktiken eine Aufwiegelung der Massen, was sie für gefährlich erachteten. Dessen zweites veröffentlichtes Pamphlet, Lessons in Massacre, verkaufte sich nur noch 7000 Mal. Dieser Stimmungsumschwung in Teilen der Bevölkerung zeigte sich auch durch zwei öffentliche Demonstrationen im Londoner Hyde Park gegen ihn. Diese waren von konservativen Unterstützern organisiert worden.
Ungeachtet der britischen Warnungen erklärte Russland der Hohen Pforte den Krieg. Als Antwort auf die russische Intervention wurde eine britische Flotte im Januar 1878 an die Dardanellen verlegt. In Großbritannien führte dies sofort zu einer angespannten Situation und einer weiteren Polarisierung in der öffentlichen Meinung, die über einer Frage der britischen Außenpolitik so geteilt war wie seit der Französischen Revolution nicht mehr. Sowohl das konservative Kabinett als auch die liberale Opposition waren tief gespalten; das Kabinettsmitglied Lord Carnarvon trat zurück, da er keinen Krieg an der Seite der Türkei mittragen wollte. Der nachfolgende harte Frieden von San Stefano vom März 1878, der über die insgeheim verhandelten Absprachen hinausging, führte kabinettsintern schließlich auch zum Rücktritt von Außenminister Lord Derby, der sofort durch Lord Salisbury ersetzt wurde. Dieser konnte durch bilaterale Verhandlungen mit dem russischen Außenminister Schuwalow den Vertrag von San Stefano abmildern. Auf dem einberufenen Berliner Kongress wurde die diplomatische Lösung der Krise auch vertraglich zwischen den europäischen Großmächten herbeigeführt. Disraeli kehrte im Triumph nach Großbritannien zurück und sprach öffentlich von einem „ehrenvollen Frieden“ (“Peace with Honour”).Auch wenn Premierminister Disraeli damit einen diplomatischen Triumph errungen hatte, war sein Sieg insgesamt kurzlebig. Die ökonomische Situation des Landes hatte sich seit Mitte der 1870er Jahre verschlechtert; eine Serie harter Winter und verregneter Sommer führte zu Missernten und wirtschaftlichen Einbußen. Die Große Deflation der Weltwirtschaft traf die etablierte Industriegesellschaft Großbritannien besonders hart. Dazu kamen außenpolitische Niederlagen wie die Schlacht bei Isandhlwana, die, obwohl sie nicht die Schuld der Regierung waren, dennoch dem Premierminister angelastet wurden.
== Der Wahlkreis Midlothian ==
Gladstone deutete die Stimmung im Land als äußerst günstig; auf seinem Landsitz Hawarden Castle wertete er die (für die Liberalen guten) Wahlstatistiken bei Nachwahlen aus. Er äußerte gegenüber Lord Granville in einem Gespräch, dass die Liberalen seit den Auseinandersetzungen um die Orientalische Frage zehn Nachwahlen gewonnen hätten und meinte: „Der Kessel beginnt zu kochen; ich hoffe, er kocht nicht zu schnell über.“ Mittlerweile plante er bereits seine volle Rückkehr in die aktive Politik und suchte nach einem neuen Wahlkreis. Niemals mit seinem vorherigen Wahlkreis Greenwich zufrieden, suchte er nach einer Alternative und entschied sich dazu, in Greenwich nicht mehr zu kandidieren. Gleichzeitig mit der Bekanntgabe seiner Entscheidung ließ er wissen, dass er offen für Angebote von liberalen Lokalorganisationen aus anderen Wahlkreisen sei. Daraufhin wurde er zum einen von den Liberalen aus Leeds, einem urbanen Wahlkreis mit starker liberaler Tradition und eine sichere Hochburg für die Liberale Partei, kontaktiert.
Zum anderen bot der Earl of Rosebery ihm den schottischen Wahlkreis Midlothian an. Gemeinhin umgangssprachlich meist nur Midlothian genannt, war der Wahlkreis von Edinburghshire, im Jahr 1708 kreiert, im ausgehenden 19. Jahrhundert eigentlich ein marginaler Wahlkreis mit lediglich 3620 stimmberechtigten Wählern. Dennoch hatte der Wahlkreis, der das Hinterland der schottischen Hauptstadt Edinburgh umfasste und von einem großstädtischen, von der schottischen Aufklärung beeinflussten Klima geprägt war, aufgrund anderer Faktoren eine überproportionale Bedeutung. Zwei der einflussreichsten aristokratischen Familien Schottlands, der Duke of Buccleuch und der Earl of Rosebery, kämpften hier seit den 1860er-Jahren um die Vorherrschaft in der Wählergunst und machten Midlothian damit zu einem hart umkämpften Wahlkreis bei Unterhauswahlen. Bei den Unterhauswahlen von 1868 hatten die Liberalen eine jahrzehntelange konservative Vorherrschaft gebrochen; 1874 hatte Lord Dalkeith, Erbe des Duke of Buccleuch, den Wahlkreis dann mit einer knappen Mehrheit für die Konservative Partei zurückgewonnen. Rosebery, der Gladstone eingeladen hatte hier zu kandidieren, versicherte ihm jedoch, dass der Midlothian-Wahlkreis offen für dessen liberale Ideen und Ideale sei. Schottland repräsentierte ohnehin zunehmend eine Hochburg des Liberalismus.
== Roseberys Wahlkampforganisation ==
Gleichzeitig versprach Rosebery, der als einer der reichsten Männer Schottlands über weitgestreuten, umfangreichen Landbesitz verfügte und zudem seit kurzem mit Hannah de Rothschild aus der Rothschild-Dynastie verheiratet war, dass er als Organisator für alle Kosten des Wahlkampfes aufkommen würde. Dies war eine wichtige Zusicherung, da der Wahlkampf in einem umkämpften Wahlkreis einen Kandidaten eine Summe von etwa dreitausend Pfund (was nach heutigem Standard etwa 150.000 Pfund wären) kosten konnte und Abgeordnete keine Bezahlung erhielten. Nach eigener späterer Schätzung investierte Rosebery sogar eine Summe von annähernd 50.000 Pfund (in heutigem Wert mehr als 2,5 Millionen Pfund) in die Wahlkampagne, allerdings zweifelte sein Biograf Robert Rhodes James die volle Höhe dieser Summe später an. Gladstone beschloss daraufhin, den sicheren liberalen Wahlkreis Leeds seinem ebenfalls politisch aktiven Sohn Herbert offen zu lassen und selbst in Midlothian zu kandidieren.
Rosebery wurde zu Gladstones Wahlkampfmanager. Rosebery unterhielt seit Jahren freundschaftliche Beziehungen zu Disraeli, der in ihm einen Seelenverwandten sah und ihn gern als Konservativen gesehen hätte. Aufgrund der starken Whig-Tradition seiner Familie blieb Rosebery jedoch ein Liberaler. Im Oberhaus saß er seit Mai 1868; jedoch war er dort nur mäßig aktiv gewesen und beschrieb es als einen „vergoldeten Käfig“, teils auch, weil sich die Liberalen dort permanent in der Minderheit befanden. Grundsätzlich von einer stark paternalistischen Haltung, hegte er auch Sympathien für die britische Arbeiterklasse und hatte in der Vergangenheit eine öffentliche Kampagne gegen die Ausbeutung von Kindern in den Ziegeleien von Glasgow gestartet. Rosebery zeigte sich fasziniert von amerikanischen Wahlkämpfen; nachdem er im Jahr 1873 die National Convention der Demokratischen Partei in New York besucht hatte, sprach er von einer großartigen politischen Lektion. Als Wahlkampfmanager begann er nun unter großem finanziellen Aufwand damit, seine Erfahrungen aus den USA einzubinden, einige amerikanische Methoden zu übertragen und in Gladstones Wahlkampf einzubringen.
Roseberys Neuerungen waren für die bisherigen Wahlkämpfe des Viktorianischen Zeitalters beinahe revolutionär: Die Kandidaten sprachen bis dato für gewöhnlich nur selten vor großem Publikum und besuchten oft noch eher die großen Landhäuser, um sich vor Ort die Unterstützung wichtiger Magnaten zu sichern. Zudem konzentrierten sie sich vor allem auf ihre Präsenz im Unterhaus, da die Unterhausdebatten in den Zeitungen ausführlich abgedruckt wurden. Im Gegensatz hierzu wurde der Wahlkampf nun zu einer Massenveranstaltung, bei dem sich der Kandidat an die gesamte Bevölkerung des eigenen Wahlkreises richtete. Dies sorgte für eine Maximierung der Aufmerksamkeit, da die abgedruckten Unterhausdebatten viele Teile der Leserschaft nicht ansprachen, die direkte Form der Kommunikation zwischen Kandidat und Wählerschaft durch Wahlkampfreden (die ebenfalls am nächsten Tag abgedruckt wurden) dagegen eine viel höhere Aufmerksamkeit erzielte. Im Vorfeld wurden zum Teil große Räumlichkeiten für die Auftritte angemietet; die Veranstaltungen wurden, wie in den USA bereits erprobt, oft von großen Umzügen, Fackelzügen, Reiterparaden und abschließendem Feuerwerk begleitet. Außerdem wurden Musikkapellen engagiert, Triumphbögen installiert und werbende Transparente aufgehängt. Dazu war die Kampagne auch von Anfang an als ein mediales Event kreiert und viel Sorgfalt darauf verwendet worden, der anwesenden Presse optimale Bedingungen für ihre Berichterstattung zu schaffen. Auch wenn der äußerst medienbewusste Gladstone sich vordergründig an die schottische Wählerschaft im Wahlkreis zu richten schien, zielte die Kampagne eigentlich auf die Nation. Dazu gab Rosebery in Kenntnis der jeweiligen örtlichen Verhältnisse Gladstone auch konkrete Vorschläge, auf welche jeweiligen Sachthemen dieser sich bei seinen verschiedenen Auftritten besonders konzentrieren solle.Die Neuerungen Roseberys waren zugeschnitten auf die im Jahr 1867 erfolgte deutliche Ausweitung des Wahlrechts, die noch von Disraelis Konservativen im Verbund mit parteiinternen liberalen Gegnern Gladstones im großen Reform Act 1867 verabschiedet worden war und die Zahl der Wahlberechtigten schlagartig von ca. 1,4 Millionen auf 2,5 Millionen erhöht hatte. Dabei zeichnete sich ab, dass ein größerer Teil der Arbeiterwähler eher zur Liberalen Partei hin tendierte. Gladstones persönliche Reputation, verbunden mit dem radikaleren linken Liberalismus, der soziale Reformen propagierte, ließ die Arbeiterklasse in ihrer Mehrheit die Liberalen wählen.
== Gladstones Wahlkampagne ==
Roseberys Familiensitz, Dalmeny House, wurde zu Gladstones Basis für die Dauer der Wahlkampagne. Obwohl die nächsten Unterhauswahlen noch in weiter Ferne lagen, wollte Gladstone sich bereits vorzeitig positionieren. Am 24. November, dem Beginn der Wahlkampagne, reiste er von Liverpool aus per Zug an. Auf jedem Zwischenstopp, in Carlisle, Hawick und Galashiels, gab er vom Zug aus – Rosebery hatte zu diesem Zweck aus den USA eigens einen neuartigen Pullman-Salonwagen mit einer Plattform am Wagenende geordert – kurze Ansprachen an die Bevölkerung der Zwischenstationen.Über einen Zeitraum von zwei Wochen hielt er im und um den Wahlkreis von Midlothian herum insgesamt 30 Reden. In der ersten Woche hielt er neun Reden und konzentrierte sich dabei auf Midlothian. Die Kampagne fand sofort großen Zuspruch, bei seinen Auftritten konnte er gewöhnlich vor jeweils mehreren tausend Menschen reden. Begeistert über das Momentum der eigenen Wahlkampagne, vermerkte er in seinem Tagebuch gewissenhaft die Zahl der Zuschauer bei jedem seiner Auftritte. Dabei beschränkte sich das Publikum nicht auf lokale Zuhörer, teilweise reisten Interessierte auch aus dem übrigen Schottland an. Auch ging das Publikum weit über die tatsächlich Wahlberechtigten hinaus; auch Frauen besuchten in großer Zahl die Wahlkampfveranstaltungen. Die britische Presse berichtete sehr eingehend über die Wahlkampagne und druckte, wie für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich, Gladstones Ansprachen in ihren Artikeln am nächsten Morgen ab. Dadurch erreichte die Kampagne nationale Bedeutung weit über die Grenze des Wahlkreises hinaus. Allerdings waren durchweg nicht alle Pressestimmen freundlich; das Leitmedium, die Londoner Times, hinterfragte in ihrem Leitartikel vom 29. November, ob das Land sich wirklich wünsche, dass öffentliche Angelegenheiten mit einer Rhetorik erörtert werden müssten, die viel mehr einen Mob ansprechen würden.Viele der Reden Gladstones dauerten bis zu fünf Stunden. Er zog inhaltlich einen weiten Rahmen und deckte das ganze Feld der Politik ab. Gewöhnlich hielt er vor seinen Zuhörern kurze Ausführungen über Grundprinzipien der liberalen Partei, gemischt mit seinen starken (anglikanischen) religiösen Überzeugungen. Anschließend widmete er sich ausführlich Außen- und Innenpolitik. Ein starkes Element der Reden war zudem die Verdammung des „Beaconsfieldismus“, den er als unmoralisch brandmarkte.
Bezogen auf die Außenpolitik der Konservativen kritisierte er das Abenteurertum der Regierung und beklagte in sentimental gezeichneten Bildern die Opfer von Premierminister Disraelis Kolonialkriegen. Den zweiten britisch-afghanischen Krieg bezeichnete er als übermütigste Invasion; die Heiligkeit des Lebens sei in den schneebedeckten Dörfern Afghanistans genauso unverletzbar wie die seiner britischen Zuhörer. Er beklagte auch den Krieg gegen die Zulus, die nur ihr eigenes Land verteidigt hätten. Dazu attackierte er die Annexion des Transvaal. Zudem warf er Disraeli Verrat an den Idealen Palmerstons und Cannings vor. Er legte drei Leitsätze vor, auf denen die britische Außenpolitik basieren solle. Neben der materiellen Wohlstandsvermehrung des britischen Empires und der Zusammenarbeit im europäischen Konzert der Großmächte zeichnete er das Idealbild einer auf universellen Werten basierten Weltgemeinschaft, die die Schwachen beschützen solle.Innenpolitisch kritisierte er vor allem das Finanzgebaren der Konservativen. So griff er in seiner Rede vom 29. November das verschwenderische Verhalten der Regierung an: Den Schatzkanzler, Sir Stafford Northcote, habe er in sechs Jahren der konservativen Regierung seltenst ein resolutes Wort über ökonomische Fragen reden hören. Die solide und vernünftige Geldwirtschaft der Vergangenheit erst unter Peel und dann ihm selbst sei unter der konservativen Regierung komplett aufgegeben worden. In der zweiten Woche verließ Gladstone Midlothian und Umgebung und reiste auch in diverse andere schottische Städte. Nach einer Pause über die Weihnachtstage nahm er im neuen Jahr den Wahlkampf wieder auf. Obwohl formell nur ein einfacher Hinterbänkler, stellte er mit der Midlothian-Kampagne die offiziellen Führer seiner Partei weit in den Schatten und untermauerte damit seine Ambitionen auf das Amt des Premierministers. Für den Fall eines liberalen Wahlsiegs wurde so sein unausgesprochener Anspruch auf die Führerschaft der Partei und das Premierministeramt immer wahrscheinlicher.
== Der Liberale Wahlsieg 1880 ==
Disraeli gab sich betont gelassen und vermied jede öffentliche Reaktion. Obwohl er und das Kabinett die Auflösung des Parlaments und eine Unterhauswahl erst für 1881 geplant hatten, bewirkten zwei überraschende konservative Siege bei Nachwahlen einen Stimmungsumschwung im Kabinett. Im März 1880 wurde das Parlament kurzfristig aufgelöst und Neuwahlen anberaumt.
Die Konservativen befanden sich jedoch von Anfang an im Nachteil. Mit Premierminister Disraeli, Außenminister Lord Salisbury und Lord Cranbrook saßen ihre drei stärksten Redner mittlerweile alle im Oberhaus und waren somit vom aktiven Wahlkampf ausgeschlossen. Sir Stafford Northcote, seit Disraelis Nobilitierung der Führer der konservativen Mehrheitsfraktion im Unterhaus, galt hingegen als äußerst schwacher Redner, der keine positive Wirkung auf die konservative Kampagne entfalten konnte. Disraeli hatte ihn zu einem Zeitpunkt als seinen Nachfolger als konservativer Führer im Unterhaus installiert, als er noch davon ausging, dass Gladstones Ruhestand permanent sein würde. Er bereute diese Entscheidung schnell, als eine entschlossene Führung der konservativen Fraktion im Unterhaus und ein kämpferischer Debattenstil benötigt wurden, um den scharfen Attacken Gladstones zu widerstehen. Beides konnte Northcote jedoch nicht liefern, da er als zaghaft und defensiv galt. Die ökonomische Krise der Landwirtschaft in Großbritannien traf die konservative Partei besonders hart, da der landbesitzende Adel ihre traditionelle Basis bildete. Geringere Pachteinnahmen in den letzten Jahren führten zu reduzierten Zuwendungen für die Wahlkampffonds der Tories. Die konservative Kampagne konzentrierte sich darauf, die Wähler vor den Liberalen zu warnen, da diese Home Rule (also eine Eigenverwaltung) im britischen Irland einführen würden. Dieses Thema sollte zwar in den nächsten Jahren auf die politischen Tagesordnung treten, war jedoch zum Zeitpunkt der Unterhauswahl von 1880 für die Wähler noch ein gewöhnungsbedürftiges neues Thema und deshalb nicht wahlentscheidend.
Dazu war die liberale Wahlmaschinerie bereits gut eingespielt, während ihr konservatives Gegenstück von der kurzfristig getroffenen Entscheidung zur vorgezogenen Neuwahl selbst überrascht wurde. Gladstone nahm seine Kampagne mit neuerlicher Energie auf. Inhaltlich wiederholte er seine Reden aus dem vergangenen Jahr; bei einer Rede in Midlothian beschrieb er zudem den Wahlkampf als einen „Kampf zwischen den Klassen und den Massen“.Die Unterhauswahlen vom 31. März bis zum 27. April 1880 führten zu einer großen liberalen Mehrheit. Landesweit betrug der Schwenk über 100 Sitze. Gladstone selbst gewann den Wahlkreis mit einer Mehrheit von 211 Stimmen (1579 zu 1368 Stimmen) gegen Lord Dalkeith. Landesweit wurde die Unterhauswahl als Triumph Gladstones angesehen. Königin Viktoria, im süddeutschen Baden-Baden weilend, zeigte sich angesichts des Wahlausgangs schockiert. Seit langem war sie stark für Disraeli eingenommen und hatte noch 1879 geäußert, dass sie Gladstone niemals wieder als Minister akzeptieren könne, da sie nach dessen „brachialen, boshaften und gefährlichem Verhalten in den letzten drei Jahren niemals auch nur einen Funken Vertrauen in ihn haben könne.“ Aus diesem Grund lud sie zunächst mit Lord Hartington den Führer der Liberalen dazu ein, eine neue Regierung zu bilden. Hartington gab ihr jedoch zu verstehen, dass keine liberale Regierung ohne Gladstone gebildet werden könne, dieser jedoch jede Beteiligung kategorisch ablehne, sofern er nicht selbst der Premierminister sei. Obwohl formell nicht der Oppositionsführer, lud Königin Victoria daraufhin Gladstone (gegen ihren eigentlichen Willen) dazu ein, als Premierminister eine neue Regierung zu bilden. Dieser bildete nachfolgend sein zweites Kabinett.
Er bot Rosebery einen Posten als Untersekretär im Indien-Office an; enttäuscht darüber, keinen Kabinettsposten erhalten zu haben, lehnte dieser das Angebot jedoch ab. Durch die Midlothian-Kampagne hatte er es allerdings ebenfalls zu landesweiter Bekanntheit gebracht und wurde in den Augen der politischen Beobachter zur Leitfigur des Liberalismus in Schottland. In den folgenden Jahren entwickelte er sich zudem zum wichtigsten Vertreter schottischer Interessen im politischen Betrieb Westminsters; es wird vor allem seinem Engagement zugeschrieben, dass Gladstone in seiner dritten Amtszeit schließlich den Posten eines Minister für Schottland schuf.
== Historische Relevanz der Midlothian-Wahlkampagne ==
Die Midlothian-Kampagne gilt als die erste moderne Wahlkampagne in der politischen Geschichte Großbritanniens. Zugleich bestätigte die Kampagne auch Gladstones Primat als wichtigster liberaler Politiker seiner Zeit und seinen in früheren Jahrzehnten erworbenen Ruf als äußerst populärer und volksnaher Politiker, der ihm den Spitznamen „The People's William“ (deutsch etwa: Der William des Volkes) eingebracht hatte. Durch seinen Erfolg konnte Gladstone sich für die nächste Dekade erneut als dominante Figur der Liberalen Partei etablieren und die liberalen Parteiführer im Kampf um das Amt des Premierministers ausstechen.
Max Weber urteilte 1919 in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ über Gladstones Kampagne, dass ein cäsaristisch-plebiszitäres Element in die Politik trat: der Diktator des Wahlschlachtfeldes sei auf den Plan getreten. Paul Brighton widersprach Max Weber 2016 teilweise; dieser habe insofern den eigentlich entscheidenden Punkt verkannt, da das Charisma und der persönliche Kontakt beim Auftritt im Vergleich zur anschließenden massenkompatiblen Presseberichterstattung insgesamt nachrangig zu bewerten sei. Erst durch die Massenmedien des 20. Jahrhunderts wie Radio und Kino sei die von Weber beschriebene Wirkung tatsächlich in dieser Form erzielt worden.In den Worten D. C. Somervells (1925) kehrte Gladstone jedoch nicht mehr nur als der alte Gladstone, der bloße Nachfolger Peels, zurück auf die politische Bühne; vielmehr sei er zurückgekehrt als „der Vorreiter des Vorkriegs-Lloyd George, der wohlbekannte Grand Old Man der Achtziger, der größte aller britischer Demagogen.“Im Urteil Robert Blakes injizierten Gladstones Kampagnen eine Bitterkeit in die politische Landschaft Großbritanniens, die seit dem Streit um die Korngesetze unerreicht gewesen sei. Er sah in der Midlothian-Kampagne einen grundsätzlichen Konflikt, der stellvertretend durch die beiden Antipoden Gladstone und Disraeli repräsentiert wurde, nämlich ein höheres moralisches Recht, durch Gladstone vorgetragen, und den bleibenden nationalen Interessen, vertreten durch Disraeli.Patrick Jackson sah in seiner 1994 erschienenen Biographie von Lord Hartington in der Midlothian-Kampagne ein hybrides Amalgam aus alten und neuen Wahlkampfmethoden; viele Reden seien sehr prosaisch für moderne Leser, dennoch sei es schwer, sich der Wirkung mancher Passagen zu entziehen. H. C. G Matthew urteilte, dass die Midlothian-Kampagne wenig mit dem Parlamentssitz an sich zu tun hatte. Vielmehr sei es darum gegangen, Gladstoniasmus als die dominante Strömung in der Liberalen Politik zu etablieren und die erst seit kurzem bei Wahlen berechtigten neuen Wählerschichten zu gewinnen. Die wahre Zielgruppe sei die zeitungslesende Öffentlichkeit des Landes gewesen.Roy Jenkins meinte 1995 in seiner Biographie über Gladstone, dass dessen Rhetorik 1876 stärker gewesen sei als seine tatsächliche Kenntnis der Situation in Bulgarien. Er sah den liberalen Wahlsieg 1880 jedoch als einen von Gladstone kreierten Erfolg.In seiner Biographie über Disraeli aus dem Jahr 2000 erschien Edgar Feuchtwanger Gladstones Midlothian-Kampagne im Rückblick als ein bedeutender Schritt zur modernen politischen Überzeugungsarbeit. Seine Strategie, die Menschen sowohl auf der moralischen als auch auf der Sachebene anzusprechen, sei eine kraftvolle Strategie gewesen.
2009 sah John Campbell Gladstones Midlothian-Kampagne mit seiner moralischen Passion als die Inspirationsquelle für die Friedensbewegung in den 1920er-Jahren, die Ostermärsche der nuklearen Abrüstungsbewegung in den 1950ern und die Gegner des Irakkriegs 2003. Gleichzeitig fühlten sich nicht nur die Gegner des Irakkrieges 2003, sondern auch Tony Blair in seinem moralbasierten außenpolitischen Interventionismus von Gladstones Kampagne inspiriert. Dominik Geppert argumentierte 2019 diesbezüglich, dass Tony Blairs Außenpolitik in direkter Tradition einer bestimmten britischen Außenpolitik stehe, die man als „gladstonianische Außenpolitik“ bezeichnen könne. Die Moralisierung der Außenpolitik, wie sie Blair ganz offen betrieben habe, sei direkt auf den gemeinsamen religiösen Antrieb der beiden Premiers zurückzuführen; insofern habe sich Blair auch ganz offen in der Kosovokrise 1999 auf Gladstones Midlothian-Kampagne berufen.
== Literatur ==
Richard Aldous: The Lion and the Unicorn. Gladstone vs Disraeli. Pimlico, London 2007, ISBN 978-1-84413-312-3, S. 257–305.
Robert Blake: Disraeli. Prion, London 1998, ISBN 1-85375-275-4 (EA London 1967)
deutsch: Disraeli. Eine Biographie aus viktorianischer Zeit. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-7973-0360-2 (übersetzt von Klaus Dockhorn).
Dominik Geppert: Tony Blair, der Irak-Krieg und das Erbe Wiliam Ewart Gladstones. In: Peter Geiss, Dominik Geppert, Julia Reuschenbach (Hrsg.): Eine Werteordnung für die Welt? Universalismus in Geschichte und Gegenwart. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019, ISBN 978-3-8487-5378-9, S. 309–331.
W. E. Gladstone: Midlothian Speeches 1879. Leicester University Press, Leicester 1971, ISBN 0-7185-5009-9.
Patrick Jackson: The Last of the Whigs: A Political Biography of Lord Hartington, Later Eight Duke of Devonshire. Associated University Presses, London 1994, ISBN 0-8386-3514-8, S. 97–114.
Roy Jenkins: Gladstone: A Biography. Macmillan, London 1995, ISBN 0-333-60216-1, S. 399–434. (Whitbread-Preis für Biographie 1995)
Dick Leonard: The Great Rivalry: Gladstone and Disraeli. IB Tauris, London 2013, ISBN 978-1-84885-925-8, S. 157–183.
H. C. G Matthew: Gladstone: 1809–1898. Clarendon Press, London 1997, ISBN 0-19-820696-8, S. 293–313.
R. W. Seton-Watson: Disraeli, Gladstone, and the Eastern Question: A Study in Diplomacy and Party Politics. W.W. Norton & Company, London 1935 (Nachdruck 1971), ISBN 978-0-393-00594-3.
Richard Shannon: Gladstone Volume II. 1865–1898. Penguin, London 1999, ISBN 0-8078-2486-0, S. 230–248.
== Weblinks ==
Siegeszug der Wahlmaschine – Marco Althaus: Siegeszug der Wahlmaschine, Politik & Kommunikation, Februar 2012
Auszug aus der 3. Midlothian-Rede (englisch)
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Midlothian-Kampagne
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Murellenberge, Murellenschlucht und Schanzenwald
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= Murellenberge, Murellenschlucht und Schanzenwald =
Die Murellenberge, die Murellenschlucht und der Schanzenwald sind eine in der Weichseleiszeit entstandene Hügellandschaft in der Berliner Ortslage Ruhleben im Ortsteil Westend des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf. Das Gebiet befindet sich westlich des Olympiageländes. Der größte Teil der Stauch- und Endmoränenlandschaft ist als Naturschutzgebiet Murellenschlucht und Schanzenwald ausgewiesen, das zum Biotopverbund Fließwiese Ruhleben, Tiefwerder Wiesen und Grunewald gehört. Etwa 1 1⁄2 Kilometer nordöstlich des Gebietes (ab Murellenberg) liegt das Naturdenkmal Murellenteich.
Die Murellenberge (oft als ‚Murellenberg‘ bezeichnet, früher: Morellenberge) sind Teil des Teltownordbandes, das den nördlichsten Ausläufer des Teltowplateaus zum Berliner Urstromtal bildet. Der Zusammenhang des ursprünglichen Naturraums ging durch den Stadtbau weitgehend verloren. Die bis zu 62 Meter hohen Berge und der bis zu 30 Meter eingeschnittene Talkessel weisen insbesondere in ihren Trockenrasenbereichen eine vielfältige und bestandsbedrohte Flora und Fauna auf. Über 150 Jahre als Militär- und Polizeigelände genutzt, konnten sich im Schanzenwald die Waldbestände nahezu ungestört entwickeln. Im östlichen Teil der Schlucht entstand 1936 unter Leitung des Architekten Werner March die Waldbühne. Die Nationalsozialisten richteten in den Bergen eine Hinrichtungsstätte für Deserteure und sogenannte „Wehrkraftzersetzer“ ein. Die Installation Denkzeichen zur Erinnerung an die Ermordeten der NS-Militärjustiz am Murellenberg der Künstlerin Patricia Pisani aus dem Jahr 2002 erinnert an die Opfer.
== Lage des Gebiets und Etymologie ==
Das ursprünglich deutlich ausgedehntere und heute zum Teil zersiedelte Hügelgebiet reicht bis in den Mündungsbereich der Spree in die Havel. Es umfasst über das heutige Naturschutzgebiet hinaus ein polizeiliches Übungsgelände und daran nach Norden anschließend den Friedhof Ruhleben. Der lange für militärische Zwecke genutzte Teil des Schanzenwalds westlich des Polizeigeländes ist heute wieder weitgehend zugänglich und Teil des Naturschutzgebietes. Nach Westen begrenzt der ab 1907 aufgeschüttete Damm der Spandauer Vorortbahn das Gelände. Die Eisenbahntrasse bildet zudem die Grenze zwischen den Bezirken Charlottenburg-Wilmersdorf und Spandau. Nach Süden und Osten schließen heute, vereinfacht dargestellt, die Murellenschlucht und ihre Fortsetzung in der Fließwiese Ruhleben das Gelände ab. Im Norden begrenzt der Hempelsteig das Gebiet, dessen Verlauf in etwa dem ehemals gebietstrennenden und zugeschütteten Elsgraben folgt.
Der Namensbestandteil Murellen oder früher Morellen wird vom Brandenburgischen Namenbuch auf die Morelle (= Weichselkirsche) zurückgeführt. Auch in einem Lexikon zu Berlins Straßennamen findet sich unter Murellenweg, der von der Fließwiese Ruhleben in die Siedlung Ruhleben führt, der Eintrag: „Murellen, verwilderte Kirschen, die den Murellenbergen ihren Namen gaben.“ Eine Ableitung aus Moräne (von französisch moraine ‚Geröll‘), die auf die geologische Struktur des Gebiets abhebt, lässt sich nicht verifizieren.
== Geologie und Klima ==
=== Nordband des Teltow ===
Geologisch gehören die Murellenberge wie auch der Grunewald zum Teltowplateau, das nach Westen in der Havelniederung und nach Norden in dem Berliner Urstromtal, das von der Spree durchflossen wird, ausläuft. Die Havel trennt die weichseleiszeitliche Teltowhochfläche von der nordwestlich gelegenen Nauener Platte mit Gatow und Teilen von Wilhelmstadt. Die Spreeniederung scheidet das Plateau vom Barnim. Während die Grundmoränenplatte des Teltow in weiten Teilen flachwellig ausgebildet und von Geschiebemergel bestimmt ist, dominieren im Grunewald außergewöhnlich mächtige (20 Meter und mehr) Schmelzwassersande aus der Vorstoßphase des Inlandeises. Im Bereich um Schildhorn, dem Pichelsberg und den Murellenbergen hat das vorstoßende Eis die Sande zudem kräftig gestaucht (gestört), sodass hier ein bewegtes Relief einer Stauch-/Endmoräne das Landschaftsbild bestimmt. Die Nordkante des Teltow verläuft von den Murellenbergen entlang der Murellenschlucht weiter nach Norden und wendet sich kurz nach dem Erreichen der Fließwiese Ruhleben nach Nordosten. Sie führt um den Murellenteich herum und weiter über die ehemalige Spandauer Spitze am ehemaligen Spandauer Bock und dem Ruhwaldpark zum Steilhang oberhalb der Mineralwasserquelle Fürstenbrunn. An dieser Stelle, südlich der heutigen Rohrdammbrücke, erreicht das Teltowplateau seinen nördlichsten Punkt. Danach knickt die Teltowkante entlang des Schlossgartens Charlottenburg nach Südosten ab.Das heutige Trockental Murellenschlucht stellt eine ehemalige Toteisrinne dar, die sich bis zu 30 Meter tief in die Hügellandschaft einschneidet. Die bis zu 100 Meter breite Schlucht verläuft am Südrand des Gesamtareals und trennte die Murellenberge vom Pichelsberg, der wie die Murellenberge eine Höhe von 62 Metern aufweist und heute fast vollständig überbaut ist. Nach Westen reichte die Abflussrinne ursprünglich über den Havelaltarm Hohler Weg bis zum Stößensee. In der anderen Richtung biegt sie nach Norden ab und setzt sich im Verlandungsmoor und Naturschutz- sowie Natura-2000-Gebiet Fließwiese Ruhleben fort. Der nordwestlich gelegene Schanzenwald gehört bereits zum Talsandbereich der Spreeniederung im Urstromtal. (Zum gesamten Nordband des Teltow und seiner Lage zur Spreeniederung → siehe historische Karte.)
=== Findlinge ===
Von der landschaftsprägenden Kraft des Eises in den Murellenbergen zeugen zahlreiche Findlinge. Zwei der erratischen Blöcke stehen als Naturdenkmal (NDM) unter Schutz: der eine liegt in der Murellenschlucht (NDM VII-6F), der andere (NDM VII-5F) wurde 1968 von der Murellenschlucht auf die Wiese am südlichen Ausgang des hochgelegenen U-Bahnhofs Ruhleben gebracht. Während die Findlinge der Schlucht und der Berge ansonsten hauptsächlich aus Granit bestehen, ist der Stein am Bahnhof aus grauem, mittelkörnigen Sandstein (sogenanntem Braunkohlenquarzit) aufgebaut. Da Geschiebe aus diesem weichen Material nach einer Verdriftung aus Skandinavien in der Regel höchstens Kopfgröße aufweist, kann der rund 1,2 m³ große Brocken anders als Granit- oder Gneisfindlinge nicht einen derart weiten Weg zurückgelegt haben. Fachleute vermuten daher die Region um Stettin oder Bad Freienwalde als Herkunftsort. Seine Abmessung beträgt 1 m × 1 m × 1,2 m und die des Findlings in der Schlucht, der wahrscheinlich aus Biotitgneis oder Alkaligranit besteht, 1,5 m × 1,5 m × 1 m.
=== Klima ===
Die Murellenberge und der Schanzenwald liegen in einer gemäßigten Klimazone im Übergangsbereich vom atlantisch geprägten Klima Nord-/Westeuropas zum kontinentalen Klima Osteuropas. Das Klima entspricht dem der Berliner Stadtrandlagen. Dabei gehören Teile der Murellenschlucht, die einmal der Kuhle Grund geheißen haben soll, zu einer der innerstädtischen „Kälteinseln“.
Siehe auch: Abschnitt Klima im Artikel Berlin
== Naturräumliche Entwicklung und urbane Eingriffe ==
Durch zunehmende Bebauung hat die eiszeitlich geprägte Landschaft der Murellenberge im letzten Jahrhundert ihre Anbindung an die umliegenden Landschaftsteile und „ihren ursprünglichen Charakter in vielen Bereichen verloren.“
=== Verlorene Anbindung an den Grunewald (Süden) ===
Die Nordgrenze des Forsts und Landschaftsraums Grunewald wird heute in der Regel mit der Heerstraße gezogen, sodass die nördlich der Straße liegenden Murellenberge vom Grunewald ausgespart sind. Früher gehörten die Berge, die Schlucht und der Schanzenwald zum Forst beziehungsweise zur Teltower Heide und Spandower Heide, wie der Grunewald vorher hieß. So bezeichnet die Preußische Kartenaufnahme von 1835 die Murellenschlucht als Tal innerhalb der Spandauer Heide. Die Abtrennung der Murellenberge vom heutigen Landschaftsraum Grunewald erfolgte ab 1907 mit dem Bau der Rennbahn Grunewald und des Deutschen Stadions auf ehemaligem Grunewaldgelände und dem gleichzeitigen Bau der Heerstraße und der Spandauer Vorortbahn, die den ausgedehnten Naturraum des Grunewalds von West nach Ost durchschnitten. Weitere Bauten zu den Olympischen Spielen 1936, insbesondere im Bereich der Glockenturmstraße, verengten die Waldverbindung. Mit dem Bau der Hochhaussiedlung an der Angerburger Allee in den 1960er Jahren ging die direkte Grünverbindung des Areals Murellenberge/Schanzenwald an den Grunewald endgültig verloren. Forstamtlich ist das Areal allerdings nach wie vor dem Grunewald zugeordnet, indem es zur Revierförsterei Saubucht gehört.Im Zuge der Baumaßnahmen zu den Sommerspielen 1936 entstand im Ostteil der Murellenschlucht unter der Leitung von Werner March nach Plänen von Conrad Heidenreich die Waldbühne, eine Freilichtbühne mit Platz für 22.000 Zuschauer. Der Bau in Form eines natürlichen Talkessels bedeutete einen erheblichen Eingriff in den Naturraum, auch wenn die natürlichen Hangneigungen der Murellenberge weitgehend beibehalten wurden. Die Südböschung und Teile der Schlucht wurden zwischen 1948 und 1950 zudem mit Trümmerschutt verfüllt. Auf der Aufschüttung stehen heute die neue Eissporthalle und die Zentral-Gebäude des darunter angelegten Erdgasspeichers Berlin der Gasag.
=== Trennung von Tiefwerder (Westen) ===
Westlich des Areals schließen sich Tiefwerder und das Landschaftsschutzgebiet Tiefwerder Wiesen an, eines der letzten Berliner Überschwemmungs- und Laichgebiete für den Hecht. Das von Havelaltarmen durchzogene Naturschutzgebiet reicht zwar auf 100 Meter an das Areal Murellenberge / Schanzenwald heran, dennoch stellen die Havelchaussee und der Bahndamm eine naturräumliche Barriere zwischen den Gebieten dar. Der Bau der Havelchaussee zwischen 1876 und 1885 als Wald- und Verbindungsweg von der Gemeinde Zehlendorf nach Spandau brachte den ersten großen Einschnitt in den westlichen Naturraum des Areals. Die Anlage der Chaussee erfolgte in diesem Bereich parallel zum Alten Postweg. Zwischen dem Postweg und der Chaussee wurde dann ab 1907 der endgültig trennende Damm der Spandauer Vorortbahn, bekannt auch als „Olympiabahn“, aufgeschüttet. Die Anlage der heutigen S-Bahn erfolgte im Zuge der Vorbereitungen zu den Olympischen Sommerspielen, die bereits für 1916 geplant waren, wegen des Ersten Weltkriegs ausfielen und erst 20 Jahre später in Berlin stattfanden. Der Alte Postweg verläuft seitdem östlich neben der S-Bahn-Trasse und bildet heute den westlichsten Wanderweg im Schanzenwald.
=== Ehemalige Nordbegrenzung Elsgraben ===
Eingriffe in den Nordbereich des Schanzenwalds erfolgten bereits 1840 mit der Errichtung von Kasernen, Schießständen und den namengebenden Schanzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gelände von der britischen Besatzungsmacht als militärisches Übungsgelände genutzt. Seit 2007 ist es als zurückgewonnene Erholungsfläche wieder öffentlich zugänglich. Ein Teil wurde dem NSG Murellenschlucht und Schanzenwald eingegliedert. (→ siehe Kapitel „Schanzenwald“.) Nordöstlich neben dem ehemaligen Militärgelände befindet sich ein noch heute von der Polizei genutztes Übungsgelände, dem nach Norden der 1952 angelegte Friedhof Ruhleben folgt. „Das Konzept eines im umgebenden Gelände integrierten ‚offenen Friedhofes‘ wurde nicht realisiert.“Noch vor dem Bau der Kasernen und Schanzen entstand ab 1832 der Elsgraben, der für ein Jahrhundert die Nordgrenze des Hügelgeländes bildete. Der Wassergraben verband die (alte) Spree gegenüber der damaligen Otternbucht (ungefähr in Höhe des heutigen Heizkraftwerks Reuter) mit dem Faulen See in Tiefwerder, der wiederum über mehrere Havelaltarme und den Stößensee – noch heute – mit der Havel verbunden ist. Der bis 1886 schiffbare Graben sollte Spandau bei Hochwasser schützen, indem er das Wasser bereits vor der Stadt zur Havel leitete. Zudem sollte er die umliegenden Gebiete entwässern und einer besseren landwirtschaftlichen Nutzung zuführen. In Zusammenarbeit mit Borsig ließ Friedrich Neuhaus die erste deutsche schmiedeeiserne Gitterbrücke über den Elsgraben bauen. Mit der Kanalisierung der Unterspree in den 1880er Jahren verlor der Elsgraben seine Bedeutung und wurde bis etwa 1930 nach und nach zugeschüttet. Seinem Verlauf folgen heute in etwa der Hempelsteig und der Elsgrabenweg im Spandauer Teil von Ruhleben, der im Berliner Stadtbild die letzte Erinnerung an den Graben darstellt.
Die Anlage des Elsgrabens hatte erheblichen Einfluss auf den Wasserhaushalt der Murellenberge und der Murellenschlucht. Insbesondere über die Fließwiese Ruhleben entwässerte die Region in den Graben mit der Folge, dass der Wasserstand des Verlandungsmoores sank. Die Entwässerung ist seit der Aufschüttung des Hempelsteigs im Jahr 1936 mit dem Aushub aus der Waldbühne unterbrochen.
=== Einbindung des Naturdenkmals Murellenteich (Nordosten) ===
Das Nordband der Teltowkante erreicht rund 1 1⁄2 Kilometer nordöstlich der Murellenschlucht und 700 Metern östlich der Fließwiese Ruhleben den Murellenteich. In der Niederung unterhalb der Plateaukante entstand in den 1920er Jahren auf dem Gelände eines ehemaligen Schießplatzes die Siedlung Ruhleben mit ein- und zweigeschossigen Häusern. Südlich davon auf dem Plateau wurde zeitgleich das Deutsche Sportforum auf dem heutigen Olympiagelände errichtet. So ist die baumbestandene Senke des Naturdenkmals Murellenteich nur mehr durch den schmalen, bewaldeten Hang zwischen Siedlung und Sportforum an die Murellenberge angebunden. Die historische Karte von 1842, die das Gebiet noch ohne jede Bebauung zeigt, verdeutlicht den ursprünglich zusammenhängenden Naturraum.
Das Land Berlin rechnet das Naturdenkmal dem Waldgelände der Hügellandschaft zu und führt es in seiner Darstellung des NSG Murellenschlucht und Schanzenwald mit an: „In seiner Ausdehnung stellt der strukturreiche Laubmischwald, der sich vom Murellenteich nach Westen über die Murellenschlucht, den Murellenberg und den nördlich angrenzenden Schanzenwald bis zum Polizeigelände erstreckt, für Berliner Verhältnisse eine Besonderheit dar.“ Im Biotop- und Artenschutz führt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz den Teich unter der Rubrik „Naturschutzgebiete/Naturdenkmale mit flächenhafter Ausprägung“ als Typ „PfW“. Dabei steht „Pf“ für „Pfuhle und andere Kleingewässer“ und „W“ für „Arten der Wälder (Wälder/Waldparkanlagen innerhalb siedlungsgeprägter Räume)“ Der damals noch deutlich größere Teich wurde bis 1935 als Militärbadeanstalt genutzt und verfügte über einen langen Badesteg und einen Sprungturm.Durch eine Unterführung unter dem Hamburger Stadtbahnanschluss hindurch war der Murellenteich mit der Ausflugsgaststätte Spandauer Bock verbunden, die sich aus einem 1840 eröffneten kleinen Ausschank des Bierbrauers Conrad Bechmann entwickelte. Gegenüber auf der Nordseite des Spandauer Damms auf der sogenannten Spandauer Spitze, befand sich Bechmann Brauerei, die Spandauer Berg-Brauerei, sowie der zweite Teil der Gaststätte, im Volksmund nach dem weiblichen Gegenstück zum Bock Zibbe genannt. Eine der Attraktionen der Ende der 1930er Jahre eingegangenen Gaststätte war der imposante Ausblick ins Tal der Spree. Östlich daran anschließend ließ der Zeitschriftenverleger Ludwig von Schaeffer-Voit 1867/1868 von Carl Schwatlo das sogenannte Schloss Ruhwald erbauen und einen großzügigen Landschaftspark, den heutigen Ruhwaldpark, anlegen; 1952 wurde die klassizistische Villa abgetragen.
Die größte Annäherung an die Spree erreichte die Teltownordkante weitere rund 600 Meter nordöstlich an einem 1818 erbauten, ehemaligen Schützenhaus westlich der heutigen Rohrdammbrücke. Nahe der historischen Mineralwasserquelle Fürstenbrunn gelegen, erhielt der vorgelagerte Teltowhügel 1879 den Namen Fürstenbrunner Höhe und später Spandauer Berg, wobei nicht ganz sicher ist, ob der Spandauer Berg die Fläche der sogenannten Spandauer Spitze mit einbezog. Im Zuge des Stadtbaus wurde der Spandauer Berg „reguliert“, wie das Lexikon Berliner Straßen vermerkt.
=== Schanzenwald ===
==== Militärische und polizeiliche Nutzung ====
Die ersten militärischen Anlagen bei den Murellenbergen, zu dieser Zeit noch Spandauer Gebiet, mit Kasernen und Schießständen entstanden um 1840. 1855 nahm die Gewehr-Prüfungskommission auf dem Gelände die Arbeit auf, aus der die Königliche Infanterie-Schieß-Schule Ruhleben hervorging. Das Preußische Militär errichtete in dieser Zeit zudem ringförmig um die Altstadt Spandau und die Zitadelle Schutzwälle und Schanzen. In den 1850er Jahren wurden im Rahmen der Stresow-Befestigung zwei vorgeschobene, äußere und alleinstehende Lünetten am Elsgraben gebaut: die Ruhlebener Schanze nördlich der Mündung des Fließes aus der Murellenschlucht in den Elsgraben und die dem Wald namengebende Teltower Schanze oder Teltower Brück Schanze in der Nordwestecke des heutigen Schanzenwaldes. Beide Schanzen erhielten einen zweigeschossigen Reduit, der sowohl für Gewehr als auch für Geschützverteidigung geeignet war. Diese Befestigungsmethode war zwar spätestens Ende des 19. Jahrhunderts veraltet, dennoch wurde der Schanzenwald für rund 150 Jahre ununterbrochen als militärisches und später polizeiliches Übungsgelände und Schießplatz genutzt. Auf dem Sportplatz Teltower Schanze (Tennisplatz) im Eck Havelchaussee/Elsgrabenweg ist noch ein denkmalgeschützter Rest (Schanze, Graben, Hohlschutzraum und Befestigungsanlage) des Reduitbaus vorhanden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die britischen Alliierten das Sperrgebiet, die es 1994 an die Berliner Polizei übergaben. Nach zähen Verhandlungen einigten sich die Senatsverwaltungen für Inneres und Stadtentwicklung 2004 darauf, die Fläche den Berliner Forsten zu übertragen. Lediglich ein kleiner Restbereich im Norden mit einem Munitionsdepot und der sogenannten Fighting City, in der das britische Militär den Häuserkampf trainierte, blieb bei der Polizei. „Das Kampfdorf wurde von den Briten zur Übung des Häuserkampfs errichtet. Es sind typische städtische Situationen nachgebaut: kleine Häuser, Hochhäuser, eine Kirche, Supermarkt, Tankstelle, Telefonzellen, ein Bahndamm mit ein paar U-Bahnwagen darauf […] Das Übungsgeschehen konnte über Videokameras und Lautsprecher von einer Zentrale aus beobachtet und gelenkt werden.“ Heute bildet die Polizei Sondereinheiten wie das SEK oder den Personenschutz in der Fighting City aus.
==== Renaturierung 2007, Ersatzmaßnahme der Deutschen Bahn ====
Zur Renaturierung des Übungsgeländes wurden „umfangreiche Maßnahmen zur Sicherung und Beseitigung von Gefahrenstellen, Entsiegelung von Wege- und Platzflächen, Abbau von Einfriedungen, Wiederherstellung des Landschaftsbildes und zur Erschließung und Gestaltung des Gebietes“ durchgeführt. Dabei entsiegelte und renaturierte die Berliner Forstverwaltung eine Fläche von 9.400 Quadratmeter, darunter 6.850 m² Wege- und Platzflächen aus Asphalt, Beton und Betonsteinverbundpflaster sowie 2.000 m² massive Gebäude wie Holz- und Metallbaracken und entfernte 2.600 Meter Zaunanlagen, 2.000 m² Schießschutzstände und -mauern sowie 20.800 t Abfälle und Abbruch, davon 6.500 t gefährliche.Die Finanzierung der Maßnahme erfolgte in Höhe von rund 830.000 Euro durch die DB ProjektBau. Die Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn hatte sich zu der Übernahme als naturschutzrechtliche Ersatzmaßnahme für die Beeinträchtigungen in Natur und Landschaft durch das Bauvorhaben der Schnellfahrstrecke Hannover–Berlin, Planfeststellungsabschnitt 1E, gerichtlich verpflichtet. Begleitend wurden Mittel aus dem Umweltentlastungsprogramm der EU (2006) und dem Land Berlin in Höhe von rund 760.000 Euro und weitere 56.000 Euro durch das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf für den Abriss und die Entsorgung der stark belasteten Materialien eingesetzt.Am 28. November 2007 übergab die Umweltstadträtin des Bezirks der Öffentlichkeit die rund 38 Hektar große neue Erholungsfläche, die zudem bis 2009 ein neues Wegenetz erhielt. Zu den Ersatzmaßnahmen der DB gehörte ferner die Öffnung der südlich der Heerstraße am Stößensee gelegenen Waldfläche Am Rupenhorn. Diese Maßnahme führte zur Verlängerung des Havelhöhenwegs bis zur Heerstraße und zu seinem Anschluss an das NSG Murellenschlucht und Schanzenwald, sodass die Verbindung der Murellenberge mit dem Grunewald per Wanderweg wiederhergestellt ist.
== Erschießungsstätte und Mahnmal ==
Neben den urbanen Eingriffen in den Naturraum prägte die Hinrichtungsstätte der NS-Militärjustiz die Geschichte der unbesiedelten Murellenberge.
=== Hinrichtungsstätte der NS-Militärjustiz ===
Entgegen anderslautenden Darstellungen erfolgten die Erschießungen sehr wahrscheinlich nicht direkt in der Murellenschlucht. Nach einer Ortsbegehung im Jahr 1995 mit Zeitzeugen und einer topografischen Analyse kommen als Ort eher eine Fläche nahe dem heutigen Munitionsdepot oder eine Sandgrube im Schanzenwald in Frage. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs verhängten das Zentralgericht des Heeres, das fliegende Standgericht des Heeres und andere Kriegsgerichte über 230 Todesurteile, die auf diesem Erschießungsplatz V der Wehrmacht im Standort Berlin, in der Regel unverzüglich, vollstreckt wurden. Die Urteile, gegen die Rechtsmittel nicht zugelassen waren, galten überwiegend deutschen sogenannten Wehrkraftzersetzern und Deserteuren der Wehrmacht. In Einzelfällen waren auch in die deutsche Wehrmacht zwangsrekrutierte Elsässer französischer Staatsangehörigkeit betroffen. Aktenstudien ergaben, dass darunter ausschließlich politisch motivierte Todesurteile waren, wie bei dem Berufsoffizier und Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 Gustav Heisterman von Ziehlberg. Nach bisherigen Analysen wurden hier zwischen dem 12. August 1944 und dem 14. April 1945 232 Personen erschossen, doch ist von einer höheren Dunkelziffer auszugehen. So sprach der Pfarrer der evangelischen Dorfkirche Staaken in einem Referat 1995 von über 300 Hinrichtungen. 117 der Ermordeten fanden auf dem Spandauer Friedhof In den Kisseln, 81 in Engelsfelde bei Seeburg in nicht gesondert gekennzeichneten Gräbern ihre letzte Ruhestätte.
=== Denkzeichen ===
==== Wettbewerb und Realisierung ====
Nach der Berliner Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2000, bei der das Olympische Dorf auf dem Gelände des Schanzenwaldes errichtet werden sollte, gründete der Pfarrer der Kreissynode Charlottenburg, Manfred Engelbrecht, 1994 die Arbeitsgruppe Murellenschlucht/Olympiagelände mit dem Ziel, einen Gedenkort für die Opfer der NS-Militärjustiz zu schaffen. 1997 einigten sich die Arbeitsgruppe und die Bezirksversammlung Charlottenburg auf einen Entwurf des Architekten und Künstlers Wolfgang Göschel, Mitglied der Architektengruppe Wassertorplatz. Das Mahnmal aus drei stilisierten Hinrichtungspfählen aus Stahl sollte stellvertretend für alle Opfer die Biografien von drei Ermordeten wiedergeben. Als Standort war der Weg zur Waldbühne vorgesehen. Hier sollte das Mahnmal mit der Nazi-Architektur der 1936er Jahre Olympiabauten korrespondieren. Das Projekt scheiterte an Geldmangel.Im Jahr 2000 lud dann die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung neun Künstler zu einem Wettbewerb für die Denkzeichen zur Erinnerung an die Ermordeten der NS-Militärjustiz am Murellenberg ein. Die Jury entschied sich im Jahr 2001 für den Entwurf der argentinischen, in Berlin lebenden Künstlerin Patricia Pisani. Ausgehend von der Glockenturmstraße stellte Patricia Pisani entlang des Waldweges 104 Verkehrsspiegel auf, deren Zahl sich hin zur wahrscheinlich authentischen Erschießungsstätte am Munitionsdepot verdichtet.
Patricia Pisani begründet ihre Überlegungen zur Wahl der Verkehrsspiegel als Kunstobjekt unter anderem damit, dass Verkehrsspiegel zeigen, „was um die Ecke passiert, eine Gefahr oder eine Bedrohung, die sich an einer unübersichtlichen Stelle möglicherweise nähert, aber noch nicht zu sehen ist. Sie zeigen etwas, vom momentanen Standort aus nicht sichtbares: um die Ecke, in die Vergangenheit, in die Zukunft.“ Die 15 mit lasergravierten Texten versehenen Spiegel verweisen auf die Geschichte, den Ort, die NS-Urteile und -Gesetze und gewinnen zum Ort des Geschehens hin eine zunehmend persönliche Ebene mit Zitaten unmittelbarer Erlebnisse von Zeitzeugen, darunter:
Zur Einweihung der Installation am 8. Mai 2002 leitete Ludwig Baumann, Wehrmachtsdeserteur und Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, seine Rede mit dem Zitat Hitlers ein: „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben.“
==== Kritik: Gedenken zweiter Klasse ====
Ludwig Baumann kritisierte in seiner Einweihungsrede des Flächenmahnmals, dass ein Gedenken am authentischen Ort nicht möglich ist. Baumann verwies darauf, dass der Ort am Munitionsdepot nach wie vor zum eingezäunten Polizeigelände gehöre. Allerdings war der Ort vom Denkzeichenweg aus einsehbar, da er in der äußersten Südostecke des Übungsgeländes dicht am Zaun lag. Initiativen, den Platz begehbar zu machen, scheiterten zunächst an der Senatsverwaltung für Inneres. Lothar Eberhardt, der die NS-Erinnerungsarbeit seit Jahren kritisch begleitet, bezeichnet das Mahnmal als „Gedenken zweiter Klasse“. Statt dass der Entwurf Wolfgang Göschels auf dem für viele gut sichtbaren Weg zur Waldbühne realisiert worden wäre, habe sich der Senat für Denkzeichen entschieden, die „im Wald versteckt“ seien. Zu dieser Kritik ist anzumerken, dass ein weiterer Verkehrsspiegel im Stadtraum am ehemaligen Reichskriegsgerichtsgebäude steht und auf das Denkzeichen am Murellenberg verweist.
Inzwischen wurde das gesamte Areal des ehemaligen Munitionsdepots bis hin zum Zaun der Fighting City vollständig geräumt, renaturiert und für die Öffentlichkeit freigegeben. Der vorher unzugängliche Erschießungsort der Wehrmacht ist somit für jedermann erreichbar. Vom Schanzenwald aus über den südlichen Teil der Großen Schießwiese ist das Gebiet außerdem durch einen zusätzlich angelegten Weg von dieser Seite erschlossen worden.
== Naturschutz, Flora und Fauna ==
In der Hügelregion bieten steile Hänge mit Südexposition einer an trockenwarme Verhältnisse angepassten Flora und Fauna selten gewordene Lebensräume. Hier kommen 92 überwiegend gefährdete Bienen- und Wespenarten vor. Die als gesondertes Naturschutzgebiet ausgewiesene Fließwiese Ruhleben wiederum prägt der Bestand an seltenen Wasserpflanzen, ein Schwarzerlenbiotop und der Amphibienreichtum, darunter insbesondere des streng geschützten Kammmolchs, der der Fließwiese die Meldung als Natura-2000-Gebiet einbrachte.
=== Naturschutzgebiet Murellenschlucht und Schanzenwald ===
Das Land Berlin stellte den Kernbereich des Gebiets am 26. Januar 1968 als Naturdenkmal und am 10. März 1993 als Berliner Naturschutzgebiet Nr. 18 unter dem Namen Murellenschlucht und Schanzenwald mit 28,5 ha unter Schutz. Im § 3 führt die Verordnung über das Naturschutzgebiet Murellenschlucht und Schanzenwald im Bezirk Charlottenburg von Berlin als Schutzzweck an:
=== Flora ===
Sandtrockenrasenflächen mit einer gemischten Saum- und Gebüschflora dominieren nicht nur die südexponierten Hangbereiche der Schlucht, sondern unterbrechen auch in den Murellenbergen und dem Schanzenwald, hier insbesondere auf der ehemaligen Großen Schießwiese, das Landschaftsbild. Bemerkenswert ist das Vorkommen der Sand-Strohblume. Der gold- oder zitronengelb blühende Vertreter aus der Familie der Korbblütler gilt als gefährdet und ist nach der Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) besonders geschützt. Scharfer Mauerpfeffer, Kleines Habichtskraut, Binsen-Knorpellattich und Gewöhnliches Ferkelkraut setzen weitere gelbe Akzente. Hellblau heben sich die Blüten des Berg-Sandglöckchens ab, das trockene Sand-Magerrasen oder kalkarme felsige Stellen bevorzugt und wegen seiner Gefährdung zur Blume des Jahres 1990 gewählt wurde. Rot- und Rosatöne ergänzen Kleiner Sauerampfer, Hasen-Klee, Gemeine Grasnelke und Rotes Straußgras sowie Raublatt-Schwingel. Schaf-Schwingel und die Pionierpflanze Silbergras vervollständigen die Familie der Süßgräser auf den trockenwarmen Standorten.Die Wälle der ehemaligen Schießbahnen strukturieren den Schanzenwald, in dem sich durch die über 150 Jahre währende Abschottung Biotopqualitäten relativ ungestört entwickeln konnten. Kiefern- und Eichenbestände, einige Exemplare an die 300 Jahre alt, prägen den Wald und die Waldbereiche der Murellenberge. Lichte Stieleichen-Birkenanteile sorgen für Auflockerung. Bemerkenswert sind zudem einige sehr alte Gewöhnliche Traubenkirschen und die alte Eichenallee des ehemaligen Postwegs. Robinien krönen die Kämme mancher Erdwälle. Der Altersaufbau ist sehr gemischt und die Bestände zeichnen sich durch eine starke horizontale Schichtung (Kraut-, Strauch-, Baumschicht) aus. „Damit unterscheidet sich dieser Bereich deutlich von den Baumbeständen des Grunewaldes, die überwiegend aufgeforstet wurden und von ihrer Art her sog. Altersklassenbestände sind. Die Vielfalt der Lebensräume für die einheimische Tierwelt ist dort deutlich geringer und entsprechend auch die Artenzahl.“ Zudem besteht ein hoher Totholzanteil, dem für Lebensgemeinschaften in der Rinde, im Holz, in Baumhöhlen und in Sonderstrukturen wie Saftflüssen oder Brandstellen große Bedeutung zukommt. Viele Insektenarten, wie etwa Ameisen, Hautflügler und Schmetterlinge finden hier ihre Habitatnische. Der überwiegende Teil der Wespen- und Bienenarten ist auf die Zerfalls- und Zersetzungsphasen von Alt- und Totholz angewiesen.
=== Fauna ===
Bestandsuntersuchungen des Zoologischen Instituts an der Freien Universität Berlin ergaben, dass 97 verschiedene fliegende Insektenarten, davon 57 selten oder gefährdet, und elf seltene Schmetterlingsarten in dem strukturreichen Biotop heimisch sind. Insbesondere Hautflügler, die ihre Nester im Boden anlegen und auf trocken-warme Standorte angewiesen sind, finden hier ideale Bedingungen. Dazu zählen Grabwespen wie der Bienenwolf, der Honigbienen als Futter für seine Larven fängt und mit einem Stich durch ein schnell wirkendes Gift bewegungsunfähig macht. Weitere Kuckuckswespen und auch Sozialschmarotzer wie die Kuckuckshummeln, die ihre Jungen von anderen Hummeln aufziehen lassen, leben in dem Gebiet. Hinzu kommen Kuckucksbienenarten wie Wespenbienen oder Blutbienen, ferner Seidenbienen, Furchenbienen und Einsiedlerbienen wie die Kegelbienen. Sämtliche Wildbienen und Hummeln stehen nach der BArtSchV unter Schutz. Aus der Familie der Stechimmen gibt es verschiedene Faltenwespen, darunter die Deutsche, Sächsische und Gemeine Wespe und die zu Unrecht gefürchtete, nach BartSchV besonders geschützte Hornisse, die in Berlin allerdings nicht als gefährdet auf der Roten Liste steht. Spinnentiere und Käfer sind zahlreich vertreten. Bemerkenswert ist, dass die Rote Liste Brandenburg einen heute ausgestorbenen/verschollenen Wasserkäfer anführt, der 1921 am Elsgraben nachgewiesen wurde: den Hakenkäfer Dryops Similaris BOLLOW, einen typischen Fließwasserbewohner.Die Altholzbestände nutzen zudem Höhlenbrüter für ihren Nestbau. Insgesamt sind in dem Gebiet 65 Vogelarten heimisch. Im Wald dominieren Singvögel und gelegentlich ist das Klopfen eines Buntspechts zu hören. Am Murellenteich stellten Ornithologen 1999 ein Brutpaar der Teichralle fest, die die Rote Liste in der Vorwarnstufe führt (Stand: 2006). Aus der Klasse der Reptilien sind die Blindschleiche und die Zauneidechse vertreten. Ferner besiedeln Wildschweine, Rehe, Rotfüchse und Kleinsäuger wie die Waldspitzmaus die Murellenberge, die Murellenschlucht und den Schanzenwald.
=== Pflegemaßnahmen ===
Zur Bewahrung des geomorphologisch in Berlin außergewöhnlichen Naturraums und seiner Biotope führt das Land Berlin verschiedene Pflegemaßnahmen durch. Dazu gehören die regelmäßige Mahd, das Entfernen des Mähguts und das Freihalten von Gehölzaufwuchs zur Erhaltung der trockenwarmen und nährstoffarmen Standorte. Im Wald soll die Robinie zurückgedrängt werden, die als problematischer Neophyt die Biodiversität von Biotoptypen wie Magerrasen, Kalkmagerrasen und Sandtrockenrasen bedroht. Der hohe Totholzanteil soll erhalten bleiben und die südexponierten Hänge sollen von beschattenden Gehölzen freigehalten werden. Ansonsten will die zuständige Senatsverwaltung für Stadtentwicklung das Gebiet möglichst sich selbst überlassen und Maßnahmen auf die Verkehrssicherung und Pflege des Wegenetzes beschränken.
== Ausblick: Konzept eines Höhenwegs auf der Teltownordkante ==
Die Verbindung der Murellenberge mit dem Nordband des Teltow ist durch den Stadtbau, durch die Überbauung mit Straßen, Bahnstrecken, U-Bahn-Strecken und Siedlungen, im heutigen Stadtbild kaum noch wahrzunehmen. Um die Einheit des Landschaftsraums wieder erfahrbar zu machen, schlug die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2004 in einem Planwerk Westraum Berlin einen Höhenweg auf der Teltownordkante vor, der die Murellenberge über den Murellenteich mit dem Schlosspark Charlottenburg verbinden soll. Ferner soll der Weg den „Erholungs- und Erlebnisraum Flusslandschaft und Kleingartenpark im Spreetal“ zugänglich machen. Das Konzept sieht zudem vor, auf dem Weg einen Aussichtspunkt über das Spreetal zu schaffen. Da das Schloss Charlottenburg bereits über Wege entlang der Spree an den Großen Tiergarten und damit an die City West und Ost angebunden ist, würde sich mit der Realisierung des Vorschlags ein durchgehender Havel- und Spree-Weg vom Strandbad Wannsee über den Havelhöhenweg und die Murellenberge bis zur Innenstadt ergeben. Über den Bullengrabengrünzug, die Tiefwerder Wiesen und Pichelswerder oder über den Stößensee wäre mit dem Höhenweg gleichzeitig eine Grünverbindung vom Berliner Zentrum nach Spandau hergestellt.
== Literatur ==
Biotoptypen- und FFH-Lebenraumtypenkartierung für das NSG Murellenschlucht und Schanzenwald, NSG Fließwiese Ruhleben und angrenzende Bereiche. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Planland (Planungsgruppe Landschaftsentwicklung), Berlin 2006.
Naturschutzgebiet Murellenschlucht und Schanzenwald. In: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin: natürlich Berlin! Naturschutz- und NATURA 2000-Gebiete in Berlin. Verlag Natur & Text, Berlin 2007, ISBN 978-3-9810058-3-7, S. 120–123.
Pflege- und Entwicklungsplan für die Naturschutzgebiete „Murellenschlucht und Schanzenwald“ und „Fließwiese Ruhleben“. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Planland (Planungsgruppe Landschaftsentwicklung), Berlin 2007.
Planwerk Westraum Berlin. Ziele, Strategien und landschaftsplanerisches Leitbild. (PDF; 1,4 MB) Hrsg.: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Kulturbuchverlag, Berlin 2004, ISBN 3-88961-185-0.
== Weblinks ==
Murellenberg, Murellenschlucht, Murellenteich und Schanzenwald. In: Bezirkslexikon Charlottenburg-Wilmersdorf auf berlin.de
Der Schanzenwald erwacht aus dem Dornröschenschlaf. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Oktober 2007
Denkzeichen am Murellenberg Homepage von Patricia Pisani zu den Denkzeichen
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Murellenberge,_Murellenschlucht_und_Schanzenwald
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Salemer Münster
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= Salemer Münster =
Das Salemer Münster war die Kirche der ehemaligen Reichsabtei Salem (gegründet 1137/38; aufgehoben 1804 durch die Säkularisation) und dient heute als Pfarrkirche der römisch-katholischen Gemeinde von Salem. Das gotische Münster wurde im Zeitraum von etwa 1285 bis 1420 als dreischiffige Säulenbasilika errichtet und gehört zu den bedeutendsten hochgotischen Bauwerken der Zisterzienser im deutschen Sprachraum. In der äußeren Form entspricht die Kirche weitgehend der ursprünglichen Baugestalt, während Umbauten im Innenraum die Raumwirkung nachhaltig veränderten. Das Inventar umfasst Ausstattungsgegenstände aus der Zeit der Spätgotik, des Barock, des Rokoko und des Klassizismus. Es ist nach dem Ulmer und dem Freiburger Münster die drittgrößte gotische Kirche Baden-Württembergs.
== Erste Klosterkirche ==
Im Jahr 1137 traf eine Gesandtschaft von Zisterziensern aus dem Kloster Lützel (Oberelsass) auf der Gemarkung Salmannsweiler am Bodensee ein, um das Kloster Salem zu gründen. Zum Zeitpunkt der Besiedelung stand dort bereits eine Kapelle, die dem Doppelpatrozinium der Heiligen Verena und Cyriak unterstellt war. Diese wohl schon baufällige (vetustate paene collapsa) Kapelle wurde um 1150 für den Neubau einer Klosterkirche abgerissen.
Von der ersten Klosterkirche sind keine baulichen Zeugnisse erhalten. Wenn die Kirche der Primarabtei Clairvaux und die zur gleichen Zeit erbauten Kirchen von Lützel, Kaisheim und anderen Zisterzienserklöstern Rückschlüsse erlauben, handelte es sich um eine dreischiffige Basilika mit kreuzförmigem Grundriss im Stil der Romanik. Nach Knapp (2004) könnte das Querhaus neben der zentralen rechtwinkligen Apsis auf der Nordseite in drei und auf der Südseite in zwei nach Osten ausgerichtete Kapellen eingeteilt gewesen sein. Belegt ist, dass sie vollständig aus Stein gebaut wurde und mindestens acht Altäre besaß, von denen die ersten vier am 13. September 1152 durch den Bischof von Chur und den Bischof von Konstanz geweiht wurden. Die Kirche selbst wurde am 14. Juli 1179 nach rund 30 Jahren Bauzeit geweiht. Ein Jahrhundert später wurde sie wieder abgerissen, um Platz für den Bau des Münsters zu schaffen.
== Bauzeit ==
Bis zum Tod Friedrichs II. 1250 stand das Kloster unter dem Schutz der Stauferkönige. Das Machtvakuum im Römischen Reich, das seinem Tod folgte, nutzten die Nachbarn des Klosters aus, um sich dessen Besitztümer zu sichern und einstige Schenkungen rückgängig zu machen. Erst Rudolf I. von Habsburg, dessen Amtsantritt 1273 das Interregnum beendete, nahm Salem unter seinen Schutz und sorgte dafür, dass die verlorenen Güter wieder zurückgegeben wurden. Durch die so gesicherten Einkünfte und eine Reihe in den 1280er Jahren ausgestellten Ablassbriefe sah sich das Kloster finanziell in der Lage, eine neue, größere Kirche zu bauen. Der Münsterbau dokumentiert somit auch eine neue Ära in der Geschichte des Klosters – den Beginn der Protektion durch die Habsburger, die dem Kloster über Jahrhunderte hinweg die Unabhängigkeit sichern sollte.
Initiator des Neubaus war der Abt Ulrich II. von Seelfingen (1282–1311). Vermutlich war der ausschlaggebende Grund für den Neubau, dass die alte Kirche für den Konvent, der sich innerhalb weniger Jahrzehnte auf rund 300 Mönche und Laienbrüder vergrößert hatte, zu klein geworden war. Lange Zeit war man der Auffassung, der Neubau sei im Jahr 1299 begonnen worden; neuere Bauuntersuchungen und die Verbindung des Kirchenbaus mit der Revindikationspolitik Rudolfs I. legen dagegen einen Baubeginn um 1285 nahe (Lit.: Knapp 1998). Für den Neubau wurden nicht mehr, wie für die Vorgängerkirche, grob behauene Bruchsteine verwendet, sondern große Quader von behauenem Sandstein, die aus Steinbrüchen in der Umgebung stammten. Die Arbeiter und Planer dürften zumeist Laienbrüder gewesen sein, von denen einige auch über Salem hinaus wirkten, so etwa bei der Errichtung des Turms der Klosterkirche Bebenhausen.
Der Bau wurde an der Ostseite begonnen und schritt zunächst rasch voran. Im Jahr 1307 wurden elf Altäre geweiht; 1313 bzw. 1319 wurden zwölf weitere konsekriert. Als der Chor und das Querschiff um 1319 fertiggestellt und überdacht waren, wurde der Bau nur noch langsam weitergeführt, wenn nicht gar vorübergehend eingestellt. Die Zahl der Mönche war seit dem Jahr 1300 kleiner geworden, so dass der bereits überdachte Raum unter dem östlichen Mittelschiff ausreichend Platz für den Konvent bot.
Schuld an der Unterbrechung waren zunächst Finanzierungsprobleme, da mit Ludwig dem Bayern von 1314 bis 1347 ein Papstgegner an der Macht war, der die Habsburger Protektion über Salem aufhob und damit die Rechtssicherheit vieler Güter aufkündigte. Nachdem Ludwigs Nachfolger Karl IV. die Abtei wieder in ihren Rechten bestätigt hatte, brach 1348 die Pest über Süddeutschland herein. Erst um 1400 konnte der Bau weitergeführt und in den 1420er Jahren vollständig überdacht werden, wie neuere dendrochronologische Untersuchungen zeigten. Die Bauzeit von rund 150 Jahren ist im Vergleich dennoch recht kurz, blieben doch viele gotische Kirchenbauten über lange Zeit unvollständig oder wurden, wie das Ulmer Münster, erst im gotikbegeisterten 19. Jahrhundert vollendet.
Die Kirchweihe fand bereits vor dem Bauabschluss statt. Abt Jodokus Senner nutzte das Konzil von Konstanz, das im Jahr 1414 begonnen hatte, und lud den dort anwesenden Erzbischof von Salzburg Eberhard III. ein, die Kirchweihe zu vollziehen. Eberhard III. sah sich Salem wohl dadurch verbunden, dass sein Amtsvorgänger Eberhard II. rund 200 Jahre zuvor das Kloster unter seinen Schutz genommen hatte. Es gilt als wahrscheinlich, dass bei der Kirchweihe am 23. Dezember 1414 auch König Sigismund anwesend war, der am Vortag in Überlingen im Salemer Stadthof übernachtet hatte und am 24. Dezember auf dem Konzil eintraf.
Mit Salem als Vorreiter hatte die gotische Baukunst ihren Weg vom oberrheinischen Straßburg an den Bodensee gefunden: Ungefähr gleichzeitig ließ auch das Bistum Konstanz das Konstanzer Münster in gotischem Stil modernisieren, und kurz nach dem Bauabschluss in Salem sollte auch in der benachbarten Reichsstadt Überlingen mit dem Ausbau der Stadtpfarrkirche St. Nikolaus zur fünfschiffigen Basilika begonnen werden, um Salem noch zu überbieten.
== Architektur ==
=== Baukörper ===
Das Münster ist als Baukörper in das Klostergeviert integriert und überragt es kaum an Höhe. Die strengen, schlichten Formen der Kirche kontrastieren heute mit dessen ausladendem barockem Baustil. Die architektonische Reduzierung der Salemer Kirche, die nur durch einzelne Zierelemente an der Fassade aufgelockert wird, distanziert sich demonstrativ vom Prunk der amtskirchlichen Kathedralen und der Klosterarchitektur der Cluniazenser.
Im Süden schließt sich direkt der Kreuzgang an, der zum Konventsgebäude führt. Dieser Zugang, das sogenannte Bernhardsportal, diente als Eingang für die Mönche, während die übrigen Kirchgänger das Westportal benutzten. Ein weiteres Portal – seit 1750 geschlossen – findet sich an der Nordseite des Querhauses; es diente ursprünglich als separater Eingang für hochrangige Gäste.
Beim Salemer Münster handelt sich um eine dreischiffige Basilika mit Querhaus, Chor und Chorumgang auf einer rechteckigen Grundfläche von 67 × 28 m (Außenmaße); dabei ragt der schmale, hohe Baukörper des Querhauses nicht seitlich über das Grundviereck hinaus. In den Ausmaßen entspricht das Salemer Münster ungefähr dem Konstanzer Münster, in der Länge dem Basler Münster. Das Baumaterial ist fein strukturierter Molasse-Sandstein in gelb-grauen, grünlichen und braunen Farbtönen, der im Außenbereich unverputzt ist. Als regionale Vorbilder des kreuzförmigen Baus könnten die Klosterkirche von Kappel am Albis und das heute nicht mehr existierende Münster des Klosters Petershausen gedient haben. Da Petershausen sich ebenso wie Salem vom Bistum Konstanz unabhängig gemacht hatte und Salem diese Unabhängigkeit auch demonstrieren wollte, liegt wohl in der Petershausener Klosterkirche das unmittelbare Vorbild des Salemer Münsters (Lit.: Knapp 2004).
Der Dachfirst des Querhauses ist bis zum 32 m hohen First des Mittelschiffs hinaufgezogen. Die Satteldächer von Lang- und Querhaus überragen die niedrigen Seitenschiffe mit ihren Pultdächern um etwa das Doppelte. Der Dachstuhl über dem Hochchor stammt teilweise noch aus dem Jahr 1301. Auf dessen Südseite sind originale glasierte Dachziegel erhalten, die dem Dach einst einen goldenen Schimmer verliehen; bis zur Neueindeckung 1997 war das gesamte Dach des Langhauses noch großteils mit bauzeitlichen Ziegeln eingedeckt.
An der Außenseite des Baukörpers verleihen nur die Harfengiebel und die Lanzettfenster dem architektonisch eher grobschlächtigen Bauwerk eine gewisse Filigranität. Die Westfront wird von einem hohen dreieckigen Harfengiebel überragt, dessen Grundform, ein gleichseitiges Dreieck, in der mittelalterlichen Zahlenmystik als Verehrung der Dreifaltigkeit verstanden werden konnte. Zwei mächtige Strebepfeiler stützen die Fassade und rahmen den Eingang zur Kirche. Die Gestaltung der Giebel wiederholt sich in ähnlicher Form an der Ostseite sowie an Süd- und Nordseite des Querschiffs.
Zehn Maßwerkfenster auf jeder Seite des Mittelschiffs (Obergaden) spenden dem Innenraum Licht. Davon liegen sechs Achsen westlich und vier östlich des Querhauses. Die Seitenschiffe besitzen eine Fensterachse mehr, da die Fensterbögen des östlichen Mittelschiffs seit dem Umbau von 1750 weiter auseinander liegen als die Joche des Chorumgangs. Weitere, mächtige Maßwerkfenster finden sich an den vier Giebeln der Kirche, wobei die Fenster der Ostseite im Zuge der Umgestaltung des Innenraums um 1750 zugemauert wurden. Die Stirnseite des nördlichen Querhauses besitzt zusätzlich ein großes achtblättrig gefächertes Rosettenfenster nach dem Vorbild des Straßburger Münsters, was belegt, dass sie als Schauseite der Kirche angelegt wurde. Auch das Maßwerkgitter vor der Giebelwand mit gestaffelten zweibahnigen Lanzetten, die durch Kleeblattformen horizontal verbunden sind, hat wohl in Straßburg sein Vorbild.
=== Turmbau 1753–1757 ===
Gemäß den Ordensbestimmungen der Zisterzienser, die Einfachheit und Bescheidenheit forderten, erhielt das Münster keinen Kirchturm, sondern nur einen einfachen Dachreiter, der die Glocken trug. Im 18. Jahrhundert änderte sich die Situation: Im Jahr 1697 vernichtete ein Brand fast den gesamten Klosterbau. Das Münstergebäude überstand den Brand weitgehend unbeschädigt, während ein Großteil des Inventars ein Raub der Flammen wurde. Beim Neubau der Klosteranlage durch den Vorarlberger Baumeister Franz Beer 1697–1708 drohte das Münster optisch hinter dem riesigen Gebäudekomplex zu verschwinden. Beer plante daher einen freistehenden Glockenturm ein, der jedoch nicht ausgeführt wurde.
Abt Anselm II. Schwab (Amtszeit 1746–1778), der seinen Sinn für das Repräsentative bereits mit dem Bau der Wallfahrtskirche Birnau bewiesen hatte, konnte sich der Versuchung nicht mehr entziehen, die Kirche mit einem prächtigen Vierungsturm auszustatten. Der Baumeister Johann Caspar Bagnato, der durch den Bau des Altshausener Schlosses bekannt geworden war, erhielt 1753 den Auftrag zur Planung und zum Bau, so dass der Turm im Jahr 1756 bereits stand. Der Turm wurde in Fachwerktechnik aus Holz konstruiert und mit Kupferplatten verkleidet. Die Eckpilaster waren aus Blei und mit Bronze verziert, so dass sich der Turm von weitem optisch nicht von gemauerten Türmen dieser Art unterschied, sondern in seinem Kupferglanz sogar noch weitaus prächtiger gewirkt haben muss. Mit dem vergoldeten Turmknopf, der selbst fast zwei Meter Durchmesser hatte, erreichte der Turm eine Höhe von über 85 m – mehr als fünfzig Meter höher als der Dachfirst des Langhauses. Sechzehn neue, mit Reliefs verzierte Glocken sowie ein neues Uhrwerk wurden angeschafft.
=== Innenraum ===
Mittelschiff und Seitenschiffe sind von gotischen Kreuzgewölben überdeckt. Das Gewölbe des Langhauses wird von Stützen getragen, die in einer asymmetrischen „Eisbrecherform“ ausgebildet sind: Zum Laienraum hin präsentieren sie sich als rechteckige Pfeiler, deren wuchtige Gestalt durch schlanke Säulenbündel gemäßigt werden; zu den Seitenschiffen hin schließen sie spitzwinklig ab, wodurch das Gewölbe leichter und die Seitenschiffe geräumiger wirken. Die Pfeiler wurden aus Gründen der Statik weit in die Tiefe gezogen und ersetzten so besondere Strebebögen an der Außenseite. Durch diese Bauweise entstanden zwischen den Pfeilern Räume für kleine Seitenkapellen, die wiederum mit Kreuzrippen überwölbt sind, wodurch der Eindruck eines zusätzlichen Seitenschiffs entsteht.
Die östlichen Teile der Seitenschiffe sind durch Säulenreihen und Rippengewölbe in jeweils zwei schmalere Schiffe aufgeteilt. Die äußeren Stützen sind als schlanke Pfeiler angelegt, die zum Mittelschiff hin als Dreiviertelsäule abschließen. Die Säulen, die direkt zwischen Chorraum und Umgang liegen, haben einen achteckigen Querschnitt. Sie gehören zum ältesten Bauabschnitt und dokumentieren noch eine Orientierung an einem älteren Baustil, wie er etwa für die Kirche des Stifts Lilienfeld charakteristisch ist. Insgesamt sind die Stützen des Umgangs wesentlich schlanker als die massiven Pfeiler des westlichen Langschiffes, wodurch der Chorraum lichter und leichter wirkt. Die sichtbaren Stützelemente wurden also zugunsten der optischen Gesamtwirkung des Innenraums verborgen oder umgeformt. Diese Entwicklung, die typisch ist für den Beginn der deutschen Hochgotik im Gegensatz zur französischen Gotik, zeigt sich auch in der Auffassung des Innenraums als zu gestaltende plastische Raumschale.
=== Umbau des Chorpolygons ===
Das östliche Mittelschiff (Chor) besaß bis 1750 auf drei Seiten einen Umgang mit polygonalem Abschluss nach dem Vorbild der Klosterkirche von Morimond. Über dem westlichsten Joch des Chors bildete sich durch dessen Überwölbung ein Obergeschoss, wo sich vermutlich eine kleine Kapelle befand, die der Jungfrau Maria, allen Engeln und dem Erzengel Michael gewidmet war. Die damals noch unverblendeten Fenster der Westfassade ließen Licht durch die Säulenreihen des Chors und des Obergeschosses fallen und erzeugten so wohl eine mystisch wirkenden Lichteffekt.
Im Auftrag von Abt Anselm II. entfernte Johann Caspar Bagnato im Jahr 1750 die Binnengliederung im Ostteil der Kirche und erweiterte so den nutzbaren Raum des östlichen Langhauses. Das Gewölbe über dem östlichen Teil des Umgangs und das obere Stockwerk mit der Michaelskapelle wurden entfernt, so dass nur der Nord- und Südteil des Umgangs verblieben. Das Langhausgewölbe verlängerte sich dadurch um ein zusätzliches Joch. Anders als mancher andere Kirchenherr des 18. Jahrhunderts wusste Anselm die alte guet gottische gestalt der Kürchen zu schätzen, so dass er die Architektur trotz aller Umbauten nicht stilistisch aktualisieren ließ. Das neu entstandene Gewölbe über dem Hochchor fügt sich daher ohne Stilbruch in das übrige gotische Spitzbogengewölbe des Langhauses ein.
Grund für den Umbau waren unter anderem Platzprobleme: Die Klosterchronik Apiarium Salemitanum beschwerte sich schon 1708 über den großen Andrang der Laien und den „ungemeinen Concursus“ in der Kirche. Abt Anselm befürchtete, die Klosterdisziplin könnte durch diesen Kontakt mit dem Volk zu sehr gestört werden. Der Hochaltar rückte also unter die Vierung, das Chorgestühl auf die Ostseite des nunmehr verlängerten Langhauses. Zuvor waren Laien und Mönche nur durch eine hölzerne Absperrung (Lettner) getrennt gewesen, nun waren die Patres räumlich vollkommen unter sich. Die mittelalterlichen Lichtspiele gingen verloren und wichen einer frontal-theatralischen Raumwirkung; dafür war der Chorraum nun besser beleuchtet, da durch zusätzliche Fenster im oberen Teil des Langhauses mehr Licht in den Raum fiel.
== Ausstattung ==
=== Ausstattungsphasen ===
Schlichtheit in der Gestaltung und Verzicht auf Farben galt bei den Zisterziensern auch für den Innenraum der Kirche. Während die Amtskirche und Orden wie die Cluniazenser ihr Vermögen in den prachtvollen Schmuck der Kirchen investierten, befürchtete man bei den Zisterziensern, der üppige Bilderschmuck könnte die Mönche von der Frömmigkeit ablenken. Der Drang zur Dekoration ließ sich jedoch nicht immer aufhalten: Bei der Ausstattung hielten sich die Gestalter des Salemer Münsters nicht mehr so stark zurück, wie es in der Frühzeit der Ordenskunst der Fall war. Vergoldete Schlusssteine, bemalte Gewölberippen und farbige Elemente in den ansonsten farblosen Fenstern, wie man sie in Salem vermutet, wurden jedoch von der Ordensleitung nicht gern gesehen. Auch das Kirchengerät sollte aus einfachsten Materialien bestehen; ein Grundsatz, der sich jedoch bereits im Spätmittelalter nicht mehr konsequent durchsetzen ließ. So erscheint die Ausstattung stets als Kompromiss zwischen der spirituellen Verpflichtung zum Verzicht und den Geltungsbedürfnissen der Äbte, die schließlich nicht nur auf religiöser, sondern auch auf politischer Ebene mit den Fürstbischöfen zu konkurrieren hatten.
==== Spätmittelalter ====
Nur wenig ist über die Ausstattung des 15. Jahrhunderts bekannt, noch weniger ist davon erhalten. Die Innenwände des Münsters waren zu der Zeit in einfachem Weiß getüncht und mit Einfassungen in Grün-, Rot- und Ockertönen sowie dekorativen Ornamenten versehen. Abt Johannes I. Stantenat (1471–1494) ließ neben baulichen Ausbesserungen die Fenster des Langhauses erneuern, das steinerne Sakramentshaus errichten und einen Holzschnitzaltar fertigen. Der von Michel Erhart (Ulmer Schule) um 1494 geschnitzte Altar ging bis auf wenige Holzfiguren verloren. Die großen und zahlreichen Fenster durften nach den Ordensvorschriften nur mit schlichten Grisaillen bemalt werden, um sich von der Pracht der Buntglasfenster gotischer Kathedralen zu distanzieren. Kunsthistoriker vermuten, dass die Salemer Glasmaler auch farbige und figurale Elemente eingebaut haben; es gibt jedoch keinen Hinweis, ob und in welchem Umfang die Fenster farbig gestaltet waren.
==== Frühbarock ====
Um 1620 gewann das Kloster mit der Gründung der Oberdeutschen Zisterzienserkongregation, die ihren Sitz in Salem hatte, einen hohen Status innerhalb des Ordens. Gleichzeitig wurde in Salem auch die neue Liturgie der Tridentinischen Messe eingeführt, die neue Sakralgegenstände und eine Neuordnung des Kirchenraums erforderte. Abt Thomas I. Wunn (1615–1647) nahm die gestiegene Bedeutung seines Klosters und die erforderliche räumliche Umordnung zum Anlass, den gesamten Raum neu ausstatten und dekorieren zu lassen. Die von 1627 bis 1633 durchgeführten Arbeiten gelten als die früheste vollständige Barockausstattung Süddeutschlands. Der Bildhauer Christoph Daniel Schenck fertigte einen kolossalen Hochaltar, dessen Holzschnitzwerk (das der Brand von 1697 weitgehend zerstörte) mit einer Höhe von fast 20 Metern bis unter das Gewölbe des Langhauses reichte. Er besaß zahlreiche, teils überlebensgroße geschnitzte Figuren. Die Schutzheiligen der Kirche (Patrozinien) waren dabei in Gold gefasst, andere naturalistisch bemalt oder in schlichtem Weiß gehalten. Die Vielzahl der Schnitzfiguren auf dem Hochaltar wurde durch ein Dutzend überlebensgroßer hölzerner Apostelfiguren vervollständigt. Die Wände wurden grau getüncht und mit einem Fugennetz bemalt, die Verblendungen der Obergaden illusionistisch ausgeschmückt, das Gewölbe mit Pflanzengirlanden dekoriert. Um die erhabene Wirkung des Hochaltars zu verstärken, wurden die teils farbigen Fenster vollständig durch schmucklose Klarverglasung ersetzt.
==== Barock und Rokoko ====
Die „zweite Barockisierung“ begann um 1710 nach dem Neubau der durch den Brand von 1697 zerstörten Klosteranlage. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Wiederaufblühen des Klosters im 18. Jahrhundert, die durch Steuererleichterungen möglich wurde. Auch die repräsentativen Aufgaben der Reichsabtei waren gewachsen, musste sie doch mit dem feudalen Prunk der umliegenden Grafschaften und Kleinfürstentümern konkurrieren. Zunächst mussten jedoch die beim Brand beschädigten Orgeln repariert und die zerstörten Altäre und Kirchengeräte ersetzt werden. Der Bildhauer Franz Joseph Feuchtmayer, seit 1706 im nahen Mimmenhausen sesshaft, fertigte einen Großteil der plastischen Ausstattung, der Maler Franz Carl Stauder die Altargemälde.
Unter den Äbten Konstantin Miller (1725–1745) und Anselm II. Schwab (1748–1778) wurde die Ausstattung im Stil des Rokoko bis etwa 1765 fortgesetzt. Die Gewölbekappen des Chorumgangs wurden, dem Zeitgeschmack entsprechend, von Franz Joseph Spiegler mit figürlichen farbigen Deckenfresken ausgemalt, von denen wenige heute wieder unter dem abblätternden Putz sichtbar werden. Zahlreiche Altäre wurden neu gestaltet und mit Antemensalen aus Stuckmarmor versehen. Die dekorativen und plastischen Arbeiten übernahm in der Nachfolge des älteren Feuchtmayer dessen Sohn Joseph Anton Feuchtmayer. Im Münster zeugen heute nur noch einige Putten und Stuckfiguren sowie die Sitzbänke des Chorgestühls von dieser Ausstattungsphase.
==== Klassizismus ====
Der künstlerische Umbruch, der Salem wieder in die Rolle des Vorreiters unter den süddeutschen Abteien brachte, verdankt sich den Reisen von Abt Anselm nach Paris in den Jahren 1765 und 1766. Dort lernte Anselm die Hofarchitektur des französischen Frühklassizismus kennen und beschloss begeistert eine groß angelegte Umgestaltung des Münsters in französischem Stil. Die Klosterleitung versuchte zunächst, den renommierten Schloss- und Kirchenbaumeister Pierre Michel d’Ixnard für den Gesamtentwurf zu gewinnen. Die Planungsphase zog sich jedoch ohne endgültigen Entschluss über mehrere Jahre hin und wurde durch Feuchtmayers Tod im Jahr 1770 auch noch der künstlerischen Leitung beraubt.
Erst im Jahr 1772 wurde das Projekt wieder umfassend aufgenommen und mit Erfolg durchgeführt. Als Baudirektor stellte das Kloster d’Ixnards Schüler Johann Joachim Scholl ein, der einen Gesamtentwurf ausarbeitete und die Durchführung leitete. Feuchtmayers Nachfolger Johann Georg Dirr und dessen Schwiegersohn Johann Georg Wieland übernahmen einen großen Teil der plastischen Arbeiten an Altären, Monumenten und Dekorationselementen. Vor allem Wieland wird die innovative Formsprache der Altäre zugeschrieben, die statt der geschwungenen Linien des Spätbarock einfache, geometrisierende Elemente wie Pyramiden, Obelisken, Dreiecksgiebel und Säulenstümpfe wählte. Vor der Ostwand wurde ein riesiger Schmuckaufbau installiert, der einem Bühnenbild gleicht. Der Innenraum wurde 1777 vollständig in hellen Grautönen gestrichen, damit er mit dem Alabaster der Altäre harmonierte; dabei wurden auch die barocken Fresken übermalt.
Diese letzte umfassende Neugestaltung prägt heute noch das gesamte Erscheinungsbild und gilt als einzigartig in der südwestdeutschen Sakralkunst. Sie wurde Vorbild für ähnliche Ausstattungen, etwa in der Abteikirche von Neresheim. Der Kunsthistoriker Georg Dehio lobte ihre „pseudodorisch steife Austerität“, die sich gut in den „echtesten und wahrhaftesten Mönchsstil“ der Zisterzienserarchitektur einfüge. Waren „Verschönerungen“ gotischer Kirchen im 18. Jahrhundert üblich, wurde die Ausstattung des Salemer Münsters so gestaltet, dass sie den Ausblick auf die ursprüngliche Kirchenarchitektur öffnete. Das war ganz im Sinne des neuen Kunstverständnisses für die Gotik, das in Frankreich um 1750 und etwas später mit Goethe auch in Deutschland Fuß fasste.
=== Altäre ===
Der heutige Hochaltar geht auf einen Entwurf von 1773 zurück. Ursprünglich sollte der Auftrag an Josef Anton Feuchtmayer gehen, doch da dieser 1770 starb, wurde er von seinem Nachfolger Johann Georg Dirr geplant und ausgeführt und 1785 durch Johann Georg Wieland erneuert. Das Relief zeigt eine Darstellung der Fußwaschung und des Letzten Abendmahls. Da der Altar unter der Vierung zu stehen kommen sollte, ist er von beiden Seiten motivisch verziert. Zwei Priester konnten so gleichzeitig die Messe für die Laien auf der Westseite und für den Konvent auf der Ostseite lesen.
Die Kirche besitzt 25 weitere Altäre. Die 10 größten sind in den Seitenkapellen zwischen den Langschiffpfeilern aufgestellt; weitere im Umgang des Chors. Teilweise sind die Altartische noch aus dem Mittelalter erhalten; der Aufbau und die Bildwerke wurden von Dirr und Wieland im Stil des französischen Klassizismus entworfen und aus hellem Alabaster (aus dem Klettgau) gefertigt. Sie sind zum Teil Ordensheiligen wie Bernhard von Clairvaux und Benedikt von Nursia gewidmet, aber auch der regional verehrte Heilige Konrad von Konstanz wurde berücksichtigt.
=== Ostwandaufbau ===
Eine besondere Nische unter der Ostwand erhielt die Heilige Verena, die bereits die Patronin der Vorläuferkirche des Münsters war. Dirr gestaltete hier den Verena-Altar sowie zwei Reliefs, die die Versuchung des Hl. Benedikt und die Versuchung des Hl. Bernhard darstellen. Wieland schuf zwei Standbilder von Johannes und Maria sowie ein großes Relief, das die Himmelfahrt Mariä darstellt und ein älteres Altarblatt mit demselben Motiv ersetzte.
=== Chorgestühl ===
Das geschnitzte Chorgestühl fertigten Josef Anton Feuchtmayer und seine Mitarbeiter Franz Anton und Johann Georg Dirr zwischen 1765 und 1775. Die Sitze stammen aus der Zeit von 1766/1767 und sind stilistisch noch dem Rokoko verpflichtet, während die Rückwand und der Aufbau bereits klassizistisch sind. Zehn vergoldete, um 1785 von Wieland gestaltete Relieftafeln, die auf das Gestühl aufgesetzt sind, zeigen Szenen aus dem Alten und Neuen Testament. Auf ihnen stehen wiederum geschnitzte Halbsäulen, die Büsten (vermutlich) von Ordensheiligen tragen; eine eindeutige Identifizierung war bislang nicht möglich.
Das alte Chorgestühl stammte von Melchior Binder aus dem Jahr 1593. Die davon erhaltenen Reste sind heute am Westende der Seitenschiffe aufgestellt. Bemerkenswert ist an ihnen die eigenständige Verknüpfung der spätgotischen Formsprache mit antikisierenden Elementen, wie sie in der italienischen Renaissance üblich waren.
=== Gedenkmonumente ===
Vier klassizistische Monumente sind in der Vierung aufgestellt. Sie erinnern an die wichtigsten Personen der Klostergeschichte und der Ordenstradition: Auf dem Äbtemonument sind neben Totengerippen die Salemer Äbte mit ihren Sterbedaten aufgelistet. Zwei weitere Monumente erinnern an Benedikt von Nursia, den Begründer des westeuropäischen Mönchstums, und an Bernhard von Clairvaux, den Ordensheiligen und großen Missionar der Zisterzienser.
Das Stiftermonument schließlich ist den Stiftern des Klosters gewidmet: Freiherr Guntram von Adelsreute, der den Baugrund für das Kloster schenkte, König Konrad III., der Salem zur Reichsabtei erhob, sowie Papst Benedikt XII., der zum ersten Mal an einen Salemer Abt das Recht vergab, die Pontifikalinsignien im Wappen zu führen. (1384 wurde dieses Recht durch Urban VI. dauerhaft verliehen.) Ein Salztöpfchen und ein Wappen erinnern an Eberhard II., den Erzbischof von Salzburg, der nach dem Aussterben der Stifterfamilie das Kloster im Jahre 1201 unter seinen Schutz nahm und in der Folge als „zweiter Stifter“ des Klosters verehrt wurde.
=== Gewölbeschlusssteine ===
Aus der frühesten Bauzeit um 1298 stammen 57 vergoldete Reliefs an den Schlusssteinen des Kreuzrippengewölbes im Chorumgang. Sie zeigen im Südschiff unter anderem Tiersymbole, darunter einen Löwen, einen Adler und einen Pelikan, die hier für Auferstehung, Himmelfahrt und Opfertod Christi stehen, einen Affen als Symbol des Teufels sowie Fratzen, Monstren und Dämonen, die als apotropäische Figuren Unheil abwehren sollten. Daneben gibt es eine Reihe von Darstellungen aus dem Leben der Jungfrau Maria: die Flucht nach Ägypten, die Geburt Christi sowie einen Vogel Strauß als Sinnbild der Unbefleckten Empfängnis.
Im nördlichen Umgang finden sich die Anbetung der Könige, ein Engel, ein betender Mönch sowie zahlreiche Pflanzenmotive, die symbolisch für die Jungfrau Maria oder nach anderen Deutungen für Christus stehen. Die Darstellung des bärtigen Mönches wird gewöhnlich als (Selbst-)Porträt des Werkmeisters gedeutet, der in diesem Fall ein frater barbatus, ein barttragender Laienbruder gewesen sein muss. Der Wechsel von figürlichen zu floralen Motiven ist ungewöhnlich; denkbar ist, dass das Programm geändert wurde, nachdem die Leitung des Zisterzienserordens 1298 die Marienverehrung und die übermäßige Ausschmückung der Kirchen heftig verurteilt hatte.
=== Sakramentshaus ===
Zu den ältesten Ausstattungsgegenständen zählt das spätgotische Sakramentshaus (Tabernakel) von 1494. Das mit gotischen Ornamenten geschmückte steinerne Türmchen ist 16 Meter hoch. Er stand ursprünglich als Monument auf dem Grab des großen Abts Johannes I. Stantenat (1471–1494) und steht heute an der Nordwand des Querhauses, wo er teilweise von der Empore verdeckt wird. Die Fialen sind Steinmetzarbeiten aus Salemer Werkstätten, vermutlich aus der Hand des überregional wirksamen Werkmeisters Hans von Safoy. Die vergoldeten Schnitzfiguren wurden nicht für den Sakramentsschrein angefertigt, sondern sind wahrscheinlich Reste des von Michel Erhart gefertigten Hochaltars. Seitdem er 1751 an seinen heutigen Platz gerückt wurde, rahmen den Schrein vergoldete Putten und Wolkentürme aus Josef Anton Feuchtmayers Werkstatt.
=== Apostelfiguren ===
Die frühe Barockzeit hinterließ ihre Spuren in Form von vierzehn überlebensgroßen Holzskulpturen, die die zwölf Apostel, die Jungfrau Maria und Jesus Christus darstellen und in bescheidenem Grau mit wenigen Zierelementen aus Blattgold gehalten sind. Sie stehen auf klassizistischen Konsolen vor den Fenstern des Langhauses. Die Figurenreihe wurde von Christoph Schenck begonnen, 1630 von Zacharias Binder vollendet und gehört zu den bedeutendsten Holzschnitzwerken des Frühbarock im Bodenseeraum.
=== Orgel ===
Im 15. Jahrhundert fand Orgelmusik Einzug in die zisterziensischen Gottesdienste. Die Salemer Orgelgeschichte deckt sich in allen wichtigen Abschnitten mit der Baugeschichte des Münsters, das 1414 geweiht wurde. Einige Jahrzehnte später berichtet Caspar Bruschius in seiner Chronologia, dass Abt Georgius Münch 1441 eine „recht ansehnliche“ Orgel errichten ließ, deren größte Pfeife 28 Fuß Länge und 4 Spannen Umfang hatte. Die zweite Orgel war wohl eine kleinere Chororgel, die wahrscheinlich bald nach der Weihe des Münsters als Zweckinstrument aufgestellt wurde. Der nächste Abt bestellte 1511 eine neue kleine Orgel bei einem Priester Bernhardin aus dem Kloster Reichenau.
Um 1600 erfolgte ein Um- und Neubau der beiden Orgeln. Das Apiarium berichtet noch 1708 von der „alldasigen“ Orgel mit der 28 Fuß hohen Pfeife in der Mitte des Prospektfeldes, das sich demnach nach beiden Seiten verjüngte. In der Nacht vom 9./10. März 1697 wurde die Abtei von einem Brandunglück heimgesucht, das mit Ausnahme der Kirche die Klostergebäude zerstörte. Dennoch hatte die Chororgel schwer gelitten und war unspielbar geworden. Für den nötigsten Gebrauch diente dann ein liegendes Orgelpositiv, das 1720 der erzbischöfliche Orgelmacher Johann Christoph Egedacher aus Salzburg reparierte. Bereits 1714 hatte Abt Stephan I. diesen ausgewählt, um nach seiner Vorstellung vier ganz individuelle Orgeln mit zusammen 117 klingenden Registern bauen zu lassen. Verwirklicht wurden in neuer Aufrichtung nur die sogenannte Liebfrauenorgel auf der Empore des südlichen Querhauses und die Dreifaltigkeitsorgel auf der Westempore. Beide besaßen jeweils zwei Manuale, 31 klingende Register und hatten im Pedal einen Subbaß 32′.
Erst Abt Anselm II. (Amtszeit 1746–1778) griff das vier Orgeln umfassende Projekt wieder auf und ließ „seine“ Kirche mit vier neuen Orgeln ausstatten. Beauftragt wurde damit der schwäbische, aber in Dijon ansässige „königliche Orgelmacher“ Karl Joseph Riepp. Sie entstanden in den Jahren 1766 bis 1774, umfassten insgesamt 13 Klaviaturen und waren aus 12 Werken mit 7223 Pfeifen zusammengesetzt. In ihrer verschiedenartigen klanglichen Individualität und Charakteristik – z. B.
Liebfrauenorgel, weich und brillant
Dreifaltigkeitsorgel, starkstanden zumindest die drei großen im Einklang und doch im bewussten Unterschied. Abgestimmt waren sie auf das außergewöhnliche Geläut der Glocken im Vierungsturm, der 1807/1808 abgetragen wurde. Die südliche Empore des Querhauses trug die Liebfrauen- und die nördliche die Tabernakelorgel (für letztere übernahm die Wasserkraft eines unterirdisch umgeleiteten Baches die Funktion des Kalkanten). Im prächtigen Orgelgehäuse über dem Westportal war das Werk der Dreifaltigkeitsorgel eingebaut, und unsichtbar hinter dem Chorgestühl verborgen jenes der Orgue Ordinaire. In eigens komponierten Orchestermessen wurden die Orgeln gleichzeitig bespielt.
Durch die Folgen der Säkularisation wurde mit dem Verkauf der beiden Querhausorgeln die bedeutendste sowie auch interessanteste Leistung der Orgelbaukunst in Süddeutschland zerstört. Die bis 1900 noch vorhandene intakte Dreifaltigkeitsorgel über der Westempore wurde 1901 durch ein pneumatisches Werk aus der Überlinger Orgelbauwerkstatt Wilhelm Schwarz & Sohn ersetzt. Die typische Disposition dieser Zeit umschließt das erhaltene klassizistische Gehäuse aus der Werkstatt von Johann Georg Dirr, wobei der Prospekt noch Riepps Handschrift und die teilweise von ihm mitverwendeten Pfeifen des Johann Christoph Egedacher der Vorgängerorgel zeigt. Sie hat folgende Disposition:
Koppeln: II/I, III/I, III/II, I/P, II/P, III/P, Sub I, Super I, Sub II/I
Spielhilfen: Feste Kombinationen (Piano, Mezzoforte, Forte, Tutti), CrescendowalzeAn die beiden verkauften Orgeln erinnern heute in Salem nur noch die hölzernen Emporen im Querschiff, deren Unterseiten um 1765 von Andreas Brugger mit biblischen Motiven bemalt wurden. Die Orgelgehäuse sind in der Stadtkirche Winterthur und St. Stephan Konstanz weitgehend erhalten. Das verloren geglaubte Rückpositiv der Liebfrauenorgel mit seinem geschnitzten Dekor von Joseph Anton Feuchtmayer bildet heute den Mittelteil der Orgel in Charmey/Schweiz. Deren Prospektpfeifen tragen die Inschriften von Riepp und seinem Gesellen Louis Weber aus dem Jahr 1768.
=== Glocken ===
Vor der Säkularisation war das Geläute das größte und eindrucksvollste des gesamten Barock; es wurde von Zeitgenossen als „Glockenhimmel von Salem“ gerühmt. Die Glockenzier, von Joseph Anton Feuchtmayer entworfen, ist an Virtuosität, an Sensibilität und an künstlerischer Ausdrucksform kaum zu überbieten.
Aufgrund der Säkularisation wurden folgende Glocken vom übrigen Geläut getrennt an verschiedene Kirchengemeinden verkauft:
=== Epitaphe ===
Die Grabplatten im Münster dokumentieren, dass die meisten Äbte des Klosters hier bestattet wurden – mit Ausnahme derjenigen, die vor ihrem Tod das Kloster verließen. Bei einigen Gräbern, etwa denen des Stifters Guntram von Adelsreute († 1138?) und des ersten Salemer Abtes Frowin († 1165) sind Zweifel angebracht: Zum einen stand zu ihrer Todeszeit noch keine der Klosterkirchen; zum anderen wurden erst im 18. Jahrhundert bei Umbauarbeiten Skelette exhumiert und unter diesen Namen bestattet.
Hier liegt – angeblich – auch der Salzburger Erzbischof Eberhard II. († 1246). Weiter ruhen hier die Herren von Bodman, Gremlich und Jungingen, die sich als Stifter um die Wirtschaftslage des Klosters verdient gemacht hatten; die letzten Gräber dieser Adelsfamilien stammen allerdings aus dem frühen 17. Jahrhundert. Seit dem frühen 15. Jahrhundert wurden im Münster auch verdiente nichtadelige Laien wie der Baumeister Michael von Safoy bestattet.
== Säkularisierung 1804, Restaurierungen bis 2002 ==
Im Jahr 1804 wurde das Kloster säkularisiert. Das Münster und die Klostergebäude gingen in den Besitz der Markgrafschaft Baden über. Da das Münster als katholische Pfarrkirche weiter genutzt werden sollte, musste zumindest die Benutzbarkeit des Innenraums gesichert werden. Der inzwischen baufällige Holzturm wurde 1807 abgerissen und der heute noch bestehende gedrungene Dachreiter mit Zeltdach nach Entwürfen von Wilhelm Kleinheinz errichtet. Trotz der Begeisterung des 19. Jahrhunderts für die als besonders „deutsch“ empfundene Gotik gab es in Salem zunächst kaum Interesse an der Reparatur der Bauwerke über das Notwendigste hinaus.
Erst nach dem Regierungswechsel in Baden 1853 gab es ernsthafte Bemühungen, die baufällige Klosterkirche als Baudenkmal zu erhalten. In einem Schreiben des Bauinspektors Beyer heißt es 1864, die Mauersteine seien
In den Jahren 1883–1892 wurde das Münster umfassend restauriert; dabei wurde vor allem am West- und Südgiebel ein erheblicher Teil des Steinmaterials ausgetauscht und durch neuen Rorschacher Sandstein ersetzt, der sich durch seine etwas dunklere Färbung vom originalen Mauerwerk abhebt. Obwohl der Restaurator Franz Baer vorbildlich bemüht war, die historische Gestalt des Münsters zu erhalten, gingen doch einige originale Bauteile verloren: West- und Südgiebel wurden schlichter gestaltet; die fast zerstörten Masken an den Giebelkonsolen wurden durch zeitgenössische Neuschöpfungen ersetzt. Weitere „Verbesserungen“ wie der geplante Dachreiter in neugotischem Stil unterblieben.
Unter Leitung des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg begann 1997 eine erneute Bestandssicherung, die 2002 abgeschlossen wurde. Eine umfangreiche Sanierung des Innenraums steht noch aus. Ein wichtiges Ergebnis der Maßnahmen war vor allem eine detaillierte Dokumentation des Baubestands, die weitere Forschungen und Instandsetzungsmaßnahmen befördern wird.
== Nutzung ==
Das Münster war Klosterkirche der Reichsabtei Salem bis zu deren Schließung im Jahr 1804. Das Kloster schließt im Süden durch das Bernhardsportal an den Bernardusgang an, der den Abteitrakt mit der Kirche verbindet. Durch diesen mit prächtigen Stuckornamenten verzierten Gang zogen die Mönche sieben Mal täglich zum Gottesdienst in die Kirche. Das nördliche Querhaus diente in der Frühzeit des Klosters als separater Gebetsraum für hochrangige Gäste.
Im 17. Jahrhundert wurde die Kirche auch Laien geöffnet, wobei es für die Mitglieder der Pfarrgemeinde Salem (oder Salmannsweiler) auf dem nördlichen Klostergelände zusätzlich eine (heute nicht mehr existente) Pfarrkirche gab. Die Laien waren von den Mönchen durch einen hölzernen Lettner getrennt. Ab 1765 stand zusätzlich der Hochaltar zwischen dem Chor, wo der Konvent saß, und dem Laienraum, so dass sie noch strenger voneinander abgetrennt waren.
Nördlich des Münsters lag der Friedhof für die Mönche und Laienbrüder. Die Äbte wurden, sofern sie ihr Amt bis zu ihrem Tod ausübten, im Münster bestattet. Daneben gab es im nahen Stefansfeld einen Friedhof für die Bürger der umliegenden Ortschaften. Die dortige Stefansfeld-Kapelle wurde erbaut von Franz Beer, dem Baumeister des barocken Klosterbaus.
Seit 1808 dient das Münster der Katholischen Pfarrgemeinde von Salem als Gotteshaus. Aus dieser Zeit stammen Kanzel und Taufstein, die von den Mönchen nicht benötigt worden waren.
Das Münster wie das umgebende Kloster war nach der Säkularisation im Privatbesitz der Markgrafen von Baden. 2009 erwarb das Land Baden-Württemberg die Anlage. Den Besuchern der Kloster und Schloss Salem genannten ehemaligen Klosteranlage ist das Münster im Rahmen von Führungen gegen Gebühr zugänglich. Außerdem wird es für sonntägliche Gottesdienste der katholischen Pfarrgemeinde und für Konzerte genutzt.
== Literatur ==
Oskar Hammer: Das Münster in Salem. Diss., Stuttgart 1917.
Doris Ast: Die Bauten des Stifts Salem im 17. und 18. Jahrhundert. Tradition und Neuerung in der Kunst einer Zisterzienserabtei. Diss., München 1977.
Reinhard Schneider (Hrsg.): Salem: 850 Jahre Reichsabtei und Schloss. Stadler, Konstanz 1984. ISBN 3-7977-0104-7
Stephan Klingen: Von Birnau nach Salem. Der Übergang vom Rokoko zum Klassizismus in Architektur und Dekoration der südwestdeutschen Sakralkunst. Diss., Bonn 1993, 1999.
Ulrich Knapp: Ehemalige Zisterzienserreichsabtei Salem. Schnell und Steiner, Regensburg 1998 (3. Aufl.), ISBN 3-7954-1151-3. (Kurzführer)
Günter Eckstein, Andreas Stiene: Das Salemer Münster. Befunddokumentation und Bestandssicherung an Fassaden und Dachwerk. Arbeitshefte des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg. Bd. 11. Theiss, Stuttgart 2002. ISBN 3-8062-1750-5.
Richard Strobel: Die Maßwerkfenster der Klosterkirche Salem. Zur Erhaltung und Dokumentation von gotischem Maßwerk. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 32. Jg. 2003, Heft 2, S. 160–167. (PDF)
Ulrich Knapp: Salem: Die Gebäude der ehemaligen Zisterzienserabtei und ihre Ausstattung. Theiss, Stuttgart 2004, ISBN 3-8062-1359-3. (Standardwerk)
Ulrich Knapp: Salem. Katalog der Pläne und Entwürfe. Theiss, Stuttgart 2004, ISBN 3-8062-1359-3. (Bestandsdokumentation durch das Landesdenkmalamt Baden-Württemberg und Quellensammlung zur Baugeschichte)
Ulrich Knapp: Eine Musterrestaurierung des 19. Jahrhunderts. Die Instandsetzung der Klosterkirche Salem in den Jahren 1883 bis 1894. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 17. Jg. 1988, Heft 3, S. 138–146. (PDF)
== Tonträger ==
Kurt Kramer: Das Salemer Münster. Der Glockenhimmel von Salem. Theiss, Stuttgart 2002 (CD).
== Weblinks ==
Homepage Schloss Salem
Unterrichtsmedien im Internet: Klosterkirche Salem
Zusammenfassung der Befunddokumentation und Bestandssicherung an Fassaden und Dachwerk (Memento vom 10. Dezember 2004 im Internet Archive)
Burgundische Romanik – Pontigny – Zisterziensergotik auf gebaut.eu
Schwarz-Orgel des Münsters Salem auf Orgel-Verzeichnis.de
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Salemer_M%C3%BCnster
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New York, Westchester and Boston Railway
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= New York, Westchester and Boston Railway =
Die New York, Westchester and Boston Railway (abgekürzt NYWB oder NYW&B, genannt Westchester oder Boston–Westchester) war eine normalspurige, elektrifizierte Schnellbahn, die die Südspitze der Bronx in New York City mit einigen Städten und Gemeinden im Westchester County im US-Bundesstaat New York verband. Sie gehörte zur Firmengruppe der New York, New Haven and Hartford Railroad (NYNH&H, genannt New Haven) und war von 1912 bis 1937 in Betrieb.
Die Westchester war in weiten Teilen parallel zu bereits existierenden Strecken der New Haven gebaut worden, um diese im Vorortnahverkehr zu entlasten. Dazu verfügte sie über vergleichsweise sehr großzügig angelegte, hochmoderne und entsprechend teure Betriebsanlagen und war damit auf sehr hohe Beförderungsleistungen ausgelegt. Da die Westchester aber durch weitgehend dünn besiedeltes Gebiet gebaut worden war, stellte sich eine entsprechende Nachfrage nie ein, so dass der Konkurs der Firmengruppe New Haven im Zuge der Weltwirtschaftskrise schließlich das Ende der Bahnstrecken bedeutete.
In den Jahren unmittelbar nach der Stilllegung wurden die Strecken größtenteils abgebaut. Ein kleinerer Teil wurde von der New Yorker U-Bahn übernommen und ist heute noch in Betrieb.
== Vorgeschichte ==
=== Eisenbahnen im Norden New Yorks ===
Mitte des 19. Jahrhunderts gab es mehrere Bahnlinien, die von New York City aus östlich des Hudson Rivers Richtung Norden führten. Dies waren von West nach Ost gesehen die Hudson River Railroad nach Albany und Troy, die New York and Putnam Railroad nach Brewster und die New York and Harlem Railroad nach Chatham. Alle drei Strecken gehörten ab 1869 zur neu gebildeten New York Central and Hudson River Railroad, kurz New York Central, und endeten ab 1871 am Grand Central Terminal in Manhattan.Weiter östlich verliefen seit 1849 die Gleise der konkurrierenden New York, New Haven and Hartford Railroad, kurz NYNH&H oder New Haven. Sie zweigten am Bahnhof Woodlawn von der New York and Harlem Railroad ab, überquerten bei Port Chester die Staatsgrenze New York–Connecticut und verliefen weiter über Bridgeport nach New Haven. Dazu kam 1873 mit dem Harlem River Branch noch eine Zweigstrecke; die Gleise der vormals eigenständigen Harlem River and Port Chester Railroad führten von New Rochelle aus in südliche Richtung hinunter zum Harlem River (132nd Street).Die New York, Westchester and Boston Railway Company wurde am 20. März 1872 gegründet, um zwischen den bestehenden Strecken eine weitere Eisenbahn von der damaligen New Yorker Stadtgrenze am Harlem River durch den Westchester County zu bauen. Die Strecke sollte vom Harlem River aus durch die östliche Bronx, dann nach Mount Vernon und weiter durch den südöstlichen Teil des County bis nach Port Chester verlaufen. Die Konzession enthielt außerdem zwei Zweigstrecken, eine von der 177th Street, Bronx, Richtung Osten nach Throgs Neck, und eine weitere von Mount Vernon in nördliche Richtung über White Plains nach Elmsford. Die Gleise sollten in Teilen parallel und damit in Konkurrenz zu den beiden Strecken der New Haven verlaufen. Der Gründerkrach von 1873 setzte dem Unternehmen jedoch noch vor Baubeginn ein Ende.
=== Die New Haven kauft sich ein ===
1906 kauften William Rockefeller und J. P. Morgan die NYW&B für 11.000.000 Dollar auf und übereigneten sie anschließend der New Haven.Dieser an sich überhöhte Geldbetrag lag in den damaligen Geschäftspraktiken der New Haven begründet. Diese bestanden darin, sämtliche örtlichen Konkurrenten praktisch um jeden Preis aufzukaufen, zu konsolidieren und technisch zu modernisieren. Bis 1912 war auf diese Weise ein Verkehrsnetz mit über 2000 Meilen (3200 km) Eisenbahnen sowie weiteren Straßenbahn- und Dampfschifffahrtslinien im südlichen Neuengland entstanden. Dieses faktische Monopol im Transportgewerbe stand unter der Kontrolle J. P. Morgans und seines Vertrauten im Vorstand der New Haven, Charles Sanger Mellen.Dazu erhoffte sich die New Haven vom Kauf und anschließendem Bau der NYW&B positive finanzielle Effekte, denn die Strecke Richtung Port Chester war durch die vielen Nahverkehrszüge von und nach New York City stark überlastet. Dies ging vor allem zu Lasten des profitablen Fern- und Güterverkehrs, so dass eine Erhöhung der Transportkapazitäten entlang dieser Route sinnvoll erschien. Zudem war die New Haven durch die Interstate Commerce Commission (ICC) dazu verpflichtet worden, die Fahrkarten für Nahverkehrsverbindungen von und nach New York City zu einem Einheitsfahrpreis von 5 US-Cent anzubieten. Die betreffenden Züge mussten jedoch südlich von Woodlawn mangels eigener Gleise die Strecke der konkurrierenden New York Central benutzen, die wiederum pro Fahrgast 24 Cent Streckennutzungsgebühr für die Fahrt zum Grand-Central-Bahnhof verlangte. Um die ständigen Verluste von 19 Cent je Fahrgast zu beenden, sollten die Nahverkehrszüge zukünftig über die Strecke der NYW&B bis zum Harlem River fahren, um die Fahrgäste dort in die Hochbahn umsteigen zu lassen.Gleichermaßen geschahen diese Überlegungen in Erwartung einer weiteren Ausdehnung des Hauptgeschäftsviertels New York Citys Richtung Norden. Dieses hatte sich bis etwa 1850 vor allem im Bereich des heutigen Financial District südlich der Canal Street entwickelt und um 1900 Midtown Manhattan erreicht. Man ging ganz allgemein davon aus, dass der Stadtteil Harlem und die südliche Bronx angesichts der jüngst eröffneten U-Bahn bis etwa 1950 eine ähnliche Entwicklung erfahren würden, so dass die neue Verkehrsverbindung zunehmend an Bedeutung gewinnen würde. Auch für den ländlich geprägten Westchester County selbst gab es große Hoffnungen für ein stark wachsendes Verkehrsaufkommen. Zwischen 1900 und 1910 war die Einwohnerzahl um über 70 % gestiegen, und die Grundstückspreise hatten sich mitunter verdreifacht.
== Bau ==
Für das Vorhaben, eine Neubaustrecke für den Nahverkehr parallel zu den bestehenden Strecken der New Haven zu errichten, waren die ursprünglich vorgesehenen Streckenäste nach Throgs Neck und über White Plains nach Elmsford im Grunde uninteressant. So wurde bei der zuständigen New York Public Service Commission beantragt, diese Strecken aus der Konzession nehmen zu dürfen. Dort wurde nur der Wegfall der Zweigstrecke nach Throgs Neck genehmigt; die Strecke nach Elmsford durfte aber nur bis White Plains zurückgezogen werden.Die Bauarbeiten an der Strecke begannen im Mai 1909. Der erste Streckenabschnitt von der Station 180th Street bis North Avenue in New Rochelle konnte am 29. Mai 1912 eröffnet werden. Ab 1. Juli desselben Jahres ging es weiter bis zur Endstation Westchester Avenue in White Plains. Das Harlem River Terminal wurde am 3. August 1912 erreicht.
Die gesamte Trasse war sehr aufwändig angelegt. Die Strecke war durchgehend zweigleisig und südlich von Mount Vernon sogar viergleisig. Weite Kurvenradien und geringe Steigungen ließen eine hohe Ausbaugeschwindigkeit zu. Dazu waren massive Geländeverbauungen und Dutzende Kunstbauten notwendig. Die Strecke wurde von Beginn an auf ihrer gesamten Länge mittels Oberleitung elektrifiziert, um durchgehend elektrischen Betrieb zu ermöglichen.
Die Bahnhöfe und Haltestellen wurden ebenso aufwändig und großzügig gestaltet, wobei besonderer Wert auf Ästhetik gelegt wurde. Die Gebäude und damit die Bahn insgesamt sollten möglichst attraktiv wirken, um die Grundstückspreise nicht negativ zu beeinflussen und damit die Siedlungsentwicklung entlang der Bahnlinie zu befördern. So entstanden die Gebäude aus Stein und vielfach im Stil der Neorenaissance; in deren Inneren wurden Läden eingerichtet, die Außenbereiche angelegt. Die Ausstattung umfasste ferner Terrazzofußböden und Zentralheizung.Dazu kam ein Wagenpark aus komfortabel ausgestatteten Elektrotriebwagen mit jeweils 350 PS Leistung und einer Höchstgeschwindigkeit von 57 mph (92 km/h). Damit repräsentierte die Westchester den damaligen Stand der Technik einer Schnellbahn und war für sehr hohe Kapazitäten ausgelegt. Die Gesamtkosten für den Bau der Bahn und die Anschaffung der Fahrzeuge beliefen sich offiziell auf 22 Millionen Dollar.Das eigentliche Ziel, das verlustträchtige Fahrgastaufkommen entlang der ursprünglichen Strecke der New Haven nach New York City zu verringern, erforderte die Fertigstellung der parallel verlaufenden Neubaustrecke bis nach Port Chester. Die Bauarbeiten jenseits der North Avenue begannen 1921; Mamaroneck war 1926, Harrison 1927, Rye 1928 und Port Chester schließlich 1929 erreicht. Das Passagieraufkommen im Nahverkehr ging daraufhin auf den bestehenden Strecken zurück, und so konnte dieser entlang des Harlem River Branch am 27. Juli 1930 eingestellt werden.Die Streckenerweiterung von North Avenue nach Port Chester wurde offenbar aus finanziellen Gründen nach einfacheren Maßstäben gebaut. Zwar wurden auch hier zwei Streckengleise verlegt, doch die Bahnsteige bestanden nur noch aus Holz, und statt großzügiger Bauten gab es nur noch kleine Holzhäuschen als Zugangsanlagen.
== Streckenverlauf ==
=== Harlem River–180th Street–Columbus Avenue ===
Die Strecke begann am nördlichen Ufer des Harlem River am Harlem River Terminal Ecke 132nd Street und Willis Avenue. Dort gab es eine direkte Gleisverbindung zur IRT Third Avenue Line sowie eine überdachte hölzerne Fußgängerbrücke hinüber zu deren Station 133rd Street. Von den insgesamt sechs parallel verlaufenden Bahnsteiggleisen wurden zwei von der NYW&B und vier von der Hochbahn benutzt.
Die Strecke verlief zunächst am Ufer entlang Richtung Südosten und mündete dann in den Harlem River Branch der New Haven. Nach vier Zwischenhalten zweigte die Trasse in Höhe der 174th Street wieder ab, wurde nach Nordwesten hin verschwenkt und erreichte an der Station 180th Street mit der IRT White Plains Road Line die U-Bahn. Dahinter ging es weiter nach Nordosten bis zur Stadtgrenze und dahinter weiter nach Norden entlang der South Fulton Avenue durch Mount Vernon bis zum Bahnhof Columbus Avenue. Bis dahin gab es auf New Yorker Seite weitere fünf, in Mount Vernon drei Zwischenhalte. Die zweite Station hinter 180th Street, Pelham Parkway, befand sich dabei in Tunnellage.
An der Columbus Avenue wurde die Bahnlinie der New Haven überquert; die Station wurde als Turmbahnhof mit entsprechenden Umsteigemöglichkeiten eingerichtet. Etwa einen halben Kilometer nordöstlich gabelte sich die bis dahin viergleisige Strecke schließlich.
=== Columbus Avenue–Westchester Avenue ===
Von der Columbus Avenue aus führte die eine Strecke weiter nach Norden Richtung White Plains. Sie war durchgehend zweigleisig und besaß insgesamt neun weitere Stationen in Mount Vernon, Eastchester, New Rochelle, Scarsdale und White Plains. Der Endbahnhof White Plains–Westchester Avenue befand sich Ecke Westchester Avenue und Bloomingdale Road unmittelbar östlich des Stadtkerns.
=== Columbus Avenue–Port Chester ===
Die andere Zweigstrecke war ebenfalls durchgehend zweigleisig und verlief zunächst Richtung Osten und bediente in Pelham und New Rochelle je zwei weitere Stationen, bevor sie kurz hinter dem heutigen Bahnhof New Rochelle zum zweiten Mal auf die New Haven traf. Dort schwenkte die Trasse nach Nordosten ein und verlief parallel zur New Haven bis zum Bahnhof Port Chester kurz vor der Staatsgrenze New York–Connecticut. Entlang dieses Abschnitts bediente die Westchester nicht nur alle Stationen der New Haven, sondern auch noch einige zusätzliche Zwischenhalte. Sie verfügte dabei im Gegensatz zum Harlem River Branch durchgehend über eigene Gleise.
== Betrieb ==
Die Betriebsanlagen der Westchester waren so ausgelegt, dass neben den jeden Bahnhof bedienenden Local-Zügen auch noch Express-Züge, die nicht an jeder Station hielten, angeboten werden konnten. Während die zweigleisigen Abschnitte nördlich der Columbus Avenue von beiden Zuggruppen im Mischbetrieb befahren wurden, diente auf dem viergleisigen Abschnitt das äußere Gleispaar den Locals und das innere den Express-Zügen zum richtungsgleichen Überholen. Die Bahnhöfe entlang dieser Strecke wurden auf dieses Betriebsschema ausgerichtet, so dass an herkömmlichen Stationen nur Seitenbahnsteige am äußeren Gleispaar existierten, Expressbahnhöfe dagegen zwei Mittelbahnsteige zwischen den Richtungsgleisen besaßen. Expressbahnhöfe waren insbesondere 180th Street, Pelham Parkway und East 3rd Street auf dem viergleisigen Abschnitt sowie Wykagyl und Heathcote auf der Strecke nach White Plains. Richtung Port Chester änderte sich die Zuordnung mit dem Fortschritt der Bauarbeiten.
Per Konzession war die Westchester dazu verpflichtet, auf New Yorker Stadtgebiet täglich zwischen 04:00 Uhr morgens und 01:00 Uhr nachts mindestens 60 Local-Zugpaare mit höchstens 30 Minuten Zeitabstand anzubieten; in Mount Vernon mussten es mindestens 50 Zugpaare von und nach New York City sein. Nach dem Willen der NYW&B sollten darüber hinaus jeweils um die Hälfte zeitversetzt die zugehörigen Expresszüge verkehren, die wiederum zeitlich so abgestimmt werden sollten, dass an der East 3rd Street in Fahrtrichtung wechselseitig umgestiegen werden konnte. Die Reisezeit zwischen der 180th Street und White Plains betrug mit dem Local 39 und mit dem Expresszug 25 Minuten. Richtung New Rochelle (North Avenue) dauerte es mit dem Local 25 und mit dem Express 13 Minuten.Der Betrieb wurde 1912 mit einem 20-Minuten-Takt für Locals und einem 40-Minuten-Takt für Expresszüge aufgenommen. Später sollte weiter auf 15/15 Minuten verdichtet werden. Insgesamt war die Strecke darauf ausgelegt, Local- wie Expresszüge im Extremfall im Fünf-Minuten-Takt je Richtung verkehren zu lassen und damit annähernd das Niveau der New Yorker Subway zu erreichen.
== Das Ende ==
Die Westchester war von Beginn an ein hochdefizitäres Unternehmen. Die Ursache für Verluste von zuletzt über 3 Millionen Dollar pro Jahr lag aber nicht nur in der Dimensionierung der Betriebsanlagen und den damit verbundenen Fixkosten. Auch erreichte die Zahl der Fahrgäste nie das ursprünglich angepeilte Niveau, weil die Annahmen bezüglich des Bevölkerungswachstums in der Region viel zu optimistisch gewesen waren. Zwar stiegen die Fahrgastzahlen über die Jahre stetig an, von 2.874.484 (1913) über 6.283.325 (1920) auf schließlich 14.053.188 im Jahre 1928, doch kam die Westchester bis 1930 nicht über 264 Züge am Tag hinaus, womit die Streckenkapazität bei weitem nicht ausgeschöpft wurde.Dazu boten sowohl die New York Central als auch die New Haven auf ihren parallel verlaufenden Strecken Pendlerzüge nach New York City an, die im Gegensatz zur Westchester direkt bis zum Grand Central Terminal im Stadtzentrum fuhren. Außerdem konnte sich die NYW&B im Gegensatz zu anderen Bahngesellschaften nicht auf gewinnbringenden Güterverkehr stützen.
Solange die Westchester die Gewinnschwelle nicht erreichte, hatte die New Haven das Defizit und obendrein die Zinslast und die Kreditbürgschaft zu tragen. Die NYW&B war damit in vollem Umfang von der finanziellen Gesundheit ihrer Muttergesellschaft abhängig.Diese wiederum schien seit jeher ein kerngesundes Unternehmen. Doch Mellen hatte aus den insgesamt 336 Tochtergesellschaften der New Haven ein Pyramidensystem aufgebaut, dessen Gewinne vorwiegend mittels Bilanzfälschung erzielt wurden. Obwohl diese Tatbestände bereits 1913 ans Licht gekommen waren, schienen die finanziellen Schwierigkeiten der New York, New Haven and Hartford Railway damit offenbar nicht beendet. Die Weltwirtschaftskrise führte im Oktober 1935 zum Bankrott. Die Westchester geriet daraufhin angesichts nun ausbleibender Unterstützungszahlungen in Zahlungsverzug und folgte rund einen Monat später am 30. November. Sie hatte bis dahin ein Defizit von insgesamt 45.000.000 Dollar angehäuft.Zunächst wurde versucht, die Bahn durch Sparmaßnahmen und gleichzeitige Bemühungen zur Anhebung der Fahrgastzahlen am Leben zu halten. Weil sich aber angesichts der hohen Kosten für Zinsen, Pacht und Grundsteuer im Laufe der nächsten zwei Jahre keine Besserung einstellte, wurde schließlich auf richterliche Anordnung zunächst der Betrieb eingestellt. Der letzte Zug nach Port Chester fuhr am 31. Oktober, der letzte zwischen dem Harlem River Terminal und White Plains am 31. Dezember 1937. Nachdem auch Versuche, die Gesellschaft an einen Investor zu verkaufen oder unter staatliche Kontrolle zu stellen, gescheitert waren, wurde die Westchester schließlich auf richterliche Anordnung hin liquidiert.Den Streckenabschnitt zwischen der 174th Street und der Stadtgrenze hinter der Station Dyre Avenue erwarb die Stadt New York für 1,7 Millionen Dollar, um ihn in ihr U-Bahn-Netz zu integrieren. Die Elektrotriebwagen verblieben bei der New Haven; sie wurden zu unmotorisierten Passagierwaggons umgebaut und in Vorortzügen im Raum Boston eingesetzt. Das restliche Anlagevermögen wurde im März 1942 versteigert und brachte noch 423.000 Dollar ein; Schienen und Oberleitung wurden abgebaut und anschließend in der Rüstungsindustrie für den Kriegseinsatz verwertet. Viele der Bahnhofsgebäude wurden den zuständigen Gemeinden als Ausgleich für die Steuerschulden überlassen.
== Technische Details ==
Die New York, Westchester and Boston Railway war als weitgehend unabhängig betriebene Schnellbahn konzipiert und durch vielerorts dünn besiedeltes Gebiet gebaut worden. Außerdem hatte sich die Streckenführung nicht an bestehenden, langsamer zu befahrenden Bahnlinien auszurichten. Insofern waren fast keine Kompromisse hinsichtlich Streckenführung, Konzession oder technischer Ausstattung notwendig, so dass die Bahn das seinerzeit technisch Machbare repräsentierte.
=== Trasse ===
Die Trasse sollte für eine möglichst hohe Ausbaugeschwindigkeit angelegt werden, was durch geringe Steigungen (maximal 1 %) und sanfte Kurven (maximal 4 Grad) erreicht werden sollte. Auch sollten Bahnübergänge bewusst vermieden werden. Um dies in dem teils hügeligen Gelände möglich zu machen, mussten entlang der Strecke großzügige Einschnitte, Viadukte und Dämme angelegt werden. Dazu kamen über 70 Kunstbauten, namentlich ein 0,75 Meilen (1,2 km) langer, viergleisiger Tunnel mitsamt unterirdischem Bahnhof unter dem Pelham Parkway in der Bronx, mehrere Viadukte sowie einige Dutzend Brücken und Unterführungen. Sämtliche dieser Bauten wurden ausgesprochen massiv dimensioniert; selbst an sich unbedeutende Fußgängerstege wurden aus Stahl errichtet.Auf der Trasse wurden durchgehend eingeschotterte Schwellengleise verlegt. Dies geschah auch auf Brücken und Viadukten, um dort das Geräuschniveau möglichst niedrig zu halten, wozu eigens Betontröge auf dem Tragwerk aufgesetzt wurden. Die Überhöhung in den Kurven wurde ferner genau auf die dort erwarteten Fahrgeschwindigkeiten hin optimiert. Die Zugsicherung erfolgte mittels automatischer Blocksignale.
=== Energieversorgung ===
Für die Stromzufuhr wurde das 25-Hz-Wechselstromsystem mit 11 kV der New Haven verwendet. Die Oberleitung war an Portalgittermasten aufgehängt und besaß zwei übereinander angeordnete Tragseile (Compound Catenary). Die oberen Tragseile waren an den Oberkanten der Traversen aufgehängt und blieben stromlos. Daran waren in der Mitte der 300 Fuß (91,44 m) langen Felder die unteren Tragseile mittels Isolatoren aufgehängt sowie mit quer verlaufenden Stangen untereinander verbunden. Insbesondere waren die unteren Tragseile nicht an den Masten befestigt. Damit die Oberleitung in Kurven dem Verlauf der Gleise folgen konnte, wurden die Tragseile an diesen Stellen zusätzlich seitlich verspannt. Ferner wurden innerhalb der Weichenwinkel zusätzliche Querdrähte zur Führung der Stromabnehmer angebracht.
Von der Columbus Avenue Richtung New Rochelle wurde zu Versuchszwecken ein anderer, „experimenteller“ (experimental) Typ Oberleitung verwendet. Diese Single Catenary wurde mit nur noch einem Tragseil ausgestattet, das direkt an der Unterseite der Portalmasten aufgehängt wurde. Diese aus heutiger Sicht konventionellere Konstruktion sollte sich innerhalb der NYNH&H-Firmengruppe schließlich durchsetzen.
=== Stationen ===
Die Stationen wurden von den Architekten Reed & Stem, New York entworfen und dabei nach den Gesichtspunkten Ästhetik, Dauerhaftigkeit und Wartungsfreundlichkeit gestaltet. Die Empfangsgebäude bestanden aus Beton und wurden im Stil des Historismus errichtet, namentlich in Mission Revival, im Stil der Neorenaissance und des Neoklassizismus. In deren Innern wurden neben den Fahrkartenschaltern häufig auch Läden und Büros eingerichtet; für Böden und Wandverkleidungen wurde Terrazzo verwendet. Da die Gleise häufig im Einschnitt oder auf einem Damm zu liegen kamen, lagen die Empfangsgebäude häufig nicht höhengleich, sondern unter, über oder seitlich oberhalb der Strecke, wobei in der Regel eine der Außenwände mit der Stützmauer der Geländeverbauung fluchtete.
Die Bahnsteige waren als Hochbahnsteige ausgeführt und wurden ebenso wie die Empfangsgebäude aus Beton statt aus dem damals üblichen Holz errichtet. Auch rückwärtige Begrenzungsmauer, Treppen und die dorischen Säulen für das Bahnsteigdach waren aus Beton. Nur die vordere Bahnsteigkante war als Holzplanke ausgeführt, um bei Bedarf das Lichtraumprofil ein Stück aufweiten zu können.
=== Rollendes Material ===
Der Wagenpark bestand aus 95 vierachsigen Solotriebwagen, die von Pressed Steel Car und Osgood-Bradley zwischen 1912 und 1929 geliefert wurden. Sie besaßen je zwei Fahrmotoren mit je 175 PS Leistung (Achsformel Bo'2'), konnten mit bis zu 1 mph/s (0,447 m/s²) beschleunigen und wurden auf 57 mph (92 km/h) Höchstgeschwindigkeit abgeregelt. Ferner verfügten die Wagen über Totmann- und Nachlaufsteuerung; die Stromaufnahme erfolgte über zwei Scherenstromabnehmer, die über den Drehgestellen angeordnet waren.Die Triebwagen waren 70 Fuß 4 Zoll (21,44 m) lang, 9 Fuß 7 3/4 Zoll (2,94 m) breit, 13 Fuß 3 1/4 Zoll (4,04 m) hoch und 120,000 Pfund (54,43 Tonnen) schwer. Sie boten je nach Baujahr 78 bis 80 Sitzplätze, besaßen große Fensterflächen und thermostatgesteuerte Heizung.Der gesamte Wagenkasten bestand aus einem Stahlgerippe mit aufgenieteten und teilweise bereits aufgeschweißten Stahlplatten. Die Wagen waren in New Haven Green lackiert und besaßen an der Stirnseite Übergänge mit Faltenbalg sowie in Kopfhöhe zwei charakteristische Rundfenster mit 20 Zoll (51 cm) Durchmesser. Die beiden Führerstände waren in Fahrtrichtung gesehen auf der jeweils rechten Seite angeordnet. Je Seite waren drei druckluftbetriebene Taschenschiebetüren mit Zentralsteuerung eingebaut; zwei an den Enden und eine in der Mitte. Da die Westchester auf dem Harlem River Branch im Mischbetrieb mit konventionellen Zügen verkehrte und dort nur niedrige Bahnsteige vorhanden waren, wurden die beiden Türöffnungen an den Fahrzeugenden zusätzlich mit Trittstufen ausgestattet.
Neben den Triebwagen existierten noch vier Flachwagen, ein gedeckter Güterwagen, eine vierachsige Elektrolokomotive sowie ein benzinelektrischer Fahrleitungsmontagewagen für Wartungsarbeiten.
=== Betriebshof ===
Der Betriebshof befand sich nördlich des Bahnhofs 180th Street unmittelbar östlich der Bahnstrecke und umfasste Bauhof und Betriebswerkstatt. Diese wiederum bestand aus einer 49 Fuß (14,94 m) breiten, 171 Fuß (52,12 m) langen, dreiständigen Halle in Stahlskelettbauweise und war einzig für Wartung und Instandsetzung dieser Triebwagen ausgelegt. Dabei wurde großer Wert darauf gelegt, sämtliche Reparaturen möglichst schnell und auf kurzen Wegen ausführen zu können. Das Gebäude besaß große Fenster für helle Räume und war bei kompakten Außenmaßen auf maximale Raumausnutzung ausgelegt.
=== Tarif und Fahrkarten ===
Die Fahrpreise waren nach (zu Anfang) insgesamt acht Zonen (zones) gestaffelt, wobei der Tarif für die Einzelfahrt pro Zone 5 Cent betrug. Jede Zone repräsentierte einen bestimmten Streckenabschnitt, dessen Grenzen sich aber nicht direkt an tatsächlichen Entfernungen, sondern an den Gemeindegrenzen orientierten. So kostete die Fahrt über 8,39 Meilen (13,5 km) vom Harlem River Terminal zur Dyre Avenue innerhalb New Yorks ebenso 5 Cent wie über die 1,65 Meilen (2,66 km) von der Kingsbridge Road zur Columbus Avenue innerhalb Mount Vernons. Dieses Zonensystem unterschied sich ebenso von den damaligen Pauschaltarifen innerstädtischer Verkehrsmittel wie auch von der kilometerabhängigen Tarifierung, wie sie bei konventionellen Eisenbahnen üblich war. Die Idee dazu stammte aus London und Berlin. Zusätzlich zu ihren europäischen Vorbildern waren die Fahrkarten je nach Zielzone in einer unterschiedlichen Farbe markiert, beispielsweise in Rot für das Stadtgebiet New York Citys.Die Fahrgäste erwarben am Startpunkt eine Fahrkarte zur gewünschten Zielzone. Dabei legte diese Zielzone die Farbe, und der Startpunkt den zu entrichtenden Fahrpreis fest. Die Karten wurden dann bei Betreten der Station an einem Drehkreuz mit einem Stempel entwertet und beim Verlassen des Zielbahnhofs an einem weiteren Drehkreuz abgegeben und vernichtet. Die farbliche Markierung erleichterte dabei die Kontrolle, weil an jedem Bahnhof einer bestimmten Zone immer nur Fahrkarten in genau der Farbe dieser Zone abzugeben waren. Außerdem waren keine Zugschaffner notwendig.
== Spuren und Überreste ==
Der Streckenabschnitt zwischen der 180th Street und der Stadtgrenze bildet heute die IRT Dyre Avenue Line der New York City Subway und wird von der U-Bahn-Linie 5 befahren. Der rund 4,5 Meilen (7,24 km) lange Abschnitt wurde nach dem Verkauf auf Stromschiene umgerüstet und am 15. Mai 1941 als Pendelverkehr und am 6. Mai 1957 endgültig eröffnet.
Entlang der Strecke sind mit Stand von 2008 zwischen Morris Park und Dyre Avenue genau die fünf ursprünglichen Stationen in Betrieb. An der 180th Street steuern die Züge dann aber nicht mehr den ursprünglichen NYW&B-Bahnhof an, sondern fädeln bereits ein Stück weiter nördlich in die IRT White Plains Road Line ein und benutzen den gleichnamigen IRT-Bahnhof. Das Empfangsgebäude der Westchester sowie die zugehörigen Bahnsteige samt Überdachungen sind aber erhalten und werden als Betriebshof genutzt. Insgesamt wirkt die Dyre Avenue Line bis auf die vergleichsweise großzügigen Empfangsgebäude und die größeren Stationsabstände wie eine ganz normale U-Bahn-Strecke an der Peripherie New Yorks.
Südlich der 180th Street blieb zunächst noch der Viadukt hinunter zum Harlem River Branch und die Gleisverbindung am Harlem River Terminal zur IRT Third Avenue Line bestehen, weil es sonst keine Gleisverbindung zur Übergabe von Rollmaterial gegeben hätte. Nach Eröffnung der Verbindungskurve zur White Plains Road Line wurde diese Behelfslösung überflüssig und im Laufe der Zeit abgebaut. Das Empfangsgebäude am Harlem River Terminal blieb bis 2006 erhalten.Der Nahverkehr entlang des Harlem River Branch wurde nach dem Ende der NYW&B auch vonseiten der New Haven nicht wieder aufgenommen, so dass die dortigen Stationen aufgegeben wurden. Als Teil des Nord-Ost-Korridors spielt die Strecke jedoch bis heute eine wichtige Rolle im Fernverkehr.
Nördlich der New Yorker Stadtgrenze ist die Trasse besonders im Bereich Mount Vernon und New Rochelle vielfach mit Fabriken und Wohnhäusern überbaut worden, so dass sie auf Luftbildern nur noch abschnittsweise nachvollziehbar ist. Weiter nördlich hebt sich der Bahndamm dagegen besonders durch die Geländeverbauungen und seine weiten Kurvenradien strukturell noch deutlich von der übrigen Landschaft ab. An einigen Stellen existieren noch einzelne Durchlässe und Brückenwiderlager, etwa an der Columbus Avenue. Der Verlauf der Gleise nördlich von New Rochelle und auf dem Harlem River Branch in der Bronx lässt sich durch die dort breiteren Portalmasten der Oberleitung sowie einzelne noch vorhandene Brückenelemente nachvollziehen. Die meisten Stationsgebäude wurden entweder verkauft und umgenutzt, dem Verfall preisgegeben oder im Laufe der Zeit abgebrochen, sofern sich keine anderweitige Nutzungsmöglichkeit anbot.Zwischen Mount Vernon und White Plains wird die Trasse teilweise noch anderweitig genutzt; so dient der Einschnitt im Bereich Heathcote als Planum für eine Umgehungsstraße und nördlich davon als Wanderweg. An der Stelle des Endbahnhofs in White Plains steht heute das Einkaufszentrum Westchester Mall.
== Weiterführende Informationen ==
=== Bücher ===
Arcara, Roger: Westchester’s forgotten railway, 1912–1937; the story of a short-lived short line which was at once America’s finest railway and its poorest: the New York, Westchester & Boston Railway. erweiterte und überarbeitete Auflage. Quadrant Press, New York 1972. (englisch)
Bang, Robert A.: The New York, Westchester & Boston Railway Company 1906–1946. Selbstverlag, Port Chester 2004, ISBN 0-9762797-1-1. (englisch)
Bang, Robert A., John E. Frank, George W. Kowanski und Otto M. Vondrak: Forgotten railroads through Westchester County. Selbstverlag, Port Chester 2007, ISBN 978-0-9762797-3-0. (englisch)
Harwood, Herbert H.: The New York, Westchester & Boston Railway: J.P. Morgan’s Magnificent Mistake. Indiana University Press, Bloomington, 2008, ISBN 978-0-253-35143-2. (englisch)
=== Zeitschriftenartikel ===
Zu Betriebsbeginn 1912 erschien eine Reihe von Artikeln im Electric Railway Journal. Zwei davon bieten einen guten Überblick:
McGraw Publishing Company (Hrsg.): The New York, Westchester & Boston Railway. In: Electric Railway Journal, Band XXXIX, Nr. 21, 25. Mai 1912, S. 864 ff. (englisch)
McGraw Publishing Company (Hrsg.): Track and Stations of the New York, Westchester & Boston Railway. In: Electric Railway Journal, Band XXXIX, Nr. 23, 8. Juni 1912, S. 956 ff. (englisch)
Herbert H. Harwood Jr.: Grass grows on the Westchester. In: Trains. Kalmbach Publishing Co., Oktober 1951, ISSN 0041-0934, S. 42–47.
=== Weblinks ===
New York, Westchester, & Boston Railway auf nycsubway.org (private Seite, enthält zeitgenössische wie aktuelle Fotos sowie unter anderem die genannten Artikel aus dem Electric Railway Journal, jedoch nur textuell vollständig; insbesondere fehlen etliche Abbildungen sowie die meisten technischen Zeichnungen; englisch)
Bryk, William: The (Rail)Road of Hubris (Memento vom 7. Oktober 2008 im Internet Archive). In: New York Press, News & Columns. (englisch)
Otto M. Vondrak: The New York Westchester & Boston Railway Co., 2007. (private Seite, englisch)
=== Einzelnachweise ===
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https://de.wikipedia.org/wiki/New_York,_Westchester_and_Boston_Railway
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Nippenburg
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= Nippenburg =
Die Nippenburg ist die Ruine einer Spornburg und eines Gehöfts südwestlich von Schwieberdingen auf 295 m ü. NN. Sie wurde 1160 erstmals urkundlich erwähnt und gilt als die älteste in der Region Stuttgart. Im 17. Jahrhundert wurde die strategisch günstig auf einem Bergsporn oberhalb des Glemstals liegende Burg verlassen und in unmittelbarer Nähe das Herrenhaus Schloss Nippenburg erbaut. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Burganlage als Steinbruch benutzt und dem Verfall preisgegeben. Die Reste der Burgruine mit hohen Schildmauer- und Vorburgteilen sowie einer massiven Scheuer aus dem Jahr 1483 wurden Anfang der 1980er Jahre konsolidiert.
== Geschichte ==
Die Nippenburg wurde zu militärischen Zwecken vermutlich im 12. Jahrhundert durch ein örtliches Adelsgeschlecht erbaut. Sie gilt als die älteste Burgruine im Raum Stuttgart. Erstmals urkundlich erwähnt wurde die Burg im Codex Hirsaugiensis, der für 1160 eine von einem Berwart „unterhalb der Nippenburg“ erbaute Mühle bezeugt. 1283 fand auf der Nippenburg ein prominentes Stelldichein statt: Gäste Friedrichs von Nippenburg (dictus Urrus de Nippenburc) waren der niederschwäbische Reichslandvogt Graf Albrecht II. von Hohenberg, Graf Eberhard I. von Württemberg, Graf Konrad III. von Vaihingen und der Propst Dietrich von Beutelsbach sowie zahlreiche Geistliche, Edelfreie und Ministeriale überwiegend aus dem Gebiet zwischen Sindelfingen und Pforzheim, die hierbei allesamt einen Erbvergleich der Herren von Nippenburg und der Herren von Enzberg um die Burg Kapfenhart bei Weissach bezeugten.Die ursprüngliche Burganlage der Herren von Nippenburg wurde im Laufe der Zeit mehrere Male erweitert. So stammt der der Ringmauer vorgelagerte Zwinger aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die Vorburg mit der heute noch erhaltenen massiven Scheuer wurde gegen Ende des 15. Jahrhunderts errichtet.
Aufgrund der neu entwickelten Explosionsgeschosse und dem damit einhergehenden Ersatz von Katapulten durch Mörser und Kanonen konnten die Burganlagen den Bewohnern keinen ausreichenden Schutz mehr bieten. Da man auf den Burgen zudem nur kalt, nass und ungemütlich wohnte, wurden diese mehr und mehr verlassen. Um 1600 wurde daher mit dem Bau des Herrenhauses Schloss Nippenburg oberhalb der Burganlage begonnen, welches im 18. und 19. Jahrhundert erweitert und verändert wurde.
Als Wilhelm, der letzte Ritter zu Nippenburg, das Herrenhaus errichtete, ließ er Steine aus der Burg herausbrechen und verwendete sie als Baumaterial für seinen neuen Herrensitz. Nachdem die Burganlage selbst bis etwa 1700 bewohnt war, wurde sie in den folgenden Jahrhunderten dem Verfall preisgegeben. Zu welchem Zeitpunkt die Burg als Wohn- und Schutzstätte völlig aufgegeben wurde, kann nicht genau festgelegt werden. So deutet eine bei Restaurierungsarbeiten gefundene Ofenplatte aus dem Jahr 1770 darauf hin, dass die Burg auch noch zu einem späteren Zeitpunkt teilweise bewohnt war. Aus einem Schriftwechsel der Vögte von Grüningen und Leonberg, die sich in den Jahren 1647 und 1648 um gut erhaltene Bretter und Balken der Nippenburg stritten, geht allerdings hervor, dass Teile der Gebäude innerhalb der Burg bereits zu dieser Zeit aufgegeben waren und man sich an den übrig gebliebenen Resten der Burg bediente, bis sie schließlich nur noch eine Ruine war. Im Laufe der Zeit überzogen Efeu und Sträucher die Mauerreste. Lediglich die Vorrats- und Lagerräume der Burg wurden noch lange Zeit von den Bewohnern des Herrenhauses genutzt.
In den 1960er und 1970er Jahren reifte der Plan, das in desolaten Zustand geratene Gemäuer zu sanieren. Um die Burgruine zu erhalten, wurden von 1979 bis 1984 umfangreiche Restaurierungsmaßnahmen an dem einsturzgefährdeten Gemäuer durchgeführt. Hauptinitiator war Helmut Theurer, dem eine Gedenktafel am Bergfrieds gewidmet ist. Die Kosten hierfür trugen das Landesdenkmalamt Baden-Württemberg, die Gemeinde Schwieberdingen, der heutige Besitzer Graf Leutrum sowie der Landkreis Ludwigsburg. Heute ist die Burgruine Nippenburg ein beliebtes Ausflugsziel.
== Burgruine Nippenburg ==
Die Burgruine liegt südwestlich von Schwieberdingen auf einer Anhöhe am Rande des heutigen Schlossgutes Nippenburg. Die auf einem von der Glems umflossenen Bergsporn liegende Höhenburg war an drei Seiten durch Sümpfe und den steil abfallenden Hang geschützt. Dieser war unmittelbar um die Burg einst kahl, denn den Angreifern sollte kein Baum oder Strauch Schutz und Deckung bieten. Gefahr drohte der Burg fast nur von der Ostseite, wo sich der Bergsporn in das offene Gelände fortsetzt. Zum Schutz dagegen errichteten die Burgherren die zum Teil noch heute sichtbare mächtige Schildmauer. Der sechzehn Meter hohen und drei Meter dicken Mauer war zur Abwehr von Feinden zusätzlich ein südöstlich der Burganlage verlaufender Halsgraben vorgelagert. Über diesen breiten und einst rund sechs bis acht Meter tiefen Burggraben führte eine steinerne Rundbogenbrücke, die drei Meter vor dem Burgtor endete. Die zwischen Brücke und Burgtor befindliche Zugbrücke – vermutlich im 15. Jahrhundert durch einen weiteren Steinbrückenbogen ersetzt – konnte bei Gefahr hochgezogen werden. Aufgrund dieses Wehrsystems gewährte die Nippenburg ihren Bewohnern über viele Jahrhunderte Sicherheit und Zuflucht. So ist es nicht überliefert, dass die Nippenburg jemals eingenommen, zerstört oder niedergebrannt wurde.
Die Anlage hat zwei Vorburgen. Die erste, südliche Vorburg mit großer Burgscheune und dem weiten ehemaligen Hofbereich, weist im Westen und Osten die Reste von zwei Burgtoren auf. Die Reste des östlichen Torturms links und rechts des Weges weisen heute noch darauf hin, dass sich zu dieser Seite hin eine gut befestigte Wehranlage mit einem überdachten Wehrgang, der bis hin zur Burgscheuer ging, befand. Hier hielt sich auch die Burgwache auf.
Neben der großen freien Wiese befindet sich in der südlichen Vorburg ein zum größten Teil in der ursprünglichen Form erhaltenes Wirtschaftsgebäude, die 1483 erbaute gotische Burgscheuer. Unter ihr befindet sich ein außergewöhnlich großer Gewölbekeller, welcher für die Vorratshaltung besonders bei längeren Belagerungszeiten lebensnotwendig war. Unter dem Scheunendach befinden sich drei übereinander gebaute Kornböden. Der südliche Vorhof der Burg ist vermutlich mit dem bei der Anlage des Halsgrabens angefallenen Aushub aufgefüllt worden. So entstand eine hohe Stützmauer, die im Süden durch zwei vorgelagerte Mauern zwingerartig umschlossen ist.
Das westliche Burgtor führt zum Glemstal hinab. Auch hier lassen sich die ehemaligen Kettenscharten der Zugbrücke erkennen. Dem Weg durch das zweite Burgtor in Richtung Tal folgend, befindet sich rechter Hand ein Mauerzug, der zu einem ehemaligen Wirtschaftshof gehört. An den Innenmauern des Wirtschaftshofes waren unter einem Pultdach die Stallungen und die Schmiede auf der einen Seite und das Gesindehaus mit Wagnerei und Sattlerei auf der anderen Seite untergebracht. Ein Stück weiter stößt man auf die erkennbaren Reste eines früheren Wall- und Grabensystems, das nach Westen hin als ein erster Verteidigungsbereich der Burg diente. Auf einem steil abfallenden Fuß- oder Reitweg gelangt man hier an die rund 50 Meter niedriger liegende Glems.
In der westlichen Vorburg, die gegenüber der großen Burgscheune liegt, findet man nur noch die Reste einer Zisterne und eines einst hohen Bergfrieds mit dem darunter liegenden fünf Meter tiefen Verlieskeller, den man jedoch nicht einsehen kann.
Durch die Öffnung des heute nicht mehr vorhandenen inneren Burgtors gelangt man von hier aus in den Burghof der Hauptburg. Hier erhebt sich im östlichen Teil die Rückseite der mächtigen Schildmauer, an die sich zu beiden Seiten eine Ringmauer anschließt, die in früheren Zeiten den ganzen Burghof umgab. Die Mauer ist heute zumeist noch hüfthoch erhalten, gut gesichert und nur nach Norden hin unterbrochen. Es wird vermutet, dass dort am steilen Hang Mauerteile durch Erosion abgegangen sind. An der Innenseite der alten Ringmauer ist eine Informationstafel mit Grundriss und Geschichte der Nippenburg angebracht.
Eine Pforte in der im südlichen Teil hoch aufragenden Ringmauer gibt den Weg zum südöstlichen Zwinger frei. Dieser stellte durch die Vielzahl von Schießscharten einen weiteren wichtigen Verteidigungsbereich dar. In der südöstlichen Ecke des Zwingers stand das 1945 mutwillig zerstörte und im Volksmund Käppele genannte Wachtürmchen. Der heute noch vollständig erhaltene Ausguck zeugt davon, dass von hier aus der Torwächter die Zugbrücke bediente.
Im Burghof selbst befand sich zwischen Bergfried und dem noch erhaltenen Burgkeller die geräumige Küche. Das Deckengewölbe des Burgkellers bildete einst das Fundament für den nur noch bruchstückhaft vorhandenen Palas, welcher, abgesehen von einigen Fenstern und restaurierten Mauern, nur noch wenige Details aufweist. Im Schutze der Schildmauer stand das Kemenate genannte Frauengemach, an das sich eine kleine Kapelle anschloss.
== Herrenhaus Schloss Nippenburg ==
Da die Burg ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert mehr und mehr ihre ursprüngliche Funktion verlor, entstand in ihrer unmittelbaren Nähe ein repräsentatives Schloss, das 1600 von Heinrich Schickhardt erbaut, im Jahr 1728 und nochmals im 19. Jahrhundert umgebaut wurde. Zu dem heutigen dreigeschossigen Putzbau in klassischer Gliederung, der als typischer ländlicher Adelssitz gelten kann, gehören ein Wirtschaftshof mit verschiedenen Gebäuden und ein Park. Seit 1951 wird das Schloss wieder von der gräflichen Familie Leutrum von Ertingen, den direkten Nachfahren der Ritter von Nippenburg bewohnt.
Im rückwärtigen Bereich des Herrenhauses liegt umzäunt von alten Mauern der etwa zwei Hektar große Schlosspark. Der mehr als 200 Jahre alte Park wurde im Laufe der Jahrhunderte mehrfach umgestaltet. So zeigt die älteste Karte von 1767 schnurgerade Obstbaumreihen im Bereich der heutigen Parkanlage. Erst am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert erfolgte die Umgestaltung zu seiner heutigen Form im Stil eines englischen Landschaftsgartens. Ein englischer Garten soll im Gegensatz zum französischen Barockgarten möglichst der Natur nachempfunden sein, es existieren keine geraden Achsen oder strenge geometrische Formen. Entlang der mit feinen Kieselsteinen belegten Wege findet man im Schlosspark inmitten des kurzgeschorenen Rasens mehr als 30 verschiedene Arten, darunter seltene Eichen und Buchen, Mammutbäume, Trompeten-, Tulpen- und Ginkgo-Bäume, sowie einige wie Einsprengsel wirkende Rosenbeete und Blumenrabatten. Eine botanische Besonderheit ist ein Urweltmammutbaum (Metasequoia). Diese laubabwerfende Nadelbaumart wurde erst 1941 in China entdeckt und war vorher nur aus fossilen Funden bekannt.
Der Schlosspark ist wie das Herrenhaus selbst in Privatbesitz der Familie zu Ertingen und nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Zum Tag des offenen Denkmals am 10. September 2006, der unter dem Motto Rasen, Rosen und Rabatten – Historische Gärten und Parks stand, bot der Heimat- und Kulturkreis Schwieberdingen Führungen durch den sonst versperrten Garten an.
== Bewohner der Nippenburg ==
Erbaut wurde die Nippenburg vermutlich als Stammsitz des niederadeligen Geschlechts der Nippenburger. Woher dessen Name stammt, ist nicht geklärt. Es wird jedoch vermutet, dass er auf einen alemannischen Ortsherren namens Nippo zurückzuführen ist, der möglicherweise im Umfeld der Burg eine Siedlung gegründet hatte.
Erstmals urkundlich belegbar ist das Geschlecht der Herren von Nippenburg 1275, als ein Ritter namens Fridericus de Nippenburc als Zeuge in einer von den Grafen Rudolf von Tübingen-Herrenberg und Ulrich von Tübingen-Asperg gesiegelten Urkunde aufgeführt wurde.Die Nippenburger waren zunächst als Vasallen dem einstigen Grafen von Asperg, einem Zweig der Pfalzgrafen von Tübingen, ab 1308 dann den württembergischen Landes- und Lehnsherren verbunden. Einzelne Mitglieder des weit verzweigten Familienstamms erschienen im Laufe der Geschichte jedoch auch als badische sowie hohenlohesche Vasallen. Im 14. Jahrhundert hatten die Herren von Nippenburg bereits an sehr vielen Orten Rechte und Besitz, der sich im Laufe des 15. Jahrhunderts erweiterte. Ihre Ländereien lagen in einem weiträumigen Gebiet, das vom Korngäu und Schönbuch im Süden bis ins Zabergäu im Norden sowie vom Pforzheimer Raum im Westen bis ins Remstal im Osten reichte. Zeitweise hatten ihnen auch die Burg Kleiningersheim, der Burgstall Ditzingen, die Burg Altsachsenheim und die Burg Bromberg im Kirbachtal gehört. 1488 traten die Ritter von Nippenburg aufgrund einer kaiserlichen Aufforderung dem Schwäbischen Bund bei, der aus dem Zusammenschluss der Rittergesellschaft Sankt Georgenschild und einiger Reichsstädte entstand. Da der Bund dem Reich unmittelbar unterstand, erlangten sie durch den Beitritt größere Unabhängigkeit von ihrem Landesherrn. Neben dem Ausbau und der Festigung ihrer weltlichen Macht waren die Herren von Nippenburg auch bestrebt, kirchliche Macht zu erlangen. So war Fritz von Nippenburg 1306 der erste namentlich bekannte Kirchherr der Georgskirche in Schwieberdingen und besaß dadurch Mitspracherechte bei der Vergabe der kirchlichen Ämter. Als Ortsherren von Schwieberdingen traten die Nippenburger auch als Bauherren auf. 1489 begann die Arbeit am Schiff der Georgskirche, 1495 der Bau des Chors. Zudem sind auch der Bau des Wasserschlosses 1508 und der Schlossscheuer 1565 auf die Herren von Nippenburg zurückzuführen.
Als einziger seines Geschlechts stieg der 1458 geborene Philipp von Nippenburg auch in höchste Staatsämter auf. 1498 wurde er in die württembergische Regierung berufen. 1501 war er bereits herzoglich württembergischer Hofmeister. Während der Zeit des Armen Konrads war er einer der wichtigsten Berater an der Seite von Herzog Ulrich von Württemberg, der ihn daraufhin im Jahr 1515 mit dem Erbschenkenamt im Herzogtum Württemberg belehnte. Das Wappen der Nippenburger, zuvor ein geöffneter Adlerflug auf blauem Grund, wurde von da an um den Schenkenbecher erweitert. Das Jahr 1518 brachte für Phillip von Nippenburg einen weiteren Aufstieg. Er wurde zum württembergischen Landhofmeister ernannt und leitete zusammen mit dem rechtskundigen Kanzler Ambrosius Volland die Regierungsgeschäfte. In dieser Zeit waren die Nippenburger auf dem Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht.
Mit Beginn des 17. Jahrhunderts ist ein Rückgang des nippenburgischen Besitzes, der seine größte territoriale Ausdehnung gegen Ende des 15. Jahrhunderts erreicht hatte, zu beobachten. Zurückzuführen ist dies vor allem darauf, dass nach dem Ab- und Aussterben von Nippenburger Seitenlinien die Ländereien an andere Ritterfamilien vererbt wurden. Von da an konzentrierte sich der Besitz der Herren von Nippenburg überwiegend um Hemmingen, Schöckingen, Schwieberdingen und Unterriexingen.
Nachdem das Geschlecht der Ritter von Nippenburg in Schwieberdingen 1609 mit dem Tod des letzten Erbschenken Wilhelm von Nippenburg ausgestorben war, gelangten Burg und Gut 1611 durch die Heirat von Anna Benedikta von Nippenburg und des Freiherrn Johann Heinrich von Stockheim an das Haus Stockheim. Der männliche Stamm der Nippenburger außerhalb Schwieberdingens starb mit dem Tod von Ludwig von Nippenburg im Jahr 1646 ab. Name und Wappen der Nippenburger lebten als Beiname im gräflichen Geschlecht Bissingen-Nippenburg fort, da Johann Friedrich von Bissingen 1646 Kunigunde von Nippenburg geheiratet und das nippenburgische Stammeigentum übernommen hatte. Der damalige Sitz der Grafen von Bissingen und Nippenburg, die Burg Hohenschramberg wird daher heute teilweise ebenfalls Nippenburg genannt. Der weibliche Stamm des Geschlechts von Nippenburg überlebte noch bis Ende des 17. Jahrhunderts. Als „die letzte ihres Stammes und Namens“, wie es auf ihrem Grabstein in Böblingen steht, starb Ursula Margaretha Truchsess von Höfingen, geborene von Nippenburg im Jahr 1696.Durch Friederieke Julianne von Stockheim, die Enkeltochter von Anna Benedikta von Nippenburg, die Burg und Gut 1685 als Mitgift in die Ehe mit dem Grafen Ernst Ludwig Leutrum von Ertingen einbrachte, kam das Anwesen in den Familienbesitz der Grafen Leutrum, denen Burg, Schloss und Gut heute noch gehören.
== Sagen und Legenden ==
Wie um viele mittelalterliche Burgen ranken sich auch um die Nippenburg einige Sagen und Legenden.
So sollen einst im sumpfigen Gelände der Niederungen des Glemstals unterhalb der Nippenburg bei einer Schlacht sämtliche Krieger im Moor versunken sein.
Lange Zeit danach lebte auf der Nippenburg ein Ritter, der eine einzige Tochter hatte. Der Ritter Christoph von Hemmingen warb um sie. Einmal kehrte die Braut erst spät in der Nacht heim. In der Dunkelheit kam sie vom Weg ab und geriet ins Moor. Niemand hörte ihre Hilferufe und sie versank im Moor. Als man sie am nächsten Tag suchte, fand man nur noch ein Tüchlein von ihr. Um seinen großen Schmerz zu vergessen und nicht fortwährend an das schlimme Unglück erinnert zu werden, zog der Bräutigam mit dem Kaiser in den Krieg. Doch auch im Kriegsgeschehen konnte er seine junge Braut und ihr schmerzliches Ende nicht vergessen. In seiner Heimat hörte man nichts mehr von ihm. Nach seinem Kriegsdienst soll er in ein Kloster eingetreten sein, in dem er viele Jahre lebte und sich der Naturheilkunde widmete. Alt geworden, zog es ihn wieder an den Ort seiner einstigen großen Liebe zurück, und als unterhalb der Nippenburg ein Mönch dort eine Hütte baute und sich niederließ, erkannte niemand mehr den einstigen Jüngling, denn viele Jahrzehnte waren ins Land gezogen und auf der Nippenburg und in Hemmingen gab es nur noch wenige Leute, die sich an das Unglück von damals erinnern konnten. Bald hatte es sich in der Gegend herumgesprochen, dass unterhalb der Nippenburg ein alter Mönch lebe, der Tag und Nacht bete. Er sammelte Gräser, Kräuter und Wurzeln und verteilte sie an Kranke, die Heilung für allerlei Krankheiten erbaten. Sie brachten ihm Speise und Trank und verehrten ihn als einen Heiligen. Auch halfen sie ihm, ein Kirchlein zu bauen. So vergingen die Jahre, und als eines Morgens wieder einmal Hilfesuchende an seine Tür klopften, blieb es still: Der alte Mann lag tot in seiner Hütte. Als die herbeigerufenen Männer ihn auf eine Bahre legten, kam unter seiner Kutte ein goldenes Kreuz hervor. Darauf stand auf der einen Seite: „Ritter Christoph von Hemmingen“ und auf der anderen: „Die Liebe höret nimmer auf“. Der Ort unterhalb der Nippenburg wird heute noch das Moorkirchle genannt.Auch wird die Nippenburg mit allerhand Geistergeschichten in Verbindung gebracht. So wird erzählt, dass ein Graf namens Hans dort sein Vermögen vergraben habe und es nach seinem Tod weiterhin hüte. In früheren Zeiten wurde zudem berichtet, dass am Schwieberdinger Steinbruch des Öfteren ein Reiter ohne Kopf zu sehen war, dessen Pferden von Geistern Zöpfe in Schwanz und Mähne geflochten wurden. Ferner werden Geschichten über das Käppele, das so genannte alte Wachttürmchen der Nippenburg erzählt. So soll der Weg nach Schwieberdingen in der Nacht gemieden werden, da hier der Käppelesgeist nachts von der Nippenburg nach Schwieberdingen hinuntergehe.
== Golf Nippenburg ==
In direkter Nachbarschaft zum Nippenburger Herrenhaus liegt die 18-Loch-Golfanlage Golf Nippenburg. Das 90 Hektar große, einst landwirtschaftlich genutzte Gelände wurde 1995 zu einem modernen Golfplatz umgestaltet. Für die Planung des 6.154 Meter langen bei Par 71 liegenden Course war der deutsche Spitzengolfer Bernhard Langer verantwortlich. Neben dem 18-Loch-Hauptplatz existiert eine Übungsanlage mit Driving Range, Putting- und Chipping-Greens sowie drei Übungsbunkern. Seit 2020 bietet Golf Nippenburg auch Toptracer an.
Weltweit bekannt wurde die Golfanlage Schloss Nippenburg durch die von 1995 bis 1997 hier ausgetragenen German Open. In die Gewinnerliste der jeweils mit knapp zwei Millionen Mark dotierten Turniere trugen sich 1995 der Schotte Colin Montgomerie, 1996 der Waliser Ian Woosnam sowie 1997 der Spanier Ignacio Garrido ein.
== Literatur ==
Klaus Graf: Sagen rund um Stuttgart. Braun, Karlsruhe 1995, ISBN 3-7650-8145-0.
Max Miller, Gerhard Taddey (Hrsg.): Handbuch der historischen Stätten Deutschlands. Band 6: Baden-Württemberg (= Kröners Taschenausgabe. Band 276). 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 1980, ISBN 3-520-27602-X.
Willi Müller: Schwieberdingen, das Dorf an der Straße. Grundriß einer Ortsgeschichte. Ungeheuer & Ulmer, Ludwigsburg 1961.
Wilfried Pfefferkorn: Burgen unseres Landes, Band 3: Oberer Neckar mit Stuttgart und Umgebung. J. Fink Verlag, Stuttgart o. J. (1973?), ISBN 3-7718-0241-5, S. 42.
Reinhold Rau: Beiträge zur Genealogie und Geschichte der Herren von Nippenburg. In: Ludwigsburger Geschichtsblätter, Heft 23 (1971), S. 7–38.
Eugen Schübelin: Nippenburg. In: Ludwigsburger Geschichtsblätter, Heft 8 (1916), S. 8–23.
Helmut Theurer: Die Nippenburg. Ihre Geschichte und ihre Geschlechter. 2. ergänzte Auflage. K. M. Leutrum von Ertingen, Schwieberdingen 1998.
== Einzelnachweise ==
== Weblinks ==
Die Nippenburg auf der Homepage der Gemeinde Schwieberdingen
Die Nippenburg auf www.burgenwelt.de
Homepage der Golfanlage Schloss Nippenburg
Rekonstruktionszeichnung aus Burgrekonstruktion.de
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nippenburg
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Ottos mops
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= Ottos mops =
ottos mops ist ein Gedicht des österreichischen Lyrikers Ernst Jandl. Die Entstehung ist auf den 20. November 1963 datiert. Im September 1970 wurde es in Jandls Lyrikband der künstliche baum veröffentlicht. Das Gedicht besteht aus einfachen Hauptsätzen von zwei bis vier Wörtern, die ausschließlich denselben Vokal enthalten, das o. Erzählt wird eine kurze Episode aus dem Leben von Herr und Hund: Nachdem Otto seinen unartigen Mops zunächst fortgeschickt hat, sehnt er sich schon bald wieder nach ihm und ruft ihn herbei. Die Reaktion des zurückkehrenden Mopses ist jedoch nicht wie erwartet: Er kotzt.
ottos mops ist eines der bekanntesten heiteren Gedichte Jandls. Der Autor selbst bezeichnete es als Sprechgedicht, das beim Vortrag eine besondere Wirkung entfalte. Es wird im Schulunterricht häufig als Lehrbeispiel für konkrete Poesie eingesetzt und fand zahlreiche Nachahmungen, sowohl von Kindern als auch von anderen Dichtern.
== Inhalt ==
ottos mops besteht aus insgesamt 14 Versen in drei Strophen. Zu Beginn wird ein unartiger Mops von seinem Besitzer namens Otto weggeschickt.
Otto kommentiert die Befolgung seiner Anweisung mit einem „soso“. Danach verrichtet er Alltagstätigkeiten, holt Koks und Obst. Nach einer Weile horcht er nach dem Mops, ruft ihn und hofft auf dessen Rückkehr. Der Mops klopft, wird von Otto freudig begrüßt, doch seine Reaktion fällt unerwartet aus:
== Textanalyse ==
Auffälligstes Merkmal des Gedichts ottos mops ist sein Monovokalismus: die Beschränkung aller Wörter auf den Vokal o, während die Konsonanten frei bleiben. Durch diese Restriktion ist die Wortwahl zwar stark eingeschränkt, dennoch ist sie nicht rein seriell im Sinne generativer Poetik, sondern lässt das Komponieren eines Textes unter einer Vielfalt von Möglichkeiten und das Unterlegen einer spezifischen Semantik zu. Das Gedicht besteht aus 41 Wörtern mit Assonanz auf o, ist aber nur aus 15 unterschiedlichen Wortstämmen gebildet, die stetig wiederholt werden. Es gibt lediglich zwei handelnde Figuren: „otto“ und den „mops“. Ihnen sind Verben zugeordnet, die durchgehend in der dritten Person Singular Indikativ Präsens Aktiv stehen, aus der Reihe fällt lediglich der durch seine Wiederholung betonte Imperativ „komm“, mit dem Otto seinen Mops zurückruft. Daneben treten noch die Substantive „koks“ und „obst“ auf sowie Ottos umgangssprachliche Redepartikeln „fort“, „soso“ und „ogottogott“. Das einzige Satzzeichen ist der Doppelpunkt zur Anzeige von wörtlicher Rede. Mit dem Verzicht auf Interpunktion in weiten Teilen seines Werks berief sich Jandl auf Gertrude Stein, nach der die Hilfestellung von Kommata der Selbständigkeit und Aktivität des Lesers im Wege stehe. Ebenso charakteristisch für Jandl ist die durchgängige Kleinschreibung, die in seinen Gedichten eine visuelle Funktion hat, während Großbuchstaben für besondere Betonungen reserviert bleiben.Jede Gedichtzeile beginnt mit der Anapher „otto“ oder deren Genitiv. Bereits im Titel folgt direkt im Anschluss daran der „mops“, eine Kombination, die sich fünfmal im Gedicht wiederholt und die enge Beziehung der beiden Figuren unterstreicht. Die Sätze sind kurz, teilweise elliptisch und bestehen aus zwei bis höchstens vier Wörtern. In ihrer Einfachheit erinnern sie an die Sprache eines Kleinkinds. Die einzelnen Wörter sind einsilbig, mit Ausnahme von „otto“ sowie dessen Kommentaren „soso“ und „ogottogott“, die sowohl durch ihre Mehrsilbigkeit als auch durch ihre Reduplikation auffallen. Fünfmal ist der Mops das handelnde Subjekt der kurzen Sätze. Die erste und die letzte der drei Strophen des Gedichts bestreitet er allein und wird von Otto lediglich kommentiert. Nur in der mittleren Strophe wird Otto selbst zum Akteur. Dabei bilden die erste und letzte Strophe syntaktisch zwar eine Analogie, semantisch jedoch einen Kontrast: Der wachsenden Distanz zwischen Otto und seinem Mops in den ersten vier Zeilen steht am Ende in parallelistischer Form die Rückkehr des Hundes gegenüber. Aus dem Rahmen der Vergleichbarkeit fällt die überzählige Zeile „ottos mops kotzt“, die reimend an die Einleitung „ottos mops trotzt“ anknüpft, sodass das Ende des Gedichts zur Konsequenz des Beginns wird.
== Interpretation ==
=== Ordnung und Auflehnung ===
Für den Germanisten Andreas Brandtner zeigt bereits die Überschrift das Verhältnis zwischen Mops und Otto: Der possessive Genitiv ordne den Mops, der zudem nur mit seiner Gattungsbezeichnung benannt werde, seinem Besitzer Otto zu und unter, zumal der Mops als traditioneller Haushund ohnehin nahelege, dass Otto sein Herr sei. Diese Ordnung werde durch die Aufsässigkeit des trotzenden Mopses gestört, ohne dass genauer erklärt wird, wogegen sich dessen Rebellion richte. Nachdem Otto den Mops fortgeschickt hat, ruhe der Konflikt zunächst, während sich Otto durch andere Tätigkeiten ablenke. Schon bald jedoch dränge es ihn, die Zurückweisung zu revidieren. Er rufe nach dem Mops, wobei das Hoffen seine innere Verbundenheit offenbare. Ottos horchende Spannung werde in der dritten Strophe durch den klopfenden Mops beantwortet. Für einen Moment erscheine es, als ließe sich der Konflikt beilegen, als eine Übereinstimmung von Ottos Ausruf „komm“ und der Tätigkeit des Mopses „ottos mops kommt“ gelinge. Doch das Kotzen des Mopses durchbreche diesen Gleichklang und verweise auf das ursprüngliche Trotzen: In einer instinktiven Handlung setze der Hund seine Verweigerungshaltung fort. Ottos eher gleichgültiges oder sogar drohendes „soso“ weiche nun einem entsetzten „ogottogott“, einem Ausruf, der das Palindrom „otto“ enthalte.Brandtner sah zwei Ebenen im Mittelpunkt des Gedichts: die Kommunikation zwischen Mensch und Tier, zwischen Herr und Hund, deren Wirksamkeit hinterfragt werde, sowie die Machtbeziehungen der Figurenkonstellation und ihr Bezug zu realen soziohistorischen Prozessen. Damit stehe ottos mops in der Tradition von Jandls Lyrik, die im weitesten Sinne immer gesellschaftskritisch oder sprachkritisch zu verstehen sei. Gleichzeitig wohne ottos mops eine demokratische Perspektive inne: Die einfache Machart ermuntere den Leser zur Entwicklung eigener Sprachspiele, sie erschließe ihm eine Teilhabe an der Lyrikproduktion gemäß dem avantgardistischen Credo, Kunst in Lebenspraxis zu überführen.
=== Identität und Geborgenheit ===
Die Germanistin Anne Uhrmacher, die in ihrer Dissertation Jandls Lyrik untersuchte, wertete die Überschrift „ottos mops“ und den ähnlichen Klang der beiden Protagonisten als Bestätigung des populären Vorurteils, Herr und Hund näherten sich einander bei längerem Zusammenleben immer stärker an. Dabei treten im Mops menschliche Züge zutage, was sich etwa im Klopfen in der letzten Strophe äußere. Obwohl der Mensch als zentrale Figur ausgewiesen werde, entfache erst der Mops seine Emotionen, erwecke ihn gewissermaßen zum Leben, was an das berühmte Diktum Gertrude Steins erinnere: „Ich bin ich, weil mein kleiner Hund mich kennt.“ Otto erhalte erst durch seinen Mops Identität. In der mittleren Strophe mache sich in der Abwesenheit des Hundes Einsamkeit breit. Die Zeile „otto horcht“ lasse durch ihre Kürze eine Pause entstehen. Ottos Ruf „mops mops“ erinnere lautmalerisch an den Lockruf „ps ps“. Die der Zeile „otto hofft“ innewohnende Sehnsucht nach dem Mops lasse das Gedicht unvermittelt von Komik in Pathos umschlagen.Im abschließenden Ausruf „ogottogott“ vereinen sich Otto und Gott. Aus dem lautmalerischen Anklang leitete Thomas Eder eine assoziative Gleichsetzung von „otto“ und „gott“ als Pointe des Gedichts ab. Anne Uhrmacher folgerte: „otto steckt in gott und gott in otto“. Die Liebe, die der Hundebesitzer zum Geschöpf „mops“ empfinde, lasse einen Schöpfer erahnen, der auch für Otto verantwortlich sei. So wie der Hundebesitzer seinem Mops Geborgenheit biete, eröffne sich ihm mit dem letzten Wort selbst ein verborgener Halt, der in humorvoller Gelassenheit die irdischen Unzulänglichkeiten wie das Trotzen und Kotzen akzeptieren lehre. Andreas Brandtner widersprach dagegen einer religiösen Auslegung mit Hinweis auf explizit atheistische Selbstaussagen Jandls sowie der floskelhaften Verwendung des Ausdrucks „ohgottogott“ im Gedicht 1000 jahre ÖSTERREICH. Norbert Hummelt deutete das Gedicht ottos mops, in dem es „um Bindungen geht, um Verlust und Wiedergewinn“ und an dessen Ende „die Erwartung des Holenden, Horchenden, Hoffenden […] gleichermaßen erfüllt wie enttäuscht wird“, als „eine moderne Version des Gleichnisses vom verlorenen Sohn“.
=== Humor und Poesie ===
Was ottos mops für Anne Uhrmacher aus den vielen Nachdichtungen hervorhob, die seiner wachsenden Popularität folgten, war die Form von Humor, die sich unterschied von Witz und Ironie vieler Versuche gleicher Machart. Sie zitierte Ludwig Reiners: „Der Witz lacht, der Humor lächelt. Der Witz ist geistreich, der Humor liebevoll. Der Witz funkelt, der Humor strahlt.“ In diesem Sinne sei Jandls Humor, der sich in der Sehnsucht ottos nach dem mops sowie in der Geborgenheit der gezeigten kleinen Welt ausdrücke, weit mehr als bloß geistreiche Vokalsuche. Jandl unterschied den heiteren Tonfall von Gedichten wie ottos mops und fünfter sein selbst vom „grimmigen“ und „grotesken“ Humor anderer Texte. Es seien Gedichte, „wo die Leute zu Recht lachen und wo man keine polemische Absicht merkt.“Eine andere Form von Humor erkannte der Germanist Dieter Burdorf in ottos mops. Ihn erinnerte das Gedicht an den Slapstick früher Stummfilme oder Comic Strips. Dabei entstehe die Komik nicht aus dem trivialen Inhalt, sondern aus der Lautstruktur. Der o-Laut sei der Ausruf des Erstaunens. Bereits die Mimik, die ein Vortragender mit zum o gerundetem Mund annehme, lade zu kabarettistischer Übertreibung beim Öffnen und Schließen der Lippen ein und sei von Jandl bei Vorträgen selbst in solcher Art inszeniert worden. Auch Hans Mayer ging auf Jandls Vortragskunst ein: „Für Kinder waren die konkreten Gedichte Ernst Jandls stets unmittelbar evident. Man liebte Ottos Mops, der trotzte und kotzte. Wenn Jandl selbst vorträgt, so machen es die Kinder hinterher nach“. Für Volker Hage konnte niemand „eigene Verse so herausschreien, flüstern, zelebrieren, stottern, zerdehnen, zerhacken, ausspucken, liebkosen“ wie Jandl. In der Reihung des Gedichts von Otto und seinem Mops klang für ihn die Struktur eines Kinderlieds an.Jandls Lebensgefährtin Friederike Mayröcker verwies in ihrem Kommentar zu ottos mops auf „die sprachliche Auseinandersetzung des Autors mit einem Vokal: er singt das hohe Lied vom O, vom O-Tier, vom O-Gott, ogottogott, vom Hundehälter Otto, vom Mops, der wieder heimgefunden hat, und wir alle lachen und weinen“. Sie sah den Leser angesprochen von einem naiven Mitgefühl, das den Mopsbesitzer wie sein Mopstier einschließe. Er werde vom Gedicht zurückversetzt in frühe Kindheitserlebnisse mit Tieren. In den Zeilen vollziehe sich eine Verwandlung, „die immer wieder von neuem glückt, nämlich von der Liebe zum Vokal zur Wirklichkeit des Bilds; vom Glauben an das O zur Offenbarung Poesie.“
== Stellung im Werk ==
ottos mops, dessen Entstehung von Jandl auf den 20. November 1963 datiert wurde, erschien erst im September 1970 als Teil der Gedichtsammlung der künstliche baum. Die verzögerte Veröffentlichung war nicht ungewöhnlich für Jandl. Auch in späteren Bänden debütierten ältere Gedichte gemeinsam mit aktuellen Produktionen. Bereits vor ottos mops hatte Jandl mit Gedichten experimentiert, die ausschließlich einen Vokal verwenden. So entstand im August 1963 das große e, ein Zyklus aus neun Gedichten, die durchgängig auf dem Vokal e basieren, und 1963/64 das durch das a dominierte Stückgedicht mal franz mal anna (drama). Andere Gedichte beruhen auf der Häufung eines bestimmten Konsonanten, etwa die im Juni 1956 entstandene etüde in f. Den Weg von der formalen Idee des Monovokalismus zum Gedicht ottos mops beschrieb Jandl fünfzehn Jahre nach dessen Entstehung augenzwinkernd: „[W]as sollte man mit so vielen Wörtern mit o nun anfangen? Gar nichts hätte man anfangen können, wenn sich nicht, wie von selbst, einige davon zu bewegen begonnen hätten und aufeinander zugekommen wären und gesagt hätten: wir hier, wir passen doch zusammen, wir können miteinander etwas anfangen, wir können miteinander eine kleine Geschichte anfangen; fangen wir doch die Geschichte von ottos mops an. Das haben sie getan, und so ist dieses Gedicht entstanden.“Im Band der künstliche baum sortierte Jandl seine Werke nach verschiedenen Gedichtstypen und unterschied dabei etwa visuelle gedichte und lautgedichte. ottos mops ordnete er in den Abschnitt lese- und sprechgedichte ein. Zu dieser Gedichtsform erläuterte er 1957: „Das Sprechgedicht wird erst durch lautes Lesen wirksam. Länge und Intensität der Laute sind durch die Schreibung fixiert. Spannung entsteht durch das Aufeinanderfolgen kurzer und langgezogener Laute […], Verhärtung des Wortes durch Entzug der Vokale […], Zerlegung des Wortes und Zusammenfügung seiner Elemente zu neuen ausdrucksstarken Lautgruppen […], variierte Wortwiederholungen mit thematisch begründeter Zufuhr neuer Worte bis zur explosiven Schlußpointe“. Anne Uhrmacher zufolge könne man auch beim stillen Lesen an ottos mops Gefallen finden, doch betonte sie, dass es als Sprechgedicht beim lauten Lesen seine ganz eigene Wirkung entfalte. Jandl selbst trug das Gedicht häufig auf seinen Lesungen vor, wo es vom Publikum mit besonderer Begeisterung aufgenommen wurde und bereits der Titel Lachen auslöste.Obwohl Jandl sich gegen die Reduzierung auf die bloß heitere Seite seines Schaffens verwahrte, akzeptierte er dennoch die besondere Popularität seines Mops-Gedichts, griff sie selbst auf und inszenierte sie. So ließ er sich in einer Fotografie von Werner Bern neben einem Mops sitzend ablichten, der – so legt es zumindest die Kenntnis von ottos mops nahe – sich eben übergeben hatte. Die Aufnahme findet sich in der zehnbändigen Ausgabe der Poetischen Werke Jandls auf dem Vorsatzblatt jedes Bandes. Jörg Drews kommentierte die Fotografie mit Bezug auf Jandl: „Er ist der Mops; man sehe sich nur die Stirnfalten beider an: beides sind tiefgefurchte Denkerstirnen“. Drews sah eine „subtile Inszenierung des Photos durch Ernst Jandl: Denn Jandl betrachtet den Hund und: er steht bzw. sitzt als Hund neben sich und betrachtet sich als Mensch.“Ganz allgemein nahmen Hunde einen großen Platz in der Dichtung Ernst Jandls ein. So zählte Drews 42 Gedichte, in denen Hunde auftauchten, was drei Prozent von Jandls Gesamtproduktion entspricht. Das Bühnenstück die humanisten aus dem Jahr 1976 thematisierte das Hunde- und Menschenleben, wobei sich letzteres als inhumaner erweist. Norbert Hummelt erläuterte: „Hunde sind Ernst Jandl immer nah, oft genug als Identifikationsobjekte“. Er zog den Vergleich mit Rainer Maria Rilke: „Was für Rilke der Engel ist, ist für Jandl der Hund. Die Blicke des einen gehen notwendig nach oben, die des anderen notwendig nach unten.“ Mehrfach ist in Jandls Werk auch der Mops präsent, so bereits im bestiarium aus dem Februar 1957 in sprachspielerischer Verkürzung als „ops“. Im späten Gedicht der mops vom August 1991 ging Jandl auf die Nähe zwischen Autor und Mops ein:
== Rezeption ==
Die Gedichtsammlung der künstliche baum, in der ottos mops erstmals publiziert wurde, erschien im September 1970 im Taschenbuchformat als Band 9 der neuen Reihe Sammlung Luchterhand. Sie erwies sich als unmittelbarer Verkaufserfolg. Noch im Erscheinungsjahr stieg die Startauflage von 4.000 Büchern durch zwei weitere Auflagen auf insgesamt 10.000 Exemplare. Jandl selbst rechnete den Band Mitte der 1970er Jahre zu seinen drei Standardwerken. Das Gedicht ottos mops wurde in Jandl-Auswahlbänden und Anthologien nachgedruckt. Es wurde in zahlreiche Lyrikbände für Kinder und Jugendliche aufgenommen, als Bilderbuch umgesetzt, mehrfach als Ton- und Musikaufnahme veröffentlicht und schließlich zum Titel eines Computerspiels, das mit dem Untertitel Auf der Suche nach dem Jandl durch Ernst Jandls Lyrik führt. Neben Jandls eigenen Lesungen wurde ottos mops auch oft von anderen Rezitatoren wie Harry Rowohlt vorgetragen. Musikalische Adaptionen stammen etwa von Friedrich Schenker, Madeleine Ruggli und LaLeLu. Herbert Achternbusch hat in seinem Libretto An der Donau eine Hommage an ottos mops vorgesehen: „Schwein Ohhh! Ohhh! Ohhh! / Papagei Ogott! Ogott!“ ottos mops wurde zu einem der bekanntesten heiteren Gedichte Ernst Jandls. Robert Gernhardt nannte es „das zweitpopulärste Gedicht deutscher Zunge […] nach Goethes Wanderers Nachtlied“. In der Sekundärliteratur wurde das Gedicht zwar häufig erwähnt, jedoch oft nur in wenigen Sätzen gedeutet und kaum ausführlich interpretiert.ottos mops fand auch Eingang in den Schulunterricht. Im Fach Deutsch wurde es ein beliebtes Lehrbeispiel für konkrete Poesie und diente als Anleitung für Schüler zur Nachahmung. Anhand dieses Gedichts sei „der Schritt von der Analyse zum eigenen strukturimitierenden Sprachexperiment schnell getan“. So löste nach Hans Gatti ein solches nachahmendes Dichten bei Schülern „Begeisterung“ aus, und er sprach von Beispielen wie „nikis fisch stinkt“. Entgegengesetzt äußerte sich Max Goldt im Rückblick auf seine eigene Schulzeit: „Auch Jandl wurde durchgekaut: ottos mops kotzt und lechts und rinks kann man nicht velwechsern. Die Begeisterung des Lehrers wurde von der Klasse keineswegs geteilt. Wir fanden derlei sprödes Wortspiel einfach nur albern.“ Jandl selbst erhielt zahlreiche Schülergedichte zugeschickt. Verschiedene davon mit Titeln wie Hannas Gans, Kurts Uhu oder Ruths Kuh veröffentlichte er in Ein bestes Gedicht und kommentierte: „meist sind es Kinder, dieses Gedicht nachzumachen, aber in Wirklichkeit machen sie es gar nicht nach, sondern sie haben nur entdeckt, wie man so ein Gedicht machen kann, und dann machen sie es, und es wird ihr eigenes Gedicht daraus.“
Auch andere Dichter imitierten ottos mops. So veröffentlichte Robert Gernhardt den Zyklus Ottos Mops ond so fort. Ein Beitrag zum integrativen Deutschunterricht. Er fügte ottos mops vier Weiterdichtungen auf den übrigen Vokalen hinzu: Annas Gans, Gudruns Luchs, Gittis Hirsch und Enzensbergers Exeget mit Gernhardts Rekordversuch eines längsten Wortes ausschließlich aus dem Vokal e gebildet: „Enzensbergerexegetenschelter“. Übersetzungen von ottos mops übernahmen ebenfalls vor allem das Grundschema in andere Sprachen und übertrugen Jandls Wortwitz weitgehend frei. So übersetzte Elizabeth MacKiernan ottos mops für den amerikanischen Jandl-Auswahlband Reft and Light als Lulu’s Pooch. Im Jahr 2005 richtete der Internetdienst signandsight.com anlässlich Jandls 80. Geburtstag einen Übersetzungswettbewerb zu ottos mops aus, den der schottische Germanist Brian O. Murdoch mit seiner Fassung fritz’s bitch gewann. Jandl selbst äußerte sich bereits 1978 über die zahlreichen Nachahmungen: „sehr viele neue Gedichte entstehen, schöne Gedichte. Ob aber irgendwem noch ein Gedicht mit o gelingen wird, nachdem es ottos mops bereits gibt, kann ich wirklich nicht sagen. Doch ich glaube: eher nicht.“
== Literatur ==
=== Ausgaben ===
Ernst Jandl: der künstliche baum. Luchterhand, Neuwied 1970, S. 58.
Ernst Jandl: ottos mops. In: Ernst Jandl: Poetische Werke. Band 4. Luchterhand, München 1997, ISBN 3-630-86923-8, S. 60.
Ernst Jandl: ottos mops hopst. Ravensburger, Ravensburg 1988, ISBN 3-473-51673-2.
Ernst Jandl, Norman Junge: ottos mops. Beltz, Weinheim 2001, ISBN 3-407-79807-5.
Ernst Jandl: Ottos Mops hopst. Mit Farbradierungen von Erhard Dietl. Cbj, München 2008, ISBN 3-570-13390-7.
=== Sekundärliteratur ===
Andreas Brandtner: Von Spiel und Regel. Spuren der Machart in Ernst Jandls ottos mops. In: Volker Kaukoreit, Kristina Pfoser (Hrsg.): Interpretationen. Gedichte von Ernst Jandl. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-017519-4, S. 73–89.
Anne Uhrmacher: Spielarten des Komischen. Ernst Jandl und die Sprache (= Germanistische Linguistik, Band 276). Niemeyer, Tübingen 2007, ISBN 978-3-484-31276-0, S. 138–146 (Dissertation Universität Trier 2005, 244 Seiten).
== Weblinks ==
Gedichttext und Lesung Jandls auf lyrikline.org
Weitere Lesung Jandls auf ernstjandl.com
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ottos_mops
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Unser Frauen (Memmingen)
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= Unser Frauen (Memmingen) =
Die evangelische Pfarrkirche Unser Frauen im oberschwäbischen Memmingen ist die zweitgrößte Kirche des evangelisch-lutherischen Dekanates Memmingen. Sie wird umgangssprachlich auch „Frauenkirche“ oder „Zu Unserer lieben Frau“ genannt. Sie ist geostet, wie es bei Kirchenbauten bis ins 16. Jahrhundert üblich war, steht im ehemaligen Weber- und Gerberviertel der Stadt und setzt einen starken städtebaulichen Akzent in der südlichen Altstadt. Urkundlich wurde sie erstmals im Jahre 1258 erwähnt, doch dürfte der erste Kirchenbau an dieser Stelle bereits vor 500 errichtet worden sein. Er ist damit einer der ältesten Oberschwabens.
Bekannt ist die Kirche vor allem durch ihre hervorragend erhaltenen Fresken aus der Anfangszeit der Memminger Schule im 15. Jahrhundert. Die Kirche wurde nach der Reformation von etwa 1530 bis 1806 als Simultankirche von der katholischen und der evangelischen Stadtbevölkerung benutzt, bis zur Säkularisation 1802 auch von den katholischen Kreuzherren und Franziskanerinnen. Sie war damit vermutlich die älteste Simultankirche auf dem Gebiet des heutigen Bayerns.
== Lage ==
Die Kirche steht an der Stadtmauer in der südlichen Altstadt, die früher durch den Großen und den Kleinen Pechturm vor feindlichen Angriffen geschützt war. Bis etwa 1340 befand sie sich außerhalb der Stadtmauer in der sogenannten Wegbachsiedlung. Sie war damals von einem Graben und einer Kirchhofmauer umgeben. Ein Stein mit der Jahreszahl 1205 wurde bei Baumaßnahmen neben der Kirche gefunden. Man geht davon aus, dass er aus der Mauer stammt. Es könnte sich jedoch auch um einen Grabstein gehandelt haben. Heute ist der Tuffstein im nördlichen Vorzeichen eingelassen.
== Geschichte ==
=== Vorgängerkirchen und erstmalige Erwähnung ===
Einige Fundamentreste der Kirche Unser Frauen könnten aus spätrömischer Zeit stammen.
Bei umfangreichen Restaurierungen 1891 und 1979 wurden Fundamentreste mehrerer Vorgängerbauten entdeckt. Der älteste Bau mit einer etwa 30 Zentimeter hohen Chorabsperrung hatte einen rechteckigen Grundriss von etwa 9,5 × 7 m und befand sich in der Mitte des heutigen Hauptschiffes. Ein 8 m breiter Chor ist jüngeren Datums. Zu den möglicherweise römischen oder merowingischen Überresten kommen karolingische, deren Maße allerdings nicht mehr feststellbar sind.
Im 11. oder 12. Jahrhundert wurde die Kirche als romanische Basilika erweitert und der Fußboden um etwa 25 Zentimeter erhöht. Der erheblich vergrößerte Bau (32 × 16 m) hatte sechs Joche, drei Schiffe (Haupt-, Süd- und Nordschiff) und eine runde Apsis als Chor. Die Pfeiler hatten einen quadratischen Grundriss mit einer Seitenlänge von etwa 1,1 Metern. Reste davon sind in Form von Pfeilern und Nischen sichtbar. Vermutlich gab es zwei Ost- oder Westtürme, wie bei oberschwäbischen romanischen Kirchen üblich, doch ließen sich keine Fundamente lokalisieren.
Ob die Frauenkirche ursprünglich als Taufkapelle, Missionarskirche oder Königshofkirche diente, ist für die Datierung der Erstanlage wesentlich. Für die Verwendung als Taufkapelle und damit für spätrömischen Ursprung sprechen der bis zur Reformation bestehende Johannesaltar, die Lage an einem Bach (der früher noch näher an der Kirche vorbeiführte) und das Marienpatrozinium. Auch die vorbeiführende Römerstraße mit dem nahen Wachturm lässt diesen Schluss zu.
Bevor die Kirche im 14. Jahrhundert in die Wehrbauten der Oberstadt einbezogen wurde, umgab sie eine Mauer mit Graben. Der Graben war etwa 8 Meter breit und 1,4 Meter tief. Einen Hinweis auf die Bauzeit gibt ein Tuffstein mit der Jahreszahl 1205, der sich heute im nördlichen Vorzeichen, im Eingangsbereich der Kirche, befindet. Es ist allerdings unklar, ob er zur Mauer gehörte oder als Grabstein diente. Der schlechte Erhaltungszustand lässt keine näheren Schlüsse zu.
Die Kirche wurde erstmals anlässlich eines Grundstücksverkaufs 1258 erwähnt. 1280 befand sich bereits ein Marienaltar in der Kirche.
=== Besitzerwechsel ===
Die Kirche war Reichsbesitz. Daher konnte Kaiser Ludwig der Bayer am 23. April 1341 das Patronat dem Kreuzherrenkloster schenken. Diese Schenkung wurde 1346 vom Augsburger Bischof Heinrich III. von Schönegg bestätigt. Obwohl damit die Kirche in das Kreuzherrenkloster inkorporiert wurde, blieb sie weiterhin Pfarrkirche. Das Kloster wurde nicht mit der Betreuung der Gemeinde beauftragt, zog aber dennoch für die Entlohnung des Pfarrers Geld und Naturalien von der Gemeinde als Kirchenzehnt ein. Am 22. April 1342 verzichtete der Kaplan Siegfried von Biberbach gegen Zahlung von 110 Pfund Heller auf das Recht als Kirchherr von Unser Frauen. Wahrscheinlich gehörte die Frauenkirche schon früher zur Stadt (obwohl sie in der damaligen Wegbachsiedlung lag), denn in der gesamten Überlieferung wird von der „Memminger Marienkirche“ gesprochen.
Die Synoden des Kapitels Memmingen, zu dem zum Beispiel auch die Gemeinde Ottobeuren mit der Abtei gehörte, wurden in der Kirche abgehalten. Trotz der Inkorporation in das Kreuzherrenkloster musste die Kirche anscheinend von einem weltlichen Priester betreut werden, das heißt, er durfte kein Mitglied eines geistlichen Konvents sein. Dies wird in einer Stiftungsurkunde des Jahres 1359 deutlich. Sie blieb die Hauptkirche des Kapitels Memmingen. Zwischen 1423 und 1438 wurde durch einen Vertrag mit 13 Punkten das Verhältnis der Kirche zum Kreuzherrenkloster neu geregelt, nachdem es große Spannungen zwischen der Stadt und dem Kreuzherrenorden gegeben hatte.
=== Erweiterungen bis zur Reformation ===
In der Gemeinde Unser Frauen waren Weber, Metzger, Gerber, kleine Krämer sowie die „unreinen“ Stände mit dem Scharfrichter und den Huren ansässig. Die Weber, die etwa die Hälfte der Gemeindeglieder ausmachten, waren durch die Entdeckung Amerikas, die neuen Märkte im Osten Europas und auch die Konkurrenz der Landbevölkerung seit Anfang des 16. Jahrhunderts verarmt. Die Frauenkirche war die Kirche im Viertel der ärmeren Bevölkerung geworden.
Das sah im 14. und vor allem im 15. Jahrhundert noch anders aus. Der romanische Kirchenbau war aufwändig in einen gotischen umgewandelt und nach allen Seiten bis zur ehemaligen Kirchenmauer zur heutigen Größe erweitert worden. Es wurden drei nördliche Seitenkapellen mit einer Breite von je 3,5 Metern angefügt. Die Kirche war danach 58 Meter lang und mit den Kapellen 30 Meter breit. Auch der Turm dürfte aus derselben Bauepoche stammen. 1444 wurde der Friedhof erweitert und mit einer Mauer umgeben, 1445 der Weiher bei der Kirche ummauert, 1447 am nördlichen Mitteleingang ein Vorzeichen angebaut und 1449 eine kleine Stundenglocke angeschafft. Vor allem der Handels- und Patrizierfamilie Vöhlin, einem der reichsten Geschlechter, ist der Innenausbau im 15. Jahrhundert zu verdanken. Die Apsiden wurden abgebrochen und die alten Pfeiler bis auf Reste im Westen entfernt und durch ein Spitzbogenarkadensystem ersetzt. Das gesamte Kirchenschiff wurde erhöht und mit einer Flachdecke versehen, der Chorraum abgetragen und durch einen größeren ersetzt. Die Umfassungsmauern aus dem Jahr 1343 blieben erhalten. Am Sonntag vor Christi Himmelfahrt des Jahres 1447 wurden fünf Altäre geweiht, 1448 die Seitenschiffe eingewölbt. In der Zeit von 1458 bis 1459 errichteten die Baumeister Balthus Imhof und Hans Stier den Chor mit einer gotischen Auswölbung. Am Sonntag vor Pfingsten 1460 wurde die Kirche mit vier neuen Altären geweiht. Den Freskenschmuck der Kirche malte die Memminger Schule um Hans Strigel den Älteren. Die erste Orgel wurde 1486 über der Kanzel eingebaut.
Am St.-Markus-Tag, dem 25. April 1471, drangen vier bewaffnete Webergesellen betrunken während des Vespergottesdienstes in die Kirche ein. Sie schlugen jeden, der ihnen im Wege war, Männer, Frauen und Kinder. Zwei der Eindringlinge wurden sofort von den in Panik geratenen Gottesdienstbesuchern getötet, die beiden anderen vom städtischen Gericht zum Tode durch Enthauptung verurteilt. Das Urteil wurde kurze Zeit später vollstreckt.Am 10. Juni 1478 wurden die Kreuzherren von Papst Sixtus IV. ermächtigt, die kirchlichen Handlungen durch Klosterbrüder und nicht mehr durch bezahlte Laienpriester durchführen zu lassen. Papst Sixtus IV. reservierte am 6. März 1479 ein frei gewordenes Benefizium der Frauenkirche für den Ordensbruder Jakob Matzenberger. Am 13. Juni 1482 forderte Innocentius Flavius, Generalspitalmeister in Rom, den Spitalmeister auf, Jakob Matzenberger ein frei gewordenes Benefizium des Patronats des Spitals zu verleihen. Im gleichen Jahr wurde der Ordensbruder zum Betreuer der Pfarrei bestellt.
1487 wurde ein Übergang vom gegenüberliegenden Kloster Maria Garten zur ersten Empore gebaut, nachdem die Franziskanerinnen, bis dahin vor allem in der Krankenpflege tätig, in strenger Klausur leben und beim Gottesdienstbesuch nicht mehr über die weltliche Straße gehen wollten, wie sie es zuvor getan hatten. Der Bürgermeister, der Stadtrat und der Spitalmeister gaben dazu ihre Einwilligung. Im selben Jahr wurde der Aufgang zur ersten Empore gebaut, damit die Schwestern zur Beichte in das Kirchenschiff hinuntergehen konnten. In der Kirche wurde nur alle zwei Wochen gepredigt. Um dies zu ändern, stiftete Hans Vöhlin 1487 eine zweite Helferstelle.
Bei einem Besuch im Jahre 1504 hörte Maximilian I. in der Frauenkirche die Heilige Messe. Vor der Reformation hatte die Kirche etwa zwölf Altäre, deren Standorte allerdings nicht mehr alle feststellbar sind. Die letzte von drei Kapellen wurde 1522 vom Kirchenpfleger Heinrich Minner gestiftet. Zu dieser Zeit wirkten 13 Geistliche in der Kirche.
=== Reformation (ca. 1525 bis 1565) ===
Häufig wurde die Reformation nicht durch einen formalen, dokumentierten Akt eingeführt. Symptomatisch ist der Wechsel der Gottesdienstsprache vom Latein zum Deutschen. Während in der anderen Stadtpfarrkirche St. Martin die Messe bereits in deutscher Sprache gefeiert und die Taufe nach altem und neuem Ritus vollzogen wurde, fand die Messe in der Frauenkirche weiterhin in der alten Form statt. Dies ist vor allem auf den in den Chroniken als ausgesprochen konservativ beschriebenen Pfarrer Jakob Megerich zurückzuführen. Möglicherweise steht damit im Zusammenhang, dass Anfang 1523 zwei Jugendliche, Ulrich Geßler und Raphael Sättelin, die Skulptur eines Juden aus der Ölberggruppe der Frauenkirche raubten. Mit ihr zogen sie durch die Straßen und verhöhnten und verspotteten sie. Der Rat der Stadt bestrafte die beiden Patriziersöhne am 9. Februar. Ob der Raub aus reformatorischem Eifer oder Judenhass geschah oder eine Auseinandersetzung mit dem Pfarrer der Auslöser war, lässt sich nicht mehr klären. Sicher ist nur, dass es die erste nachgewiesene Aktion gegen Bildnisse in einer Memminger Kirche darstellte.Dass auch in dieser Gemeinde die reformatorischen Kräfte stärker waren, zeigte sich Weihnachten 1524, als die Gemeinde den Pfarrer „mit Fäusten und Füßen gestoßen und geschlagen“ in die Sakristei trieb, wie er dem Augsburger Bischof schrieb. Lediglich durch das Eingreifen mehrerer Ratsherren konnte eine Eskalation verhindert werden. Pfarrer Jakob Megerich wurde zu einem religiösen Streitgespräch am 2. Januar 1525 mit Christoph Schappeler geladen, wobei Megerich unterlag und abgesetzt wurde. Ihm folgte der erste reformierte Pfarrer im Amt, Simprecht Schenck, ein Anhänger Zwinglis. Er war aus dem Kartäuserkloster Buxheim ausgetreten und zur reformierten Lehre konvertiert. Schenck bekam ein Jahressalär von 60 Gulden unter der Bedingung, das reine Evangelium zu lehren. Der Schwäbische Bund forderte am 14. Juli 1525 die Ausweisung Schencks aus der Stadt. Er ging „freiwillig“.
Die Stadt bekannte sich zur Reformation, anfangs zur zwinglischen, später, nachdem Zwingli gestorben war, zur lutherischen Lehre. Von Juli bis Oktober 1525 wurde jedoch die römisch-katholische Gottesdienstordnung wiederhergestellt. Ab November wurde, nachdem der Schwäbische Bund aus der Stadt wieder abgezogen war, der aus Konstanz kommende reformierte Georg Gugy von der Stadt angestellt. Er erhielt jeden Monat einen neuen Anstellungsvertrag. Eine längerfristige Verpflichtung wurde vermieden, denn man musste gegenüber dem Schwäbischen Bund vorsichtig sein, der bereits im Mai/Juni 1525 die Stadt besetzt hatte. Gugy predigte regelmäßig am Mittwoch in der Kirche.
Aufgrund der zwinglischen Ausrichtung der Memminger Reformation entfernte man im Juli 1531 fast alle sakralen Kultgegenstände aus der Kirche Unser Frauen, darunter viele Altäre und Bilder. Ein Inventar existiert nicht, so dass der Umfang der Zerstörungen nicht deutlich ist. Die Kultobjekte wurden teilweise zerstört, teilweise von der Stadtverwaltung eingezogen und verkauft oder den Handwerkern als Lohn überlassen. Einzelne Stücke wurden von katholischen Gläubigen, für die sie ihren ideellen Wert nicht verloren hatten, in die umliegenden katholischen Gebiete und Klöster gerettet. 1548 führte Kaiser Karl V. erneut den römisch-katholischen Ritus in der Kirche ein.
=== Simultankirche (1565 bis 1806) ===
Dies änderte sich erst 1565, als die Evangelischen wieder einen Gottesdienst abhielten. Man konnte sich im Mindelheimer Vertrag von 1569 einigen und machte aus Unser Frauen eine Simultankirche, wie es sie bereits seit 1524 gab. Die evangelischen Gläubigen konnten das Langhaus und die Orgelempore von 7:30 bis 16:00 Uhr nutzen. Zu den übrigen Zeiten diente die Kirche den Nonnen des benachbarten Klosters sowie den Kreuzherren und dem katholisch gebliebenen Teil der Stadtbevölkerung. Noch im Jahr des Vertragsabschlusses erhielt die Kirche eine neue Kanzel. Erst 1806 verlor der Mindelheimer Vertrag an Bedeutung, nachdem die evangelische Kirchengemeinde die gesamte Kirche erworben hatte. Die katholischen Gemeindemitglieder waren nun auf die Klosterkirche St. Johann Baptist des ehemaligen Augustinerklosters angewiesen.
Die Nutzung durch beide Konfessionen verhinderte durchgreifende Barockisierungen. Dazu gehörte der 1659 durchgeführte Einbau eines neuen Orgelgehäuses oberhalb der Kanzel – 1662 wurde eine neue Orgel angeschafft – und die Errichtung von Emporen an der Westseite und der nördlichen Abseite, die bis 1890 in der Kirche blieben.
Ab 1799 war der Kirchenraum für zwei Jahre und zehn Monate Magazin für Kriegsgeräte. 1801 konnten wieder Gottesdienste gefeiert werden. Erst 1808 wurde die Stadt von der Königlich-bayerischen Landesdirektion in Ulm aufgefordert, den Kirchenraum wiederherzustellen. 1811 wurde die Kirchengemeinde selbständig, nachdem die Kirche vor 1802 von der Stadtregierung, danach bis 1811 von der Gemeinde St. Martin verwaltet worden war.
=== Selbstständige Kirchengemeinde (1811 bis 1945) ===
Die Kirche wurde im 19. Jahrhundert wie zahlreiche andere Gotteshäuser im Sinne des Historismus umgestaltet. So wurde ein Holzgewölbe eingebaut, das den Raumeindruck der gotischen Kirche maßgeblich veränderte. Stadtbaumeister Johann Georg Knoll ersetzte 1829 die barocke Kanzel durch eine neue im Stil des Historismus. Diese wurde knapp 60 Jahre später wieder entfernt. Im September 1838 war der Dachstuhl der Kirche stark einsturzgefährdet, weshalb die Kirche gesperrt und der Gottesdienst nach St. Martin verlegt werden musste. Der Dachstuhl wurde daraufhin gestützt und der Gottesdienst konnte wenig später wieder in der Kirche stattfinden.
1850 wurde die Orgel durch eine größere ersetzt. Seit 1859 ist der Chorraum mit einem neuen Altar in den übrigen Kirchenraum einbezogen. Das Kirchendach – bis dahin mit glasierten Buntziegeln versehen – wurde 1870/1871 mit Dachschiefer neu eingedeckt.
Die 1602 übertünchten Fresken, darunter eine der bedeutendsten Arbeiten der Künstlerfamilie Strigel, wurden 1893 bis 1897 freigelegt. Sie zählen zu den wertvollsten der Spätgotik. Damit begann eine weitere großangelegte Innenrenovierung. Die Holzgewölbe wurden wieder entfernt und durch eine flache Holzdecke ersetzt. Die Seitenempore der Nordwand wurde abgerissen, dafür an der Westseite eine zweite Empore eingebaut. Bei der Renovierung des Bodens entdeckte man die romanischen bzw. vorromanischen Pfeiler.
=== Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, Renovierungen, Grabungen (seit 1945) ===
Dadurch, dass die Stadt bei Stadtbelagerungen nie von Süden angegriffen wurde und die Stadtbefestigung dort mit dem großen Rondell und dem so genannten gschwöllt Wasser gesichert war, entging die Basilika Kriegsschäden. Dies änderte sich in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Beim Bombenangriff vom 20. April 1945 stürzte das vierteilige Kreuzrippengewölbe im Westjoch des nördlichen Seitenschiffes ein. Die Fresken des Hauptschiffes und der Arkadenbögen blieben jedoch erhalten. Durch die Druckwellen barsten alle 43 Fenster, darunter auch die großen Chorfenster. Die Dächer wurden abgedeckt, das Hauptportal wurde vom Luftdruck zerrissen.
Erst 1955 waren die Spuren des Bombenangriffs vollständig beseitigt und der ursprüngliche Zustand, soweit möglich, wiederhergestellt. In den 1970er Jahren wurde die Kirche erneut renoviert. Ein neuer Altar entstand im Hauptschiff vor der Kanzel. Der Turm erhielt die Bemalung des 16. Jahrhunderts zurück. Beim Öffnen des Bodens im Kirchenschiff für den Einbau einer Warmluftheizung wurden weitere Reste der ältesten Vorgängerkirche entdeckt. Bei der Renovierung des Turms 1973 fand man in der Kugel über der Laterne Goldmünzen und bleierne Schrifttafeln von 1730. Diese wurden zusammen mit Münzen (2-DM-Stück, 10-Mark-Sonderprägung zur Olympiade 1972), beschriebenen Bleitafeln sowie Ausschnitten aus der Memminger Zeitung wieder in die Kugel gelegt. Das Dach des Hauptschiffes wurde im Jahr 2010 saniert und neu gedeckt.
== Architektur ==
Die Kirche ist eine dreischiffige, sechsjochige Basilika mit erhöhtem Chorraum. Vor dem nördlichen Vorzeichen befindet sich der aufgelassene Friedhof, der zu einem kleinen Park mit mehreren Buchen umgestaltet wurde. Als Zeichen für den Marienzyklus im Inneren der Kirche steht auf dem Kirchvorplatz eine Einhornstatue. Im Westen grenzt das alte Franziskanerinnenkloster an, in dem sich jetzt ein Altenheim (Bürgerstift) befindet, mit der Altersdemenzabteilung im Süden. Hinter der alten Kirchmauer im Osten liegt der Reichshainpark.
=== Außenbau ===
Das Langhaus der geosteten Kirche tritt nach außen mit erhöhtem Mittelschiff und niedrigeren Seitenschiffen sowie deren Anbauten in Erscheinung. Die mit einfachen Fenstern versehenen Seitenschiffe und Anbauten schließen mit Pultdächern an das Mittelschiff an. Darüber öffnen sich dessen mit Maßwerk verzierte Oberlichter, je ein Oberlicht pro Joch. Zugleich spiegeln flache Lisenen, die die Außenwand zwischen den Oberlichtern rhythmisieren, die Gliederung des Innenraums in Joche wider. Das Mittelschiff ist mit einem Satteldach bedeckt. Auf dem zugehörigen schwäbischen Westgiebel erhebt sich ein goldenes Kreuz. Die ebenfalls mit Lisenen gegliederte Westfassade wird von einem großen, etwa mittig zwischen Boden und Dachstuhl sitzenden Maßwerkfenster beherrscht. Es wird von kleineren Fenstern flankiert, ein weiteres kleines Fenster befindet sich im Giebeldreieck. Im Osten setzt sich in Verlängerung des Mittelschiffes das etwa zwei Joche lange Chorhaus vom Langhaus ab. Der äußere Eindruck des mit einem 5/8-Schluss versehenen Chorhauses wird von Strebepfeilern zwischen hohen Maßwerkfenstern geprägt. Im Süden wurde, an Chorhaus und südliches Seitenschiff anschließend, die neue Sakristei errichtet, der westlich ein Kapellenanbau folgt. Die Mitte der verbliebenen freien Wandfläche des Südschiffes nimmt mit dem südlichen Vorzeichen einer der beiden Kirchenzugänge ein. Kapellenanbauten und Vorzeichen bestimmen auch das Erscheinungsbild der Nordseite. Zusätzlich befindet sich dort in Höhe des zweiten Joches von Osten her gesehen der Turm mit der alten Sakristei, der stark in das nördliche Seitenschiff einschneidet. Die Wände der Kirche bestehen aus Ziegelmauerwerk, deren einheitlicher Putzauftrag keine Identifizierung einzelner Bauabschnitte zulässt.
=== Innenraum ===
==== Mittelschiff ====
Das Mittelschiff hat eine Länge von 38,5 und eine Breite von 11 Metern. Es kann nur durch die beiden Vorzeichen oder durch einen direkten Zugang zwischen Turm und Chor im Nordschiff betreten werden. Der heutige Haupteingang ist das nördliche Vorzeichen. Die Wände des Hauptschiffes sind schlicht gehalten und weiß getüncht. Es ist in sechs Joche mit gotischen Spitzbögen untergliedert. Die Innenseiten der Spitzbögen sind – ebenso wie die Bereiche zwischen den Bögen – mit Fresken verziert, die Pfeiler sind rot getüncht. Das Hauptschiff schließt eine Holzflachdecke im Stil des Historismus nach oben ab. Die Schnitzmotive wurden einer Decke des 15. Jahrhunderts aus der Kramerzunft am Weinmarkt entnommen. An der Westseite befinden sich zwei Emporen, wobei eine Empore von der Orgel eingenommen wird. Diese Emporen besitzen die gleichen Schnitzmotive wie die Decke. Durch Oberlichter zu beiden Seiten sowie ein großes Fenster mit einfachem Maßwerk und mehrere kleinere an der Westseite wird das Mittelschiff beleuchtet.
==== Nordschiff ====
Das Nordschiff hat eine Länge von 38,5 und eine Breite von 6 Metern. Es stammt aus dem 14. Jahrhundert, wurde 1448 erhöht und mit einem gotischen Kreuzrippengewölbe versehen. Der Turm schiebt sich im zweiten Joch etwa 3 Meter in das Kirchenschiff hinein. Es umfasst zwei ehemalige Seitenkapellen, das nördliche Vorzeichen sowie den Aufgang zu den Emporen. Die ohne Maßwerk gestalteten Fenster des Seitenschiffes und der Kapellen sind eingewölbt. Bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg wurden zwei Joche des Nordschiffes zerstört und kurz darauf wieder aufgebaut. Man erkennt sie an den fehlenden Deckenfresken. Das Nordschiff besitzt zwei Zugänge vom nördlichen Vorzeichen und vom Turm.
==== Südschiff ====
Das Südschiff hat eine Länge von 38,5 Metern und eine Breite von 6 Metern. Es stammt ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert, wurde gleichfalls 1448 erhöht und besitzt wie das nördliche Seitenschiff ein gotisches Kreuzrippengewölbe. Die eingewölbten Fenster des Seitenschiffes und der angefügten Kapelle weisen kein Maßwerk auf. Die ehemalige, 1522 gestiftete Minnerkapelle diente während des Simultaneums als evangelische Taufkapelle. Der einzige Zugang zum Südschiff ist das südliche Vorzeichen.
==== Chor ====
Von 1458 bis 1459 wurde das 19,5 Meter lange und 10 Meter breite Chorhaus errichtet. Pro Wandsegment besitzt es ein hohes Fenster mit einfachem Maßwerk. Die Decke besteht aus einem gotischen Kreuzrippengewölbe. Der Chorraum ist gegenüber dem Langhaus um drei Stufen erhöht, drei weitere Stufen führen in den Chorschluss mit dem Hochaltar.
==== Turm ====
Der Turm wurde vermutlich Anfang des 14. Jahrhunderts aus Tuffstein erbaut. In seinem untersten Stockwerk befand sich die Sakristei, bis diese 1487 in einen Neubau am südlichen Chorende umzog. Das ehemals gotische, spitz zulaufende Dach des Turmes wurde des Öfteren von Blitzen getroffen und im 17. Jahrhundert, nachdem wiederum ein Blitz eingeschlagen hatte, durch die heutige Laterne mit gekreuztem Spitzdach ersetzt. Seit dem Mittelalter wurde das ursprünglich mit Fresken versehene Zifferblatt der Turmuhr öfters übermalt, zuletzt mit Steinfarben. Bei der Turmsanierung 1973 konnten mindestens drei Farbschichten aufgedeckt werden. Restauriert wurde schließlich die Renaissancebemalung des Zifferblattes aus der Zeit um 1650. Die gotische Sonnenuhr an der Ostseite wurde ebenfalls wiederhergestellt und an der Westseite eine neue angebracht.
Der Turm hat einen quadratischen Grundriss bei einer Seitenlänge von 8,3 Metern. Er ist bis zur Laterne 46,5 Meter, bis zur Spitze 54 Meter hoch und hat zwei Zugänge, einen im Nordschiff, den anderen an der nördlichen Außenmauer. In den Turm ist ein weiterer Holzturm als Glockenstuhl integriert. Das Kreuzrippengewölbe der ehemaligen Sakristei im Untergeschoss wurde 1955 erneuert, da es durch Druckwellen der Bombenexplosionen im Zweiten Weltkrieg beschädigt worden war.
==== Neue Sakristei ====
Die neue Sakristei befindet sich neben dem Chor, dort wo auch der Eingang ist. Sie besitzt ebenfalls ein gotisches Kreuzrippengewölbe. Die Holzvertäfelungen der Wände weisen kleine, ornamentale Schnitzereien auf. Die Fenster sind mit einfachem Maßwerk ausgestattet.
== Ausstattung ==
In der Kirche gibt es eine Vielzahl von Kunstwerken, vorwiegend Fresken. Der große Reichtum an Altären und sonstigem Schnitzwerk wurde während der Reformation im Bildersturm zerstört oder verkauft.
=== Fresken ===
Die ausgesprochen gut erhaltenen Fresken aus dem 15. Jahrhundert wurden von der Memminger Schule unter Leitung von Hans Strigel d. Ä. geschaffen, müssen aber bereits zum Teil 1506 erneuert worden sein. Sie überlebten den Bildersturm vom 19. Juni 1531 offenbar schadlos. Sie wurden vermutlich 1631 mit Tünche überdeckt, da sie schadhaft geworden waren und im Dreißigjährigen Krieg die Mittel für eine Ausbesserung fehlten. Danach gerieten die Fresken in Vergessenheit.
Nach ihrer Wiederentdeckung um 1890 wurde das gesamte Kircheninnere gründlich untersucht und die Fresken ab 1893 wieder aufgedeckt. Einige wurden entsprechend der Gepflogenheiten der damaligen Zeit ergänzt, die meisten jedoch waren in so gutem Zustand, dass lediglich die Farben aufgefrischt wurden. Dank der behutsamen Vorgehensweise bei der Wiederaufdeckung und der Auffrischung der Farben von 1893 bis 1897 durch Professor Franz Haggenmiller aus München sind sie bis heute sehr gut erhalten. Weitere Restauratoren waren Ludwig von Kramer und Bonifaz Locher. Die Maßnahmen wurden 1901 abgeschlossen.
Der Großteil der Fresken lässt sich drei Bereichen zuordnen, den ornamentalen Malereien, dem Apostolischen Glaubensbekenntnis und dem Marienzyklus.
==== Ornamentale Malereien ====
Mit ornamentalen Malereien sind Teile des Nord- und Südschiffs sowie Teile der inneren Rippenbögen des Hauptschiffes ausgestattet.
Um die Schlusssteine der Gewölbe rankten sich Ornamente, die durch die Bögen der Spitzbogengewölbe unterbrochen wurden. Sie waren teilweise mit einer unechten Vergoldung versehen. Schon kurze Zeit später wurde diese Vergoldung unansehnlich, so dass sie bereits im 16. Jahrhundert übermalt wurden. Die Wappen auf den Schlusssteinen wurden überwiegend bei der großen Kirchenrestaurierung hinzugefügt. Lediglich in der Sakristei, der Pinzenauer Kapelle, sowie zum Teil im Südschiff ist der Zustand aus der Erbauungszeit erhalten geblieben.
Die Ornamente des Chors, der weiterhin den Kreuzherren gehört hatte, wurden nie übermalt, da dort die Stadt keine Handhabe hatte. Sie stammen noch von der ersten Kirchenbemalung um 1460.
==== Apostolisches Glaubensbekenntnis ====
Die Memminger Schule um Hans Strigel d. Ä. malte einen über das gesamte Hauptschiff verteilten Freskenzyklus mit den zwölf Aposteln, denen auf Spruchbändern die zwölf Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zugeordnet sind. Die Figuren, von denen sich je eine an jedem Joch und zwei an der Westwand in Höhe der ersten Empore befinden, haben eine durchschnittliche Höhe von 230 Zentimetern. Sie stehen auf gemalten Konsolen. Die zwölf Artikel sind in schwäbischem Dialekt verfasst. Am östlichen Ende des Hauptschiffes befindet sich auf beiden Seiten je eine Spruchtafel; neben den Tafeln und auch an den beiden westlichen Enden sieht man jeweils einen Posaunenengel mit einem Spruchband. Die Engel erinnern an das Jüngste Gericht, die Tafeln mahnen, dass die ewige Seligkeit nur erlangen kann, wer den christlichen Glauben hat; wer ihn nicht hat, kann nicht gerettet werden. Diese Texte von Athanasius, dem Patriarchen von Alexandria, sprechen in ihrer lateinischen Fassung von der „fides catholica“. Der „christliche Glaube“ der deutschen Fassung legt den Schluss nahe, protestantischer Übermalung zu entspringen. Dasselbe gilt für den Glauben an „die cristanlichen hailgen Kirchen“, der wohl den Glauben an „die heilige katholische Kirche“ ersetzt hat.
Im Uhrzeigersinn vom Chor ausgehend sind an der Südmauer des Hauptschiffes Petrus, Andreas, Jakobus der Ältere, Johannes und Thomas, auf der Empore an der Westwand ist Jakobus der Jüngere und Philippus dargestellt. Die Nordwand des Hauptschiffes zieren die Apostel Bartholomäus, Matthäus, Simon, Judas Thaddäus und Matthias. Petrus trug bis zum Bildersturm 1531 die dreifache Papstkrone, eine in Mittelalter und Früher Neuzeit nicht unübliche Darstellung. Sie wurde mit Hammerschlägen zerstört. Bei der Aufdeckung im Jahre 1893 waren nur zwei Figuren beschädigt, alle anderen kamen in vorzüglichem Zustand wieder zum Vorschein. Das Glaubensbekenntnis beginnt bei Petrus und endet bei Matthias. Die Verbindung eines Glaubensartikels mit einem Apostel ist frei gewählt, bei Darstellungen der zwölf Apostel in Verbindung mit dem Credo gab es zahlreiche Varianten.
In den Arkadenbögen befinden sich Darstellungen von Engeln, von Personen des Alten Testaments – Propheten, Patriarchen, Könige und andere bedeutende Männer – und von wichtigen Repräsentanten des Neuen Testaments: Christus, Maria, vier Evangelisten und zwei Apostel. Einer von ihnen ist Paulus, der die Gruppe der zwölf Apostel erweitert. Alle haben Spruchbänder mit Bibelzitaten. Die Bibelstellen der einzelnen Bögen kommentieren ebenfalls in schwäbischer Mundart die zugehörigen Artikel des Glaubensbekenntnisses. Sie sind aber nicht systematisch geordnet, sondern reihen Analogien und inhaltlich passende Zitate zum jeweiligen Thema ohne erkennbare Leitlinien aneinander. In manchen Bögen sind die Schriftstellen zwei aufeinanderfolgenden Credo-Artikeln zugeordnet. Die Fresken des fünften Bogens fallen aus diesem Schema völlig heraus: Dargestellt werden ausnahmslos Engel mit Musikinstrumenten. Auf Spruchbändern sind keine deutschen Bibelkommentare zu finden, sondern in lateinischer Sprache der Anfang des Gloria, das in der Liturgie der Osternacht feierlich gesungen wird und damit zum Artikel der Auferstehung von den Toten passt. Zudem gibt es eine weitere Besonderheit: Im neunten Bogen ist als einzige Ausnahme von den erwähnten Gruppierungen eine Persönlichkeit aus der Kirchengeschichte dargestellt – Bernhard von Clairvaux. Man kann davon ausgehen, dass der Autor, der das theologische Programm entworfen hat, mit Bernhards Schriften nicht nur vertraut war, sondern dies auch betonen wollte. Der Einfluss von Bernhards Werken auf den Marienzyklus ist unübersehbar, seine ausgeprägte Verehrung der Gottesmutter findet ihren Niederschlag bereits im zehnten Bogen: Es geht um die Vergebung der Sünden, aber die Kommentare beziehen sich hauptsächlich auf Maria. Gleich das erste Spruchband bringt ein Mariensymbol, die aurora consurgens, die aufleuchtende Morgenröte. Maria hat eine wichtige Funktion als „Zuflucht der Sünder“, als Vertreterin der Barmherzigkeit, wie es im Marienzyklus ausführlicher dargestellt ist.
==== Marienzyklus ====
Der Marienzyklus an der inneren Turmwand im nördlichen Seitenschiff ist eine Besonderheit. Dieses Fresko schildert in 14 Einzelbildern die Lebensgeschichte Mariens von der Verkündigung bis zur Anbetung des Jesuskindes durch die drei Weisen. Diese 14 Tafeln sind je etwa einen Quadratmeter groß. Die gesamte Fläche oberhalb dieser Szenen ist bis zum Gewölbe mit allegorischen und symbolischen Mariendarstellungen versehen. Hauptmotiv ist die sakrale (mystische) Einhornjagd auf der rechten Seite, ein Bildtypus, der im 15. und 16. Jahrhundert vor allem in der deutschen Kunst weit verbreitet war. Durch das Konzil von Trient wurde im 16. Jahrhundert die Darstellung der Einhornjagd verboten. Die Szene findet im hortus conclusus, im geschlossenen Garten statt. Links im Vordergrund bläst Erzengel Gabriel in ein Jagdhorn, vor ihm befinden sich vier Hunde mit Spruchbändern. In ähnlichen Darstellungen tragen die Hunde Spruchbänder mit den Worten veritas, misericordia, iustitia und pax (Wahrheit, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Friede). Da auf dem obersten Band das Wort Wahrheit erhalten geblieben ist, ist davon auszugehen, dass auf den anderen drei Bändern die übrigen Tugendbezeichnungen in deutscher Sprache standen. Die Zusammenstellung dieser vier Tugenden geht auf das Buch der Psalmen zurück. In der Vulgata lautet der Text:
Bernhard von Clairvaux hat dann in seiner ersten Predigt anlässlich des Festes Mariä Verkündigung über diese vier Tugenden eine Parabel geschrieben. Die Erzählung geht davon aus, dass Adam und Eva die Tugenden von Gott erhalten haben, die Barmherzigkeit als Beschützerin, die Wahrheit als Erzieherin, die Gerechtigkeit als Lenkerin, damit die Menschen das Gute nicht nur erkennen, sondern auch tun, und den Frieden, um glücklich sein zu können. Durch den Sündenfall haben die Menschen alle vier dann aus eigener Schuld verloren. Unter den Tugenden brach nun ein Streit aus. Wahrheit und Gerechtigkeit wollten als Strafe für Adam und Eva den Tod, Barmherzigkeit und Frieden baten um Schonung der Menschen. Die Paare riefen Gott als den höchsten Richter an, um den Streit beizulegen. Um beiden Seiten gerecht zu werden entschied Gott, dass einer, der keine Schuld auf sich geladen hat, sterben und dieser Tod heilbringend sein solle. Jemand müsse freiwillig aus Liebe sterben, denn die Liebe ist stärker als der Tod. Die Wahrheit machte sich in der Welt auf die Suche, entdeckte aber keinen Unschuldigen, der freiwillig sterben wollte, die Barmherzigkeit suchte im Himmel, fand aber keinen, der genügend Liebe besaß. Da schickte Gott seinen Sohn auf die Welt, der durch seinen Tod nicht nur die Menschen erlöst, sondern auch den Streit unter den Tugenden beigelegt hat, und darum waren diese vier auch bei seiner Menschwerdung anwesend. Die Tugendpaare versöhnten sich, Gerechtigkeit und Friede küssten sich und die Engel verkündeten bei Christi Geburt den Frieden auf Erden. Die Gerechtigkeit wandelte sich. Vor Christus war sie an das Gesetz gebunden und bedrückte die Menschen durch das Einflößen von Furcht. Nun aber spornte sie die Menschen durch Liebe an.
Der Streit der vier Tugenden ist auf vielen Miniaturen dargestellt und gehört zum Themenkreis des göttlichen Ratschlusses der Erlösung, der Menschwerdung Christi. Die mystische Einhornjagd verbindet dieses Streitthema mit der Legende vom Fangen des Einhorns im Schoß einer Jungfrau und mit der Verkündigung an Maria durch den Erzengel Gabriel. Zum Verkündigungsmotiv gehört Gottvater, der an der höchsten Stelle des Freskos dargestellt ist, und seinen Kopf in Richtung Mariens geneigt hat.
Die Hunde jagen das Einhorn in ihren Schoß. Das Besondere und Einzigartige an dem Fresko ist, dass das Einhorn das Jesuskind trägt. Eine solche Darstellung ist sonst von keiner Kirche bekannt. Da das Einhorn ja bereits ein Symbol für Jesus ist, brauchte man ihn nicht zusätzlich als Person darzustellen. Das Fabeltier ist aber auch ein Attribut der Keuschheit und weist so auf die jungfräuliche Empfängnis der Gottesmutter hin. Maria und das Jesuskind sind mit einem Heiligenschein versehen. Maria streckt dem Kind die Hände entgegen. Auf der anderen Seite im Vordergrund tauchen zwölf Propheten über der Mauerbrüstung auf, die Blätter mit den Weissagungen des Wunders der Empfängnis von der Mauer herabfallen lassen. Von den Texten sind nur Fragmente erhalten, die lauten:
„Der Herr/den (wir) suchend / der wirt komen von sinen hailigen tempel“
„erfilt ist die wisagong, daß gesalbet…“
„ain junckfraw wirt…“
„uß dir wirt uß (g)an der…“
„der herr…“Im Mittel- und Hintergrund sieht man ein palastartiges Gebäude, Burg- und Stadtumrisse und zahlreiche Mariensymbole. Diese sind auf Schriftbändern in deutscher Sprache benannt, die Inschriften sind allerdings arg beschädigt. Dennoch können einige Symbole sicher identifiziert werden: electa ut sol (auserlesen wie die Sonne), pulchra ut luna (schön wie der Mond), stella maris (Meeresstern), aurora consurgens (aufleuchtende Morgenröte), rubus incombustus (nicht verbrannter Dornbusch), hortus conclusus (verschlossener Garten), turris eburnea (elfenbeinerner Turm), porta clausa (verschlossene Pforte), civitas dei (Stadt Gottes), das Vlies Gideons und Jerusalem als Stadt Davids. Links von den zwölf Propheten finden wir das erste Bild aus dem Marienzyklus:
Die Szenen aus dem Leben Mariens beginnen mit Joachims Opfer. Joachim und Anna, die Eltern Marias, sind ein frommes Paar, das aber wegen seiner Kinderlosigkeit in Schmach leben muss. Zur Leistung seiner Opferpflicht vor dem Priester erschienen, wird Joachim mit seiner Gabe zurückgewiesen.
Das zweite Bild Joachim in der Einöde zeigt Joachim, wie er, auf seinen Stab gestützt, über eine mit Steinen übersäte Straße zu seinen Herden geht, die man im Hintergrund angedeutet sieht. Ein goldener Engel, ein Spruchband in den Händen haltend, schwebt zu ihm herab und verkündet ihm, dass er Vater eines Kindes wird. Zum Zeichen für die Wahrheit der Verkündung wird Joachim Anna an der Goldenen Pforte in Jerusalem begegnen.
Das dritte Bild zeigt Anna im Frauengemach, mit einer weißen Haube bedeckt vor einem roten gefalteten Vorhang auf einem Ruhebett sitzen. Mit einem weißen Tüchlein wischt sie sich die Augen und sucht Trost in einem Gebetbuch, das sie in der rechten Hand auf ihren Knien hält. Durch ein Fenster, unter dem ein Schränkchen mit teilweise aufgezogenen Schubladen steht, fliegt ein weißgewandeter Engel herein, der ihr dasselbe verkündet, wie zuvor Joachim.
Im vierten Bild begegnen sich Joachim und Anna vor der Goldenen Pforte. Auch hier ist die Straße steinig, im Hintergrund sind Mauern und Türme Jerusalems zu erkennen.
Das fünfte Bild zeigt Mariens Geburt. Anna liegt weiß gekleidet im Bett und reicht dem herzutretenden Gatten die Hand. Im Vordergrund kniet eine Frau mit hochgekrempelten Ärmeln am Boden vor einer Badewanne, in die sie die neugeborene Maria legt. Heiligenscheine sind über ihr und über Joachim und Anna zu sehen. Auf einem Tisch sind Leinentücher ausgebreitet. Durch die Türe im Hintergrund tritt eine Dienerin herein.
Der Tempelgang der Maria ist auf dem sechsten Bild zu sehen. Die dreijährige Maria wird am oberen Ende einer Treppe von einem Priester erwartet. Die Eltern schicken sich an, ihr zu folgen. Zwei andere Personen im Vordergrund nehmen an der Szene teil.
Das siebte Bild zeigt das Stabwunder. Eine Schar junger Leute mit Ruten in den Händen strömt durch eine in der Ecke sichtbare Türe herein. Goldverbrämte rote und blaue Röcke und Hüte deuten auf die hohe Bedeutung der Feierlichkeit. Sie begleiten den barhäuptigen, mit dem Heiligenschein ausgezeichneten Joseph, der wie auch in den folgenden Bildern einen roten Rock trägt und fast greisenhaft erscheint. Indem er vor den Priester tritt, wird die Rute, die Joseph trägt, grün wie ein frischer Palmzweig. Die der übrigen Bewerber bleiben dürr wie Besenreiser. Ein lockiger Jüngling im vornehmen Prachtkleid sinkt im Vordergrund auf die Knie, um seine Rute zu zerbrechen. Es ist eine der seltenen bildlichen Darstellungen dieser Szene in Deutschland. Meist wird sie bei Marienerzählungen ausgelassen.
Die Vermählung Josephs mit Maria ist auf dem achten Bild zu sehen. Beide stehen vor dem Priester, der über dem weißen Unterkleid einen zurückgeschlagenen roten Mantel trägt. Maria und Joseph haben ihre Hände vereinigt. Der Priester streckt segnend seine Rechte darüber aus. Vier Personen auf Seiten der Braut und ebenso viele auf Seiten des Bräutigams sind die Trauzeugen.
Das neunte Bild zeigt die Mariä Verkündigungsszene. In den späten Abendstunden – ein dunkler Himmel ist durch die Fensteröffnung zu sehen – kniet Maria vor dem roten, gefalteten, oben baldachinartig zusammengefassten Bettvorhang an einem Betschemel, auf dem ein Buch aufgeschlagen liegt. Der Erzengel Gabriel in goldenem Kleid und rotem Mantel zieht an einem Zipfel den Vorhang zur Seite und bringt Maria die freudige Botschaft. Der heilige Geist in Gestalt einer weißen Taube, von Gott, der im Brustbild oben am Himmel erscheint, ausgegangen, hat sich auf die Stirn der Jungfrau herabgesenkt.
Die Szene Marias Besuch bei Elisabeth ist auf dem zehnten Bild zu sehen. In lichtgrüner Landschaft, aus der im Hintergrund ein Turm mit einem Stück Stadtmauer hervortritt, begrüßen sich die beiden Frauen vor einer offenen Tür in zärtlicher Umarmung. Der Gegensatz zwischen der alten und der jungen Frau ist deutlich gekennzeichnet. Die Gestalt in Mantel und Kapuze im Hintergrund ist wohl der Priester Zacharias.
Die Flucht Josephs zeigt das elfte Bild. Maria sitzt wie bei der Verkündigung in einem Zimmer vor einem roten Bettvorhang. Joseph, einen Knotenstock in der rechten Hand, ein Bündel auf dem Rücken, wird eben die letzten Worte mit ihr gewechselt haben, um dann die Unschuldige zu verlassen. Die Erscheinung eines Engels, der durch das Fenster hereinschwebt, veranlasst ihn, sich diesem zuzuwenden und zu hören, was der in Hilflosigkeit dasitzenden Jungfrau geschehen soll. Auch diese Szene ist in dieser Art nur aus diesem Fresko bekannt.
Die Geburt Jesu zeigt das zwölfte Bild. Unbekleidet, in einen Trog gebettet, liegt das neugeborene Kind am Boden. Die Eltern stehen zu beiden Seiten, drei kleine Engel zwischen ihnen betrachten das Jesukindlein in anbetendem Staunen. Über die niedrige Brüstung, die den Raum nach hinten abschließt und den Blick in eine nächtliche Hügellandschaft frei lässt, schauen zwei Hirten herein, ein dritter weilt, von der Erscheinung des Engels gefesselt, bei seiner Herde. Durch eine Maueröffnung strecken Ochs und Esel ihre Köpfe herein.
Das vorletzte Bild zeigt die Beschneidung Christi. In der Mitte einer Gruppe von zehn Personen sitzt, dem Betrachtenden zugekehrt, ein würdiger Priester auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne. Unter seinem Priesterhut fällt ein weißes Schleiertuch über Kopf und Schultern bis auf die Hände herunter. Auf diesem Tuch hält er das Kind, während ein mit unbedecktem Haupt daneben sitzender Priester das Messer ansetzt. Auf der anderen Seite hält eine Frau eine lange weiße Binde bereit. Hinter dieser Gruppe stehen sechs Zuschauer in ruhiger Haltung nebeneinander. Der Mann im roten langen Rock mit grauem Bart und Haar soll vermutlich Joseph darstellen.
Das letzte Bild zeigt die Anbetung der Heiligen Drei Könige. Die Brüstung auf dem zwölften Bild ist verkürzt, um einer Türe Platz zu machen. Durch diese sind die vornehmen Gäste hereingekommen. Joseph fehlt in dieser Szene. Maria sitzt in der Mitte, das unbekleidete Kind auf dem Schoß. Dieses streckt die Arme dem Greis entgegen, der vor dem Kind kniet und es bei der rechten Hand ergriffen hat. Seitwärts steht, ein halbmondförmiges Schaugefäß in den Händen, der zweite König, den die wulstigen Lippen, die Stumpfnase und die braune Hautfarbe als Mohren kennzeichnen. Der dritte, den Hut in den Händen, schreitet von der anderen Seite mit seinen Gaben hinzu.Über die Entstehungszeit sowie den Urheber des Zyklus liegen keine Informationen vor. Die Kreise, die zwischen zwei Tafeln des Marienlebens zu sehen sind, stammen von einem Weihekreuz, das, wie der Farbauftrag beweist, eher als die Bilder gemalt worden ist.
==== Sonstige Fresken ====
Im Chor befinden sich mehrere Fresken. Das Fresko an der nördlichen Chorwand stellt Hans Vöhlin d. Ä. dar, einen der wichtigsten Stifter der Kirche. Als lebensgroße Figur kniet der ältere Mann in einer getäfelten Stube auf einer gepolsterten Bank. Auf einem Wandbrett, von dem ein Rosenkranz herabhängt, ist ein kleiner Hausaltar angebracht. An einer Schnur über dem Betenden an der Decke ist eine Hängelampe befestigt. Über seine Schulter hinweg sieht man in eine Flusslandschaft hinaus, deren Motiv eventuell dem oberschwäbischen Illertal angelehnt ist. Dort waren die Vöhlin sehr begütert, was diese Annahme nährt. Der Boden der gemalten Stube ist nach vorn von drei Sparren abgeschlossen. Über die Balkenschwelle hängen an Riemen drei Wappenschilde mit den Wappen des Stifters und wohl denen seiner zwei Gemahlinnen aus den Häusern Rappenstein und Imhof herunter. Auf einem Schriftband Über dem Kopf des Betenden steht: Heilige Maria, bitt für uns. Zu seinen Füßen befindet sich der Stechhelm mit der Vöhlinschen Helmzier. Des Weiteren ist die Inschrift: MCCCCLXIV (1464) und darunter Ernewert 1552 (Erneuert 1552) zu lesen.
Das Marienbild in einer kleinen Nische der südlichen Chorwand ist ebenfalls eine Vöhlinsche Stiftung. Die Nische, in der sich früher vermutlich ein Heiliges Grab befand, ist 2,21 Meter breit, 1,75 Meter hoch und 0,45 Meter tief. Die untere Hälfte der Nischenwand ist mit einem Teppichmuster bemalt. In der oberen sieht man über Wolken als Brustbild eine Madonna mit Kind, das mit den Händen einen Rosenkranz ausbreitet, rechts und links davon je einen musizierenden Engel. Auf etwa der gleichen Höhe befinden sich an die seitliche Wand anstoßend, rechts von der Gruppe der Wappenschild, links der Stechhelm mit der Helmzier der Vöhlins. Eine Maßwerkumrahmung mit Fischblasenmuster leitet von den Leibungen über auf die Außenwand, auf der ein mit Laubbossen (Rosetten aus Stein) besetzter Stab das Bild abschließt.
An der Südostwand des Chorschlusses sieht man einen fliegenden Engel, der eine große Hostienscheibe in seinen Händen hält. Da die Hostie früher auch Engelsbrot genannt wurde, geht man davon aus, dass der Engel zu einer verschwundenen Plastik gehörte.
Im Chorbogen sind die Klugen und Törichten Jungfrauen dargestellt, über denen jeweils Christus thront. Die fünf klugen Jungfrauen auf der linken Seite des Chorbogens halten ihre sorgsam gefüllten Öllampen in die Höhe. Sie blicken wachsam, fürsorglich. Ihnen ist die jederzeitige Ankunft des Bräutigams bewusst. Auf der rechten Seite sieht man die fünf törichten Jungfrauen, die die leeren Öllampen nach unten halten und auf den Bräutigam nicht vorbereitet sind. Sie denken, dass sie noch genügend Zeit haben und verlassen sich auf ihre klugen Schwestern.
Über der Kirchenpforte im nördlichen Vorzeichen befindet sich ein Weihnachtsfresko aus drei einzelnen Bildern. Das erste Bild (links unten) zeigt Mariä Verkündigung. Maria sitzt neben einem Lesepult mit einem aufgeschlagenen Buch. Vor ihr deutet der Engel mit der rechten Hand auf das Schriftband mit den Worten Ave gratia plena. dominus tecum (Sei gegrüßt, voll der Gnade. Der Herr ist mit dir), das er in der Linken hält. Ein weiteres Schriftband über dem Haupt Mariens gibt die Antwort: Ecce ancilla domini. fiat mihi secundum verbum tuum. (Siehe die Magd des Herrn. Mir geschehe nach deinem Wort). Beide Texte stammen aus dem Evangelium nach Lukas, Kapitel 1, Vers 28–38. Das zweite Bild rechts unten zeigt Christi Geburt. Unter und vor einem von vier Pfosten getragenen Dächlein befindet sich eine Futterkrippe, in deren vorderem Teil das Kindlein liegt, während aus dem hinteren der Ochse und der Esel fressen. Vor dem Kind kniet betend die Mutter, Joseph steht dahinter. Von der anderen Seite naht in betender Haltung eine Nonne, deren Schriftband nicht mehr lesbar ist. Im Hintergrund sieht man den Stern von Betlehem und die Szene der Verkündigung an die Hirten durch einen am Himmel erscheinenden Engel. Dessen Botschaft wird durch ein leeres Schriftband angedeutet. Das dritte Bild oben zeigt die Heiligen Drei Könige. Unter einem ähnlichen Holzdach wie bei dem Fresko von Christi Geburt sitzt auf einer altarähnlichen Bank mit vorgesetztem Podest Maria, Jesus auf dem Schoß haltend. Einer der Könige reicht kniend ein Kästchen. Auf der anderen Seite steht der zweite, der dritte beugt in einer lebhaften Bewegung das Knie. Beide tragen Kronen und bieten ziborienförmige Gefäße an. Ein Futtertrog mit den Tieren ist auf die Seite gedrängt.
Das südliche Vorzeichen wurde nicht barockisiert. Die dortigen Fresken aus den Anfängen des 15. Jahrhunderts dürften die ältesten erhaltenen der Kirche sein. Dort ist die gotische Ausstattung noch vollständig erhalten. Die Decke ziert ein Sternenhimmel mit ornamentalen Verzierungen an den Kreuzrippen. An der Westseite ist eine Nische mit 1,71 Meter Höhe, 1,14 Meter Breite und 0,18 Meter Tiefe mit der Kreuzigungsszene in die Wand eingelassen. Die Leibungsfläche dient als Umrahmung. Ein Blattornament, in lichtgrauer Farbe auf schwarzem Grund und in verschiedenen ausladenden Formen ist zwischen zwei Leisten gelegt. Diese tragen ein Vierpassornament in grün auf schwarzem Grund. Bei der äußeren dieser Leisten mit einem krabbenähnlichen grünen Laubornament greift der Rahmen auf die Mauerfläche über. Links vom gekreuzigten Jesus steht die leidende Maria, den Blick auf Johannes rechts vom Kreuz gerichtet. Dieser trägt das Evangelium im Arm. Jesus selbst hat bereits die erst nach dem Tod zugefügte Seitenwunde. Das Blut, das er vergießt, wird von zwei Engeln mit Kelchen aufgefangen.
Der Aufgang zur alten Empore in der Vorhalle war früher ebenfalls bebildert. Hier waren allerdings die Fresken so beschädigt, dass sie größtenteils nicht wiederhergestellt werden konnten.
Die Pfeiler in Höhe der Kanzel waren früher ebenfalls mit Bildern aus der Heiligen Schrift verziert. Allerdings waren diese Fresken zum großen Teil so schadhaft, dass sie beim Bildersturm übertüncht wurden.
Auf jedem von den beiden Pfeilern ist ein Fresko aufgedeckt. Das Fresko im Nordschiff vor dem Marienzyklus der inneren Turmwand zeigt Christus als Schmerzensmann. Er ist etwa einen Meter über dem Boden in halber Lebensgröße dargestellt. Christus ist nur mit einem Lendentuch bekleidet, mit Dornenkrone, seinen Wundmalen und einem Heiligenschein versehen, und befindet sich vor einem Teppich, den zwei nur bruchstückhaft erhaltene Engel halten, umgeben von Marterwerkzeugen.
Der Pfeiler am Südschiff, an dem sich die Kanzel befindet, besitzt ebenfalls Reste von Fresken, eines mit der Jungfrau Maria, die von Engeln umgeben ist. Dieses war sehr fein ausgearbeitet, wie man aus den Resten erkennen kann. Die Nordseite desselben Pfeilers zeigt einen gemusterten gotischen Teppich, der von zwei Engeln gehalten wird. Dieses Fresko ist entweder bei der Aufstellung der Kanzel entstanden oder war bereits vorhanden, als man das Orgelgehäuse dort anbrachte.
=== Ölbilder ===
Das Altarbild des Hochaltares wurde von Johann Friedrich Sichelbein der Memminger Schule um 1700 gemalt. Es wurde 1806, am Ende des Simultaneums der katholischen Stadtgemeinde St. Johann übergeben und 1868 zurückgekauft. Es zeigt die Kreuzigungsszene auf Golgatha. Zwei Bilder von Rudolf Schwemmer aus dem Jahr 1961 befinden sich in der Taufkapelle. Sie zeigen in moderner Darstellung die Pfingstbegebenheit und die Kindersegnung Jesu. Im südlichen Seitenschiff hängt ein Bild mit der Auferstehung Jesu in gemäßigtem Expressionismus. Es wurde 1951 von Ulrich Franke geschaffen. Das Abendmahlsgemälde neben der Hawanger Madonna wurde 1820 von Andreas Küchle gemalt.
In der neuen Sakristei befindet sich ein Bilderzyklus mit Szenen aus dem Alten und Neuen Testament von Johann Friedrich Sichelbein. Die Bilder hingen vor der Aufdeckung der Fresken in den Arkadenbögen des Hauptschiffes.
=== Schnitzereien ===
==== Im Chor ====
Das barocke Chorgestühl aus dem Jahre 1696 eines unbekannten Künstlers mit Muscheln, Putten, Fratzen und Fruchtgehängen hat einen durchschnittlichen künstlerischen Wert. Über dem Eingang zur Sakristei ist das Wappen des damaligen Spitalmeisters des Oberhospitals angebracht. Die Tür zur Sakristei ist ebenfalls mit Schnitzereien verziert, die von der Stadt kurz vor dem Chorgestühl in Auftrag gegeben wurden. Die Türe trägt im oberen Feld das von Putten und Früchten umrahmte Stadtwappen als Zeichen dafür, dass die dahinter liegende Sakristei zum reformierten Teil der Kirche gehörte. Der Hochaltar stammt aus dem Jahr 1859.
==== Decke, Kanzel, Kreuzaltar und Empore ====
Die hölzerne Flachdecke (1897), die Kanzel mit dem Schalldeckel (1895) und die Emporen (1897) wurden im Stil des Historismus gefertigt und zeigen alle die gleichen Memminger Schnitzereien. Die Brüstungen der Emporen wurden mit Verzierungen und Bibelworten versehen. Auf der Vertäfelung der Kanzel sind in Flachschnitztechnik die Evangelisten Markus mit dem Löwen, Lukas mit dem Stier, Matthäus mit dem geflügelten Menschen und Johannes mit dem Adler dargestellt. An der Unterseite schwebt die Taube des Heiligen Geistes im goldenen Strahlenkranz.
Der Kreuzaltar vor der Kanzel ist ein moderner, quadratischer Tisch des Herrn. Er wurde 1979 von dem Ehepaar Munz-Natterer aus Neuching geschaffen. Er besitzt bronzene Verbindungsstücke an den Seitenflächen und Ecken, die den Leib Christi darstellen sollen. Den Kreuzestod Christi symbolisiert ein Bergkristall.
==== Statuen ====
Die Madonna an der Ostseite des nördlichen Seitenschiffes wurde um 1500 von Ivo Strigel geschaffen. Sie befand sich längere Zeit in einem Bauernhof in Hawangen, von dem sie ihren Namen hat. Die Mutter Gottes in goldenem Mantel mit blauem Futter trägt das Jesuskindlein auf dem Arm. Dieses hält die Weltkugel in der linken Hand. Die Hawanger Madonna gehört zum Typus einer Mondsichelmadonna: Unter ihrem rechten Fuß ist eine goldene Mondsichel angebracht mit einem männlichen Gesicht, von dem vermutet wird, dass es ein Selbstbildnis des Memminger Künstlers darstellt. Sie steht auf einem im 20. Jahrhundert angebrachten Steinsockel.
In der Kirche befinden sich außer der Hawanger Madonna noch zwei Holzstatuen. Der Gute Hirte an der Ostseite des Hauptschiffes ist eine vom Bildhauer Geiger aus Memmingen stammende Figur vom Ende des 19. Jahrhunderts. Sie trägt wallende rot-bräunliche Haare. Der rote Überwurf wird am Hals durch eine Brosche mit drei Perlen zusammengehalten, das Untergewand ist blau. Der Hirte trägt auf dem linken Arm ein Lamm, in der Rechten hält er einen gekrümmten Hirtenstab. Die Füße sind unbekleidet, zu seiner Linken sitzt ein Schaf. Von einer Figur in der Madonnennische des Chorraums kann derzeit nicht gesagt werden, wen sie darstellt. In der Sakristei befindet sich ein heiliger Johannes mit dunklem, langem, wallendem Haar. Der Überwurf ist golden, das Untergewand blau. Die Entstehungszeit, sowie der Schöpfer der Figur sind unbekannt. Beide Statuen stammen aus dem Nachlass des Kunstmalers und Kunstsammlers Fritz Hail, den seine Schwester Luise Hail der Kirchengemeinde überließ.
==== Kirchengestühl ====
Das Gestühl der Osthälfte wurde 1979 aus Eiche unter Verwendung der alten Wangen von 1897 hergestellt. Das übrige Laiengestühl stammt aus verschiedenen Zeitepochen. Darunter befinden sich auch mittelalterliche Kirchenbänke, teilweise mit Schnitzereien. Eine Gestühlwange im nördlichen Seitenschiff trägt das Wappen der Vöhlin. Im südlichen Seitenschiff ist eine Kirchenbank von 1897 mit ornamentalen Schnitzereien und Bibelsprüchen erhalten.
=== Steinmetzkunst ===
Auf den Konsolen der Säulen im Chor stehen sechs Steinfiguren. Sie wurden Ende des 19. Jahrhunderts hergestellt und farbig bemalt. Bei der Kirchenrenovierung in den 1950er Jahren mussten sie auf Veranlassung des Landesamtes für Denkmalpflege in Augsburg grau gestrichen werden. Sie stellen Männer dar, die einen bedeutenden Einfluss auf die Ausbreitung der Reformation hatten, und zwar Martin Luther, Philipp Melanchton, Kurfürst Friedrich den Weisen, Gustav Adolf von Schweden, Christoph Schappeler und Ambrosius Blarer.
Das von einem unbekannten Künstler geschaffene Taufbecken in der sogenannten Minnerschen Kapelle, der einzigen Kapelle des Südschiffes, stammt aus dem Jahr 1565 und wurde aus Rotmarmor gefertigt. Es weist große stilistische Ähnlichkeit mit dem ebenfalls aus Rotmarmor geschaffenen Taufbecken der St. Martinskirche auf.
== Grabplatten ==
Die früher am Boden und an der Außenwand befindlichen Grabplatten wurden während der Renovierungen der Kirche immer wieder versetzt. Heute befinden sie sich in den Seitenkapellen und im nördlichen Vorzeichen; im nördlichen Seitenschiff hängen die größten noch erhaltenen Epitaphien. Die Schrift von dreien kann noch entziffert werden, die der übrigen ist meist so verwittert, dass sie nicht mehr lesbar ist. Die älteste Grabplatte stammt von dem Kaplan Konrad Schriber aus dem Jahr 1439. Daneben befindet sich die des Memminger Handelsherrn und Patriziers Jörg Hürsich und seiner Ehefrau von 1606 bzw. 1608. Viele stammen auch von verstorbenen Franziskanerinnen des gegenüberliegenden Klosters. Die Platte vom Grab des Hans Vöhlin, dem größten Stifter der Kirche, ist in der westlichen Seitenkapelle des Nordschiffes, der Möttelinkapelle, an der Wand befestigt. Sie wurde 1441 geschaffen und ist stark verwittert.Im nördlichen Vorzeichen befinden sich am Boden mehrere circa 30 × 30 Zentimeter große Platten mit den eingemeißelten Namen von Nonnen des Franziskanerinnenklosters.
== Orgel ==
Die erste Orgel, etwa 1487 von Hans Vöhlin gestiftet, befand sich auf einer Empore am Standort der heutigen Kanzel. Das Orgelhäusle ob der Kanzel wurde 1659 erneuert, die neue Orgel jedoch erst 1662 angeschafft. Diese blieb dort bis Eberhard Walcker 1850 eine neue Orgel mit zwei Manualen, Pedal und 25 Registern baute.
Die heutige Orgel wurde im Jahre 1929 von der Firma Steinmeyer aus Oettingen als opus 1512 gebaut. Sie besitzt 52 klingende Register, verteilt auf drei Manualwerke und Pedal. Die Traktur ist elektropneumatisch.
Die Orgel hat den Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen unbeschadet überstanden und blieb in den Nachkriegsjahren vor größeren Veränderungen verschont.
Koppeln: II/I, III/I, III/II, I/P, II/P, III/P.
Spielhilfen: zwei freie Kombinationen; Pianopedal II, III; Crescendowalze; Generaltutti; Pedaltutti; Absteller (Pedalregister, Handregister, Zungen, Mixturen, Walze).
Anmerkung
== Glocken ==
Die ursprünglichen Glocken wurden mehrmals umgegossen, zuletzt 1852, als einige rissig geworden waren. Die älteste und größte Glocke stammte aus dem Jahr 1530. 1912 mussten die drei kleineren für den Ersten Weltkrieg abgegeben werden und wurden 1921/22 durch neue ersetzt. Auch im Zweiten Weltkrieg mussten die Glocken für Rüstungszwecke abgeliefert werden. Ein Teil davon kam nicht wieder zurück. Die neuen Glocken stammen aus den Jahren 1953 und 1961.
Die Lobeglocke wiegt 1.200 kg und ist auf den Ton es1 gestimmt. Sie trägt den Spruch „Ehre sei Gott in der Höhe. – Sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein“ und dient als Stundenglocke. Sie ruft zehn Minuten lang die Gläubigen zum Gottesdienst und läutet danach weitere fünf Minuten gemeinsam mit den anderen drei Glocken. Die Lobeglocke wurde 1530 angeschafft und am 1. Juli 1852 von Johannes Hermann aus Memmingen umgegossen. Am 31. Oktober 1852 wurde sie wieder erstmals geläutet. Unter der Jahreszahl 1852 ist das Hermannsche Wappen (Widder) eingraviert. Im Zweiten Weltkrieg kam die Glocke am 30. Mai 1947 vom Glockenfriedhof wohlbehalten zurück.
Die Rufglocke mit dem Gewicht von 700 kg und dem Ton ges1 trägt den Spruch „Deine Toten werden leben“. Sie wird auch Gefallenen-Gedächtnis-Glocke genannt. Sie läutet während des Vaterunsers im Gottesdienst, während des Morgen- und Abendgebetes, um zwölf Uhr zum Friedensgebet und bei Beerdigungen. Sie wurde am 19. November 1917 vom Glockenturm geholt, kam aber unversehrt zurück. Im Zweiten Weltkrieg musste sie wiederum für Rüstungszwecke abgeliefert werden und kam nicht mehr zurück. Die heutige Rufglocke wurde am 28. Dezember 1953 erstmals geläutet.
Die Dienerglocke ist auf den Ton as1 gestimmt. Sie wurde 1961 von Eduard Schultz, dem Inhaber der Firma Magnet-Schultz zum Andenken an seine Mutter, Elisabeth Schwerdtfeger, gestiftet. Sie trägt den Spruch „In Christo gilt der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ und das Wappentier der Schwerdtfegerschen Apotheke, das Einhorn. Sie dient zum Elf-Uhr-Läuten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam sie nicht wieder in die Stadt zurück. Am 5. März 1961 wurde die neue Glocke aufgezogen.
Die Betglocke wiegt sieben Zentner und ist auf den Ton b1 gestimmt. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg kam sie auf den Glockenfriedhof, von wo sie jeweils wieder zurückkehrte. Sie wurde im Jahre 1953 umgegossen und am 28. Dezember aufgezogen. Sie schlägt die Viertel-, halbe und Dreiviertelstunde.
== Nutzung der Kirche ==
Die Stadtpfarrkirche wurde vor der Reformation von der katholischen Stadtbevölkerung sowie ab 1341 von den römisch-katholischen Kreuzherren und ab etwa 1444 den Nonnen des gegenüberliegenden Franziskanerinnenklosters Maria Garten benutzt. Ab etwa 1530 war die Kirche zweigeteilt und war nach dem Mindelheimer Vertrag von 1569 das Gotteshaus der katholischen und der reformierten Stadtbevölkerung. Sie stand im ärmeren Stadtviertel, der sogenannten Wegbachsiedlung, die auch Wegbachvorstadt genannt wurde. Nach dem Ende der Reichsstadtzeit 1803 wurde die Kirche teilweise als Waffenlager, Krankenhaus und Lagerhalle umgewidmet. Seit 1811 gehört die Kirche der lutherischen Kirchengemeinde Unser Frauen. Bis zum Bau des Gemeindehauses in den 1990er Jahren wurde das Langhaus auch als Gemeindehaus verwendet.
Heute finden Gottesdienste, Meditationen und Konzerte in der Kirche statt. Gottesdienste werden in der Regel jeden Sonntagvormittag abgehalten. Das Gemeindehaus befindet sich nördlich der Kirche gegenüber dem Chor. Das Gemeindeleben ist äußerst rege. Pfarrer ist derzeit Claudius Wolf.
== Pfarrbezirk ==
Der Pfarrbezirk der Kirche war vor der Säkularisation und den neuen Baugebieten der 1950er und 1960er Jahre die südliche Altstadt, etwa vom Weinmarkt bis zur Hohen Wacht. Mit den neuen Baugebieten wuchs auch die Gemeinde stark an, weshalb sich das Dekanat Memmingen dazu entschloss, neue Gemeinden in den Neubausiedlungen zu gründen. Seit etwa 1970 ist der Pfarrbezirk die Südstadt ausgehend vom Weinmarkt. Da die meisten Neubaugebiete in der Ost-, West- und Nordstadt mit den Stadtteilen geschaffen wurden, schrumpfte die Gemeinde von 3600 (1980) auf heute etwa 1800 Gemeindemitglieder. Zur Kirchengemeinde gehört die evangelische Bevölkerung von Benningen.
== Literatur ==
Friedrich Braun: Die Stadtpfarrkirche zu Unserer Frauen in Memmingen. Ein Beitrag zur Geschichte des oberschwäbischen Kirchenbaues. Köselverlag, München 1914.
Julius Miedel: Führer durch Memmingen und Umgebung. 3., neubearbeitete Auflage. Teil 1. Verlags und Druckereigenossenschaft Memmingen, Memmingen 1929, S. 114–122 (Erstausgabe: 1900).
Theophil Haffelder: Evang.-Luth. Stadtpfarrkirche Unser Frauen in Memmingen (= Kleine Kunstführer. Nr. 1404). Verlag Schnell & Steiner GmbH & Co., München 1983, OCLC 180494446.
Theophil Haffelder: Die Geschichte der Frauenkirche von Memmingen. Selbstverlag des Autors, Memmingen 2000, OCLC 76268292.
Gudrun Litz: Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2007, ISBN 978-3-16-149124-5, S. 150–152.
Franz Kuntze: Die Jagd des Einhorns in Wort und Bild. In: Georg Steinhausen (Hrsg.): Archiv für Kultur-Geschichte. Band 5, Berlin 1907, S. 273–310.
Gerhard B. Winkler (Hrsg.): Bernhard von Clairvaux. Sämtliche Werke lateinisch/deutsch. Band 8. Tyrolia-Verlag, Innsbruck 1997, ISBN 3-7022-2118-2, S. 97–127.
== Weblinks ==
Kunst und Geschichte (Webseite der Kirchengemeinde)
D-7-64-000-32 (PDF, S. 9). Die Frauenkirche beim Landesamt für Denkmalpflege in Bayern
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Unser_Frauen_(Memmingen)
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Parforceheide
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= Parforceheide =
Die Parforceheide zwischen dem Süden Berlins und dem Osten Potsdams ist eines der letzten größeren zusammenhängenden Waldgebiete in der Metropolregion Berlin-Brandenburg. Obwohl in Brandenburg gelegen, befindet sich ein Teil des Waldes im Eigentum des Landes Berlin. Die Grundlage hierfür schuf der Dauerwaldvertrag oder auch Jahrhundertvertrag von 1915. Ein rund 2350 Hektar umfassendes Gebiet ist seit 1997 als Landschaftsschutzgebiet Parforceheide ausgewiesen. Die Schutzverordnung verfolgt unter anderem das Ziel, „die Funktion des Gebietes als klimatische Ausgleichsfläche im Süden des Ballungsraumes Berlin“ zu bewahren. Der Name geht auf Parforcejagden zurück, für die König Friedrich Wilhelm I. 1730 im Wald das Jagdschloss Stern errichten ließ.
== Geografie und Geologie ==
=== Lage ===
Die nördliche Begrenzung der Parforceheide bildete bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts das Bäkefließ, das weitgehend im Teltowkanal aufgegangen ist. Die historische Karte von 1903 neben dem Inhaltsverzeichnis verzeichnet am oberen Bildrand noch das Bäkefließ (mit seinem alten Namen Teltefließ). Seit seinem Bau zwischen 1900 und 1906 schließt der Teltowkanal den Wald nach Norden ab, noch weiter nördlich auf der anderen Kanalseite folgen die Wälder von Dreilinden. Zwischen den Teltowkanal und den Wald schiebt sich östlich der schmale Berliner Streifen Albrechts Teerofen, der hier nach Brandenburg hineinreicht, sodass ein schmaler Waldstreifen entlang des Kanals auf Berliner Gebiet liegt.
Nach Osten wird das Waldgebiet zum einen von der weiträumigen Parklandschaft des Südwestkirchhofs Stahnsdorf und des Wilmersdorfer Waldfriedhofs Stahnsdorf abgeschlossen, deren Gebiet bis zur Anlage der Friedhöfe 1909 bzw. 1920 zur Parforceheide zählte. Zum anderen begrenzt das einzige Dorf in unmittelbarer Nachbarschaft des Waldes, Güterfelde, das ehemalige Gütergotz, die Parforceheide nach Osten. Die auf manchen Karten eingezeichnete Güterfelder Heide wird vom zuständigen Forstamt Nudow der Parforceheide zugerechnet.
Die westliche Begrenzung bildet die Straße, die Berlin mit der ehemaligen Exklave Steinstücken verbindet und die auch heute noch zu Berlin gehört.
Westlich von Steinstücken schließen sich die Potsdamer Neubaugebiete Drewitz, Am Stern und Kirchsteigfeld an; ab Stern verläuft die Westbegrenzung parallel zur Autobahn A 115. Zuvor durchschneidet die Autobahn den Wald, der mit zwei Fußgängerbrücken über der Fahrbahn verbunden ist; ein 2004 neu gebauter Rastplatz an der A 115 trägt den Namen Parforceheide. Den südlichen Abschluss findet das Waldgebiet im Schnittpunkt der Straßen Güterfelde-Philippsthal und Drewitz-Ludwigsfelde. Weitere kleinere Waldparzellen liegen außerhalb der umrissenen Begrenzung und werden hier zugunsten der Übersichtlichkeit nicht genauer spezifiziert.
Erwähnenswert ist die knapp 22 Hektar umfassende Ackerfläche Wüste Mark, die mitten in der Parforceheide liegt und bis 1988 als Exklave von einem Berliner Bauern aus Zehlendorf bewirtschaftet wurde.
=== Eiszeit, Sand und Kiefer ===
Die Parforceheide gehört geologisch zur Berlin-brandenburgischen Landschaft Teltow, dessen Name auf den ursprünglichen Begriff „Telte“ für das Bäkefließ zurückgeht. Der Teltow ist eine typische Platte nördlich der Brandenburger Eisrandlage. Er entstand vor etwas mehr als 20.000 Jahren in der Weichseleiszeit. Größtenteils wird er von flachwelligen Grundmoränenflächen eingenommen. Das besondere an der Parforceheide ist, dass der für Grundmoränen typische Geschiebemergel weitgehend fehlt und deshalb ältere Ablagerungen, Schmelzwassersande aus der Vorstoßphase des Inlandeises an der Erdoberfläche anstehen. Sie sind im Durchschnitt 15 bis 20 Meter mächtig. Auf den Sanden entwickelten sich in der Nacheiszeit Braunerden, die jedoch nur eine geringe Ertragsfähigkeit aufweisen. Die für den Teltow typischen trockenen Sandböden prägen den Charakter des Waldes Parforceheide, der die nur in Ostdeutschland für grundwasserferne Waldstandorte gebräuchliche Bezeichnung „Heide“ erhielt. Mit seinem lichten Kiefernbestand bot der Wald ideale Bedingungen für das Bedürfnis von König Friedrich Wilhelm I., die für die Parforcejagd nötigen breiten Schneisen durch das Holz zu ziehen.
== Geschichte ==
=== Parforcejagd und Stern ===
Die Parforcejagden, die seit dem 16. und 17. Jahrhundert an den europäischen Höfen mit Leidenschaft betrieben wurden, gaben der Parforceheide den Namen. Die Jagdform erfordert möglichst ebene und freie Wege in einem möglichst lichten Wald mit wenig Unterholz, da die Reiter den Hundemeuten folgen müssen, die das Wild bis zur Erschöpfung hetzen. Diese Hetzjagd ist in Deutschland inzwischen verboten und wurde selbst in England, dem Land mit einer besonders gepflegten Jagdtradition und einer einflussreichen Jagdlobby, im Jahr 2005 untersagt. Die Jagd galt in der Parforceheide vor allem dem Schwarzwild und zu einem kleinen Teil dem Damwild. Rotwild soll es in den berlinnahen Wäldern schon damals nur noch in kleinen Beständen gegeben haben.
Die in Brandenburg vorhandenen Jagdanlagen waren für diese Jagdform nicht geeignet. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts fand der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. mit der – seit diesem Jahr so bezeichneten – Parforceheide ein ideales Gelände und ließ zwischen 1725 und 1729 einen Raum von rund einhundert Quadratkilometern für die Parforcejagd herrichten. In rund sieben Kilometer Entfernung vom königlichen Stadtschloss entstand ein zentraler Platz, von dem sternförmig 16 schnurgerade doppelte Schneisen (Gestelle) in den Wald geschlagen wurden – mit Namen wie Priestergestell, Breites Gestell, Turmgestell oder Weg nach Kohlhasenbrück. Dieser Stern ist noch vorhanden, allerdings sind lediglich acht radial wegführende Wege beziehungsweise Straßen erhalten. Er gehört heute zum nach ihm benannten Potsdamer Ortsteil Stern. Früher gab es auch die Bezeichnung Großer Stern – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Großen Stern an der Siegessäule in Berlin.
=== Jagdschloss Stern ===
Der Schriftsteller Theodor Fontane durchwanderte 1869 die Parforceheide über den Stern bis nach Güterfelde:
Allerdings ist das Jagdschloss Stern, das der preußische Monarch 1730 im Wald bauen ließ, eher ein kleineres Landhaus denn ein Schloss. Fontane zufolge war das Haus
Ein Charakter, von dem Fontane alles andere als angetan ist, denn der Anblick der Paneele mit ihren Jagdtrophäen im Speisesaal lassen den Dichter der Mark einen „tiefe[n] und plötzliche[n] Verfall der Kunst“ beklagen, „jenseits lag die Kunst, diesseits die Barbarei.“ Das königliche Schlafzimmer erinnerte Fontane „an die Lagerstätten einer alten Schiffskajüte“ und kam ihm wie eine unheimliche Höhle vor.
Dass es sich bei dem Schlösschen um ein repräsentatives Beispiel für die „im Gegensatz zu seinen prunkliebendem Vorgänger […] spartanisch einfache Lebensführung“ des Soldatenkönigs handelt, erfahren wir von Adelheid Schendel in der 1987 von der Schlösserverwaltung herausgegebenen Broschüre Jagdschloss Stern. Danach handelt es sich um ein schlichtes holländisches Haus auf märkischem Boden. Während noch der Saal anspruchsvoll gestaltet ist, „ein wichtiges der ohnehin raren Beispiele für die Raumkunst aus der Epoche zwischen Schlüter und Knobelsdorff“, „weisen die übrigen Räume des Schlösschens die schlichte Zweckmäßigkeit holländischer Bürgerhäuser auf“. Realitätsnäher als Fontane beschreibt Adelheid Schendel auch das Bett: „Das in eine Holzwand zwischen Treppentüren eingefügte Bett im Schlafzimmer erinnert an Schiffskojen oder Bettladen in friesischen Fischer- und Seemannshäusern.“
In den 1980er-Jahren erhielt das Jagdschloss eine grundlegende Sanierung, war allerdings 2005 wegen erneuter Renovierungsarbeiten wieder geschlossen. Neben dem Hauptgebäude, an dem sich das Holländische Viertel in Potsdam orientierte, blieb noch das alte Kastellanhaus erhalten, das wahrscheinlich bereits 1714 errichtet wurde. Nach Einstellung der Parforcejagden unter Friedrich dem Großen und ihrer Wiederbelebung unter Friedrich Karl von Preußen kam diese Jagdform zu Beginn des 20. Jahrhunderts endgültig zum Erliegen.
=== Berliner Besitz in Brandenburg ===
==== Berliner Luft – Der Dauerwaldvertrag ====
Stern und Jagdschloss liegen heute unmittelbar neben der Autobahn 115 und sind mit Sicht- und Lärmschutzblenden vom hohen Aufkommen der sechsspurigen Verkehrsader abgeschirmt. Eine ehemalige Schneise führt per Tunnel unter der Autobahn hindurch Richtung Osten in die Parforceheide, westlich schließen sich die Neubauviertel im Ortsteil „Stern“ an, die mitten in die Parforceheide hineingebaut wurden. Dass trotz der unmittelbaren Randlage zu den Großräumen Berlin und Potsdam und trotz massiver, nicht mehr wieder gut zu machender Eingriffe in das Landschaftsschutzgebiet mit Bauten wie der autobahnähnlichen Nuthe-Schnellstraße und dem Autobahnkreuz Potsdam große Teile der Waldlandschaft erhalten blieben, geht nicht zuletzt auf einen Beschluss der Berliner Stadtväter in den Jahren 1915 und 1920 bei der Gründung des Großraums Berlin zurück.
Der Dauerwaldvertrag, auch als Jahrhundertvertrag bezeichnet, den der kommunale Zweckverband Groß-Berlin 1915 mit dem Königlich-Preußischen Staat abschloss, schrieb fest, dass die Parforceheide als Luftquelle für Berlin bestehen bleiben muss. Der Zweckverband kaufte für 50 Millionen Goldmark große Waldteile, insgesamt rund 10.000 Hektar, der Förstereien Grunewald, Tegel, Grünau, Köpenick und Potsdam vom Preußischen Staat und verpflichtete sich, die erworbenen Waldflächen weder zu bebauen noch weiterzuverkaufen, sondern auf Dauer für die Bürger als Naherholungsfläche zu erhalten.
Hintergrund der Ankäufe war neben den schon zu dieser Zeit bedeutsamen ökologischen und Erholungsaspekten die Sicherung der Wasserversorgung für die rapide wachsende Bevölkerung im Großraum Berlin sowie die Eindämmung der ausufernden Bodenspekulation.
==== Rückgabe durch die Treuhand 1995 ====
Teile der Parforceheide gehörten zu der angekauften Fläche, die 1920 auch formalrechtlich zum Berliner Besitz kam, als der Zweckverband in den Rechtsnachfolger Stadtgemeinde Groß-Berlin überging. Juristisch hat dieser Waldteil den Status „Privatbesitz der Berliner Forsten im Land Brandenburg“. Nach der endgültigen Deutschen Teilung und Gründung der DDR 1949 war West-Berlin von der außerhalb liegenden Parforceheide abgeschnitten. Auch Ost-Berlin verlor den Besitz an der Parforceheide, als 1952 alle außerhalb Berlins gelegenen Wälder zum Volkseigentum erklärt wurden und in die Verwaltung des Landes Brandenburg beziehungsweise des Bezirks Potsdam kamen.
Nach der Wiedervereinigung der getrennten Stadtteile und nach der Rückgabe der im Umland liegenden Waldgebiete durch die Treuhandanstalt 1995 gehört ein Teil des Waldes wieder der Stadt Berlin und wird von der Revierförsterei Dreilinden bewirtschaftet. Von rund 29.000 Hektar Berliner Gesamtwaldfläche befinden sich heute 16.000 Hektar in Berlin und 13.000 Hektar außerhalb in Brandenburg. Der Berliner Teil der Parforceheide liegt überwiegend im Gebiet zwischen Albrechts Teerofen, Kohlhasenbrück, Steinstücken und dem Südwestkirchhof Stahnsdorf, der gleichfalls Berliner Gebiet in Brandenburg ist (Besitz der Evangelischen Kirche). Daneben gibt es verstreute kleinere Berliner Flächen, wie beispielsweise am Güterfelder Haussee.
Neben dem Berliner Teil der Parforceheide und neben dem brandenburgischen Teil, für den die Revierförsterei Nudow (vormals Forsthaus Ahrensdorf) zuständig ist, gibt es als dritten Besitzer die Bundesrepublik Deutschland, die ehemalige Militärflächen der DDR in der Waldregion bei Güterfelde als Bundesforst hält.
== Ökologie I: Flora und Fauna ==
Da die „Teilung der Berliner Forsten in einen Ost- und einen Westteil […] weniger als eine Baumgeneration währte“, sind die Unterschiede in der Waldentwicklung laut Reiner Cornelius trotz unterschiedlicher Positionen „nicht so gravierend“ und können auf dem heute eingeschlagenen Weg zu naturnäheren Bestandsformen relativ problemlos ausgeglichen werden. Zudem waren die DDR-Richtlinien zur Waldbewirtschaftung noch bis 1975 vergleichsweise moderat und bei der folgenden intensivierten wirtschaftlichen Waldnutzung in Ostdeutschland erfuhren die Berliner Wälder, auch außerhalb, eine schonende Sonderbehandlung. Erheblich größeren Schaden erlitt der Wald vor der deutschen Teilung.
=== Der Wald Parforceheide ===
In Berlin und in der umgebenden brandenburgischen Region gibt es keine natürlichen Waldgesellschaften mehr, auch die Parforceheide gehört zu den künstlich begründeten Forstgesellschaften. Bereits die ersten Urbarmachungen und Trockenlegungen nach der Gründung der Mark Brandenburg in der Mitte des 12. Jahrhunderts veränderten das natürliche Waldgefüge. Der Druck der wachsenden Städte ließ Pechbrennereien wie Albrechts Teerofen entstehen, das Holz des Waldes wurde für Hausbau und Feuerung extensiv genutzt. Auch der spätere kurfürstlich-königliche Jagdbetrieb blieb nicht ohne Einfluss auf den Zustand des Waldes. Dem nachhaltigsten Raubbau während des Zweiten Weltkrieges und in den Notzeiten der ersten Nachkriegsjahre fielen rund 45 % der Wälder zum Opfer. Die Wiederaufforstung der Kahlflächen fand um 1950 zu einem erheblichen Teil mit der schnellwüchsigen Kiefer statt. Daher besteht die Parforceheide heute zu einem relativ hohen Anteil aus rund 50-jährigen Kiefern-Reinbeständen. Hinzu kommen ältere, noch erhaltene Kiefernrestbestände, denn die Kiefer fand schon in den Jahrhunderten zuvor die Förderung der Forstwirtschaft, da sie auf dem nährstoffarmen, aber lockeren Sandboden des Teltow gut gedeiht und die rentabilitätsorientierten Bepflanzungen schnellnutzbaren Hauptbaumschichten den Vorzug gaben (Der Nadelwald wächst schnell ins Geld).
Die natürlichen Waldgesellschaften vor dem Jahr 1200 bestanden auf den Hochflächensanden des Berliner Urstromtals aus Kiefer-Eichenwäldern. Der Anteil der Kiefer lag dabei deutlich unter 50 % – ihr heutiger Anteil beträgt im Großraum Berlin-Brandenburg rund 70 %, in der Parforceheide laut Auskunft der jeweiligen Forsthäuser im brandenburgischen Teil 80 bis 85 % und im Berliner Teil um 90 %. Mit ihren ebenfalls geringen Ansprüchen an die Nährstoff- und Wasserversorgung ergänzen vor allem Eichen, Buchen und Birken den Kiefernwald.
=== Auwaldreste und Gewässer ===
Neben diesen Beständen verfügt die Parforceheide am Hirtengraben, vor allem in dem Wiesen- und Pfuhlgebiet der Großen Rohrlake, über kleinere Restbestände wertvoller Bruch- und Auenwälder, die allerdings nach Angabe der Försterei absterben. Der Grund liegt vornehmlich in der Austrocknung des Hirtengrabens in seinem oberen Verlauf, für die wiederum die Absenkung des Wasserspiegels am Güterfelder Haussee ursächlich ist.
==== Haussee und Hirtengraben ====
Der flache Eiszeitsee liegt östlich am Rand des Waldes direkt vor dem Dorf Güterfelde, seine Fläche beträgt knapp 5 Hektar. Dem wegen seiner Waldlage und seinem Badestrand als „Perle der Parforceheide“ bezeichneten Haussee drohte nach der Aufgabe der nahen ausgedehnten Rieselfelder Ende der 1980er-Jahre die Verlandung. Zwar stoppte im Jahr 2003 eine 1,2 Mio. Euro teure Sanierung des Sees diesen Prozess, verhinderte jedoch nicht, dass der Wasserspiegel heute immer noch um mehr als einen Meter zu niedrig liegt. Der Hirtengraben als natürlicher Abfluss des Sees erhält damit keine Einspeisung mehr. Da der Hirtengraben das einzig größere Fließ in der Parforceheide darstellt und den gesamten Wald von Ost nach West durchquert, sind die Folgen für dessen Wasserhaushalt dramatisch und führen zum Absterben der letzten, auf hohe Feuchtigkeit angewiesenen Bruchwälder.
Durch Regeneinspeisung führt der Graben auf seinen letzten Metern in der Parforceheide ein wenig Wasser. Er verläuft unter der Autobahn hindurch nach Drewitz (selten verzeichneter Fußweg rechts und links) in das individuell gestaltete und von einem internationalen Architektenensemble nach der Wende hochgezogene Neubauviertel Kirchsteigfeld. Hier hat der Hirtengraben noch heute Fließcharakter – sehr zum Vorteil dieses Vorzeigeobjektes der architektonischen Postmoderne, das den Hirtengraben als einen zentralen Bestandteil der landschaftsprägenden Elemente in das Projekt einbezog. Durch einen beidseitig angelegten Park verläuft der Hirtengraben weiter bis zum ebenfalls erst in jüngerer Zeit angestauten und geschützten Biotop „Der Teich“. Der weitere, zur Zeit unterirdische Lauf durch die Altstadt Drewitz soll freigelegt werden. Das letzte Stück Hirtengraben fließt wieder offen und mündet in die Nuthe, die knapp zwei Kilometer westlich des Waldes parallel in Süd-Nord-Richtung zur Havel fließt.
==== Bruchwald am Teltowkanal ====
Neben dem Haussee gibt es an stehenden Gewässern verschiedene kleine Pfuhle und Tümpel. Das einzige größere Gewässer im Einzugsbereich der Parforceheide, der Teltowkanal, hat durch seine nördliche Randlage lediglich auf einen begrenzten, parallel zum Kanal verlaufenden Waldstreifen wasserökologischen Einfluss. Hier gibt es noch Sumpfstreifen des ehemaligen Bäketals mit alten Eichenbeständen und Auwäldern. Am Ende des Teltowkanals bei Kohlhasenbrück (siehe dort) ist nur wenige Meter hinter dem Waldrand seit 1988 das Naturschutzgebiet Bäkewiese ausgewiesen, das zwischen Kanal und Griebnitzsee eine eindrucksvolle Kormorankolonie beheimatet.
=== Sonstige Flora ===
Eine natürlich herausgebildete Krautschicht und eine reich strukturierte Gehölzschicht mit der entsprechenden Fauna ist in den Berlin-brandenburgischen Wäldern und auch in der Parforceheide nicht mehr vorhanden. Laut Auskunft von Revierförster Bernd Krause entwickeln sich in den letzten Jahren allerdings ausgedehnte Heidekrautflächen, daneben sei eine deutliche Rückkehr der Blaubeere zu verzeichnen. An höhergewachsenen Sträuchern sind in nennenswertem Umfang die Späte Traubenkirsche und der Faulbaum anzutreffen. Dem Faulbaum, der bis zu sechs Meter hoch werden kann, liegen die sauren Lehm-Tonböden des Teltow, dessen trockene und nährstoffarme Sandflächen ferner anspruchslosen Gräsern wie Schafschwingel sowie Flechten genügen.
=== Fauna ===
Rotwild gab es bereits zur Zeit der kurfürstlichen Parforcejagden kaum noch. Es kommt heute überhaupt nicht mehr vor; zwischen 1980 und 1990 gab es kurzzeitig noch einmal einiges Damwild. Im 21. Jahrhundert hat die Parforceheide einen hohen Bestand an Reh- und Schwarzwild. Laut Auskunft von Bernd Krause liegt das Aufkommen des Rehwildes bei rund acht Stück pro 100 Hektar, das der Wildschweine bei rund sechs Stück pro 100 Hektar. Bezogen auf die Gesamtfläche des Landschaftsschutzgebietes Parforceheide mit 2350 Hektar errechnet sich eine Gesamtzahl von rund 190 Rehen und 140 Wildschweinen. Trotz intensiver Bejagung nehmen die Bestände zu. Gelegentlich kommen Berliner Importe aus dem Grunewald hinzu: Im Februar 2005 durchschwamm eine Rotte Schwarzkittel den nahegelegenen Griebnitzsee und verwüstete zum Ärger der Brandenburger 1300 m² Wiesenfläche am Wald.
Die ohnehin hohe Zahl an Füchsen steigt weiter, Dachs und Steinmarder bleiben in ihrem Bestand stabil mit leicht ansteigender Tendenz und die Zahl der Iltisse geht zurück. An Vögeln sind Habicht, Sperber und vor allem der Schwarzspecht anzutreffen, Reptilien sind mit der Blindschleiche, Amphibien in hoher Zahl mit der Erdkröte vertreten, deren Population sich in den vielen kleinen Tümpeln gut entwickelt. In der Gruppe der Insekten nimmt die Nestzahl der größten europäischen Faltenwespen, der Hornissen, deutlich zu, während die Staaten der Roten Waldameise auch in der Parforceheide weiter zurückgehen. In älteren Eichenbeständen in der Nähe des Teltowkanals findet sich der gefährdete Große Eichenbock oder Riesenbock, den die Forstwirtschaft lange als Schädling eingestuft hatte. Der imposante Bockkäfer, dessen nach hinten gebogene Fühler beim Männchen eine Länge von zehn Zentimetern erreichen können, ist heute nach der FFH-Richtlinie der EU streng geschützt.
== Ökologie II: Verordnung Landschaftsschutzgebiet ==
Seit den 1990er-Jahren arbeiten die Forstämter daran, schädliche Entwicklungen zu bremsen und naturnah ausgebildete Flächen zu gewinnen. Dazu setzen sie auf Maßnahmen wie das behutsame Zurückdrängen der florenfremden Baumarten, den Verzicht auf Kahlschläge, die Erhöhung des Totholzanteils und den Verzicht auf Düngemittel und Pestizide.
Seit 1994 gibt es das Novum einer länderübergreifenden forstlichen Rahmenplanung (FRP) von Berlin und Brandenburg mit dem Ziel, die Nutz-, Schutz- und Erholungsfunktionen des Waldes abzustimmen und nachhaltig zu sichern. Diese Planung fand 1997 zum Teil ihren Niederschlag in der Verordnung zum rund 2350 Hektar großen Landschaftsschutzgebiet, in der ausdrücklich – ganz im Sinne des Zweckverbandes von 1915 – die Funktion des Gebietes als klimatische Ausgleichsfläche im Süden des Ballungsraumes Berlin als Schutzzweck betont wird. Die Verordnung über das Landschaftsschutzgebiet Parforceheide des Landes Brandenburg vom 12. November 1997, die auch für den Berliner und Bundesteil der Parforceheide gilt, stellt folgende weitere Schutzzwecke sowie Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen „dieser pleistozän geprägten Landschaft“ heraus:
=== Schutzzwecke ===
Auszüge aus § 3 der Verordnung:
Erhaltung und Wiederherstellung des Naturhaushaltes in Bezug auf
die Funktionsfähigkeit der Böden,
die Funktionsfähigkeit des Wasserhaushaltes sowie die naturnahe Entwicklung der Fließgewässer,
eine weiträumige, strukturreiche und teilweise ungestörte Landschaft als Lebensraum einer artenreichen Tier- und Pflanzenwelt,
den Erhalt der weitgehend kulturunabhängigen, vielfältigen Biotope,
die Erhaltung der naturnahen, zusammenhängenden Wälder,
[…]
die Bedeutung als Pufferzone für die vom Gebiet umschlossenen Naturschutzgebiete,
die Erhaltung, Wiederherstellung und Entwicklung der Schönheit, Vielfalt und Eigenart eines typischen Ausschnitts der Jungmoränenlandschaft des Norddeutschen Tieflandes,
die nachhaltige Sicherung der Erholungsfunktion.
=== Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen ===
Unter § 6 werden beispielsweise Maßnahmen angeführt wie die Erhaltung von Feuchtwiesen durch Entbuschungen, Mahd bzw. Weide und die Überführung von Wiesen auf Niedermoorstandorten in extensive Bewirtschaftungsformen. Kleingewässer, Pfuhle und Teiche sowie Gräben, soweit sie ehemalige Bachläufe ersetzt haben, sollen renaturiert werden. Die vorhandenen Kiefernforstgesellschaften sollen „in Bestände überführt werden, die sich an der potenziell natürlichen Vegetation orientieren“. Zur Entwicklung eines naturverträglichen Erholungsraumes sieht die Verordnung „ein Netz von Rad-, Wander- und Reitwegen“ vor und die alten Pflasterstraßen sollen möglichst erhalten werden.
=== Anspruch und Realität ===
Die Verordnung zum Landschaftsschutzgebiet verhinderte nicht, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts die beschriebenen Potsdamer Neubauviertel, die Nuthe-Schnellstraße und der sechsspurige Ausbau der A 115 Waldflächen vernichteten. Auch der heutige Zustand von Flora und Fauna zeigt, dass das LSG nicht in allen Bereichen die gewünschte Wirkung entfalten konnte.
Der geforderten naturnahen Entwicklung der Fließgewässer steht die Austrocknung des Hirtengrabens gegenüber,
der geforderten Erhaltung der natürlichen Vegetation widerspricht das Absterben der letzten Auwälder und
die geforderte Erhaltung der zusammenhängenden Wälder trat noch hinter jeden größeren Straßenbau zurück.Die Ansprüche dieser Verordnung von 1997 sind also nur acht Jahre später in wichtigen Teilen von der Realität überholt. Im Mai 2004 kam es gegen große Widerstände zur Novellierung des brandenburgischen Naturschutzgesetzes mit der Folge, dass der Naturschutzbeirat des Landkreises Potsdam-Mittelmark sein bisheriges Einspruchsrecht, beispielsweise bei Planverfahren, verlor. Der siebenköpfige ehrenamtliche Beirat, dem zwei sehr engagierte und um die Parforceheide sowie das Bäketal bemühte Bürger aus Kleinmachnow und Güterfelde angehörten, trat daraufhin geschlossen zurück.
Zu den gelungenen Maßnahmen zählt die Erhöhung des Totholzanteils, der zum einen naturbelassen an Ort und Stelle bleibt und zum anderen zur Anlage einer sehr hohen Zahl von Benjeshecken zur Förderung der naturnahen Vegetation dient. Der Ausbau von Rad-, Reit- und Wanderwegen schreitet voran, eine neue Fußgängerbrücke über die Nuthe-Schnellstraße bindet seit 2005 die Große Rohrlake besser in das Wegenetz aus Richtung Stern ein.
Im Jahr 2014 wurde die Beantragung eines Hubschrauber-Sonderlandeplatzes eines Schönefelder Möbelunternehmens in der Parforceheide auf dem ehemaligen Truppenübungsgelände bei Güterfelde am Haussee bekannt und öffentlich kritisiert.
== Literatur ==
Martin Klees: Der Berliner Waldbesitz im Wandel der Zeiten. In: Allgemeine Forstzeitschrift, Nr. 29/1963, ISSN 0002-5860, S. 450 ff.
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Teil 3. Havelland. (1. Auflage 1873.) Zitate nach der Ausgabe Nymphenburger Verlagshandlung, München 1971, ISBN 3-485-00293-3 (Zitate Anhang Gütergotz, S. 442 f.).
== Weblinks ==
Verordnung über das Landschaftsschutzgebiet „Parforceheide“ vom 12. November 1997. Brandenburg.de.
== Quellen ==
Forstwirtschaftliche Detailinformationen und Entwicklungstendenzen stammen zum Teil aus einem Gespräch mit Revierförster Bernd Krause in der Revierförsterei Nudow (vormals Ahrensdorf), Gemeinde Nuthetal, 15. März 2005.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Parforceheide
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Photochlorierung
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= Photochlorierung =
Die Photochlorierung ist eine durch Licht ausgelöste chemische Reaktion, bei der in einer Kohlenwasserstoff-Verbindung Wasserstoff durch Chlor ersetzt wird, wobei als Koppelprodukt Chlorwasserstoff entsteht. Alternativ erfolgt eine radikalische Addition von Chlor an aromatische oder olefinische Kohlenwasserstoffe.
Die Photochlorierung wird neben der thermischen und der katalytischen Chlorierung auf industrieller Basis durchgeführt, meist in der Flüssigphase, zum Teil in Gegenwart inerter Lösungsmittel. Der Prozess ist exotherm und verläuft als Kettenreaktion, die durch die homolytische Spaltung von molekularem Chlor in Chlorradikale durch Ultraviolettstrahlung gestartet wird.
Die bei der Photochlorierung entstehenden chlorierten Kohlenwasserstoffe sind oft nur industrielle Zwischenprodukte und reagieren mit einer Vielzahl von Grundchemikalien zu Folgeprodukten wie Alkoholen, Mercaptanen, Aminen und Carbonsäuren. Die chemische Industrie nutzt niedermolekulare chlorierte Verbindungen wie Tetrachlorkohlenstoff als Lösungsmittel. Höhermolekulare Chloralkane dienen als Insektizide, als Flammschutzmittel oder als Weichmacher in Kunststoffen und Beschichtungen. Chlorierte Kohlenwasserstoffe dienen weiterhin als Zwischenprodukt in der chemischen Industrie zur Herstellung von Silikonen oder Waschmitteln.
== Geschichte ==
Bei der Chlorierung handelt es sich um eine der ältesten bekannten Substitutionsreaktionen der Chemie. Der französische Chemiker Jean-Baptiste Dumas untersuchte bereits um 1830 die Substitution von Wasserstoff durch Chlor bei der Einwirkung von Chlor auf Kerzenwachs und Essigsäure. Er wies dabei nach, dass sich für jedes in einen Kohlenwasserstoff eingebrachte Mol Chlor ein Mol Chlorwasserstoff bildete, und bemerkte die Lichtempfindlichkeit dieser Reaktion.Die ersten Arbeiten zum Einfluss des Lichts auf die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen stammen von Theodor Grotthuß. Grotthuß veröffentlichte bereits 1819 eine Abhandlung über die chemische Wirksamkeit des Lichts und formulierte das photochemische Absorptionsgesetz. Demzufolge ruft in einem physikalisch-chemischen System nur derjenige Bruchteil der einfallenden Strahlung eine Wirkung hervor, der von diesem System absorbiert wird; reflektierte und transmittierte Strahlung bleibt ohne Wirkung.Durch die im Jahr 1900 veröffentlichte Arbeit von Max Planck war bekannt, dass Licht aus diskreten Quanten besteht. Die Anregung einer einzelnen chemischen Reaktion durch ein Lichtquant konnte dadurch erklärt werden, jedoch nicht die Quantenausbeute von Reaktionen wie der Photochlorierung. Die Idee, dass es sich bei diesen Reaktionen um Kettenreaktionen handeln könnte, stammt von Max Bodenstein aus dem Jahr 1913. Er nahm an, dass bei der Reaktion zweier Moleküle nicht nur das Endprodukt der Reaktion entstehen kann, sondern auch instabile, reaktive Zwischenstufen, die eine Kette fortführen können.Wegen der Bedeutung der Reaktion für das Verständnis der Chemie, der Substitutionsmuster und der entstehenden Derivate untersuchten Chemiker die Reaktion eingehend. In die chemisch-industrielle Praxis konnte die Photochlorierung jedoch erst überführt werden, als gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts billiges Chlor aus der Chloralkali-Elektrolyse zur Verfügung stand.Eine erste Anwendung fanden chlorierte Alkane in Rachensprays. Diese enthielten um 1914 bis 1918 in relativ großen Mengen chlorierte Alkane als Lösungsmittel für Chloramin T. Die Sharpless Solvents Corporation nahm 1929 die erste industrielle Photochlorierungsanlage zur Chlorierung von Pentan in Betrieb. Die kommerzielle Produktion von Chlorparaffinen zur Verwendung als Hochdruckadditive in Schmierstoffen begann um 1930. Um das Jahr 1935 lief das Verfahren technisch stabil und kommerziell erfolgreich.Aber erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg begann ein größerer Aufbau von Photochlorierungskapazität. Im Jahr 1950 produzierten die Vereinigten Staaten bereits über 800.000 Tonnen chlorierter Paraffinkohlenwasserstoffe. Die Hauptprodukte waren Ethylchlorid, Tetrachlorkohlenstoff und Methylenchlorid. Wegen der Bedenken hinsichtlich der gesundheitlichen und umweltrelevanten Probleme wie dem Ozonabbauverhalten leichtflüchtiger Chlorverbindungen entwickelte die chemische Industrie alternative Verfahren, die ohne chlorierte Verbindungen auskamen. Durch den dadurch bedingten Ersatz der chlorierten durch nicht-chlorierte Produkte sank die weltweite Produktionsmenge im Laufe der Jahre beträchtlich.
== Hintergrund ==
Da nur absorbiertes Licht eine photochemische Primärreaktion auslöst, muss bei jeder photochemischen Reaktion einer der Reaktionspartner dieses Licht absorbieren. Im Falle der Photochlorierung ist das Chlor der absorbierende Reaktionspartner. Chlor absorbiert Licht in einem Wellenlängenbereich von etwa 250 bis 450 Nanometern, entsprechend einer Absorption im langwelligen ultravioletten und im sichtbaren violetten Spektralbereich. Für die homolytische Spaltung von Chlor ist eine Energie von 244 Kilojoule pro Mol notwendig.Gemäß dem photochemischen Äquivalenzgesetz verursacht jedes absorbierte Photon eine photochemische Primärreaktion.
Δ
E
m
o
l
=
N
A
h
ν
{\displaystyle \Delta E_{mol}=N_{\mathrm {A} }h\nu }
mit NA als Avogadro-Konstante (NA = 6,022
⋅
{\displaystyle \cdot }
1023 mol−1), dem planckschen Wirkungsquantum
h
{\displaystyle \,h}
(h = 6,626
⋅
{\displaystyle \cdot }
10−34 Js) und der Lichtfrequenz
ν
{\displaystyle \,\nu }
mit der Einheit s−1.
Über die Beziehung:
ν
=
c
/
λ
{\displaystyle \nu =c/\lambda }
mit
c
{\displaystyle c}
für die Lichtgeschwindigkeit (c = 299.792.458 ms−1) ergibt sich
E
m
o
l
=
N
A
⋅
h
c
/
λ
{\displaystyle E_{mol}=N_{\mathrm {A} }\cdot hc/\lambda }
und damit für die Wellenlänge
λ
{\displaystyle \lambda }
in der Einheit nm:
λ
=
N
A
⋅
h
c
/
E
m
o
l
{\displaystyle \lambda =N_{\mathrm {A} }\cdot hc/E_{mol}}
Durch Einsetzen der Werte ergibt sich ein Wert für die Wellenlänge von 491 Nanometern, die das eingestrahlte Licht maximal aufweisen darf, um eine Spaltung von Chlor zu bewirken. Das Absorptionsmaximum von Chlor liegt bei etwa 340 Nanometern. Licht dieser Wellenlänge strahlt etwa eine Energie von 377 Kilojoule pro Mol ein und ist damit mehr als ausreichend für eine Photolyse des Chlors.
Für photochemische Prozesse ist es wichtig, wie sich die Zahl der umgesetzten Moleküle zur Zahl der absorbierten Lichtquanten verhält. Dieses Verhältnis wird als Quantenausbeute (QA) bei einer bestimmten Lichtwellenlänge bezeichnet. Das Verhältnis von umgesetzten Molekülen des lichtabsorbierenden Stoffs
N
n
(
λ
)
{\displaystyle N_{n}(\lambda )}
zur Anzahl der absorbierten Photonen
N
ν
{\displaystyle N_{\nu }}
berechnet sich als:
Q
A
(
λ
)
=
umgesetzte Moleküle
absorbierte Lichtquanten
=
N
n
(
λ
)
N
ν
(
λ
)
{\displaystyle QA(\lambda )={\frac {\text{umgesetzte Moleküle}}{\text{absorbierte Lichtquanten}}}={\frac {N_{n}(\lambda )}{N_{\nu }(\lambda )}}}
Die Quantenausbeute sollte beim photochemischen Primärprozess, der Absorption des Lichtquants, den Wert 1 nicht übersteigen. Bei der Photochlorierung ist dieses Verhältnis jedoch nicht gleich oder kleiner 1, sondern wegen der Sekundärprozesse, bei denen die gleichen Stoffe entstehen wie beim photochemischen Primärprozess, oft beträchtlich größer.
== Reaktion ==
=== Substitutionsreaktion ===
Die Substitution der Wasserstoffatome in einem Kohlenwasserstoff erfolgt rein statistisch, wobei tertiäre Wasserstoffatome schneller reagieren als sekundäre und diese schneller als primäre. Bei einer Temperatur von 30 °C verhalten sich die relativen Reaktionsgeschwindigkeiten von primären, sekundären und tertiären Wasserstoffatomen etwa wie 1 zu 3,25 zu 4,43. Eine Umlagerung des Kohlenstoffgerüsts findet nicht statt, aber es werden immer alle möglichen Monochloride gebildet.Die Reaktion läuft bei Belichtung unter Beteiligung von Alkyl- und Chlorradikalen als Kettenträger nach dem folgenden Schema ab:
C
l
2
→
h
ν
C
l
⋅
+
⋅
C
l
(
K
e
t
t
e
n
s
t
a
r
t
)
{\displaystyle \mathrm {Cl_{2}\ {\xrightarrow {h\nu }}\ Cl{\cdot }+{\cdot }Cl\quad (Kettenstart)} }
C
l
⋅
+
R
H
⟶
⋅
R
+
H
C
l
(
K
e
t
t
e
n
f
o
r
t
p
f
l
a
n
z
u
n
g
)
{\displaystyle \mathrm {Cl{\cdot }+RH\longrightarrow {\cdot }R+HCl\quad (Kettenfortpflanzung)} }
R
⋅
+
C
l
2
⟶
⋅
C
l
+
R
C
l
(
K
e
t
t
e
n
f
o
r
t
p
f
l
a
n
z
u
n
g
)
{\displaystyle \mathrm {R{\cdot }+Cl_{2}\longrightarrow {\cdot }Cl+RCl\quad (Kettenfortpflanzung)} }
C
l
⋅
+
⋅
R
⟶
R
C
l
(
K
e
t
t
e
n
a
b
b
r
u
c
h
)
{\displaystyle \mathrm {Cl{\cdot }+{\cdot }R\longrightarrow RCl\quad (Kettenabbruch)} }
C
l
⋅
+
⋅
C
l
⟶
C
l
2
(
K
e
t
t
e
n
a
b
b
r
u
c
h
)
{\displaystyle \mathrm {Cl{\cdot }+{\cdot }Cl\longrightarrow Cl_{2}\quad (Kettenabbruch)} }
Der Kettenabbruch erfolgt durch Rekombination von Chlorradikalen zu molekularem Chlor an der Gefäßwand. Verunreinigungen wie Sauerstoff, der in elektrochemisch gewonnenem Chlor vorkommt, verursachen ebenfalls einen Kettenabbruch.
Bei der Photochlorierung erfolgt keine Umlagerung der Kohlenstoffkette und es entstehen alle möglichen Monochloride sowie mehrfach chlorierte Verbindungen. Zielprodukte der Photochlorierung sind jedoch meist die monosubstituierten Chlorkohlenwasserstoffe. Die Bildung mehrfach substituierter Produkte lässt sich in Grenzen durch das Arbeiten mit einem hohen Überschuss an Kohlenwasserstoffen oder durch Verdünnung des Chlors mit Stickstoff vermindern.
Die Selektivität der Photochlorierung hinsichtlich einer Substitution von primären, sekundären oder tertiären Wasserstoffatomen kann durch die Interaktion des Chlorradikals mit dem Lösungsmittel, etwa Benzol, tert-Butylbenzol oder Kohlenstoffdisulfid, gesteuert werden. Durch die Bildung eines Komplexes aus Benzol und dem Chlorradikal vermindert sich die Reaktivität gegenüber einem freien Chlorradikal, die Selektivität der Photochlorierung erhöht sich dadurch. Die durch die Wahl des Lösungsmittels erhaltene Bandbreite des Verhältnisses von substituierten primären zu sekundären Wasserstoffatomen liegt bei 1 : 3 bis 1 : 31. Bei höheren Temperaturen gleichen sich die Reaktionsgeschwindigkeiten von primären, sekundären und tertiären Wasserstoffatomen an. Daher wird die Photochlorierung meist bei tieferen Temperaturen durchgeführt.
=== Additionsreaktion ===
Die Addition von Chlor an Benzol verläuft ebenfalls als Radikalkettenreaktion:
C
l
2
→
h
ν
C
l
⋅
+
⋅
C
l
(
K
e
t
t
e
n
s
t
a
r
t
)
{\displaystyle \mathrm {Cl_{2}\ {\xrightarrow {h\nu }}\ Cl{\cdot }+{\cdot }Cl\quad (Kettenstart)} }
C
l
⋅
+
C
6
H
6
⟶
⋅
C
6
H
6
C
l
(
K
e
t
t
e
n
f
o
r
t
p
f
l
a
n
z
u
n
g
)
{\displaystyle \mathrm {Cl{\cdot }+C_{6}H_{6}\longrightarrow {\cdot }C_{6}H_{6}Cl\quad (Kettenfortpflanzung)} }
⋅
C
6
H
6
C
l
+
C
l
2
⟶
⋅
C
l
+
C
6
H
6
C
l
2
(
K
e
t
t
e
n
f
o
r
t
p
f
l
a
n
z
u
n
g
)
{\displaystyle \mathrm {{\cdot }C_{6}H_{6}Cl+Cl_{2}\longrightarrow {\cdot }Cl+C_{6}H_{6}Cl_{2}\quad (Kettenfortpflanzung)} }
[…]
⋅
C
6
H
6
C
l
5
+
C
l
2
⟶
⋅
C
l
+
C
6
H
6
C
l
6
(
K
e
t
t
e
n
f
o
r
t
p
f
l
a
n
z
u
n
g
)
{\displaystyle \mathrm {{\cdot }C_{6}H_{6}Cl_{5}+Cl_{2}\longrightarrow {\cdot }Cl+C_{6}H_{6}Cl_{6}\quad (Kettenfortpflanzung)} }
C
l
⋅
+
⋅
C
l
⟶
C
l
2
(
K
e
t
t
e
n
a
b
b
r
u
c
h
)
{\displaystyle \mathrm {Cl{\cdot }+{\cdot }Cl\longrightarrow Cl_{2}\quad (Kettenabbruch)} }
Die Reaktion wird bei einer Temperatur von 15 bis 20 °C durchgeführt. Bei einem Umsatz von 12 bis 15 % wird die Reaktion abgebrochen und das Reaktionsgemisch aufgearbeitet.
== Reaktionstechnik ==
Ausgangsstoffe (Reaktanten) der Photochlorierung können sowohl gasförmige als auch flüssige Kohlenwasserstoffe sein. Bei flüssigen Ausgangsstoffen wird Chlor unter Rühren eingeleitet. Reine Gasreaktionen, etwa die Photochlorierung von Methan, sind prinzipiell möglich; der Temperaturanstieg in einer Gasphasenreaktion muss weitgehend durch die spezifischen Wärmekapazitäten der beteiligten Gase aufgenommen werden, was den Umsatz limitiert. Generell ist es notwendig, die Reaktanten nahe an die Lichtquelle zu bringen, um eine möglichst hohe Lichtausbeute zu erhalten. Dazu kann das Reaktionsgemisch direkt oder in einem durchströmten Seitenarm eines Reaktors mit einer geeigneten Lichtquelle bestrahlt werden. Gasförmige Kohlenwasserstoffe werden in ein inertes Lösungsmittel eingeleitet und dort unter Bestrahlung mit Chlor zur Reaktion gebracht.Ein Nachteil photochemischer Prozesse ist der geringe Wirkungsgrad der Umwandlung elektrischer Energie in Strahlungsenergie der benötigten Wellenlänge. Neben der Strahlung erzeugen Lichtquellen viel Wärme, die wiederum Kühlleistung benötigt. Außerdem strahlen die meisten Lichtquellen polychromatisches Licht aus, obwohl nur monochromatisches Licht benötigt wird. Eine hohe Quantenausbeute gleicht diese Nachteile jedoch aus. Die Quantenausbeute für die Photochlorierung des n-Heptans beträgt zum Beispiel etwa 7000. In technischen Anlagen zur Photochlorierung beträgt die Quantenausbeute etwa 100. Im Gegensatz zur thermischen Chlorierung, welche die entstandene Reaktionswärme nutzen kann, muss bei der photochemischen Arbeitsweise die Energie zur Aufrechterhaltung der Reaktion ständig nachgeliefert werden.
Die Gegenwart von Inhibitoren wie beispielsweise Sauerstoff oder von Stickoxiden muss vermieden werden. Zu hohe Chlorkonzentrationen führen zu einer zu starken Absorption in der Nähe der Lichtquelle und wirken sich nachteilig aus. Ein Arbeiten bei niedrigen Temperaturen ist vorteilhaft, da Nebenreaktionen vermieden werden, da die Selektivität erhöht wird und da gasförmige Reaktionspartner weniger aus einem Lösungsmittel ausgetrieben werden, was die Ausbeute erhöht. Die Ausgangsstoffe können vor der Reaktion zum Teil so weit abgekühlt werden, dass die Reaktionswärme ohne weitere Kühlung des Gemischs aufgenommen wird. Bei gasförmigen oder leichtsiedenden Ausgangsstoffen ist ein Arbeiten unter Druck erforderlich. Auf Grund der Vielzahl von möglichen Rohstoffen ist eine große Anzahl von Prozessen beschrieben worden. Die Photochlorierung wird meist in einem Rührkesselreaktor, einem Blasensäulenreaktor oder einem Rohrreaktor durchgeführt, denen je nach Zielprodukt weitere Aufarbeitungsstufen folgen. Im Falle des Rührkesselreaktors wird die Lampe, die in der Regel als länglicher Zylinder geformt ist, mit einem Kühlmantel versehen und in die Reaktionslösung eingetaucht. Rohrreaktoren sind Quarz- oder Glasrohre, die von außen bestrahlt werden. Die Rührkesselvariante besitzt den Vorteil, dass kein Licht an die Umgebung verloren geht. Jedoch fällt die Lichtintensität schnell mit dem Abstand zur Lichtquelle aufgrund von Adsorption durch die Reaktanten ab.Der Einfluss der Strahlung auf die Reaktionsgeschwindigkeit lässt sich oft durch ein Potenzgesetz auf Basis der Quantenstromdichte, also der Mole Lichtquanten (früher in der Einheit Einstein gemessen) pro Fläche und Zeit, darstellen. Ein Ziel bei der Auslegung von Reaktoren ist es daher, die wirtschaftlich günstigste Dimensionierung hinsichtlich einer Optimierung der Quantenstromdichte zu bestimmen.
== Produkte ==
Chlorierte Produkte können über eine Vielzahl von Reaktionen in weitere Zwischen- und Endprodukte überführt werden, etwa durch Hydrolyse in Alkohole oder durch Reaktion mit Alkalicyaniden in Nitrile, die mit Wasser zu Carbonsäuren hydrolysiert oder mit Wasserstoff zu Aminen reduziert werden können. Durch Umsatz mit metallischem Magnesium in Grignard-Reaktionen lassen sich über die Zwischenstufe von Alkyl-Magnesiumhalogeniden Kohlenstoffgerüste aufbauen. In Friedel-Crafts-Alkylierungen dienen Chloralkane zur Darstellung von Alkylaromaten.
=== Chlorparaffine ===
Chlorparaffine lassen sich durch Photochlorierung aus Alkanen darstellen. Gegenüber einer thermischen Chlorierung ist die Gefahr der Bildung von Folgeprodukten durch Thermolyse, zum Beispiel durch Abspaltung von Chlorwasserstoff, nur sehr gering. Durch den radikalischen Reaktionsverlauf ist die Selektivität gering und es entstehen Gemische mehrerer Chlorparaffine mit komplexer Zusammensetzung. Der Chlorierungsgrad variiert, die genaue Zusammensetzung der entstehenden Produktgemische ist oft nicht bekannt. Die Weltjahresproduktion betrug 1985 300.000 Tonnen; seither sind die Produktionsmengen in Europa und Nordamerika rückläufig. In China dagegen stieg die Produktion stark an. China produzierte 2007 über 600.000 Tonnen Chlorparaffine, im Jahr 2004 lag die Menge noch unter 100.000 Tonnen.Die Chlorparaffine besitzen die allgemeine Summenformel CxH(2x−y+2)Cly und werden in drei Gruppen eingeteilt. Die niedermolekularen Chlorparaffine sind die kurzkettigen Chlorparaffine (Short Chain Chloroparaffins (SCCP)) mit 10 bis 13 Kohlenstoffatomen, es folgen die mittelkettigen Chlorparaffine (Medium Chain Chloroparaffins (MCCP)) mit Kohlenstoffkettenlängen von 14 bis 17 Kohlenstoffatomen und die langkettigen Chlorparaffine (Long Chain Chloroparaffins (LCCP)), wobei die Kohlenstoffkettenlänge größer als 17 Kohlenstoffatome ist. Bei etwa 70 % der hergestellten Chlorparaffine handelt es sich um MCCP mit einem Chlorierungsgrad von 45 bis 52 %. Die restlichen 30 % verteilen sich zu gleichen Teilen auf SCCP und LCCP.Die Short Chain Chloroparaffins weisen eine hohe Toxizität auf und reichern sich leicht in der Umwelt an. Die Europäische Union hat die SCCP als Kanzerogene der Kategorie III eingestuft und ihre Verwendung eingeschränkt.
=== Benzylchlorid, Benzalchlorid und Benzotrichlorid ===
Durch die Photochlorierung der Seitenkette des Toluols lassen sich die mono- bis trichlorierten Produkte herstellen, deren wichtigster Vertreter das Benzylchlorid ist. Überführt in den Benzylalkohol dient es als Zwischenprodukt für die Herstellung von Weichmachern. Durch die Überführung in das Benzylcyanid unter nachfolgender Hydrolyse wird schließlich Phenylessigsäure gewonnen.Das disubstituierte Benzalchlorid ist der Rohstoff für die Gewinnung von Benzaldehyd. Als Reinstoff wird Benzaldehyd eingesetzt, um Lebensmitteln einen Mandelgeruch zu verleihen. Als Zwischenprodukt dient es der Herstellung von Malachitgrün und anderen Farbstoffen. Das trisubstituierte Benzotrichlorid dient durch Hydrolyse der Synthese von Benzoylchlorid:
P
h
−
C
C
l
3
+
H
2
O
⟶
{\displaystyle \mathrm {Ph{-}CCl_{3}+H_{2}O\longrightarrow } }
P
h
−
C
O
C
l
+
2
H
C
l
{\displaystyle \mathrm {Ph-COCl+2\ HCl\ } }
Durch Reaktion mit Alkoholen lässt sich Benzoylchlorid in die entsprechenden Ester überführen. Mit Natriumperoxid setzt es sich zu Benzoylperoxid um, einem Radikalstarter für Polymerisationen. Die Atomökonomie dieser Synthesen ist jedoch gering, da dabei stöchiometrische Mengen Salze anfallen.
=== Chlormethane ===
Ein Beispiel für eine Photochlorierung bei tiefen Temperaturen und unter Normaldruck ist die Chlorierung von Methylchlorid zu Methylenchlorid. Das verflüssigte Methylchlorid, welches bei −24 °C siedet, wird dazu im Dunkeln mit Chlor gemischt und anschließend mit einer Quecksilberdampflampe bestrahlt. Das entstehende Methylenchlorid hat einen Siedepunkt von 41 °C und wird später destillativ vom Methylchlorid getrennt.Die Photochlorierung von Methan weist eine niedrigere Quantenausbeute auf als die Chlorierung von Methylenchlorid. Durch den dadurch notwendigen hohen Lichteinsatz erfolgt eine direkte Weiterchlorierung der Zwischenprodukte, so dass dabei hauptsächlich Tetrachlorkohlenstoff entsteht.
=== Monochlornonan und -dodecan ===
Monochlornonan reagiert in einer Friedel-Crafts-Alkylierung mit Phenol zu Nonylphenol und kann durch Ethoxylierung weiter zu Nonylphenolethoxylaten umgesetzt werden. Diese nichtionische Tenside werden als Emulgatoren und als Wasch- und Reinigungsmittel eingesetzt. Aufgrund der xenoestrogenen Eigenschaften wurde die Verwendung von Nonylphenolethoxylaten und Nonylphenolen in der EU stark eingeschränkt.Ein weiteres Zielprodukt ist das Monochlordodecan, das mit Benzol ebenfalls in einer Friedel-Crafts-Alkylierung zu einem Waschmittelrohstoff, dem linearen Alkylbenzol, reagiert, welches zu Natriumdodecylbenzolsulfonat weiterverarbeitet wird. Bei der Photochlorierung des Dodecans lässt sich durch die Wahl eines geeigneten Lösungsmittels wie etwa Benzol die Bildung unerwünschter 1-Isomere unterdrücken. Mittlerweile erfolgt die Produktion des Alkylbenzols meist über die Fluorwasserstoff-katalysierte Reaktion von 1-Dodecen mit Benzol.
=== Chlorierte Polymere ===
Polyethylen, in Tetrachlorkohlenstoff gelöst, lässt sich photochemisch in einer polymeranalogen Reaktion in ein chloriertes Polyolefin überführen, welches als Schlagzähmodifier für die Verbesserung der Kerbschlagzähigkeit von Polyvinylchlorid verwendet wird. Durch Photochlorierung lassen sich Polyvinylchlorid-Folien bei Raumtemperatur weiter chlorieren. Dabei werden die nicht-chlorierten Methylengruppen des Polymers chloriert. Die Quantenausbeute liegt bei Reaktionen zwischen Polymeren in der Festphase und Chlor typischerweise in der Gegend von 1, da eine Kettenreaktion in diesem Fall nicht oder nur eingeschränkt möglich ist.Polyolefin-Membranen aus Polyethylen-, Polypropylen- und Polystyrol-Folien lassen sich in der festen Phase durch Photochlorierung zu Membranen mit einem Chlorgehalt von bis zu 12 % chlorieren. Dadurch lassen sich die Gaspermeation, die Benetzbarkeit und die Wasserdurchlässigkeit verbessern.
=== Hexachlorcyclohexan ===
Bei der Photochlorierung von Benzol entstehen von den acht möglichen Isomeren die vier α-, β-, γ-, δ-Hexachlorcyclohexan-Isomere in größerem Maßstab. Diese liegen alle in einer Sesselkonformation vor und unterscheiden sich durch die Besetzung axialer und äquatorialer Positionen im Molekül. Eine insektizide Wirkung zeigt nur das γ-Isomer, das drei Chloratome in axialer und drei in äquatorialer Position enthält und in Konzentrationen von 10 bis 18 % entsteht. Es wird durch Extraktionsverfahren von den anderen Isomeren abgetrennt, die durch Dehydrochlorierung zu Trichlorbenzol weiterverarbeitet werden. Das technisch reine γ-Isomer wird unter Handelsnamen wie Lindan und Gammexan außerhalb der EU noch als Insektizid verwendet.
=== Sonstige Produkte ===
Durch Photochlorierung von Ethylencarbonat lässt sich Vinylencarbonat über die Stufe des Monochlorethylencarbonat unter anschließender Dehydrochlorierung, etwa mit Triethylamin (NEt3), gewinnen. Vinylencarbonat ist ein reaktives Monomer für die Homopolymerisation und Copolymerisation, etwa mit Isobutylvinylether.
Geringe Spuren von Trichlorsilan in ultrareinem Tetrachlorsilan können durch Photochlorierung entfernt werden.
=== Verwertung von Chlorwasserstoff ===
Chlorwasserstoff kann zur weiteren Chlorierung, etwa durch Additionsreaktion von Chlorwasserstoff an eine olefinische Doppelbindung, durch Veresterung von Alkoholen oder durch Oxychlorierung von Alkanen und Olefinen, verwendet werden. Der bei der Photochlorierung von Methan entstehende Chlorwasserstoff kann etwa durch Veresterung mit Methanol selektiv zu Methylchlorid umgesetzt werden. Bei erhöhter Temperatur entsteht unter Katalyse auch Methylenchlorid.
== Verfahrensvarianten ==
=== Strahlenchemische Chlorierung ===
Statt ultravioletten Licht wird auch Gammastrahlung zum Radikalkettenstart bei der Chlorierung verwendet. Die trockene Nachchlorierung von PVC im Wirbelbett, die so genannte PC-Chlorierung, führte das Chemiekombinat Bitterfeld strahlenchemisch durch. Das langlebige Isotop Cobalt-60 wurde dafür als Gammastrahlungsquelle verwendet.
=== Sulfochlorierung ===
Unter fast identischen Bedingungen und gleicher Reaktionsführung wie die herkömmliche Photochlorierung läuft die 1936 von Cortes F. Reed zuerst beschriebene Sulfochlorierung ab. Neben Chlor wird dabei noch Schwefeldioxid in das Reaktionsgemisch eingeführt. Als Produkte entstehen Alkylsulfonylchloride, die zu Tensiden weiterverarbeitet werden.
Als Koppelprodukt entsteht wie bei der Photochlorierung Chlorwasserstoff. Da eine direkte Sulfonierung der Alkane kaum möglich ist, hat sich diese Reaktion als nützlich erwiesen. Durch das direkt am Schwefel gebundene Chlor sind die entstehenden Produkte äußerst reaktiv. Als Nebenprodukte finden sich im Reaktionsgemisch Alkylchloride, die durch reine Photochlorierung entstehen, sowie mehrfach sulfochlorierte Produkte.
=== Photobromierung ===
Die Photobromierung mit elementarem Brom verläuft ebenfalls nach einem radikalischen Mechanismus analog zur Photochlorierung. Bei der Anwesenheit von Sauerstoff erfolgt teilweise eine Oxidation des entstehenden Bromwasserstoffs zum Brom, was zu einer erhöhten Ausbeute führt. Wegen der leichteren Dosierbarkeit des elementaren Broms und der höheren Selektivität der Reaktion wird für Arbeiten im Labormaßstab die Photobromierung der Photochlorierung vorgezogen. Für industrielle Anwendungen ist Brom, das nur in geringen Mengen im Meerwasser enthalten ist und aus diesem durch Oxidation mit Chlor in Freiheit gesetzt wird, jedoch meist zu teuer. Anstelle von elementarem Brom eignet sich auch N-Bromsuccinimid als Bromierungsmittel. Die Quantenausbeute der Photobromierung ist meist wesentlich geringer als die der Photochlorierung.
== Literatur ==
Dieter Wöhrle, Michael Tausch, Wolf-Dieter Stohrer: Photochemie: Konzepte, Methoden, Experimente. Wiley & Sons, 1998, ISBN 3-527-29545-3.
Theodor Weyl (Begr.), Josef Houben (Hrsg.), Eugen Müller (Hrsg.): Methoden der organischen Chemie. IV/5a Photochemie. Thieme Verlag, Stuttgart 1975, ISBN 3-13-201904-6.
Mario Schiavello (Hrsg.): Photoelectrochemistry, Photocatalysis and Photoreactors Fundamentals and Developments. Springer Netherlands, 2009, ISBN 978-90-481-8414-9.
== Weblinks ==
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Photochlorierung
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Place of Skulls
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= Place of Skulls =
Place of Skulls (englisch Schädelstätte, von Golgota) ist eine von Victor Griffin im Jahr 2000 initiierte Doom-Metal-Band. Der Pentagram-Gitarrist ist das einzig beständige Mitglied der Gruppe, die zu den populärsten und bedeutendsten Genrevertretern mit christlicher Botschaft gezählt wird. Die Musik gilt als klassischer Doom Metal, in welchem Einflüsse aus Blues und verschiedenen Stilrichtungen des Rocks aufgegriffen werden. Positive Resonanz erhält die Band sowohl aus der christlichen Rock- und Metal-Szene als auch aus der nicht-christlichen Metal-Szene.
== Geschichte ==
Die Geschichte von Place of Skulls wurde durch mehrere Wechsel der neben Griffin beteiligten Musiker geprägt. Dabei ist die Historie der Band eng an diejenige von Pentagram geknüpft und durch diverse personelle Überschneidungen mit Pentagram gekennzeichnet. Weitere Faktoren wie Griffins Alkoholabhängigkeit und seine eigene Tätigkeit für Pentagram wirkten sich zugleich auf die Kontinuität der Bandaktivität aus. Aufgrund dieser Besonderheiten in der Bandkonstellation blieben die Aktivitätszeiträume von Place of Skulls unbeständig. Die ersten Alben wurden in Abständen von zum Teil wenigen Monaten veröffentlicht. Spätere Werke erschienen mit großen Zeitabständen.
=== Karriereverlauf ===
==== Vorgeschichte und Anfangszeit ====
Griffin verließ 1996 die von ihm mitgeprägte Doom-Metal-Band Pentagram, nachdem ihn der Tod seines Vaters und dreier weiterer Verwandter beeinträchtigt hatte. Nach dieser Zäsur erlitt er einen Kontrollverlust in seiner Abhängigkeit von Alkohol und anderen Drogen. Erst mit seiner Hinwendung zum Christentum, so Griffin, konnte er sein Suchtverhalten überwinden. Anstatt zu seiner vormaligen Band zurückzukehren, initiierte er vier Jahre nach seinem Ausstieg bei Pentagram mit Place of Skulls ein eigenes Doom-Metal-Projekt mit einer, seiner neu gewonnenen Spiritualität entsprechend, religiösen Ausrichtung. Bereits mit dem Bandnamen verwies er auf die biblische Schädelstätte Golgata und nahm gezielt Bezug auf seinen Glauben.Die Band nahm im August 2000 in ihrer Heimatstadt Knoxville (Tennessee) das Livealbum Live! auf. Live! enthielt vier alte Pentagram-Stücke, eine Coverversion des Titels Consuming Fire der christlichen Rockband Third Day sowie drei neue eigene Lieder. Anstatt mit den üblichen Vertrags- und Kooperationspartnern der Musikindustrie zu interagieren, wurde das Album von der Gruppe im Direktvertrieb verkauft.Allerdings bedeutete diese Entscheidung keine grundsätzliche Positionierung, fortan als Do-it-yourself-Interpret in Erscheinung zu treten und sich der Musikindustrie zu entziehen. Parallel zum Livealbum nahm Place of Skulls ein Demo auf und kontaktierte verschiedene Musiklabel. Das selbstbenannte Demo enthielt Studioaufnahmen der drei auf Live! präsentierten Place-of-Skulls-Stücke. Der Künstler Frank Kozik nahm die Gruppe als Reaktion auf das Demo für sein kalifornisches Independent-Label Man’s Ruin Records unter Vertrag, dennoch erschien nur eine Neuauflage des Livealbums im Januar 2001 über die im späteren Verlauf des Jahres in eine wirtschaftliche Krise geratene Firma.Noch vor der Wiederveröffentlichung von Live! über Man’s Ruin Records traten Griffin und der Bassist Lee Abney gemeinsam mit den Pentagram-Musikern Bobby Liebling und Joe Hasselvander als reformierte Death Row, ein Vorgänger-Projekt von Pentagram, in Erscheinung. Die Reunion wurde mitunter durch gemeinsame Konzerte von Death Row und Place of Skulls begleitet. In Washington, D.C. absolvierten beide Bands gemeinsam mit den Doom-Metal- und Stoner-Rock-Gruppen Black Manta, Internal Void und Throttlerod einen solchen Auftritt. Teile des Konzertes wurden 2001 von der Promotionfirma Doom Capital Productions, welche das Konzert organisiert hatte, in einer auf 100 Exemplare limitierten Auflage als Split-Livealbum aller beteiligter Gruppen vertrieben.
==== Mit Southern Lord ====
Nachdem sich das Label Man’s Ruin Records 2002 aus finanziellen Schwierigkeiten endgültig aufgelöst hatte, nahm Place of Skulls ein zweites Demo mit drei neuen Stücken auf. Griffin, Abney, Liebling und Hasselvander entschieden unterdessen, Death Row erneut aufzulösen, woraufhin sich Griffin und Abney auf Place of Skulls konzentrierten.Das schlicht Demo II benannte Demo sowie die Reputation der Musiker ermöglichte der Gruppe einen Vertrag mit Southern Lord, dem Label des Sunn-O)))- und Thorr’s-Hammer-Gitarristen Greg Anderson. Demo II enthielt die ersten Stücke des 2002 über Southern Lord veröffentlichten Albums Nailed. Der Albumtitel sowie die grafische Aufbereitung verwiesen auf die Kreuzigung Jesu – ein Thema, das in nachfolgenden Veröffentlichungen fortgeführt wurde. Die Liedtexte transportierten Aspekte von Griffins religiöser Überzeugung. Aus Nailed wurde noch 2002 die 7″-Doppel-A-Vinyl-Single The Fall / Evil Seed ausgekoppelt. Der Albumverkauf wurde mittels einer Amerika-Tournee mit Spirit Caravan unterstützt.
Nach Abschluss der Tournee lösten sich die Tour-Partner Spirit Caravan aufgrund zu geringen Erfolges auf. Sänger und Gitarrist Scott „Wino“ Weinrich, welcher durch seine Beteiligung an Bands wie Saint Vitus und The Obsessed in der Doom-Metal-Szene hohe Anerkennung genoss, schloss sich daraufhin Place of Skulls an. Zu den Aufnahmen des 2003 über Southern Lord veröffentlichten Albums With Vision teilten sich Weinrich und Griffin die Aufgabe des Gesangs. Beide Musiker brachten unabhängig voneinander eigene Stücke ein. Gemeinsame Proben wurden allerdings aufgrund der räumlichen Distanz kaum absolviert und eine das Album promovierende Tournee konnte wegen privater Verpflichtungen und der räumlichen Distanz nicht stattfinden. Weinrich wandte sich so, noch vor dem Erscheinen von With Vision, seinem nächsten eigenen Projekt, The Hidden Hand, zu.
==== Umbruchphase ====
Nach der Veröffentlichung von With Vision wurde es unruhig um die Band. Statt neue Stücke aufzunehmen, wechselten Griffins Mitmusiker mehrfach. Erst 2005 erschien die EP Love Through Blood via Outlaw Recordings, welche unveröffentlichte Stücke der Nailed-Aufnahme-Session enthielt.Griffin entschied sich indes gegen ein drittes Album für Southern Lord, nachdem das Verhältnis zwischen Band und Label zunehmend einschlief und ihm Gerüchte zugetragen wurden, Southern Lord habe die Band ohne offizielle Stellungnahme bereits fallen gelassen. Daher erschien das dritte Album The Black is Never Far 2006 über das deutsche Doom- und Extreme-Metal-Label Exile on Mainstream Records. Der Kontakt zum Label entstand im Verlauf einer Europatournee, während welcher Griffin mehrmals auf den Label-Betreiber Andreas Kohl traf. Kohl und Griffin hielten Kontakt und schlossen einen Vertrag für ein Album. Als Gastmusikerin wurde die Saxophonistin Chastity Brown präsentiert, deren Beteiligung in einigen Rezensionen als Besonderheit angesprochen wurde. The Black Is Never Far wurde vielfach gelobt und gilt als das düsterste und depressivste Album der Gruppe. In den auf die Veröffentlichung folgenden Jahren blieben weitere Aktivitäten weitestgehend aus. Gelegentlich sprach Griffin gar vom Ende der Band. Später erklärte er, dass die Unterbrechung der Bandaktivität mit einem Rückfall in seine Sucht zusammenhing. Diese habe den Fortbestand von Place of Skulls nachhaltig gefährdet.Die Bandbesetzung blieb weiterhin unbeständig und Auftritte der Band fanden nur selten statt. Erst mit Abneys Wiedereinstieg stabilisierte sich das Bandgefüge und die Mitglieder wirkten erfolgreich auf Griffin ein, seine Abhängigkeit zu überwinden. Mit As a Dog Returns erschien 2010 ein neues Album über Giddy Up! Records, einem bald darauf geschlossenem Label. Der Titel ist dem Buch der Sprichwörter entlehnt. Den vollständigen Satz „Wie ein Hund, der zu seinem Gespei zurückkehrt, so ist ein Narr, der seine Dummheit wiederholt.“ bezog Griffin im Gespräch mit dem Fanzine Doom Metal Front auf seinen Rückfall in die Alkoholabhängigkeit.
==== Nach Griffins Rückkehr zu Pentagram ====
Im Jahr der Veröffentlichung von As a Dog Returns trat Griffin erneut Pentagram bei, welche er 2012 verließ, um 2014 dauerhaft zurückzukehren. In der Zwischenzeit nahm Griffin das ursprünglich als Soloalbum geplante In-Graved auf. Die mit Place-of-Skulls-Mitgliedern und vielen Gastmusikern gestaltete Aufnahme wurde 2013 über Svart Records unter dem Bandnamen In-Graved vermarktet. Ab 2016 wurde das Album als reguläres Place-of-Skulls-Album erneut herausgegeben und in die Diskografie der Band aufgenommen. Der Musikjournalist und Autor des Doom Metal Lexicanums Aleksey Evdokimov sieht die Wiederveröffentlichung des Albums als offizielles Place-of-Skulls-Werk als einen Hinweis darauf, dass Griffins Rückkehr zu Pentagram nicht das Ende von Place of Skulls bedeutete. Trotz solcher Einschätzungen blieb die Aktivität der Gruppe weiterhin gering.
=== Besetzungsgeschichte ===
Für die erste Besetzung der Band kontaktierte Griffin, der selbst als Sänger und Gitarrist auftrat, den früheren Death-Row- und Pentagram-Bassisten Lee Abney. Einen Schlagzeuger suchten Abney und Griffin hingegen mittels einer Anzeige. Die Gruppe wurde nach einem Vorspiel durch Tim Tomaselli vorerst komplettiert. Nach der Veröffentlichung des Debüts 2002 und der anschließenden Tournee mit Spirit Caravan im gleichen Jahr verließ Abney die Gruppe und wurde vorerst durch Griffins Neffen Greg Turley, welcher ebenfalls bereits bei Pentagram gespielt hatte, ersetzt.
Nachdem sich Spirit Caravan aufgrund zu geringen Erfolges aufgelöst hatten, stieg Weinrich vorübergehend als zweiter Sänger und Gitarrist bei Place of Skulls ein. Griffin und Weinrich, die einander aus der Doom-Metal-Szene kannten und ein freundschaftliches Verhältnis unterhielten, hatten im Vorfeld häufiger über eine mögliche Kooperation gesprochen. Entsprechend Weinrichs neuer Situation bot Griffin ihm an, sich als zweiter Sänger und Gitarrist an Place of Skulls zu beteiligen. Weinrich willigte ein, die Kooperation war jedoch nicht von Dauer. Während der Proben und Aufnahmen stellten die Musiker fest, dass die räumliche Distanz zwischen Maryland, Weinrichs Heimat, Washington D.C., Turleys Wohnort, und Knoxville, Griffins und Tomasellis Heimat, die Band hemmte. Weinrich wandte sich seinem nächsten eigenen Projekt The Hidden Hand zu. Turley, der später erneut zu Pentagram stoßen sollte, verließ ebenso die Band.Im Sommer 2002, nach dem Ausstieg von Turley und Weinrich, präsentierte Griffin den Trouble-Bassisten Ron Holzner als neues Bandmitglied. Gemeinsam mit ihm wurden einige Auftritte absolviert, eine gemeinsame Veröffentlichung kam jedoch nicht zustande. Holzner schied ohne gemeinsame Veröffentlichung aus der Band und zusätzlich zum Bassisten verließ Tomaselli zwischenzeitlich die Band. Er wurde für ein Jahr durch Peter Campell von Sixty Watt Shaman und The Mighty Nimbus ersetzt. Allerdings kehrte Tomaselli alsbald in die Gruppe zurück. In den folgenden Jahren wechselten beide einander in unregelmäßigen Abständen als Schlagzeuger ab. An den Aufnahmen zu dem 2006 veröffentlichten Album The Black Is Never Far beteiligte sich Abney, ohne in die Gruppe zurückzukehren. Tomaselli hingegen war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder Teil der Band. Die Rolle des Place-of-Skulls-Bassisten übernahm Dennis Cornelius von Revelation, Abney trat lediglich als Gastmusiker in Erscheinung. Cornelius verließ die Gruppe 2007 und Abney kehrte zurück, um sich fortan als Bassist einzubringen. Als As a Dog Returns 2010 erschien, gehörten neben Griffin erneut Abney und Tomaselli der Band an. Tomaselli und Campell wechselten noch in den folgenden Jahren einander als Schlagzeuger von Place of Skulls ab.
== Werk und Wirkung ==
Die Musik von Place of Skulls gilt als klassischer Doom Metal mit je nach Veröffentlichung unterschiedlich starken Einflüssen aus dem Blues, dem Stoner-, dem Psychedelic-, dem Hard- oder dem Bluesrock. Als inhaltliche Konstante der Gruppe gelten Griffins spirituelle und religiöse Texte. Musikpresse sowie christliche Medien rezipieren die Veröffentlichungen der Gruppe zumeist positiv, mit je nach Medium unterschiedlichen Schwerpunkten in ihren Besprechungen.
=== Inhalt ===
Die meisten der von Griffin verfassten Liedtexte sind christlich-religiöser Natur. So bezeichnet Griffin die Band als Ausdrucksmöglichkeit seiner religiösen Überzeugung. Missionarisch angelegt sei keines der Lieder und einer konkreten christlichen Lehre möchte er seine Texte nicht zuordnen, da er den organisierten Kirchen eher kritisch gegenübersteht. Dabei räumt er ein, dass die Liedtexte zum Teil als missionarisch auslegbar seien. Die Texte sollen dennoch eher anhaltend auf Fragen nach „Gott, Glauben und Ähnlichem“ eingehen. Stücke wie Though He Slay Me, Breath of Life oder Dayspring setzen sich direkt mit seinem Verhältnis zu Gott sowie den von Griffin als seine Schwächen benannten Eigenschaften auseinander. Entsprechend bezeichnet er den anhaltenden Rekurs auf Jesus und die Bibel als Reflexion und Ausdruck seines Glaubens, Fühlens und Denkens. Manche Stücke wie He’s God tendieren dennoch in das christliche Genre des Praise and Worship. In einigen Liedern werden Textteile aus der Bibel zitiert, insbesondere für die Texte von As a Dog Returns und Love Through Blood griff Griffin auf Psalme zurück.Trotz Interviewaussagen, in denen Griffin eine ablehnende Haltung zu Homosexualität und Schwangerschaftsabbruch zeigt, sind solche Inhalte kaum in den Stücken von Place of Skulls zu finden. Mit dem abtreibungskritischen Text zu The Maker und seinen Erläuterungen zu diesem Lied positionierte sich Griffin nahe der Lebensrechtsbewegung. Er wies aber im Gespräch mit dem Fanzine Doom Metal Front darauf hin, das Thema nicht aus einer belehrenden Perspektive, sondern aus einer persönlichen Erfahrung zu betrachten. So habe er den Text aus der Erfahrung als Beteiligter geschrieben. Dazu gab er an, die Entscheidungsfreiheit auf einer politischen Ebene, wie von der Pro-Choice-Bewegung protegiert, nachvollziehen zu können.
=== Gestaltung ===
Der christliche Grundgedanke spiegelt sich ebenso in der Gestaltung der Tonträger wider. Verweise auf Jesus sowie speziell die Passion sind gängige Motive auf Place-of-Skulls-Tonträgern. Weitere Themen, die in Griffins Werk eine ähnlich tragende Rolle spielen und von ihm christlich konnotiert werden, insbesondere Schuld, Verfehlungen und Sühne, werden ebenfalls aufgegriffen. So wurde With Vision mit einem Ausschnitt des Gemäldes Die Erscheinung von Gustave Moreau und Love Through Blood mit einem Ausschnitt einer von Gustave Dorés Illustrationen für die Göttliche Komödie gestaltet. Beide Bilder wurden farblich verändert und um die Angaben des Bandnamens und Albumtitels ergänzt.
=== Stil ===
Die Musik von Place of Skulls wird dem klassischen Doom Metal, in Fortführung der Genreinitiatoren Black Sabbath und Pentagram, zugerechnet. Daniel Bukszpan beschreibt die Musik in seinem Buch The Encyclöpedia öf Heavy Metal als „100-prozentigen Old-School Sabbath-anbetenden Doom Metal“. Der kanadische Musikjournalist und Autor diverser metal-spezifischer Sachbücher Martin Popoff sieht die Musik von Place of Skulls ebenso als Black-Sabbath-Doom-Metal in einer direkten Pentagram-Tradition.Gelegentlich wird diese Kategorisierung um ergänzende Stilbegriffe, insbesondere Psychedelic und Stoner Rock, erweitert. Der personellen Nähe entsprechend werden Vergleiche mit Pentagram und Death Row ebenso häufig bemüht wie solche mit Black Sabbath, um den präsentierten Stil in ein Verhältnis zu anderen Genrevertretern zu setzen. Vergleiche mit weiteren Stoner-Rock- und Doom-Metal-Vertretern wie Saint Vitus, Cathedral, Trouble, Kyuss und The Obsessed werden gleichermaßen bemüht.Der Gesamtklang der Gruppe wird als „erdig, kernig“ und als zum Teil „brachial“ beschrieben. Die Musik stehe insbesondere mit dem erdigen Klang dem Blues nahe. In einer Rezension für das Webzine Metalreviews wird der Neologismus „Bluesdoom“ gebildet, um diese Nähe in Abgrenzung zu anderen Doom-Metal-Substilbegriffen wie Funeral Doom, Death Doom oder Stoner Doom zu kennzeichnen. Die Bluesanteile werden besonders in Griffins Gesang sowie in seinem Gitarrenspiel ausgemacht. Selbst betont er eine persönliche Affinität zum Chicago- und Delta-Blues, welche zunehmend in die Musik von Place of Skulls einfloss, ohne dabei das Doom-Metal-Genre hinter sich zu lassen. Gelegentliche Tempoerhöhungen grenzen die Musik zudem von weiteren Interpreten des Genres ab.Der Stil bleibt über die Veröffentlichungen der Gruppe hinweg von einem fuzzy groovenden Gitarrenspiel dominiert. Griffins Spiel gilt als langsam, einzigartig und einflussreich über seine Beteiligung an Place of Skulls hinaus. Der von ihm, durch seine Tätigkeit für Death Row und Pentagram, mitgeprägte Gitarrenklang des klassischen Doom Metals ist entsprechend ein wesentlicher Bestandteil der Musik von Place of Skulls. Das Gitarrenspiel variiere zwischen dem dröhnenden Black-Sabbath-Riffing tief gestimmter Gitarren, die zum Teil gar direkte Black-Sabbath-Zitate bieten, gelegentlichen Akustikeinlagen, Verweisen auf den Hard Rock der 1970er-Jahre bis hin zu Bluesrock und Blues. Griffin bestätigt solche Einschätzungen und nennt Cream, Steppenwolf, Alice Cooper, Blue Cheer, Jimi Hendrix sowie Led Zeppelin als wichtige Einflüsse, die besonders in den Aufnahmen des Albums The Black is Never Far, dem die größte Nähe zum Blues und Hard Rock nachgesagt wird, zum Tragen kamen. Demgegenüber wurde der Gruppe unter Weinrichs Beteiligung ein höherer Anteil Psychedelic Rock sowohl im Gitarrenspiel als auch im Gesang attestiert.Der Ox-Fanzine-Journalist André Bohnensack stellt Griffins Gesang in die direkte Tradition des Pentagram-Sängers Bobby Liebling und geht in seiner Besprechung des Albums Nailed davon aus, dass Griffin sich an diesem orientiert habe. Andreas Stappert vom Rock Hard sieht den Gesang eher „zwischen Scott ‚Wino‘ Weinrich (Spirit Caravan) und Eric Wagner (Trouble)“, nennt ihn jedoch ebenfalls seelenvoll und sehr emotional. Weitere Rezensionen loben den Gesang als kraftvoll und verraucht-melancholisch. Dabei singt Griffin mit klarer und eher hoher Stimme. Dieser wird von Evdokimov Wiedererkennungswert und ein herzhafter Klang attestiert. An dieser Bewertung orientiert, sieht Evdokimov Griffins Gesang als eine ideale Ergänzung zu der von Place of Skulls gespielten Musik. Eduardo Rivadavia hingegen spricht ihm, in einer für Allmusic verfassten Rezension, ein nur mittelmäßiges Talent zu. Weinrichs Stimme bezeichnet er demgegenüber als „technisch lausig, aber mit Persönlichkeit ausgestattet“. Weinrich trägt seinen Gesang auf With Visions mit dunkler und rauer Stimme vor.Der über die Jahre unterschiedlich besetzten Rhythmusgruppe wird stets herausragendes Handwerk attestiert. Sie sei „songdienlich unauffällig groovend […]“. Bass und Schlagzeug unterstützen die Musik, ohne sich dabei in den Vordergrund der Musik zu stellen. Der Rhythmus bleibt vornehmlich langsam und wird gelegentlich etwas angezogen. Das Schlagzeugspiel wird als erfinderisch, groovend und die Musik antreibend bezeichnet. Das Bassspiel gilt hingegen als druckvoll, donnernd und solide.
=== Rezeption ===
Place of Skulls zählt neben Trouble zu den bedeutendsten Doom-Metal-Bands mit christlicher Botschaft. Die Musik wird von Rezensenten der Metal-Szene, gelegentlich in Abgrenzung zum religiösen Konzept, hoch geschätzt. Vereinzelt weisen Rezensenten, wie Phil Freeman in seiner As-a-Dog-Returns-Besprechung für Allmusic, darauf hin, dass die eindeutig religiöse Botschaft „niemanden daran hindere, die Musik zu genießen.“ Ebenso differenziert André Bohnensack vom Ox-Fanzine zwischen der Musik, der transportierten Ideologie und den Überzeugungen Griffins, welche über das Bekenntnis zum Christentum hinaus mit der Präsentation von Links zu Verschwörungstheorien und homophoben Webradio-Moderatoren auf der Website der Band sowie entsprechenden Einlassungen in Interviews einhergingen. Trotz moralischer Bedenken lobt er das Werk der Gruppe.Rezensenten christlicher Medien loben in ihren Auseinandersetzungen mit der Gruppe hingegen besonders die Texte und bezeichnen einige als Worship-tauglich. Ihnen gilt das Werk der Band als besonderer Ausdruck eines gefestigten Glaubens. Insbesondere die EP Love Through Blood und das Album As a Dog Returns werden für die lyrische „Kompromisslosigkeit“ gelobt. Für As a Dog Returns werden die bibel-basierten Texte, welche mitunter direkt Psalme zitieren, hervorgehoben. Der Rezensent Andrew Rockwell geht in seiner Rezension der EP Love Through Blood davon aus, dass Southern Lord die vier auf der EP enthaltenen Stücke aufgrund kompromisslos christlicher Texte aus dem Album Nailed strich.Die meisten Rezensionen der Musikpresse konzentrieren sich hingegen auf die Beurteilung der Qualität der Musik und betrachten lobend den von der Band gespielten Doom Metal, während sie sich mit den Inhalten kaum auseinandersetzen.
Götz Kühnemund bezeichnete Nailed im Rock Hard 2003 als „das beste Doom-Debüt seit langem“. Bohnensack verglich Nailed mit Griffins vorherigen Bandbeteiligungen und sah es als ein Album, das „sich nahtlos in das Gesamtwerk von Victor Griffin einfügt“. Evdokimov nennt das Album ein gutes Doom-Metal-Album, dabei sei jedoch das The-Animals-Cover Don’t Let Me Be Misunderstood „die einzige Überraschung“ auf Nailed. Laut Josh Serba, der das Album für Allmusic rezensierte, sind alle Songs des Albums „solide und einprägsam“, bisweilen gar „bemerkenswert“.
With Vision hingegen wird von Kühnemund als Variante der von Weinrich geprägten Bands Saint Vitus, The Obsessed und Spirit Caravan gesehen. Ähnlich beschreibt Bohnensack das Album: „Trotz […] unbestrittenen Qualitäten“ sei With Vision „eher eine Sammlung von eigenständigen Weinrich- und Griffin-Songs als ein homogenes Album.“ Zuvor bezeichnete er das Album als „eine hervorragende altmodische Doomplatte“, welche dem Debüt ähnlich sei. Evdokimov beschreibt das Album als gelungene Kooperation der beiden Musiker, welche jedoch nicht die Qualität populärer Veröffentlichungen beider in anderen Gruppen halten kann. Trotz solcher Einschränkungen wird in der Doom-Metal-Sonderausgabe der Musikzeitschrift Deaf Forever With Vision als gelungenes Album unter Weinrichs Beteiligung empfohlen.Während As a Dog Returns von christlichen Medien bevorzugt wird, gilt The Black Is Never Far den meisten Rezensenten der Musikpresse als bestes Place-of-Skulls-Album. Eine für das Webzine Metal.de geschriebene Besprechung schließt mit der Einschätzung, es sei „ein Muss für jene Doomer und Über-den-Tellerrand-Hörer, die auf intelligentes Songwriting setzen.“ Von Evdokimov ebenso wie von Popoff wird das Album zum besten der Gruppe erklärt. Dabei beschreibt Evdokimov The Black Is Never Far zugleich als das düsterste und deprimierendste der Gruppe. Den Einsatz eines Saxophons wertet er als effektvolle Besonderheit im klassischen Doom Metal. In Deaf Forever wird The Black is Never Far zu den 150 bedeutsamsten Alben des Doom Metal gezählt. Ebenso wurde das Album 2006 im Ox-Fanzine als bisheriger Höhepunkt der Gruppe bezeichnet. Gelegentlich urteilten Rezensenten negativer über The Black Is Never Far und bemängelten den Ausstieg Weinrichs. Rivadavia betrachtete es als gutes, aber wenig bedeutsames Album, das „in einer bereits überfüllten Doom-Szene unweigerlich in Vergessenheit geraten“ werde.Das auf The Black Is Never Far folgende As a Dog Returns wird diesem gegenüber von der Musikpresse als solides Album im Genre bezeichnet. Bisweilen wird dem Album mehr Glätte in der Produktion und etwas mehr Mut im Stil, aufgrund eines modernisierten Klangs, attestiert. Als besonderes Album im Œuvre der Gruppe wird das Album hingegen von Rezensenten christlicher Rockmusik hervorgehoben. Diese gehen dabei im besonderen Maß auf die Texte ein und loben Inhalt und Botschaft des Albums. Das erst 2016 in die Diskografie der Band aufgenommene Album In-Graved wird als Fortführung der auf As a Dog Returns präsentierten musikalischen und inhaltlichen Entwicklung betrachtet. Ein besonderer Stellenwert wird dem Album in der Diskografie der Band jedoch kaum zugesprochen.
=== Publikum ===
Die Musik der Gruppe wird vornehmlich von einem Metal-Publikum rezipiert. Die Band trat bei diversen Metal-Festivals auf, insbesondere auf Veranstaltungen, die sich auf den Doom Metal spezialisiert haben. So präsentierte sich Place of Skulls beim deutschen Hammer of Doom 2010, beim niederländischen Roadburn Festival 2011 und beim Maryland Doom Fest 2016. Auch die Labels, mit welchen Place of Skulls zusammenarbeitete, werden der Metal-, im Besonderen der Doom-Metal-Szene zugeordnet. Interviews und Rezensionen sind überwiegend in Musikmagazinen zu finden, die auf Metal und Hard Rock spezialisiert sind, darunter das Rock Hard, das Deaf Forever sowie das Fanzine Doom Metal Front.
In der Metal-Szene findet wenig inhaltliche Auseinandersetzung mit Griffins Texten und Idealen statt. Vielmehr steht, wie manche Rezensenten betonen, die Musik im Vordergrund der Betrachtung. Griffins Bekundung, mit seinen Texten lediglich seine Persönlichkeit auszudrücken und niemanden missionieren zu wollen, entspricht einer in der Szene gängigen Einstellung. Politischer oder religiöser Dogmatismus, der die Musik zu einem bloßen Vehikel der Botschaft macht, wird von der Szene größtenteils abgelehnt. Hinzu kommt, dass die Beschäftigung mit Liedtexten in der Szene als wenig bedeutsam gilt. Transportierte Inhalte können gar den eigenen Überzeugungen konträr gegenüber stehen, ohne den Zuspruch für die Musik zu beeinträchtigen.
== Literatur ==
Daniel Bukszpan: The Encyclöpedia öf Heavy Metal. Sterling Publishing Co., Inc., 2012, ISBN 978-1-4027-9230-4, S. 244 f. (englisch).
Aleksey Evdokimov: Doom Metal Lexicanum. Cult Never Dies, London 2017, ISBN 978-0-9933077-6-8, Place of Skulls, S. 187 f. (englisch).
Garry Sharpe-Young: A–Z of Doom, Goth & Stoner Metal. Rockdetector, 2003, ISBN 1-901447-14-6, S. 322 (englisch).
Martin Popoff, David Perri: The Collector’s Guide of Heavy Metal Volume 4: The ’00s. Collectors Guide Ltd, Burlington, Ontario, Kanada 2011, ISBN 978-1-926592-20-6, S. 386 f. (englisch).
== Weblinks ==
Place of Skulls bei AllMusic (englisch)
Place of Skulls bei Discogs
place of Skulls bei Doom-Metal.com
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Place_of_Skulls
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Haager Landkriegsordnung
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= Haager Landkriegsordnung =
Die Haager Landkriegsordnung (HLKO) ist die Anlage zu dem während der ersten Friedenskonferenz in Den Haag beschlossenen zweiten Haager Abkommen von 1899 „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“, das 1907 im Rahmen der Nachfolgekonferenz als viertes Haager Abkommen in leicht geänderter Fassung erneut angenommen wurde. Sie ist das wichtigste der im Rahmen dieser Konferenzen entstandenen Haager Abkommen und damit neben den Genfer Konventionen ein wesentlicher Teil des humanitären Völkerrechts. Die Haager Landkriegsordnung enthält für den Kriegsfall Festlegungen zur Definition von Kombattanten, zum Umgang mit Kriegsgefangenen, zu Beschränkungen bei der Wahl der Mittel zur Kriegsführung, zur Verschonung bestimmter Gebäude und Einrichtungen von sozialer und gesellschaftlicher Bedeutung, zum Umgang mit Spionen, für Kapitulationen und Waffenstillstandsvereinbarungen sowie zum Verhalten einer Besatzungsmacht in einem besetzten Territorium. Zum Umgang mit verletzten und erkrankten Soldaten verweist die Haager Landkriegsordnung auf die erste Genfer Konvention in den Fassungen von 1864 beziehungsweise 1906.
Der Haupttext des zugehörigen Abkommens umfasst fünf (1899) beziehungsweise neun (1907) Artikel, in denen neben anderen verfahrensrechtlichen Aspekten die Anwendbarkeit sowie die Umsetzung reguliert sind. Die Haager Landkriegsordnung als Anlage dazu ist mit 60 (1899) beziehungsweise 56 (1907) Artikeln deutlich umfangreicher und enthält die Festlegungen zu den Gesetzen und Gebräuchen des Landkrieges. Vertragspartei der Fassung von 1899 wurden 51 Staaten, der Fassung von 1907 traten 38 Staaten bei. Insgesamt sind 53 Länder mindestens einer der beiden Fassungen beigetreten. Depositar aller Haager Abkommen sind die Niederlande.
Die Haager Landkriegsordnung ist für die Vertragsparteien und ihre Nachfolgestaaten in den Beziehungen untereinander weiterhin gültiges Vertragsrecht. Ihre Prinzipien gelten darüber hinaus seit einigen Jahrzehnten als Völkergewohnheitsrecht. Sie sind damit auch für Staaten und nichtstaatliche Konfliktparteien bindend, die dem Abkommen nicht explizit beigetreten sind. Darüber hinaus sind wesentliche Teile der Haager Landkriegsordnung in den später abgeschlossenen vier Genfer Abkommen von 1949, ihren zwei Zusatzprotokollen von 1977 sowie der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954 erweitert und präzisiert worden. Die Haager Landkriegsordnung ist damit neben ihrer gewohnheitsrechtlichen Bedeutung auch der historische Ausgangspunkt wesentlicher vertragsrechtlicher Teile des gegenwärtigen humanitären Völkerrechts.
== Rechtshistorische Entwicklung ==
=== Die Brüsseler Konferenz von 1874 ===
Der erste Versuch, Regeln zur Kriegführung in Form eines völkerrechtlichen Vertrages festzulegen, war die Brüsseler Konferenz von 1874. Zehn Jahre zuvor war mit der Genfer Konvention von 1864 erstmals ein verbindliches Abkommen abgeschlossen worden, das kriegführende Staaten zur Behandlung und Versorgung von verwundeten Soldaten verpflichtete. Krieg wurde zur damaligen Zeit beim Vorliegen eines Kriegsgrundes noch als gerechtfertigtes Mittel zur Lösung von zwischenstaatlichen Konflikten angesehen, ein als „ius ad bellum“ bezeichnetes Recht zum Kriege galt als unbestritten. Darüber hinaus herrschte allgemein die Auffassung, dass die nähere Zukunft eine Reihe von unvermeidbaren Kriegen bringen würde. Aus dem Erfolg der Genfer Konferenz von 1864 resultierte bei vielen führenden Persönlichkeiten in Politik und Militär in Europa aber auch die Haltung, dass – auch unter militärischen Gesichtspunkten – eine Regulierung und „Humanisierung“ des Krieges durch ein „ius in bello“, ein Recht im Kriege, sinnvoll wäre.
Vom 27. Juli bis zum 27. August 1874 fand dann auf Initiative des russischen Zaren Alexander II. in Brüssel eine Konferenz statt, an der Vertreter von insgesamt 15 Staaten Europas teilnahmen. Der russische Völkerrechtsexperte Friedrich Fromhold Martens hatte für diese Konferenz einen aus 71 Artikeln bestehenden Entwurf für eine Konvention ausgearbeitet. Die auf der Konferenz anwesenden Delegierten nahmen schließlich eine auf diesem Vorschlag basierende Deklaration „über die Gesetze und Gebräuche des Krieges“ an, die aus 56 Artikeln bestand. Sie wurde jedoch in den folgenden Jahren von keinem Land ratifiziert und erlangte damit nie den Status eines völkerrechtlichen Vertrages. Dies lag zum einen am Charakter und der Bewertung der Konferenz selbst. Diese war von der russischen Regierung einseitig und ohne vorherige Konsultationen mit anderen Staaten organisiert worden und hatte letztendlich mehr der Selbstdarstellung der europäischen Königshäuser gedient als dem ernsthaften Unterfangen, eine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung abzuschließen. Sinn und Zweck der Konferenz waren deshalb zum Teil unklar geblieben, so dass auch die teilnehmenden Länder der Konferenz aus verschiedenen Gründen mehrheitlich skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Zum anderen befürchteten die meisten kleineren Länder, dass die in der Deklaration von Brüssel enthaltenen Regeln einseitig den Interessen der Großmächte dienen würden.
Das ein Jahr vor der Brüsseler Konferenz gegründete Institut de Droit international (Institut für Völkerrecht) versuchte diese Probleme zu lösen, indem es 1880 unter dem Titel „Manuel des lois de la guerre sur terre“ ein als Oxford Manual bezeichnetes Handbuch zu den Regeln des Landkrieges veröffentlichte, das vom Genfer Juristen Gustave Moynier ausgearbeitet worden war. Es war im Wesentlichen eine Zusammenfassung der Brüsseler Deklaration von 1874, der Genfer Konvention von 1864 sowie einiger weiterer gewohnheitsrechtlicher Regelungen. Das Handbuch sollte als Vorlage dienen für entsprechende gesetzliche Regelungen im nationalen Recht der einzelnen Staaten, wurde jedoch diesbezüglich nahezu vollständig ignoriert.
=== Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 ===
Vom 18. Mai 1899 bis zum 29. Juli 1899 fand dann auf Einladung der niederländischen Königin Wilhelmina in Den Haag die erste Haager Friedenskonferenz statt, an der 108 Vertreter von insgesamt 29 Staaten teilnahmen. Den Anstoß zu dieser Konferenz hatte der russische Zar Nikolaus II. gegeben. Die russische Wirtschaft war durch den Rüstungswettlauf mit dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich immens belastet; wahrscheinlich erhoffte sich der Zar von erfolgreichen Verhandlungen, diese Belastung abmildern zu können. Die Öffentlichkeit in den europäischen Ländern zeigte im Vorfeld der Konferenz ein erhebliches Interesse. Dies galt insbesondere für die in verschiedenen Gesellschaften und Initiativen organisierte Friedensbewegung unter der Führung von Bertha von Suttner, aber auch für diverse religiöse Gruppen und in einigen Fällen auch einfache Volksinitiativen auf der Ebene von Gemeinden und Städten, die sich in unzähligen Resolutionen und Aufrufen an ihre Regierungen wandten und die Einberufung der Konferenz befürworteten. Den Teilnehmern der Konferenz wurden Sammlungen von rund 100.000 Unterschriften aus Belgien und rund 200.000 Unterschriften aus den Niederlanden vorgelegt, die das Anliegen der Konferenz im Bereich der Rüstungsbegrenzung und gewaltfreien Konfliktlösung unterstützten.
Ein Rundschreiben der russischen Regierung von Dezember 1898 nannte die Revision und die Annahme der Deklaration von Brüssel ausdrücklich als Ziele der Konferenz. Friedrich Fromhold Martens war an der Organisation der Haager Friedenskonferenz wesentlich beteiligt und während der Konferenz Präsident des Komitees zu den Regeln und Gebräuchen des Krieges. Da die später von der Konferenz verabschiedete Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“, die in ihrer Anlage die Haager Landkriegsordnung enthielt, nahezu vollständig auf der Brüsseler Deklaration von 1874 und damit auf dem Entwurf von Martens basierte, gilt er als geistiger Vater der Haager Landkriegsordnung und damit als Begründer des Haager Zweiges des humanitären Völkerrechts.
Ein zweites wichtiges Abkommen neben der Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“, das in diesem Rahmen abgeschlossen wurde, war eine Konvention „betreffend die Anwendung der Grundsätze der Genfer Konvention vom 22. August 1864 auf den Seekrieg“. Drei weitere Beschlüsse der Konferenz betrafen ein auf fünf Jahre befristetes Verbot des Einsatzes von Geschossen und Sprengstoffen aus der Luft, ein Verbot der Verwendung von erstickenden oder giftigen Gasen, sowie ein Verbot des Gebrauchs von Deformationsgeschossen. Der Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“, bestehend aus fünf Artikeln im Haupttext und 60 Artikeln zu den Durchführungsbestimmungen im Anhang, traten nach und nach 51 Staaten als Vertragsparteien bei, davon 25 als Unterzeichnerstaaten des Abkommens am 29. Juli 1899. Neben Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Russland und den USA gehörten auch das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn zu den Unterzeichnerstaaten. Beide wurden am 4. September 1900 Vertragspartei, die Schweiz trat dem Abkommen am 20. Juni 1907 bei. Das Inkrafttreten der Haager Landkriegsordnung etablierte im humanitären Völkerrecht drei grundlegende Prinzipien:
auch in einem bewaffneten Konflikt existiert zu keinem Zeitpunkt ein völlig rechtsfreier Raum oder eine Situation ohne jegliche Gesetze,
es existieren Beschränkungen bei der Wahl der Mittel zur Kriegführung und
Zivilpersonen, andere Nichtkombattanten und zivile Einrichtungen sind so weit wie möglich zu verschonen.
Die Initiative zur Zweiten Haager Friedenskonferenz ging 1903 von einer Petition der Amerikanischen Friedensgesellschaft aus. Der Petition folgte eine Resolution des Senats und des Repräsentantenhauses des Staates Massachusetts. Diese enthielt eine Aufforderung an den US-Kongress, den amerikanischen Präsidenten zu beauftragen, die Regierungen der Welt zur Etablierung eines regelmäßig stattfindenden Kongresses zu verschiedenen Fragen des Allgemeinwohls einzuladen. Auf der Tagung der Interparlamentarischen Union 1904 in St. Louis wurde diese Idee aufgegriffen in Form einer Empfehlung, die auf der Konferenz von 1899 nicht gelösten Probleme zum Thema einer Folgekonferenz zu machen. Diese kam dann drei Jahre später auf Initiative des damaligen US-Präsidenten Theodore Roosevelt zustande, obgleich sie offiziell wieder vom russischen Zaren formal einberufen wurde. Im Gegensatz zu den Vorstellungen der Vereinigten Staaten, die im Rahmen der Konferenz erneut Verhandlungen zur Abrüstung beziehungsweise Rüstungsbegrenzung vorsahen, beschränkten sich die Vorschläge der russischen Seite auf Verbesserungen im Bereich der friedlichen Lösung von internationalen Streitfällen und des humanitären Völkerrechts.
Während der zweiten Haager Friedenskonferenz vom 15. Juni bis zum 18. Oktober 1907 wurde die Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“ nur geringfügig überarbeitet. Siebzehn Vertragsparteien der Fassung von 1899 – Argentinien, Bulgarien, Chile, Kolumbien, Ecuador, Griechenland, Italien, Korea, Montenegro, das Osmanische Reich, Paraguay, Persien, Peru, Serbien, Spanien, Uruguay und Venezuela – unterzeichneten die überarbeitete Version allerdings nicht. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn zählten, wie die Schweiz, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA am 18. Oktober 1907 zu den Unterzeichnerstaaten. Für das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn trat das Abkommen am 26. Januar 1910 in Kraft, für die Schweiz am 11. Juli 1910.
=== Die Weiterentwicklung nach 1907 ===
Die Haager Landkriegsordnung blieb in der 1907 beschlossenen Fassung unverändert. Die Mehrzahl der Vertragsparteien trat ihr bereits vor dem Ersten Weltkrieg bei. Zwischen den beiden Weltkriegen wurden nur noch Finnland (1918), Polen (1925) und Äthiopien (1935) Vertragspartei, nach dem Zweiten Weltkrieg noch die Dominikanische Republik (1958), Belarus (1962), die Fidschi-Inseln (1973) und Südafrika (1978). Neben Finnland, Äthiopien, und Polen zählt noch Liberia (1914) zu den Ländern, die als Vertragspartei der Fassung von 1907 nicht der Fassung von 1899 beigetreten waren. Hauptgrund für die zögerliche Akzeptanz in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg war die Tatsache, dass sich die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung in beiden Weltkriegen als äußerst unzulänglich erwiesen. Dies galt während des Ersten Weltkrieges insbesondere für das Schicksal der Kriegsgefangenen, während im Zweiten Weltkrieg vor allem die Zivilbevölkerung unter der rücksichtslosen Kriegführung zu leiden hatte. Darüber hinaus schränkte die sogenannte Allbeteiligungsklausel, welche die Gültigkeit der Haager Landkriegsordnung regulierte, deren Akzeptanz bei den kriegführenden Mächten deutlich ein.
Aufgrund der genannten Unzulänglichkeiten wurde eine Reihe der in der Haager Landkriegsordnung enthaltenen Bestimmungen in neu abgeschlossenen Abkommen oder in überarbeiteten Fassungen der Genfer Konventionen erweitert und präzisiert. Vom 11. Dezember 1922 bis zum 6. Februar 1923 diskutierte eine international besetzte Juristenkommission aus 52 Sachverständigen über die völkerrechtliche Regelung der seit dem Ersten Weltkrieg relevanten Gebiete des Fernmeldewesens und des Luftkrieges. Ein 62 Artikel umfassender Entwurf zum Luftkriegsrecht („Haager Luftkriegsregeln“) erlangte mangels Ratifizierungen jedoch keine Rechtskraft. Keine der adressierten Regierungen folgte der Empfehlung, das Abkommen zu unterzeichnen. Gründe hierfür lagen wahrscheinlich in der mangelnden Bereitschaft, sich in einem entscheidenden Sektor der Verteidigung gesetzliche Grenzen setzen zu lassen, sowie der Überzeugung, dass entsprechende Inhalte bereits durch die Landkriegsordnung abgedeckt seien.Mit dem Genfer Protokoll von 1925 wurde das in Artikel 23 der Haager Landkriegsordnung enthaltene Verbot des Gebrauchs von giftigen Substanzen explizit bekräftigt und auf bakteriologische Waffen ausgeweitet. Im Jahr 1929 wurde mit dem Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen ein separates Abkommen zur Behandlung der Kriegsgefangenen verabschiedet, das 1949 überarbeitet und erweitert wurde. Trotz dieser neuen Konvention kam der Haager Landkriegsordnung während des Zweiten Weltkrieges eine besondere Bedeutung hinsichtlich der Behandlung der Kriegsgefangenen zu. Mit der Sowjetunion und Japan waren zwei Hauptmächte des Krieges nicht der Genfer Kriegsgefangenen-Konvention von 1929 beigetreten, jedoch Vertragsparteien der Haager Landkriegsordnung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1949 mit dem Genfer Abkommen „über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ auch für die Behandlung der Zivilpersonen durch die Besatzungsmacht für die Dauer der Okkupation ein eigenständiges Regelwerk geschaffen, das in vielen Bereichen weit über die Vorgaben der Haager Landkriegsordnung hinausgeht. Insbesondere die Einschränkung, dass die in der Haager Landkriegsordnung enthaltenen Regeln zum Umgang mit Zivilpersonen nur für eine Besatzungsmacht in einem besetzten Gebiet galten, entfiel mit dem Genfer Abkommen. Die Allbeteiligungsklausel war in den Genfer Abkommen von 1929 und 1949 nicht mehr enthalten. Wesentliche Teile aus der Haager Landkriegsordnung, die Beschränkungen hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Kriegführung enthielten, gelangten schließlich mit dem Zusatzprotokoll I von 1977 „über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte“ ebenfalls in den Rechtsrahmen der Genfer Abkommen. Der Aspekt des Schutzes von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten, der in der Haager Landkriegsordnung lediglich in zwei Artikeln ansatzweise enthalten ist, wurde 1954 in wesentlich erweiterter Form in der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten umgesetzt.
Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Haager Landkriegsordnung war darüber hinaus die Akzeptanz der Gültigkeit der in ihr formulierten Prinzipien als Völkergewohnheitsrecht. Auch wenn hierfür kein exaktes Datum ausgemacht werden kann, wurde diese Rechtsauffassung erstmals 1946 in einer Entscheidung des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg explizit bestätigt. Dies bedeutet, dass die Prinzipien der Haager Landkriegsordnung auch für Staaten und nichtstaatliche Konfliktparteien bindend sind, die dem Abkommen selbst nicht beigetreten sind. Das am 17. Juli 1998 verabschiedete und am 1. Juli 2002 in Kraft getretene Rom-Statut für den Internationalen Strafgerichtshof definiert in Artikel 8 Kriegsverbrechen in internationalen Konflikten als „schwere Verletzungen der Genfer Abkommen vom 12. August 1949“ sowie „schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche“. Hierzu zählen unter anderem Verletzungen von wichtigen Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung.
== Inhalt ==
=== Bestimmungen des Abkommens ===
Der Haupttext der Haager Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“ umfasst in den Fassungen von 1899 und 1907 in fünf beziehungsweise neun Artikeln einige allgemeine Formulierungen und Ausführungsbestimmungen.
Bereits in der Präambel enthält die Konvention einen als Martens’sche Klausel bezeichneten Grundsatz. Dieser gibt für Situationen in bewaffneten Konflikten, die nicht ausdrücklich durch geschriebenes internationales Recht geregelt sind, die Maßstäbe Brauch, Gewissen und Menschlichkeit zur Bewertung von Handlungen und Entscheidungen vor. Diese Klausel wurde von Friedrich Fromhold Martens während der Haager Friedenskonferenz von 1899 vorgeschlagen als Kompromisslösung für die Frage der Behandlung von Zivilisten, die an Kampfhandlungen teilnehmen. Sie ist seitdem jedoch in eine Reihe von weiteren Abkommen aufgenommen worden und gilt heute als wichtiger Grundsatz des humanitären Völkerrechts.
Der Artikel 1 verpflichtet die Vertragsparteien, die in der Anlage enthaltenen Bestimmungen ihren Landheeren als Verhaltensmaßregeln zu geben. Die in Artikel 2 enthaltene und auch als Allbeteiligungsklausel bezeichnete Festlegung zur Gültigkeit besagt, dass die Bestimmungen der Konvention im Falle eines Krieges zwischen zwei oder mehr Vertragsparteien gelten und nur bindend sind, solange alle beteiligten Konfliktparteien dem Abkommen beigetreten sind. Der Kriegseintritt eines Landes, das nicht Vertragspartei der Konvention ist, setzt also deren Gültigkeit für alle beteiligten Staaten außer Kraft. Ziel der Aufnahme einer solchen Klausel war es, eine zweigeteilte Rechtslage hinsichtlich der Verpflichtungen der Konvention zu verhindern. Diese könnte entstehen durch die Beteiligung eines kleineren Landes, das nicht Vertragspartei der Konvention wäre. Basierend auf den Erfahrungen mit den Kriegen der damaligen Zeit, an denen in der Regel zwei Konfliktparteien mit nur wenigen Staaten auf beiden Seiten teilnahmen, galt eine solche Regelung als sinnvoll. Vor allem in den beiden Weltkriegen erwies sie sich jedoch als äußerst problematisch hinsichtlich der Akzeptanz der Haager Landkriegsordnung.
Der Artikel 3 beziehungsweise 5 in den Fassungen von 1899 beziehungsweise 1907 bestimmt die Niederlande zur Depositarmacht des Abkommens. In den Artikeln 5 beziehungsweise 8 sind Regelungen zur Kündigung des Abkommens durch eine Vertragspartei enthalten.
=== Anlage: Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs ===
Die Anlage zur Haager Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“ enthält in den Fassungen von 1899 und 1907 in 60 beziehungsweise 56 Artikeln die eigentlichen Festlegungen zu den Regeln und Gebräuchen des Landkrieges.
Der Artikel 1 legt die Gültigkeit der Gesetze, der Rechte und Pflichten des Krieges für die Angehörigen des Heeres, von Milizen und von Freiwilligenkorps unter den Bedingungen fest, dass (1) an ihrer Spitze jemand steht, der für seine Untergebenen verantwortlich ist, (2) sie ein festes und erkennbares Abzeichen tragen, (3) sie ihre Waffen offen führen und (4) sie die Gesetze und Gebräuche des Krieges beachten. Der Artikel enthielt somit erstmals in der Militärgeschichte eine international verbindliche Definition von Kombattanten. Im Artikel 2 wird darüber hinaus auch der Bevölkerung von nicht besetzten Gebieten der Kombattantenstatus zugestanden, sofern ihr keine Zeit geblieben ist, sich entsprechend den Vorgaben des Artikels 1 zu organisieren. Darüber hinaus müssen kriegführende Zivilpersonen die Gesetze und Gebräuche des Krieges beachten und laut der Fassung von 1907 ihre Waffen offen führen.
Die Artikel 4 bis 20 legen verschiedene Grundsätze zur Behandlung von Kriegsgefangenen fest. Diese sind entsprechend Artikel 4 menschlich zu behandeln. Kriegsgefangene dürfen zur Arbeit herangezogen werden (in der Fassung von 1907 mit Ausnahme der Offiziere). Die gefangennehmende Partei hat für den Unterhalt der Kriegsgefangenen zu sorgen (Artikel 7) und dabei die Kriegsgefangenen in Bezug auf Nahrung, Kleidung und Unterbringung wie die eigenen Truppen zu behandeln. Kriegsgefangene unterstehen den Gesetzen, Vorschriften und Befehlen des Staates, in dessen Gewalt sie sich befinden (Artikel 8). Sie können für einen misslungenen Fluchtversuch disziplinarisch bestraft werden, nicht jedoch bei erneuter Gefangennahme nach einer vorherigen erfolgreichen Flucht. Entsprechend Artikel 9 sind Kriegsgefangene verpflichtet, auf Nachfrage ihren Namen und Dienstgrad zu nennen.
Kriegskorrespondenten, Journalisten, Marketender, Lieferanten sowie andere nicht unmittelbar zum Heer gehörende Personen haben Anspruch auf eine Behandlung als Kriegsgefangene, wenn sie sich durch einen Ausweis der Militärbehörde ihres Heimatlandes entsprechend legitimieren können (Artikel 13). Jede am Konflikt beteiligte Partei ist verpflichtet, eine Auskunftsstelle über die Kriegsgefangenen einzurichten (Artikel 14). Kriegsgefangene Offiziere haben Anspruch auf Zahlung ihres Soldes (Artikel 17), und zwar in der Fassung von 1899 in einer Höhe entsprechend den Vorgaben ihres Heimatlandes, in der Fassung von 1907 analog zu den Offizieren gleichen Ranges des Landes, in dem sie gefangen gehalten werden. Die Regierung des Heimatlandes ist zur Erstattung der entsprechenden Kosten verpflichtet. Nach einem Friedensschluss sind die Kriegsgefangenen „binnen kürzester Frist“ zu entlassen (Artikel 20).
Der Artikel 21 verweist für die Behandlung von Kranken und Verwundeten auf die Genfer Konvention. Artikel 23 verbietet eine Reihe von Mitteln zur Kriegführung. Zu diesen Festlegungen zählt beispielsweise ein Verbot der Verwendung von giftigen Substanzen, ein Verbot der meuchlerischen Tötung oder Verwundung, ein Verbot der Tötung oder Verwundung eines Feindes, der sich ergeben hat, sowie ein Verbot des Befehls, kein Pardon zu geben, und ein Verbot von Waffen und Geschossen, die unnötiges Leid verursachen. Ebenso verboten sind der Missbrauch der Parlamentärsflagge, der Nationalflagge und Uniformen des Gegners sowie der Schutzzeichen der Genfer Konvention. Die Fassung von 1907 enthält darüber hinaus ein Verbot, Angehörige der Gegenpartei zu Kriegshandlungen gegen ihr eigenes Land zu zwingen.
Unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnungen oder Gebäude dürfen nicht angegriffen werden (Artikel 25). Bei Belagerungen und Angriffen sind religiöse und wissenschaftliche Einrichtungen sowie Gebäude, die der Kunst oder der Wohltätigkeit dienen, ebenso wie historische Denkmäler und Krankenhäuser, so weit wie möglich zu schonen (Artikel 27). Die Belagerten sind verpflichtet, solche Einrichtungen entsprechend zu kennzeichnen. Städte und Siedlungen dürfen nicht geplündert werden (Artikel 28). Die Artikel 29 bis 31 regeln den Umgang mit Spionen, die Artikel 32 bis 34 den besonderen Status und Schutz von Parlamentären. Nähere Bestimmungen zur Kapitulation und zu einem Waffenstillstand sind in den Artikeln 35 bis 41 enthalten.
In den Artikeln 42 bis 56 sind Regelungen zum Verhalten einer Besatzungsmacht auf besetztem feindlichen Gebiet festgelegt. Ein Besatzer ist unter anderem verpflichtet, die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten (Artikel 43). Die Bevölkerung eines besetzten Gebietes darf nicht zu Kriegshandlungen gegen ihr eigenes Land gezwungen werden (Artikel 44 beziehungsweise 45 in den Fassungen von 1899 beziehungsweise 1907). Entsprechend Artikel 44 der Fassung von 1907 ist es darüber hinaus verboten, die Bevölkerung eines besetzten Territoriums zu Herausgabe von Informationen über das eigene Heer oder über dessen Verteidigungsmittel zu zwingen. Die Einziehung von Privateigentum ist ebenso verboten wie Plünderungen (Artikel 46 und 47). Kollektivstrafen an der Bevölkerung für die Taten Einzelner sind verboten (Artikel 50).
Die Artikel 57 bis 60 der Fassung von 1899 regeln die Behandlung von Internierten und Verwundeten durch neutrale Staaten. Sie sind in der Fassung von 1907 nicht enthalten.
== Umsetzung in der Praxis ==
=== Ahndung von Verstößen ===
Die Haager Landkriegsordnung enthält für Verstöße gegen die in ihr enthaltenen Regeln keine Festlegungen zu Sanktionen für Personen oder Personengruppen. Lediglich der Art. 3 des zugehörigen Abkommens in der Fassung von 1907 schreibt für den Fall der Verletzung durch eine Vertragspartei eine allgemein formulierte Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz vor. Schwerwiegende Verstöße sind in Deutschland jedoch seit dem Jahr 2002 auf der Basis des Völkerstrafgesetzbuchs strafbar, insbesondere durch die § 9 bis § 12 VStGB. In der Schweiz sind entsprechende Regelungen im 1927 verabschiedeten Militärstrafgesetz, derzeit in der Fassung von 2004, enthalten. In Österreich bilden Art. 9 des Bundes-Verfassungsgesetzes sowie § 64 Strafgesetzbuch die rechtliche Grundlage für die Strafbarkeit von Verletzungen der Regeln der Haager Landkriegsordnung. In der DDR regelte § 93 Strafgesetzbuch vom 12. Januar 1968 die Strafbarkeit von Kriegsverbrechen und § 84 StGB einen entsprechenden Ausschluss der Verjährung.
Nach dem Ersten Weltkrieg erließ die Deutsche Nationalversammlung am 18. Dezember 1919 ein Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen zur Verfolgung von Straftaten, „die ein Deutscher im In- und Ausland während des Krieges bis zum 28. Juni 1919 gegen feindliche Staatsangehörige oder feindliches Vermögen begangen hat“. Für insgesamt rund 900 Personen, die von Seiten der Alliierten eines Kriegsverbrechens beschuldigt wurden, verpflichtete sich die Reichsregierung, diese statt einer Auslieferung selbst vor Gericht zu stellen. Insgesamt wurde bis 1927 in rund 1.500 Fällen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Zu Gerichtsverfahren vor dem Reichsgericht in Leipzig kam es jedoch in lediglich 17 Fällen, davon endeten zehn mit einer Verurteilung und sieben mit einem Freispruch. Die höchste ausgesprochene Strafe von fünf Jahren gab es für eine Verurteilung wegen Plünderung. Ein Fall, in dem es um die Erschießung gefangengenommener französischer Soldaten ging, endete mit einer Verurteilung eines Majors wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Für Körperverletzung beziehungsweise schwere Körperverletzung gab es Urteile zwischen sechs und zehn Monaten. Die Bilanz der Leipziger Prozesse wird im Allgemeinen als Scheitern einer effektiven Strafverfolgung von Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg angesehen. Den Einsatz von chemischen Kampfstoffen zur Gaskriegsführung rechtfertigten die Konfliktparteien durch entsprechende Interpretationen der in Art. 23 der Haager Landkriegsordnung enthaltenen Verbote. So würde das Verbot von giftigen Substanzen in Art. 23a nach dieser Sichtweise nicht für Geschosse gelten, die Gift freisetzten, sondern nur für das Vergiften beispielsweise von Wasser, Lebensmitteln oder Böden. Dem in Art. 23e formulierten Verbot von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die unnötige Leiden verursachen, wurde die Notwendigkeit chemischer Kampfstoffe zur Erlangung von potentiellen militärischen Vorteilen entgegengehalten.
Rechtsgrundlage einer Verurteilung von Verstößen im Rahmen des Zweiten Weltkrieges bildete vor allem das am 8. August 1945 beschlossene Londoner Statut des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg. Dieses definierte in Art. 6 Kriegsverbrechen als Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges und nannte unter anderem die Ermordung oder Misshandlung von Zivilisten und ihre Deportation zur Zwangsarbeit, die Ermordung und Misshandlung von Kriegsgefangenen, die Tötung von Geiseln, Plünderung von gemeinnützigem und privatem Eigentum und Maßnahmen, die nicht durch die militärische Notwendigkeit gerechtfertigt waren. Im Gegensatz zu den Leipziger Prozessen nach dem Ersten Weltkrieg diente der Internationale Militärgerichtshof von Nürnberg vor allem der Verfolgung ranghoher Verantwortlicher aus Politik, Militär und Wirtschaft. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, als dem ersten und wichtigsten der Nürnberger Prozesse, wurden von den 24 Angeklagten insgesamt 16 im Anklagepunkt Kriegsverbrechen schuldig gesprochen. In allen diesen Fällen erfolgte jedoch der Schuldspruch in Einheit mit anderen Anklagepunkten wie Verbrechen gegen den Frieden oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Keiner der Angeklagten wurde allein wegen Kriegsverbrechen angeklagt oder entsprechend nur in diesem Punkt verurteilt. Das Gesamtstrafmaß lag in den betreffenden Fällen zwischen Todesurteilen und Freiheitsstrafen von 15 beziehungsweise 20 Jahren, für Rudolf Heß jedoch lebenslänglich, die auch vollstreckt wurde. Eine genaue Gewichtung entsprechend den einzelnen Anklagepunkten ist jedoch nur schwer möglich.
=== Internationale Akzeptanz und beteiligte Organisationen ===
Der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag hat durch das Inkrafttreten des Rom-Statuts als seiner völkerrechtlichen Grundlage seit dem 1. Juli 2002 unter bestimmten Umständen die Möglichkeit, Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Der Art. 8 des Rom-Statutes enthält in der Definition von Kriegsverbrechen auch entsprechende Bezüge auf „schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche“, wozu unter anderem Verletzungen von wichtigen Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung zählen. Der Internationale Strafgerichtshof wird aber hinsichtlich einer Strafverfolgung nur aktiv, wenn keine angemessene nationale Gerichtsbarkeit existiert oder diese nicht fähig oder willens ist, die Strafverfolgung für die betreffenden Straftaten selbst auszuüben. Aus verschiedenen Gründen wird der Internationale Strafgerichtshof jedoch von einer Reihe von Ländern nicht anerkannt. Hierzu zählen unter anderem die USA, Russland, die Volksrepublik China, Indien, Pakistan und Israel.
=== Beziehungen zu den Genfer Konventionen ===
Innerhalb des humanitären Völkerrechts entwickelte sich neben dem Haager Recht, dessen zentrale Komponente die Haager Landkriegsordnung ist, noch das in den Genfer Konventionen formulierte Genfer Recht. Dieses regelt, ausgehend von seinen historischen Ursprüngen, vor allem den Umgang mit den sogenannten Nichtkombattanten, also Personen, die im Fall eines bewaffneten Konflikts nicht an den Kampfhandlungen beteiligt sind. Dabei handelt es sich um verwundete, erkrankte und gefangengenommene Soldaten sowie Zivilpersonen. Demgegenüber enthält das Haager Recht überwiegend Festlegungen zu zulässigen Mitteln und Methoden der Kriegführung und damit vor allem Regeln für den Umgang mit den an den Kampfhandlungen beteiligten Personen, den Kombattanten. Wesentliche Teile des Haager Rechts sind jedoch im Rahmen der Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts in das Genfer Recht integriert worden. Darüber hinaus war die Trennung dieser beiden Bereiche in Bezug auf die Behandlung von Kombattanten und Nichtkombattanten von Beginn an nicht strikt und konsistent.
Die Genfer Abkommen III und IV legen in den Artikeln 135 beziehungsweise 154 fest, dass die in ihnen enthaltenen Regeln die entsprechenden Abschnitte der Haager Landkriegsordnung ergänzen sollen. Eine analoge Festlegung war auch in Artikel 89 der Genfer Kriegsgefangenen-Konvention von 1929 enthalten. Wie dies im Einzelfall anhand von allgemein gültigen Auslegungsgrundsätzen wie lex posterior derogat legi priori („das spätere Gesetz geht dem früheren vor“) und lex specialis derogat legi generali („die Spezialnorm geht dem allgemeinen Gesetz vor“) zu erfolgen hätte, bleibt jedoch offen.
== Einzelnachweise ==
== Literatur ==
=== Deutschsprachige Bücher ===
Deutsches Rotes Kreuz (Hrsg.): Die Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12. August 1949 und die beiden Zusatzprotokolle vom 10. Juni 1977 sowie das Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18. Oktober 1907 und Anlage (Haager Landkriegsordnung). (= Schriften des Deutschen Roten Kreuzes). 8. Auflage. Bonn 1988.
Dieter Fleck (Hrsg.): Handbuch des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten. Verlag C. H. Beck, München 1994, ISBN 3-406-38139-1.
Jana Hasse, Erwin Müller, Patricia Schneider: Humanitäres Völkerrecht: politische, rechtliche und strafgerichtliche Dimensionen. Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2001, ISBN 3-7890-7174-9.
Hans-Peter Gasser: Humanitäres Völkerrecht. Eine Einführung. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2007, ISBN 978-3-8329-2802-5.
Rudolf Laun: Die Haager Landkriegsordnung. Textausgabe mit Einführung. 5. Auflage. Hannover 1950, DNB 452726530.
=== Englischsprachige Bücher ===
Geoffrey Best: Humanity in Warfare: The Modern History of the International Law of Armed Conflicts. Columbia University Press, New York 1980, ISBN 0-231-05158-1.
Dietrich Schindler, Jiří Toman (Hrsg.): The laws of armed conflicts: a collection of conventions, resolutions, and other documents. Sijthoff & Noordhoff International Publishers, Alphen aan den Rijn 1984, ISBN 90-286-0199-6.
Frédéric de Mulinen: Handbook on the Law of War for Armed Forces. IKRK, Genf 1987, ISBN 2-88145-009-1.
Michael Reisman: The Laws of War: A Comprehensive Collection of Primary Documents on International Laws Governing Armed Conflict. Vintage Books/ Random House, New York 1994, ISBN 0-679-73712-X.
Adam Roberts, Richard Guelff: Documents on the Laws of War. 3. Auflage. Oxford University Press, Oxford/ New York 2000, ISBN 0-19-876390-5.
Frits Kalshoven, Liesbeth Zegveld: Constraints on the waging of war: an introduction to international humanitarian law. 3. Auflage. IKRK, Genf 2001, ISBN 2-88145-115-2.
International Committee of the Red Cross (Hrsg.): Rules of international humanitarian law and other rules relating to the conduct of hostilities. Collection of treaties and other instruments. IKRK, Genf 2005, ISBN 2-88145-014-8.
=== Artikel ===
Karma Nabulsi: The Modern Laws of War from 1874 to 1949. In: Traditions of War. Occupation, Resistance and The Law. Oxford University Press, Oxford/ New York 1999, ISBN 0-19-829407-7, S. 4–19.
== Weblinks ==
Internationale Übereinkunft vom 29. Juli 1899 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (mit Reglement) in der amtlichen Schweizer Übersetzung
International Humanitarian Law – Hague Convention II 1899 englische Fassung, mit Liste der Vertragsparteien
Abkommen vom 18. Oktober 1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (mit Ordnung) in der amtlichen Schweizer Übersetzung
International Humanitarian Law – Hague Convention IV 1907 englische Fassung, mit Liste der Vertragsparteien
Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (Haager Landkriegsordnung), 18. Oktober 1907, in: 1000dokumente.de
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Suche nach Haager Landkriegsordnung. In: Deutsche Digitale Bibliothek
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https://de.wikipedia.org/wiki/Haager_Landkriegsordnung
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Ries-Ereignis
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= Ries-Ereignis =
Beim Ries-Ereignis (auch Ries-Impakt) handelt es sich um einen Asteroideneinschlag, der sich vor etwa 15 Millionen Jahren im heutigen Süddeutschland ereignete. Der dabei entstandene Einschlagkrater Nördlinger Ries hat einen Durchmesser von etwa 24 km, was von der Umwandlung einer sehr großen Energiemenge zeugt. Das nahe Steinheimer Becken und eine Anzahl kleinerer Krater auf der Fränkischen Alb und im Gebiet des Bodensees entstanden nach neueren Erkenntnissen nicht gleichzeitig mit dem Nördlinger Ries und zählen somit nicht zum Ries-Ereignis.
== Ablauf des Ries-Impakts ==
Das Nördlinger Ries zählt zu den am besten erforschten Einschlagkratern der Erde. Da seit 1960 nachgewiesen werden konnte, dass die Entstehung des Rieskraters auf den Einschlag eines Asteroiden zurückzuführen ist, wurde von der Wissenschaft eine recht detaillierte Vorstellung von den Ereignissen bei seiner Entstehung vor 14,6 ± 0,2 Millionen Jahren (während der chronostratigraphischen Serie des Miozäns, Stufe Langhium) entwickelt.
=== Asteroid ===
In nur wenigen Sekunden durchquerte der Asteroid mit einem Durchmesser von etwa 1,5 km mit einer Geschwindigkeit von 20 km/s (72.000 km/h) die Erdatmosphäre. Als Meteor, dessen scheinbare Helligkeit selbst die der Sonne übertraf, hatte er sich von Südwesten (nach neueren Erkenntnissen von Westen) kommend beinahe ungebremst der Erdoberfläche genähert. Vermutlich handelte es sich bei dem Himmelskörper um einen Asteroiden. Das von einem weiteren Körper erzeugte und deutlich kleinere ca. 40 km südwestlich liegende Steinheimer Becken scheint nach neuesten Ergebnissen nicht gleichzeitig entstanden, sondern mehrere hunderttausend Jahre jünger zu sein.
Die folgende Beschreibung des Impakts bezieht sich auf das Stück, dessen Einschlag zur Bildung des Rieskraters geführt hat.
=== Aufschlag ===
Sekundenbruchteile bevor der Himmelskörper die Erdoberfläche im Winkel von etwa 30° traf, wurde die zwischen dem Asteroiden und der Erdoberfläche befindliche Luft zusammengepresst und erhitzt, der oberflächlich aufliegende Erdboden, Sand und Geröll verdampften schlagartig und wurden zusammen mit der komprimierten Luft seitlich unter dem Asteroiden herausgedrückt. Der Auswurf erfolgte mit einer Geschwindigkeit, die jene des Asteroiden noch um ein Vielfaches übertraf. Dieser Vorgang wird daher als Jetting bezeichnet. Aufgeschmolzenes Oberflächenmaterial wurde mit hoher Geschwindigkeit bis zu 450 km weit geschleudert. Zu kleinen Glastropfen erstarrt, gingen die aufgeschmolzenen Sande in einem eng umgrenzten Gebiet im heutigen Böhmen und Mähren nieder. Dort werden diese Schmelztropfen noch heute gefunden und als Moldavite bezeichnet.
=== Kompression ===
Der Impaktor durchschlug das Deckgebirge aus mesozoischen Sedimentgesteinen und drang bis in eine Tiefe von etwa einem Kilometer in das Grundgebirge ein. Die Gesamteindringtiefe wird auf ca. 4 km beziffert. Sowohl der Asteroid als auch das umgebende Gestein wurden auf weniger als die Hälfte ihres ursprünglichen Volumens komprimiert. Bei einem Druck von einigen Millionen Bar und Temperaturen bis zu 30.000 °C verdampften der Asteroid sowie das umgebende Gestein schlagartig nur Sekundenbruchteile nach dem Auftreffen.
Die Stoßwelle breitete sich im Gestein um den Einschlagsort mit Überschallgeschwindigkeit aus. Mit zunehmendem Abstand ließ die Beanspruchung der Gesteine durch Druck und Temperatur nach, sie wurden nur noch teilweise aufgeschmolzen bzw. unter hohem Druck und hoher Temperatur umgewandelt. Durch die sogenannte Stoßwellen-Metamorphose wurde Quarz in Coesit oder Stishovit umgewandelt, es kam auch zur Bildung von diaplektischen Gläsern. Kilometerweit um den Einschlagspunkt wurde das Gestein deformiert und unter dem Druck verflüssigt.
=== Auswurf ===
Etwa zwei Sekunden nach dem Aufschlag begann die Hauptauswurfphase: Nach dem Durchlauf der Stoßwelle federte das Gestein zurück, der neue Kraterboden hob sich, und im Zentrum bildete sich ein Zentralberg. Trümmer aus dem Inneren des Kraters wurden in Form einer kegelförmigen Front (Auswurfvorhang) herausgeschleudert (ballistischer Auswurf), in der Randzone des Kraters wurden größere Blöcke über die Oberfläche geschoben (Roll-Gleit-Mechanismus). Beim Auswurf wurden Gesteine aus den unterschiedlichsten stratigraphischen Lagen durchmischt und bildeten bis zu einer Entfernung von 40 km um den Krater eine geschlossene Auswurfdecke, die zunächst bis zu 100 Meter mächtig war. Heute werden diese Auswurfmassen in der Umgebung des Rieskraters als Bunte Trümmermassen bezeichnet.
Bei der Explosion, deren Energie der von mehreren hunderttausend Hiroshima-Bomben entsprach, wurde ein Krater mit einem Durchmesser von 8 km und einer Tiefe von 4 km ausgesprengt. Der Feuerball hob sich aus dem Krater und riss zermahlenes und teilweise aufgeschmolzenes Gestein mit.
=== Kraterwachstum ===
Der entstandene Primärkrater war nicht stabil: Entlang seiner steilen Außenwände glitten teils kilometergroße Gesteinsschollen in Richtung des Zentrums und erweiterten den Durchmesser des Kraters auf rund 24 km. Auch der Zentralberg war nicht stabil, er sank wieder ab. Im Gegenzug wurde Material weiter außen hochgedrückt und bildete so den Inneren Ring: Diese konzentrische, um die Mitte des Kraters laufende Hügelkette ist noch heute erkennbar. Hier stehen oberflächlich magmatische Gesteine des Grundgebirges an, die bei ungestörter Lagerung außerhalb des Kraters erst 300 bis 400 Meter tiefer anzutreffen sind.
Nach etwa drei Minuten war das Kraterwachstum beendet. Einige Minuten später kollabierte auch die über dem Krater stehende Glutwolke: Die zurückfallende heiße Masse aus zermahlenem Gestein und erstarrten Schmelzen füllte den nun etwa 500 m tiefen Krater bis zu 400 m hoch auf. Auch die um den Krater liegende Auswurfdecke wurde großflächig von dem heißen Ascheregen bedeckt. Das verfestigte Material aus der Glutwolke bildet heute ein für das Nördlinger Ries typisches Impaktgestein, den Suevit. Man schätzt, dass die mächtige Suevitschicht im Krater rund 2000 Jahre benötigte, um sich von 600 °C auf 100 °C abzukühlen.
=== Auswirkungen ===
Am Ende waren der Impaktor und 3 km³ irdisches Gestein verdampft, etwa 150 km³ Gestein wurden aus dem Krater ausgeworfen, etwa 1000 km³ wurden bewegt. Der Einschlag verursachte ein Erdbeben, dessen Magnitude nach Berechnungen den Wert 8 auf der Momenten-Magnituden-Skala erreichte. Um den Krater herum wurde eine Fläche von etwa 5000 km² meterhoch unter den ausgeworfenen Trümmermassen begraben.
Etwa 10 km östlich des Kraterrandes flossen damals Ur-Main und Ur-Altmühl in Richtung Süden. Ihre Flussläufe wurden von den Auswurfmassen unterbrochen, das Wasser staute sich im Nordosten des Rieskraters zu einem See auf. Dieser erreichte eine Ausdehnung bis zu 500 km² und erstreckte sich im Norden etwa bis zum heutigen Nürnberg.
Noch 100 km vom Einschlagsort entfernt erschien der aus dem Krater aufsteigende Feuerball etwa 30-mal so groß und 70-mal so hell wie die Sonne. Die von ihm ausgehende thermische Strahlung hatte die Kraft, noch in dieser Entfernung Fell, Gefieder und Haut von Tieren zu versengen sowie Gras und Laub sofort in Brand zu setzen. Etwa fünf Minuten nach dem Einschlag traf die atmosphärische Stoßwelle mit Windgeschwindigkeiten bis zu 600 km/h und einem Überdruck bis zu 100 Kilopascal (1 Bar) ein.
In 200 km Entfernung erschien der Feuerball etwa zehnmal so groß und hell wie die Sonne. Die Druckwelle des Einschlags, die etwa zehn Minuten benötigte, um diese Entfernung zurückzulegen, brachte mit Windgeschwindigkeiten bis zu 200 km/h rund ein Drittel aller Bäume zu Fall. Etwa 300 km südöstlich des Impakts, nahe dem heutigen Liezen, verschüttete ein möglicherweise durch das Ries-Ereignis ausgelöster Bergsturz – der heutige Pyhrnpass – den nach Norden gerichteten Lauf der Ur-Enns, sodass diese nach Süden, ins Grazer Becken, umgelenkt wurde.Selbst in 500 km Entfernung war das durch den Impakt ausgelöste Erdbeben noch deutlich zu spüren (Stufe 4 bis 5 auf der Mercalliskala). Die Druckwelle traf nach knapp 30 Minuten ein, die Windgeschwindigkeit erreichte mit etwa 50 km/h immerhin noch Stufe 6 auf der Beaufortskala.
Mit Schallgeschwindigkeit verlief die Druckwelle in der Atmosphäre um die ganze Erde: In 20.000 km Entfernung, am Antipodenpunkt des Einschlags, traf sie nach etwa 17 Stunden ein. Die Schallintensität erreichte dort noch 40 Dezibel – damit war der Einschlag praktisch auf der ganzen Erde hörbar.
=== Heutiger Zustand ===
In der Zeit nach dem Einschlag füllte sich der Krater mit Wasser, und ein 400 km² großer See entstand, der also nahezu das Ausmaß des Bodensees erreichte. Nach rund zwei Millionen Jahren verlandete der See. Erst während der Eiszeiten wurde der heutige Rieskessel durch Erosion freigelegt.
Eine Beschreibung der geologischen Situation, wie sie sich heute zeigt, sowie der Gesteine, die aus dem Impakt hervorgegangen sind, ist im Artikel Nördlinger Ries zu finden.
== Energie und Größe des Impaktors ==
Aus der Größe eines Impaktkraters, der Messung der Schwereanomalie im Krater, der Lagerung der ausgeworfenen und den Zerstörungen in den umgebenden Gesteinen kann die für die Bildung des Kraters notwendige Energie abgeschätzt werden. Für den Rieskrater wird die beim Einschlag freigesetzte Energie auf 1019 bis 1020 Joule geschätzt. Der obere Wert entspricht etwa der 1850-fachen Energie der Eruption des Mount St. Helens im Jahr 1980 (5,4·1016 Joule) oder der 90-fachen Energie, die beim Seebeben im Indischen Ozean 2004 freigesetzt wurde (1,1·1018 Joule). Berechnungen aus 2005 zufolge könnte die Energie sogar 1021 Joule betragen haben, wenn man einen rundlichen Steinmeteoriten von 1500 m Durchmesser und 20 km/s Einschlaggeschwindigkeit annimmt.Als weiterer Vergleich mag der zivile Kernwaffentest Storax Sedan dienen, der 1962 als Test zur friedlichen Nutzung von Atomwaffen für Erdbewegungsarbeiten durchgeführt wurde. Die Explosion hinterließ einen Explosionskrater von 390 m Durchmesser und 97 m Tiefe. Beim Ries-Ereignis wurde rund 200.000-mal so viel Energie umgesetzt wie bei diesem Test mit einer Sprengkraft von 104 Kilotonnen TNT (≈ 4,5·1014 Joule).
Da in den Gesteinen des Rieskraters keine meteoritischen Spuren des Impaktors nachgewiesen werden konnten, lassen sich keine Aussagen ableiten, um welche Asteroidenart es sich gehandelt hat. Deshalb lassen sich daraus auch keine Aussagen zur Größe des kosmischen Körpers folgern. Neue Iridium-, Rhodium- und Rutheniumhäufigkeitsverhältnisse von Suevit aus der Forschungsbohrung Enkingen deuten jedoch darauf hin, dass der Ries-Impaktor kein Steinmeteorit war. Durch Messung der Ru-Isotopenhäufigkeiten (nukleosynthetischen Ru-Isotopensignatur) des Suevit besteht die Möglichkeit, weitere Hinweise zum Projektil des Ries-Kraters zu erhalten. Modellrechnungen legen nahe, dass ein Steinmeteorit von etwa 1,5 km Durchmesser, von Südwesten kommend, wahrscheinlich im Winkel von 30° bis 50° gegen die Horizontale geneigt mit einer Geschwindigkeit von 20 km/s einschlug. Simulationen mit diesen Parametern konnten die Verteilung der beim Impakt ausgeschleuderten Moldavite recht genau wiedergeben.
== Weitere Krater ==
=== Steinheimer Becken ===
Etwa 40 km südwestlich des Nördlinger Rieses liegt das Steinheimer Becken (48° 41′ 12″ N, 10° 3′ 54″ O), ein weiterer Einschlagkrater, der ebenfalls rund 15 Millionen Jahre alt ist. Die ältere Ansicht war, dass er gleichzeitig mit dem Rieskrater entstanden sei. Dass die beiden benachbarten Krater unabhängig voneinander etwa zur gleichen Zeit entstanden sind, wurde als unwahrscheinlich angesehen. Nach der früheren Vermutung handelte es sich bei den kosmischen Körpern, deren Einschläge die beiden Krater hinterließen, um einen Asteroiden, der von einem deutlich kleineren begleitet wurde. Schon vor dem Eindringen in die Erdatmosphäre dürfte ihr Abstand etwa der heutigen Distanz zwischen dem Ries und dem Steinheimer Becken entsprochen haben.
Abweichend von diesem Szenario legen neuere Untersuchungen, basierend auf verschiedenen stratigraphischen und paläontologischen Analysen, die Vermutung nahe, dass das Steinheimer Becken ungefähr 500.000 Jahre nach dem Ries-Ereignis entstand.Beim Einschlag des etwa 150 m großen Meteoriten, durch den das Steinheimer Becken entstand, wurde nur etwa ein Prozent der Energie freigesetzt, die bei der Entstehung des Rieskraters frei wurde. Etwa zwei Kubikkilometer Gestein wurden bewegt. Es entstand ein Krater mit rund 3,5 km Durchmesser, einer Tiefe von ursprünglich etwa 200 m und einem deutlich ausgeprägten Zentralberg.
=== Krater auf der Fränkischen Alb ===
Bereits 1969 – also wenige Jahre nachdem die Entstehung des Rieskraters und des Steinheimer Beckens durch Meteoriteneinschläge nachgewiesen werden konnte – wurde das etwa 60 km östlich des Rieses gelegene Becken von Pfahldorf bei Kipfenberg (48° 57′ 42″ N, 11° 19′ 54″ O) als weiterer möglicher Meteoritenkrater mit einem Durchmesser von 2,5 km in die Diskussion gebracht. Im Jahr 1971 wurde die 30 km nordöstlich des Rieses gelegene Stopfenheimer Kuppel bei Ellingen (49° 4′ 18″ N, 10° 53′ 24″ O) mit 8 km Durchmesser als möglicher Krater gedeutet. Der Würzburger Geologe Erwin Rutte führte die Entstehung einer Anzahl weiterer rundlicher Strukturen auf der Fränkischen Alb, bis zu 90 km östlich des Rieskraters, auf Einschläge von Meteoriten, die parallel zum Ries-Impakt erfolgten, zurück. Zu den fraglichen Kratern zählen unter anderem die Wipfelsfurt beim Donaudurchbruch Weltenburg (48° 54′ 12″ N, 11° 50′ 36″ O, 850 Meter Durchmesser), eine längliche Senke nahe Sausthal bei Ihrlerstein (48° 58′ 0″ N, 11° 49′ 36″ O, Abmessungen 850 × 620 Meter), das Becken von Mendorf bei Altmannstein (48° 52′ 30″ N, 11° 36′ 6″ O, 2,5 km Durchmesser) und die Rundstruktur von Laaber (49° 4′ 48″ N, 11° 53′ 54″ O, 4,5 km Durchmesser).Die Deutung dieser Strukturen als Impaktkrater ist allerdings umstritten. Eindeutige Beweise für einen Meteoriteneinschlag wie diaplektische Gläser oder Hochdruckminerale (Coesit, Stishovit) konnten bisher nicht erbracht werden. Die aus der Wipfelsfurt beschriebenen Strahlenkegel sind nur undeutlich ausgeprägt, sodass auch ihre Interpretation als Indikator für einen Impakt unsicher ist. So wird die Wipfelsfurt überwiegend als Auswaschung der Donau angesehen, die anderen Rundstrukturen haben ihren Ursprung vermutlich als Doline oder tektonische Geländeform.
=== Meteoriteneinschlag am Bodensee ===
Im Schweizer Alpenvorland um St. Gallen werden Jura-Kalksteinblöcke in jüngeren Gesteinen der Molasse gefunden, deren Herkunft ungewiss ist. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit den Reuterschen Blöcken – Kalksteinbrocken, die bis zu 70 km weit aus dem Ries ausgeschleudert wurden – wurde auch hier die Wirkung eines Meteoriteneinschlags, der möglicherweise gleichzeitig mit dem Ries-Ereignis stattgefunden haben könnte, diskutiert. Gestützt werden diese Überlegungen durch Funde von Strahlenkegeln. Bisher konnte allerdings noch keine entsprechende Kraterstruktur nachgewiesen werden. Möglicherweise erfolgte der Einschlag in lockere Sande der Molasse, sodass sich ein dort entstandener Krater nicht halten konnte, oder der Krater ist vom Bodensee überschwemmt worden. Detaillierte Untersuchungen, etwa durch Forschungsbohrungen, stehen noch aus.
== Siehe auch ==
Tunguska-Ereignis
Liste der Einschlagkrater der Erde
Planetare Verteidigung
== Literatur ==
J. Baier: Geohistorische Bemerkungen zur Suevit-Forschung (Ries-Impakt). Geohistorische Blätter, 31(1/2), Berlin 2020.
J. Baier: 100 Jahre Suevit (Ries Impaktkrater, Deutschland). Aufschluss, 70(3), Heidelberg 2019.
J. Baier: Suevit – der „Schwabenstein“ aus dem Nördlinger Ries. Fossilien, 35(3), Wiebelsheim 2018.
J. Baier: Die Bedeutung von Wasser während der Suevit-Bildung (Ries-Impakt, Deutschland). Jber. Mitt. oberrhein. geol. Ver., N. F. 94, 2012, S. 55–69.
J. Baier: Zur Herkunft und Bedeutung der Ries-Auswurfprodukte für den Impakt-Mechanismus. Jber. Mitt. oberrhein. geol. Ver., N. F. 91, 2009, S. 9–29.
J. Baier: Zur Herkunft der Suevit-Grundmasse des Ries-Impakt Kraters. In: Documenta Naturae. Vol. 172, München 2008, ISBN 978-3-86544-172-0.
Edward C. T. Chao, Rudolf Hüttner, Hermann Schmidt-Kaler: Aufschlüsse im Ries-Meteoriten-Krater. Beschreibung, Fotodokumentation und Interpretation. 4. Auflage. Bayerisches Geologisches Landesamt, München 1992.
Th. Dambeck: Inferno in Deutschlands Urzeit. In: Bild der Wissenschaft, 10/2021
Günther Graup: Carbonate-silicate liquid immiscibility upon impact melting: Ries Crater, Germany. In: Meteorit. Planet. Sci. Vol. 34, Lawrence, Kansas 1999.
G. Graup: Terrestrial chondrules, glass spherules and accretionary lapilli from the suevite, Ries crater, Germany. In: Earth Planet. Sci. Lett. Vol. 55, Amsterdam 1981.
G. Graup: Untersuchungen zur Genese des Suevits im Nördlinger Ries. In: Fortschr. Mineral. Vol. 59, Bh. 1, Stuttgart 1981.
Julius Kavasch: Meteoritenkrater Ries – Ein geologischer Führer. 10. Auflage. Verlag Auer, Donauwörth 1992, ISBN 3-403-00663-8.
Volker J. Sach: Strahlenkalke (Shatter-Cones) aus dem Brockhorizont der Oberen Süßwassermolasse in Oberschwaben (Südwestdeutschland) – Fernauswürflinge des Nördlinger-Ries-Impaktes. Verlag Dr. F. Pfeil, München 2014, ISBN 978-3-89937-175-8.
Volker J. Sach: Ein REUTERscher Block aus dem Staigertobel bei Weingarten – Fernejekta des Nördlinger-Ries-Impaktes im Mittel-Miozän. Oberschwaben Naturnah (Jahresheft 2014). Bad Wurzach 2014, ISSN 1613-8082, S. 32–37 (PDF).
Volker J. Sach, Johannes Baier: Neue Untersuchungen an Strahlenkalken und Shatter-Cones in Sediment- und Kristallingesteinen (Ries-Impakt und Steinheim-Impakt, Deutschland). München 2017, ISBN 978-3-89937-229-8.
== Weblinks ==
Zentrum für Rieskrater- und Impaktforschung Nördlingen (ZERIN) (Memento vom 12. April 2013 im Webarchiv archive.today)
Geopark Ries
Rieskrater-Museum Nördlingen
Meteorkratermuseum Steinheim (Memento vom 12. Mai 2008 im Internet Archive)
Earth Impact Effects Program
Artikel auf SPIEGELONLINE mit fiktiven Bildern zum Ablauf der Ereignisse
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ries-Ereignis
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Rolf Jährling
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= Rolf Jährling =
Rolf Jährling (* 27. Oktober 1913 in Hamburg; † 5. Juli 1991 in Weidingen; vollständiger Name: Rudolf Wolfgang Jährling) war ein deutscher Architekt, Galerist und einer der ersten Förderer der rheinischen Avantgarde. 1949 gründete er in Wuppertal die Galerie Parnass, die mit der Galerie Schmela und der Galerie 22 in Düsseldorf sowie der Galerie Der Spiegel in Köln zu den wagemutigsten Galerien im Nachkriegsdeutschland zählte und in der Anfangszeit eng mit den Künstlerbewegungen Informel verbunden war.
Die Galerie Parnass auf der Moltkestraße 67 in Wuppertal-Elberfeld, Sitz der Galerie von 1961 bis 1965, war Ort der ersten Happening- und Fluxus-Veranstaltungen auf deutschem Boden. Sie schrieb mit ihren spektakulären Medienkunst-Ereignissen und Ausstellungen während der beginnenden 1960er Jahre internationale Kunstgeschichte. In Nam June Paiks Einzelausstellung Exposition of Music – Electronic Television wurden 1963 die ersten Video-Objekte gezeigt, und beim 24-Stunden-Happening von 1965 erregten die Auftritte der nur mit einer durchsichtigen Cellophanfolie bekleideten Paik-Muse und Fluxus-Cellistin Charlotte Moorman großes Aufsehen.
== Leben und Wirken ==
=== Vom Architekten zum Galeristen ===
Rudolf Jährling wurde als Sohn des Lehrers Bruno Ferdinand Jährling in Hamburg geboren. Schon während seiner Schulzeit bewunderte er Walter Gropius und Le Corbusier. Nach dem Besuch der Realschule in Hamburg machte er 1933 sein Abitur an der Dürerschule in Dresden. Von 1933 bis 1935 studierte Jährling Architektur an der Technischen Hochschule Dresden, von 1935 bis 1936 an der Technischen Hochschule in Stuttgart und von 1936 bis 1939 bei Heinrich Tessenow, einem Lehrer von Albert Speer, an der Technischen Hochschule in Berlin, wo er den Abschluss als Diplom-Ingenieur erwarb. 1937 besuchte er zunächst die Weltausstellung in Paris, wo er zum ersten Mal ein Bild von Pablo Picasso – das für den spanischen Pavillon gemalte Bild Guernica – sowie Werke von Joan Miró sah. Der Besuch der nationalsozialistischen Propaganda-Ausstellung Entartete Kunst in München im selben Jahr brachte ihn noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit der modernen Kunst in Berührung. 1939 war er in Berlin als Architekt mit dem Bau der Reichsautobahn beschäftigt, wurde 1941 als Pionier in die Armee einberufen und war in Russland und Südfrankreich im Einsatz. 1944 geriet er in Frankreich in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 entlassen wurde.
=== Galerie Parnass 1949–1965 ===
Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft zog Rolf Jährling im September 1946 nach Wuppertal und ließ sich dort als Architekt nieder. Das Interesse an der modernen Kunst hatte er dem 1902 in Berlin geborenen Architekten Heinz Rasch, einem Mitarbeiter von Kurt Herberts, zu verdanken, der 1945 am Döppersberg 24 das „Studio für Neue Kunst“ eingerichtet hatte, wo bis 1953 rund 120 Einzelausstellungen lebender Künstler und Architekten gezeigt wurden. Die erste Nachkriegsweihnacht verbrachte Jährling mit dem Architekten und Maler Franz Krause in einem möblierten Zimmer eines dreistöckigen Hauses. Ein Freund, der Attaché an der Botschaft in Athen war, taufte sein Zimmer „Parnass drei Stockwerke hoch“, womit der Name seiner Galerie, der aber auch einen Bezug zum Pariser Montparnasse hat, geboren wurde.Im Januar 1949 gründete Jährling in seinem Architekturbüro In der Aue 30 a unter dem Dach eines halbzerstörten Lagerhauses die Galerie Parnass, deren Spektrum von Architektur, Plastik, Bühnenkunst, Fotografie bis hin zu Vorträgen, Diskussionen, Happenings und Musikvorführungen reichte. und setze sich für Künstlerinnen wie Helen Ashbee, Elfriede Luthe, Paula Modersohn-Becker, Claire Falkenstein, Lil Picard und Nele ein. 1950 zog die Galerie in das von Rolf Jährling erbaute Geschäftshaus an der Alten Freiheit 16–18 um. Das wohl erste Penthouse in Deutschland bot neben einem lichtdurchfluteten Ausstellungs- und Arbeitsraum im obersten Stockwerk eine promenadenartige Dachterrasse und eine eingebaute Studiobühne für verschiedene Inszenierungen. Im April 1950 wurde hier Jean-Paul Sartres Huit Clos (Geschlossene Gesellschaft) in der Regie von Paul Pörtner und im Februar 1952 Jean Cocteaus La voix humaine (Geliebte Stimme) aufgeführt. An der Alten Freiheit lernte Jährling 1954 seine spätere Frau Anneliese (geb. Schu, 1923–2010) kennen, eine promovierte Zahnärztin, die als Besucherin in seine Galerie kam. 1958 eröffnete er Galerieräume an der Gathe 83, zog 1959 mit der Galerie in die Morianstraße 14 und übernahm, als der Sammler Klaus Gebhard 1961 von Wuppertal nach München zog, dessen Villa Moltkestraße 67, wo er seine Galerie bis 1965 weiterführte.
==== Erste Ausstellungen 1949–1956 ====
Bei den ersten Ausstellungen stellte Rudolf Jährling, anfangs im Rahmen von Salonausstellungen, Werke von Künstlern der Klassische Moderne aus, darunter August Macke, Ernst Ludwig Kirchner, Gerhard Marcks, Oskar Schlemmer, Jean Cocteau, Paul Klee, Max Beckmann, Otto Dix und Lovis Corinth, gefolgt von Bildhauern und Malern seiner Generation. Das Ausstellungsprogramm zeigte abstrakte Kunst, insbesondere des Tachismus, der französischen École de Paris und des deutschen Informel. Wichtige Vertreter wie Francis Bott, Peter Brüning, Rolf Cavael, Karl Fred Dahmen, Hans Hartung, Gerhard Hoehme, Heinz Kreutz, André Lanskoy, Bernard Schultze, Emil Schumacher, Jaroslaw Serpan, Heinz Trökes, François Willi Wendt und WOLS sowie der Bildhauer Norbert Kricke stellten ab 1951 in der Galerie Parnass aus. Die Ausstellungen wurden stets von namhaften Kunstkritikern und -theoretikern eröffnet, darunter Pierre Restany, Franz Roh, Albert Schulze-Vellinghausen, John Anthony Thwaites, Eduard Trier oder der Düsseldorfer Galerist Jean-Pierre Wilhelm. 1951 fand in der Galerie Parnass die erste Le-Corbusier-Ausstellung in Deutschland statt und im darauf folgenden Jahr widmete Jährling dem Architekten Ludwig Mies van der Rohe eine Architektur-Ausstellung.1952 reiste Jährling nach Paris, um den Kunsthändler Aimé Maeght, dessen Galerie den Künstler Alexander Calder vertrat, zu treffen und ihm über seine Pläne für eine Ausstellung mit Werken Calders, dessen „Mobiles“ er aus einem alten Life-Magazin während seiner Kriegsgefangenschaft kennengelernt hatte, zu unterrichten. Maeght, gar nicht begeistert, fragte den ihm unbekannten Wuppertaler Galeristen, wie viel Geld er denn für die Ausstellung hinterlegen wolle, woraufhin Jährling ihm sagte, dass er kein Geld zur Verfügung habe, und Maeght daraufhin antwortete, dass dann daraus wohl nichts werden würde. Calder, der davon hörte, machte einen Riesenkrach und sorgte dafür, dass Jährling 16 „Mobiles“ aus Paris bekam, infolgedessen Rolf Jährling am 5. Juni 1952 die erste Einzelausstellung von Alexander Calder in Deutschland in den Räumen der Galerie Parnass eröffnen konnte. Ein Jahr später lernten sie sich bei den Darmstädter Gesprächen persönlich kennen, und Calder bat ihn, nach Roxbury in die USA, wo Calder mit Familie lebte, zu kommen. Das drei Monate dauernde Reiseprogramm wurde von Calder zusammengestellt, das Jährling unter anderem nutzte, um die US-amerikanische Architektur zu besichtigen.Mit der Hilfe von Wilhelm, der die Galerie 22 leitete, fand 1956 die Ausstellung Poème Objet statt. Sie enthielt Werke von etwa fünfzig Künstlern aus Deutschland und Frankreich. Diese Ausstellung der Galerie Parnass wurde zum ersten Brückenschlag von den der informellen Kunst zugrundeliegenden, abstrakten und surrealistischen Wurzeln, von Künstlern wie Hans Arp, Max Ernst und Raoul Ubac bis hin zur zeitgenössischen Avantgarde wie Peter Brüning, Albert Fürst, Winfred Gaul, Karl Otto Götz und Gerhard Hoehme.
==== Kleines Sommerfest – Après John Cage 1962 ====
Die stattliche Jugendstil-Villa des Sammlers Klaus Gebhard in der Moltkestraße 67 in Wuppertal-Elberfeld, die Rolf und Anneliese Jährling im Dezember 1961 bezogen, bot Platz für das Architekturbüro, die Galerie und eine Privatwohnung. Vermieter war der damalige Oberbürgermeister Heinz Frowein, der im Haus nebenan wohnte. Mit ihren geräumigen Zimmern vom Keller bis zum Speicher bildete die Villa den Ort für die ersten Prä-Fluxus-Veranstaltungen in Deutschland. Anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung von verschiedenen Bildhauern und Malern wurde am 9. Juni 1962 das Kleine Sommerfest – Après John Cage eröffnet, das zum Beginn für weitere Fluxus-Aktionen in der Galerie Parnass wurde.Die Idee zu diesem Sommerfest ging auf Jean Pierre Wilhelm von der Düsseldorfer Galerie 22 und Nam June Paik zurück, den Jährling ein Jahr zuvor bei Mary Bauermeister und Karlheinz Stockhausen in Köln kennengelernt hatte, wo Paik an dem Musiktheater Originale von Stockhausen mitwirkte. Etwa 100 Gäste nahmen teil. Aufgeführt wurden Konzert-Stücke von George Maciunas und Benjamin Patterson, zu denen Carlheinz Caspari, Jed Curtis, George Maciunas, Nam June Paik und Benjamin Patterson als Akteure auftraten. Auf den Treppenstufen der Eingangshalle der Villa waren ein Notenpult, Papierröhren, Kinderflöten und ein Kontrabass aufgebaut. Patterson spielte zum Beispiel das Stück Variationen für Kontrabass, indem er – so die Schilderung eines anwesenden Zeitungsreporters 1962 – „mit einem Bogen streicht, mit zwei Bogen streicht, ein Abschleppseil unter den Saiten durchzieht, mit Messer und Gabel, mit Hammer und Blechfolie Geräusche zustande bringt, dabei auch mal das Instrument auf den Kopf, mal sich am Boden neben das Instrument legt“, wobei Caspari, Regisseur am Theater am Dom, den Text Neo-Dada in den Vereinigten Staaten von Maciunas verlas, der als Vorab-Manifest von Fluxus gilt. Unter den Fluxus-Veranstaltungen nimmt dieses Konzert eine Schlüsselposition ein, da es der erste öffentliche Auftritt des amerikanischen Fluxus-Gründers George Maciunas in Deutschland war.
==== Exposition of Music – Electronic Television 1963 ====
Im März 1963 fand eine zweite Einzelausstellung in der Galerie Parnass statt, die Jährling dem südkoreanischen Künstler Nam June Paik angeboten hatte. Paik nahm sich zu deren Vorbereitung ein ganzes Jahr Zeit, um zwei Pianos sorgfältig zu präparieren. Die Ausstellung, seine erste eigene, lief unter dem Titel Exposition of Music – Electronic Television. In der Eingangstür der Villa hing ein an Kordeln aufgehängter abgehackter Ochsenkopf, der am Morgen blutfrisch vom Schlachthof angeliefert worden war und laut Paik als Teil eines schamanistischen Rituals zu verstehen gewesen sei, das der Besucher der Ausstellung zu durchlaufen habe. In der Eingangshalle standen vier mit verschiedenen Gebrauchsgegenständen und Stacheldraht präparierte Klaviere, von denen eines – ein Ibach-Piano – völlig unerwartet und überraschend für die Organisatoren und die Besucher der Ausstellung, in einer Piano-Aktion von Joseph Beuys, der, „gekleidet wie ein Pianist in dunkelgraues Flanell, schwarze Fliege und ohne Hut“, mit einer Axt und einem Paar Schuhe am Eröffnungsabend zertrümmert und traktiert worden war.In der Toilette hing ein umgekehrter Gipskopf, in der Badewanne des Badezimmers lag mit dem Kopf unter Wasser eine Schaufensterpuppe, und in der Diele luden Schallplatten-Schaschliks, Spieße, an denen verschiedene Schallplatten gleichzeitig abgespielt werden konnten, zu musikalischen Experimenten ein, währenddessen „im Heizungskeller blecherne Klangobjekte zu akustischem / interaktivem Handeln aufforderten.“ In einem Fernsehraum befanden sich dreizehn von Paik manipulierte Fernseher, die verzerrte Bilder, Raster oder Striche wiedergaben. Beuys erkannte als einer der ersten diese Ausstellung, die in der heutigen kunsthistorischen Forschung als Geburtsstunde der Videokunst gilt, als einen wichtigen Meilenstein für die Kunst und schrieb in einem Brief an Jährling, datiert vom 18. Mai 1963, dass er die „wunderbare Paiksache […] für eine historische Tat halte und wofür“ [er Jährling] „nochmals“ [seinen] „allergrößten Respekt zum Ausdruck bringen möchte.“
==== 9-Nein-Décollagen 1963 ====
Mit Wolf Vostell, der um 1962 regelmäßig die Ausstellungseröffnungen der Galerie Parnass besuchte, verabredete Rolf Jährling eine Ausstellung seiner Décollagen. Geplant wurde die Ausstellungseröffnung für den 14. September 1963, dabei sollte ein sechsstündiges Happening mit dem Titel 9-Nein-Décollagen stattfinden. Vostell plante, das Happening in Form einer vierstündigen Busreise zu neun verschiedenen Orten in Wuppertal zu veranstalten, und sah einen Einsatz von Polizeibeamten vor, um den vorgesehenen Aufprall zweier Dampflokomotiven auf einen Mercedes-Benz abzusichern.Zu diesem Vorhaben musste Rolf Jährling seine Kontakte zur Stadt Wuppertal einsetzen und schrieb einen Brief an seinen Rotary-Freund Friedrich Laemmerhold, den Präsidenten der Bundesbahndirektion Wuppertal, der das Happening auf einem stillgelegten Gelände der Deutschen Bundesbahn genehmigte. Da Vostell vorsah, dass alle Kreuzungen nur bei Rotlicht zu überqueren seien, setzte sich Wuppertals Oberbürgermeister Heinz Frowein für eine Begleitung der Bustour durch eine Polizeieskorte ein. Zudem wurden die Teilnehmer des Happenings – die Gäste – in dem Fabrikgebäude einer Weberei in einen spärlich beleuchteten Gitterkäfig gesperrt, ein künstlicher „Wachhund“ simulierte eine bedrohliche Lebenslage. Die Vostell-Ausstellung mit 71 Werken wurde, nachdem die erschöpften Gäste aus ihren Bussen ausgestiegen waren, um 22 Uhr eröffnet. Vostell, der seine Idee der Décollage zur Erinnerung an Auschwitz einsetzte, zeigte unter anderem erstmals seine Installation Zyklus Das schwarze Zimmer aus dem Jahr 1958, einen stockfinsteren Raum, in dem drei seiner Décollage-Assemblagen auf Sockeln platziert waren. Die einzigen Lichtquellen lieferten der am Fuß von Auschwitz-Scheinwerfer 568 angebrachte Scheinwerfer, ein Relikt aus ebendiesem Todeslager, sowie der in Deutscher Ausblick integrierte Fernseher. Treblinka, die dritte Assemblage, zeigte unter anderem einen Teil eines Motorrads, ein Transistorradio und einen Film, der in einer ausgeschlachteten Kamera gefunden worden war.
==== Vorgartenausstellung 1964 ====
Anfang 1964 fragte die Gruppe Kapitalistischer Realismus Jährling, „ob sie mal ihre Sachen zeigen könnten.“ Sie konnten, und wenig später standen die Mitglieder mit einem kleinen Lieferwagen mit Persenning vor der Haustür. Konrad Fischer-Lueg, Gerhard Richter, Sigmar Polke und Manfred Kuttner, damals noch Studenten an der Düsseldorfer Kunstakademie, hatten ihre teils großformatigen Arbeiten an die Hauswand und an die Bäume und Büsche des verschneiten Vorgartens gelehnt.Ihre eigentliche Ausstellung, unter dem Titel Neue Realisten, erhielten Gerhard Richter, Sigmar Polke und Konrad Lueg, jedoch ohne die Beteiligung von Manfred Kuttner, am 20. November 1964. Die Ausstellung umfasste großformatige Arbeiten wie den Bomber und den Hirsch von Richter, den Tennisspieler von Polke und den Fußballspieler von Konrad Lueg. Richters Arbeit Helen, als Diptychon konzipiert, wurde in einer Fassung gezeigt. Während der Ausstellung erhielt Gerhard Richter einen Auftrag der Sammlerin Fänn Schniewind, ihren Mann zu porträtieren.
==== 24-Stunden-Happening 1965 ====
Am 5. Juni 1965 fand, zu einer ungewöhnlichen Tageszeit, das um 0 Uhr beginnende und um 24 Uhr endende sogenannte 24-Stunden-Happening statt und übertraf an Intensität alle bisherigen Ereignisse der Galerie Parnass. Die Künstler Joseph Beuys, Bazon Brock, Charlotte Moorman, Nam June Paik, Eckart Rahn, Tomas Schmit und Wolf Vostell verteilten sich in die verschiedenen Räume der Villa, deren Grundriss auf dem Veranstaltungsplakat zu sehen ist – überall fanden verschiedene Aktionen statt.Wolf Vostells Aktion mit dem Titel Die Folgen der Notstandsgesetze bestand darin, dass er auf dem Boden lag und Stecknadeln in die neben ihm verteilt liegenden rohen Fleischstücke und Innereien steckte. Dann setzte er sich mit einer Gasmaske bekleidet in einen Glaskasten mit zerstäubtem Mehl und einem Staubsauger. In einem Käfiggestell aus Holzlatten saßen Studenten der Werkkunstschule Wuppertal, die mit Fleischstücken drapiert waren und an Fleischstücken kauten.
Joseph Beuys führte, als Einziger über die gesamte Länge von 24 Stunden, seine Aktion mit dem Titel und in uns … unter uns … landunter in einem etwa vierzig Quadratmeter großen Raum, „Atelier“ genannt, aus, wobei er mit minimalen Bewegungen auf einer Apfelsinenkiste, die mit einem weißen Wachstuch überzogen war, hockte oder lag. Zuweilen streckte er sich, ohne die Kiste zu verlassen, nach Objekten aus – unter anderem einem Tonbandgerät, Plattenspieler, Lautsprecher, einer Zinkkiste mit Fett, einem Wecker, zwei Stoppuhren und den kleinen Boxhandschuhen des Sohnes –, die zum Teil außerhalb seiner Reichweite lagen. Immer wieder hielt er seinen Kopf in einer Schwebesituation knapp über einen Fettkeil oder ließ seine Füße knapp über dem Boden schweben und nahm sporadisch einen der beiden von ihm hergestellten zweistieligen Spaten – Gemeinschaftsspaten –, die jeweils in ein Brett gerammt waren, und hielt diesen vor seine Weste.Bazon Brock, der Literat unter den Aktionisten, stellte unter anderem Alltagsgegenstände, die er im Haushalt der Jährlings gesammelt hatte, als Spuren des Lebens aus und stand kopf vor einer langsam rotierenden Scheibe, hinter der sich eine weitere, feststehende Scheibe befand, in deren Fenster alle 15 Minuten ein neuer Buchstabe erschien und wieder verschwand. Nach Ablauf der 24 Stunden bildeten die Buchstaben den Text „Nach experimentellen Ergebnissen tötet ein Gramm Kobragift 83 Hunde, 715 Ratten, 330 Kaninchen oder 134 Menschen“.Eckart Rahn musizierte mit Lautsprecher, Mikrofon, monoton gespielter Blockflöte und Kontrabass eine Art Geräuschmusik, und Thomas Schmit hatte in seiner Aktion ohne Publikum 24 Eimer im Kreis aufgestellt und beschäftigte sich damit, das vorhandene Wasser eines Wassereimers so lange umzuschütten, bis das vorhandene Wasser verschwunden war. Die Aktion wurde unterbrochen, sobald Publikum den Raum betrat.
Größtes Aufsehen erzeugte das Konzert von Nam June Paik und Charlotte Moorman, die Stücke von John Cage, Morton Feldman, La Monte Young und Ludwig van Beethoven spielten. Moorman, die nur mit einem transparenten Cellophankleid bekleidet war und Cello spielte, tauchte ab und an in ein Wasserbad, um klatschnass weiterzuspielen, zerstörte einen Spiegel und strich wie in Trance über ihr Cello, um es im nächsten Moment zu traktieren. Nam June Paik schien währenddessen auf den Tasten seines Klaviers eingeschlafen zu sein. Am nächsten Morgen erlebte sein ferngesteuerter Roboter K-456, eine mannshohe Figur aus Holz und Draht mit weiblichen Merkmalen, auf der Moltkestraße in Robot Opera seinen ersten öffentlichen Auftritt in Europa. Er konnte sprechen, sich fortbewegen, den Kopf schütteln, seine Arme und Hände getrennt und – was Paik besonders wichtig war – seine Brüste einzeln bewegen, sogar verdauen, indem er Bohnen ausschied. Als erster nicht-menschlicher Aktionskünstler sollte er bei allen zukünftigen Straßenaktionen eingesetzt werden.Am folgenden Tag erschienen Eva und Joseph Beuys, um Rolf und Anneliese Jährling beim Aufräumen der Villa behilflich zu sein. Wolf Vostells Fleischstücke und Innereien, die im Garten herumlagen, wurden vergraben, und Stella Baum gab Jacutin-Fogetten mit, ein Räuchermittel gegen Vorratsschädlinge sowie sonstiges Ungeziefer wie Wanzen und Fliegen in Räumen.Da Rolf und Anneliese Jährling 1965 beschlossen hatten, mit einem VW-Bus durch Afrika zu reisen, verabschiedeten sie sich mit einem letzten rauschenden Fest und der Ankündigung, in Kenia ein Architekturbüro mit angeschlossener Galerie für europäisch-afrikanischen Kunstaustausch eröffnen zu wollen. Die seit 1949 bestehende Galerie Parnass löste Jährling, nach nunmehr fast 17 Jahren Galerietätigkeit, im September 1965 auf.
==== Publikation „24 Stunden“ ====
Der Galerist Rolf Jährling und Ute Klophaus, die das 24-Stunden-Happening fotografisch dokumentierte, wurden im Anschluss an dieses Happening von den Akteuren zu Mitautoren und Aktionsteilnehmern erklärt. Noch im selben Jahr erschien im Verlag Hansen & Hansen, Itzehoe-Vosskate, das von der Verlegerin Margot Hansen publizierte Buchobjekt 24 Stunden. Es enthält, teilweise auf zwei eingebundenen Leporellos, Fotografien von Ute Klophaus, Aufzeichnungen und Texte der Akteure, wie Das Mittelwort von Rolf Jährling, Charlotte Moormans cello, den Energieplan von Joseph Beuys und Pensée 1965 von Nam June Paik, der darin über Kybernetik und Drogen räsoniert sowie den Sieg der konzeptionellen Kunst über die populäre Massenkunst prophezeit. Bazon Brocks längerer Text über 24 Stunden Wuppertal 5. 6. 65 protokolliert Ereignisse und Empfindungen während der Aktion und bemerkt angesichts der Aufmerksamkeit: „bei Vostell 5 Leute, bei Beuys alle, bei mir keiner.“ Ferner schildert er, wie um die Mittagszeit „bis 13 Uhr“ „Wenzel“, der Sohn von Joseph Beuys, „so sichtbar als einziger“ sich seiner „erzählten Geschichte“ ausliefert. Zudem enthält das Buchobjekt über mehrere Seiten hinweg eine quadratische Ausstanzung im hinteren Teil, in dem ein mit Mehl gefülltes Plastiksäckchen von Wolf Vostell eingeklemmt ist. Entfernt man das Säckchen, so erscheint im nun freien Fenster der Zusatz: „beschäftigen/ sie sich/ 24 stunden/ mit mehl“.
=== Afrika und die letzten Jahre ===
Nachdem Rolf und Anneliese Jährling von 1965 bis 1966 zwölf afrikanische Länder in einem VW-Bus durchreist hatten, arbeitete Jährling in den Jahren 1968 bis 1974 in Addis Abeba als Architekt und „Planning Adviser“ bei der Wirtschaftskommission für Afrika für die Vereinten Nationen. Während dieser Zeit trug er gezielt äthiopische Volksmalerei zusammen. Er kaufte die Werke bei Händlern auf den Märkten, ohne dass es ihm in den meisten Fällen gelang, direkt mit den Künstlern in Kontakt zu treten. Arbeiten aus der Afrika-Sammlung Jährling waren 1979 auf der Ausstellung Moderne Kunst aus Afrika zu sehen, die aus Anlass des Festivals Horizonte – Festival der Weltkulturen bei den Berliner Festspielen erstmals Werke von Künstlern wie Cheri Samba, Twin Seven Seven und anderen zeigte. Der Einband des Romans Die dreizehnte Sonne von Daniachew Worku, erschienen 1981 bei Philipp Reclam jun. in Leipzig, wurde unter Verwendung des Gemäldes Leben und Arbeiten auf dem Lande von Tilahun Mammo aus der Sammlung Jährling gestaltet.
In der gleichen Zeit begann Anneliese Jährling, die durch ihren Mann zur modernen Kunst gekommen war, in Addis Abeba in Häkeltechnik textile Skulpturen verschiedener Größe herzustellen. Im Dezember 1970 widmete das Goethe-Institut in Addis Abeba in seinem Gebäude den Häkelarbeiten eine erste Ausstellung unter dem Titel Tänzer. Die gedruckten Kataloge wurden sämtlich von Anneliese Jährling zugehäkelt.Nach seiner Rückkehr aus Addis Abeba im Jahre 1975 lebte Rolf Jährling bis zu seinem Tod 1991 zurückgezogen, jedoch mit wachem Interesse für die Kunst, in Weidingen in der Eifel. Anneliese Jährling zog nach dem Tod ihres Ehemanns zu ihrer Familie nach Köln, wo sie am 1. Juni 2010 verstarb. Seit 1994 befindet sich das Archiv der Galerie Parnass in den Beständen des Zentralarchivs des internationalen Kunsthandels.
== Sammlung Rolf und Anneliese Jährling ==
Mit dem Jahr der Gründung der Galerie Parnass im Jahre 1949 begann auch die Sammlungstätigkeit Rolf Jährlings. Gemeinsam mit seiner Frau Anneliese Jährling wurden Werke von Alexander Calder, Emil Schumacher, Bernard Schultze, Heinz Trökes, Gerhard Hoehme, Peter Brüning, Heinz Kreutz, Raoul Ubac, Wolf Vostell und anderen erworben. Große Teile der Sammlung befinden sich heute im Von der Heydt-Museum in Wuppertal, so das Mobile/Stabile von Calder aus dem Jahr 1952, Schumachers Lichtes Feld von 1955, Schulzes In Memoriam Altdorfer, um 1949 entstanden, die Kleine Hymne an Blau von Hoehme aus dem Jahr 1956, ein Kruzifix von 1946 von Ubac oder Vostells Cobaleleda von 1958. Zudem sammelte das Paar Werke von Werner Schriefers, Johannes Geccelli und Hans Platschek. Die Afrika-Sammlung Jährling, die nach 1965 zusammengetragen wurde, enthielt Werke afrikanischer, vornehmlich äthiopischer Volkskunst.
== Rezeption ==
Am 31. Mai 1982 fand die Ausstellung „Treffpunkt Parnass Wuppertal 1949–1965“ im Kunst- und Museumsverein Wuppertal im Von der Heydt-Museum statt. Sie war konzipiert als Hommage an die Arbeit der Galerie Parnass; zur Eröffnung erschienen neben vielen Besuchern einige Wegbegleiter, darunter Bazon Brock, Joseph Beuys und Nam June Paik, die schon beim 24-Stunden-Happening dabei gewesen waren.Im Frühjahr 2009 wiederholte das Von der Heydt-Museum seine Reminiszenz an die Galerie Parnass und würdigte die entscheidenden Impulse der Galerie für die Nachkriegszeit sowie das Engagement von Privatsammlern in der Ausstellung „Privat – Wuppertaler Sammler der Gegenwart“. Ausgestellt waren Werke aus der Sammlung von Rolf und Anneliese Jährling, hinzu kamen die Sammlungen von Stella und Gustav Adolf Baum, die Sammlungen von Jürgen und Hildegard Holze, Bazon Brock sowie von Hans-Georg Lobeck und Christian Boros.
== Werk ==
Editionen
Micro-Macro. acht Novographien von Heinz Trökes zu Dichtungen von Alain Bouquet, Galerie Edition Parnass, Wuppertal 1957
André Frénaud: Die Herberge Im Heiligtum und andere Gedichte, (deutsch von Paul Pörtner), Galerie Parnass, Wuppertal 1959
Will Grohmann: Alcopley – Voies et Traces No. 5, Galerie Panass, Wuppertal 1961
Armin Sandig: landstriche & seestücke. oder wie die natur mich nachahmt Fünf Radierungen mit einem Vorwort von Will Grohmann, Galerie Panass, Wuppertal 1962
Franz Roh: Metamorphosen. Gegenständliche Collagen. Katalog, Galerie Parnass, Wuppertal 1963Wohnbauten
1949: Alte Freiheit 16–18, Wuppertal-Elberfeld; Geschäftshaus mit Penthouse, Sitz der Galerie Parnass von 1950 bis 1958
1953/54: Obere Lichtenplatzer Straße 263, Wuppertal-Lichtenplatz; Auftraggeber: Oberbürgermeister Hans Bremme
1957: Spessartweg 25, Wuppertal-Küllenhahn; Auftraggeber: Vereinigte Glanzstoff-Fabriken
1958: Funckstraße 13, Wuppertal-Brill; Erdgeschoßumgestaltung der 1891/92 von Heinrich Plange erbauten Villa Wolff
1960: Wittelsbacherstraße 31 a, Wuppertal-Lichtenplatz; Wohnhaus mit Garage, Auftraggeber: Vereinigte Glanzstoff-FabrikenIndustriebauten und Bürohäuser
1958: Hatzfelder Straße 165, Wuppertal-Hatzfeld; Bürohaus, Auftraggeber: Ernst Pott, Maschinenfabrik
1960/61: Giebel 30, Beckamp Brotfabrik, Wuppertal-Varresbeck; mit Bürohaus, Werkstätten, Wohnhaus für Gastarbeiter
1962: Kolk 29, Autohaus Albert Zeisler, Wuppertal-Vohwinkel; mit 36 Meter Schaufensterfront
== Literatur ==
24 Stunden. Beuys, Brock, Jährling, Klophaus, Moorman, Paik, Rahn, Schmit, Vostell. Hansen & Hansen, Itzehoe-Voßkate, 1965.
Helga Behn: Herzlich, Ihr Max. Künstlerpost aus den Beständen des ZADIK. Verlag für moderne Kunst Nürnberg, Hrsg. Zentralarchiv des Internationalen Kunsthandels e. V. ZADIK, Köln 2010, ISBN 978-3-86984-137-3
Bogomir Ecker, Annette Tietenberg (Hrsg.): »24 STUNDEN« in Fotografien von Bodo Niederprüm, Wunderhorn, Heidelberg 2016, ISBN 978-3-88423-538-6
Gerhard Finckh, Antje Birthälmer (Hrsg.): »Privat«. Wuppertaler Sammler der Gegenwart im Von der Heydt-Museum. Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2009, ISBN 978-3-89202-073-8
Ruth Meyer-Kahrweg: Architekten, Bauingenieure, Baumeister, Bauträger und ihre Bauten im Wuppertal. Pies, Sprockhövel 2003, ISBN 3-928441-52-3
Sabine Schütz: Interview mit Rolf Jährling. In: Hans M. Schmidt, Klaus Honnef: Aus den Trümmern: Kunst und Kultur im Rheinland und Westfalen 1945–1952. Rheinland-Verlag, Köln 1985, ISBN 978-3-7927-0871-2, S. 505
Das Theater ist auf der Straße. Die Happenings von Wolf Vostell. Katalog des Museums Morsbroich, Leverkusen zur Ausstellung 2010. Kerber, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-86678-431-4
Alfons W. Biermann: Treffpunkt Parnass Wuppertal, 1949–1965, Ausgabe 11 der Schriften des Rheinischen Museumsamtes, Rheinland-Verlag, 1980
== Weblinks ==
Rolf Jährling bei Kunstaspekte
Brigitte Jacobs van Renswou: Rendez-vous auf dem Parnass (Memento vom 29. Oktober 2013 im Internet Archive), Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels e. V.
Frank Becker, Andreas Rehnolt: Mit Parnass fing alles an …, Musenblätter März 2009
== Einzelnachweise ==
== Abbildungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_J%C3%A4hrling
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Burg Ronneburg
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= Burg Ronneburg =
Die Burg Ronneburg bei Altwiedermus, einem Ortsteil der Gemeinde Ronneburg im Main-Kinzig-Kreis in Hessen, ist durch ihre Lage als Höhenburg auf einem steilen Basaltkegel weithin sichtbar und Namensgeberin des Ronneburger Hügellandes.
Ursprünglich wohl im 13. Jahrhundert als mainzische Burg zur Sicherung des Territoriums gegründet, gelangte sie 1476 in ysenburgischen Besitz. Ihre größte Bedeutung erlangte sie als Residenz der Nebenlinie Ysenburg-Büdingen-Ronneburg im 16. Jahrhundert. Die Burg weist deshalb eine sehr bedeutsame Architektur der Renaissance auf, darunter den markanten Kuppelhelm des Bergfrieds, den Zinzendorfbau und die Neue Kemenate. Im Dreißigjährigen Krieg brannte die Kernburg zunächst weitgehend aus, einige Jahre später wurde die Ronneburg geplündert. In der Folgezeit verlor sie ihre Funktion als Wehranlage und Adelssitz und diente als Zufluchtsort für gesellschaftliche Randgruppen wie die Herrnhuter Brüdergemeine. Ihre Bedeutung als Denkmal wurde um 1900 erkannt. Die gute Erhaltung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Burggebäude macht sie seitdem zu einem bekannten Ausflugsziel der Region.
== Lage ==
Die Ronneburg liegt knapp östlich des Zentrums des Naturraumes Ronneburger Hügelland, der nach ihr benannt ist. Charakteristisch ist eine flachwellige Landschaft zwischen Wetterau und Büdinger Wald, die zum nordöstlich gelegenen Vogelsberg leicht ansteigt. Die Burganlage nimmt als Höhenburg den Gipfel eines markanten Basaltkegels (ca. 237 m ü. NHN) oberhalb des Fallbachtales (ca. 160 m ü. NHN) ein. In der Tallage südwestlich der Burg schließt sich fruchtbares Ackerland an, während die östlich gelegene Höhe (Am Steinkopf, 269 m ü. NHN) die Ronneburg überragt und bewaldet ist. Durch das Tal verlaufen bedeutende Altstraßen, besonders die Hohe Straße oder Reffenstraße, zu deren Überwachung die Burg genutzt wurde.
== Geschichte der Burg ==
=== Gründung als kurmainzische Burg ===
Als Ersterwähnung der Burg gilt eine Urkunde des Jahres 1231 oder 1258, in der sich ein Burgmann der Familie von Rüdigheim nach der Burg „de Roneburg“ nennt. Die Wehranlage dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit älter sein. Sie wurde möglicherweise durch die Herren von Büdingen (Gerlach I. oder Gerlach II.) zur Sicherung der umliegenden Gerichtsbezirke, des Büdinger Waldes und der vorbeiführenden Handelsstraßen erbaut, möglicherweise in der Zeit des „staufischen Endkampfes“ in der Wetterau vor dem Tod Konrads IV. Der frühere Name „Raneberg“ oder auch „Roneberg“ leitet sich vermutlich von dem althochdeutschen Wort Rone ab, was so viel wie umgefallener Baum bedeutet und auf eine viel ältere mit Palisaden befestigte Anlage hindeutet. Die ältesten bekannten Bauteile der heutigen Kernburg gehören jedoch erst in das zweite Viertel des 14. Jahrhunderts.Vieles spricht dafür, dass es sich ursprünglich um eine Territorialburg des Erzbistums Mainz handelte: Die Ronneburg lag im mainzischen Gericht Langendiebach und sicherte dieses sowie die Waldgebiete unter kurmainzischer Kontrolle an der unteren Kinzig (auch Gelnhausen befand sich bis 1170, die Bulau bis 1277 in Mainzer Besitz). Nach dem Aussterben der Büdinger (vor 1247) fiel die Ronneburg zunächst nicht an deren Haupterben, die Grafen von Ysenburg, sondern sie befand sich bei der Ersterwähnung im Besitz der Familie von Hohenlohe. Gottfried III. von Hohenlohe-Brauneck verkaufte sie 1313 an das Erzbistum Mainz.Das Bistum verpfändete die Burg ab 1327 an die Ritter von Rockenberg, die sie erweiterten. 1339 bis 1356 war die Anlage wieder unter der Verwaltung des Erzbistums. 1356 wurde die stark ausgebaute Burg erneut verpfändet, und zwar an die Herren von Cronberg: Hartmut VI. und Frank VIII. von Cronberg, die dem Erzbischof Gerlach von Nassau auch vorher immer wieder mit Geld ausgeholfen hatten, erhielten die Burg als Pfand für 18 000 kleine Goldgulden. Die Cronberger blieben bis 1407 auf Ronneburg. In dieser Zeit entstanden weitere An- und Umbauten (Kapellenerker des Saalbaus). Ab 1424 war die Burg erneut verpfändet, diesmal an den Grafen von Hanau.
=== Ysenburgische Burg und Residenz ===
1476 überschrieb der Mainzer Erzbischof Diether von Ysenburg, wohl als Folge der Mainzer Stiftsfehde, die Burg seinem Bruder, dem Grafen Ludwig II. von Ysenburg-Büdingen. Nach dem Tode Ludwigs im Jahre 1511 erschütterte ab 1517 ein Erbfolgekrieg zwischen seinen drei Söhnen das Büdinger Land. 1523 fiel die Burg an Philipp von Ysenburg-Büdingen, der die Linie Ysenburg-Büdingen-Ronneburg begründete. Als Residenz dieser Linie erhielt die Ronneburg ihre endgültige Form.Auf Philipp von Isenburg-Ronneburg folgte sein Sohn Anton, der 15 Kinder hatte. Doch blieben die Ehen seiner Söhne kinderlos. Es regierten nacheinander die Brüder Georg und Heinrich. Nach der Erbauung des Schlosses Kelsterbach durch den dritten Sohn Antons, Wolfgang von Ysenburg-Ronneburg, wurden sie einige Male als Grafen von Isenburg-Büdingen-Kelsterbach erwähnt. Mit den Umgestaltungen durch den Grafen Heinrich hatte die Ronneburg eine letzte Blütezeit.Nach dem Tode Heinrichs von Ysingen-Ronneburg im Jahre 1601 erlosch die Linie bereits wieder. Wolfgang Ernst I. von Ysenburg-Büdingen in Birstein berief sich auf sein Erbrecht und nahm die Burg als heimgefallenes Lehen mit Gewalt in seinen Besitz. Sie diente aber in der Folgezeit weiter als Sitz für die Witwe Heinrichs.
=== Die Ronneburg in der Neuzeit ===
Bei einem durch Unachtsamkeit des Burggrafen verursachten Brand wurden 1621 große Teile der Burg zerstört, darunter die Neue Kemenate und der Obere Torbau. Die Funktion als Witwensitz fand damit ihr Ende. Dreizehn Jahre später fiel die schwer beschädigte, leer stehende Ronneburg im Dreißigjährigen Krieg einer Plünderung durch kroatische Reitertruppen zum Opfer. Eine Wiederherstellung erfolgte erst nach Kriegsende, wobei die Neue Kemenate nicht mehr auf die volle, ursprüngliche Gebäudehöhe aufgebaut wurde.Ihre Funktion als Amtssitz des vormaligen Gerichts Langendiebach (später ysenburgisches Amt Ronneburg) verlor die Ronneburg zum Ende des 17. Jahrhunderts durch einen Verkauf von der Linie Isenburg-Birstein an Isenburg-Büdingen. Das Amt war bereits 1645 um das Gericht Selbold erweitert worden, zu dessen Verwaltungssitz schließlich 1698 Langenselbold erhoben wurde.Den calvinistischen Ysenburg-Büdingern ist es zu verdanken, dass sich ab 1700 protestantische Exilanten auf der Burg niederlassen durften. Sie wurde für lange Zeit Zufluchtsort für religiös Verfolgte, die Schweizer Mystikerin Ursula Meyer hatte unter anderem hier zwischen 1715 und 1719 156 Aussprachen, und „Unbehauste“ (Juden und Zigeuner), die in den Räumen der Burg auch handwerklichen Tätigkeiten nachgingen. So befand sich am Ende des 18. Jahrhunderts in der Hofstube eine Wollwaren-Manufaktur. 1736 zog Graf von Zinzendorf mit seiner Herrnhuter Brüdergemeine ein und machte die Burg zu einem viel besuchten Wallfahrtsort. Schon zwei Jahre später war die Anlage jedoch zu klein für die Glaubensbrüder, sie gründeten auf einen nahe gelegenen Hügel die Siedlung Herrnhaag. Ab 1750 wanderten viele dieser Siedler nach Amerika und in andere Länder aus.Die Ronneburg wurde auch in der Folgezeit unter verschiedenen Pächtern eher von Randgruppen bewohnt. Die große Zahl der Bewohner führte dazu, dass sie 1821 im Zuge einer Verwaltungsreform zur selbständigen Gemeinde, jedoch ohne Gemarkung, wurde. Bereits 1829 wurde dies wieder rückgängig gemacht. Als die Gebäude nach Sturmschäden zunehmend verfielen, nahm auch die Zahl der Bewohner in der Mitte des 19. Jahrhunderts ab. 1838 wurden die Gebäude der Vorburg abgebrochen, was von der Verwaltung offensichtlich aufgrund der unliebsamen Bewohner gefördert wurde. Der Verkauf des Abbruchmaterials sollte offenbar teilweise die sinkenden Mieteinnahmen ausgleichen. 1870 erfolgten weitere Verkäufe auf Abbruch, doch verließ erst im Jahre 1885 der letzte Bewohner die Burg.Die in Hessen zu dieser Zeit entstehende Denkmalpflege wurde auf die Anlage besonders durch den 1890 von Heinrich Wagner verfassten Band über die Kunstdenkmäler des Kreises Büdingen aufmerksam. Die Bekanntheit wurde in der folgenden Zeit gesteigert durch Besuche der Jugendbewegung und von Wandervereinen aus den umliegenden Städten. Erstmals 1905 wurde die Ronneburg unter Denkmalschutz gestellt. Um den Erhalt und die Erforschung der Baugeschichte hat sich besonders der Büdinger Architekt und Historiker Peter Nieß (1895–1965) verdient gemacht, der 1936 eine gründliche Baugeschichte vorlegte. Gefördert wurde dies vom Ysenburger Fürstenhaus durch Friedrich Wilhelm zu Ysenburg und Büdingen und seinen Nachfolger Otto Friedrich zu Ysenburg und Büdingen. Im Jahr 1952 konnte das Burgmuseum eröffnet werden, 1967 wurde im Marstall ein Restaurant eröffnet. Die bauliche und museale Betreuung wurde 1988 in einem Patenschaftsvertrag zwischen dem Besitzer und dem Förderkreis Freunde der Ronneburg e. V. geregelt.Im Juni 2004 verkaufte Wolfgang Ernst zu Ysenburg und Büdingen die Ronneburg an die Forfin GmbH, deren Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter, Joachim Benedikt Freiherr von Herman auf Wain, ein Vetter seiner Frau ist.
== Anlage ==
Die rechteckige Kernburg mit ihrer kräftigen Wehrmauer hebt sich im Grundriss der Ronneburg deutlich hervor. Sie ist mit dem Bergfried und dem Saalbau der älteste Bauteil aus dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts. Die ausgedehnte Vorburg im Süden und Osten der Anlage entstammt einer späteren Bauphase aus den Jahren 1538–1550.
=== Kernburg ===
Die Kernburg der Ronneburg enthält die ältesten Gebäude der Burg. Die Wehrmauer der Kernburg aus Bruchsteinen enthält keine romanischen Elemente. Sie gehört wohl in das zweite Viertel des 14. Jahrhunderts. Die Ringmauer umschloss die rechteckige Kernburg. Im Westen war sie in der frühesten Bauphase durch den Saalbau, im Osten durch den Bergfried und das oberste Tor verstärkt, die alle dieser ersten Bauphase angehören.Im späten 14. Jahrhundert wurde der Saalbau durch Hinzufügung eines Kapellenerkers umgebaut. In der gleichen Zeit umgab man diesen mit einem Zwinger und es entstand das Tor am späteren Brunnenhaus. In einer weiteren Bauphase im 15. Jahrhundert wurde die Kernburg nach Norden erweitert, sodass die Gebäude des Nordflügels (Backhaus, Alter Bau und Neue Kemenate) im ehemaligen Burggraben stehen. Zur Errichtung des später sogenannten „Alten Baues“ wurde die nördliche Wehrmauer als Hoffassade integriert und das Gebäude nach außen angefügt.Die bedeutendsten Umbauten in der Kernburg fallen in die Zeit der Nutzung als Residenz und damit in die Renaissance, hauptsächlich in die Jahre um 1540. Erneuter Umbau um 1570 (Neuer Wohnbau, Zinzendorfbau) und ab 1576 (Helm des Bergfriedes).
==== Bergfried ====
Der 32 Meter hohe Bergfried hat einen runden Grundriss mit einem Durchmesser von etwas mehr als acht Metern. Sein bis zum Helm einheitliches Mauerwerk gehört wahrscheinlich der frühesten Bauphase an. Im dünneren Mauerwerk des geräumigen Saales im vierten Stock zeigen die Reste einer in die Mauer eingelassenen Treppe, dass dieser bereits zum Renaissancehelm gehört. Der ursprüngliche Eingang ist an der Hofseite im dritten Stock auf etwa zehn Metern Höhe als spitzbogige Pforte zu erkennen. Die beiden darunterliegenden Geschosse dienten als Verlies und waren nur von oben über ein Angstloch im Gewölbe zugänglich. Die heutigen Fenster wurden 1581 eingebaut. Man durchbrach die Wand zu deren Einbau, als man auch diese Geschosse zu Wohnzwecken nutzen wollte. Ein neuer seitlicher Zugang war bereits im 15. Jahrhundert durch einen angebauten Treppenturm mit Wendeltreppe entstanden. Die 57-stufige Wendeltreppe innerhalb des Bergfriedes beginnt deshalb erst im dritten Stock und setzt über einem dreiarmigen Bogen an, da man das ehemalige Loch zum Verlies anscheinend noch nicht zubauen wollte.Der markante Renaissancehelm der Burg entstand zwischen 1576 und 1581 und wurde vom Baumeister Joris Robin aus Ypern gestaltet. Über dem geschlossenen fünften Geschoss folgt ein Umgang auf 25 Meter Höhe mit Balustrade. Der Umgang ist in den vier Hauptrichtungen durch einen Vorbau mit kleinen Giebeln unterbrochen, durch den er hindurchgeführt wird. Die beiden obersten Geschosse sind heute über eine Holztreppe erreichbar. Die aus Quadern gemauerte Kuppel darüber schließt in einer Laterne ab. Der Renaissancehelm des Ronneburger Bergfriedes orientiert sich an italienischen Kuppellaternen dieser Zeit und gehört damit zu den bemerkenswertesten Renaissancearchitekturen in Hessen.
==== Saalbau ====
Der sogenannte Saalbau (auch Palas genannt) befindet sich an der Westseite der Kernburg und gehört im Kern zu den ursprünglichen Gebäuden der Burg. Das heutige Gebäude besitzt eine Grundfläche von 25 × 11,5 m und nimmt die volle Breite der westlichen Kernburg ein. An seiner Südseite schließt sich der Wehrgang zum oberen Torbau nahtlos an. Der mittig vor dem Gebäude über dem Kellerhals angesetzte Treppenturm ist eine Ergänzung des 15. Jahrhunderts. Die Überdachung des Kellerzugangs mit Fachwerkstube stammt aus dem Jahr 1555. An der hofseitigen Fassade fällt links des Treppenturms im Obergeschoss ein polygonaler Erker aus Sandsteinquadern mit Kreuzstockfenstern auf. Er entstand im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts, als man dort eine gotische Kapelle einrichtete, deren Apsis er bildete. Neben einem Gewölbekeller, sowie größeren Wohn- und Hofstuben enthält das Gebäude eine Burgküche, die aber erst in der Renaissance dort eingerichtet wurde. Zuvor enthielt das Erdgeschoss einen größeren Saal, der zu einem kleineren Saal mit Küche umgebaut wurde. Im Mittelgeschoss sind Fachwerkwände des 15. Jahrhunderts erhalten. Das Obergeschoss musste nach dem Brandschaden von 1621 in größerem Umfang erneuert werden, weshalb nur an den steinernen Architekturteilen noch mittelalterliche Substanz vorhanden ist.Burgkapelle im Saalbau
==== Backhaus ====
Unmittelbar nördlich des Saalbaus im Winkel zwischen diesem und dem Alten Bau befindet sich das Backhaus. Es weist an der Außenseite einen stattlichen Renaissancegiebel auf und stammt aus dem 16. Jahrhundert. Der unmittelbar an das äußere Eck anstoßende Schalenturm des spätmittelalterlichen Zwingers wurde beim Ausbau des Gebäudes als Treppenturm erweitert.
==== Alter Bau ====
Der Alte Bau nimmt den Bereich zwischen dem Erker der östlich gelegenen Neuen Kemenate, dem Saalbau und dem Backhaus ein. Im Kern stammt das Gebäude wohl aus dem 15. Jahrhundert. Ein Portal an der Hofseite trägt die Jahreszahl 1572. Auf der Hofseite befinden sich nur drei renaissancezeitliche Fenster, die wohl nachträglich eingefügt wurden. An der Feldseite mit dem vermutlich älteren Mauerwerk sind eine überdachte Schießscharte aus der Mitte des 16. Jahrhunderts sowie eine zugemauerte Lichtnische für einen Abort erkennbar.
==== Neue Kemenate ====
Mit der Hochzeit des Grafen Heinrich von Ysenburg-Ronneburg und der Gräfin Elisabeth von Gleichen-Tonna im Jahr 1572 entsprach die Ronneburg nicht mehr dem Repräsentations- und Wohnbedürfnis einer gräflichen Residenz. Das Paar ließ deshalb ab 1573 die Neue Kemenate (seltener: Neuer Wohnbau) an der Nordostseite der Kernburg errichten. Das Gebäude enthält an der Hofseite die Wehrmauer des 14. Jahrhunderts mit erkennbar sehr dickem Mauerwerk und unter dem linken Erker ein Portal von 1537, das in die Apotheke führt.Der stattliche viergeschossige Bau ist 32,5 Meter lang und nicht ganz neun Meter breit. Die hofseitige Fassade wird durch zwei hohe Erker gegliedert, von denen einer als Standerker ausgeführt ist. Am linken Erker sind in den beiden Hauptgeschossen das Blendmaßwerk und im Untergeschoss die Wappen der Bauherren auffällig. Am rechten Erker befinden sich Spiegelquader, die sorgfältig mit schachbrettartigem Muster verziert sind. Sie stellen ein herausragendes Beispiel renaissancezeitlicher Steinmetzkunst dar. Aufgrund des Brandes von 1621 ist das oberste Geschoss des Erkers, das heute eine Sonnenuhr trägt, nicht original. Zwischen beiden Erkern befindet sich das Portal mit dem Wappen von Ysenburg und von Gleichen, daneben der Grundstein mit Inschrift aus dem Jahr 1573.Die Neue Kemenate enthält im Erdgeschoss eine bereits in älteren Inventaren genannte Apotheke. Die darüberliegenden Geschosse mit den Erkern enthalten größere Wohngemächer, die im ersten Stock vom hofseitigen Erker bis zum äußeren Erker reichen. Der Raum wird von zwei Kreuzrippengewölben mit floralen Motiven überspannt. Der Raum im zweiten Obergeschoss hat die gleichen Dimensionen, ist jedoch mit aufwendigen figürlichen Wandmalereien versehen (Christophorus, David und Goliath, Salomonisches Urteil, Kain und Abel). Zwischen diesen vorwiegend alttestamentarischen Szenen befindet sich eine renaissancezeitliche Burgenlandschaft, die auf gedruckte Vorlagenblätter des 15. Jahrhunderts zurückgeht. Bemerkenswert ist außerdem die Wandinschrift „FRID IST BESSER DENN KRIEG DIWEIL UNGEWIS IST DER SIG“.Die Nutzung der einzelnen Geschosse ist aus Inventaren weitgehend bekannt: Im ersten Obergeschoss befand sich die Wohnung des Grafen Heinrich, im zweiten Obergeschoss die seiner Gemahlin sowie weiterer Angehöriger. Weitere Wohngemächer befanden sich im dritten Obergeschoss, das aber durch den Brand von 1621 nicht original erhalten ist. Jedes Geschoss besaß am Übergang zum Alten Bau einen Abort. Jede Wohnung bestand aus einem beheizbaren Gemach und einer Schlafkammer.Innenansichten der Neuen Kemenate
==== Zinzendorfbau (Viertes Torhaus) ====
Am Zinzendorfbau und dem integrierten innersten Torhaus sind alle Bauepochen der Burg anzutreffen. Der äußere Torbogen aus dem Jahr 1570 sitzt auf Eckquadern des 14. Jahrhunderts. Die Durchfahrt wird von einem Kreuzgratgewölbe überspannt, das Reste der renaissancezeitlichen Bemalung aufweist. Der innere Torbogen zum Burghof ist auf das Jahr 1541 datiert, weist jedoch ebenfalls spätmittelalterliche Seitenwände auf, deren Kämpfer möglicherweise zu den ältesten Bauteilen der Burg gehören. Der heutige Zinzendorfbau wurde 1570 an Stelle eines älteren Torhauses errichtet und erhielt seinen Namen erst im 20. Jahrhundert. Vielleicht trug das Gewölbe über der Tordurchfahrt ursprünglich eine söllerartige Wehrplattform.Das Gebäude besitzt an der Hofseite einen reich verzierten Erker mit Blendmaßwerk, für den sich ganz ähnliche Beispiele in Büdingen befinden. In das Maßwerk der Fensterbrüstung ist das Wappen des Grafen Heinrich von Ysenburg-Ronneburg und seiner ersten Gemahlin Maria von Rappoltstein eingefasst. Am benachbarten Treppenbau befindet sich ein Grundstein mit der Jahreszahl „1570“.Das Obergeschoss des Gebäudes über dem Torhaus wird komplett von einem Saal eingenommen, der als Neue Kirche seit dem 18. Jahrhundert von der ansässigen Glaubensgemeinschaft genutzt wurde (benannt nach Nikolaus Ludwig von Zinzendorf als Zinzendorfsaal). Ursprünglich war es wohl ein größerer Wohnraum aus der Bauzeit von 1570. Er weist zum Hof und an der Außenseite jeweils einen rechteckigen, gotisierend überwölbten Erker mit Rippengewölbe auf.
==== Brunnenhaus (Drittes Torhaus) ====
Der Kern des dritten Torbaus dürfte aus dem 14. Jahrhundert stammen, als der Kernburg ein weiteres Tor vorgelagert wurde. Die Kontur des ursprünglichen Tores lässt sich im ehemaligen Graben an der Nordseite noch erkennen. Der einfach profilierte Spitzbogen des Tores stammt aus dem späten 15. Jahrhundert. Der Wappenstein über dem Tor wurde nachträglich 1523 eingesetzt, wobei ein älteres Fenster aufgegeben wurde. Ursprünglich muss sich über dem Tor die Zugvorrichtung für eine Zugbrücke befunden haben. Das heute über der Tordurchfahrt befindliche Gewölbe wurde nachträglich eingefügt. Auf eine Zugbrücke weist auch die Beschaffenheit der auf das Tor zuführenden Rampe (erneuert 1565) hin. Das kräftige Mauerwerk reicht bis etwa zweieinhalb Meter vor das Tor, eine gemauerte Verbindung wurde erkennbar später eingesetzt.Südwestlich des Tores wird die Durchfahrt von einem starken runden Turm flankiert. Für die Errichtung des Tores wurde ein Teil seines Mauerwerks abgearbeitet, was darauf hinweist, dass der Turm ebenfalls älter als die heutige Toranlage sein muss und beim Neubau des Tores daran angepasst wurde. Als im 16. Jahrhundert das nördlich gelegene Torhaus zum Brunnenhaus umgebaut wurde, verlegte man die Wachstube ins Erdgeschoss dieses Turmes.Am nördlich der Tordurchfahrt gelegenen Brunnenhaus wurden ebenfalls zahlreiche Umbauten durchgeführt. Zunächst als Wachstube für das Tor konzipiert, baute man 1529 nördlich des Tores einen dreieckigen Erker an. Die Jahreszahl befindet sich auch am Zugang zur Wachstube. 1550 wurde der dreieckige Vorbau nördlich des Tores für den Anschluss eines Wehrganges abgearbeitet. Ebenfalls in der Mitte des 16. Jahrhunderts, als der Fortschritt der Bergbautechnik die Anlage solcher Brunnen ermöglichte, wurde in das Wachhaus des Tores der Burgbrunnen nachträglich eingefügt. Man betritt die Brunnenstube von der Tordurchfahrt aus. Die oberen Lagen des 96 Meter tiefen Brunnens bestehen aus Quadern, auf denen Zangenlöcher und Steinmetzzeichen erkennbar sind. Die Wasseroberfläche befindet sich in 84 m Tiefe, wobei der Brunnen ursprünglich eine Tiefe von 125 m hatte. Hinter dem Brunnen befindet sich das hölzerne Drehrad aus dem 16. Jahrhundert, das von Menschen bedient wurde. Ein Teil des Mauerwerks und die gesamte Zwischendecke zum ehemaligen Obergeschoss der Wachstube mussten bei seinem Einbau entfernt werden.
==== Zweites Torhaus ====
Das äußerste Tor der Kernburg besteht aus einem spitzbogigen Tor mit einem kleinen, eingeschossigen Torhaus und wird heute als Museumskasse genutzt. Über dem Tor befindet sich ein Wappenstein des Grafen Philipp von Ysenburg-Büdingen und seiner Gemahlin Amalie von Rieneck mit der Jahreszahl 1527.
=== Zwinger ===
Im späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert umgab man den Saalbau im Süden und Westen mit einem Zwinger. Er wies ursprünglich drei halbrunde Schalentürme auf, von denen man später den nördlichen aufstockte, um einen Treppenturm für das Backhaus zu erhalten. Gleichzeitig mit dem Zwinger entstand wohl das ursprüngliche dritte Torhaus.
=== Vorburg ===
Die ausgedehnte Vorburg ist der Kernburg im Osten und Süden vorgelagert. Sie entstand während der Nutzung der Ronneburg als Residenz in der Zeit zwischen 1538 und 1555. Der nördliche Teil der Vorburg stellt die Hauptangriffsseite dar. Die hohe Bruchsteinmauer weist stellenweise einen gut erhaltenen Wehrgang mit abwechselnd gedeckter und offener Schießscharte auf, von denen erstere es erlaubte, Feinde unten am Mauersockel zu bekämpfen. Sehenswert sind ferner ein spitzdreieckiger Erker nahe dem Tor, eine spitzbogige Ausfallpforte (datiert 1540) rechts des Zyngels, ein Aborterker und der nachträgliche Anschluss der Vorburg an die Kernburg. Ein Fußweg um die Burg ermöglicht es, diese baulichen Merkmale von außen zu besichtigen.
==== Marstall ====
Der langgestreckte Marstall wirkt durch seine Größe und Lage wie das Hauptgebäude der Vorburg. Zwei spitzbogige Portale mit Inschriften von 1549 und 1551 weisen auf die ursprüngliche Bauzeit des Gebäudes hin. Das ursprüngliche Obergeschoss wurde aber nach 1838 (Verkauf auf Abbruch) abgetragen und erst 1964 ergänzt. Entsprechend ergibt sich ein historischer Eindruck der Bausubstanz nur im Erdgeschoss, wo noch Putzreste erhalten sind. Heute enthält der Marstall die Burggastronomie.
==== Bandhaus ====
Das Bandhaus befindet sich mittig in der Vorburg. Es besitzt heute nur noch ein Geschoss, enthält aber einen größeren Gewölbekeller. Das Gebäude diente als Weinlager. Den Grundstein legte Barbara von Wertheim 1554, ein weiterer Stein am Kellerhals trägt die Jahreszahl „1555“. Das ursprüngliche Obergeschoss fiel dem Brand von 1621 zum Opfer, wurde 1654 wiederhergestellt und 1870 auf Abbruch verkauft. Das heutige, recht flache Dach stammt von 1905. Ein Denkmal neben dem Gebäude erinnert an Peter Nieß, der wesentlich zur Erforschung und zum Erhalt der Ronneburg beigetragen hat.
==== Erstes Torhaus ====
Das äußere Burgtor überragte früher durch zwei Obergeschosse die Mauer der Vorburg deutlich. Die Obergeschosse mit Renaissancegiebel wurden 1870 abgebrochen, ein Treppenaufgang ist noch am Übergang zum Marstall erkennbar. Das außen spitzbogige Tor (Wappenstein mit Jahreszahl „1538“) besaß keine Zugbrücke. An der Außenseite sind Putzreste über dem Bruchsteinmauerwerk aus Basalt erhalten. Nur einzelne Gewände waren aus Sandstein gefertigt, darunter zwei Schießscharten links und rechts des Tores. Bemerkenswert ist das Tor (linker Torflügel mit Datierung 1539) mit hölzernen Drehflügeln, Schlupfpforte, Eisenbeschlägen und dekorativem Schloss. Hofseitig befindet sich ein breiterer Bogen mit der Jahreszahl „1539“.Von der Tordurchfahrt aus sind die anschließenden Räume erschlossen, darunter die südöstlich gelegene Wächterstube. Eine Wendeltreppe führte von dort in die ehemals vorhandenen Obergeschosse. Die Durchgänge besitzen korbbogige Portale, am Durchgang zur Wachstube ist die Jahreszahl „1542“ eingemeißelt. Ungewöhnlich für das 16. Jahrhundert sind die korbbogigen Fenstergewände.
==== Befestigungstürme der Vorburg: Zyngel, Hexenturm, Südwestturm ====
Der nördliche Bereich der Vorburg ist besonders gesichert. Ursprünglich dürfte sich dort – auf Höhe des heutigen Parkplatzes – der Zufahrtsweg zur Burg befunden haben. Die Spitze der Wehrmauer nimmt ein nach außen runder Turm ein, der heute Zyngel genannt wird. Ursprünglich bezog sich dieser Name wohl auf die gesamte Ringmauer. Der Turm besitzt Maulscharten für Hakenbüchsen und kleinere Geschütze, mit denen auch die Flanken bestrichen werden konnten. Die Jahreszahl „1540“ auf der Ausfallpforte neben dem Turm legt nahe, dass der ganze Mauerabschnitt mit dem Turm in dieser Zeit errichtet wurde.Für den südwestlich an den Marstall anschließenden Turmstumpf der hohen Umwehrung der Vorburg ist seit 1599 der Name „Hexenturm“ belegt, weil in diesem Jahr eine der Hexerei bezichtigte Frau dort eingesperrt wurde. Jahreszahlen auf einem spitzbogigen Portal im Untergeschoss und einer Schießscharte außen datieren die Bauzeit auf die Jahre 1550 bzw. 1549. Nur das Untergeschoss des außen halbrunden Turmes diente als Gefängnis. Oben trägt er eine Wehrplattform, auf der man recht gut die eigentliche Höhe der Vorburgmauer und die verschiedenen Typen von Schießscharten erkennen kann.
Zum Schutz der südwestlichen Ecke der Vorburg wurde zwischen 1546 und 1549 ein Rundturm errichtet. Ein spitzbogiges Portal datiert auf das Jahr 1548, 1549 wurde auch das anschließende Mauerstück (Westmauer der Vorburg) vollendet. Im oberen Geschoss wurde nachträglich der Grundstein von 1546 eingelassen. Er trägt die Inschrift „Do disz Mauer angefangen war, Graf Jorg den ersten Stein legt dar, des Augusts achtzehenden behalt, funffzehen hundert sechs vitzih zalt – 1546“. Die Wendeltreppe außen am Turm wurde erst 1905 mit den wiederverwendeten Stufen einer Treppe aus dem Backhaus hinzugefügt.
== Heutige Nutzung ==
Die Burg beherbergt heute ein Burgmuseum, ein Restaurant und eine Falknerei. Die Vorburg mit der Gastronomie ist tagsüber frei zugänglich. Museal genutzt wird vorwiegend die Kernburg (Kassenhaus und Museumsshop im zweiten Torbau). Der 32 Meter hohe Bergfried der Burg kann bestiegen werden und bietet von der umlaufenden Aussichtsplattform, auf der zwei Fernrohre angebracht sind, einen Ausblick von einigen Kilometern, bei schönem Wetter sogar bis nach Frankfurt.
== Sehenswertes und Aktivitäten rund um die Burg ==
Der Förderkreis „Freunde der Ronneburg“ organisiert zahlreiche Ritterspiele und Mittelaltermärkte.
Es finden regelmäßig Bogenbauseminare statt, in denen historische und prähistorische Bögen nachgebaut und Grundkenntnisse des instinktiven Bogenschießens vermittelt werden.
Die steilen Seitenhänge des Basaltkegels bieten ein ausgezeichnetes Übungsgelände für Gleitschirmflieger.
Um die Burg besteht ein dichtes Netz von markierten Wanderwegen.
Eine Jugendbildungsstätte gleichen Namens (Jugendzentrum Ronneburg) befindet sich in der unmittelbaren Nähe.
Für die Bewohner der Ronneburg gab es zwei Friedhöfe. Die jüdischen Verstorbenen wurden auf dem Jüdischen Friedhof Altwiedermus im Tal bestattet. Ein Friedhof für die christlichen Bewohner wurde in der Neuzeit an der Zufahrtsstraße angelegt.
Südöstlich der Burg befindet sich am Steinkopf ein größerer Basaltsteinbruch, aus dem wahrscheinlich ein Großteil des Baumaterials für die Ronneburg stammt.
== Literatur ==
Elmar Brohl: Festungen in Hessen. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Festungsforschung e.V., Wesel, Schnell und Steiner, Regensburg 2013 (= Deutsche Festungen 2), ISBN 978-3-7954-2534-0, S. 153–158.
Klaus-Peter Decker, Georg Ulrich Großmann: Die Ronneburg (= Burgen, Schlösser und Wehrbauten in Mitteleuropa. Band 6). 3. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2014, ISBN 978-3-7954-1879-3.
Stefan Grathoff: Mainzer Erzbischofsburgen: Erwerb und Funktion von Burgherrschaft am Beispiel der Mainzer Erzbischöfe im Hoch- und Spätmittelalter. Steiner, Stuttgart 2005, ISBN 3-515-08240-9, insbesondere S. 86.
Rolf Müller (Hrsg.): Schlösser, Burgen, alte Mauern. Herausgegeben vom Hessendienst der Staatskanzlei, Wiesbaden 1990, ISBN 3-89214-017-0, S. 298–300.
Burkhard Kling: Die Ronneburg (= Große Baudenkmäler. Heft 471). München/ Berlin 1993.
Rudolf Knappe: Mittelalterliche Burgen in Hessen. 800 Burgen, Burgruinen und Burgstätten. 3. Auflage. Wartberg-Verlag, Gudensberg-Gleichen 2000, ISBN 3-86134-228-6, S. 359f.
Uta Löwenstein: Grafschaft Hanau. In: Ritter, Grafen und Fürsten – weltliche Herrschaften im hessischen Raum ca. 900–1806. (= Handbuch der hessischen Geschichte. Band 3; = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen. Band 63). Historische Kommission für Hessen, Marburg 2014, ISBN 978-3-942225-17-5, S. 197–230.
Hans Philippi: Territorialgeschichte der Grafschaft Büdingen. (= Schriften des Hessischen Amts für geschichtliche Landeskunde. Band 23). Elwert, Marburg 1954, bes. S. 69–72 und 148–151.
Rupert Reiter: Die „schönste“ Zeit der Ronneburg. In: Denkmalpflege und Kulturgeschichte. 1/2006, S. 32f.
Eine Freistätte des Glaubens. In: Die Gartenlaube. Heft 11, 1867, S. 162–174 (Volltext [Wikisource]).
== Weblinks ==
Burg & Museum auf burg-ronneburg.de
Ansicht von Burg Ronneburg, 1826/27. Historische Ortsansichten, Pläne und Grundrisse. In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS).
Renaissanceschlösser in Hessen. (Projekt am Germanischen Nationalmuseum von Georg Ulrich Großmann)
Luftbild der Ronneburg
Ronneburg auf burgenwelt.org
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Burg_Ronneburg
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Festung Rosenberg
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= Festung Rosenberg =
Die Festung Rosenberg ist eine von einer barocken Festungsanlage umgebene Höhenburg über der oberfränkischen Stadt Kronach. Sie ist eine der am besten erhaltenen Festungen in Bayern und wurde in ihrer langen Geschichte, deren nachweisbare Ursprünge ins 13. Jahrhundert zurückreichen, nie gewaltsam eingenommen. Neben der Festung Forchheim war sie eine der beiden Landesfestungen der Fürstbischöfe von Bamberg, die Rosenberg im Laufe der Jahrhunderte von einer mittelalterlichen Schutzburg zum Renaissance-Schloss und später zum neuzeitlichen Festungskomplex ausbauten. Mit ihren zahlreichen Bauabschnitten gilt die Anlage als herausragendes Beispiel für die Entwicklung des Wehrbaus in Deutschland. Einschließlich Wallgräben und Außenwerken umfasst die überbaute Fläche etwa 8,5 ha, zusammen mit den ehemaligen Erdwerken im nördlichen Vorfeld umfasste das befestigte Terrain einst 23,6 ha.
== Lage und Aufbau ==
Erbaut wurde die Festung auf einer Höhe von 378 m über Normalnull auf dem Rosenberg in einer strategisch hervorragenden Lage über der Stadt Kronach. Sie beherrschte die drei zu ihren Füßen zusammenlaufenden Täler der Flüsse Haßlach, Kronach und Rodach. Damit schützte und sperrte sie wichtige Handelswege nach Thüringen und in den Frankenwald. Der Rosenberg, der aus einer Schicht des Oberen Buntsandsteins besteht, erstreckt sich in Nord-Süd-Richtung zwischen den Tälern von Haßlach und Kronach. Seine Südseite, an der sich die Festung und die Kronacher Altstadt befinden, fällt sehr steil ab, weshalb die Mauern des äußeren Befestigungsrings dort bis zu 25 m in die Höhe ragen und das zum Innenhof der Kernburg hin ansteigende Geländeprofil ausgleichen. Auch der Osthang, wo ein Großteil des zum Bau der Anlage verwendeten Sandsteins gebrochen wurde, und der früher ebenfalls als Steinbruch dienende Westhang fallen steil ab. Nördlich der Festung erstreckt sich der Bergrücken des Rosenbergs. Aufgrund seines vergleichsweise flach verlaufenden Profils bot dieser für Angreifer einst die beste Möglichkeit zur Annäherung an die Festung. Deshalb wurde deren Nordseite als Hauptangriffsseite umfangreich befestigt.
=== Kernburg ===
In ihrer heutigen Form besteht die Festung Rosenberg aus drei konzentrischen Befestigungsringen. Den innersten Ring bildet die Kernburg mit vier annähernd rechteckig angeordneten Flügeln und zwei nördlichen Ecktürmen, dem Schmiedsturm und dem Nordostturm. Ihr heutiges Erscheinungsbild erhielten diese Gebäude weitgehend erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts, die Grundmauern stammen jedoch zum Teil aus dem 14. Jahrhundert. Der Ostflügel, der sogenannte Fürstenbau, beherbergte neben dem Fürstensaal und der Fürstenküche vor allem die Wohn- und Repräsentationsräume des Fürstbischofs. Im Untergeschoss befindet sich das Spitaltor, das älteste noch erhaltene und lange Zeit einzige Zugangstor zur Kernburg; erst in jüngerer Zeit wurden weitere Zugangsmöglichkeiten über den Süd- und den Westflügel geschaffen. Ursprünglich wurde das Spitaltor durch eine Zugbrücke, ein massives Eichenholztor und eine Wolfsgrube in der Durchfahrt geschützt. Der hölzerne Torflügel ist noch im Original erhalten, die Wolfsgrube wurde später entfernt und die Zugbrücke im 18. Jahrhundert durch eine steinerne Brücke ersetzt.Im Nordflügel und im Westflügel, dem sogenannten Gesindebau, befanden sich neben Unterkünften für die Dienerschaft des Fürstbischofs und für dessen Gäste Stallungen, Lager und verschiedene Werkstätten. Der Südflügel, in dem sich einst unter anderem die Schlosskapelle befand, entstand in anderer Form im 15. und 16. Jahrhundert. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde er weitgehend abgebrochen und als sogenannte Neue Kaserne im Barockstil neu errichtet. Seit 1983 sind in dem Gebäudetrakt, der heute als Kommandantenbau bezeichnet wird und als einziges Gebäude der Festung eine verputzte Fassade besitzt, Museumsräume untergebracht.Im Innenhof der Kernburg befindet sich der bereits im 13. Jahrhundert errichtete Bergfried. Der etwa 38 m hohe Turm mit quadratischem Grundriss hat einen Hocheingang in rund zwölf Meter Höhe, der vor dem Anbau eines schlanken Treppenturms im 16. Jahrhundert nur über eine Leiter erreichbar war. Ursprünglich bildete eine welsche Haube den oberen Abschluss des Bergfrieds; diese wurde im 19. Jahrhundert zusammen mit der darunter gelegenen Türmerstube von der bayerischen Armee entfernt und wenig später durch das heutige Dach ersetzt. An der Südseite des Innenhofs befindet sich ein etwa 45 m tiefer Burgbrunnen, der von mehreren Quellen gespeist wird. Für den Fürstbischof gab es in einem Anbau am Nordostturm einen separaten Brunnen, der die benachbarte Fürstenküche versorgte.
=== Mittlerer Bering ===
Um die Kernburg herum verläuft das unregelmäßig geformte Rund des mittleren Berings, der aus Zeughaustorbau, Altem und Neuem Zeughaus, dem Provianthaus und Kriegspulvermagazin und einer mit sieben Türmen versehenen Wehrmauer besteht. Errichtet wurde dieser zweite Befestigungsring, der im Süden an die Gebäude der Kernburg anstößt, hauptsächlich in der Spätgotik gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Jedoch wurden – wie bei den Gebäuden der Kernburg – in späterer Zeit immer wieder Veränderungen und Erweiterungen vorgenommen. Die bis zu 14 m dicke Wehrmauer im Norden des Berings wird nach ihrem Erbauer Fürstbischof Philipp von Henneberg als Hennebergsche Futtermauer bezeichnet. Auf der Mauer, die nicht massiv ist, sondern im Inneren hauptsächlich aus Erde und Bruchsteinen besteht, befand sich der Garten des Festungskommandanten, dem das oberste Geschoss des an die Außenseite der Mauer anliegenden Pulverturms als Gartenhaus diente.An der Ostseite des Befestigungsrings erhebt sich der Salzturm, ursprünglich ein zum Burginneren hin offener Schalenturm, der im 16. Jahrhundert für die trockene Lagerung von Salz und Schießpulver geschlossen wurde. Südwestlich des Salzturms befindet sich an der Innenseite des Mauerrings das Provianthaus, in dessen Untergeschoss sich sieben tonnengewölbte Räume befinden. Im 19. Jahrhundert wurde das Gebäude erweitert und als Kriegspulvermagazin genutzt. Der zwischen Salzturm, Provianthaus und dem Ostflügel der Kernburg gelegene kleine Platz wird als Geschützhof oder Reitschule bezeichnet. In Kriegszeiten, wenn ein Verlassen der Festung nicht möglich war, wurden hier die Pferde bewegt, um ihnen Auslauf zu bieten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde an die Außenseite des Berings auf Höhe des Provianthauses das langgestreckte Gebäude der Artilleriekaserne angebaut. Deren Dachgeschoss verdeckt mehrere Schießscharten in der dahinter gelegenen Wallmauer.Unmittelbar westlich von Provianthaus und Artilleriekaserne erhebt sich der Schieferturm, direkt südlich des Kommandantenbaus ein weiterer Rundturm. Dieser wurde im 18. Jahrhundert bei der Umgestaltung des Südflügels der Kernburg zum Treppenaufgang umgebaut. Zwischen dem Kapitänsturm und dem im 16. Jahrhundert zum Artillerieturm ausgebauten Dicken Turm im Südwesten des Berings liegt der in späterer Zeit zum Wohntrakt erweiterte Zeughaustorbau. Das Tor in seinem Untergeschoss wurde bereits im 15. Jahrhundert eingerichtet. Ob es damals durch eine Zugbrücke geschützt wurde, ist unklar, da hier anders als beim Spitaltor im Fürstenbau keine Überreste einer Zugbrückenblende oder Ähnlichem erkennbar sind. Zumindest dürfte im 15. und 16. Jahrhundert – zusätzlich zu der Möglichkeit, Angreifer aus den Schießscharten der beiden flankierenden Türme unter Beschuss zu nehmen – ein dem Bering vorgelagerter Graben als Schutzmaßnahme existiert haben.Hinter dem Zeughaustor liegt der von den beiden Zeughäusern und dem Westflügel der Kernburg begrenzte Zeughaushof, in dem sich ein weiterer, etwa 30 m tiefer Ziehbrunnen befindet. Dieser wurde jedoch nur als Pferdetränke und Wasserquelle für das einst im Zeughaushof gelegene, heute nicht mehr existierende Waschhaus genutzt. Die beiden Zeughäuser, die in einem leichten Winkel aufeinanderstoßen, dienten vor allem als Lagerraum für Waffen und andere militärische Ausrüstungsgegenstände. Das Alte Zeughaus beherbergte darüber hinaus noch Stallungen, die Amtsräume der Hauptmannschaft Kronach und den fürstbischöflichen Kastenboden, in dem das Zehntgetreide aufbewahrt wurde. An der Außenseite der Knickstelle zwischen den beiden Zeughäusern befindet sich der Luntenturm, dessen Name auf seine einstige Funktion zur Aufbewahrung von Werg und Lunten hinweist.
=== Äußerer Bering ===
Der dritte und äußerste Bering besteht aus fünf in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstandenen barocken Bastionen mit den dazwischen liegenden Kurtinen. An der Außenseite bildet dieses Bastionärsystem ein regelmäßiges Fünfeck, das im Festungsbau als Idealform für kleinere Festungen galt, an der Innenseite nimmt der Befestigungsring die unregelmäßige Rundung des mittleren Berings wieder auf. Die Bastionen werden beginnend am Festungstor im Süden im Uhrzeigersinn gezählt und tragen die Namen St. Kunigunde (I), St. Valentin (II), St. Lothar (III), St. Philipp (IV) und St. Heinrich (V). Bastion I und V wurden nach den Bamberger Bistumsheiligen Kunigunde von Luxemburg und Heinrich II. benannt, die drei anderen tragen die Namen der am Bau beteiligten Fürstbischöfe. Im 19. Jahrhundert, als Kronach und die Festung an Bayern fielen, wurden die Bastionen nach dem bayerischen König, der Königin, dem Kronprinzen etc. umbenannt; diese Namen konnten sich jedoch nicht durchsetzen, sodass heute wieder die ursprünglichen Bezeichnungen gebräuchlich sind. An jeder der fünf Bastionen befinden sich großformatige plastische Wappensteine, mit denen sich die beteiligten Fürstbischöfe repräsentativ als deren Bauherren dargestellt haben. Die Bauwerke sind so konstruiert, dass keine toten Winkel entstehen; alle Stellen rund um die Bastionen sind von anderen Positionen aus einsehbar. Die Flanken sind teilweise abgesenkt, damit die dort positionierten Geschütze den Bereich vor den Kurtinen bestreichen konnten. Zum Schutz wurden die Kanonen in Geschützkasematten hinter den Flanken zurückgezogen. An einigen Eckpunkten der Bastionen befinden sich erkerförmige Wachhäuschen. Es sind Rekonstruktionen aus dem 20. Jahrhundert; die Originale wurden 1806 auf Befehl Napoleons zerstört.Die einzigen direkten Verbindungen zwischen dem mittleren und dem äußeren Bering stellen die beiden Wallbrücken dar. Die etwa 12 m hohe und 17 m lange Große Wallbrücke befindet sich im Nordosten des mittleren Wallgrabens zwischen Pulverturm und Salzturm, die Kleine Wallbrücke ist im Westen an das Alte Zeughaus angebaut. Beide bestehen aus Holz und ruhen auf steinernen Pfeilern. Im Kriegsfall wurden die Brücken mit leicht brennbarem Material gefüllt, um sie bei einer Erstürmung des äußeren Berings in Brand stecken und so den Feind am weiteren Vordringen in die inneren Bereiche der Festung hindern zu können.Das repräsentativste Bauwerk der Festung ist das zwischen den beiden südlichen Bastionen gelegene Festungstor, das 1662 unter Fürstbischof Philipp Valentin Voit von Rieneck der bereits bestehenden Wallmauer vorgeblendet wurde. Obwohl der Bau von Johann Christein ausgeführt wurde, stammt der Entwurf mit großer Wahrscheinlichkeit von Antonio Petrini, der für stilistisch sehr ähnliche Tore der Zitadelle Petersberg in Erfurt, der Zitadelle Mainz, der Festung Marienberg in Würzburg sowie das Burkarder und das Zeller Tor der Würzburger Stadtbefestigung verantwortlich zeichnete. Ein weiteres, dem Kronacher Tor überaus ähnliches Bauwerk ist das ebenfalls von Christein erbaute Nürnberger Tor in Forchheim. Das Festungstor Rosenbergs besteht aus drei parallel verlaufenden Tunneln, die nicht gerade durch die Wallmauer führen, sondern einen Knick aufweisen, um dem Feind die direkte Sicht auf die Kernburg und deren Beschuss durch das Tor zu verwehren. Von außen gesehen verläuft links neben dem in der Mitte gelegenen Fahrtunnel ein kleinerer Tunnel für Fußgänger. Der rechte Tunnel ist nur von der Innenseite der Wallmauer her zugänglich und endet an der Außenseite in einem sogenannten Ochsenauge. Ursprünglich wurde das Tor durch einen vorgelagerten Graben, eine Zugbrücke und ein Fallgatter im Fahrtunnel geschützt. Nach der Aufhebung der Festungseigenschaft Rosenbergs im Jahr 1867 wurden diese Schutzmaßnahmen jedoch nach und nach entfernt. Noch vorhanden sind Ausgusslöcher für Pech oder heißes Wasser an den beiden Enden von Fahr- und Fußgängertunnel, sogenannte Pechnasen, und mehrere Schießscharten, durch die in die Torhalle vorgedrungene Feinde von den anderen Tunneln aus beschossen werden konnten.
=== Nördliche Außenanlagen ===
Außerhalb der beiden nördlichen Bastionen wurden im 18. Jahrhundert vier Außenwerke errichtet. Diese dienten einerseits als Annäherungshindernisse und sollten andererseits den beiden Bastionen zusätzlichen Schutz vor direktem Beschuss bieten, da die Nordseite der Festung die Hauptangriffsseite darstellte. Die Außenwerke tragen wie die Bastionen teilweise die Namen ihrer Bauherren und sind entsprechend ihrer chronologischen Bauabfolge durchnummeriert.Direkt gegenüber der Bastion St. Lothar befindet sich das Werk VI, die sogenannte Contregarde Carl, benannt nach Fürstbischof Friedrich Karl von Schönborn-Buchheim. Die zur Festung gewandte innere Rundung der Kontergarde ist kasemattiert und in Bodennähe mit sechs Schießscharten für Kanonen ausgestattet, durch die der gesamte äußere Wallgraben bestrichen werden konnte. Dies ist für die Entstehungszeit des Werks sehr ungewöhnlich, da die Verteidigung einer Festungsanlage seinerzeit fast ausschließlich von der Oberfläche der Bastionen oder Außenwerke herab erfolgte. Über dem großformatigen Wappen des Fürstbischofs an der Nordspitze der Kontergarde befand sich ursprünglich ein Wachttürmchen, das wie bei den Bastionen 1806 auf Anweisung Napoleons zerstört wurde.Unmittelbar westlich der Contregarde Carl liegt Werk VII, das zum Schutz der Kurtine zwischen den Bastionen St. Lothar und St. Valentin errichtete und nach Fürstbischof Johann Philipp Anton von und zu Frankenstein benannte Ravelin Anton. Mit seinem an eine Pfeilspitze erinnernden Grundriss besitzt dieses Werk eine sehr ungewöhnliche Bauform, da Ravelins sonst fast immer einen dreieckigen Grundriss besitzen. Ähnlich ungewöhnlich geformte Ravelins finden sich in Deutschland lediglich auf der Festung Königstein bei Dresden und der Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz.Westlich des Ravelins befindet sich vor der Bastion St. Valentin das Werk VIII, der namenlose Waffenplatz, und südöstlich der Contregarde Carl das Werk IX, der wie das Ravelin Anton nach Fürstbischof von und zu Frankenstein benannte Waffenplatz Philipp. Beide entsprechen in keiner Weise der traditionellen Beschreibung eines Waffenplatzes, bei dem es sich zumeist um einen durch Erdwälle geschützten Bereich hinter dem Glacis handelte, der der Festungsbesatzung bei einem Ausfall als Sammelpunkt und Waffenlager dienen sollte. Die beiden Waffenplätze der Festung Rosenberg sind hingegen aus Sandsteinquadern errichtete Bauwerke, die auf gleicher Höhe wie die beiden anderen Außenwerke liegen und nicht direkt an das Glacis angrenzen. Vermutlich waren die unregelmäßigen Grundrisse der Bauwerke, die keine Zuordnung zu einem herkömmlichen Typ von Außenwerk zulassen, der Grund für die Bezeichnung als Waffenplatz.Auch das seinerzeit von höherem Bewuchs frei gehaltene Gelände nördlich der Außenwerke, das Glacis, war in die Verteidigungsplanungen der Festung einbezogen. Neben diversen Schanzen wurden dort mehrere unterirdische Stollen als Vorbereitung für einen Minenkrieg angelegt. Im Falle einer Belagerung sollten diese Stollen weiter bis unter die feindlichen Linien vorangetrieben werden, um dort Sprengstoff zur Explosion zu bringen und so dem Gegner Verluste zufügen zu können. Insgesamt beträgt die mit Befestigungsanlagen überbaute Fläche einschließlich der drei Wallgräben und der Vorwerke etwa 8,5 ha. Zusammen mit den Erdwerken im nördlichen Vorfeld der Festung, das heute wieder teilweise von Wald bedeckt ist, betrug das gesamte befestigte Terrain einst 23,6 ha.
== Geschichte ==
Kronach und die umliegenden Gebiete gehörten von 1122 bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, als das Hochstift Bamberg säkularisiert wurde, zum Besitz der Bamberger Fürstbischöfe. Um ihre Machtposition zu festigen und ihr Territorium nach außen hin abzusichern, bauten diese Rosenberg nach und nach von einer mittelalterlichen Schutzburg zur neuzeitlichen Festungsanlage aus. Im Laufe ihrer langen Geschichte wurde die Festung nie gewaltsam von Feinden eingenommen; während des Bauernkrieges 1525 befand sie sich jedoch einige Zeit in der Hand der aufständischen Bauern. Ab dem 17. Jahrhundert diente Rosenberg mehrfach als Zufluchtsort für den Bamberger Landesherrn, den Domschatz und das Domarchiv. Zuletzt suchte Christoph Franz von Buseck, der letzte Fürstbischof des Hochstifts, Ende des 18. Jahrhunderts hier Unterschlupf. Nachdem Stadt und Festung bayerisch geworden waren, verlor die Anlage im 19. Jahrhundert weitgehend ihre militärische Bedeutung und wurde 1888 schließlich an die Stadt Kronach verkauft. Heute wird die Festung, die sich noch immer im alleinigen Besitz der Stadt befindet, vorwiegend touristisch genutzt.
=== Geschichte im Hochstift Bamberg ===
Gründer der späteren Festung Rosenberg war möglicherweise Bischof Otto I. von Bamberg. Dieser hatte Kronach und die umliegenden Gebiete, das sogenannte „praedium crana“, 1122 von Kaiser Heinrich V. als Geschenk für seine Vermittlertätigkeit beim Wormser Konkordat erhalten und ließ laut Verzeichnis des Klosters Michelsberg in Bamberg um 1130 bei Kronach ein „steinernes Haus und einen Turm“ errichten. Archäologisch konnte bislang jedoch nicht nachgewiesen werden, dass diese Bauwerke tatsächlich auf dem Rosenberg standen. Möglicherweise befanden sie sich im Bereich einer im achten oder neunten Jahrhundert entstandenen Siedlung, deren Überreste im Jahr 1989 rund drei Kilometer nördlich der Kronacher Kernstadt zwischen den heutigen Stadtteilen Birkach und Friesen entdeckt wurden. Unter anderem wurden dort die steinernen Fundamente einer Turmburg gefunden, die auf das zwölfte Jahrhundert datiert wurden.Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Name Rosenberg als „Rosenberc“ in einem Schreiben von Papst Innozenz IV. vom 12. Juni 1249. Bischof Heinrich I. von Bilversheim hatte die Stadt und deren Umland im Jahr 1246 an Otto II. von Schaumberg verpfändet und der Papst sollte in dem daraus entstandenen Streit vermitteln. Im Langenstadter Vertrag von 1260, der die Rückgabe der verpfändeten Gebiete an das Hochstift Bamberg regelte, fand das „castrum in Ronssenberg“ Erwähnung. Dementsprechend muss Mitte des 13. Jahrhunderts eine Burg auf dem Rosenberg gestanden haben. Über deren Aussehen ist jedoch kaum etwas bekannt. In den folgenden beiden Jahrhunderten wurden die Befestigungen dieser Burg immer weiter verstärkt, um mit der fortschreitenden Entwicklung der Militärtechnik Schritt zu halten. So ließ Fürstbischof Philipp von Henneberg Ende des 15. Jahrhunderts um die bereits bestehenden Gebäude einen zweiten Mauerring mit mehreren Türmen errichten.Während des Bauernkrieges befand sich der Rosenberg 1525 für einige Zeit in der Hand der aufständischen Bauern, da sich Rat und Bürger von Kronach unter Führung des fürstbischöflichen Kastners Kunz Dietmann an dem Aufstand beteiligten und Stadt und Burg kampflos übergaben. Allerdings richtete sich das Aufbegehren der Kronacher vor allem gegen die Ritterschaft und nicht gegen den Bamberger Landesherrn. Nach der Niederschlagung des Aufstandes am 26. Juni 1525 ließ Fürstbischof Weigand von Redwitz vier der Anführer hinrichten; Dietmann behielt sein Leben, musste hierfür jedoch 800 Gulden an den Fürstbischof entrichten. Auch die Stadt Kronach wurde mit einer Strafzahlung in Höhe von 2000 Gulden belegt.Bereits wenige Jahrzehnte später mussten sich Stadt und Festung im Zweiten Markgrafenkrieg wiederum eines Angreifers erwehren: Albrecht II. Alcibiades, Markgraf von Brandenburg-Kulmbach, marschierte am 10. Oktober 1553 vor Kronach auf und forderte die Übergabe der Stadt. Da sich die Kronacher weigerten und eine Belagerung der befestigten Stadt mit seiner relativ kleinen Truppe nicht möglich war, musste Alcibiades unverrichteter Dinge abziehen. Ungleich schlimmer hatte der Markgraf zuvor die restlichen Gebiete des Hochstifts Bamberg heimgesucht: Er nahm unter anderem die Stadt Forchheim im Süden des Hochstifts ein und bedrohte die nicht von einer Stadtbefestigung geschützte Bischofsstadt Bamberg, die sich schließlich am 19. Mai 1552 geschlagen geben musste.
Als Reaktion auf die Erfahrungen aus diesen beiden Kriegen wurden nach der Niederlage des Markgrafen die Befestigungen Rosenbergs weiter verstärkt. So entstand gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts außerhalb der beiden bereits existierenden Befestigungsringe ein dritter Bering aus vier, hauptsächlich aus Erde und Holz bestehenden Basteien. Daneben wurde vor allem unter Fürstbischof Veit II. von Würtzburg die Burganlage zum Wohnschloss im Stil der Renaissance ausgebaut. Ziel war es, Rosenberg neben Bamberg und Forchheim als dritte Residenz der Bamberger Fürstbischöfe zu etablieren.
Der Dreißigjährige Krieg stellte eine große Bewährungsprobe für die Festung und die Stadt Kronach dar. In den Jahren 1632 bis 1634 mussten sich die Bewohner mehrerer Angriffe und Belagerungen durch die Schweden und deren deutsche Verbündete – unter anderem Coburg und Brandenburg-Kulmbach – erwehren. Durch die entschiedene Gegenwehr der Kronacher – insbesondere der Frauen – konnten die Angreifer jedoch erfolgreich zurückgeschlagen werden. Für ihre Tapferkeit bei der Verteidigung von Stadt und Festung wurden den Kronachern von Fürstbischof Melchior Otto Voit von Salzburg im Jahr 1651 ein neues Stadtwappen und verschiedene Privilegien für Bürgermeister und Stadtrat verliehen. Die Bürger revanchierten sich 1654 mit der Errichtung einer Ehrensäule für den Bischof. Seit 1633 wird jährlich zum Gedenken an die erfolgreiche Abwehr der Angriffe eine Schwedenprozession durch Altstadt und Festung durchgeführt.Obwohl Stadt und Festung erfolgreich verteidigt werden konnten, zeigte sich, dass die vorgeschobenen Verteidigungsanlagen nicht mehr den Erfordernissen der Militärtechnik entsprachen. Deshalb wurde unmittelbar nach Ende des Krieges und Abzug der Schweden aus Süddeutschland die Modernisierung der Festung in Angriff genommen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden die vier bereits bestehenden Basteien abgetragen und durch ein Verteidigungssystem aus fünf barocken Bastionen ersetzt. Den beiden Bastionen im Norden der Festung wurden in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch vier Vorwerke als zusätzliche Schutzmaßnahme zur Hauptangriffsseite hin vorgelagert.Erstmals bewähren konnten sich diese Verteidigungsanlagen im Siebenjährigen Krieg: Am 10. Mai 1759 näherten sich preußische Truppen unter Generalmajor Karl Gottfried von Knobloch der Stadt. Sie lagerten auf dem östlich des Rosenbergs gelegenen Kreuzberg und nahmen Kronach von dort aus unter Beschuss. Allerdings war die eingesetzte Feldartillerie nicht stark genug, um die Festung zu erreichen, und auch in der Stadt selbst richteten die Geschosse nur geringe Schäden an. Im Gegenzug reichten die Geschütze der Festung Rosenberg durchaus bis zu den preußischen Stellungen, sodass von Knobloch die Belagerung abbrechen ließ und mit seinen Truppen in Richtung Süden weiter zog.
=== Geschichte in Bayern ===
Mit der Säkularisation des Hochstifts Bamberg fielen Kronach und die Festung im Jahr 1803 (de facto bereits 1802) an das Kurfürstentum Bayern. Starke Veränderungen in der Art der Kriegsführung mit der Abkehr von Belagerungen und der Hinwendung zum Bewegungskrieg und der Entwicklung immer weiter tragender Angriffswaffen sorgten dafür, dass Festungsanlagen im 19. Jahrhundert zunehmend ihre militärische Bedeutung verloren. Lediglich aufgrund ihrer strategisch hervorragenden Lage am Rand des bayerischen Herrschaftsgebiets blieb Rosenberg zunächst als Garnisonsstandort erhalten. Bereits im Jahr 1805 wurde praktisch die komplette Ausstattung der Festung nach Würzburg überführt oder verkauft.Anfang Oktober 1806 diente die Festung Rosenberg als Lager für das Heer des französischen Kaisers Napoleon Bonaparte, der von hier aus seinen Feldzug gegen Preußen begann. Auf seinen Befehl wurden die insgesamt 14 Wachhäuschen an den Eckpunkten der Bastionen und das Wachhäuschen an der Nordspitze der Contregarde Carl entfernt. Napoleon wollte die Festung bei einem möglichen Scheitern seiner Pläne als Deckung für den Rückzug nutzen und fürchtete, die erkerförmigen Bauwerke könnten feindlichen Truppen als Zielpunkte für Geschütze dienen. Ein Teil der zerstörten Wachhäuschen wurde im 20. Jahrhundert rekonstruiert. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Festung noch mehrfach unter Waffen gestellt, zuletzt im Deutschen Bruderkrieg von 1866. Zu nennenswerten Kampfhandlungen kam es jedoch in keinem der Fälle.Nachdem am 10. Mai 1867 die Festungseigenschaft Rosenbergs durch das Kriegsministerium offiziell aufgehoben worden war, diente die Festung bis Anfang Februar 1869 als Militärgefängnis und wurde anschließend bis Ende März 1869 in eine für 100 Personen ausgelegte zivile Haftanstalt umgewandelt, verblieb jedoch unter militärischer Verwaltung. Neben „gewöhnlichen“ Häftlingen waren auf Rosenberg Personen untergebracht, die nach damaligem Strafrecht aufgrund einer höheren Bildung oder eines höheren gesellschaftlichen Standes zur Verbüßung einer Festungshaft verurteilt worden waren. Zu diesen Festungshäftlingen gehörten vor allem in den Jahren 1869/70 mehrere Vertreter des politischen Katholizismus, der sich gegen eine Annäherung Bayerns an den von Preußen dominierten Norddeutschen Bund wandte. Unter ihnen befand sich der Journalist Johann Baptist Sigl, ab 1869 Herausgeber der katholischen Tageszeitung Das bayerische Vaterland, der wegen Beleidigung des preußischen Königs während seiner Zeit als Redakteur des Volksboten verurteilt worden war. Auch zahlreiche katholische Geistliche waren aus demselben Grund in Kronach inhaftiert. Nach dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 wurden die wegen Majestätsbeleidigung Verurteilten von König Ludwig II. begnadigt und aus der Haft entlassen, um die Festung für die Unterbringung französischer Kriegsgefangener nutzen zu können. Nach dem Krieg waren nur noch wenige Häftlinge auf Rosenberg untergebracht, sodass die Strafanstalt im Jahr 1875 geschlossen wurde. Am 14. Mai 1888 erwarb die Stadt Kronach für 32.000 Mark die insgesamt 23,6 Hektar große Anlage und bewahrte sie so vor der Schleifung.Während des Ersten Weltkriegs unterhielt die Bayerische Armee in der Festung ein Kriegsgefangenenlager für Offiziere. Hierfür war zunächst eine umfassende Instandsetzung der inzwischen weitgehend leerstehenden Räumlichkeiten und die Ausstattung mit neuer Einrichtung für die Unterbringung von rund 90 Gefangenen und deren Wachpersonal erforderlich. In den vier Jahren, in denen das Lager bestand, waren dort insgesamt 98 französische Offiziere und 24 Soldaten, 206 russische Offiziere und 64 Soldaten, 29 englische Offiziere, sowie ein belgischer Offizier und acht Soldaten untergebracht. Die Offiziere genossen im Vergleich zu den einfachen Mannschaftsrängen verschiedene Vergünstigungen hinsichtlich Quartier und Verpflegung. Daneben war ihnen die Teilnahme an Spaziergängen außerhalb der Festungsmauern gestattet, wenn sie ihr Ehrenwort gaben, keinen Fluchtversuch zu unternehmen. Ein Bruch dieses Ehrenwortes wurde nach dem Militärstrafgesetz mit dem Tod bestraft. Zu den gefangenen Offizieren gehörte vom 20. Juli bis 21. November 1917 auch der französische Hauptmann Charles de Gaulle, der spätere General und Staatspräsident von Frankreich. De Gaulle gab das geforderte Ehrenwort nicht und wurde nach zwei Fluchtversuchen, für die er mit je 60 Tagen verschärftem Arrest bestraft wurde, zunächst in ein Lager in der Festung Ingolstadt und später auf die Wülzburg in der Nähe von Weißenburg in Bayern verlegt. Im Anschluss an die Auflösung des Kronacher Lagers im November 1918 diente die Festung als zivile Wohnung, unter anderem für den Bürgermeister und höhere Beamte.Während des Zweiten Weltkriegs diente Rosenberg von 1942 bis 1944 als Arbeitslager für die Unterbringung von polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitskräften, die in der Porzellanfabrik Rosenthal in Kronach bei der Herstellung von Industrieporzellan eingesetzt wurden. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs sollten auf der Festung unter der Tarnbezeichnung „GeKro“ (Gefängnis Kronach) Teile für den Raketenjäger Messerschmitt Me 163 produziert werden. Hierfür wurden durch die Organisation Todt diverse Veränderungen an den Kasematten der Bastionen St. Lothar und St. Philipp vorgenommen und zwischen Contregarde Carl und Waffenplatz Philipp Betonarbeiten durchgeführt. Die geplanten Produktionshallen wurden jedoch nie fertiggestellt und in Betrieb genommen, wodurch Festung und Stadt von einer Bombardierung durch alliierte Bomberverbände weitgehend verschont blieben. Nach 1945 diente die Festung zeitweise als Flüchtlingslager, später wurden mehrere feste Wohnungen eingerichtet, die zum Teil bis in die 1980er Jahre Bestand hatten.
=== Heutige Nutzung ===
Die Festung Rosenberg steht heute unter Denkmalschutz. Sie befindet sich noch immer im alleinigen Besitz der Stadt Kronach und belastet deren Haushalt stark. Von 1980 bis Anfang 2017 wurden insgesamt etwa 40 Millionen Euro für Instandhaltung und Sanierung und die touristische Erschließung der Anlage aufgewendet. Die Bauarbeiten, die auf dem 2008 beschlossenen sogenannten Festungsnutzungskonzept basieren, sollen Mitte der 2020er Jahre abgeschlossen werden. Das jährliche Budget beläuft sich auf eine Million Euro. In den Jahren 2013 bis 2015 wurde die Sanierung der Festung vom Freistaat Bayern mit 4,2 Millionen Euro gefördert; die Eigenleistung der Stadt für diesen Zeitraum belief sich auf 250.000 Euro. Auch in den Jahren 2016 bis 2018 wurden die Sanierungskosten zu rund 90 % mit Fördermitteln des Freistaats gedeckt.Im Südflügel der Kernburg, dem sogenannten Kommandantenbau, befindet sich seit Juli 1983 die Fränkische Galerie, ein Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums. Auf etwa 1000 m² Ausstellungsfläche, die sich über 13 Räume auf drei Etagen verteilt, wird vor allem fränkische Kunst des 13. bis 16. Jahrhunderts präsentiert. Zu den Exponaten gehören Werke von Wolfgang Katzheimer, Adam Kraft, Hans von Kulmbach, Paul Lautensack und Veit Stoß. Eigene Abteilungen der Galerie sind dem Schaffen Tilman Riemenschneiders und des aus Kronach stammenden Lucas Cranach und deren Werkstätten gewidmet. Neben den Werken fränkischer Künstler werden auch verschiedene Exponate aus Frankreich und Nordwestdeutschland gezeigt. Ebenfalls museal genutzt wird seit 1994 ein Teil des Ostflügels, des sogenannten Fürstenbaus. Gezeigt werden dort wechselnde Sonderausstellungen, unter anderem mit zeitgenössischer Kunst. Die restlichen Räume des Ostflügels und der Nord- und der Westflügel werden von der Festungsherberge genutzt.
Auf einer Freilichtbühne auf der Bastion St. Heinrich finden seit 1995 alljährlich die Rosenberg-Festspiele statt, bei denen verschiedene Klassiker der Theaterliteratur in modernen, volksnahen Inszenierungen dargeboten werden. Die Spiele wurden ursprünglich von Daniel Leistner und Ulrike Mahr unter dem Namen Faust-Festspiele ins Leben gerufen und umfassten bis 2015 immer Aufführungen von Johann Wolfgang von Goethes Stück Faust. Eine Tragödie, dem die Festspiele ihren Namen verdankten. Nach der Saison 2015 wurde der Vertrag mit Daniel Leistner, der bis dahin Intendant der Festspiele war, von der Stadt Kronach nicht verlängert. Die Festspiele auf der Festung Rosenberg wurden 2016 mit verändertem Konzept, einem neuen Führungsteam und einem neuen Namen fortgesetzt.Im äußeren Wallgraben findet seit 2007 alljährlich das Musikfestival Die Festung rockt statt, das vom Kronacher Jugend- und Kulturtreff Struwwelpeter organisiert wird und sich vor allem an Jugendliche und junge Erwachsene richtet. Ebenfalls seit 2007 wird im mittleren Wallgraben die Rosen- und Gartenmesse veranstaltet. Eingebettet in ein buntes Rahmenprogramm, werden hier Produkte und Informationen rund um das Thema Garten präsentiert. Im Rahmen der Sommerakadamie Cranach-Werkstätten werden jährlich im Juli/August verschiedene Künstlerkurse für Laien angeboten. Alle zwei Jahre findet seit 2008 (jeweils in den geraden Jahren) das Festival Crana Historica auf der Festung statt, das mit einem Feldlager, Märkten, einer Waffenschau, Musik und Reiterspielen die Geschichte von Stadt und Festung nahebringt. Bei dem jährlich stattfindenden Festival Kronach leuchtet ist die Festung zumeist in den sogenannten Lichtweg durch die Kronacher Altstadt eingebunden.Außerdem befinden sich auf der Festung ein Informations- und Dokumentationszentrum zur Festungsgeschichte und ein Steinmetzmuseum. Weiterhin gibt es eine Festungsgaststätte, eine Cafeteria, ein Standesamt (Trauungszimmer) sowie verschiedene Veranstaltungssäle, die für Hochzeiten und Veranstaltungen aller Art gemietet werden können. Täglich (außer montags) werden Führungen durch die oberirdischen und einen Teil der unterirdischen Anlagen durchgeführt.
Im Jahr 1977 wurden Teile des Kostüm- und Abenteuerfilms Tod oder Freiheit auf der Festung gedreht. Im Oktober 2018 diente Rosenberg zusammen mit der Kronacher Altstadt als Kulisse für den Kinofilm Resistance – Widerstand, einer Filmbiografie über den französischen Pantomimen Marcel Marceau.
== Baugeschichte ==
Mit ihren zahlreichen Bauabschnitten, die vom 13. bis zum 18. Jahrhundert reichen, gilt die Festung Rosenberg, die fast vollständig in originaler Bausubstanz erhalten ist, als herausragendes Beispiel für die Entwicklung des deutschen Wehrbaus vom Mittelalter bis zum Barock. Die Zuordnung der verschiedenen Baumaßnahmen zu einem bestimmten Bauherren ist jedoch nicht immer einfach. Zwar existieren in der gesamten Anlage zahlreiche Bauinschriften und Wappentafeln, die Zeugnis von den Bautätigkeiten der Fürstbischöfe ablegen, allerdings sind diese Wappen vor allem im Bereich der Kernburg oftmals in dichter Nachbarschaft zueinander zu finden. Vermutlich wurden die Wappentafeln abgebrochener Bauten bei der Errichtung neuer Gebäude wieder integriert, um so das hohe Alter des Gesamtbauwerks herauszustellen, was letztlich das Ansehen des Besitzers steigerte.
=== Anfänge und spätgotischer Ausbau ===
Über das Aussehen der Burg bei der ersten urkundlichen Erwähnung in der Mitte des 13. Jahrhunderts ist kaum etwas bekannt. Der etwa 38 m hohe Bergfried im Innenhof der heutigen Kernburg wurde vermutlich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts unter Bischof Berthold von Leiningen errichtet. Er ist das älteste erhaltene Gebäude der Festung; der Treppenturm an seiner Südseite und die Dachhaube stammen jedoch erst aus späterer Zeit. Ende des 14. Jahrhunderts folgte vermutlich unter Fürstbischof Lamprecht von Brunn eine Bauphase, in der die Burg einen relativ regelmäßigen rechteckigen Grundriss erhielt. Die steinernen Außenmauern des inneren Befestigungsrings, der zuvor lediglich aus einfachen Palisaden bestand, und die beiden später stark veränderten Ecktürme im Norden, der Schmiedsturm und der Nordostturm, dürften dieser Bauperiode entstammen. Im 15. Jahrhundert wurde die Burg um weitere Gebäude ergänzt und die Verteidigungsfähigkeit verbessert. Das älteste erhaltene Wappen stammt von Georg I. von Schaumberg, Fürstbischof von 1459 bis 1475. Es befindet sich am Ostflügel der Kernburg oberhalb des Spitaltors, das während von Schaumbergs Regentschaft im Jahr 1468 umgebaut wurde. Auch an den beiden nördlichen Ecktürmen ist das Wappen des Fürstbischofs zu finden, sodass diese seinerzeit ebenfalls Veränderungen erfahren haben dürften.Ein weiterer Bauabschnitt folgte unter Fürstbischof Philipp von Henneberg, der von 1475 bis 1487 regierte. Er ließ um die bereits bestehende Burg einen zweiten Bering errichten, der im Norden in Form einer rund 14 m dicken Futtermauer ausgeführt ist. Außerhalb dieses neuen Berings, der im Süden an die Gebäude der Kernburg anstößt, wurden mehrere Rundtürme errichtet. Sieben dieser einst vermutlich neun Turmbauwerke sind heute – teilweise in deutlich veränderter Form – noch erhalten. Im Westen ließ der Fürstbischof 1477 ein großes Zeughaus errichten, das im 16. Jahrhundert aufgestockt wurde, 1486 entstand im Süden der Vorgängerbau des heutigen Kommandantenbaus. Im Südwesten wurde zwischen Dickem Turm und Kapitänsturm ein neues Tor eingerichtet, das heutige Zeughaustor.
=== Erweiterungen der Renaissance ===
Die Bautätigkeit unter Fürstbischof Weigand von Redwitz, in dessen Regierungszeit von 1522 bis 1556 der Bauernkrieg und der Zweite Markgrafenkrieg fielen, konzentrierte sich vor allem auf die Kernburg. So ließ er Veränderungen an den beiden nördlichen Ecktürmen, dem Schmiedsturm und dem Nordostturm, und im Umfeld des Spitaltors an der Ostseite vornehmen. Im Jahr 1532 wurde rechts neben dem Tor eine polygonal hervortretende Streichwehr errichtet, von der aus der Bereich vor dem Tor unter Feuer genommen werden konnte. Auch zwei Türme des mittleren Berings erfuhren unter von Redwitz Veränderungen. Im Jahr 1552 wurde der Salzturm an der Ostseite der Anlage – bis dahin ein zum Burginneren hin offener Schalenturm – für die trockene Lagerung von Salz und Schießpulver geschlossen und um ein Geschoss erhöht. 1553 folgte der Dicke Turm im Südwesten: Er wurde für die Nutzung als Artillerieturm mit bis zu vier Metern dicken Mauern ausgestattet und auf fünf Etagen aufgestockt.Während der Regentschaft von Fürstbischof Veit II. von Würtzburg in den Jahren 1561 bis 1577 erhielt die Kernburg unter Baumeister Daniel Engelhardt, der zuvor beim Wiederaufbau der nach dem Markgrafenkrieg zerstörten Plassenburg in Kulmbach mitgewirkt hatte, weitgehend ihr heutiges Aussehen. Sie wurde zur Vierflügelanlage im Stil eines Renaissanceschlosses um- und ausgebaut, um als bischöfliche Wohnanlage dienen zu können. Mehrere Gebäude der Kernburg, darunter die beiden Nordtürme und der Ost- und der Südflügel, wurden um zusätzliche Stockwerke erhöht. Im Innenhof entstanden in der Nordost-, Nordwest- und Südwestecke und am Ostflügel Treppentürme, die in die oberen Etagen führen. Der Bergfried erhielt im Jahr 1571 an der Südseite ebenfalls einen schlanken Treppenturm. Aufgestockt wurde 1564 auch der direkt südöstlich des Ostflügels gelegene Schieferturm, der im Kern bereits im 15. Jahrhundert unter Philipp von Henneberg als Bestandteil des zweiten Berings errichtet worden war.Unter Fürstbischof Ernst von Mengersdorf, der von 1583 bis 1591 regierte, wurde in den Jahren 1588 bis 1591 nördlich des bereits bestehenden Zeughauses das Neue Zeughaus errichtet. Die beiden Gebäude stoßen in einem leichten Winkel aufeinander; an der Innenseite der Knickstelle wurde ein neuer Treppenturm errichtet. Auch das bislang noch eingeschossige Alte Zeughaus ließ der Fürstbischof um zwei weitere Stockwerke erhöhen. Diese Arbeiten wurden aber erst 1595 unter Neidhardt von Thüngen, dem Nachfolger von Mengersdorfs, abgeschlossen. In der Regierungszeit von Johann Philipp von Gebsattel, Fürstbischof von 1599 bis 1609, wurden unter anderem am Zeughaustorbau Veränderungen vorgenommen, wo ein neuer Wohnflügel entstand.Auch erste Versuche einer bastionären Befestigung der Burganlage gab es im späten 16. Jahrhundert. Diese Bauwerke erwiesen sich jedoch als wenig zukunftsträchtig; sie wurden deshalb zugunsten der im 17. Jahrhundert angelegten barocken Bastionen wieder abgetragen. Nur sehr wenige Spuren dieser Befestigungen der Renaissance sind heute noch erkennbar. Zum Teil gibt es für ihre Existenz nur Belege in Form historischer Abbildungen.
=== Barocke Bastionierung ===
Als Vorbereitung auf den Dreißigjährigen Krieg waren im Norden der Festung – zusätzlich zu den bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts erfolgten Befestigungsmaßnahmen – zwei Erdbasteien errichtet worden, vor denen 1626 noch ein Halsgraben, der heutige äußere Wallgraben, ausgehoben wurde. Obwohl Stadt und Festung erfolgreich verteidigt werden konnten, zeigte sich, dass die hauptsächlich aus Holz und einfachen Erdwällen bestehenden vorgeschobenen Verteidigungsanlagen nicht mehr der damaligen Militärtechnik entsprachen. Deshalb wurde unmittelbar nach Ende des Krieges und Abzug der Schweden aus Süddeutschland die Modernisierung der Festung in Angriff genommen.Bei dem in den 1650er Jahren unter Fürstbischof Philipp Valentin Voit von Rieneck begonnenen barocken bastionären Ausbau des Rosenbergs strebten die Baumeister für die Festung die Form eines regelmäßigen Fünfecks an; dieses galt im Festungsbau als Idealform für kleinere Festungen. Zuerst wurden die beiden Bastionen im Nordwesten und im Osten der Festung errichtet, da die etwa an gleicher Stelle befindlichen Vorgängerbauten während des Dreißigjährigen Krieges stark gelitten hatten. Der Grundstein für Bastion II, St. Valentin, wurde am 26. Juni 1656 gelegt; der Bau war nach nur zwei Jahren Bauzeit abgeschlossen. Am 24. April 1659 wurde mit der Bastion IV begonnen; die Bauarbeiten daran zogen sich bis zum Jahr 1663 hin. Bereits am 22. März 1668 stürzte ein Teil des ursprünglich St. Sebastian genannten Bauwerks vermutlich aufgrund ungenügender Entwässerung wieder ein. Die nunmehr als St. Philipp bezeichnete Bastion musste deshalb unter Fürstbischof Marquard Sebastian Schenk von Stauffenberg bis zum Jahr 1693 erneuert werden. Die Grundsteinlegung für Bastion I, St. Kunigunde, erfolgte am 10. Oktober 1663. Errichtet wurde sie vom italienischen Baumeister Andrea Juliat. Mit dem Bau von Bastion V, St. Heinrich, wurde am 3. August 1671 begonnen. Die Arbeiten an der bis zu 25 Meter hohen Mauer zogen sich allerdings bis zum Jahr 1689 hin; zu diesem Zeitpunkt waren Philipp Valentin Voit von Rieneck, unter dessen Herrschaft der Bau ursprünglich begonnen wurde, mit Peter Philipp von Dernbach und Marquard Sebastian Schenk von Stauffenberg bereits zwei weitere Fürstbischöfe nachgefolgt. Im Jahr 1699 wurde unter Fürstbischof Lothar Franz von Schönborn St. Lothar, die letzte Bastion im Norden der Festung, vollendet. Sie ersetzte die bereits 1660 unter Voit von Rieneck errichtete, schwächer ausgelegte Bastion St. Alexander, die eingestürzt war. Verantwortlich für die Bauarbeiten an St. Lothar war Baumeister Julius Mondalto. Mit dem unter Philipp Valentin Voit von Rieneck errichteten Festungstor entstand 1662 zwischen den beiden südlichen Bastionen das repräsentativste Bauwerk der Festung.
=== Erweiterungen im 18. Jahrhundert ===
Im Jahr 1701 entstand unter Baumeister Johann Christein direkt östlich des Schieferturms der langgestreckte Bau der Artilleriekaserne, der außen an die Südostseite des mittleren Berings angelehnt ist. Das Obergeschoss des Gebäudes war ursprünglich in Fachwerk ausgeführt, das erst 1848 durch das heutige Quadermauerwerk ersetzt wurde. Der Gebäudeabschluss mit einer Verzahnung an der Nordseite lässt vermuten, dass eine spätere Erweiterung bis zum weiter nördlich stehenden Salzturm angedacht war. Aufgrund ihrer vergleichsweise leichten Bauweise hätte die Kaserne im Falle eines Angriffes nur wenig Schutz geboten.Johann Maximilian von Welsch, der als Baumeister für den Mainzer Erzbischof und den Bamberger Fürstbischof Lothar Franz von Schönborn tätig war, inspizierte die Festung in seiner Funktion als Oberbaudirektor zwischen 1706 und 1724 mehrere Male. Inwieweit der in Kronach geborene von Welsch selbst als Baumeister auf dem Rosenberg aktiv war, ist unklar.Unter Fürstbischof Friedrich Karl von Schönborn-Buchheim erfolgte in den Jahren 1730 bis 1733 der Umbau des Südflügels des Inneren Schlosses zur Neuen Kaserne. Hierfür wurde der Großteil des 1486 unter Philipp von Henneberg entstandenen Vorgängerbaus abgerissen; erhalten blieb die im östlichen Drittel gelegene Schlosskapelle. Ein direkt südlich der Neuen Kaserne stehender Rundturm wurde zum Treppenaufgang umgebaut. Ausgeführt wurden die Arbeiten vom berühmten Barockbaumeister Balthasar Neumann, der unter anderem für die Basilika Vierzehnheiligen bei Bad Staffelstein und die Würzburger Residenz verantwortlich zeichnete. Das Innere des heute als Kommandantenbau bezeichneten Gebäudes wurde im 20. Jahrhundert für die Nutzung als Museum stark verändert.In den 1740er und 1750er Jahren wurden von Johann Jakob Michael Küchel im Norden der Festung die insgesamt vier Vorwerke errichtet. Zunächst entstand unter Fürstbischof Friedrich Karl von Schönborn-Buchheim von 1741 bis 1743 die Contregarde Carl, an deren Bau auch Balthasar Neumann beteiligt war. Der Kontergarde folgten das Ravelin Anton und der Waffenplatz Philipp, die während der Regentschaft von Johann Philipp Anton von und zu Frankenstein zwischen 1746 und 1753 entstanden. Zuletzt wurde um das Jahr 1750 herum der unbenannte Waffenplatz vor der Bastion St. Valentin errichtet. Geplant war ursprünglich lediglich die vor der Bastion St. Lothar gelegene Contregarde Carl. Da die Kontergarde allein jedoch nicht ausreichend war, um den breiten Bergrücken nördlich der Festung abzusichern, wurden letztlich insgesamt vier Werke errichtet. Aus erhalten gebliebenen Bauplänen ist ersichtlich, dass die Errichtung weiterer Vorwerke geplant war. So sollten etwa die beiden südlichen Bastionen der Festung mit je einer Kontergarde und das dazwischen liegende Festungstor mit einem Ravelin geschützt werden. Bei Untersuchungen am Mauerwerk der Festung im Jahr 2002 wurde mit einem Suchschnitt am Ravelin Anton festgestellt, dass das Vorwerk – anders als etwa die Bastionen – nicht durch den Aufbau von Mauern, die im Inneren mit Erdreich, Bruchsteinen oder Ähnlichem verfüllt wurden, entstanden ist. Stattdessen wurden um das geplante Bauwerk herum Gräben in den Fels geschnitten und der so ausgegrabene Felskern mit Sandsteinquadern verblendet. Diese Konstruktionsweise wird auch bei den anderen Vorwerken vermutet.
=== Veränderungen im 19. und 20. Jahrhundert ===
Nachdem Kronach 1802 in den Besitz des Kurfürstentums Bayern übergegangen war, führte die Bayerische Armee nur noch geringe Um- und Ausbaumaßnahmen an der Festung durch. Über dem Brunnen im innersten Burghof wurde 1813 ein beschusssicheres Brunnenhaus errichtet, das Provianthaus an der Südostseite des mittleren Berings erweitert und die ursprüngliche welsche Dachhaube des Bergfrieds samt der darunter gelegenen Türmerstube abgebrochen, um dort eine Geschützstellung einzurichten. Bald darauf wurde dem Turm, der für derartige Belastungen nicht ausgelegt war, wieder ein Dach aufgesetzt. Im Jahr 1869 wurden die Zugbrücke und der Graben vor dem Festungstor entfernt und durch den heutigen Zugangsweg ersetzt. Das Brunnenhaus wurde 1919 wieder abgebrochen.Letztmals wurden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Umbauten für militärische Zwecke an der Festung vorgenommen. Unter der Tarnbezeichnung „GeKro“ (Gefängnis Kronach) sollten für die geplante Herstellung von Teilen für den Raketenjäger Messerschmitt Me 163 Produktionshallen errichtet werden. Vorgesehen war die Bereitstellung einer Fläche von 8500 m²: 2500 m² reine Fertigungsfläche, 1500 m² für Lager und untergeordnete Produktionsstätten, 1500 m² für die Verwaltung und 3000 m² für Unterkünfte und Verpflegung. Die Büroräume wurden ab 1. September 1944 vor allem im südlich der Festung gelegenen Gebäude der Jugendstrafanstalt eingerichtet, das ursprünglich um 1800 als fürstbischöflicher Kastenboden erbaut wurde und heute als Justizvollzugsanstalt dient. Auf der Festung stand zunächst nur eine Fläche von rund 1250 m² zur Verfügung, die durch verschiedene Aus- und Umbaumaßnahmen der Organisation Todt vergrößert werden sollte. Die Kasematte der Bastion St. Philipp wurde mit einer Zwischendecke aus Beton versehen und eine Versorgungsöffnung in die Außenmauer gebrochen, die nach Ende des Krieges wieder verschlossen wurde. Die Kasematte der Bastion St. Lothar wurde ebenfalls umgebaut; zwei Kanonenschießscharten in der Außenmauer wurden verschlossen, eine dritte wurde als Zugangsöffnung herausgebrochen. Neben diesen abgeschlossenen Arbeiten wurden diverse Vorarbeiten an der Kasematte der Contregarde Carl und im Graben zwischen der Kontergarde und dem Waffenplatz Philipp durchgeführt. Dort entstanden Stützfundamente aus Beton, die später eine Überdachung tragen sollten. Die Gräben zwischen den anderen Vorwerken der Festung und der gesamte Bereich des Äußeren Wallgrabens zwischen Contregarde Carl, Waffenplatz Philipp und Bastion St. Lothar sollten ebenfalls überdacht werden. Diese Pläne kamen bis zum Kriegsende jedoch nicht mehr zur Ausführung und die bereits vollendeten Teile der Produktionsanlagen wurden nie in Betrieb genommen, wodurch die Festung von einer gezielten Bombardierung durch die Alliierten verschont blieb.Zu Beginn der 1980er Jahre wurde das Innere des Kommandantenbaus für die Nutzung als Museum zunächst vollständig entkernt und anschließend nach dem originalen Grundriss neu aufgebaut und ausgestattet.
=== Umbauten im 21. Jahrhundert ===
Für die touristische Erschließung und den barrierefreien Zugang wurden vor allem in den 2010er Jahren in Abstimmung mit dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege zahlreiche Sanierungs- und Umbauarbeiten an der unter Denkmalschutz stehenden Festungsanlage vorgenommen. Der lange Zeit leer stehende Westflügel und der bereits zuvor von der Festungsherberge belegte Nordflügel wurden bis 2019 für die Nutzung als Hotelbetrieb saniert, modernisiert und ausgebaut. Die Räumlichkeiten im ebenfalls bereits von der Herberge genutzten Ostflügel sollen in den kommenden Jahren folgen. Ebenfalls saniert werden seit 2013 die beiden Zeughäuser. Im Neuen Zeughaus entstand bis 2019 ein für rund 200 Personen ausgelegter Veranstaltungssaal, Teile des Alten Zeughauses sollen nach Abschluss der Arbeiten museal genutzt werden. Im äußeren Wallgraben wurden im Jahr 2019 zwischen den Bastionen St. Lothar und St. Philipp zusätzliche Parkplätze für Pkw und Busse angelegt. Bis Ende Dezember 2020 wurde ein barrierefreier Zugang von den Parkflächen in das Innere der Festung geschaffen. Der Eintritt erfolgt über einen während des Zweiten Weltkriegs in der Nordwand der Bastion St. Philipp angelegten Durchgang, der nach Kriegsende wieder verschlossen worden war.
== Kommandanten ==
Die Aufgabe des Kommandanten der Festung wurde in Personalunion mit der des Oberamtmanns im Amt Kronach besetzt. 1739 wurde die Militär- und Zivilfunktion getrennt. Neuer militärischer Kommandeur wurde Christoph Karl Maximilian von Egloffstein, Oberamtmann wurde Johann Joseph von Künsberg. Von Egloffstein wurde 1746 als Kommandeur der Festung Forchheim versetzt.
Kommandanten waren:
Georg Wolfgang von Rotenhan (1653–1695)
Otto Philipp von Schrottenberg (1715–1738)
Christoph Karl Maximilian von Egloffstein (1739–1746)
Heinrich August Marschalk von Ostheim (1770–1775)
Philipp Ernst von Redwitz (1774–1787)
== Literatur ==
Tilmann Breuer: Landkreis Kronach (= Bayerische Kunstdenkmale. Band 19). Deutscher Kunstverlag, München 1964, DNB 450619354, S. 87–119.
Tilmann Breuer: Die Festung Rosenberg (= DKV-Kunstführer. Nr. 356). 5., überarbeitete Auflage. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2002.
Daniel Burger: Die Festung Rosenberg ob Kronach. In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hrsg.): Kronach (= Edition Bayern. Band 6). Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2011, ISBN 978-3-7917-2403-4, S. 14–25.
Bernd Wollner: Die Festung Rosenberg: Ein Führer und Begleiter durch Kronachs berühmte Wehranlage. Hrsg.: Tourismus- und Veranstaltungsbetrieb der Stadt Kronach. Helmut Angles Druck & Verlag, Kronach 2002, ISBN 3-00-009879-8.
Bernd Wollner: Festung Rosenberg in Kronach (= Der historische Ort. Nr. 118). Kai Homilius Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-89706-117-1.
== Weblinks ==
Geschichte der Festung auf der Webseite der Stadt Kronach
Beschreibung und Erläuterung der Wappen der Festung Rosenberg
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Festung_Rosenberg
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Burg Ligist
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= Burg Ligist =
Die Burgruine Ligist, auch Alt-Ligist und Lubgast genannt, ist die Ruine einer Höhenburg auf einem Ausläufer des Wartensteins im Nordosten der Marktgemeinde Ligist in der Steiermark in Österreich. Die Geschichte der Burg reicht bis zum Ende des 12. Jahrhunderts zurück, als sie vermutlich von Eppensteiner Dienstmannen zum Schutz der Handelsstraße nach Kärnten errichtet wurde. Unter ihrem Schutz gedieh auch der Ort Ligist, der 1464 durch Kaiser Friedrich III. die Marktrechte verliehen bekam. Ab der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts saßen die Lubgaster auf der Burg, ehe diese mit Beginn des 14. Jahrhunderts an die mit ihnen verwandten Herren von Saurau überging. Unter den Saurau wurde während der Renaissance die Burg umgebaut, ehe im 17. und 18. Jahrhundert die Verschuldung der Herrschaft zunahm. Ab 1783 wohnten die Saurau auf dem zum Schloss Ligist ausgebauten ehemaligen Meierhof der Burg. Die Burg selbst galt bereits als baufällig und wurde durch einquartierte Truppen Napoleon Bonapartes weiter zerstört. Nach dem Einsturz von Gebäudeteilen wurde die Burg ab 1820 dem Verfall preisgegeben. Nach dem Aussterben der Saurau kam sie an die Grafen von Goess, ehe sie 1928 in den Besitz des Souveränen Malteserordens gelangte, dem sie heute noch gehört. Zwischen 1975 und 2011 wurde das Bauwerk vom eigens dafür gegründeten Burgverein Ligist instand gehalten.
Die Burg wurde in drei bis vier Bauphasen errichtet, wobei die ältesten Teile aus dem späten 12. und frühen 13. Jahrhundert, die jüngsten aus dem 16. oder 17. Jahrhundert stammen. Der 18,7 Meter hohe Bergfried, der älteste Teil der Burg, wurde in der Renaissancezeit umgestaltet, dabei wurden mehrere Gewölbedecken neu eingezogen. An den Bergfried wurde im 16. Jahrhundert ein Palas angebaut. In der Vorburg befanden sich Wohn- und Werkstattgebäude der Untergebenen.
== Standort ==
Die Burg befindet sich im Nordosten des Ortes Ligist auf einer auf drei Seiten steil abfallenden und mit Gras bewachsenen Rückfallkuppe. Diese ist ein südöstlicher Ausläufer des Wartensteins und des Ligistberges und erhebt sich über das Ligisttal. Das Burgplateau liegt gut 40 Meter über dem Ligister Ortszentrum. Im Norden wird das Burgplateau vom Tuschbach und im Süden vom Marktbachl begrenzt. Die Hänge dieses Bergrückens wurden teilweise künstlich geböscht, der Burgzugang erfolgte von Nordwesten und war durch einen Graben gesichert. Durch das Tal verlief die alte Handelsstraße vom Kainachtal über die Hebalm nach Kärnten, auf der vor allem Wein transportiert wurde.
== Geschichte ==
Kaiser Otto III. schenkte dem Markgrafen Adalbero von Eppenstein im Jahr 1000 Landbesitz im Gebiet der heutigen Gemeinde Ligist. Dieses Gebiet kam teilweise an die Aribonen, die den Ligisterwald 1175 dem Stift Rein schenkten, und schließlich über eine Erbschaft in den Besitz der mit den Eppensteinern verwandten Herren von Wildon. Die Burg wurde vermutlich gegen Ende des 12. Jahrhunderts errichtet, um die umliegende Gegend sowie die vom Kainachtal über den Aiblwirt auf die Hebalm und dann weiter nach Kärnten verlaufende Handelsstraße mit dem Weintransport zu schützen. Bauherren könnten Dienstmannen der Eppensteiner gewesen sein, die von der Dietenburg am gegenüberliegenden Dietenberg dorthin übersiedelten.Der erste urkundliche Nachweis eines Burgherren stammt aus dem Jahr 1222 und nennt einen Ulrich de Lubgast, der auf der „Veste Lubgast“ seinen Ansitz hatte. Die Lubgaster waren ein Ministerialengeschlecht und Gefolgsleute der Herren von Wildon. Im 13. Jahrhundert wurde der Wehrbau ausgebaut und erweitert. Der 1261 genannte Ulrich von Ligist und sein gleichnamiger Sohn oder Enkel verkauften in den Jahren 1292 und 1353 Besitzungen um Ligist an das Stift Rein. Um 1300 erwarben die mit den Lubgastern verwandten Herren von Saurau Besitzrechte an der Burg sowie der Herrschaft und um 1355 erhielt Starchant von Saurau die „vest ze Lubgast“ als freies Eigen. Das erst kurz vor 1478 erloschene Geschlecht der Lubgaster verlegte ab etwa 1320 seinen Wohnsitz auf die Hohenburg. Die Bezeichnung „vest“ deutet auf einen vollständigen Burgausbau mit Wohnturm zu jener Zeit hin. Zwischen 1370 und 1387 ist ein Albel der Gugel belegt, der vermutlich als Burgpfleger den Freiherren von Saurau diente.Im Jahr 1542 hatte die Herrschaft Ligist mehr als 200 Bauern als Untertanen. Unter Franz von Saurau bekannten sich ab etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts die Bewohner von Ligist sowie die dazugehörige Herrschaft zum Protestantismus; die Burgkapelle wurde als protestantisches Bethaus umfunktioniert. Der Burgherr bat den damaligen Abt des Stiftes St. Lambrecht solange mit der Neubesetzung der offenen Pfarrstelle in Ligist zu warten, bis der Sohn des zuvor verstorbenen protestantischen Pfarrers Christof Hayden sein Studium abgeschlossen hatte. Der Sohn erhielt die Pfarrstelle im Jahr 1555 und nach 1564 schickte das Stift St. Lambrecht einen neuen katholischen Pfarrer nach Ligist, der jedoch von Franz von Saurau abgelehnt wurde. Mit Christof Stober kam kurz darauf wieder ein neuer katholischer Pfarrer nach Ligist, der aber in der Bevölkerung unbeliebt war; daraufhin setzte Franz von Saurau eigenmächtig einen protestantischen Pfarrer ein. Ab 1594 erhielt Franz von Sarau mehrere landesfürstliche Befehle, den protestantischen Pfarrer abzusetzen, die er ignorierte. 1599 griff auch der Abt von St. Lambrecht ohne Erfolg ein. Im Spätherbst 1599 zwang eine Reformkommission in Begleitung von kaiserlichen Truppen Franz von Saurau schließlich, den Pfarrer abzusetzen. Die Soldaten richteten bei ihrem Eingreifen zum Teil große Schäden an der Burg an und die Bewohner kehrten zur katholischen Kirche zurück. Die alte Burgkapelle wurde als Bethaus aufgelassen und man begann die Einrichtung einer neuen, der heiligen Maria geweihten Burgkapelle im darüberliegenden Stockwerk. Ein Inventar aus dem Jahr 1620 listet insgesamt 22 Zimmer, Vorräume und Kammern in der Burg auf und in Schätzungen der Jahre 1669 und 1725 wird eine Alchemistenstube zur Herstellung von Gold erwähnt. Ein Teil der Burg sowie die Rüstkammer brannten 1621 ab, wurden aber kurze Zeit danach von Karl von Saurau erneuert. Unter Karls Sohn Rudolf begannen die Schulden der Herrschaft zu wachsen und die Verschuldung stieg im Laufe des 18. Jahrhunderts weiterhin stark an. Trotzdem blieb die Herrschaft bis zum Aussterben der Familie Saurau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Besitz der Burg. Ab 1783 wohnten die Saurau aber nicht mehr dort, sondern in dem von ihnen zum Schloss Ligist ausgebauten Meierhof am unteren Teil des Burghügels.Bis in das erste Viertel des 19. Jahrhunderts lässt sich der von den Saurau gepflegte Brauch des Robotmahles zurückverfolgen. Es wurde von den Burgherren zum Gedenken an die geleistete Robotarbeit jedes Jahr am 29. Juni, dem Gedenktag der Heiligen Peter und Paul, in der Burg abgehalten. Die Männer der Herrschaft wurden bewirtet und soweit bekannt, durften die Frauen die verbliebenen Essensreste einsammeln. Im 18. Jahrhundert gehörten 385 Häuser in 44 Orten sowie fünf Ämter und die Vogteien über die Kirchen Ligist, Modriach, Pack und Stallhofen zur Herrschaft Ligist. Die Gebiete um das heutige Ligist sowie Modriach und Pack gehörten zum Werbbezirk der Burg.Aus dem Jahr 1797 ist bekannt, dass die Burggebäude bereits schwere Schäden aufwiesen und die Burgkapelle ganz verfallen war. Als die Franzosen unter Napoleon Bonaparte im Jahr 1805 in die Steiermark kamen, kam vom Palais Saurau in Graz die Weisung, die französischen Truppen seien zu verpflegen, falls sie in Ligist einmarschierten. Im Dezember 1805 quartierten sich mehrere französische Kompanien für kurze Zeit im Ort Ligist und auf der Burg ein. Als sich im Winter 1809/10 erneut französische Truppen auf der bereits baufälligen Burg einquartierten, zerstörten sie die Anlage weiter. Die Soldaten verheizten die restliche Inneneinrichtung, die Fußböden und Teile des Dachstuhles. Im Jahr 1818 wurde die Burg als Ruine bezeichnet und als 1820 ein Teil des Bauwerkes einstürzte, wurde es dem Verfall preisgegeben.Über Anna Maria, die Frau von Zeno von Saurau, erbten 1870 die Grafen von Goess die Burg mitsamt der Herrschaft. Von ihnen ging das Gut 1928 an den Souveränen Malteserorden, in dessen Besitz es sich noch befindet. Der Burgverein Ligist begann mit finanzieller Unterstützung des Malteserordens und der Gemeinde ab 1975 mit der Instandsetzung der Burganlage. Zwischen 1975 und 1985 wurden umfangreiche Sicherungsarbeiten an den Mauern der Ruine durchgeführt, der Bergfried wurde überdacht und die Bogenbrücke über den Ringgraben erneuert. Im Winter 1998/99 wurde die Ruine gegen weiteren Verfall gesichert, das Burgareal von Schuttablagerungen und Bewuchs befreit und der zugewachsene Graben wieder freigelegt. Im Sommer 1999 sicherte eine Baufirma die einsturzgefährdeten Mauern. Von 2001 bis zur Auflösung des Burgvereins im Jahr 2011 wurden weitere Sanierungs- und Sicherungsarbeiten an den Burgmauern durchgeführt. Das Burgareal wird seit 2011 von der Gemeinde als Veranstaltungsort der Weihnacht auf der Burg, eines Weihnachtsmarktes, genutzt.
== Beschreibung ==
Die Burg Ligist wurde zumindest in drei klar voneinander unterscheidbaren Phasen errichtet, eine vierte Bauphase ist aber möglich. In der ersten Bauphase im späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert wurde die Hochburg mit dem Bergfried errichtet, während die Ringmauer aus der zweiten Bauphase zu Beginn des 14. Jahrhunderts stammen dürfte. Vermutlich an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert wurden einige Wohngebäude im östlichen Teil des Burghofes errichtet und der Bergfried umgestaltet. In der letzten Bauphase im 16. oder 17. Jahrhundert wurde ein Kanonenrondell im Südosten der Anlage errichtet.
=== Burgzugang ===
Der Zugang zur Burgruine erfolgt von Nordwesten über eine steinerne Bogenbrücke, die über einen Ringgraben führt und am Ende des 17. Jahrhunderts die Zugbrücke ersetzte. Der den nördlichen, östlichen und südlichen Teil der Burganlage umgebende Ringgraben war großteils mit Schutt verfüllt und wurde vom örtlichen Burgverein wieder ausgehoben. Der einstige Burgwall schließt an den Ringgraben an und ist nur noch teilweise erkennbar. Auch die zu Beginn des 14. Jahrhunderts errichtete Ringmauer im Norden und Süden der Burg ist größtenteils eingestürzt. Sie schließt an die nördliche Wand des Turmhauses an, ist von diesem aber durch eine Mauerfuge getrennt. Am nördlichen Ringmauerzug stammen Mauerfüße vermutlich aus der Zeit des Barocks.Der Zugang zur Burg war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts durch einen vorgebauten Turm und ein Torhaus geschützt. Im Torhaus befand sich eine im Jahr 1636 eingerichtete Marienkapelle. Der Torturm wurde bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts als stark verfallen bezeichnet. Im Vorhof befanden sich mehrere kleine Wohn- und Wirtschaftsgebäude für das Gesinde und ein Brunnen.
=== Wohngebäude ===
Die heute nur als Reste erhaltenen kleinen Wohn- und Wirtschaftsgebäude im Osten des Hofes hinter dem ehemaligen Torturm dürften auf die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert zurückgehen. Beim Bau wurden neben Bruchsteinen auch Ziegel verwendet. Im Südosten wurde die Burg durch ein im 16. oder 17. Jahrhundert errichtetes, der Hochburg etwas tiefer vorgelagertes, halbkreisförmiges Kanonenrondell geschützt, dessen Reste noch erkennbar sind.
=== Hochburg ===
Die Hochburg im östlichen Teil der Anlage gilt als ältester Burgteil. In der nördlichen Ecke des inneren Hofes befindet sich der relativ gut erhaltene fünfgeschoßige Bergfried, der aus dem späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert stammt und auch als Wohnturm gedient hat. Er besteht größtenteils aus lagerhaftem Bruchsteinmauerwerk mit durch Quader verstärkten Gebäudekanten, die Südseite im Bereich des Erd- und ersten Obergeschoßes auch aus einfachem Quadermauerwerk. Während der Renaissance wurde der Bergfried umgebaut.
=== Bergfried ===
Der 12 Meter lange, 9,6 Meter breite und 18,7 Meter hohe Bergfried erhebt sich 15,2 Meter über das heutige Burgniveau und wurde in einem einzigen Zug errichtet. Das streng lagenhafte Mauerwerk besteht aus quaderartig behauenen Steinen und weist keine Ausgleichschichten auf. Die Eckquaderungen sind behauen und etwas dunkler gefärbt als der Rest des Mauerwerkes. Die Mauer hat im Erdgeschoß des Bergfriedes eine Stärke von 2,2 bis 2,5 Metern. An der Außenseite wurden in der Renaissancezeit Vertiefungen für die Balkendecken der an den Bergfried angebauten Gebäude und Türöffnungen zum Palas freigestemmt, die heute zugemauert sind. Im 20. Jahrhundert wurde ein breiter Riss im Mauerwerk der Obergeschoße verschlossen, die verfallene Mauerkrone wurde aufgemauert und mit einem flachen Betonkranz versehen, der als Auflage für das neue Dach dient. Das mit Faserzementplatten gedeckte Dach des Bergfriedes des Jahres 1975 wurde vom Burgverein gefertigt. Die meisten der ursprünglich mittelalterlichen Schlitzfenster des Bergfriedes wurden vermutlich im 15. oder 16. Jahrhundert zu Rechteckfenstern vergrößert. Während der Sanierungsarbeiten im 20. Jahrhundert wurden bei einigen Fenstern aber auch an Öffnungen, die ursprünglich keine Fenster waren, nicht originalgetreue Stürze eingebaut. Der ursprüngliche Hocheingang zum Bergfried befand sich an dessen Nordseite im ersten Obergeschoß.Der fensterlose Keller hat ein Tonnengewölbe aus Ziegeln vermutlich aus dem 20. Jahrhundert, auch die zwei Öffnungen des Raumes sind nicht mittelalterlich, sondern jünger. Ursprünglich erfolgte der Zugang vermutlich durch eine Deckenöffnung aus dem Erdgeschoß. Das früher ebenfalls von außen nicht zugängliche Erdgeschoß hat ein während der Renaissance oder etwas früher eingezogenes Tonnengewölbe mit Stichkappen sowie eine hofseitige Fensteröffnung mit teilweise mittelalterlichem Gewände. Die Tür im Osten des Erdgeschoßes wurde als Verbindung zum angebauten Palas durchbrochen. An den Ansätzen der Stichkappen befinden sich noch Reste des mittelalterlichen Putzes. An der nördlichen Mauer findet man mehrere etwa 5 Zentimeter breite Rüstlöcher, welche teilweise auch noch Reste der Rüsthölzer enthalten. Neben der Fensteröffnung befindet sich eine gemauerte Wandnische. Das erste Obergeschoß hatte ursprünglich ein starkes romanisches Tonnengewölbe, welches während der Renaissance durch eine auf Konsolen ruhende Decke ersetzt wurde, von der nur mehr die Ansätze erkennbar sind. Der ursprüngliche Hocheingang zum Bergfried führte in dieses Geschoß. Ein romanisches Rundbogenfenster mit beidseitiger trichterförmiger Laibung an der Ostseite des Raumes könnte auf eine ehemalige Kapelle hinweisen. Zwei Türen führten in den angebauten Palas, von denen eine zum Großteil wieder vermauert wurde. Vom ersten Obergeschoß führte eine in die dort etwa 2,1 Meter dicke Mauer eingelassene, rund einen halben Meter breite und steile Treppe mit rund 25 Stufen in das zweite Obergeschoß. Sie wurde bei der Umgestaltung des Bergfrieds verschüttet und zugemauert. Am Zugang der Treppe sind ebenfalls Putzreste erhalten geblieben. Nach der Vermauerung der Treppe wurde am Einstieg ein Kachelofen platziert, dessen Fundament noch erkennbar ist. Für einen Kamin wurde ein Kanal in die Mauer gestemmt und durch eine dünne Wand aus Ziegeln verschlossen. Vermutlich zur Beheizung des Kamins von außen diente ein kleiner, in der Mauer liegender Raum, der auch von außen zugänglich war.Im zweiten Obergeschoß erkennt man noch den Ausstieg der vermauerten Mauertreppe mit einer einfachen Steinplatte, die als Sturz dient. Ein einfaches, mittelalterliches Rechteckfenster wurde dort durch die etwa 2,2 Meter dicke Mauer gestemmt. Eine ebenfalls mittelalterliche Stichbogentür wurde spätestens nach dem Umbau in der Renaissancezeit nicht mehr genutzt, da durch den Einzug der Flachdecke im ersten Obergeschoß der Boden des zweiten Obergeschoßes um mehr als 2 Meter abgesenkt werden konnte um die Raumhöhe zu vergrößern und die Tür dadurch hinter einer Konsole verschwand. Während des Umbaues wurde eine auf eingemauerten Konsolen aus gelbem Sandstein mit aus Ziegeln gemauerten Wandvorlagen ruhende Decke eingezogen, die rund 1,3 Meter über der ehemaligen mittelalterlichen Deckenhöhe lag. Die Decke ist heute nicht mehr erhalten und die Konsolen wurden teilweise herausgerissen. Das dritte Obergeschoß hatte ursprünglich eine Balkendecke mit eingemauerten Balkenköpfen. An der Nordseite befinden sich zwei vermauerte und teilweise zerstörte einfache, aus groben Steinplatten geformte Rechteckfenster, die sich an der Außenseite zu Lichtschlitzen verjüngen. Das Fenster an der Ostseite entstand in neuerer Zeit, als ein Riss im Mauerwerk verschlossen wurde. Ebenfalls im Osten befindet sich ein vermauertes Stichbogenportal, dessen ursprüngliche Bedeutung unklar ist. Die Tür an der Nordseite stammt aus der jüngeren Vergangenheit und wurde vermutlich an der Stelle einer älteren Tür aus der Renaissancezeit eingebaut. An der südlichen Mauer liegen durch den Umbau vier grobe und abgeschlagene Konsolen etwa 2,2 Meter über dem heutigen Fußboden.Der im 16. Jahrhundert errichtete Palas, der einen kleinen Arkadenhof umschloss, ist an den nordöstlichen Teil des Bergfrieds angebaut. Von den Arkaden sowie vom Treppenhaus im Hof sind nur Reste erhalten geblieben. Auf einem Kupferstich der Burg aus dem Jahr 1681 ist ein heute nicht mehr vorhandener Kamin erkennbar, der zu der 1669 und 1715 erwähnten Alchemistenküche gehört haben könnte.
== Sage ==
Nach einer Sage sollen im Jahr 1897 zwei Bauern in einer Juninacht an der Ruine der Burg vorbeigegangen sein. Vor der Ruine stand ein Kirschbaum mit reifen Früchten und die beiden Männer stiegen auf den Baum, um von den Kirschen zu essen. Während sie hinauf kletterten, schlug es Mitternacht und sie waren nicht in der Lage, eine einzige der Kirschen zu pflücken. Plötzlich flog funkensprühend und unter heftigem Rauschen ein glühender Schabbock aus der Burgruine und über den Kirschbaum in Richtung Dietenberg. Einer der Männer fiel vor Schreck vom Baum, während der andere auf dem Baum sitzen blieb und nach den Kirschen griff. Nach diesem Ereignis waren sie beide in der Lage, von den Früchten zu essen.
== Literatur ==
Werner Murgg: Burgruinen der Steiermark. Hrsg.: Bundesdenkmalamt (= B. Band 2). Ferdinand Berger & Söhne, 2009, ISSN 1993-1263, S. 154–155.
== Weblinks ==
Burg Ligist. In: burgen-austria.com. Private Website von Martin Hammerl; abgerufen am 1. Januar 1900
Der Wohnturm von Ligist auf burgenseite.com
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Burg_Ligist
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Römische Villa Haselburg
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= Römische Villa Haselburg =
Die Römische Villa Haselburg war ein Gutshof (sogenannte Villa rustica) aus der Zeit der Besiedlung des Odenwalds durch die Römer. Die nach archäologischen Ausgrabungen in weiten Teilen sichtbare Anlage in der Nähe der Ortschaft Hummetroth bei Höchst im Odenwald in Hessen ist als Freilichtmuseum gestaltet und frei zugänglich.
Die Villa rustica „Haselburg“ gehört zu den mehreren hundert bekannten Gutshöfen aus der Römerzeit in Hessen. Sie ist die bislang größte bekannte und am weitesten durch Grabungen erforschte Anlage dieser Art.
== Entstehung ==
Die heute Haselburg genannte Anlage entstand – verglichen mit anderen Villen des Dekumatlandes – erst verhältnismäßig spät in der Regierungszeit Kaiser Hadrians (117–138 n. Chr.). Der Umstand erklärt sich aus Umstrukturierungen im Gebiet des Odenwaldes, insbesondere der Vorverlegung des römischen Odenwaldlimes Wörth am Main – Bad Wimpfen zur neuen Limeslinie Miltenberg – Lorch um 159 n. Chr. Mit dem Übergang an die zivile Verwaltung setzte schnell eine zivile Besiedlung des möglicherweise zuvor militärisch genutzten Gebietes ein. Innerhalb der Civitas Auderiensium entstanden um 130 n. Chr. der Hauptort Dieburg und mit ihm in der Dieburger Senke und am nördlichen Rand des Odenwalds in Südhessen zahlreiche Villae Rusticae, so auch die Haselburg, was Fundstücke, vorwiegend Keramikfunde aller Art, belegen.
== Anlage ==
Um die annähernd quadratische Hoffläche der Haselburg mit einer Kantenlänge von 183,5 mal 185,5 Metern befand sich eine Mauer von durchschnittlich 0,75 bis 1,00 Meter Stärke. Die Mauerecken sind annähernd auf die Himmelsrichtungen ausgerichtet. In der Mitte der Nordwestseite befand sich das Zugangstor mit einer Durchfahrtsbreite von 3,60 Metern. 1880 berichtete der Ausgräber Heinrich Gieß von „zwei mächtigen Sandsteinquadern mit eingelassenen Torpfannen“, die dort ausgebrochen wurden. Besonders im südöstlichen, talseitigen Abschnitt war die Mauer am Hang abgerutscht und bildete eine bis zu 3,80 Meter breite Versturzschicht.
Innerhalb der Umfriedung befanden sich ein ungewöhnlich großes Haupt- oder Herrenhaus, ein sich daran anschließender Wirtschaftstrakt, ein aufwändiges Badegebäude und ein etwas abseits des Wohnbereichs gelegenes Heiligtum des Jupiter. Letzteres lag fast zentral auf der Hoffläche, während der von der Größe her dominante Hauptwohnkomplex einen Bereich östlich davon einnahm.
=== Haupt- oder Herrenhaus ===
Das während seines Bestehens mehrfach umgebaute und erweiterte Hauptgebäude erreichte man durch einen repräsentativen Eingangsbereich in Form eines dreiseitigen Säulenvorbaus. Unmittelbar daran schlossen sich dem Wohnbereich zugehörige Bauten wie das Bad und der Wirtschaftstrakt an, die später angefügt wurden. So entstand am Ende der baulichen Entwicklung ein Innenhof, den man sich als dreiseitig mit Säulengang umgebenen Hof vorstellen muss, der den Weg zwischen den Gebäudeteilen vor Wind und Wetter schützte. Die kleineren Apsiden an den Seiten des sich unmittelbar an das Haupthaus anschließenden Säulengangs waren möglicherweise zur Aufstellung von Statuen vorgesehen. Die Fundamentstärke des eigentlichen Wohngebäudes belegt, dass es innerhalb des Baukomplexes dominierend gewesen war und eine wesentlich größere Raumhöhe besessen haben muss als die umliegenden Gebäude. Dass es mehrstöckig war, ist unbelegt.
Von den fünf ausgegrabenen Räumen war der mittlere ein Speise- und Empfangsraum (oecus), in dessen Apsis die typisch halbrunde Anordnung von Speisesofas stand (Triclinium). Im Bereich, der zum Eingang lag, öffnete sich der Raum zu einer Art Halle. Die Apsis und der sich westlich anschließende Raum waren beheizbar, wie die gefundenen und teilrekonstruierten Hypokausten einer Fußboden- und Wandheizung belegen. Der zu dieser Art der Heizung gehörende Feuerungsgang (praefurnium) befand sich außerhalb der Apsis in Form eines kleinen Raums. In diesem konnte ein Feuer in Gang gehalten werden, dessen heißer Rauch durch die Sogwirkung unter dem Fußboden der Räume hindurch und über Hohlziegel (tubuli) durch die Wände nach oben abgeleitet wurde. Auch der sich östlich an den Speisesaal anschließende Raum war teilweise hypokaustiert. Ein großes Tor mit erhaltener Schwelle öffnete den Empfangsraum zum Innenhof hin. Dort ist der originale Schwellenstein aus Sandstein mit Aussparungen für die Türpfosten zu sehen, der sich in Originallage (in situ) fand und in die Rekonstruktion einbezogen wurde.
Außen war das Gebäude weiß und der Sockel rot verputzt. Auch an den Innenwänden zeugen Reste von strukturierenden Wandbemalungen und Glasfenstern von einem gewissen Wohnkomfort. Zahlreiche gefundene Putzfragmente und Bruchstücke von römischem Ziegelestrich (opus signinum) zeigen dies ebenfalls. Es hatte mit durchschnittlich 22,08 mal 14,68 Metern einen sehr regelmäßigen Grundriss, die Außenkanten ein Verhältnis von 1:1,5. Das entspräche 50:75 Fuß des pes monetalis (0,2957 m) oder 44:66 Fuß des pes Drusianus (0,3327 m).
=== Wirtschaftstrakt ===
Die bauliche Anbindung des sich östlich an den Innenhof anschließenden Wirtschaftstrakts variierte in den verschiedenen Bauphasen stark. Fester Bestandteil des Bereichs war ein Keller- und Küchengebäude, das wohl vor allem wegen der Brandgefahr aus dem eigentlichen Wohnkomplex ausgelagert wurde. Im Keller des Gebäudes befand sich der zerborstene Ofen, der nach Aufgabe des Gebäudes wohl durch die Kellerdecke gebrochen war.
Für die Rekonstruktion des Areals, das vor allem wegen Küche und Keller als Wirtschaftstrakt angesprochen wird, gibt es zwei Deutungen: Weniger wahrscheinlich ist die Rekonstruktion mit einem großen Dach über dem gesamten Wirtschaftsbereich. Mehrere Sockelsteine in gleichmäßigem Abstand zur Mauer könnten auf einen Portikus ähnlich wie vor dem Hauptwohngebäude hindeuten, oder sie waren Teil einer Dachkonstruktion. Im ersten Falle dürfte der große, südöstlich davor gelegene Hofbereich als Kräutergarten für die Küche gedient haben. Im Freilichtmuseum ist nördlich des Wirtschaftstraktes eine Anpflanzung von Kräutern ausgestellt, die in Absprache mit der archäobotanischen Abteilung des Landesamtes für Denkmalpflege in Hessen nachgewiesene Küchenkräuter zeigt.
=== Badehaus ===
Das übliche, im Verhältnis zum Ausmaß der Gesamtanlage ungewöhnlich große Badegebäude (14,31 mal 11,29 Meter) schloss sich südwestlich an den Innenhof an. Vom Vorhof des Hauptgebäudes kommend, betrat man zunächst den Umkleideraum (apodyterium), an den sich die typischen drei Räume für verschieden temperierte Baderäume angliederten: Das Kaltbad (frigidarium) mit Kaltwasserwanne, das Laubad (tepidarium) und das Warmbad (caldarium) mit Warmwasserwanne. Bei einem weiteren beheizbaren Raum in Nachbarschaft zum caldarium bleibt unklar, ob es sich um ein Dampfschwitzbad (sudatorium) oder ein Winter-apodyterium handelte.
An das Warmbad war, wie am Hauptgebäude, ein Heizungsraum (praefurnium) im Westen angebaut, der Lau-, Warm- und Schwitzbad über ein Hypokaustum mit Wärme versorgte.
Die rekonstruierte Latrine erreichte man über einen vom Badebetrieb separierten Korridor neben dem Eingang zum Bad. Die Toilette wurde durch das ablaufende Wasser der Kaltbadewanne gespült.
Der gesamte Gebäudekomplex wurde über kleine Kanäle, die sehr zahlreich nördlich (Zulauf) und südlich (Abwasser) davon bei den Ausgrabungen gefunden wurden, mit fließendem Wasser versorgt. Hierzu wurde vermutlich eine Quelle nördlich der Anlage gefasst und über Holz- oder Tonrohre das Wasser zum Gebäude geleitet. In Gebäudenähe wurde es unterirdisch in kleinen gemauerten Kanälen mit leichtem Gefälle geführt, die sich sehr häufig bei römischen Badeanlagen nachweisen lassen. Brunnen konnten auf dem gesamten Gelände nicht nachgewiesen werden.
=== Jupiterheiligtum ===
Auf dem Areal der Haselburg, 30 Meter westlich des Hauptgebäudes, befinden sich die Fundamente eines kleinen Temenos (17 mal 10 Meter), den eine Zwischenmauer in einen Hauptraum und einen später hinzugefügten Vorhof teilt. Im Zentrum des Haupthofs stand eine Jupitergigantensäule, deren Bruchstücke im Umfeld des Bauwerks gefunden wurden. In einer nahe gelegenen Grube fand man die oberste, geschuppte Säulentrommel. Vier kleine Gruben an den Ecken des Säulenstandorts werden als Teile des Gerüsts (Eingrabung von Holzbalken) zur Aufrichtung der ehemals über zehn Meter hohen Säule in der Antike angesehen.
Die bauliche Abgrenzung der Säule zum übrigen Hofbereich in dieser Art ist selten, wenngleich Jupitergigantensäulen häufig in zivilem Kontext, also besonders in der Nähe von Villae rusticae, gefunden werden.
=== Nebengebäude ===
Außer dem Hauptgebäude-Komplex gab es noch verschiedene kleinere Nebengebäude, die als Wohnung für die Bediensteten, Ställe für die Tiere oder Lagerraum genutzt wurden. In der südwestlichen Hofecke wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von H. Gieß ein weiteres Wohngebäude aufgedeckt. Der Befund wurde in den 1990er Jahren nochmals geophysikalisch untersucht, aber nicht in dem heutigen Freilichtmuseum rekonstruiert.
Südöstlich des Wirtschaftstraktes befindet sich ein weiteres Wohngebäude innen an die Hofmauer angelehnt. Es setzt sich nach Süden mit Sockelsteinen und Pfostenstandspuren entlang der Mauer fort. Anscheinend hatte man dort eine Art Schuppen an die Hofmauer angesetzt. Weitere Hinweise auf Nebengebäude sind vorhanden, es ergaben sich aber häufig aufgrund von Erosionserscheinungen an der Hanglage keine kompletten Grundrisse. Ein Gebäuderest südlich des Badegebäudes ist zu nennen, dessen talseitige Mauer bei der Freilegung allerdings nicht mehr angetroffen wurde. Ein weiteres Mauereck erschien in der geophysikalischen Messkarte südwestlich des Jupiterheiligtums in einer Bodensenke. Eine Sondage 2005 zeigte aber, dass das Areal durch mittelalterliche oder neuzeitliche Kalkmutungen zu stark gestört war, um einen Grundriss zu rekonstruieren.
=== Vorrömische Funde ===
Während der Grabungen wurden 1985 mehrere vorgeschichtliche Befunde freigelegt. Zum einen handelt es sich um ein sogenanntes Hockergrab aus dem Endneolithikum, das nahe der Westecke unter der Umfassungsmauer gefunden wurde. Das Grab lag geringfügig unterhalb des Mauerfundaments und wurde von den Römern nur um Zentimeter verfehlt. Es handelt sich um einen der frühesten Funde einer sesshaften Besiedlung des Odenwaldes. Durch Radiokohlenstoffdatierung ließ sich feststellen, dass der Tote mit einer Wahrscheinlichkeit von 68,2 % in der Zeit zwischen 2865 und 2605 v. Chr. gelebt hat.Wenige Meter nordwestlich des Jupiterheiligtums wurde ein Kreisgraben als Teil eines Grabhügels entdeckt. Der Grabhügel enthielt zwei Bestattungen der frühkeltischen Zeit (4./3. Jahrhundert v. Chr.) mit Trachtbestandteilen aus Eisen und Bronze, darunter ein Scheibenhalsring mit Koralleneinlagen. Es gibt aber keine Hinweise darauf, ob der Hügel zur Römerzeit noch sichtbar war. Überlegungen zu einer Kontinuität wegen des benachbarten Heiligtums sind deshalb spekulativ.
=== Gesamtbestand und Bewertung ===
Der ausgeprägte Wohnkomfort und die teilweise sehr ausgefeilte Planung (Maße des Hauptwohngebäudes, Wasserkanal, dreiseitige Portikus), legen nahe, dass große Teile von einem Architekten entworfen wurden. Gegenüber dem ausgeprägt luxuriösen Wohnkomfort, der in der damaligen Zeit nur einer kleinen Oberschicht vorbehalten war, erscheinen Gebäude, die einer wirtschaftlichen Funktion zuzuordnen sind, unterrepräsentiert. Das spiegelt sich vor allem in der Dimension der Gebäude wider. Das Badegebäude übertrifft zahlreiche Kastellbäder, die für eine ganze Truppe errichtet waren. Die Funde weisen in die gleiche Richtung, etwa durch die häufige Anwesenheit von Importwaren im Fundmaterial oder die Größe der Jupitergigantensäule.
Auch unter den bisher bekannten Villengebäuden der Region nimmt die Haselburg eine Sonderstellung ein. Namentlich die bekannten römerzeitlichen Fundstellen des Odenwaldes und der näheren Umgebung weisen meist keine besondere bauliche Ausstattung auf und sind wesentlich kleiner. Badegebäude oder Hypokausten sind mit Ausnahme des Arnheiter Hofs sonst überhaupt nicht belegt. Besitzer einer luxuriösen Anlage wie der Haselburg konnten es sich vermutlich leisten, einen Großteil der Arbeit auf andere abhängige Höfe auszulagern.
Daran wird deutlich, dass die Haselburg nicht autark als Wirtschaftsbetrieb existiert hat. Der große Empfangsraum im Hauptgebäude, die repräsentative Gestaltung des Heiligtums und des Hauptwohnkomplexes sowie die Größe des Bades legen nahe, dass hier gewisse Verwaltungsfunktionen des ländlichen Raums ausgeübt wurden. Eine derartige Nutzung wird unterstützt durch den Bautyp des Hauptgebäudes, der auch Vorläufer in der militärischen Architektur besitzt. Wahrscheinlich wird hier das in den schriftlichen Quellen nur sporadisch zu fixierende Patronatssystem greifbar, das besonders in ländlichen Regionen des Reichs sehr ausgeprägt war und in der hohen Kaiserzeit wieder an Bedeutung gewann. Die Anlage übernahm damit eine Zentralfunktion innerhalb des ländlichen Verwaltungsbezirks (Pagus), der Besitzer war vermutlich magister, wenn er nicht sogar gleichzeitig eine höhere Funktion in der Civitas- oder Provinzverwaltung innehatte. Die tägliche Arbeit auf dem Gut wurde von sogenannten Kolonen geleistet, halbfreien Arbeitern, denen es in der Regel an eigenem Grundbesitz mangelte.
== Verfall ==
Die Fundstücke auf dem Areal der Haselburg belegen, dass sie wahrscheinlich nicht mehr als 100 Jahre bestanden hat, was aber zur damaligen Zeit immerhin drei Generationen entspricht. Spätestens 260 n. Chr., als sich germanische Übergriffe auf das Grenzland häuften und das Limessystem die Sicherheit solcher Anlagen nicht mehr gewährleisten konnte (Limesfall), war sie bereits verlassen. Danach verfiel die Anlage. Teilweise wurde sie als Steinbruch benutzt, trotzdem ragten ihre Trümmer nach Berichten aus den Jahren 1880 bis 1886 noch über einen halben Meter hoch. Eine landwirtschaftliche Nutzung war oft nur eingeschränkt möglich und auf den Mauerresten wuchsen deshalb Haselsträucher, wovon die Anlage ihren heutigen Namen hat. Im 20. Jahrhundert scheinen auch diese Überreste vor allem durch maschinelles Pflügen verschwunden zu sein. Lediglich der Bereich des Haupt- und Badegebäudes war bis Ende der 1970er Jahre aufgrund des Gebäudeschutts nicht zu beackern.
== Forschungsgeschichte ==
=== Frühe Forschungen ===
Nach der Aufgabe der Anlage durch die römischen Bewohner geriet sie in Vergessenheit. Ab einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt tauchte der Name Haselburg oder auch Hasselburg in älteren Katasterplänen auf. Erst Franz I. zu Erbach-Erbach (1754–1823) beauftragte mit der Untersuchung der Haselburg seinen gräflichen Regierungsrat Johann Friedrich Knapp, der irrtümlich vermutete, ein römisches Kastell vor sich zu haben. Seine Beschreibungen vermittelten aber einen guten Zustandsbericht der Anlage zu Beginn des 19. Jahrhunderts, während seine archäologischen Befunde aufgrund der falschen Voraussetzungen zu vernachlässigen waren.
Knapp beschrieb nicht nur recht exakt die äußeren Maße der Anlage, sondern auch die Höhe der Wall- oder Umfassungsmauerreste mit jetzt noch drei bis vier Schuh hoch, das sind mindestens 75 Zentimeter (Schuh = Fuß), legt man das im Großherzogtum Hessen-Darmstadt damals übliche Maß für einen Fuß von 25 Zentimetern zugrunde. Weiter berichtete Knapp von Ruinen zweier römischer Bäder und noch zwei andere Erhöhungen der Erde, wobei sich später herausstellte, dass das zweite Bad das Herrenhaus war. Ferner bemerkte Knapp bereits, dass von vier Zimmern jedes einen Fuß tiefer lag, als das andere; vielleicht um das Wasser aus einer nahe dabei befindlichen Quelle desto leichter von einem Gemach in das andere leiten zu können. Dies konnte bei späteren Ausgrabungen belegt werden, als man einen Wasserkanal fand, der genau der von Knapp beschriebenen Anordnung der Räume folgte. Es wurden nicht nur Fundamente und Fundamentreste freigelegt, sondern auch zahlreiche Keramikfragmente gesichert. So fand man 1839 in der Hypokaustenanlage des Hauptgebäudes einen Deckziegel mit eingeritzten Schriftzeichen. Knapp veröffentlichte diesen Fund 1841. 1986 diente dieses Fundstück im Rahmen einer Forschungsarbeit an der TH Darmstadt dazu, erstmals die chemische Zusammensetzung römischer Ziegel zerstörungsfrei zu bestimmen.Die Interpretation dieser forschungsgeschichtlich sehr frühen Ausgrabungen für die moderne Bodenforschung ist größtenteils schwierig, so behauptete Knapp, Mosaiken entdeckt zu haben. Im Fundmaterial der Grabungen von 1979 bis 1986 ist Derartiges leider nicht vorhanden.
=== Grabungen unter Heinrich Gieß und die Widerlegung der Kastelltheorie ===
Erst 1880, 1882, und 1886 führte Heinrich Gieß im Auftrag des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine wieder Grabungen im Haselburggelände und an den Umfassungsmauern durch. Er veröffentlichte die Ergebnisse seiner Untersuchungen regelmäßig in den Quartalsblättern des Historischen Vereins für das Großherzogtum Hessen. 1880 und 1882 bezeichnete er die Anlage noch als Castell, 1886 als «Kastell» und 1893 nach Ende seiner Grabungen schließlich als die grösste der bürgerlichen Niederlassungen, die man bis jetzt im Odenwalde kennt und fährt fort: Sie ist schon über ein halbes Jahrhundert beliebtes Objekt der Forscher und wurde bis zum Jahr 1886 für ein grosses Kastell angesehen. Die Kastelltheorie war mit diesen Grabungen also glaubhaft widerlegt.
=== Ausgrabungen 1979 bis zur Gegenwart ===
In der Folgezeit wurde die Haselburg zwar immer wieder von bekannten Archäologen wie Friedrich Kofler, Eduard Anthes, Fritz Behn und dem Heimatforscher Friedrich Mössinger erwähnt, in das Interesse der Öffentlichkeit geriet die Anlage aber erst wieder 1973, als die Planungen für eine Ferngasleitung, die das Gelände durchschneiden sollte, bekannt wurden. Hatten die Forschungen Gießens keine Erkenntnisse über die genaue Lage der schon aufgedeckt gewesenen und wieder zugeschütteten Räume erbracht, traten deren Grundmauern beim Ausheben des Schachtes für die Ferngasleitung MEGAL I 1979 zu Tage.
Durch die Außenstelle Darmstadt des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen wurde erreicht, dass das Gasrohr ohne Graben mithilfe eines Schutzrohrs unter den Fundamenten des Herrenhauses hindurchgepresst wurde. So blieb die Substanz des Herrenhauses erhalten. Unter der Leitung von Reinhard Andrae wurden 1984 die Grundmauern des Wohngebäudes, des Bads, des Vorhofs, des angrenzenden Hofbereichs mit einem Keller und eines Stücks der Umfassungsmauer ausgegraben und aufgemauert.
Wenige Jahre später begannen im Rahmen der Verlegung von MEGAL II, einer zweiten Ferngasleitung durch das Gelände der Haselburg, weitere Sicherungsmaßnahmen durch das Landesamt für Denkmalpflege. In einer großen Flächengrabung legte man einen breiten Streifen um die bereits gefundenen Relikte frei und fand dabei erneut Teile der Umfassungsmauer, ihrer Westecke, eines Tores, eines Maueranbaus und des Heiligtums mit dem Fundament für die Jupitergigantensäule und Teile von ihr. 1993 deckten Grabungen des Landesamts die drei restlichen Ecken der Umfassungsmauer auf, die ebenfalls durch Aufmauerung sichtbar gemacht wurden. Die übrigen Teile sind durch eine Hecke angedeutet. Ebenfalls seit den 1990er Jahren wird das Gelände geophysikalisch untersucht.
Der heutige Zustand der Anlage geht im Wesentlichen auf die Grabungen und Rekonstruktionen dieser Jahre zurück.
Im Jahr 2005 fand eine Sondage des Landesamtes zusammen mit der Universität Frankfurt statt, die eine Geländestufe an der südwestlichen Umfassungsmauer untersuchte. Die geophysikalischen Messungen zeigten hier Mauerecken, die sich bislang nicht einem Gebäude zuordnen ließen. Eine davon konnte freigelegt werden, es zeigte sich aber, dass der gesamte Bereich durch eine große mittelalterliche oder neuzeitliche Kalkschürfung gestört war.
== Bodenfunde ==
Bei allen Ausgrabungen wurden nicht nur Gebäudefundamente freigelegt, sondern auch zahlreiche Kleinfunde gesichert, die einerseits über die Ausstattung der Räume als solche und andererseits über den Zeitabschnitt ihrer Nutzung Aufschluss geben. Wie bei Siedlungsgrabungen üblich, besteht der größte Teil der Kleinfunde aus keramischen Erzeugnissen wie Ziegel oder Tongefäße. Die bedeutendsten Steinfunde bestehen aus Fragmenten der Jupitergigantensäule.
=== Jupitergigantensäule ===
Bei Grabungen westlich des Badegebäudes in einem Baukörper, der später als Jupiterheiligtum erkannt wurde, fanden sich 1986 in oberflächennahen, vom Pflug gestörten Schichten zahlreiche Bruchstücke der Jupitergigantensäule. Daneben liegen einige Gesimsfragmente sowie kleinere Teile des Viergöttersteins vor, alle aus Sandstein. Die oberste Trommel der für diese Steindenkmäler üblichen Schuppensäule fand sich nördlich des Heiligtums in einer Grube verlocht, wurde also vermutlich in späterer Zeit zum Zwecke der landwirtschaftlichen Nutzung beiseitegeschafft. Ihre Krümmung erlaubte es annähernd, die ehemalige Säulenhöhe mit über 10 Metern zu rekonstruieren. Sie führten zur Ansprache des Baukörpers als Jupiterheiligtum. Dokumentiert wurde bei der Grabung auch der Säulenstandort mittig im zweiten Hof. Trotz dieser anschaulichen Befunde liegen von der Substanz der Säule insgesamt höchstens 5 % im Fundmaterial vor. Die Kleinteiligkeit der Bruchstücke lässt vermuten, dass es sich nicht um eine rituelle Zerstörung, sondern um eine aus recht praktischen Gründen (Wiederverwertung der Steine als Baumaterial) handelt, denn vielfach finden sich überstehende Teile der Reliefs und Gesimsbruchstücke abgeschlagen.
Aus diesem Grund sind wohl auch besonders viele Bruchstücke der bekrönenden Reitergruppe erhalten: Mund- und Kinnpartie des Jupiter, mehrere Teile des Mantels, beide Hände, linker Oberarm, linkes Knie und beide Unterschenkel, rechter Fuß des Jupiter. Vom Pferd sind Teile des Körpers, der linke Hinterlauf und ein Teil des rechten Vorderlaufs erhalten, vom Giganten acht Bruchstücke, deren Zuordnung unsicher ist. Wir erkennen daraus, dass es sich um den reitenden Jupiter mit wehendem Mantel handelt. Der Gigant liegt unter dem Pferd, unsicher ist, ob auf dem Bauch oder Rücken. Der Durchmesser des Knies (8 cm) belegt, dass die Plastik nicht ganz Lebensgröße, aber doch eine wesentlich größere Ausführung als bei vergleichbaren Säulen erreichte, wie auch die Größe der Säule insgesamt dem Vorbild der Mainzer Jupitersäule nahekommt.
Neben vielen Bruchstücken von Architekturteilen der Säule ist ein Bruchstück des Reliefs vom Viergötterstein bemerkenswert, das wohl einen Löwenkopf darstellt. Es wird als Beleg für eine Herculesdarstellung gewertet. Von den anderen Reliefs der Säulenbasis ist nichts bekannt, ebenso wie von der Inschrift, die eine solche Säule in der Regel an der Vorderseite trug.
=== Keramik ===
Neben den sehr zahlreichen Ziegeln, die Auskunft über die bauliche Gestaltung des Gebäudes geben, besteht die Masse der Keramikscherben aus tongrundiger Gebrauchskeramik der römischen Kaiserzeit. Dazu zählen Töpfe, Teller, Krüge, Schüsseln und Reibschüsseln, seltener Sonderformen wie Räucherkelche oder sogenannte „Honigtöpfe“. Das feinere Tischgeschirr bestand aus sogenannter Terra Sigillata und umfasst vor allem Schüsseln, Teller, Näpfe und ein paar Reibschüsseln. Die gefundenen Terra Sigillata-Scherben entstammen in der Masse mittel- und ostgallischen Manufakturen, Ware aus Rheinzabern (Tabernae) ist hier stark vertreten. Getrunken wurde meist aus Bechern sogenannter Glanztonware, die einen braunen bis schwarzen Überzug besitzt und oft plastische Verzierungen aus Tonschlicker (sogenannte Barbotine) oder einen „Griesbewurf“ aus grobkörnigem Material aufweist, das ein Abrutschen aus der Hand verhindern sollte.
Eine Sondergruppe innerhalb der keramischen Fundstücke stellen die Amphoren dar. Sie lassen Rückschlüsse auf die Ernährungsgewohnheiten der Bewohner zu. Auffällig ist am Fundmaterial der Haselburg, dass hier stärker Importprodukte (z. B. südspanisches Olivenöl) konsumiert wurden als an anderen vergleichbaren römischen Fundplätzen.
Das Material weist insgesamt in das fortgeschrittene zweite und frühe dritte Jahrhundert n. Chr. Spätere Formen sind noch vertreten, allerdings nicht mehr so zahlreich. Die Anlage könnte demnach die Ereignisse in Germanien des Jahres 233 überstanden haben. Zum Ende des Limes um 259/260 n. Chr. scheint sie schon verlassen gewesen zu sein.
==== Ziegel ====
Unter den Ziegelfunden ist zunächst zu unterscheiden zwischen Dachziegeln (tegulae und imbrices), Ziegeln, die zur Hypokaustanlage gehören (Ziegelsäulen, Kapitell- und Deckziegel), sowie den hier gefundenen Verkleidungsziegeln im Innenbereich.
Viele Ziegel von der Haselburg weisen „Wischmarken“ auf – kleine Symbole, die Ziegelstreicher zur Abrechnung auf den Ziegeln hinterließen. Auf der Haselburg ist das häufig eine Schleife, manchmal ein omega-förmiger Bogen. Die ausführenden Handwerker waren anscheinend Analphabeten.
===== Verkleidungsziegel =====
Damit der Innenputz besser auf den Wandflächen haftete und wohl auch zur besseren Isolierung, bediente man sich 82,5 mal 57,5 Zentimeter großer, rechteckiger Verkleidungsziegel von etwa 3 Zentimetern Stärke. Die Ziegel, in die einseitig mithilfe eines Rollenstempels quadratische Muster erhaben eingelassen waren, wurden vor dem Verputzen mit T-förmigen Nägeln an der Wand befestigt. Diese aufwändige Bautechnik, die nur für kurze Zeit in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts in dem begrenzten Raum des heutigen Südhessen angewendet wurde, fand sich auch in den Räumen des Herrenhauses der Haselburg, in denen eine große Zahl von Verkleidungsziegeln entdeckt wurde.
1903 verlegte man noch in Unkenntnis ihrer tatsächlichen Bestimmung Nachahmungen dieser Verkleidungsziegel als Fußbodenbelag in der Saalburg und im Mainfränkischen Museum in Würzburg. Erst einige Jahre später belegten weitere Funde in situ oder mit anhaftenden Putzresten, dass es sich nicht um Fußbodenfliesen, sondern um Wandziegel handelte. 1988 erschien erstmals eine Typisierung der in Südhessen gefundenen Wandziegel nach Form und Ausbildung der aufgestempelten Muster. Nach den Fundorten benannt unterschied man fünf Typen: Stockstadt, Semd, Dieburg, Saalburg und Haselburg.
===== Deckziegel =====
Unter den zahlreichen erhaltenen Deckziegeln der Hypokaustenanlage des Hauptgebäudes fand man 1839 einen, der zusätzlich zum üblichen Zeichen des Ziegelstreichers (in der Haselburg eine Schleife) folgende, in die noch weiche Masse eingeritzte Inschrift in römischer Kursivschrift:
stratura tertia
laterc[u]li capit[u]lares
n(umerus) CCCLXXV(Übersetzung: „Dritte Lage Kapitellziegel 375 Stück“).
Es handelt sich hierbei wahrscheinlich um den letzten Ziegel einer Charge, der als Abrechnung des Ziegelstreichers der Lieferung beigefügt wurde. Dass dieser mit der Inschrift nach unten in das Hypokaustum eingebaut worden war, zeigt die dunkle Rußfärbung um die Inschrift herum. Das Stück befindet sich aufgrund seiner Bedeutung (es handelt sich um einen der frühesten Belege für Schriftlichkeit aus der hessischen Geschichte) heute im Hessischen Landesmuseum Darmstadt.
=== Wandbemalungen ===
Die Innenwände und Decken aller Räume der Haselburg waren verputzt. Bei den Ausgrabungen fand man im Bodenbereich der Wände zahlreiche erhaltene Putzstücke, die in einigen Räumen einfache, mit rotbrauner Farbe aufgetragene Verzierungen in Form von geraden Linien verschiedener Stärke aufwiesen. In den Raumecken bildeten die aufeinandertreffenden Linien rechte Winkel, sodass Wände und Decken architektonisch stärker untergliedert und Flächen besonders betont wurden.
=== Glas ===
Wie die Funde zahlreicher Fensterglasfragmente belegen, dürften die meisten Fenster der Anlage verglast gewesen sein. Sie sind farblich meist grün- oder bräunlich sowie in der Regel auf der einen Seite rau, da man das Glas bei der Herstellung zum Erkalten in den Sand legte. Fragmente von Glasgefäßen liegen besonders aus dem Badegebäude vor, da man sie häufig als Salbgefäße verwendete.
== Heutige Situation ==
Ende 1983 wurde der Verein zur Förderung des Freilichtmuseums „Römische Villa Haselburg“ e.V. gegründet, der sich seither für die Erforschung, Erhaltung und Erweiterung der Anlage einsetzt. Er macht die Villa der Öffentlichkeit zugänglich und veranstaltet Führungen, die es kostenlos nach Vereinbarung gibt und jährlich am Tag des offenen Denkmals (meist Anfang September). Einmal im Jahr findet auf dem Gelände ein „Römerfest“ statt, 2016 zum zwölften Mal.
Das Haselburggelände steht unter Denkmalschutz. Somit wurden unerwünschte Eingriffe in die Substanz des Bodendenkmals unmöglich gemacht. Das gesamte Areal der römischen Villa wurde von der Gemeinde Höchst im Odenwald gekauft. Die Ausgrabungen mit ihren rekonstruierten Grundmauern wurden mit Schautafeln und angemessener Begrünung versehen. Haselburgverein, Gemeinde sowie der Odenwaldkreis wenden zur Erhaltung der Anlage erhebliche Mittel auf.
Seit 2003 wird die Haselburg im Rahmen einer Doktorarbeit an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main mit dem Ziel bearbeitet, eine zitierfähige Monografie dieser bedeutenden Ausgrabungsstätte zu erstellen.
Im Verbund mit dem Verein Museumsstraße Odenwald-Bergstraße strebten die beteiligten Körperschaften durch die weitere Erforschung der Haselburg-Geschichte und den Ausbau der Anlage an, neben der Saalburg ein zweites Römermuseum in einer Ausgrabungsstätte in Hessen zu etablieren. 2011–2012 entstand ein neues Besucherzentrum, das die provisorische Holzhütte auf dem Gelände ersetzte. Darin können auch größere Gruppen wie Schulklassen empfangen, Fundstücke ausgestellt und die Veranstaltungen auf dem Gelände unabhängiger vom Wetter durchgeführt werden. Die Fertigstellung des neuen Museumsgebäudes erfolgte Anfang September 2012.
== Einzelnachweise ==
== Literatur ==
Dietwulf Baatz: Hummetroth. Röm. Gutshof Haselburg. In: Fritz-Rudolf Herrmann und Dietwulf Baatz (Hrsg.): Die Römer in Hessen. Lizenzausgabe der Auflage von 1982, Hamburg 1989, ISBN 3-933203-58-9, S. 360–362.
Helmut Castritius: Der Odenwald und die Römer. In: Der Odenwald, Zeitschrift des Breuberg-Bundes 47/3. Breuberg-Bund, Breuberg-Neustadt 2000, S. 87–94.
Heinrich Gieß: Schloss Breuberg im Odenwald und die germanischen und römischen Denkmäler in seiner Umgebung. Allendorf, Heppenheim 1893.
Fritz-Rudolf Herrmann: Die villa rustica „Haselburg“ bei Hummetroth. 2. erweiterte und ergänzte Auflage. Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Wiesbaden 2001. (Archäologische Denkmäler in Hessen, 55), ISBN 3-89822-055-9.
Werner Jorns: Neue Bodenurkunden aus Starkenburg. Bärenreiter, Kassel 1953, S. 112–145.
Johann Friedrich Knapp: Römische Denkmale des Odenwaldes, insbesondere der Grafschaft Erbach und Herrschaft Breuberg (1813, 1814²,1854³).
Jörg Lindenthal: Kulturelle Entdeckungen. Archäologische Denkmäler in Hessen. Jenior, Kassel 2004, S. 107–109. ISBN 3-934377-73-4
Marion Mattern: Römische Steindenkmäler aus Hessen südlich des Mains sowie vom bayerischen Teil des Mainlimes. Corpus Signorum Imperii Romani. Deutschland Bd. 2,13, Mainz 2005, Verlag des Romisch-Germanischen Zentralmuseums; In Kommission bei Habelt, Bonn, ISBN 3-88467-091-3, S. 178–186.
Friedrich Mössinger: Die Römer im Odenwald. Südhessische Post, Heppenheim 1954. (Schriften für Heimatkunde und Heimatpflege im südhessischen Raum, 13/14).
Michael Müller: Die „Haselburg“ bei Höchst-Hummetroth. In: Vera Rupp, Heide Birley (Hrsg.): Landleben im römischen Deutschland. Theiss, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8062-2573-0, S. 154f.
Michael Müller: Denkmal: Villa rustica Haselburg. Römische Lebensart in zugiger Höhe. In: Archäologie in Deutschland. Heft 6, 2006, S. 71–72.
Michael Müller: Vorgeschichte und Römerzeit in Höchst und Umgebung. In: Beiträge zur Geschichte von Höchst im Odenwald. Höchst i. Odw. 2006, S. 9–20.
Vera Rupp: Die ländliche Besiedlung und Landwirtschaft in der Wetterau und im Odenwald während der Kaiserzeit (bis 3. Jahrhundert einschließlich). In: H. Bender, H. Wolff (Hrsg.): Ländliche Besiedlung und Landwirtschaft in den Rhein-Donau-Provinzen des römischen Reiches. Passau/Espelkamp 1991/1994, S. 237–253 (Passauer Universitätsschriften zur Archäologie 2).
Egon Schallmayer: Der Odenwaldlimes. Entlang der römischen Grenze zwischen Main und Neckar. Theiss, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8062-2309-5, S. 53–56.
Bernd Steidl: Welterbe Limes – Roms Grenze am Main. Begleitband zur Ausstellung in der Archäologischen Staatssammlung München 2008. Logo, Obernburg 2008, ISBN 3-939462-06-3, S. 117f.
== Weblinks ==
Darstellung des Vereins zur Förderung des Freilichtmuseums Römische Villa Haselburg e.V.
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https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%B6mische_Villa_Haselburg
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Salzkammergut-Lokalbahn
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= Salzkammergut-Lokalbahn =
Die Salzkammergut-Lokalbahn, kurz SKGLB oder Ischlerbahn bzw. Bad Ischler Bahn genannt, verband als Schmalspurbahn mit 760 mm Spurweite (Bosnaspur) von 1893 bis 1957 den Kurort Bad Ischl im Zentrum des Salzkammergutes mit der Stadt Salzburg. Die Marktgemeinde Mondsee war über eine Zweigstrecke bei St. Lorenz an die Hauptstrecke angebunden und der Wallfahrtsort St. Wolfgang über eine bahneigene Dampfschifffahrtslinie von der Hauptstrecke aus zu erreichen. Die SKGLB, die im Dampfbetrieb auf 66,9 km Streckenlänge bis zu 2,15 Millionen Fahrgäste im Jahr beförderte, wurde 1957 als erste Bahnstrecke von nennenswerter Länge und überregionaler Bedeutung in Österreich trotz starker Proteste aus allen Bevölkerungsteilen eingestellt. Eine bereits projektierte Elektrifizierung wurde nicht realisiert. Mehrere Initiativen streben mittlerweile den Wiederaufbau der Strecke an. 2011 waren schon 29 Gemeinden einem Verein zur Förderung der RegionalStadtBahn beigetreten, lediglich der Salzburger Bürgermeister Heinz Schaden legte keinen Wert auf öffentlichen Verkehr auf dieser Strecke.
== Geschichte ==
=== Anfänge ===
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Salzkammergut zu einem Zentrum des Tourismus in Österreich-Ungarn. Das hohe Fremdenverkehrsaufkommen ließ den Wunsch nach einer Bahnverbindung zwischen dem Kurort Bad Ischl und der Landeshauptstadt Salzburg aufkommen. Bereits Ende der 1860er Jahre wurden erste Pläne für den Bau einer solchen Verbindung ausgearbeitet. Neben einer Abzweigung nach Mondsee war überdies die Errichtung einer Zahnradbahn auf den Schafberg und eines Hotels geplant. Die im Jahre 1873 einsetzende Rezession machte diese Vorhaben jedoch vorerst zunichte.
14 Jahre später legte Ing. Wilhelm Michael aus Wien ein Konzept für die Verwirklichung der bereits in den 1860er Jahren vorhandenen Pläne in Form einer Normalspurbahn vor. 1888 nahm er mit Ing. Josef Stern Kontakt auf, dem Mitgründer der Firma Stern & Hafferl, die in der gesamten Monarchie Bahnprojekte plante und realisierte. Josef Stern übernahm die Planungen für das Bahnprojekt, die mehr als zwei Jahre andauerten. Um das Projekt verwirklichen zu können, mangelte es indes noch an Investoren. Da die Verhandlungen mit Wiener Geldinstituten scheiterten, nahm Josef Stern mit einem seiner früheren Arbeitgeber, dem Besitzer der Lokalbahn Aktien-Gesellschaft (LAG) in Bayern sowie den in Oberösterreich und im Bundesland Salzburg ansässigen Banken Kontakt auf und konnte diese für das Projekt gewinnen.
Im Jahre 1889 ersuchte die eigens gegründete, nicht börsennotierte Salzkammergut-Localbahn-Aktiengesellschaft (SKGLB) um eine Konzession für die „Errichtung einer schmalspurigen Localbahn von Bad Ischl nach Salzburg mit einer Abzweigung nach Mondsee“, die das Unternehmen am 13. Jänner 1890 erhielt. Die Bahngesellschaft verfügte über ein Aktienkapital von 1.600.000 Gulden, das durch die Hauptaktionäre LAG und Stern & Hafferl sowie mehrere andere Unternehmen und 140 Privatpersonen aufgebracht wurde. Aus Kostengründen entschied sich das Unternehmen für die schmalspurige Errichtung der Lokalbahn, deren Spurweite von der Militärbehörde auf die so genannte Bosnische Spurweite von 760 mm festgelegt wurde. Neben hohen Fahrgastzahlen durch den großen Touristenanteil im Personenverkehr erwartete die Salzkammergut-Lokalbahn-Aktiengesellschaft darüber hinaus einen gewinnbringenden Güterverkehr durch die Erschließung des Waldreichtums der Region.
=== Bahnbau und Eröffnung ===
Nach dem Kauf aller erforderlichen Grundstücke wurde im Frühjahr 1890 mit den Bauarbeiten begonnen, wobei die Gesamtbauleitung Josef Stern oblag. Die Errichtung der Bahn erfolgte in drei Etappen.
Das erste, 9,6 km lange, Teilstück zwischen Bad Ischl Localbahnhof und Strobl, welches durch weitgehend unkompliziertes Gelände im Tal der Ischl führte, konnte bereits am 5. August 1890 eröffnet werden. Für den Betrieb dieses Streckenabschnitts wurden die zwei leichten Dampflokomotiven Nr. 1 und 2, sieben Personenwaggons der 2. Klasse, zwei Güterwaggons, zwei Gepäckwagen und zwei Postwagen beschafft. Da Bad Ischl der Sommersitz von Kaiser Franz Joseph war, erfolgte überdies die Anschaffung eines Salonwagens für den Kaiser.
Der erste Abschnitt der Bahn hatte seinen Ausgangspunkt beim Localbahnhof in Bad Ischl im Westen des Ortes. Mit dem Hauptbahnhof von Bad Ischl wurde die Lokalbahn erst später verbunden. Zwischen August und September verkehrten täglich acht Zugpaare, im Winter wochentags nur vier und samstags acht Zugpaare. Auf Grund des hohen Fremdenverkehrsaufkommens erhöhte die SKGLB die Anzahl der Zugpaare im Sommer 1891 auf neun.
Am 28. Juli 1891 wurde der zweite, 31,6 km lange Teil der Strecke zwischen Salzburg und Mondsee eröffnet. Für den Betrieb dieses längeren und anspruchsvoller trassierten Streckenabschnitts wurden drei leistungsstärkere Lokomotiven jener Bauart beschafft, die sich seit 1888 schon auf der Steyrtalbahn bewährt hatte (Loks 3 – 5). Dazu kamen 13 Personenwaggons (1. und 3. Klasse), zwei Gepäckwagen, zwei Postwagen und 14 Güterwaggons. Täglich verkehrten fünf Personenzüge und ein Güterzug auf dem neu errichteten Teilstück; im Winter waren täglich nur drei gemischte Züge unterwegs.
Der Bau der letzten Etappe, des 22,4 km langen Lückenschlusses zwischen St. Lorenz am Mondsee und Strobl, gestaltete sich wesentlich schwieriger, da die Bahn in diesem Abschnitt Gebirgsbahncharakter aufwies. So arbeitete Josef Stern bei der Ausführung von Trassenfreisprengungen und Durchstichen eng mit der bereits als Geldgeber involvierten Lokalbahn-Aktiengesellschaft aus München zusammen. Deren Mitdirektor Victor Krüzner persönlich leitete die schwierigen Bauarbeiten, die zwei Jahre in Anspruch nahmen. Das Verbindungsstück zwischen den beiden fertigen Teilstrecken wurde am 20. Juni 1893 in Anwesenheit von Kaiser Franz Joseph eröffnet. Die SKGLB beschaffte fünf weitere Lokomotiven der Steyrtalbahntype (6 – 10), 19 Personenwaggons (1. und 3. Klasse), und 42 Güterwaggons. Die Verbindung der Bahn mit dem Hauptbahnhof in Bad Ischl wurde am 3. Juli 1894 für den Betrieb freigegeben. Mit dem Abschluss der Bauarbeiten erlangte das Streckennetz der SKGLB seine maximale Ausdehnung. Eine projektierte Verlängerung des Mondseer Astes über Zell am Moos nach Straßwalchen wurde aus wirtschaftlichen Gründen nicht realisiert. Für die Gesamtstrecke mussten zwei Viadukte, 58 Brücken und fünf Tunnels errichtet werden, zudem waren 432 Straßen- und Wegübergänge zu berücksichtigen.
Der fortan nicht mehr benötigte Localbahnhof in Bad Ischl wurde in Personalwohnungen und eine Remise umgebaut. Am 1. August 1893 wurden die Schafbergbahn und das Hotel am Schafberg eröffnet. Beide Einrichtungen gehörten ebenfalls der Salzkammergut-Lokalbahn-Aktiengesellschaft, die zu diesem Zeitpunkt über 10 Lokomotiven, 39 Personenwaggons, vier Gepäckwagen, vier Postwagen, 58 Güterwaggons und einen Salonwagen verfügte. Auch vier offene Sommerwagen gehörten ursprünglich zum Fuhrpark der SKGLB. Da diese 1890 beschafften Fahrzeuge keine Übergänge zu anderen Wagen hatten, mussten die Fahrgäste jedoch bei einsetzendem Regen bis zum nächsten Bahnhof ausharren, um in einen geschlossenen Wagen zu wechseln. Der Einsatz der Sommerwagen war durch das wechselhafte Klima des Salzkammergutes daher kaum zu planen und so wurden sie 1906 in herkömmliche geschlossene Reisezugwagen umgebaut.Die Beförderungszahlen entwickelten sich stärker als erwartet. Im ersten Geschäftsjahr 1890/1891 wurden 140.767 Fahrgäste befördert. In den Jahren 1896 und 1897 musste die Strecke mehrmals wegen Hochwassers gesperrt werden. Im Jahre 1898 kaufte die SKGLB zudem die Dampfschifffahrt auf dem Wolfgangsee von den Erben des Unternehmensgründers.1912 schlug Josef Stern die Elektrifizierung der Lokalbahn vor. Dieses Projekt scheiterte ebenso, wie die drei Jahre zuvor ausgearbeiteten Pläne zur Elektrifizierung der normalspurigen Salzkammergutbahn und ein bereits 1907 erstelltes erstes Projekt zur Elektrifizierung der SKGLB, am Widerstand des Militärs, das elektrische Lokomotiven bei Bedarf nicht auf den ausschließlich mit Dampf betriebenen Strecken in Bosnien und Herzegowina hätte einsetzen können.
=== Kriegsjahre, Aufschwung und Krise ===
Der Erste Weltkrieg brachte zwar keinen Rückgang der Beförderungszahlen mit sich – die Fahrgastzahlen stiegen stetig an –, hingegen wirkte sich der Krieg negativ auf die Verfügbarkeit der Betriebsmittel der SKGLB aus. Zwischen 1915 und 1918 requirierte die Heeresverwaltung sechs Lokomotiven, die auf den strategisch wichtigen Schmalspurbahnen in Bosnien und der Herzegowina zum Einsatz kamen. Die Salzkammergut-Lokalbahn musste den Betrieb mit den verbliebenen sechs Lokomotiven abwickeln. Längst notwendige Modernisierungsmaßnahmen konnten nicht verwirklicht werden. Der stetig steigende Kohlen- und Personalmangel führte zu einer starken Einschränkung des Zugverkehrs. Am 14. und 15. Dezember 1917 kam es zur vollständigen Einstellung des Betriebs; fortan verkehrten täglich nur mehr zwei Zugpaare. Die eingezogenen Fahrzeuge kehrten nach Kriegsende nicht mehr vollzählig ins Salzkammergut zurück.Das Ende des Krieges brachte eine drastische Verschlechterung der Wirtschaftslage mit sich. Die Salzkammergut-Lokalbahn befand sich in großen finanziellen Schwierigkeiten. Sie schloss ein Übereinkommen mit dem Bund, wodurch die Lokalbahn ab dem 1. Dezember 1920 für vier Jahre von der Republik Österreich verwaltet und durch die damals BBÖ abgekürzten Staatsbahnen betrieben wurde. Diese konnten den Engpass bei den Fahrbetriebsmitteln durch den Einsatz eigener Schmalspurfahrzeuge verringern. Kurze Zeit später erfolgte der Verkauf aller zur SKGLB gehörenden Unternehmungen, die nicht direkt zum Kerngeschäft der Lokalbahn gehörten; nur das Hotel am Schafberg blieb weiterhin im Besitz der Salzkammergut-Lokalbahn. Zudem wurden eine komplette Erneuerung der Gleise und Schwellen sowie umfangreiche Reparaturen an den Fahrzeugen der SKGLB vorgenommen. Josef Stern setzte sich für die Lokalbahn ein und kaufte mehrere große Aktienpakete. Im Jahre 1923 gelangten die Salzkammergut-Lokalbahn, die Schafbergbahn samt Hotel und die Wolfgangsee-Schifffahrt in den Besitz der Firma Stern & Hafferl. Josef Stern arbeitete erneut ein Projekt zur Elektrifizierung der Bahn aus; er verstarb jedoch bevor er seine Pläne umsetzen konnte. Mit der Abwicklung der Verlassenschaft von Josef Stern erfolgte der Verkauf seiner Aktien, wodurch sich die Bahn ab dem 1. Jänner 1925 wieder im Besitz der deutschen Lokalbahn Aktien-Gesellschaft befand.Zwischen 1925 und 1929 verzeichnete die Bahn wieder wachsende Fahrgastzahlen. Im Jahre 1928 erfolgte die Anschaffung vierachsiger Personenwaggons. Die Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929 führte zu einem Rückgang der als Einnahmequelle wichtigen Touristen. Die Salzkammergut-Lokalbahn befand sich dadurch in einer finanziellen Krise, die selbst durch den Verkauf der Schafbergbahn mitsamt Hotel und der Wolfgangsee-Schifffahrt an das Österreichische Verkehrsbüro im Jahr 1932 nicht gelöst werden konnte. Darüber hinaus führten der in diesen Jahren aufkommende, motorisierte Individualverkehr sowie lokale Busunternehmen zu steigendem Konkurrenzdruck.
Das Ausbleiben deutscher Touristen infolge der 1933 verhängten Tausend-Mark-Sperre führten zu sinkenden Fahrgastzahlen, die die SKGLB durch den Erwerb mehrerer Konzessionen für Buslinien zu kompensieren versuchte. Diese Buslinien verliefen weitgehend parallel zur Bahn. Ferner beschaffte sie zur Verkürzung der Fahrzeiten drei benzinhydraulische Triebwagen von Austro-Daimler, die ab dem 15. Juli 1933 zum Einsatz kamen. Die Getriebe dieser Fahrzeuge hielten den Belastungen im Betrieb jedoch nicht stand, weshalb sie bereits nach einem Jahr außer Dienst gestellt werden mussten.
Durch den nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich einsetzenden Besucherstrom deutscher Touristen verbesserte sich die finanzielle Situation der SKGLB wieder. Im Jahre 1939 wurde die Lokalbahn Aktien-Gesellschaft enteignet und die SKGLB in den Besitz der Reichsgaue Salzburg und Oberdonau (nach 1945 Bundesländer Salzburg und Oberösterreich) übernommen. Da überdies die Straßenfahrzeuge für Kriegszwecke eingezogen wurden, musste die SKGLB ihre Buslinien einstellen.
Im Laufe des Zweiten Weltkrieges stiegen die Fahrgastzahlen stetig an. 1943 wurden erstmals mehr als 1,5 Millionen Fahrgäste befördert und dadurch der Fuhrpark bis aufs äußerste beansprucht. Darüber hinaus wurde die Bahn durch Kriegshandlungen in Mitleidenschaft gezogen. Am 11. April 1945 griffen zwei Lockheed P-38 einen Zug in der Nähe der Haltestelle Teufelmühle an; dabei wurden fünf Personen getötet, mehrere verletzt und alle Fahrzeuge beschädigt. Während des Krieges wurden Pläne ausgearbeitet, die den Umbau der Lokalbahn in eine Normalspurbahn vorsahen – diese konnten jedoch nicht verwirklicht werden.
=== Nachkriegszeit und Einstellung ===
Zwischen 9. und 15. Mai 1945 wurde der Zugverkehr auf der Strecke zunächst eingestellt und danach schrittweise wieder aufgenommen, jedoch bis 30. September ohne Sonntagszüge. Ab 1. Oktober 1945 konnten wieder alle im Fahrplan vorgesehenen Züge verkehren. In der Nachkriegszeit unterblieben die dringend notwendigen Modernisierungsmaßnahmen, wie etwa die bereits mehrmals vorgeschlagene Elektrifizierung, oder die Erneuerung des Fuhrparks, der zum großen Teil noch aus dem Altbestand von 1893 bestand. Die SKGLB erhielt von der United States Forces in Austria (USFA) einige Fahrzeuge, die zuvor als Beutegut beschlagnahmt wurden. Im Jahre 1946 wurde mit 2.146.614 Fahrgästen ein Rekord der Beförderungszahlen aufgestellt.Am 21. März 1948 ereignete sich einer der schwersten Unfälle in der Geschichte der Salzkammergut-Lokalbahn: Das Lokpersonal eines Sonderzuges mit Theaterbesuchern, der gegen 23 Uhr die Rückfahrt von Salzburg nach Bad Ischl antrat, übersah, dass die Strecke vor dem Scharflinger Tunnel infolge eines Felssturzes weggerissen war. Die Lokomotive entgleiste und stürzte etwa 60 Meter in die Tiefe. Da die Kupplung brach, blieben die Personenwaggons auf den Gleisen stehen und wurden nicht mitgerissen. Lokführer und Heizer überlebten den Unfall nicht. Lok 6 wurde dabei so schwer beschädigt, dass sie nach der Bergung und Entnahme noch brauchbarer Teile verschrottet wurde. Der zerstörte Streckenabschnitt konnte erst ab 5. Mai wieder befahren werden.Nach dem Rekordjahr 1946 sanken die Beförderungszahlen stetig und die Bahn war der immer mächtiger werdenden Konkurrenz des Individualverkehrs nicht mehr gewachsen. Obwohl die Elektrifizierung der SKGLB als Bedingung für den Weiterbestand der Bahn angesehen wurde, unterblieb sie letztendlich. Die Lokalbahn war nicht mehr konkurrenzfähig und die Wahrscheinlichkeit einer Einstellung zeichnete sich immer deutlicher ab. Zwischen 1950 und 1957 wurde ein erfolgloser „Einstellungskampf“ geführt.
Die Wiener Zeitung berichtete in der Ausgabe vom 9. Juli 1950: Für die „Salzkammergut-Lokalbahn, gegen deren Einstellung allseits protestiert wird, sollen aus ERP-Mitteln 4,5 Millionen bereitgestellt werden, wofür das Land Salzburg die Haftung zu übernehmen hätte.“ Die Gründe, warum die SKGLB diesen ERP-Kredit aus dem Marshallplan nicht erhalten hat, wurden nie öffentlich bekannt gegeben. In diesem Jahr wurde zudem von einer möglichen Übernahme durch die ÖBB und einer Umstellung auf Dieseltraktion berichtet.Im Jahre 1951 wurde der Landesregierung von Salzburg ein Gutachten des Arbeitsausschusses für Verkehrsfragen des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereins vorgelegt, das die Vorteile einer modernisierten Lokalbahn gegenüber dem Straßenverkehr aufzeigen sollte. Zudem sprachen sich Politiker gegen die Einstellung der Bahn aus. Im Jahre 1955 legte Ing. Karl Stern ein Projekt zur Rettung der SKGLB vor. Durch die Elektrifizierung, die Erneuerung des Fahrzeugparks und dank Rationalisierung des Betriebs hätte die Bahn vor der Einstellung bewahrt werden sollen. Die Fertigstellung wäre bis Oktober 1957 umsetzbar gewesen.Die lokale Bevölkerung startete eine Initiative für den Erhalt der Salzkammergut-Lokalbahn, in der sich 50.000 Personen gegen deren Einstellung aussprachen. Am 21. September 1957 demonstrierten 2.500 Personen aus dem Salzkammergut vor dem Amt der Salzburger Landesregierung für den Erhalt der Bahn. Der Sprecher der Demonstranten wurde vom Salzburger Landeshauptmann Josef Klaus darauf hingewiesen, dass die Einstellung der Salzkammergut-Lokalbahn unausweichlich wäre. Begründet wurde diese Aussage damit, dass es sich dabei um eine „Entscheidung aus Wien“ handle, an der es nichts mehr zu rütteln gebe. Eigentümer der Bahn waren zu diesem Zeitpunkt die Bundesländer Salzburg und Oberösterreich.
Am 30. September 1957 fuhr der letzte planmäßige Personenzug, der von zehntausenden Besuchern, die sich entlang der Strecke versammelt hatten, verabschiedet wurde. Dieser Zug wurde von Lok 12 gezogen, an der eine Tafel mit folgender Aufschrift angebracht wurde:
Heute fahre ich zum letztenmal
durch das schöne, grüne Tal.
Meine lieben Berge und Seen
lebet wohl auf Wiedersehn!Der Güterverkehr wurde bis zum 10. Oktober aufrechterhalten, um die noch vorhandenen Frachten abzuführen. Das Personal wurde pensioniert oder von den ÖBB übernommen. Nach dem 10. Oktober 1957 wurde in einigen Abschnitten bereits mit der Demontage der Gleisanlagen begonnen, wodurch eine Reaktivierung der Strecke unmöglich gemacht wurde. Die letzten Zugfahrten fanden im Sommer 1958 im Zuge der Gleisabtragung statt.
=== Nachwirken ===
Am 15. Oktober 1957 beschloss die Hauptversammlung, das Unternehmen in Liquidation zu führen. Den öffentlichen Personenverkehr ersetzten Postbusse. Die endgültige Auflösung des Unternehmens erfolgte erst am 15. Jänner 1964 durch Löschung aus dem Handelsregister am Landesgericht Salzburg. Die Trasse wurde in mehreren Abschnitten zur Verbreiterung von Straßen genutzt. Die Strecke von Salzburg nach Eugendorf blieb im Wesentlichen unverbaut. Auf ihr verläuft seit Mitte der 1990er Jahre ein Radweg.Der Abbruch der Trasse kostete 80 Millionen Schilling. Da zum Zeitpunkt der Bahneinstellung die als Ersatz vorgesehenen Straßen noch nicht adäquat ausgebaut und in langen Abschnitten noch einspurig waren, mussten für deren Ausbau weitere 350 Millionen Schilling aufgebracht werden – erste Schätzungen sprachen hingegen noch von 210 Millionen. An den Uferbereichen am Wolfgangsee und am Mondsee sowie auf der Scharflinger Höhe konnten diese Arbeiten erst nach Abtragung der Bahntrasse in Angriff genommen werden, sodass der mittlerweile stark angestiegene Straßenverkehr anfangs mit erheblichen Problemen zu kämpfen hatte.Für die Elektrifizierung und die Anschaffung passender Fahrzeuge wären Investitionen in Höhe von 44 Millionen Schilling notwendig gewesen. Die Presse berichtete am 25. September 1957, dass das für die Elektrifizierung der Bahn notwendige Material bereits vorhanden gewesen und nach der Einstellung wieder verkauft worden sei.
Mit der SKGLB wurde erstmals in Österreich eine Bahnstrecke von nennenswerter Länge und überregionaler Bedeutung stillgelegt. Wie bei anderen Schmalspurbahnen in Österreich hatte die lokale Bevölkerung, welche die Abkürzung „SKGLB“ scherzhaft als „Sie kommt gar langsam und bedächtig“ umdeutete, eine starke Bindung zu ihrer Bahn. Das Lied Zwischen Salzburg und Bad Ischl aus dem Film Kaiserball ist selbst 50 Jahre nach der Einstellung der Bahn der Öffentlichkeit durchaus bekannt. Der Text beschreibt in launigen Versen die lange Zeit weit verbreitete Wahrnehmung von Lokalbahnen: langsam und unbequem, jedoch in den Herzen der regionalen Bevölkerung verankert. Der Komponist Rudi Gfaller widmete der Bahn die 1963 bei den Operetten-Festspielen Bad Ischl uraufgeführte Operette Der feurige Elias. Heute erinnert vor allem das SKGLB-Museum in Mondsee an die Bahn.
== Streckenverlauf ==
Obwohl die Strecke der Salzkammergut-Lokalbahn nur knapp 180 Meter Höhenunterschied zu bewältigen hatte und mit 599 m ihren Scheitelpunkt erreichte, zeigte ihr Verlauf neben einigen Flachstrecken ebenso die Merkmale einer Gebirgsbahn. So wurde im Teilstück Strobl – St. Lorenz mehrmals die nominelle Maximalsteigung von 25 ‰ überschritten, unter anderem bei St. Gilgen mit 27,5 ‰.
=== Bad Ischl – Strobl ===
Am Personenbahnhof Bad Ischl, dem Ausgangspunkt der Lokalbahn, waren wegen der beengten Platzverhältnisse neben den Einrichtungen der Salzkammergutbahn nur ein Bahnsteiggleis und ein Rangiergleis zum Umsetzen der Lokomotive vorhanden. Zur Ausfahrt in Richtung Salzburg vereinigten sich zunächst die Schmalspur der SKGLB und die Normalspur der Salzkammergutbahn zu einem – in Österreich einzigartigen – asymmetrischen Vierschienengleis: Eine Schiene der Schmalspurbahn war innerhalb der Normalspurschienen, die andere außerhalb verlegt. Beide Bahnen querten so die Traun auf der sogenannten Lokalbahnbrücke und durchfuhren anschließend den Ischler Tunnel der Salzkammergutbahn.
Beim Bad Ischler Frachtenbahnhof, der mit einem Heizhaus und Anlagen für den Güterumschlag zwischen SKGLB und Salzkammergutbahn ausgestattet war, wechselte die Bahn auf einen eigenen Gleiskörper und querte erneut die Traun auf einer Fachwerkbrücke. Nach der im Ischler Villenviertel gelegenen Haltestelle Kaltenbach und der Durchfahrung des mit 685 m längsten Tunnels der Strecke durch den Kalvarienberg Bad Ischl wendete sich die Bahn nach Westen, um dem Talverlauf der Ischl zu folgen. Sie passierte die Stationen Aschau, Wacht, Aigen-Voglhub (mit Ausweichgleis für Zugkreuzungen) und Weissenbach und erreichte nach 12 km die ursprünglich erste Endstation Strobl am östlichen Ufer des Wolfgangsees.
=== Strobl – St. Lorenz ===
Von Strobl aus verlief die Bahn zunächst durch das Blinklingmoos und folgte danach dem Ufer des Wolfgangsees. Beim Bahnhof St. Wolfgang (Lokalbahn) bei Forsthub bestand ein direkter Anschluss zur Wolfgangsee-Schifffahrt, die die auf den Bahnfahrplan abgestimmte Verbindungen zum Wallfahrtsort St. Wolfgang und zur Schafbergbahn am gegenüberliegenden Ufer herstellte. Die weitere Trasse, die den Schwemmkegel des Zinkenbachs etwas abseits des Seeufers abschnitt, stieß bei Gschwand wieder direkt auf das Seeufer. Am Steilabfall des Zwölferhorns in den See verblieb nur ein schmaler Streifen zwischen Felswand und Ufer, den sich Bahn und Straße teilen mussten. Bei der Haltestelle Lueg führte die Strecke kurioserweise durch den Gastgarten dieses Hotels. Im folgenden St. Gilgen, am nördlichen Ufer des Sees, befand sich in den letzten Betriebsjahren der Bahn schon die Talstation der Zwölferhornseilbahn, ein bedeutender Anziehungspunkt für den Fremdenverkehr.
Im folgenden Abschnitt wies die Salzkammergut-Lokalbahn Gebirgsbahncharakter auf. Über die Haltestellen Billroth bei St. Gilgen, Aich in Winkl mit der Ausweiche Hüttenstein, und am Krotensee vorbei, führte die Trasse hinauf zur Scharflinger Höhe, der Wasserscheide zwischen Wolfgangsee und Mondsee, die die Bahn in einem 436 Meter langen Tunnel durchquert. Ab der Haltestelle Scharfling, noch hoch über dem Mondsee gelegen, fuhr die Bahn an den Abbrüchen des Almkogels weiter durch zwei kürzere Tunnels und auf einer in die Felswand geschlagenen Trasse bis zur Haltestelle Plomberg am Ufer des Mondsees hinab.
Vorbei an der markanten Steilwand der Drachenwand verlief das Gleis ab Plomberg durch ebene Wiesen bei St. Lorenz zum Bahnhof St. Lorenz bei der Wagnermühle, dem Abzweigbahnhof der Nebenstrecke nach Mondsee. Als Knotenpunkt war er mit umfangreicheren Gleisanlagen sowie einem Sägewerk–Gleisanschluss ausgestattet. In St. Lorenz wurden die Lokomotiven aller Züge der Hauptstrecke immer mit Wasser und meist ebenso mit Kohle ergänzt.
=== St. Lorenz – Mondsee ===
Der Zweigabschnitt von St. Lorenz nach Mondsee, der ursprünglich ein Teilstück der Strecke von Salzburg war, führte weitgehend eben am westlichen Ufer des Mondsees entlang. Er bediente auf der kurzen Strecke die Haltestellen Schwarzindien und Leitnerbräukeller. Letztere bestand lediglich aus einer Stationstafel am gleichnamigen Wirtshaus. Nach 3,5 km endete die Strecke am Bahnhof Mondsee an der Seepromenade der Marktgemeinde.
=== St. Lorenz – Salzburg ===
Die Hauptstrecke folgte ab St. Lorenz ansteigend über die Haltestellen Teufelmühle und Vetterbach dem Tal der Fuschler Ache und erreichte mit Thalgau den nächsten größeren Ort. Nachdem der Talgrund in nördlicher Richtung verlassen wurde, unterquerte die Bahn bei Irlach erstmals die Trasse der in den späten 1950er Jahren fertiggestellten Westautobahn und überschritt nahe der Haltestelle Enzersberg auf 600 m ü. A. die Wasserscheide zwischen dem Mondsee und der Salzach. Dieser Abschnitt der SKGLB durch das Hügelland des Salzburger Flachgaus war höher gelegen, als der gebirgige Abschnitt über die Scharflinger Höhe.
Weiter führte die Strecke durch sanft hügelige Landschaft zum Bahnhof Kraiwiesen, durch den einige kleinere Siedlungen erschlossen wurden und nach Eugendorf, der nächsten größeren Gemeinde. Nachdem die Bahn einen Viadukt der Autobahn in südlicher Richtung unterquert hatte, senkte sie sich am Nordhang des Schernbachtals auf den nächsten fünf Kilometern stetig hinab in das gut 100 Meter tiefer gelegene Salzburger Becken.
Bei Söllheim war die Salzburger Stadtgrenze erreicht. Die Strecke führte hier an der Siedlung Sam vorbei, unterquerte die Brücke der normalspurigen Verbindungsbahn zwischen Westbahn und Gnigl, passierte die Betriebswerkstätte in Itzling und erreichte die Endstation für den SKGLB-Güterverkehr, den Frachtenbahnhof Itzling.
Personenzüge fuhren unter einer Brücke der Westbahn hindurch in Richtung Hauptbahnhof weiter. Das Gleis verlief zunächst dicht am Rand der Ischlerbahnstraße entlang, kreuzte die Bahnstrecke Salzburg Hbf–Salzburg Itzling niveaugleich, um danach den großen Ringlokschuppen der ÖBB zu passieren. Die Strecke endete im Salzburger Lokalbahnhof, der sich auf dem vor dem Hauptbahnhof gelegenen Südtiroler Platz befand. Dieser wurde gemeinsam mit der Bahnstrecke Salzburg–Lamprechtshausen, der ehemaligen Bahnstrecke Salzburg–Hangender Stein und der ebenfalls stillgelegten Straßenbahn Salzburg genutzt.
== Betrieb ==
Ein typischer SKGLB-Personenzug bestand zumeist aus drei bis fünf Personenwaggons und einem Gepäckwagen. Je nach Bedarf – beispielsweise bei Schülerzügen – wurden sie mit zusätzlichen Wagen verstärkt. Bis zur Einstellung fuhren die Züge während der Sommermonate wegen des starken Zustromes an Touristen mit langen Garnituren, die vielfach in Doppeltraktion geführt wurden. Während der Salzburger Festspiele verkehrten ab 1920 regelmäßig Sonderzüge, die als „Theaterzüge“ bezeichnet wurden und als zusätzlicher Zubringer zur Festspielstadt Salzburg gedacht waren.
Der Fahrplan auf der Zweigstrecke zwischen Mondsee und St. Lorenz war so ausgelegt, dass die Zweigstreckenzüge als Zubringer zur Hauptstrecke dienten und die Fahrgäste nach einer kurzen Wartezeit in den Zug Richtung Salzburg oder Bad Ischl umsteigen konnten. Für diesen Pendelverkehr auf der kurzen Strecke reichte eine einzige Garnitur. Ab etwa 1928 wurde für diese Aufgabe bevorzugt der aus einem vierachsigen Personenwagen umgebaute Motortriebwagen herangezogen.
Im Güterverkehr bediente die Bahn mehrere Betriebe, die über einen eigenen Gleisanschluss verfügten. In den Bahnhöfen und einigen Haltestellen standen weiters Ladegleise für lokale Verlader zur Verfügung. Die SKGLB transportierte neben Holz mehrerer streckennah angesiedelter, holzverarbeitender Betriebe, deren bedeutendster das Sägewerk in St. Lorenz war, ebenso Milch, Stückgut und Postsendungen. In Bad Ischl Frachtenbahnhof und in der Frachtenstation Salzburg-Itzling konnten die Güter zum Weitertransport auf die Normalspurbahn verladen werden. In Sankt Wolfgang bestand zudem die Möglichkeit, Güter auf Dampfschiffe der Wolfgangsee-Schifffahrt zu verladen.In der Regel wurden Personen- und Güterverkehr auf der Salzkammergut-Lokalbahn getrennt geführt. Zwischen Salzburg und Bad Ischl wurde der Güterverkehr mit reinen Güterzügen betrieben. So wurden die Nachteile der auf vielen Lokalbahnen mit vergleichsweise bescheidenem Personenverkehr üblichen Güterzüge mit Personenbeförderung – lange Reisezeiten und Verspätungen durch die Rangieraufenthalte in den Stationen – vermieden. Als Zuglokomotiven kamen im Güterverkehr daher vorzugsweise die langsameren, jedoch leistungsstärker konstruierten Lokomotivtypen zum Einsatz. Lediglich auf der Zweigstrecke wurden die wenigen für Mondsee bestimmten Güterwagen dem Triebwagen beigegeben. Da die Bahn keine Drehscheiben besaß, erfolgte die Rückfahrt von Salzburg nach Bad Ischl oder von Mondsee nach St. Lorenz „rückwärts“, die Lokomotiven fuhren „Tender voraus“. Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit betrug auf der Hauptstrecke 40 km/h, die Zweigstrecke St. Lorenz–Mondsee durfte mit 35 km/h befahren werden. Für den Sommer 1928 wurde für Schnellzüge eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 37,2 km/h errechnet.
=== Betriebseinrichtungen ===
Die Salzkammergut-Lokalbahn wies inklusive aller Nebengleise eine Gleislänge von 74,7 Kilometern auf. Auf der ganzen Strecke waren Vignolschienen verlegt, die an Holzschwellen, die auf einem Schotterbett ruhten, montiert waren. Das Schienengewicht von 17,8 kg/m ergab eine maximale Achslast von 8 Tonnen. Die Bahn bediente 16 Bahnhöfe und 20 Haltestellen. Die Ausstattung der Bahnhöfe und Stationen war, für eine Lokalbahn typisch, sparsam und zweckmäßig ausgeführt. Die Architektur der Bahnhöfe entsprach einer in der gesamten österreichisch-ungarischen Monarchie verbreiteten Einheitsbauweise für Lokalbahnhochbauten, die das Erscheinungsbild dieser Bahnen nachhaltig prägte. Auf der SKGLB waren mehrere Empfangsgebäude mit einer offenen Veranda als Wartebereich versehen. Haltestellen waren mehrheitlich mit einem, im Vergleich zu den Einrichtungen an den heute bestehenden Bushaltestellen geräumigen Wartehäuschen ausgestattet, sie verfügten jedoch über keine umfangreichen Gleisanlagen oder Einrichtungen zur Versorgung der Dampflokomotiven. Teilweise waren Ladegleise für den Güterverkehr vorhanden.
Die Bahnhöfe der Lokalbahn waren üblicherweise mit mindestens einem beidseitig an das Streckengleis angeschlossenen Ausweichgleis und einem oder mehreren Ladegleisen für den Güterverkehr ausgerüstet. Mehrere Stationen waren mit Wasserkränen zur Versorgung der Dampflokomotiven ausgestattet, die als Tenderlokomotiven nur über einen begrenzten Wasservorrat mitzuführen vermochten. Heizhäuser zur Unterbringung der Lokomotiven waren an den Endpunkten Bad Ischl, Salzburg und Mondsee sowie in St. Gilgen vorhanden. Dort und im Knotenbahnhof St. Lorenz waren überdies die erforderlichen Versorgungseinrichtungen für die Lokomotiven untergebracht.
Für Reparaturen und Ausbesserungsarbeiten an den Fahrzeugen war die Betriebswerkstätte in Salzburg–Itzling, die mit einer Schiebebühne, einem Lokkran und einer Untersuchungsgrube ausgestattet war, zuständig. Die Werkstätte verfügte über vier Hallengleise und mehrere Außengleise zum Abstellen der Fahrzeuge. Das Gebäude beherbergte neben zahlreichen Maschinen und Werkzeugen überdies einen Dienstraum, eine Schmiede, eine Löterei, eine Tischlerei, eine Lackiererei und ein Magazin. Kurz nach der Werkstätte befand sich die Frachtenstation Salzburg Itzling der Salzkammergut-Lokalbahn, die mit einem Portalkran zur Verladung der Güter auf die Normalspurbahn ausgestattet war. Mit seinem zweiständigen Heizhaus war dieser Bahnhof das betriebliche Zentrum der Bahn im Raum Salzburg.
=== Fuhrpark ===
Die Salzkammergut-Lokalbahn verfügte gegen Ende ihres Bestandes über einen recht „bunten“ Fuhrpark, bestehend aus den Originalfahrzeugen aus den Anfangsjahren der Bahn, den in der Zwischenkriegszeit als Ersatz für die im Ersten Weltkrieg verlorenen Fahrzeuge erworbenen Loks und Wagen und ehemaligen Heeresfeldbahnfahrzeugen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Verfügung standen. Letztere kamen jedoch wegen ihrer vergleichsweise geringen Leistung mit wenigen Ausnahmen nicht im Streckendienst zum Einsatz, sondern wurden als Rangierlokomotiven in Salzburg Itzling verwendet. Der Großteil des Lokomotivbestands setzte sich aus Tenderlokomotiven zusammen, nur vier – die ehemaligen Heeresfeldbahnlokomotiven – waren Schlepptenderloks. Kleinere Lokomotiven wie etwa Nr. 2, 30 und 31 wurden bevorzugt im Rangierdienst oder auf der Zweigstrecke nach Mondsee eingesetzt, wenn der Dieseltriebwagen nicht zur Verfügung stand. Eine Besonderheit stellte die Lok Nr. 40 dar – sie war die einzige Diesellokomotive in der Geschichte der Salzkammergut-Lokalbahn. Trotz der Vielfalt im Lokomotivpark trugen jedoch bis zur Einstellung die zuletzt vorhandenen sieben Lokomotiven der Steyrtalbahntype, die zwischen 1891 und 1906 angeschafft wurden, die Hauptlast des Verkehrs. Die Lokomotiven trugen ursprünglich das in Österreich typische vollständig schwarze Farbkleid mit blanken Radreifen und Gestänge, in den letzten Betriebsjahren waren bei einigen Maschinen zumindest Teile des Fahrwerkes mit einem roten Anstrich versehen. Lok Nr. 31 war die einzige Lok, bei der Wasserkasten und Führerhaus grün lackiert waren.Auf Sparsamkeit bedacht, wurden die „überalterten“ Fahrzeuge nicht ausgemustert und durch Neuanschaffungen ersetzt, sondern bei Bedarf in der Werkstätte in Itzling umgebaut und modernisiert. So wurde um 1928 aus einem vierachsigen Reisezugwagen, der 1894 als Hofsalonwagen gebaut wurde, ein Triebwagen mit Verbrennungsmotor nach dem GEBUS-Prinzip aufgebaut, der fortan den Verkehr auf der Zweigstrecke übernahm. Ab dem Zeitpunkt der Einführung des neuen Nummerierungsschemas im Jahre 1930 bis zur Einstellung der Bahn befanden sich insgesamt 18 Lokomotiven (sechs davon wurden schon in den Jahren vor der Betriebseinstellung ausgemustert), vier Triebwagen (drei davon wurden bereits 1939 verkauft), 36 Personenwagen, neun Post- und Gepäckwagen und 111 Güterwagen im Besitz der SKGLB. Die Personenwagen waren in die 2. und die 3. Klasse unterteilt, vor der Umstellung im Jahre 1916 gab es die 1. und die 3. Klasse. Als „Paradefahrzeuge“ galten bis zur Einstellung die fünf vierachsigen Personenwagen. Jedes dieser Fahrzeuge bot fast doppelt so viele Sitzplätze wie ein Zweiachser. Die Personen- und Gepäckwagen waren grün lackiert, Güterwaggons waren in einem roten Farbton gehalten.
Die nach der Einstellung noch vorhandenen Fahrzeuge wurden zum Verkauf ausgeschrieben. Mehrere Loks und Wagen wurden von den Steiermärkischen Landesbahnen und der Zillertalbahn zum Schrottwert erworben, einige wenige blieben für museale Zwecke erhalten. Alle anderen Fahrzeuge wurden verschrottet.
=== Fahrgastzahlen ===
Fuhren im ersten Betriebsjahr (18 Monate) 140.767 Fahrgäste mit der Bahn, stieg die Zahl der jährlich beförderten Personen in den folgenden 24 Jahren nur sehr langsam auf einen Höchststand von knapp 405.000 Fahrgästen im Jahr 1911. Im Ersten Weltkrieg kam es zu einem deutlichen Anstieg auf 646.423 Fahrgäste im letzten Kriegsjahr 1918. Die Fahrgastzahlen fielen nach Kriegsende nicht wieder auf das Vorkriegsniveau zurück und pendelten sich bis 1929 auf 350.000 bis 600.000 jährlich beförderte Personen ein. Mit Einsetzen der Weltwirtschaftskrise nahmen die Beförderungszahlen wieder rasch ab. Sie sanken bis 1937 unter den Stand von 1894 und erholten sich ab 1938 zunächst langsam und ab Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 rasant bis zu Fahrgastzahlen von einer bis über eineinhalb Millionen im Jahr. Nach Kriegsende 1946 bis 1949 erlebte die Salzkammergut-Lokalbahn durch die Hamsterfahrten mit bis zu 2,15 Millionen Fahrgästen im Jahr ihren größten Ansturm. Ab 1950 begann die Zahl der beförderten Personen langsam, jedoch stetig zu sinken. Im letzten Rumpf-Betriebsjahr 1957 fuhren von Jänner bis September noch 610.294 Fahrgäste mit der SKGLB, viermal so viel wie im ersten Voll-Betriebsjahr 1892.
== SKGLB-Museum ==
Das SKGLB-Museum ist im ehemaligen Heizhaus der Salzkammergut-Lokalbahn in Mondsee untergebracht, dem einzigen Gebäude, das von den Einrichtungen am Endpunkt der Zweigstrecke erhalten geblieben ist. Das Gebäude wurde zwischen 1988 und 1996 renoviert und dient seither als Eisenbahnmuseum, das für Besucher zwischen Mai und September zugänglich ist. Das Museum steht im Besitz der Gemeinde Mondsee, Initiator und Leiter des Museums ist August Zopf. Neben dem Heizhaus befindet sich ein neu erbautes Depot, das für die Unterbringung der historischen Waggons errichtet wurde. Das SKGLB-Museum verfügt neben historischen Plänen und Fotos sowie einigen Relikten aus den Betriebsjahren der Salzkammergut-Lokalbahn außerdem über drei Lokomotiven. Zwei der Lokomotiven, darunter die in den 1960er-Jahren in Bosnien wiederentdeckte Lok 5 – sind nach Hauptuntersuchungen in den 1990ern betriebsfähig konserviert. Darüber hinaus verfügt das Museum über fünf restaurierte Waggons. Die ebenfalls im Museum untergebrachte Lok 9 soll langfristig wieder instand gesetzt werden.Ein weiteres Ziel, die Lok 12, die am 30. September 1957 den letzten Personenzug führte und nach ihren Jahren in der Steiermark an eine deutsche Sammlung verkauft wurde, wieder nach Österreich zu bringen, konnte 2004 umgesetzt werden. Zunächst 1996 von der Interessensgemeinschaft Mondsee angekauft, wurde die Maschine 2002 vom Club 760 erworben und einer Hauptuntersuchung zugeführt. Bis Oktober 2004 betriebsfähig aufgearbeitet, steht sie seither auf der vereinseigenen Museumsbahn Taurachbahn im Salzburger Lungau im Einsatz.
== Gegenwart ==
Auf einigen Abschnitten der Bahntrasse, die unverbaut geblieben sind, wurde mittlerweile ein Radwanderweg errichtet. Zwischen dem Stadtrand von Salzburg und dem Mondsee, sowie am Ufer des Wolfgangsees bilden sie einen Teil des Salzkammergut-Radweges. 2017 wurde bekanntgegeben, dass die Radwegverbindung zwischen Mondsee und Wolfgangsee durch Nutzung von zwei Tunneln der ehemaligen Bahnstrecke weiter attraktiviert werden soll. Einer der Tunnel war während des Kalten Kriegs vom Bundesheer als potenzielle Festungsanlage genutzt worden.
Die bis in die Gegenwart anhaltende Popularität und überregionale Bekanntheit der Salzkammergut-Lokalbahn führte zur Gründung mehrerer Initiativen, die den Wiederaufbau der Bahn anstreben. Die Bandbreite dieser Initiativen, die nicht nur in der etablierten Eisenbahnfreunde- und Museumsbahnszene angesiedelt sind, reicht von der Wiedererrichtung der Gesamtstrecke als vollwertigen öffentlichen Verkehrsträger bis zum Wiederaufbau eines Teilabschnittes als Museumsbahn und Touristenattraktion. Darüber hinaus war die Idee „SKGLB neu“ bereits mehrmals Gegenstand verkehrswissenschaftlicher Arbeiten.Das in Salzburg beheimatete Konsortium SKGLB Reengineering Ges.b.R. möchte mit der Wiedererrichtung der Ischlerbahn ein in das Salzburger S-Bahnsystem integriertes, modernes Nahverkehrsmittel für die Region einrichten. Zudem wäre die Bahn für den Tourismus wichtig und könnte mit anderen regionalen Tourismusprojekten verknüpft werden. Das Projekt sieht eine komplette Wiedererrichtung der Salzkammergut-Lokalbahn auf der originalen Trasse und die Beschaffung von modernen Fahrzeugen für die Personenbeförderung vor. Das Revitalisierungsprojekt soll von den Ländern, dem Bund und der Europäischen Union finanziert werden. Zudem müssen die beteiligten Gemeinden einen Grundsatzbeschluss für die Bahn verabschieden. Sobald die Finanzierung gesichert ist und die Zustimmung der Gemeinden vorliegt, ist die Durchführung einer Machbarkeitsstudie beabsichtigt. Nach Annahmen des Konsortiums können bis zu 80 Prozent der alten Trasse für die Wiedererrichtung herangezogen werden. Für die Umsetzung des Projekts wird eine Dauer von sieben bis acht Jahren angenommen. Das Konsortium geht von einer Beförderung von 640 Fahrgästen in jede Richtung pro Stunde aus; jährlich könnte die revitalisierte Salzkammergut-Lokalbahn etwa acht Millionen Personen befördern.Nachdem sie zu diesem Zweck einen eigenen Verein gegründet hatten, wurde die SKGLB Reengineering Ges.b.R. im Jahr 2010 aufgelöst. Ihr Vorhaben lebt in der Initiative des Club Salzkammergut-Lokalbahn weiter, in die ihre Kerninhalte eingearbeitet wurden.
Der Club Salzkammergut-Lokalbahn, im Mai 1999 in Wien gegründet wollte ursprünglich den Wiederaufbau der Bahn als Museumsbahn und touristische Attraktion für die Region. Doch bereits nach kurzer Zeit stellten die Gründer des CLUB SKGLB – so der Kurzname des gemeinnützigen Vereines – fest, dass Bedarf für eine neue, moderne Bahn für das Salzkammergut und die gesamte Region um Salzburg bestehet und diese fehlende Schienenverbindung dringendst wieder benötigt wird. Seitdem setzt sich der Club Salzkammergut-Lokalbahn für eine rasche Wiedererrichtung der Ischlerbahn als moderne Regional-Stadt-Bahn (RSB) in Normalspur (1.432 mm).Die Bürgermeister der Anrainergemeinden stellen sich hinter die Initiative einer Wiedererrichtung der Ischlerbahn als Regionalstadtbahn.2012 übersiedelte der Club Salzkammergut-Lokalbahn von Wien nach Salzburg. Dadurch ist der CLUB näher an sein Projekt und die Region gekommen. Durch Gespräche mit der Bevölkerung und den Besuchern der Ischlerbahn-Anrainergemeinden auf Info-Ständen konnte der CLUB viel Zustimmung zur Wiedererrichtung einer modernen Bahn finden.
So ist (Stand 12/2022) ein Großteil der Gemeindepolitik für eine Wiedererrichtung. Noch 2023 soll ein Treffen mit Vertretern aller Gemeinden stattfinden in dem ein Grundsatz-Beschluss dafür gefasst wird.
Auch ein Verein aus dem Umfeld des SKGLB-Museums in Mondsee wollte den Wiederaufbau als Museumsbahn und als touristische Attraktion. Zudem sammelt der Verein erhaltene Fahrzeuge der Salzkammergut-Lokalbahn. Eine Alternative zum vollständigen Wiederaufbau wäre die Errichtung eines kurzen Teilstücks, das seinen Ausgang beim SKGLB-Museum nehmen könnte, oder die Strecke zwischen Schwarzindien und Teufelmühle am Mondsee. Die Kosten für dieses Projekt wurden mit etwa 1,5 Millionen Euro beziffert. Diese Projekte hatten jedoch – ebenso wie andere private Initiativen – bisher keinen Erfolg.
== Literatur ==
Heinrich Dostal: Der Eisenbahner – Aufsätze über die Entwicklung und moderne Gestaltung des gesamten Eisenbahnwesens, Band 2, Verlagsbuchhandlung Wien I, 1905
Hans Steffan: Die Lokomotiven der Salzkammergut-Lokalbahn. In: Die Lokomotive, Jahrgang 1916, S. 119–125 (ANNO – AustriaN Newspapers Online)
Josef Otto Slezak: Von Salzburg nach Bad Ischl, Geschichte der Salzkammergut-Lokalbahn, 2. Auflage, Verlag Slezak, 1995, ISBN 3-85416-170-0
Krobot, Slezak, Sternhart: Schmalspurig durch Österreich, 4. Auflage, Verlag Slezak, 1991, ISBN 3-85416-095-X
Dr. Roland Floimaier (Herausgeber): Moriz Gelinek Leben und Werk – Der Salzburger Eisenbahn-Pionier, Amt der Salzburger Landesregierung, Schriftenreihe des Landespressebüros, Sonderpublikation Nr. 127, 1996, ISBN 3-85015-146-8
Christian Hager: Die Eisenbahnen im Salzkammergut, Verlag Ennsthaler, ISBN 3-85068-350-8
Alfred Luft: Die Salzkammergut-Lokalbahn, Bahn im Bild, Band 7, Verlag Pospischil, Wien 1979
Helmut Marchetti: Stern & Hafferl – Visionen mit Tradition, GEG Werbung, Gmunden, 2003, ISBN 3-9501763-0-6
August Zopf (Herausgeber): Festschrift: 1891–1991, Von Salzburg nach Mondsee, Heimatbund Mondseeland, 1991
August Zopf (Herausgeber): Gedenkschrift: Unvergessene SKGLB, Eingestellt vor 50 Jahren, Heimatbund Mondseeland – SKGLB-Museum, 2007
Gunter Mackinger: Schafbergbahn und Wolfgangseeschiffe, Verlag Kenning, Nordhorn, 2008, ISBN 978-3-933613-92-9
Werner Schleritzko: Mythos Ischlerbahn – Band 1, Die Jahre 1890 bis 1930, Railway-Media-Group, Wien, 2015, ISBN 978-3-902894-21-2
Werner Schleritzko: Mythos Ischlerbahn – Band 2, Die Jahre 1931 bis 1957, Railway-Media-Group, Wien, 2016, ISBN 978-3-902894-22-9
Werner Schleritzko: Mythos Ischlerbahn – Band 3, Fahrzeuge-Museum-Perspektiven, Railway-Media-Group, Wien, 2016, ISBN 978-3-902894-23-6
== Film ==
Bahn im Film: Die Salzkammergut-Lokalbahn SKGLB. (1 Videokassette VHS, 50 Minuten, farb., mit Ton). R & R Videofilmproduktion, Wien 1993, OBV.
RioGrande-Videothek, DVD 3017: Von Salzburg nach Bad Ischl. (55 Minuten). S.l., s. a.
Hagen von Ortloff (Red.), SWR (Prod.): Eisenbahn-Romantik, Folge 628: Auf Kaisers Spur – Bahnidylle Salzkammergut. (28:46 Minuten). S.l. 2007. (Bis 25. März 2015 online).
Franz Antel (Regie): Kaiserball. Musikfilm mit Sonja Ziemann, Rudolf Prack, Maria Andergast, Jane Tilden und Hans Moser. Österreich 1956. (Diesem Film entstammt das Lied „Zwischen Salzburg und Bad Ischl“ über die Salzkammergut-Lokalbahn).
Alfred Stöger (Regie), Robert Stolz (Musik): Rendezvous im Salzkammergut. Heimatfilm mit Herta Mayen, Inge Konradi, Hans Holt, Josef Meinrad. Österreich 1948. (Zugvorbeifahrt Richtung Salzburg, August 1947, Brunnleiten, Sankt Gilgen).
== Weblinks ==
Club Salzkammergut-Lokalbahn
Website zur historischen Ischlerbahn
Verkehrs- und Ischlerbahnmuseum in Mondsee
Geschichte der SKGLB mit historischen Fotos
Bilder der Tunnelportale
Salzkammergut-Lokalbahn im Salzburg-Wiki
(Bildunterschrift:) Eisenbahnunglück durch einen Orkan: Der am 15. Februar zwischen St. Wolfgang und Strobl entgleiste (…). In: Das interessante Blatt, Nr. 9/1925 (XLIV. Jahrgang), 26. Februar 1925, S. 4. (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/dib
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Salzkammergut-Lokalbahn
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Sächsische X V
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= Sächsische X V =
Die Lokomotiven der Gattung X
V
{\displaystyle \textstyle {\mathfrak {V}}}
der Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen waren Schnellzug-Schlepptenderlokomotiven der Bauart Atlantic. Die einst als „Paukenschlag der Moderne“ wahrgenommenen Lokomotiven führten zu einem Entwicklungsschub bei der Konstruktion schnellfahrender Dampflokomotiven in Deutschland. Die Gattung X V gilt als erste Vierzylinder-Verbundlokomotive dieser Bauart in Deutschland.
Wichtigstes Einsatzgebiet waren die Schnellzugverbindungen auf den Hauptbahnen Leipzig–Dresden–Bodenbach und Leipzig–Hof. Die Deutsche Reichsbahn ordnete die Lokomotiven noch in die Baureihe 14.2 ein, musterte sie jedoch schon bis 1926 vollständig aus.
== Geschichte ==
Die ab den 1890er Jahren eingesetzten Lokomotiven der Gattungen VIb V, VIII 2 und VIII V 1 waren für ihre Zeit ausreichend leistungsfähig. Es war jedoch absehbar, dass die Zuglasten weiter steigen würden. Um einem Lokmangel vorzubeugen, bemühten sich die Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen schon frühzeitig um eine Neukonstruktion. Das vom Leiter des Maschinentechnischen Bureaus in der Generaldirektion der Staatsbahn Ewald Richard Klien aufgestellte Leistungsprogramm sah vor, den damals schwersten Zug der Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen, den 385 Tonnen schweren Hofzug des sächsischen Königs, auf der Bahnstrecke Leipzig–Dresden ohne Halt mit 100 Kilometer pro Stunde zu befördern. Die dazu erforderliche Leistung wurde auf rund 1300 PS geschätzt.
Diese Forderung war nur unter Rückgriff auf die damals modernsten Entwicklungen zu erfüllen. Vor allem das von Alfred de Glehn bei der Elsässischen Maschinenbau-Gesellschaft Grafenstaden entwickelte Triebwerk versprach mit seiner Vierzylinder-Verbundausführung einen guten Entwicklungsansatz. Außerdem vermutete die Staatsbahnverwaltung, dass eine Zweizylindermaschine den zu erwartenden Kräften nicht unbeschadet standhalten würde. Die Sächsische Maschinenfabrik vormals Richard Hartmann in Chemnitz als Hauslieferant der Kgl. Sächsischen Staatseisenbahnen verhandelte deshalb mit dem elsässischen Unternehmen, um dessen Patente nutzen zu können. Damit versuchte man eigene Entwicklungskosten zu sparen und die Risiken bei der Konstruktion der Lokomotive zu minimieren.
Zeitgleich mit den Chemnitzern wurde auch im Elsass eine ähnliche Verbundlokomotive mit der Achsfolge 2'B1' entwickelt und gebaut. Diese für die französische Compagnie des chemins de fer du Nord vorgesehene Maschine erhielt die Nr. 2.641.
Auf der Weltausstellung im Sommer 1900 in Paris wurden die von der Sächsischen Maschinenfabrik hergestellte Lokomotive mit der späteren Bahnnummer 175 (Fabriknummer 2600) und die französische „Schwester“ mit der Nummer 2.642 ausgestellt. Beide erhielten die Goldmedaille des Grand Prix. Mit der Neuentwicklung brach die eingetretene Erstarrung beim Bau von Lokomotiven für schwere und schnelle Reisezüge auf. Das Erscheinungsbild im Schnellzugverkehr änderte sich durch die neuen Lokomotiven in den nächsten zehn Jahren grundlegend. Ähnliche Maschinen wurden 1902 bis 1906 von der Elsässischen Maschinenbau-Gesellschaft als Gattung S 7 an die Preußischen Staatsbahnen geliefert. Die von der Maschinenfabrik erhofften Aufträge von außerhalb Sachsens blieben aus.
Die Kgl. Sächsischen Staatseisenbahnen erwarben die Lokomotive und eine weitere baugleiche mit der späteren Bahnnummer 176 (Fabriknummer 2492) zum Stückpreis von 81.431 Goldmark. Der Tender kostete 15.037 Goldmark das Stück. Nach Beendigung der Weltausstellung wurden die Lokomotiven einem Erprobungsprogramm auf den Strecken Leipzig–Dresden sowie Leipzig–Hof unterzogen. Bei Zugmassen von 100 bis 110 Tonnen erreichten die Maschinen eine Höchstgeschwindigkeit von 125 Kilometern pro Stunde. Bei optimalem Dampfverbrauch erreichten die Lokomotiven eine Leistung von 1180 PS. Der Eigenverbrauch der Lokomotive lag bei 485 PS. Damit war es möglich, einen 325 Tonnen schweren Zug zu befördern. Kurzzeitig konnten Leistungen bis zu 1350 PS erreicht werden.
Die Bauart prädestinierte die Lokomotiven für den Schnellzugverkehr auf den Flachlandstrecken. Nach dem Ende der Erprobung wurden die Lokomotiven dem Heizhaus Leipzig Dresdner Bf zugeteilt.
Die guten Ergebnisse veranlasste die Staatseisenbahn weitere Lokomotiven nachzubestellen. Die im November und Dezember 1902 zum Stückpreis von 76.282 Mark gelieferten Maschinen mit den Bahnnummern 183 bis 189 (Fabrik-Nr. 2753 bis 2759) wurden in den Heizhäusern Dresden-Altstadt II und Leipzig Dresdner Bf stationiert. Von dort kamen sie auf der Strecke Dresden-Bodenbach sowie zwischen Leipzig und Dresden zum Einsatz.
Die im Februar 1903 angelieferten Lokomotiven Nummer 190 bis 192 (Stückpreis von 71.821 Mark) wurden im Heizhaus Hof Sächsischer Bf stationiert und fuhren auf der Strecke zwischen Hof und Leipzig. Die 165 Kilometer lange Strecke konnte mit einem Wasserhalt bewältigt werden. Nach einem Umbau 1903 wurden auch die Lokomotiven 175 und 176, danach als 181 und 182 nummeriert, auf dieser Strecke eingesetzt. Die im Februar und April 1903 zum Preis von 71.842 Mark gelieferten Lokomotiven wurden wiederum in Dresden beheimatet. Mit der Beheimatung von Lokomotiven der Gattung XII H in Hof 1906 verlegte man die Hofer X V zum Heizhaus Dresden-Altstadt II.
Die Unterhaltung der Maschinen erfolgte während ihrer gesamten Lebenszeit in der Werkstätte Dresden-Friedrichstadt. Auch nach Aufkommen der X H1 wurden die Lokomotiven weiterhin auf der Relation Leipzig–Dresden–Bodenbach eingesetzt. Mit der Eröffnung des Leipziger Hauptbahnhofes wurde Leipzig Hbf Süd neues Heimat-Heizhaus der Leipziger Maschinen. Ab 1916 war die Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h reduziert. Die Lokomotiven waren jetzt vor allem auch im Personenzugdienst auf den Strecken Leipzig–Döbeln–Dresden, Dresden–Röderau und Dresden–Zittau/Görlitz zu finden. 1918 begann man einige Lokomotiven in Zittau zu beheimaten. Damit wurden die Personen- und Eilzüge nach Bischofswerda, Löbau und Görlitz transportiert. Diese Einsätze dauerten bis 1924.
Die Deutsche Reichsbahn übernahm nach 1920 noch alle 15 Maschinen und gab ihnen ab 1925 die neuen Nummern 14 201–215. Der Lokomotivmangel auf Grund der Lokomotivabgaben infolge des Versailler Vertrages verhinderte eine rasche Ausmusterung der nunmehr schon technisch überalterten Maschinen. Erst 1923 stellte man die ersten Fahrzeuge ab. Im Oktober 1925 waren fünf Lokomotiven im Bahnbetriebswerk Dresden-Altstadt (Heizhaus I und II), drei jeweils im Bahnbetriebswerk Riesa und Bahnbetriebswerk Leipzig Hbf Süd und zwei im Bahnbetriebswerk Leipzig Bay. Bf. beheimatet. Zwei Lokomotiven waren bereits ausgemustert.
Letzte Einsätze der Lokomotiven erfolgten im Nahverkehr von Leipzig nach Geithain, Frohburg, Meuselwitz, Altenburg oder Reichenbach. Außerdem befuhren die Lokomotiven mit Personen- und Eilgüterzügen die Strecke Leipzig–Döbeln–Dresden. Im September 1926 wurde die Lokomotive 14 213 (früher Nr. 193) als letzte Maschine der Gattung X V ausgemustert und verschrottet.
== Technische Merkmale ==
=== Rahmen und Fahrwerk ===
Der Rahmen der Lokomotiven bestand aus 30 Millimeter starkem Blech und war innenliegend. Um das Innentriebwerk unterzubringen, war er im Bereich des vorderen Drehgestelles nach außen gekröpft. Damit wurde eine lichte Weite von 1380 statt 1200 Millimetern erreicht. Das führende Drehgestell entsprach der bereits in Preußen entwickelten Bauart Erfurt, wie es auch schon bei der VIII V 1 genutzt wurde. Die Radsätze mit einem Raddurchmesser von 1045 Millimetern hatten einen Achsabstand von 2,15 Metern. Die Seitenverschiebbarkeit betrug 40 Millimeter. Der Rahmen bestand aus 22 Millimeter starken Blechen, die einen Abstand von 940 Millimetern hatten. Als Abstützung diente eine Kugelpfanne unterhalb des Innenzylindergussstückes. Die Abfederung zum Rahmen erfolgte durch eine Wiege mit vier Pendeln. Die einzelnen Radsätze des Drehgestelles waren durch über den Achsen liegenden Tragfedern abgefedert.
Die als Adamsachse konstruierte Schleppachse hatte bei den Prototypen einen Abstand von 2,55 Metern zur hinteren Kuppelachse. Der seitliche Verschub betrug nach jeder Seite 25 Millimeter. Der Radsatz hatte einen Durchmesser von 1065 Millimeter. Die Abfederung erfolgte mit unter der Achse liegenden Querfedern. Die Kuppelradsätze hatten den in Preußen üblichen Durchmesser von 1980 Millimetern und waren fest im Rahmen gelagert. Zur Federung dienten unterhalb der Achsen liegende Blattfedern, die mit verstellbaren Ausgleichshebeln verbunden waren. Um das Aufsteigen der Lokomotiven beim Anfahren zu reduzieren wurde ab der Bauserie 1902 die Schleppachse um 200 Millimeter nach hinten verlegt, sowie Räder mit einem Durchmesser von 1240 Millimeter benutzt. Statt der Querfedern setzte man nun Längsfedern ein.
=== Kessel ===
Bei der Konstruktion des Kessels lehnte sich die Sächsische Maschinenfabrik an die Vorgängergattung VIII V 1 an. Der Belpaire-Stehkessel besaß eine ebene Stehkesseldecke und reicht hinter der zweiten Kuppelachse weit zwischen den Rahmenwangen nach unten. Der Rost war eben angeordnet. Gegenüber der VIII V 1 war die Rostfläche fast identisch, jedoch erhöhte man den Kesseldruck von 13 bar auf 15 bar und vergrößerte die Heizfläche der kupfernen Feuerbüchse. Die Wand zu den Heizrohren war 30 Millimeter stark. Die Feuertür wurde in der Bauart Untiedt mit verschließbaren Luftschlitzen ausgeführt. Der Langkessel bestand aus drei Schüssen. Der Kessel hatte eine Wandstärke von 17 Millimetern. Die Länge zwischen den Rohrwänden betrug 4,70 Meter. In den vorderen Kesselschuss war die 28 Millimeter starke Rauchkammerrohrwand eingenietet. Die Rauchkammer selbst war aufgesteckt und vernietet. Die Tür der Rauchkammer verfügte über einen Zentralverschluss mit vier Anreibern. Der Funkenfänger war als schräge Platte in der Rauchkammer ausgeführt.
Der Dampfdom saß auf dem vorderen Kesselschuss. Der Flachregler zur Dampfentnahme war in den Dom integriert. Zur Dampftrocknung war zwischen Stehkessel und Dom ein geschlitztes Dampfsammelrohr angeordnet. Die Kesselspeisung erfolgte mittels zweier nichtsaugender Friedmann-Restarting-Injektoren SZ9 links und rechts des Führerhauses sowie einer saugenden Friedmann-Strahlpumpe BY Nr. 6 im Führerhaus auf der Heizerseite. Die Kesselspeiseventile befanden sich in der Mitte des zweiten Kesselschusses. Der Kontrolle des Wasserstandes dienten ein Schauglas auf der Heizerseite und Probierhähne auf der Lokführerseite. Dampfpfeife und die Pop-Sicherheitsventile waren im Führerhaus vorn in der Windschneide untergebracht. Der Dampf wird über ein Hosenrohr in der Rauchkammer und weitere Rohre unterhalb des Umlaufbleches zu den Zylindern geleitet.
Bei der Bauserie 1902 bestand der Kessel aus vier Schüssen. Durch die vierschüssige Ausführung mussten die Rauchrohre verringert werden. Dies hatte eine kleinere Heizfläche zur Folge. Größere Veränderungen erfolgten im Bereich des Stehkessels. Die Rostfläche wurde verkleinert und leicht nach vorn geneigt. Außerdem wurde der vordere Teil zur Arbeitserleichterung als Kipprost ausgeführt. Die Wand zur Rauchkammer wurde auf 26 Millimeter verringert. Bei der Bauserie 1903 wurde die Rauchkammer auf 1850 Millimeter verlängert um das Löschefallrohr an den inneren Zylindern günstiger vorbeiführen zu können. Der Stehkessel wurde komplett aus Blechen mit einer Stärke von 17 Millimetern gefertigt.
=== Triebwerk ===
Die Dampfmaschine war als Vierzylinder-Verbundtriebwerk der Bauart de Glehn ausgeführt. Bei dieser Ausführung trieben die außen liegenden Hochdruckzylinder die zweite Kuppelachse, die innen liegenden Niederdruckzylinder die erste Kuppelachse an. Alle Zylinder waren waagerecht und auf Höhe der Treibradachsmitte angeordnet. Die Steuerung der Dampfmaschine erfolgte getrennt über eine Heusinger-Steuerung für die Außenzylinder und eine Joy-Steuerung für die Innenzylinder. Grund für den Einbau der ungenaueren Joy-Steuerung war der Verzicht auf den Steuerungsexcenter auf der Kropfachse sowie die Vergrößerung des Platzes für Wartungsarbeiten. Im Führerhaus war für die Innenzylinder ein Steuerbock mit Handrad und für die Außenzylinder ein Händel angeordnet. Diese konnten getrennt oder gemeinsam betätigt werden. Dies hatte zur Folge, dass zwei separate Steuerstangen notwendig waren. Alle Zylinder waren mit entlasteten Flachschiebern mit Trickkanal für eine doppelte Einströmung ausgestattet. Die Anfahrvorrichtung war von der Bauart Lindner. Die Schmierung von Schieber und Zylinder erfolgte mit Friedmann-Schmierpressen.
=== Bremsen, Ausstattung ===
Zur Abbremsung von Lokomotive und Wagenzug besaßen die Lokomotiven eine Westinghouse-Druckluftbremse. Die Bremssohlen waren beim Drehgestell innen, bei den Treibrädern vorn und bei den Tendern innen angeordnet.
Bei den beiden Prototypen war die Luftpumpe rechts vor dem Führerhaus, bei allen anderen Lokomotiven links angebaut. Der Abdampf wurde über ein Rohr in die Rauchkammer geleitet. Die drei Bremszylinder waren hinter der zweiten Treibachse beidseitig am Rahmen (für die Treibräder) und für das Drehgestell zwischen den Hochdruckzylinder angebracht. Die Haupt- und Hilfsluftbehälter waren zwischen den Rahmenwangen angeordnet. Zum Sanden wurde ein Druckluftsandstreuer angebaut, der die Treibräder von vorn sandete.
Die Lokomotiven besaßen ein sogenanntes Windschneidenführerhaus, das heißt, dass die Frontseite des Führerhauses in einer Spitze zuläuft. Die Aufstiegsleiter war zweigeteilt um auch bei abgekuppelten Tender den Aufstieg zu ermöglichen. Insgesamt war das Führerhaus 2,7 Meter breit. Ab der Bauserie 1902 war das Führerhaus 3,12 Meter breit.
Der Kessel, die Zylinderseiten, Luftpumpe, Dome, Sandkästen, Leitungen, Handstangen, Führerhaus und Tenderaufbau erhielten die in Sachsen übliche dunkelgrüne Nitrolackierung. Rauchkammer, Umlaufoberfläche, Schornstein und weitere Flächen waren in schwarz gehalten. Der Lokomotivrahmen, die Radkörper, die Seitenlinie der Umlaufbleche, Pufferträger, Tenderrahmen und -räder waren braunrot. Die Beschilderung der Lokomotive bestand aus Messingtafeln. Bei der Umzeichnung durch die Deutsche Reichsbahn erhielten die Maschinen keine neuen Nummerntafeln. Die neuen Betriebsnummern wurden nur noch aufgemalt.
=== Tender ===
Bei der Konstruktion des Tenders für die X V orientierte man sich an den schon in Preußen verwendeten Drehgestell-Tendern. Der Rahmen des Tenders bestand aus zwei 300 Millimeter hohen und 16 Millimeter beziehungsweise 10 Millimeter starken U-Eisen, die an der Stoß- und Pufferbohle sowie an drei weiteren Punkten miteinander verbunden waren. Zur Abstützung neben den Drehbolzen der Drehgestelle dienten vier seitliche Gleitlager. Der Wasserkasten war im unteren Teil rechteckig. Der obere Teil war hufeneisenförmig. In der Mitte besaß er eine nach vorn abfallende Decke. Die Seitenwände waren nach oben verlängert, um den Kohlenraum zu schaffen. Die Entnahmeöffnung hatte eine Breite von 800 Millimetern. Die Wassereinfüllluke befand sich quer vor dem hinteren Ende. Bei den Drehgestellen wurde die Konstruktion des preußischen Vorbildes übernommen. Die Federung erfolgte durch über den Achsen liegende Blattfedern. Zusätzlich zur Druckluftbremse hatte der Tender eine Extersche Wurfhebelbremse an der Heizerseite des Tenders.
Ab der Bauserie 1902 wurde die Bauweise vereinfacht. Dadurch konnte das Leergewicht um 1,4 Tonnen auf 18,5 Tonnen gesenkt werden. Durch eine leicht niedrigere und längere Konstruktion ergab sich eine leicht gestrecktere Ausführung. Die Bauserie 1903 erhielt einen Tender mit einem Fassungsvermögen von 19,5 Tonnen Wasser. Dies konnte durch die Verbreiterung des Wagenkastens erreicht werden. Außerdem setzte man kleinere Räder ein. Der Bau von Tender der Bauart 2'2' T 21, also mit einem Fassungsvermögen von 21 Tonnen, für die X V ist nicht nachweisbar. Die Lokomotive wurde jedoch mit diesem Tender gekuppelt. Kupplungen mit anderen Tendern wurden im Grundbuch von 1916 genannt, sind jedoch nicht erfolgt.
=== Umbauten ===
Wie viele andere Lokomotiven wurden auch die X V im Laufe ihres Betriebes umgebaut. Zuerst waren die Prototypen Nr. 175 und 176 von Umbaumaßnahmen betroffen. Im Jahre 1903 passte man sie weitgehend an die Bauserie 1902 an. So wurden die Schleppachse um 0,2 Meter nach hinten verlegt, die Räder auf 1,240 Meter vergrößert und Längsfedern eingebaut. Außerdem wurde die doppelte Steuerstange entfernt. Zu einem späteren Zeitpunkt erhielten die Tender größere Achslager. Die Lokomotiven der Bauserie 1902 wurden im Laufe der Einsatzzeit an die Bauserie 1903 mit verlängerter Rauchkammer angeglichen. Um das Anfahren der Lokomotiven zu verbessern, wurden im Zeitraum zwischen 1913 und 1918 verschiedene Verbesserungen der Sandungsanlage erprobt. Die 189 erhielt einen vergrößerten Sandkasten, die 191 zusätzliche Druckluftdüsen und die 194 eine zusätzliche mechanische Sandstreuanlage Bauart von Helmholtz. Weitere Umbauten einzelner Lokomotiven betrafen die Anbringung der Loklaternen und den Einsatz von Gas als Leuchtmittel sowie die Änderung der Führerhausaufstiege auf eine einteilige Bauart. 1924 erhielt die Lok Nr. 193 einen Knorr-Oberflächenvorwärmer der Bauart Fahdt. Dabei wurde Vorwärmer und Pumpe auf der linken Seite angebracht. Dafür musste die Luftpumpe auf die rechte Seite umgesetzt werden. Gleichzeitig konnten zwei Strahlpumpen entfallen.
== Fahrzeugliste ==
== Literatur ==
Jürgen U. Ebel: Sächsische Schnellzuglokomotiven. Band 1, Eisenbahn-Kurier, Freiburg in Breisgau 1997, ISBN 3-88255-117-8.
Dietrich Kutschik, Fritz Näbrich, Günther Meyer, Reiner Preuß: Deutsches Lok-Archiv: Lokomotiven sächsischer Eisenbahnen 1. 2. bearbeitete und erweiterte Auflage. transpress, Berlin 1995, ISBN 3-344-71009-5.
Manfred Weisbrod, Hans Müller, Wolfgang Petznick: Deutsches Lok-Archiv: Dampflokomotiven 1 (Baureihen 01–39). transpress, Berlin 1993, ISBN 3-344-70768-X.
Erich Preuß, Reiner Preuß: Sächsische Staatseisenbahnen. transpress, Berlin 1991, ISBN 3-344-70700-0.
Günther Reiche: Richard Hartmann und seine Lokomotiven. Oberbaumverlag, Berlin/ Chemnitz 1998, ISBN 3-928254-56-1.
== Weblinks ==
Hans Steffan: 2-B-1 Atlantic Vierzylinder-Verbundlokomotive, Gruppe X V der königl. sächsischen Staatseisenbahnen. In: Die Lokomotive. Wien 1909, S. 113ff.
XV Nr. 181 1904 auf der Eisenbahnstiftung Joachim Schmidt
== Anmerkungen ==
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%A4chsische_X_V
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Schaffermahlzeit
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= Schaffermahlzeit =
Die Schaffermahlzeit in Bremen ist das älteste fortbestehende, sich alljährlich wiederholende Brudermahl der Welt und dient traditionell als Verbindung zwischen der bremischen Schifffahrt und den Kaufleuten. Ausgerichtet wird die streng reglementierte Veranstaltung seit 1545 – nach Bestätigung der Stiftungsurkunde durch den Rat der Stadt Bremen – von dem Träger der Fürsorgeeinrichtung Haus Seefahrt (heute: Stiftung Haus Seefahrt). Ursprünglich war die Schaffermahlzeit ein Abschiedsessen, bei dem Kaufleute und Reeder am Ende des Winters mit ihren auf Fahrt gehenden Kapitänen zusammenkamen. Als Schaffer werden dabei die mit den Geschäften der Schifferbruderschaft beauftragten Mitglieder dieses Zusammenschlusses bezeichnet.
Seit 1952 findet die Schaffermahlzeit alljährlich am zweiten Freitag im Februar in der Oberen Rathaushalle des Bremer Rathauses statt. An der Feier nehmen neben 100 kaufmännischen und 100 seemännischen Schaffern von Haus Seefahrt etwa 100 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens als geladene Gäste teil, von denen Spenden für die Stiftung geworben werden. Darüber hinaus dient das Festessen dazu, persönliche Kontakte zu knüpfen und zu stärken.Die Schaffermahlzeit gilt als eines der bedeutendsten gesellschaftlichen Ereignisse Deutschlands und wird in der bremischen Öffentlichkeit als das Aushängeschild Bremens betrachtet. Der traditionelle Ausschluss von Frauen geriet zunehmend in die Kritik. Nachdem seit 2004 vereinzelt Frauen als Kapitänin oder weiblicher Ehrengast und zudem seit 2015 jeweils einige wenige weibliche Gäste teilnahmen, öffnete sich die Traditionsveranstaltung beginnend ab 2020 komplett für Frauen.
== Geschichte ==
=== Entstehung ===
Die Bremer Schaffermahlzeit entwickelte sich über mehrere Jahrhunderte aus der großen Mahlzeit bei der jährlichen Rechnungslegung der Stiftung Arme Seefahrt, aus der später Haus Seefahrt hervorging. Nach der Überlieferung wurde sie von Beginn an mit der bestehenden Tradition eines Abschiedsessens der ansässigen Schifferschaft gegen Ende der winterlichen Eispause verknüpft. Die erhaltene Stiftungsurkunde des Bremer Rates, in der auch das jährliche Mahl bei der Rechnungslegung der Stiftung geregelt ist, datiert von 1545, was als Beginn der Schaffermahlzeit angesehen wird.
Die Arme Seefahrt wurde in einer Zeit großer sozialer Umbrüche ins Leben gerufen als Solidargemeinschaft einer örtlichen, namentlich nicht näher genannten Schiffergilde. Sie wurde 1545 vom mächtigen Rat der Stadt Bremen urkundlich legitimiert und mit umfangreichen Rechten zur Einziehung von Sozialbeiträgen der Seefahrer sowie zur Sammlung standesfremder Spenden ausgestattet. Ihr Zweck waren Hilfeleistungen an in Not geratene arbeitsunfähige Seefahrer. Die Verfassung verpflichtete die verwaltenden Seeleute der Stiftung, die Mahlzeit bei der alljährlichen Kassenabrechnung selbst und keinesfalls aus Stiftungsmitteln zu bezahlen.Im Jahr 1561, nach dem ersten Erwerb eines Hauses durch die Stiftung, sicherten sich die Spender der Vereinigung, die aus dem Kreis der wohlhabenden und einflussreichen Kaufleute der Stadt kamen, führende Mitspracherechte in der Verwaltung der Stiftung. Die Schiffer gaben dabei ihre bislang vom Rat durch die Verfassung von 1545 verbürgte unabhängige Stellung auf. Mit diesen Veränderungen ging der Name der Armen Seefahrt in den wenigen Dokumenten der Frühzeit über in Haus Seefahrt.
=== Entwicklung ab 1561 ===
Lange Zeit wurde die große Mahlzeit in stiftungseigenen Gebäuden veranstaltet, anfangs in dem 1561 erworbenen Haus in der Hutfilterstraße, die heute zum Bremer Ortsteil Altstadt gehört, ab 1663 in derselben Straße in einem von der Stiftung errichteten Neubau. Ab ungefähr 1660 wurde dieses Essen Schaffermahlzeit genannt. Das Wort Schaffen bedeutet so viel wie die Mahlzeit geben oder Essen, aber auch arbeiten, ausrichten und erledigen. Somit beginnt die Schaffermahlzeit alljährlich auch mit dem niederdeutschen Ruf des Verwaltenden Vorstehers von Haus Seefahrt vor dem Saal:
So riefen die Bremer Schiffsköche einst die Schiffsbesatzungen zu Tisch.
Gastgeber der Schaffermahlzeit war und ist die Stiftung Haus Seefahrt, die sich zu einer Hinterbliebenenversorgung der auf See gestorbenen Schiffer sowie einer Fürsorgeeinrichtung für alte Kapitäne und deren Ehefrauen oder Witwen weiterentwickelt hat. Die Schaffer waren die Verwalter der Gelder von Haus Seefahrt, die jährlich einmal Rechenschaft über die Gelder der Stiftung ablegen mussten. Traditionell gehörte zur Rechnungslegung eine Bewirtung, wobei der Hauptteil der dafür anfallenden Kosten von den kaufmännischen Schaffern übernommen wurde.
Später wurden alljährlich zwei, ab 1855 drei Bremer Kaufleute zu neuen Mitgliedern der Stiftung gewählt, die die Verpflichtung übernahmen, nach zwei Jahren die Schaffermahlzeit auf eigene Kosten auszurichten. Anfangs standen ihnen zwei, dann sechs Kapitäne als Kapitänsschaffer zur Seite. Die Schaffermahlzeit dauerte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mehrere Tage und war sehr reichhaltig. Es gab im Januar einen Tag für die sogenannte Schmeckebiermahlzeit, dann folgte im Februar der Tag für die Abrechnung, verbunden mit dem großen Essen, darauf folgte der Tag für die Frauen und Töchter und deren Freundinnen und schließlich die Danksagemahlzeit.In der Mitte des 18. Jahrhunderts verfügte der sittenstrenge Bürgermeister Volkhard Mindemann, die Festessen auf eines zu reduzieren, nachdem er eigentlich den „kulinarischen und geselligen Ausschweifungen … ein für allemal ein Ende setzen“ und die Schaffermahlzeit ganz abschaffen wollte. Die Schaffermahlzeit konnte nicht in allen Jahren gefeiert werden, am Anfang des 19. Jahrhunderts gab es größere Pausen. Zum ersten Mal musste das Fest im Jahr 1807 infolge der wirtschaftlichen Depression durch die von Napoleon Bonaparte verfügte Kontinentalsperre ausfallen.
=== Entwicklung ab 1870 ===
Während die Teilnahme zuvor ausschließlich auf die Mitglieder von Haus Seefahrt beschränkt war, wurde 1870 diese „Vorschrift zur Person“ aufgehoben, um der wachsenden Bedeutung des bremischen Handels und der bremischen Schifffahrt zu entsprechen. Seitdem durften männliche Persönlichkeiten aus Industrie, Handel und Bankwesen sowie Kaufleute und Kapitäne fremder Flaggen eingeladen werden. Hinzu kamen im Laufe der Zeit Politiker, Verwaltungsleiter, Wissenschaftler, kirchliche Würdenträger und Kulturschaffende.
Als 1874 das Haus der Stiftung in der Hutfilterstraße abgebrochen werden musste, um Platz für den Straßendurchbruch der heutigen Bürgermeister-Smidt-Straße zu schaffen, verlor die Schaffermahlzeit ihren Veranstaltungsort in der Innenstadt. Fortan erfolgte die Feier in dem 1874–1876 errichteten Neubau von Haus Seefahrt in der damaligen Lützower Straße im Bremer Westen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fiel das Festessen nur noch einmal aus. Im 20. Jahrhundert fand auf Grund von Krieg oder Not die Schaffermahlzeit von 1915 bis 1927, von 1932 bis 1935 und von 1940 bis 1951 nicht statt.
=== Entwicklung ab 1952 ===
Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude von Haus Seefahrt in der Lützower Straße vollständig zerstört. Der dritte Neubau der Stiftung entstand 1950–1951 auf dem Oeversberg in Bremen-Grohn. Da die dortigen Räumlichkeiten zu klein waren, baten die Kaufleute den Bürgermeister Wilhelm Kaisen, ihnen für das große Essen die Obere Halle des Alten Rathauses zu überlassen. Kaisen stimmte zu, und so wurde – nach dreizehnjähriger Zwangspause – am 8. Februar 1952 die erste Schaffermahlzeit im Rathaus veranstaltet; es war die 408. Bremer Schaffermahlzeit. Seitdem findet die Veranstaltung wieder alljährlich in der Bremer Innenstadt im historischen Bremer Rathaus statt, das 2004 zum Weltkulturerbe der Menschheit ernannt wurde.
Die an ihn ergangene Einladung zur Teilnahme 1962 nahm der Philosoph Martin Heidegger nicht zuletzt wegen seines Interesses an der Schifffahrt an, weigerte sich jedoch kategorisch, im vorgeschriebenen Frack zu erscheinen, was dann akzeptiert wurde. Der damalige Arbeitsminister von Nordrhein-Westfalen, Friedhelm Farthmann, lehnte hingegen 1979 seine Teilnahme ab, weil er sich nicht dem Frackzwang unterwerfen wollte. Zu Beginn des Zweiten Golfkrieges wurde diskutiert, ob die Schaffermahlzeit 1991 ausnahmsweise ausfallen solle. Sie fand dann jedoch statt, während in anderen deutschen Städten Festveranstaltungen wie beispielsweise Karnevalsumzüge abgesagt wurden.
Die Anwesenheit von hochrangigen Politikern und anderen Entscheidungsträgern wurde wiederholt von verschiedenen Interessengruppen zum Anlass genommen, um am Rande der Schaffermahlzeit gegen oder für bestimmte gesellschaftliche oder politische Vorgänge und Ziele zu demonstrieren. Zum Beispiel fand 2008 auf dem Marktplatz eine Demonstration von Gewerkschaften für eine bessere Beamtenbesoldung statt, und daneben protestierten Mitglieder des Bremer Friedensforums gegen die Teilnahme des Ehrengastes, des damaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr Wolfgang Schneiderhan, während die Teilnehmer an dem Festmahl das Rathaus durch ein Spalier von Polizisten erreichten.Der Begriff Schaffermahlzeit wurde 2007 beim Deutschen Patent- und Markenamt als Wortmarke von Haus Seefahrt eingetragen. Der Markenschutz ist allerdings bereits erloschen. Vorher hieß es häufig Schaffermahl, was aber nach Aussage des ehemaligen Verwaltenden Vorstehers der Stiftung Ralf J. Koch dem Anspruch an ein einfaches Mahl nicht entsprach. Seit Ende 2009 unterstützt die Stiftung Haus Seefahrt nicht nur alte, bedürftige seemännische Mitglieder und deren Ehefrauen und Witwen, sondern auch bedürftige Nautikstudenten und -studentinnen in Kapitänsausbildung.
=== Die Rolle der Frau ===
Der damals vorherrschenden patriarchalischen Weltanschauung folgend, war seit der Gründung 1545 eine Mitgliedschaft bei der Armen Seefahrt und später beim Haus Seefahrt faktisch nur Männern möglich. Damit einhergehend war Frauen auch die Teilnahme an dem Brudermahl der Stiftung verwehrt. Zugleich aber gab es im 16. und den folgenden Jahrhunderten bis hinein ins 20. keine weiblichen Kaufleute und Kapitäne. Der Ausschluss von Frauen erfuhr mit dem Wechsel von der mittelalterlichen Ständegesellschaft zur Bürgergesellschaft bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine Lockerung; am Rande der Schaffermahlzeit versammelten sich die Ehefrauen der Teilnehmer in den großen Vorzimmern des alten Seefahrtshofes und wurden bewirtet. Auch das „Verzieren der Frauentafel mit Schaum“, also der Genuss des luxuriösen Schaumweins durch die Frauen, war 1864 bekannt, wurde jedoch des öffentlichen Ansehens wegen diskret gehandhabt.Dieser gesellige Zustrom der Frauen führte 1850 mit dem Argument allzu hoher Kosten und der stets ausdrücklich bewahrten Einfachheit des Festes zu einer Gegenreaktion unter den männlichen Mitgliedern von Haus Seefahrt. Später wurde die Anwesenheit von Frauen im Umfeld der Schaffermahlzeit dann streng reglementiert. In Bremen galt zu dieser Zeit auch wieder das Acht-Klassen-Wahlrecht. Seit 1875 ein neues Stiftungsgebäude bezogen wurde, wird für insgesamt 30 Frauen in einem separaten kleinen Raum ein Mahl serviert. Die neun Schaffer laden je drei Frauen ein, und die selbst auch teilnehmende Ehefrau des Hausverwalters lädt zwei Frauen ein. Diese Regelung wurde bei Fortführung des Festessens nach dem Zweiten Weltkrieg ab 1952 im Bremer Rathaus beibehalten und wird noch praktiziert, wobei die Schaffer außer den eigenen Ehefrauen meistens die Ehefrau des Ehrengastes und die Gattinnen einiger hochrangiger Gäste einladen.
1975, dem Internationalen Jahr der Frau und im Zuge der zweiten Welle der deutschen Frauenbewegung, rief die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF) in Bremen als Protestveranstaltung gegen den von Haus Seefahrt praktizierten Frauenausschluss bei der Schaffermahlzeit das Schafferinnenmahl ins Leben. Seither findet es alljährlich im Herbst im Haus der Bremischen Bürgerschaft als festliches Mahl statt; es ist gleichzeitig ein Forum für frauenpolitische Themen, zu dem renommierte Referentinnen wie Jutta Limbach, Margot Käßmann oder Heide Simonis eingeladen werden.
Die Idee, Frauen als auswärtige Gäste der Schaffermahlzeit einzuladen, wurde 1999 verdrängt. 1996 wurde die Kapitänin Barbara Massing gemäß der Stiftungssatzung als Mitglied der Stiftung Haus Seefahrt aufgenommen – der Aufnahmeantrag einer Frau mit Kapitänspatent war in den althergebrachten Statuten nicht separat geregelt. Sie nahm 2004 als erste Frau als seemännisches Mitglied an der Schaffermahlzeit teil.
2007 hatte die Bundeskanzlerin Angela Merkel als erste Frau in der Geschichte der Schaffermahlzeit die Rolle des Ehrengasts bei dem 463. Festessen inne und hielt dabei als erste Frau eine Rede. Bezogen auf ihre Teilnahme als weiblicher Ehrengast äußerte sie, die Mitglieder von Haus Seefahrt hätten damit keinen Fehlgriff im Blick auf die zukünftigen 463 Schaffermahlzeiten getan, und ermutigte dazu, es doch noch einmal oder mehrmals zu wagen.Als danach keine weiteren Frauen eingeladen wurden, kam von verschiedenen Seiten und nicht nur aus Kreisen der Bremer Frauenbewegung erneut Kritik an dem faktischen Frauenausschluss auf und wurde zunehmend in den Medien thematisiert, insbesondere in der regionalen Presse. Unter anderem griff der Bremer Weser-Kurier das Thema auf; so trafen sich im Rahmen seiner Bremer Begegnungen im Juli 2009 die Bremer Landesbeauftragte für Frauen Ulrike Hauffe und der Verwaltende Vorsteher von Haus Seefahrt, Michael Schroiff. Dabei schloss Schroiff eine geschlechterübergreifende Traditionsgestaltung in Haus Seefahrt und bei der Schaffermahlzeit nicht aus und wies darauf hin, dass die seit langem bestehende Verfassung der Stiftung keine Frauen ausschließt; er schränkte jedoch ein, dass eine Entscheidung über die Auswahl von Gästen in den dafür zuständigen Gremien der Stiftung getroffen wird.Die Schaffermahlzeit 2010 stand erneut in der Kritik, unter anderem seitens der Landesfrauenbeauftragten Hauffe. Schroiff entgegnete, dass von den Schaffern keine weiblichen Gäste vorgeschlagen wurden, und stellte fest, es sei offenbar einfach noch nicht so weit, die Tafel des Brudermahls generell auch für Frauen zu öffnen. Im April 2010 verabschiedete der Parteitag des Bremer SPD-Unterbezirks Stadt einen Antrag, in dem Bürgermeister Jens Böhrnsen aufgefordert wird, sein traditionelles Vorschlagsrecht dazu zu nutzen, weibliche Gäste zur Schaffermahlzeit vorzuschlagen. Ebenfalls im April 2010 forderten die Delegierten der über 40 Frauenverbände des Bremer Frauenausschusses die Stiftung Haus Seefahrt einstimmig auf, zukünftig Frauen die Teilnahme an der Schaffermahlzeit zu ermöglichen. Es sei nicht länger hinnehmbar, dass bei der Auswahl der Gäste zur Schaffermahlzeit beharrlich gegen das Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes und der UN-Menschenrechtscharta verstoßen werde.Um den Jahreswechsel 2010/11 signalisierte Bürgermeister Jens Böhrnsen Haus Seefahrt, er könne sich gut vorstellen, zur Schaffermahlzeit 2011 eine Frau als Gast zu benennen, was die Verantwortlichen von Haus Seefahrt unter dem neuen Verwaltenden Vorsteher Andreas Bunnemann jedoch nach gemeinsamer Beratung ablehnten. Böhrnsen, der in den vergangenen Jahren für Bremen wichtige Wirtschaftsvertreter zur Schaffermahlzeit eingeladen hatte, darunter Lakshmi Mittal, ließ daraufhin wissen, dass er keinen Ersatzmann vorschlagen werde.Im Juni 2013 verabschiedete die Bremische Bürgerschaft einen Antrag der rot-grünen Regierungsfraktion „Bremer Traditionsveranstaltungen nicht mehr ohne Frauen“, in dem die Bürgerschaft sich zu den hergebrachten Traditionsveranstaltungen – wie der Schaffermahlzeit, der Eiswette oder dem Bremer Tabak-Collegium – bekennt, aber ihre Erwartung ausspricht, dass die Veranstalter dieser Feiern „gleichermaßen Männer wie Frauen willkommen heißen, damit sie auch zukünftig als Teil Bremens öffentlich wertgeschätzer Kultur Bestand haben.“ Dem vorausgegangen war anlässlich der Schaffermahlzeit 2013 eine Demonstration von 500 Bremerinnen im Frack, durch die die eingeladenen Schaffer auf dem Weg von der Handelskammer zum Rathaus Spalier laufen mussten. Der Antrag in der Bremer Bürgerschaft wurde mit den Stimmen von SPD, Grünen und Linkspartei beschlossen.
Zur 471. Schaffermahlzeit wurden 2015 erstmals weibliche Gäste „als hochrangige, auswärtige Repräsentantinnen von Unternehmen, Ländern und Instituten“ eingeladen. So nahmen Annegret Kramp-Karrenbauer, Nicola Leibinger-Kammüller und Isolde Liebherr teil, zudem gab es mit Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen auch eine Frau als Ehrengast. Fortan wurden inklusive des Ehrengastes vier bis fünf weibliche Gäste pro Jahr zugelassen, während Unternehmerinnen als kaufmännische Schafferinnen immer noch nicht gewollt waren.Im April 2019 beschloss Haus Seefahrt, die Schaffermahlzeit komplett für Frauen zu öffnen und zukünftig bei der Auswahl der auswärtigen Gäste keine Unterscheidung mehr nach dem Geschlecht zu machen. Zur 476. Schaffermahlzeit im Jahr 2020 wurden 15 Frauen als Gäste eingeladen.In den Jahren 2021 und 2022 wurde die 477. bzw. 478. Schaffermahlzeit aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt.
Beim 479. Schaffermahl am 10. Februar 2023 wird mit Janina Marahrens-Hashagen erstmals eine Frau die Tafelrunde als 1. Schafferin anführen, Jens Lütjen und Dr. Christoph B. Klosterkemper werden ihr als 2. bzw. 3. Schaffer beisitzen.
== Gegenwart ==
=== Besonderheiten ===
Am 14. Februar 2020 kamen die 285 Männer und 15 Frauen, die an der 476. Schaffermahlzeit teilnahmen, zunächst nicht ins Bremer Rathaus, weil Klima-Aktivisten von Fridays for Future und BUND einige Eingänge blockierten. Der Protest der jugendlichen Demonstranten richtete sich gegen den teilnehmenden Ehrengast, Bundeswirtschafts- und Energieminister Peter Altmaier, und unter anderem gegen die ihrer Ansicht nach unzureichende Klimapolitik der Bundesregierung. Auch im Jahr 2023 kam es anlässlich der 479. Schaffermahlzeit zu Protesten, sowohl während einer angemeldeten Kundgebung mit etwa 150 Personen auf dem Marktplatz als auch durch eine nicht angemeldete Sitzblockade auf den Treppen zum Rathaus.
=== Teilnehmer ===
Die Schaffermahlzeit findet nicht mehr zusammen mit der Rechnungslegung statt und die Schaffer sind auch nicht mehr für die Verwaltung und die Geldgeschäfte der Stiftung zuständig. Seit Ende des 18. Jahrhunderts werden zu dem Essen nur Mitglieder von Haus Seefahrt, kaufmännische oder seemännische, sowie seit 1870 auch deren Gäste eingeladen. Bremer dürfen nicht teilnehmen, es sei denn, sie sind oder waren Kaufmanns- oder Kapitänsschaffer. Einzige Ausnahme ist der Präsident des Senats und Bürgermeister, der indessen nicht in seiner politischen Funktion Gast ist, sondern als Hausherr des Rathauses. Alle Mitglieder der Stiftung, die einmal als kaufmännische Schaffer oder Kapitänsschaffer die Schaffermahlzeit mitgestaltet haben, können in jedem Jahr an ihr teilnehmen.Die kaufmännischen Mitglieder der Stiftung Haus Seefahrt kommen traditionell aus einflussreichen Kreisen der bremischen Wirtschaft. Dabei können sie sich nicht selbst um eine Mitgliedschaft bewerben, sondern werden von Fürsprechern innerhalb der Stiftung vorgeschlagen. Alljährlich wählt die Generalversammlung drei neue kaufmännische Mitglieder, die sich mit der Aufnahme bereits Schaffer nennen und als Gäste an der Schaffermahlzeit teilnehmen dürfen. Voraussetzung ist, dass sie Bremer Bürger sind oder in Bremen den Mittelpunkt ihrer geschäftlichen Tätigkeit haben. Zwei Jahre nach ihrer Wahl haben sie als verantwortliche Schaffer die Schaffermahlzeit auszurichten und mit eigenen Mitteln zu finanzieren, wofür sie das Privileg haben, Reden zu halten. Sie bereiten die Veranstaltung gemeinsam und gleichberechtigt vor; die Benennung als Erster, Zweiter und Dritter Schaffer stellt keine Rangfolge dar, sondern soll organisatorische Festlegungen namensunabhängig erleichtern, wie beispielsweise bei den Programmpunkten („Erste Rede des ersten Schaffers“). Mit der Ausrichtung des Festessens erhalten die drei „neuen Schaffer“ das Recht, den Stiftungsgremien in jedem folgenden Jahr ihrer Teilnahme einen persönlichen Gast zur Einladung vorzuschlagen.Die seemännischen Mitglieder der Stiftung sind Kapitäne, wobei es sich im Wesentlichen um nautische Spitzenkräfte bremischer Reedereien und Schiffe handelt. Ihrer Mitgliedschaft geht eine Bewerbung bei Haus Seefahrt voraus. Die Berufung zum Kapitänsschaffer, auch als Schaffer der Schifferschaft bezeichnet, erfolgt, anders als bei den Schaffern der Kaufmannschaft, in der Reihenfolge der Aufnahme in die Stiftung. Bei jeder Schaffermahlzeit stehen den drei verantwortlichen (kaufmännischen) Schaffern sechs Kapitänsschaffer zur Seite.
Die Kaufleute schlagen Gäste aus dem In- und Ausland vor, durchwegs hochrangige Persönlichkeiten in Führungspositionen aller gesellschaftlichen Bereiche. Zu den auswärtigen Gästen gehört stets ein Ehrengast, meistens ein führender Repräsentant staatlicher Organe oder eine sonst besonders renommierte Persönlichkeit. Die Auswahl der Gäste erfolgt durch die dafür zuständigen Gremien der Stiftung. Die auswärtigen Gäste werden üblicherweise nur einmal im Leben eingeladen.Von dieser Regel wurde in einigen Ausnahmefällen abgewichen, so war Theodor Heuss zweimal als Bundespräsident beteiligt (1952 und 1955). Heinrich Lübke nahm 1955 als Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und 1960 als Bundespräsident teil, Walter Scheel 1964 als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und 1975 als Bundespräsident, und Roman Herzog nahm 1993 als Präsident des Bundesverfassungsgerichts und 1999 als Bundespräsident teil. Ehrengast der 465. Schaffermahlzeit 2009 war Bundespräsident Horst Köhler, der bereits 1994 in seiner damaligen Funktion als Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giro-Verbandes als Gast teilnahm.
=== Ablauf, Bräuche, Reden und Spendensammlung ===
Die Teilnehmer treffen sich vor dem Festessen bei einem Empfang der Bremer Handelskammer in dem gegenüber dem Rathaus gelegenen Schütting, dem ehemaligen Gilde- und Kosthaus der Bremer Kaufleute und heutigem Sitz der Kammer. Von dort gehen sie zu Fuß über den Bremer Marktplatz zum Ostportal des Alten Rathauses. Auf dem davorliegenden Grasmarkt werden sie von einem Shantychor aus Bremen oder Umgebung begrüßt, was Schaulustige und Passanten anlockt.
Der Präsident des Senats nutzt meistens die Gelegenheit, den Ehrengast in Begleitung des Verwaltenden Vorstehers persönlich in Empfang zu nehmen und diesen vor dem Essen zusammen mit einigen ausgewählten Gästen zu einem Gespräch in sein Amtszimmer im Neuen Rathaus zu bitten. Außerdem wird der Ehrengast gebeten, sich in das Goldene Buch der Stadt Bremen einzutragen. So führte zum Beispiel Bürgermeister Jens Böhrnsen anlässlich der Schaffermahlzeit 2009 ein Gespräch mit Bundespräsident Horst Köhler, Jean-Jacques Dordain, dem Chef der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) und Thomas Reiter, dem Weltraumfahrer und Vorstandsmitglied des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR).Die Kapitänsschaffer, die kaufmännischen Schaffer und deren Gäste versammeln sich in dem Festsaal im Obergeschoss des Neuen Rathauses. Die Herren tragen grundsätzlich schwarzen Frack und schwarze Lackschuhe, soweit sie nicht als Kapitäne in Uniform erscheinen; dazu tragen die Gäste eine weiße Fliege und eine weiße Weste, die kaufmännischen und seemännischen Schaffer eine schwarze Fliege und eine schwarze Weste. Bei Problemen mit der Garderobe ist vorgesorgt, ein Schneider steht eigens während der Feier vor Ort als Notdienst zur Verfügung.Der Verwaltende Vorsteher von Haus Seefahrt bittet die Teilnehmer traditionsgemäß mit einem Klopfen an eine der noch geschlossenen Türen der Oberen Halle und dem Ruf: „Schaffen …“ zur Festtafel. Der Einlass wird von einem Salonorchester mit dem Stück Einzug der Gäste aus der Oper Tannhäuser von Richard Wagner begleitet. Sobald die Schiffsglocke fünf Glasen (14:30 Uhr) verkündet, beginnt die Feier, die nach einem minutiösen und strengen Ritual abläuft.Die aus dem 15. Jahrhundert stammende Obere Rathaushalle bildet mit ihren Holzschnitzereien und Gemälden sowie mit den an der Decke hängenden schweren Leuchtern und großen Koggen den Rahmen für die Schaffermahlzeit. Der ehrwürdige Raum, in dem das große Essen seit 1952 stattfindet, ist stets mit drei langen weißgedeckten Tischen und am Kopf mit einem kürzeren Quertisch für besonders hochrangige Gäste hergerichtet. Die Tischform nimmt Bezug auf den Dreizack des römischen Meeresgottes Neptun. Am Ende eines jeden der langen Tische sitzt einer der drei ausrichtenden Schaffer, rechts und links von ihm je einer der sechs mithelfenden Kapitänsschaffer. Die Plätze sind mit Tischkarten namentlich ausgewiesen, weiße Kärtchen für die Gäste, rote für die kaufmännischen Schaffer und grüne für die Kapitäne. In diesem Wechsel ist die Sitzfolge angeordnet. Jeder der Teilnehmer stellt sich seinen Tischnachbarn vor.Die Tafeln sind mit Kandelabern, großen silbernen Bierhumpen und Kleinplastiken, Segelschiffe unter vollen Segeln, Ruderboote auf hoher See, aus Silber geschmückt. Der historische Tischschmuck, der aus bremischen Silbermanufakturen stammt und Haus Seefahrt gehört, wird nur zur Schaffermahlzeit aus den Tresoren der Bremer Bank geholt und durch frische Blumengestecke in den Bremer Farben Rot und Weiß vervollständigt. Die Bierhumpen, schwere punzierte Silberkelche aus dem 18. Jahrhundert, sind in der Tischmitte verteilt, einer für jeweils etwa zehn Teilnehmer.Das Besteck, ein Messer mit Fischbeingriff und eine Gabel sowie ein Esslöffel für den ersten Gang, stammt aus dem Jahr 1870. Neben den Gedecken liegen je zwei spitzgerollte Tüten aus Gold- und Silberpapier, die mit Pfeffer und Salz gefüllt sind; das erinnert an den früheren Brauch, als man beides – weil im Mittelalter kostbar – in Papier gewickelt selbst mitbrachte. Außerdem liegen neben jedem Gedeck große gefaltete Löschblätter, die zur Reinigung von Messer und Gabel nach den einzelnen Gängen dienen. Die Teller werden zwar nach jedem Gang gewechselt, nicht jedoch die Bestecke.Aus dem ursprünglichen einfachen Stockfisch-Essen wurde im Lauf der Zeit ein feierliches fünfstündiges Mahl. Die sechs Gänge werden nach einer genau festgelegten Reihenfolge von der gemeinsam gesungenen 3. Strophe des Deutschlandlieds – der deutschen Nationalhymne – sowie von zwölf Reden unterbrochen. Die drei ausrichtenden Schaffer halten insgesamt sieben Reden (Willkommensgruß; auf Bundespräsident und Vaterland; auf Bremen und den Senat; auf Handel, Schifffahrt und Industrie; auf Haus Seefahrt, Vorsteher und Ober-Alte; auf die sechs amtierenden Kapitänsschaffer und auf die auswärtigen Gäste). Der Verwaltende Vorsteher hält zwei Reden (Sammelrede vor der Spendensammlung; Dankrede auf die Schaffer) und zwei der sechs Kapitänsschaffer halten je eine Rede auf die gastgebenden kaufmännischen Schaffer und die Damenrede.Den Abschluss bildet die Rede des Ehrengastes, der sich meistens zu aktuellen zeitgeschichtlichen, wirtschaftlichen oder politischen Themen äußert. Der Verwaltende Vorsteher kündigt die einzelnen Redner und ihre Reden an und spricht zuletzt Dankesworte an den Ehrengast. Nach bestimmten, großen und besonders wichtigen Reden erheben sich die Anwesenden und bedanken sich bei den Rednern vor dem Beifall mit dem Ruf: „Hepp, hepp, hepp – hurra!“Von den Gästen wird gewünscht, dass sie Geld für die Stiftung Haus Seefahrt spenden, wobei dieser Vorgang sehr formlos gehandhabt wird. Akzeptiert wird zum Beispiel, dass der Spendenbetrag auf eine Visitenkarte geschrieben wird. Traditionell werden bei der Sammlung silberne Spendendosen herumgereicht, alles nach einem minutiösen Zeitplan, wie beispielsweise im Programm und Speisenfolge der 454. Schaffermahlzeit 1998 festgelegt: „17:02 Uhr Sammelrede des Verwaltenden Vorstehers, 17:07 Uhr Büchsen für Sammlung, Teller setzen, 17:12 Uhr Kalbsbraten […] servieren und essen“.
=== Die Mahlzeit, Getränke und Tabak ===
Das fünfstündige Festessen hat eine traditionell festgelegte Speisenfolge: Bremer Hühnersuppe; Stockfisch mit Senfsauce und Salzkartoffeln; Braunkohl mit Pinkel, Rauchfleisch, Maronen und Bratkartoffeln; Kalbsbraten mit Selleriesalat, Katharinenpflaumen und gedämpfte Äpfel; Rigaer Butt mit Sardellen, Wurst, Zunge, Chester-Käse und Früchte. Nach dem Stockfisch wird als Teil des Menüs ein spezielles alkoholfreies Bremer Seefahrtsbier gereicht, das von der Brauerei Beck & Co. extra für die Schaffermahlzeit gebraut wird. Es ist ein sehr nahrhaftes Malzbier-Getränk, das an die Zeiten erinnert, in denen Obst und Gemüse auf den Segelschiffen nicht in ausreichender Menge vorhanden und Skorbut deswegen stark verbreitet war. Jeweils zwei gegenübersitzende Teilnehmer kreuzen die Kelche mit dem Seefahrtsbier, stoßen mit dem traditionellen Ausspruch „Backbord, Steuerbord und mittschiffs“ dreimal an und trinken auf gute Gesundheit und Reise.Das reichhaltige Mahl wird von Haus Seefahrt als „einfache bremische Seemannskost“ bezeichnet. Als gewöhnungsbedürftig gelten vor allem der Stockfisch und das Seefahrtsbier; aber auch der Bremer Braunkohl mit Pinkel, ein deftiges Grünkohlgericht mit geräucherter Grützwurst, ist außerhalb Norddeutschlands eher wenig bekannt.
Der Wein zum Essen wird von den Schaffern rechtzeitig vor der Schaffermahlzeit bei einer Blindverkostung nach einem strengen Reglement bestimmt. Je ein Rotwein (Bordeaux) und ein deutscher Weißwein werden hierbei zu Schafferweinen auserkoren, wobei die Auswahl am traditionellen Weinhandelsstandort Bremen stets mit besonderem Interesse beobachtet wird. Bei den Bremer Weinhändlern – und auch bei den Tabakhändlern – gilt es als Ehre und verkaufsfördernde Auszeichnung, die Schaffermahlzeit beliefern zu dürfen.Zum Abschluss der Mahlzeit wird Mokka getrunken sowie nach Art der alten Schiffer Tabak in langen weißen Tonpfeifen geraucht, wofür das Bremische Nichtraucherschutzgesetz die Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung vom Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen vorsieht.
=== Beteiligung von Frauen, Seefahrtsball ===
Bis Mitte der 2010er Jahre waren Frauen nur im Ausnahmefall (Kapitänin, Bundeskanzlerin) zur eigentlichen Schaffermahlzeit zugelassen. Zusätzlich wurden 30 Frauen, meist Ehefrauen von teilnehmenden Männern, als Gäste zu einer separaten Feier ins Bremer Rathaus eingeladen. Während die etwa 300 Teilnehmer der Schaffermahlzeit – traditionsgemäß bis 2014 durchweg nur Männer – das Essen seit 1952 in der Oberen Rathaushalle begehen, wird für die 30 gesondert eingeladenen Frauen zwei Räume entfernt von der Oberen Halle, im Kaminsaal des Neuen Rathauses eine kleine Tafel eingedeckt. Sie dürfen aber das Eintreffen der männlichen Teilnehmer im neben der Oberen Rathaushalle gelegenen Festsaal von dessen Galerie aus beobachten. Den Frauen werden im Kaminsaal die gleichen Gerichte wie den Männern serviert. Die Reden werden in den Raum der Frauen durch Bild und Ton übertragen.Nachdem zunächst seit 2015 jährlich einige wenige Frauen als offizielle Gäste zur Schaffermahlzeit eingeladen wurden, öffnete sich die Traditionsveranstaltung beginnend ab 2020 komplett für Frauen.Nach der Schaffermahlzeit beginnt der Seefahrtsball, der ursprünglich von den Bremer Teilnehmern genutzt wurde, um ihre Söhne und Töchter in die Gesellschaft einzuführen. Auch heute wird der Ball von den Debütanten mit einer Polonaise und einem darauf folgenden Wiener Walzer im Festsaal eröffnet. Danach bitten die wenigen Frauen einige Männer zum Tanz. Das Fest endet stets pünktlich um 22.00 Uhr.
=== Schaffermahlzeiten seit 2011 ===
Das Haus Seefahrt hat aufgrund der Corona-Pandemie für 2021 und 2022 die Schaffermahzeiten abgesagt.
== Bedeutung ==
Anlässlich des vierhundertjährigen Bestehens von Haus Seefahrt im Jahr 1945 veröffentlichte der Bremer Historiker Karl Heinz Schwebel 1947 sein Sachbuch Haus Seefahrt, Bremen, seine Kaufleute und Kapitäne, in dem er unter anderem die Bedeutung der Schaffermahlzeit hervorhob:
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Schaffermahlzeit dazu benutzt, den Ausbau Bremens zu einem der größten Rüstungsstandorte des „Dritten Reichs“ mit zu unterstützen und zu fördern. Ähnlich wie andere wirtschaftsnahe Vereinigungen, wie beispielsweise der Hamburger Nationalklub oder der Industrie-Club Düsseldorf, suchte die Stiftung Haus Seefahrt den Kontakt zu führenden Nationalsozialisten und Repräsentanten des NS-Staates, um nützliche Verbindungen für die bremische Wirtschaftselite zu knüpfen oder zu vertiefen. So nahmen an den Schaffermahlzeiten der Jahre 1933 bis 1939 unter anderem als Ehrengäste teil: Reichsführer SS Heinrich Himmler (1936), Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht (1936) und der Staatssekretär im Reichsjustizministerium Roland Freisler (1939).
Nachdem die Kriegsjahre und die erste Nachkriegszeit kein Festessen zuließen, findet die Schaffermahlzeit ab 1952 wieder alljährlich nach dem seit Ende des 19. Jahrhunderts gültigen Reglement statt. Zu den Ehrengästen, meistens hohe Beamte oder Politiker, zählen unter anderem alle deutschen Bundespräsidenten und Bundeskanzler seit 1952 sowie die Ministerpräsidenten mehrerer Bundesländer. Der jeweilige Ehrengast hält bei der Schaffermahlzeit die letzte und wichtigste Rede, die oft überregional Beachtung findet. Einige dieser Gastreden gehören zu den bedeutenden Reden der Bundesrepublik Deutschland. So wird unter anderem die Rede des damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann auf der 426. Schaffermahlzeit im Jahr 1970, einer Zeit des politischen Umbruchs, viel zitiert und als Beitrag zur Geschichtsschreibung im freiheitlich demokratischen Deutschland angesehen. Heinemann hatte auf Brüche und Kontinuitäten in der deutschen Geschichte hingewiesen und dazu ermuntert, „sich nicht durch Kontinuitäten blenden zu lassen, sondern nach den Brüchen zu fragen und was sie verschüttet haben“.Auf der Generalversammlung der Stiftung im Jahr 1980 betonte der damalige Verwaltende Vorsteher Hans Henry Lamotte, den Veränderungen des modernen Lebens – besonders durch die Informationstechnik – entsprechend, könnten und müssten sich Traditionen wandeln, solange sie voll Sinn sind und nicht zur Farce werden sollen, wobei er auch die Schaffermahlzeit mit einbezog. Die Berliner Zeitung stellte 2004 fest, es gehe zwar weniger um das Mahl als um die Tradition an sich, aber die Schaffer und ihre Gäste wüssten darüber zu lächeln und seien sich in ihrem Handeln als Chefs einig, dass Veränderung in diesem Land Not tue und den Mut erfordere, die Dinge neu und anders anzufassen. Die Schaffermahlzeit wird nicht nur als einer der gesellschaftlichen Höhepunkte mit hohem Renommee weit über die Grenzen des Landes hinaus angesehen, sondern auch als Gelegenheit, Beziehungen zu pflegen, und als ein modernes Networking. Dabei zu sein, sei selbst für Deutschlands Elite eine Ehre, meinte 2009 das Handelsblatt und befand: „Die Einladung zur Schaffermahlzeit gilt unter Firmenkapitänen als Ritterschlag“.So liest sich die Gästeliste stets wie ein Who’s who der Wirtschaft. Zum Beispiel nahmen als Unternehmensführer teil: Lakshmi Mittal, der damalige CEO von Mittal Steel Company und heutige Vorstandsvorsitzende von ArcelorMittal (Teilnahme 2007), Klaus Kleinfeld, CEO des US-amerikanischen Aluminiumkonzerns Alcoa Inc. (2008), Wolfgang Reitzle, Chef des DAX-Konzerns Linde AG (2009), und der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, Dieter Zetsche (2010). Zum Kreis der eingeladenen Gäste gehören zudem hochrangige Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Kultur, wie beispielsweise der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (2008), der Chemiker und Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, Ernst Rietschel (2007), oder der Literaturnobelpreis-Träger Günter Grass (2007).
Ungefähr vergleichbar ist das Wilhelm-Kaisen-Bürgermahl, das dem langjährigen Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen gewidmet ist. Es ist bewusst schlicht gehalten und kommt über die nach ihm und seiner Ehefrau benannte Stiftung sozialen Projekten in Bremen zugute.
== Literatur ==
Stiftung Haus Seefahrt (Hrsg.): 466. Schaffermahlzeit. Des Hauses Seefahrt Bremen 12.02.2010. 1. Auflage. Inselmann Verlag, Grasberg 2010, ISBN 978-3-938331-30-9. (Bildband, Fotograf: Klaus Fittschen)
Rüdiger Hoffmann u. a.: Die Schaffermahlzeit und das Haus Seefahrt in Bremen. Bremer Landesbank (Hrsg.), Verlag Media Projects, Bremen 2007.
Klaus Berthold: Rituale, Gebräuche und Tischsitten der bremischen Kaufmannschaft. Handelskammer Bremen (Hrsg.). Schünemann Verlag, Bremen 2007, ISBN 978-3-7961-1902-6, S. 78–105.
Herbert Schwarzwälder: Das Große Bremen-Lexikon. Edition Temmen, Bremen 2003, ISBN 3-86108-693-X.
Peter-Alexander Reischauer: Moderne Schaffermahlzeiten. In: Die Wittheit zu Bremen (Hrsg.), Hans Kloft u. a. (Red.): Feste und Bräuche in Bremen. Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Hansestadt. Hauschild Verlag, Bremen 2000, ISBN 3-89757-042-4, S. 250–259. (Jahrbuch 1999/2000 der Wittheit zu Bremen)
Hermann Gutmann: Haus Seefahrt in Bremen und seine Schaffermahlzeit. Döll Verlag, Bremen 1999, ISBN 3-88808-244-7.
Heinz-Gerd Hofschen: „Treu ihrer Tradition wird Bremens Wirtschaft fest, mit aufrichtiger Verehrung und Dankbarkeit hinter dem Führer stehend, arbeiten“ – zur Geschichte des Bremer Schaffermahls 1933–1938. In: Universität Bremen, Lehr- und Forschungsprojekt zur Geschichte der Bremer Arbeiterbewegung: Bremen 1933–45. Vom Handelszentrum zur Rüstungsschmiede. Kulturzentrum Schlachthof, Bremen 1983, ohne ISBN. (Ausstellungsbroschüre)
Rolf Reinemuth: Kaufherrn, Kaper und Kraweele. Wie es zur Armen Seefahrt kam. Koehlers Verlagsgesellschaft, Herford 1974, ISBN 3-7822-0101-9.
Karl H. Schwebel: Haus Seefahrt, Bremen, seine Kaufleute und Kapitäne. Vierhundert Jahre Dienst am deutschen Seemann, 1545–1945. Verlag H. Krohn, Bremen 1947, ohne ISBN.
Johann Georg Kohl: Das Haus Seefahrt zu Bremen. Nachdruck der Ausgabe des Verlags Strack, Bremen 1862: Hauschild Verlag, Bremen 1984, ISBN 3-920699-51-3. (In Fraktur gedruckt. Beim Nachdruck hinzugefügter Untertitel: Dem Haus Seefahrt anläßlich der 440. Schaffermahlzeit am 10.2.1984 gewidmet.)
== Weblinks ==
Die Schaffermahlzeit im Internetauftritt von Haus Seefahrt
Bremer Schaffermahlzeit. (Memento vom 13. Februar 2011 im Internet Archive) Radio Bremen – Berichte, Videos und Audiobeiträge
Bremer Schaffermahl (Memento vom 25. Februar 2007 im Internet Archive) Radio Bremen; Dossier
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schaffermahlzeit
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Schopenhauerhaus
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= Schopenhauerhaus =
Das Schopenhauerhaus mit der Adresse Schöne Aussicht 16 war ein klassizistisches Wohnhaus im Fischerfeldviertel der heutigen Innenstadt von Frankfurt am Main. Nach Norden besaß es, von einem für die Verhältnisse der Altstadt geräumigen Innenhof unterbrochen, ein Hinterhaus zur Straße Hinter der Schönen Aussicht mit der Hausnummer 21.
Das Gebäude wurde nach Plänen des Stadtbaumeisters Johann Georg Christian Hess 1805 für den jüdischen Bankier Wolf Zacharias Wertheimber errichtet und gilt als das Hauptwerk des bürgerlichen Klassizismus in Frankfurt. Neben seiner architektur- und kunstgeschichtlichen Bedeutung diente es im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Wohnstätte wichtiger städtischer und nationaler Persönlichkeiten. Namensgebend war der Philosoph Arthur Schopenhauer, der dort von 1859 bis zu seinem Tod 1860 lebte. Es war der letzte seiner zahlreichen Wohnsitze.
Im Zweiten Weltkrieg fing das Schopenhauerhaus, nachdem es bei mehreren schweren Bombardements nur geringe Schäden davongetragen hatte, bei den Bombenangriffen des 22. März 1944 Feuer und brannte bis auf das Erdgeschoss nieder. Auf der Parzelle wurde nach dem Krieg ein Zweckbau im Stil der 1950er Jahre errichtet, der jetzt aufgrund des Durchbruches der Kurt-Schumacher-Straße ein Eckhaus ist. An sein Vorgängergebäude erinnert nichts mehr.
== Geschichte ==
=== Vorgeschichte und Entwicklung des Baugrundes ===
Die östlich des Domhügels gelegene Niederung am Main war schon im Mittelalter als Fischerfeld bekannt. Doch eine dichte Bebauung wie im übrigen Stadtgebiet machten die Witterungsverhältnisse kaum möglich: Während der Herbst- und Wintermonate überflutete der anschwellende Fluss das Gebiet und verwandelte es in einen Sumpf, im Winter fror es häufig flächenhaft zu. Dennoch entwickelte sich dort eine kleine Vorstadt, die dauerhafter Wohnsitz vor allem der namensgebenden Fischer, aber auch von Weißgerbern wurde.Der Frankfurter Chronist Baldemar von Petterweil beschrieb die Ansiedlung um 1350 als eine einzige Reihe Häuser, die durch drei kleine Gassen voneinander getrennt waren. Jedoch ging das Dorf mit 29 Bewohnern im Jahr 1354 und 22 1365 schon Ende des 14. Jahrhunderts wieder ein. Vermutlich hatte der damalige Umbau der Alten Brücke durch Madern Gerthener zu engeren Brückenbögen als vorher geführt, wodurch die Brücke nun wie eine Staustufe wirkte und das Wasser noch stärker in das Gebiet presste. Auch strategisch-militärische Gründe vor dem Hintergrund der damaligen Hussitenkriege wurden von der Forschung als Grund für die Aufgabe in Betracht gezogen.Sowohl die Stadtmauer der Stauferzeit als auch die der zweiten Stadterweiterung nach 1333 hatten das Gebiet ausgespart. Stattdessen war es durch eine eigene Ummauerung geschützt, die jedoch kaum etwas gegen die jährlichen Überschwemmungen ausrichten konnte. Erst durch die bastionäre Befestigung des 17. Jahrhunderts wurde sie zum Main hin verstärkt, erhöht und das Areal 1632/33 mittels des Fischerfeldbollwerks in das Stadtgebiet einbezogen. Die Innenfläche blieb aber, wie schon seit dem Niedergang der Vorstadt, weitgehend unbebaut.
Genutzt wurde das Fischerfeld allerdings als Schießplatz der Schützengesellschaft der Krautschützen, deren Schützenhaus seit dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts eines der wenigen dauerhaften Bauwerke war; ihre Zielscheiben fanden auf den Merian-Plänen der Stadt überdimensionale Darstellung. Später waren dort Gärten und der inzwischen hochgewachsene alte Baumbestand einziges größeres Naherholungsgebiet innerhalb der schützenden Mauern. Johann Wolfgang von Goethe berichtete im 16. Buch von Dichtung und Wahrheit davon, wie er hier im Winter gerne Schlittschuh lief. Seit der Reformationszeit verlagerte sich die Prostitution, die in der Stadt nicht mehr geduldet wurde, vor allem während der Messen in jenen abgelegenen Osten der Stadt.In der Goethezeit hatten der lange Frieden im 18. Jahrhundert, der Aufstieg des Bürgertums, die Aufklärung und das Vordringen des Klassizismus zu einem grundsätzlichen Wandel der Lebens- und Wohnvorstellungen in großen Teilen der Bevölkerung geführt. Mit palaisartigen Bauten an der Zeil und am Roßmarkt, den einzigen weitläufigen Straßen- und Platzanlagen, sowie Gartenhäusern vor den Mauern der Stadt drückte sich die Sehnsucht vor allem der städtischen Oberschicht nach mehr Großzügigkeit im Bauwesen aus. Markantestes Kennzeichen war die Umnutzung der bastionären Befestigung der Stadt, die aufgrund ihrer militärischen Bedeutungslosigkeit gegenüber modernen Feuerwaffen seit 1765 mit Bäumen bepflanzt als „Lustallee“ für Spaziergänge diente.
Aber selbst in der Neustadt, der heutigen Innenstadt, fehlte der Baugrund zur Verwirklichung von Vorhaben nach den neuen Idealen, dominierten doch auch dort bis auf wenige Ausnahmen mittelalterliche schmale Straßen und kleine Parzellen, deren Zusammenführung aus vielerlei Gründen, vorrangig aber wegen komplizierter Eigentumsverhältnisse, kaum möglich war. Wohl Ende der 1780er Jahre kam im Stadtrat die Idee auf, erstmals seit dem frühen 14. Jahrhundert die Stadt zu erweitern. Vielleicht schon 1788, sicher aber 1792 legte der seit 1787 im Amt befindliche Stadtbaumeister Johann Georg Christian Hess einen ersten Bebauungsplan für das zukünftige Viertel vor. Die Ausführung wurde 1792 im Rat beschlossen und noch im April die Versteigerung der Grundstücke eingeleitet.Die Arbeiten begannen 1793 und schritten, bedingt durch die angestrebte geschlossene Blockrandbebauung, systematisch von Westen nach Osten voran. Auf der Ostseite der Fahrgasse wurden der Brückhof und eine Anzahl der dort dominierenden Giebelhäuser abgerissen, um einen Anschluss an das Neubaugebiet zu schaffen. Die anschließende Auffüllung des Fischerfeldes bis zur Spitze der gotischen Stadtmauer, nun Futtermauer für den Kai, ist in ihrem Beginn nicht eindeutig datierbar. Klar ist nur, dass sie in dem sumpfigen Gebiet ausschließlich der ausgesparten Kellerbereiche teilweise über sechs Meter betrug.Weitere ingenieurtechnische Details des für die Zeit gewaltigen Unterfangens, beispielsweise die Beschaffung und die logistische Bewältigung der sich bei rund 400 Metern Uferlänge auf 200 Metern Tiefe des Viertels ergebenden 480.000 Kubikmeter Füllmaterial sind unbekannt. Überliefert ist nur, dass sich die Aufschüttung weit länger als erwartet hinzog und erst deutlich nach 1810, vermutlich sogar erst gegen 1820 abgeschlossen war, was auf die Schwierigkeiten hinweist. Die ältesten Bauten im Bereich des ehemaligen Brückhofs, die nach der Auffüllung rasch folgten, datierten auf das Jahr 1797, die letzten entstanden nach offenbar längerer Unterbrechung in einer großen Endbauphase der frühen 1820er Jahre. Mit der Einweihung der Alten Stadtbibliothek im Jahr 1825 galt die Stadterweiterung als vollendet.
=== Der Bauherr und seine Herkunft ===
Die Frankfurter Juden, ursprünglich weitgehend gleichberechtigt südlich des Doms ansässig, waren 1462 in ein Ghetto vor der staufischen Stadtmauer zwangsumgesiedelt worden. Die Frankfurter Judengasse stieß südlich direkt an das Fischerfeld an. Zwei Großbrände 1711 und 1721 zerstörten große Teile der Judengasse, die aber jedes Mal in alter Form wiederaufgebaut wurden. Das heißt, dass sich rund 200 Häuser mit Frontbreiten von zwei bis selten mehr als vier Metern auf 330 Metern Gassenlänge drängten. Unter diesen Verhältnissen lebten hier mehr als 3000 Menschen.1769 heiratete Zacharias Isaak Wertheimber aus München im Hochzeitshaus der Judengasse die hier gebürtige Frummet Speyer, eine Schwester von Isaak Michael Speyer. Dieser galt vor dem Aufstieg des Bankhauses Rothschild als der mit Abstand vermögendste Frankfurter Jude. Auch Zacharias Isaak, der sich alsbald mit seinem Bruder Elias Isaak im Ghetto niederließ, wo er ebenfalls Bankgeschäfte pflegte, kam aus einer bedeutenden Familie. Beide waren Urenkel des in Wien als kaiserlicher Hoffaktor und Oberrabbiner tätigen Samson Wertheimber. Als Beispiel für seinen Einfluss mag gelten, dass er nach dem Gassenbrand von 1711 gegen den Willen des Frankfurter Rats mittels einer direkten kaiserlichen Intervention den Bau eines luxuriösen, zehn Meter breiten Steinhauses durchzusetzen vermochte.Die Bankgeschäfte der Brüder unter dem Firmennamen Zacharias & Elias Isaak Wertheimber entwickelten sich prächtig, wie überlieferte Angaben zu ihren Vermögen belegen. Als Elias Isaak 1794 starb, hinterließ er alleine ein Privatvermögen von 90.000 Gulden, Zacharias Isaak folgte ihm 1803 nach. Von seinen acht Kindern führte der 1782 geborene Wolf Zacharias die väterliche Firma fort. Am 15. Dezember 1803 heiratete er eine erst fünfzehnjährige Tochter seines verstorbenen Onkels Elias Isaak Wertheimber, Leonore, und bekam mit ihr mindestens 15 Kinder.
Im Jahr 1796, als die Stadt von österreichischen Truppen besetzt war, wurde sie von französischen Belagerern beschossen, wobei die Judengasse abermals in Brand geriet und rund ein Drittel ihrer Häuser einbüßte. Auch das Stammhaus der Wertheimbers, das Haus Roter Turm, das eine Fassadenbreite von nur 2,28 Metern aufwies, brannte nieder.Nach der Französischen Revolution und der einsetzenden französischen Besetzung der Stadt überwanden die Juden zumindest zeitweise den Ghettozwang und erlangten die Erlaubnis zur Niederlassung im christlichen Teil der Stadt. Der Beginn der Emanzipation zeichnete sich auch durch die nochmals neu errichteten Häuser im nördlichen Teil der Judengasse ab. Dort entstanden auf der gleichen Fläche statt der rund 60–70 zerstörten Gebäude rund 20 klassizistische Neubauten.Noch bevor der 1806 auf Veranlassung Napoleons eingesetzte Fürstprimas Carl Theodor von Dalberg die Gleichberechtigung aller Konfessionen verfügte und dies 1811 gegen eine Zahlung von 440.000 Gulden durch die Juden auch per Verordnung durchgesetzt wurde, gelang es einigen sehr vermögenden jüdischen Bürgern, Bauplätze im Fischerfeld zu kaufen. Vermutlich mussten sie auch für das Recht, dort ein Haus zu bauen, hohe Summen entrichten, was allerdings nicht überliefert ist. Wolf Zacharias Wertheimber kaufte zwei Parzellen an der Schönen Aussicht, im Gegensatz zu der überwiegenden Zahl seiner Glaubensgenossen, die sich bevorzugt an der Brückhof- und der Fischerfeldstraße niederließen.
=== Der Architekt und die Bauausführung ===
Für Johann Georg Christian Hess waren bei der Ausarbeitung des Bebauungsplans noch die Ideale des 18. Jahrhunderts maßgeblich, die ein regelmäßiges Netz parallel verlaufender und sich rechtwinklig kreuzender Straßen vorsahen. Abweichend davon und fortschrittlicher war dagegen der Verzicht auf eine breite Magistrale zugunsten der weitgehenden Gleichberechtigung aller Straßen. In die Zukunft wies auch der großzügige Zuschnitt der annähernd gleich großen Parzellen, die durchschnittlich 15 bis 16 Meter Fassadenbreite bei annähernd doppelter Tiefe erlaubten.Eine absolute Neuheit und einen völligen Bruch mit der bisherigen Baupolitik stellte die Vorbedingung dar, die „Neue Anlage“ als reines ruhiges Wohngebiet auszuweisen; die Ansiedlung von Handwerksbetrieben war ebenso verboten wie das Aushängen von Schildern an den zu bauenden Häusern. Nicht weniger revolutionär war es, dort ausschließlich Etagenhäuser von gleicher Form und Höhe zu errichten, die vermietet werden sollten. Mit dem Vorbild für dieses Konzept konnte sich Hess wohl während seines Studiums in Paris 1774 bis 1776 ausgiebig beschäftigen.
Wolf Zacharias Wertheimber hatte zwei Parzellen erworben, da er ein Haus mit einer Fassadenbreite von 40 Metern errichten lassen wollte. Bedenkt man den Kinderreichtum der Familie und die Dimensionen des bisherigen Hauses in der Judengasse, war diese Großzügigkeit verständlich. Dennoch konnten seine konträr zu den Idealen des Viertels stehenden Absichten prinzipiell als Wagnis gelten; zudem hatte Hess, der als Leiter des Bauamts das städtische Bauwesen der Zeit vollständig unter seiner Kontrolle hatte, den Ruf eines Dogmatikers. Selbst kleinste Details seiner Bauten unterwarf er den Lehren großer Vorbilder der Klassik wie Vitruv oder Palladio.Doch der Bauherr kannte wohl die andere Seite des Stadtbaumeisters, die erst die jüngere Forschung wieder aufgebracht hat. Hess beteiligte sich selbst so intensiv an der Grundstücksspekulation, dass er mehrmals von seinem eigenen Amt zur Räson gerufen werden musste. Zur Gewinnmaximierung verletzte er vielfach die selbsterlassenen Bauvorschriften, wenn er, wie nicht selten, als privater Bauunternehmer auftrat. Als Architekt klassischer Schule war er mit der städteplanerischen Aufgabe so überfordert, dass ihm ab 1802 der Geometer und Münzmeister Johann Georg Bunsen zur Seite gestellt wurde. Dieser sollte wohl auch die Rolle einer überwachenden Instanz spielen.Auch im Fall Wertheimbers, vielleicht des markantesten Beispiels für diese Verhältnisse, setzte sich Hess über die eigenen Maßstäbe hinweg und ließ durch Maurermeister Kayser 1805 ein überbreites Gebäude mit der Nutzung von anderthalb Parzellen errichten. Es war trotz des Kompromisses das breiteste, höchste und auch tiefste im ganzen Fischerfeld und konnte sogar mit den Bauten des Hochadels an der Zeil konkurrieren. Der Kostenvoranschlag für das spätere Schopenhauerhaus belief sich auf 180.000 Gulden, eine für die Zeit ungeheure Summe, die dem Bauherrn als Guldenmillionär jedoch kaum Schwierigkeiten bereitet haben dürfte.
=== Von der Schönen Aussicht 16 zum Schopenhauerhaus ===
In der Zeit nach 1800 wurde das Wechsel- und Börsengeschäft durch die Koalitionskriege und die Kontinentalsperre beeinträchtigt. Wer in diesem Sektor noch Geld wie einst verdienen wollte, musste bald hohe Risiken eingehen. Vermutlich deswegen betätigte sich Wolf Zacharias Wertheimber auch als Privatfinanzier von Napoleon Bonaparte, dessen Aufstieg ihn zunächst emportrug. Kurz vor dem Russlandfeldzug soll er ihn gar persönlich an der Schönen Aussicht besucht und seiner Frau einen Marquisenring verehrt haben.
Doch mit Napoleons Niederlage im Osten und dem Sturz in Paris verlor Wertheimber praktisch über Nacht sein gesamtes Vermögen, seine Frau überwand das Trauma nie. Bis ins hohe Alter stand sie angeblich täglich an einem Fenster im Erdgeschoss, auf einen Kurier aus der französischen Hauptstadt mit der Nachricht ihres Mannes wartend, dass Napoleon gesiegt habe. Doch nach der verspäteten Rückkehr aus Paris gelang es Wertheimber, allein das Haus und die Firma knapp vor der Insolvenz zu retten. Er selbst zog zurück in das winzige Haus JQ 131 in der Judengasse, in dem er bis zu seinem Tod 1844 lebte und nach der Überlieferung zur Beruhigung seiner Nerven regelmäßig die Gasse kehrte.Der Wohnsitz an der Schönen Aussicht blieb der Familie somit erhalten. Zur Zeit der Freien Stadt Frankfurt wohnten dort noch Wertheimbers Frau, sein 1809 geborener Sohn Zacharias Wolf, der sich als Börsenmakler betätigte, die 1811 geborene Tochter Sara, der 1827 geborene jüngste Sohn namens Leopold sowie einige Diener. Die übrigen Räume des Hauses waren wohl aufgrund der finanziellen Nöte in Mietwohnungen aufgeteilt worden. Im Jahr 1856 zog hier die wichtigste – da sie neben Fried Lübbecke als einzige ihre Lebenserinnerungen schriftlich abfasste – Zeitzeugin des Schopenhauerhauses ein, die damals siebenjährige Lucia Franz. Sie war das fünfte Kind ihrer aus Frankfurt stammenden Eltern, der Vater betätigte sich als Handelsmann. Sie erlebte dort den Einzug und Tod des Mannes, der dem Haus Schöne Aussicht 16 seinen späteren Namen gab.
Arthur Schopenhauer hatte bei Ausbruch einer Choleraepidemie in Berlin 1831 Frankfurt am Main erstmals besucht, das als gesund und „cholerafest“ galt. Seine erste Wohnung lag in der Alten Schlesingergasse 16/18, heute mitten im Bankenviertel. Als er im Winter 1831/32 trotz des guten Rufs der Stadt erkrankt war, siedelte er im Juli 1832 nach Mannheim über und kehrte im Juli 1833 erneut, diesmal endgültig, nach Frankfurt zurück.Nach zahlreichen Wohnungswechseln fand sich Schopenhauer im März 1843 schließlich an der Schönen Aussicht 17 ein, also im westlichen Nachbarhaus des Wertheimberschen Prachtbaus. Überliefert ist auch seine aufgrund seiner Schwerhörigkeit spezielle Beschreibung des Wohnsitzes für Besucher – „parterre, Rechts, Glasthür, stark schellen.“. Hier entstand in den folgenden Jahren nicht nur sein letztes großes Werk Parerga und Paralipomena, er erlebte auch die Frankfurter Septemberunruhen des Jahres 1848, bei denen fast 100 Menschen starben.Im Sommer 1859 kam es – angeblich wegen seines Pudels Atman – mit seinem Vermieter zu einem Streit, infolge dessen er mit seiner Haushälterin Margarete Schnepp eine Hausnummer weiter zog und sich bei den Wertheimbers, ebenfalls im rechten Parterre, einmietete. Obwohl Schopenhauer als Misanthrop und Sonderling verrufen war, freundete sich Lucia Franz mit ihm und vor allem seinem Hund schnell an. So konnte sie ein getreues Bild seines wohl dem Vorbild Immanuel Kants folgenden, minutiös durchgeplanten Tagesablaufs einerseits und seiner ärmlichen bis chaotischen Wohnverhältnisse andererseits zeichnen.
Zuerst beschrieb sie den hohen Grad der Dressur, den Schopenhauer Atman hatte angedeihen lassen. Mit einem Korb im Maul, in den sein Herrchen Geld legte, ging er auf Befehl in zwei Geschäften in der nahen Fahrgasse sowie in einer Bäckerei in der ebenfalls benachbarten Großen Fischergasse für ihn einkaufen. Auch ansonsten war er einem Diener gleichgestellt, die Haushälterin kochte für ihn und speiste mit ihm zusammen an einem Mittagstisch. Regelmäßig schor sie den Pudel und strickte aus seiner Wolle Kleidung und Strümpfe.Zum Tagesgeschäft Schopenhauers gehörte immer ein Besuch des Englischen Hofs am Roßmarkt – das 1797 von Nicolas Alexandre Salins de Montfort erbaute Gebäude war damals eines der bedeutendsten Gasthäuser der Stadt – aus dem er um Punkt drei Uhr nachmittags heimkehrte. Dort hatte Schopenhauer durch seine sich über alles mokierende Art, die Quell zahlloser, nicht immer richtig überlieferter Anekdoten war, jedoch ebenso wenige Freunde wie unter der Dienerschaft, die ihn wenigstens einmal auf der einzigen Toilette der Schönen Aussicht 17 einsperrte.Schopenhauers Wohnung beschrieb Franz wie folgt:
Nach einem beginnenden Husten im Herbst 1860, gegen den ihm Franz am Mainkai noch „Schillertränen“, also Lutschbonbons, kaufte, wurde er alsbald bettlägerig und starb am 21. September 1860, laut der Todesanzeige vom 23. September, an einer Lungenlähmung. Der Trauerzug vom Sterbehaus über die Fahrgasse zum Hauptfriedhof fiel entsprechend seiner geringen Beliebtheit sehr klein aus, auch wenn Franz in ihren Lebenserinnerungen mehrmals hervorhob, wie neben ihrem Vater auch etwa ihre Lehrer am Gymnasium immer wieder betont hätten, dass erst nachfolgende Generationen sein Werk verstehen und schätzen würden.Nach Fried Lübbecke hieß Schöne Aussicht 16 seitdem Schopenhauerhaus. Die geringe Beachtung, die dem Fischerfeldviertel, das wie die Altstadt zu einem Armeleuteviertel herabsank, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuteilwurde, lässt dies allerdings, auch wegen der nicht vorhandenen literarischen Überlieferung, als zweifelhaft erscheinen. Im Frankfurter Adressbuch von 1916 wird das vorherige Wohnhaus, also Schöne Aussicht 17, als Schopenhauerhaus bezeichnet. Somit deutet einiges darauf hin, dass erst Lübbecke den Begriff für die Nr. 16 geprägt hat, der bis heute gängig ist.
=== Vom Schopenhauerhaus zur Weinhandlung mit berühmten Mietern ===
Die geräumigen, planmäßig und bereits als moderne Ingenieurbauten angelegten Keller der Häuser im Fischerfeldviertel waren seit deren Errichtung ideale Weinlagerstätten. Mit dem Tod des Vaters von Lucia Franz im Jahr 1865 erwarb der Koblenzer Weinhändler Moritz Sachs senior die Schöne Aussicht 16 von den Wertheimbers. Im Jahr 1868 eröffnete dort der gerade volljährige Sohn Moritz Sachs junior zusammen mit einem Geschäftspartner die Weinhandlung Sachs & Höchheimer. Der etwa 2,50 Meter hohe Keller des Hauses, der sich unter der gesamten Parzelle erstreckte, hatte ein Fassungsvermögen von etwa achtzig Fässern mit insgesamt rund 70.000 bis 80.000 Liter Wein, Likör und Weinbrand.Nach dem Verkauf des Hauses hielt es die verbliebenen Familienmitglieder bis auf die Witwe Leonore Wertheimber offenbar nicht mehr in der Stadt. Letztere starb hochbetagt mit 83 Jahren im Schopenhauerhaus, worauf bis zu dessen Zerstörung eine in eine Fensterscheibe im dritten Stock geritzte Inschrift hinwies:
Da Leopold 1872 in Berlin starb – wann genau er die Stadt verließ, ist nicht zu erfahren – kommt als Schreiber der Nachricht eigentlich nur Zacharias Wolf in Frage. Er heiratete erst nach dem Tod der Mutter am 4. Oktober 1871, also im Alter von 62 Jahren, in Leeuwarden die nur 27 Jahre alte Judith Dusmus, wodurch mit ihm am 13. Oktober 1883 auch der männliche Stamm von Wolf Zacharias Wertheimber erlosch. Ein weiteres, im 19. Jahrhundert nach Frankfurt am Main eingewandertes Urenkelpaar Samson Wertheimbers hat – die Details sind unbekannt – die Zeit des Nationalsozialismus nicht überlebt.Der einstige Familiensitz blieb, obwohl seine neuen Eigentümer die Mietwohnungen zumindest in den Obergeschossen behielten, im gesamten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Stammhaus der Familie Sachs. Der Firmengründer richtete sein Büro in der einstigen Wohnung Schopenhauers im Erdgeschoss ein, den zweiten Stock bewohnten die Eltern. Nach ihrem Tod bezog er deren Wohnung mit seiner Frau, von der er offensichtlich den späteren Namenszusatz Fuld übernahm. Aus dieser Ehe ging eine Tochter, Rosie, hervor. Diese lebte dort seit 1912 mit ihrem Mann, dem Architekten Ernst Hiller. Die übrigen, großzügig geschnittenen Räumlichkeiten wurden jedoch weiter nach dem Vorbild der Wertheimbers vermietet.
Der erste der illustren Gäste und Mieter des Schopenhauerhauses in dieser Epoche war ab 1860 der kommandierende General der österreichischen Garnison der Freien Stadt Frankfurt, Bayer, dessen Tochter Anna Lucia Franz noch kennenlernte. Bis zur Machtübernahme Preußens 1866 hielt er jeden Mittag in der Beletage des ersten Stocks offene Tafel. Nach 1866 folgte der Konsul Hartmann-Coustol. Im dritten Stock zog der Philologe und Gymnasialdirektor Tycho Mommsen, Bruder des Historikers Theodor Mommsen, ein. Er war von 1864 bis 1886 Direktor des Städtischen Gymnasiums, das seit 1839 seinen Sitz im nahegelegenen Arnsburger Hof an der Predigergasse hatte.
In den 1870er Jahren bezog der katholische Historiker Johannes Janssen die Wohnung Mommsens; von 1854 bis 1891 unterrichtete er Geschichte und katholische Religion am städtischen Gymnasium. In seiner Wohnung vollendete er sein achtbändiges Hauptwerk, Die Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, das ab den 1880er Jahren eine kontroverse Debatte auslöste. Janssen war unter dem Einfluss des Kulturkampfes ein Vertreter der ultramontanen Geschichtsschreibung und entschiedener Gegner der Reformation geworden. In seinem Werk versuchte er nachzuweisen, dass sie für negative gesellschaftliche, politische und konfessionelle Entwicklungen des 16. und 17. Jahrhunderts verantwortlich war. Dagegen wandten sich vor allem protestantische Kritiker, die mehrheitlich übersahen, dass seine ganzheitlich angelegte Sozialgeschichte trotz ihrer tendenziösen Wertung Bedeutendes auf dem Gebiet der zuvor sehr einseitigen Luther-Rezeption leistete.
Die Kritik, die ihm waschkorbweise ins Schopenhauerhaus gebracht wurde und der er einen Großteil seiner Kraft widmete, wurde von Zeitgenossen als Ursache seines relativ frühen und plötzlichen Todes am Heiligen Abend des Jahres 1891 angesehen. Den Trauerzug, der ihn am 27. Dezember von seinem Sterbehaus an der Schönen Aussicht über die Fahrgasse zum Hauptfriedhof geleitete, hielt der Frankfurter Maler Fritz Boehle in einem Gemälde fest.Die einstige Wohnung Schopenhauers bewohnte bereits kurz nach dessen Tod die Familie des Zollbeamten Schädlich. Anekdotisch ist überliefert, dass dessen Frau dort das 100. Lebensjahr erreichte und 1917 nach über fünfzigjährigem Mietverhältnis den Vermieter darum bat, doch anlässlich des Empfangs der Gratulanten die Wohnung neu tapezieren zu lassen. Dieser lehnte jedoch, angeblich mit Verweis darauf, dass die bisherigen Tapeten für den Rest ihrer Tage wohl genügen dürften, ab, worauf die Hochbetagte das Mietverhältnis kündigte und ein paar Häuser mainaufwärts zog, wo sie noch im selben Jahr der Tod ereilte.
=== Die Ära Fried Lübbeckes ===
Ebenfalls 1917 bezog der Frankfurter Kunsthistoriker Fried Lübbecke mit seiner Frau die Wohnung im dritten Stock. Etwa zeitgleich mieteten sich die Lebensmittelchemiker Reiss und Fritzmann mit einer Werkstatt in der einstigen Schopenhauer-Wohnung im Erdgeschoss sowie der Bildhauer Richard Petraschke in der Dachgeschosswohnung ein. Letztere war durch das riesige Zwerchhaus, das auch ein Pendant auf der Rückseite besaß, gut beleuchtet und ideal für ein Atelier geeignet. Dennoch hatten die Mieten laut Lübbecke ein äußerst bescheidenes Niveau, lag das Gebäude doch am Rande der damals bedeutungslosen und unsanierten Altstadt. Damit einher ging ihr Ruf als Hort der Kriminalität und Prostitution.Lübbecke erkannte in der Altstadt einen weitgehend von der übrigen Stadtentwicklung abgekapselt erhaltenen und eigenständigen Komplex mit hohem historischen und kunstgeschichtlichen Wert. Im Jahr 1922 gründete er den Bund tätiger Altstadtfreunde, der sich die Erhaltung und Instandsetzung der Frankfurter Altstadt zur Aufgabe machte. Ab Mitte des Jahrzehnts restaurierte der Bund, meist jedoch nur äußerlich, zahlreiche Häuser der Altstadt und rückte das mittelalterliche Ensemble im Herzen Frankfurts durch zahlreiche Veröffentlichungen, für die Lübbecke den Leica-Fotografen Paul Wolff gewinnen konnte, wieder in das allgemeine Bewusstsein.
Bereits 1923 hatte der Verein das bedeutende gotische Patrizierhaus Fürsteneck an der Fahrgasse erworben und sanieren lassen, das ab 1934 auch als Vereinssitz diente. Für Lübbecke selbst war dies ein Glücksfall, lag das Haus doch nur wenige Schritte von der Schönen Aussicht entfernt. Er schrieb:
Vorschläge Ernst Hillers kurz nach dem Ersten Weltkrieg, das Schopenhauerhaus umzubauen und in Kleinwohnungen zu unterteilen, lehnte der Eigentümer Moritz Sachs-Fuld angeblich mit der Begründung ab, dass man die darin wohnenden Geister der Musik nicht stören dürfe. Tatsächlich besuchten nach den Lebenserinnerungen Lübbeckes zahlreiche Musiker, vor allem der im Kuhhirtenturm auf der anderen Mainseite wohnende und mit ihm befreundete Komponist Paul Hindemith, regelmäßig das Schopenhauerhaus. Mit ihm kamen Künstler, Mäzene und Intellektuelle wie Alfredo Casella, Darius Milhaud, Elizabeth Sprague Coolidge, Ludwig Rottenberg, Hermann Scherchen, Julius Meier-Graefe, Edwin Redslob, Cornelius Gurlitt, Georg Swarzenski, Benno Elkan oder Reinhard Piper.Mit dem Eindringen des Nationalsozialismus in das öffentliche und damit auch geistige und kulturelle Leben der Stadt ging diese Ära zu Ende. 1935, als auch Ernst Hiller sechs Jahre nach dem Tod seiner Frau im Schopenhauerhaus starb, kam es zur offenen Konfrontation zwischen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und Fried Lübbecke. Streitpunkt war das seit 1924 bestehende Altstadt-Kinderheim des Bundes tätiger Altstadtfreunde, das sich auf den südmainischen Wiesen östlich der Sachsenhäuser Altstadt, heute dem Gelände des Deutschherrnviertels, befand. Es diente ganzjährig jeweils für vier Wochen 40 Kindern aus den ärmsten Haushalten der Altstadt kostenlos als Spielstätte, zur Verköstigung und Gesundheitsversorgung. Nun sollte es aus dem Verein herausgelöst und in die nationalsozialistischen Organisationsstrukturen eingegliedert werden.
Obwohl Fried Lübbecke durchaus auf die Sympathien des nationalsozialistischen Oberbürgermeisters Friedrich Krebs bauen konnte, war dieser in der Angelegenheit offenbar machtlos oder nicht gewillt, Widerstand zu leisten. Als der Vorsitzende des Altstadtbundes eine Übergabe verweigerte, rückten am Abend des 7. Mai 1935 SA-Männer in Zivil aus, stellten sich vor dem Schopenhauerhaus auf und forderten im Sprechchor den „Volksverräter Lübbecke“ zum Herauskommen auf. Dieser konnte mit seiner Frau jedoch über die engen Altstadtgassen entkommen und mittels einiger Freunde die Stadt verlassen. Die SA-Männer ließen daraufhin ihre Wut am Schopenhauerhaus und dem Vereinssitz Fürsteneck aus, die mit Parolen beschmiert und durchwühlt wurden. Fast sämtliche Frankfurter Tageszeitungen berichteten am nächsten Tag in Hetzartikeln über den „unsozialen Bund“ mit dem „Volksfeind“ an seiner Spitze.Lübbecke und seine Frau erhielten bereits nach einigen Tagen im „Exil“ in Bonn ein Telegramm des Oberbürgermeisters mit dem Inhalt: „Bitte zurückkehren. Alles bestens erledigt. Krebs.“ Allerdings hatte sich der zweite Vorsitzende des Altstadtbundes, Max Fleischer, in Lübbeckes Abwesenheit genötigt gesehen, das Kinderheim für den symbolischen Betrag von fünf Reichsmark im Jahr an die NSV zu vermieten. Als der Vertrag nach einem Jahr auslief, war das Heim laut der Schilderung Lübbeckes völlig ausgeplündert und verwahrlost. So stimmte er dem Vorschlag der SS zu, das Heim abzubrechen und auf dem anderen Mainufer als „Kameradschaftsheim“ wieder aufzubauen. Selbst dazu kam es nicht mehr, da die dort aufgestapelten Baumaterialien binnen weniger Tage verschwanden und wohl als Brennholz verwendet wurden.Nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze verschwanden mehr und mehr sowohl die ständigen Gäste als auch die Bewohner des Schopenhauerhauses. Der Großteil ging ins Exil in Übersee, andere, wie beispielsweise der sozialdemokratische Abgeordnete und Redakteur bei der Frankfurter Volkszeitung, Stephan Heise, kamen ins Vernichtungslager, das er wie weit über 10.000 vornehmlich jüdische Bürger der Stadt nicht überlebte. Eines natürlichen, aber dennoch unerwarteten Todes starb 1937 Richard Petraschke, nachdem er über zwei Jahrzehnte sein Atelier im Dachgeschoss gehabt hatte. Seine Arbeitsstätte bezog der Bildhauer Herbert Garbe.
Dreieinhalb Jahre nach den Unruhen um das Altstadtkinderheim wurde das Schopenhauerhaus in der Reichspogromnacht abermals verwüstet. Mit Brechstangen zertrümmerte der Mob die kostbare Einrichtung des Erdgeschosses mit der Büste Schopenhauers, die sich dort seit 1930 befand, ebenso das Flaschenlager im Keller, in dem am Tag danach kniehoch der französische Cognac stand. Verbrannt oder zerfetzt wurden neben den seit der Einrichtung der Weinhandlung im Haus lückenlos geführten Bestandsbüchern auch die Bilder der im Ersten Weltkrieg gefallenen Kinder der Familie Weiß, die die Geschäfte von Sachs & Höchheimer seit Anfang des 20. Jahrhunderts unter eigenem Namen fortführte.Zu Beginn des Jahres 1939 bot der hochbetagte Moritz Sachs-Fuld das Haus der Stadt zur Nutzung als Schopenhauer-Museum an. Pläne dafür hatte es schon vor dem Ersten Weltkrieg gegeben. Das späte Angebot des Eigentümers dürfte vor allem im Zusammenhang damit zu sehen sein, dass der einzige in Frage kommende männliche Erbe, der Enkel Hans Sachs-Hiller, 1938 Selbstmord begangen hatte. Die nationalsozialistische Stadtverwaltung ging darauf jedoch nicht mehr ein: Mit einem – freilich nur unter dem repressiven Klima der Zeit zustandgekommenen – Vertrag vom 3. April desselben Jahres erwarb sie für 1,8 Millionen Reichsmark sämtlichen jüdischen Grundbesitz der Stadt. Darunter fiel auch das Schopenhauerhaus. In der Folge schickte sie ohne weitere Korrespondenz Handwerker zur Einrichtung des Museums in das Haus. Sachs-Fuld, der es auf keinen Streit mehr ankommen ließ, starb dort 1940 im Alter von über 90 Jahren.
=== Untergang, Nachkriegszeit und Gegenwart ===
Schon im selben Jahr erlebte Frankfurt am Main die ersten Luftangriffe, die jedoch anfangs kaum nennenswerte Schäden verursachten und den an Kulturdenkmälern so reichen Stadtkern noch verschonten. Nach den Angriffen auf Lübeck, vor allem aber auf Köln war jedoch klar, dass auch die größte Stadt des damaligen Hessen-Nassau jederzeit Ziel vernichtender Angriffe werden könnte, weswegen von nun an verstärkt im Zuge der Altstadtaufnahme Fassadenabwicklungen des gesamten alten Stadtkerns angelegt wurden. Das Innere bestimmter Gebäude wie auch des Schopenhauerhauses dokumentierte man sogar in Grundrissen und Schnittzeichnungen, und noch 1943 hielt Paul Wolff einen Großteil des klassizistischen Bauerbes der Stadt, darunter nahezu das gesamte Fischerfeldviertel, in Fotografien fest.Im Oktober dieses Jahres traf dann auch der erste schwere Luftangriff die Altstadt, der vor allem im nördlichen Teil um die Töngesgasse schwerste Verwüstungen anrichtete, aber auch herausragenden Einzelbauten wie dem Großen Braunfels am Liebfrauenberg oder dem Römer irreversible Schäden zufügte. Eine auf Höhe des Kuhhirtenturms explodierende Luftmine zerstörte die Scheiben aller Häuser an der Schönen Aussicht, also auch des Schopenhauerhauses, ansonsten blieb die klassizistische Stadterweiterung aber noch weitgehend ohne Schäden.
Der bis dahin schwerste Angriff ereignete sich am 29. Januar 1944, der das Frankfurter Stadtarchiv am Dom neben dem Leinwandhaus, eines der bis dahin reichsten in Deutschland, vernichtete. Es büßte dabei große Teile seiner Bestände ein. Das nach dem Schopenhauerhaus zweitgrößte Gebäude an der Schönen Aussicht, das Willemer-Dötschesche Haus (Nr. 9), wurde von drei Sprengbomben getroffen, die es bis in den Keller durchschlugen und vollständig zerstörten. Dabei verloren auch sämtliche Menschen im Keller, die sich in den massiven Gewölben in Sicherheit gewähnt hatten, ihr Leben.
Eine weitere Sprengbombe schlug in den Hochkai direkt vor dem Schopenhauerhaus ein, riss ein sechs Meter tiefes Loch und schleuderte die nahezu zwei Meter dicke Futtermauer – eigentlich die ehemalige gotische Stadtmauer zum Main – auf den Tiefkai. Die Pflastersteine der Straße durchschlugen wie Schrapnells das Dach, der Druck zerstörte sämtliche Türen und die gerade erst notdürftig wiederhergestellten Fenster, das Haus blieb jedoch abermals in seiner Substanz unversehrt. Auch beim ersten der drei Märzangriffe, die die gesamte Altstadt zerstörten, konnte das Gebäude nochmals gerettet werden, als es gelang, über zwanzig durch Brandbombentreffer verursachte Brandherde im Dach und dritten Obergeschoss zu löschen.
Übersehen hatte man dabei allerdings, dass sich ein Schwelbrand über die Durchbrüche in den Brandmauern des bereits niedergebrannten Nachbarhauses im Westen ausbreitete und auf die im Keller ausgelagerten Ausstattungsstücke übergriff. Doch auch diesen Brand konnte die Feuerwehr als einen von wenigen jener Tage noch unter Kontrolle bringen, indem sie den Keller mit Mainwasser vollpumpte, was auch die letzten Reste des dort befindlichen Inventars zerstörte. Das lange Schwelen hatte die Brandmauer jedoch im Fuß so durchgeglüht, dass sie langsam gen Westen aus dem Lot wich und herabzustürzen drohte, weswegen man dann doch die ordentliche – das heißt mit Sicherung des Hausstandes – Räumung des Gebäudes anordnete.Die Möbelwagen kamen jedoch zwölf Stunden zu spät, denn am Abend des 22. März 1944 traf die Stadt der schwerste Luftangriff des Zweiten Weltkriegs. Fried Lübbecke schrieb die Erinnerungen an den Angriff im April 1944 in Bad Homburg in seinem Text Abschied vom Schopenhauerhause nieder, der als eines der wichtigsten zeitgenössischen Dokumente über die Zerstörung der Stadt gilt. Er wird hier in Auszügen wiedergegeben:
Trotz des geschilderten Zerstörungsgrades und der Menge der an jenem Abend abgeworfenen Bomben überstanden einige wenige Gebäude an der Schönen Aussicht den Zweiten Weltkrieg unbeschadet. Dies war bei den Hausnummern 12 und auch 15, dem direkten östlichen Nachbarn des Schopenhauerhauses, der Fall. Auch vom Hinterhaus blieb nahezu die gesamte Fassade zur Straße Hinter der Schönen Aussicht stehen.
Beim Wiederaufbau des Fischerfeldviertels nahm man etwas mehr Rücksicht auf den überkommenen Stadtgrundriss als in der übrigen Altstadt. Dies dürfte jedoch kaum einem historischen Bewusstsein als vielmehr der Tatsache, dass das Viertel und die Parzellenstruktur bereits weitgehend den Anforderungen der 1950er Jahre genügte, zuzuschreiben sein.
So wurde zumindest an den zum Main hin gelegenen Blöcken weitgehend die alte Blockrandbebauung unter Beibehaltung der Straßenbreiten und sogar der überwiegenden Einbeziehung der alten Kellergeschosse wieder aufgenommen. In zweiter Reihe prägen allerdings im Vergleich zum historischen Bestand unmaßstäbliche Großbauten wie das jetzige Gebäude des Stadtplanungsamtes oder das des Museums Judengasse das Bild. Außerdem ist eine zunehmende Auflösung der alten Struktur zugunsten beispielsweise als Parkplatz genutzter Freiflächen festzustellen.
Auch auf dem Gelände des einstigen Schopenhauerhauses entstand wohl in den frühen 1950er Jahren ein zeittypischer Zweckbau als Eckhaus, da die einst westlich angrenzenden Hausnummern 17 und 18 dem Durchbruch der Kurt-Schumacher-Straße zum Opfer fielen. Das unbeschädigt gebliebene Haus Nr. 15 wurde, wie aus dem Vergleich von Fotografien hervorgeht, spätestens bis etwa 1970 abgebrochen. Von ihm zeugte noch bis 2010 ein letzter Rest in Form einer Fensterachse der Fassade des Erdgeschosses.
Im Februar 2010 wurde bekannt, dass die FRAN Besitz- & Verwaltungs-GmbH aus Weiterstadt die Baugenehmigung für ein 54-Zimmer-Hotel auf den Parzellen der einstigen Häuser Schöne Aussicht 13–15 erhalten hatte. Das mit der Ausarbeitung beauftragte Architekturbüro war SpaBau aus Modautal. Das Hotel, das ursprünglich den Namen Schopenhauer-Hotel erhalten sollte, wurde im Frühjahr 2019 als Hotel My Main eröffnet.
Beim Aushub der Baugrube war auch der letzte bis dahin erhaltene Rest des einstigen Nachbarn des Schopenhauerhauses verschwunden. Später kamen nicht nur Reste der klassizistischen Keller, sondern auch die von Fried Lübbecke beschriebenen, mittlerweile zugemauerten Durchbrüche zu den offenbar erhaltenen Kellern der Nachbarhäuser, also auch zum Keller des westlich angrenzenden ehemaligen Schopenhauerhauses, zum Vorschein. Nach dem Abräumen der Kellerreste stieß man auf noch weit ältere Mauerreste, die das Denkmalamt der Stadt der um 1200 errichteten Staufenmauer zuordnet. Bei einer ebenfalls aufgedeckten, parallel verlaufenden Mauer könnte es sich um die der zweiten Stadterweiterung ab 1333 handeln. Aus Sicht des Amtes war der „Erhalt der Mauern und die Integration in den Neubau […] kaum möglich und auch nicht sinnvoll“, mittlerweile wurden sie durch weitere Gründungsarbeiten zerstört.
== Architektur ==
=== Allgemeines ===
Wie aus der Planung von Johann Georg Christian Hess ersichtlich ist (vgl. Geschichte), sollten die Schöne Aussicht und die nach Norden anschließenden Straßen parallel, die Querstraßen im rechten Winkel zum Mainufer verlaufen. Gleichzeitig musste aber die westlich gelegene Altstadt, vor allem die Fahrgasse, angebunden werden, die im Verhältnis zum neuen Stadtteil etwas nach Westen bog. Der Übergang wurde dadurch hergestellt, dass die westlichsten Teile der Parallelstraßen zum Main, namentlich der Brückhofstraße und Hinter der Schönen Aussicht (als Sackgasse), nach Süden abknickten und so annähernd rechtwinklig auf die Fahrgasse stießen.
Jede andere Straßenführung hätte weit mehr Bauten vor allem an der Ostseite der Fahrgasse und wohl auch den Arnsburger Hof an der Predigerstraße zerstört. Aus dieser für den Geist der Zeit bemerkenswerten, wenn auch wohl primär in Sorge um den zu erwartenden Widerstand der Anwohner getroffenen Rücksichtnahme auf den Altbaubestand ergaben sich jedoch nicht die erwünschten rechteckigen, sondern eher trapezförmige Parzellen. Dies war bei den Häusern Schöne Aussicht 15–18 sowie Hinter der Schönen Aussicht 18, 19, 21 und 23 der Fall. Für das Eck-Doppelhaus Schöne Aussicht 17/18 / Fahrgasse 2 / Hinter der Schönen Aussicht 23 ergab sich gar ein fünfeckiger Zuschnitt.
Das östliche Nachbarhaus Schöne Aussicht 16 / Hinter der Schönen Aussicht 21, das Schopenhauerhaus, stand ebenfalls auf einer trapezförmigen Parzelle, da das Hinterhaus an dem Abschnitt der Straße Hinter der schönen Aussicht lag, wo diese nicht parallel mit dem Mainufer verlief. Wie im geschichtlichen Teil bereits angeführt, entstand es eigentlich auf anderthalb Parzellen. Das Grundstück war an der Schönen Aussicht rund 30, an der tiefsten Stelle, der östlichen Flanke, circa 32,40 Meter breit und insgesamt etwa 830 Quadratmeter groß.
=== Äußeres ===
Das an der Schönen Aussicht rund 23 Meter hohe viergeschossige Gebäude war vertikal in elf Achsen gegliedert und wurde von einem flachen, eingeschossigen Satteldach mit beidseitigen großen Zwerchhäusern und je vier flankierenden Dachgauben abgeschlossen. Der rückwärtige Innenhof hatte die Form eines liegenden, wenig tiefen Rechtecks. Die dorthin gewandte Rückfassade des Vorderhauses zeigte eine analoge Gestaltung; seitlich begrenzten den Innenhof ebenso hohe Seitenflügel. Die Nordseite des Hinterhofs schloss ein dreiteiliges, zweigeschossiges Hinterhaus mit flachem Satteldach und einer Fassade zur Straße Hinter der Schönen Aussicht ab.
Vom Material her handelte es sich um verputzte Ziegelbauten mit Holzdachwerk und Holzbalkendecken, die Dächer waren bis auf geringe Teile der Zwerchhäuser mit Naturschiefer gedeckt. Stilistisch stellte die gesamte Anlage einen Vertreter hochklassizistischer Architektur dar, der sich völlig frei von Einflüssen des Empire-Stils zeigte, welcher um die Bauzeit andernorts in der Stadt durchaus Rezeption fand. Die einzigen Schmuckelemente orientierten sich an der dorischen Säulenordnung der Antike.
==== Schöne Aussicht ====
Das Bodenniveau des Erdgeschosses an der Schönen Aussicht lag aufgrund des hohen Kellers mit 1,25 Metern deutlich über dem Straßenniveau und war von diesem an der Fassade auch optisch durch ein 0,15 Meter starkes Gesims getrennt. Verschließbare, rechteckige Öffnungen von 1,30 Meter Breite und 0,25 Meter Höhe in der horizontalen Gliederung als unterstes Element einer jeden Achse ermöglichten die Beleuchtung der Kellerräume.
Es folgte in der horizontalen Gliederung eine nicht gestaltete Putzfläche von etwa einem Meter Höhe, die abermals ein 0,30 Meter hohes Gesims vom nächsten Element trennte und zugleich durch ihr Hervortreten auch die Fensterbänke bildete. Zwischen den 1,30 Meter breiten und 2,50 Meter hohen Rundbogenfenstern war der Putz durch Fugenschnitt belebt. Auf Höhe des Kämpfers zwischen Rechteck und Rundbogen der Fenster durchlief ein weiteres, 0,15 Meter starkes Gesims das gesamte Geschoss. Durch die schmale, dem Rundbogen folgende Verdachung der Fenster, die auf dem Gesims auflag, ergab sich der Eindruck einer Pilastergliederung.
Die genannte Gestaltung galt für die vier westlichsten und östlichsten Achsen. Die drei mittleren Achsen bildeten dagegen im Erdgeschoss einen um 1,85 Meter aus der Fassade hervortretenden Portikus. Dieser öffnete sich wie die flankierenden Fenster in Rundbogenöffnungen zur Straße. Letztere waren dort mit 1,85 Meter Breite und 2,65 Meter Höhe jedoch deutlich größer bemessen. Die einfach profilierten Bögen wurden mittig von zwei Säulen mit 0,50 Meter Durchmesser, in den Ecken von ebenso großen Pilastern mit dorischen Kapitellen getragen. Die beiden seitlichen Achsen, die an der Hauswand die gleichen Fenster wie das übrige Erdgeschoss besaßen, schlossen zur Straße mit einer schlichten Attika ab, deren Oberkante mit den Fensterbrüstungen auf einer Ebene lag.
In der mittleren Achse des Portikus überbrückte eine 1,35 Meter hohe Treppe mit zehn Stufen, absperrbar mit einem einfachen schmiedeeisernen Gitter, den Höhenunterschied zur Schönen Aussicht. Dahinter lag die rundbogig abgeschlossene Öffnung der Eingangstür von 1,70 Meter Breite und der stattlichen Höhe von 3,75 Metern. Sie wurde von zwei quadratischen Pfeilern mit 0,5 Meter Kantenlänge flankiert, die zusammen mit den Säulen des Vorbaus als Auflager für die drei Tonnengewölbe des Portikus dienten.
Der horizontalen Gliederung folgten nach weiteren 1,80 Metern und zwei Gesimsen, von denen das obere abermals die Fensterbänke ausmachte, die rechteckigen Fenster des ersten Obergeschosses von 1,30 Meter Breite und 2,50 Meter Höhe. Ihre einzige Dekoration bestand in einem leichten Hervortreten der Gewände gegenüber der Fassade und einer schlichten Konsolverdachung. Bis auf den geraden Abschluss waren die Fenster mit einem Setzholz, Kämpfern im oberen Drittel und zwei Längssprossen identisch mit denen des Erdgeschosses.
Auch im ersten Obergeschoss waren die drei mittleren Achsen besonders gegliedert. Den Portikus überdachte ein Balkon mit schlichter, bis etwa auf Höhe der Fensterbänke des Geschosses reichender Brüstung. Die mittlere, als Tür ausgebildete Achse ermöglichte das Betreten vom ersten Stock aus. Anstatt einer Konsolverdachung waren Fenster und Tür des Balkons von insgesamt vier Pilastern mit dorischen Kapitellen flankiert. Diese trugen ein etwas höher als die Verdachung der flankierenden Fenster liegendes Gebälk mit Scheibenfries, Zahnschnitt und abschließendem Geison.
Die Fenster im zweiten Stock, 1,40 Meter oberhalb der Konsolverdachung des ersten Stocks und eines Fensterbankgesimses waren 2,25 Meter hoch und 1,30 Meter breit. Beim darüber liegenden Stockwerk waren sie bei gleicher Breite 1,85 Meter hoch. Eine Profilierung der Gewände oder Verdachung fehlte völlig, die Gliederung der Fensterfläche entsprach den unteren Geschossen. Im dritten Stock waren dem Drittel unterhalb der untersten Längssprosse jeweils einfache Gitter vorgesetzt.
Das dritte Geschoss besaß in den drei mittleren Achsen ebenfalls einen, dort jedoch nur um 0,8 Meter hervortretenden Balkon. Er ruhte auf sechs Konsolsteinen, deren Unterseite eine leichte S-Kurve beschrieb. Jeweils zwei waren flankierend zur mittleren Achse zu einer Gruppe zusammengefasst, je ein weiterer beschloss östlich und westlich mit einer Achse Abstand den Balkon. Er war mit 1,30 Meter Breite etwas schmaler als der darunterliegende Balkon bzw. der Portikus.
Um den Balkon auf die gleiche Ebene zu verlegen wie die Balkenlage des dritten Stocks, setzten die Kragsteine nur etwa 0,40 Meter oberhalb der Fenster des zweiten Stocks an. Dieser lag somit auch 0,2 Meter unterhalb des Gesimsbandes, das die Fensterbänke des dritten Stocks bildete. Auch dort öffnete sich die mittlere Achse als Tür zum Balkon, ebenso flankierten insgesamt vier dorische Pilaster die Fenster, die jedoch keine Verdachung trugen.
Über die gesamte Hausbreite folgte nach einem durch schlichte Profile belebten Meter oberhalb der Fenster die Dachtraufe. Nach einem weiteren Meter Dachhöhe beschlossen schlichte Giebelgauben von einem halben Meter Breite und einem Meter Höhe die horizontale Gliederung. Die vertikale endete in den mittleren drei Achsen mit einem kapitalen Zwerchhaus von 9,15 Meter Breite und 5,5 Meter Höhe bis zu dessen Giebelabschluss. In seiner Gestaltung nahm es weitgehend Elemente des Erdgeschosses wieder auf.
Zwischen zwei starken Gesimsbändern befanden sich 1,25 Meter breite und 2,50 Meter hohe Rundbogenfenster. Das untere Gesimsband verlief etwa 0,5 Meter oberhalb der Trauflinie und bildete die Fensterbänke, das obere befand sich auf Höhe des Kämpfers zwischen Rechteck und Rundbogen der Fenster. Letztere wie auch die Ecken wurden abermals von Pilastern mit dorischen Kapitellen innerhalb der Gesimsgrenzen begleitet. Zu den Seiten bestand eine kurze Verkröpfung der gesamten Fassade, um eine massive Steinwand vorzutäuschen, auf die eine für den Rest des Dachs typische Verschieferung folgte.
==== Innenhof und Hinter der Schönen Aussicht ====
Die Rückfassade des Haupthauses zum Hinterhof besaß im Gegensatz zum Vorderhaus nur neun Achsen. In den Abmessungen und der Anzahl waren die einzelnen Fenster der unterschiedlichen Geschosse aber identisch. Einzig der Keller hatte nur in den jeweils drei äußersten Achsen Öffnungen. Jedoch war die Fassade dort flach und völlig ungestaltet.
Im Erdgeschoss der mittleren Achse öffnete sich eine Tür von 1,70 Meter Breite und 3,20 Meter Höhe zu einem Zwischenpodest. Von dort führte seitlich eine zweiläufige Treppe in den Innenhof. Als Kunstgriff des Baumeisters lag das Bodenniveau des Innenhofs deutlich niedriger als die Schöne Aussicht. So ermöglichte der Hof den ebenerdigen Zugang in den Keller des Vorderhauses unterhalb des Zwischenpodests der Treppe.
An das Hinterhaus anschließende Seitenflügel mit je zwei Fensterachsen von 1,25 Meter breiten und 1,80 Meter hohen Fenstern bildeten die Begrenzungen des Hofs. Sie leiteten zu einem nur zweistöckigen Hofgebäude mit Satteldach über, das die Parzelle zur Straße Hinter der Schönen Aussicht abschloss. Wegen der ungewöhnlichen Parzellenform war die Hofseite dieses Gebäudes parallel zum Vorderhaus ausgeführt, die Straßenfassade aber parallel zur Straße, so dass sich in der Aufsicht die Form eines zusammengedrückten Trapezes ergab.
Da bereits der Eingang des Vorderhauses an der Schönen Aussicht über den Hinterausgang in einer Sichtachse mit jenem Hofgebäude lag, hatte der Baumeister hier einen weiteren Kunstgriff angewandt. In das Hinterhofgebäude war in der Mitte eine breite halbrunde Apsis mit der Hofeinfahrt eingeschnitten. Zwei die Einfahrt im Hof flankierende Nischen mit vergitterten Rundbogenabschlüssen verbesserten das Erscheinungsbild weiter. Der edle Eindruck wurde durch einen Pfeilerumgang über einem Attikagesims im oberen Bereich der Attika verstärkt.
Die an den Seiten der Apsis liegenden Teile des Hofgebäudes waren höchst zweckmäßig gestaltet. Die größten Räume der Erdgeschosse besaßen je zwei über eine Mittelsäule gekuppelte, fast vier Meter hohe und mit Stichbogen geschlossene Öffnungen. Östlich beziehungsweise westlich, also schon fast in den Hofecken, befanden sich kleine Türen zu den Nebenräumen.
Oberhalb des Scheitels eines jeden Bogens wurde nach weiteren 1,75 Metern Höhe das Obergeschoss des Hofgebäudes über ein kleines, nahezu quadratisches Fenster beleuchtet. Es wiederholte sich auf gleicher Höhe nochmals oberhalb der kleinen Türen. Auf Höhe des Pfeilerumgangs, horizontal genau zwischen den beiden quadratischen Fenstern oberhalb der Scheitel, befand sich jeweils ein dem Ober- und dem Dachgeschoss dienendes halbrundes Fenster.
Auch die Fassade des Hofgebäudes zur Straße Hinter der Schönen Aussicht war ähnlich zweckmäßig gegliedert. Zwei Gesimsbänder teilten die Fassade horizontal in drei gleiche Teile. Das Zentrum bildete das 4,20 Meter hohe Portal der Einfahrt im Erdgeschoss. Aus dem unteren Gesimsband waren dort flankierend je vier Fenster entwickelt, die jedoch größtenteils nur aus dem oberen Rundbogen bestanden. Nur auf der Ostseite befand sich in der Achse direkt neben dem Tor ein kleiner Eingang. Aus dem darüberliegenden Gesimsband entwickelten sich in der Achsreihung kleine quadratische Fenster. Abgeschlossen wurde die Fassade von halbrunden Fenstern oberhalb der mittleren und in der jeweils vorletzten Achse, die nahezu denen der Hoffassade entsprachen.
=== Inneres ===
Hier kann nur das Haupthaus beschrieben werden, da über das Innere des Hinterhauses bis auf die Tatsache, dass es ebenso wie der Innenhof unterkellert war, nur wenig bekannt ist.
Nach dem einzigen veröffentlichten Grundriss, der eine besonders detaillierte Beschreibung des Erdgeschosses ermöglicht, diente es ehemals als Stall für die Pferde, Remise für die Kutschwagen sowie als Waschküche und zuletzt vor allem als Magazin. Nach Fried Lübbecke befand sich in der ehemaligen Kutscherwohnung in den Obergeschossen zuletzt die Wohnung des Hausmeisters, das Dach diente zur Einlagerung von Heu und Stroh für die Pferde.Im gesamten Haupthaus verbanden Doppeltüren alle Räume. Nur Küchen und Toiletten hatten einflügelige Eingänge. In den rechten Pfosten aller Türen befanden sich dort vom einstigen Bauherren eingesetzte, bis zuletzt überwiegend erhaltene Mesusahs, also Kästen mit einer Pergamentrolle mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis. Fast alle Stockwerke einschließlich des Daches hatten Deckenhöhen von 5 Metern, nur das dritte Geschoss war 3,5 Meter hoch. Der Grundriss war jeweils an einer gedachten vertikalen Mittelachse spiegelsymmetrisch; oft bildete sich auch an einer fiktiven horizontalen Mittelachse nahezu eine Symmetrie aus.
==== Keller und Erdgeschoss ====
Über den Innenhof erreichte man den gewölbten, 2,25 Meter hohen Keller des Hauptbaus, der von sechs niedrigen quadratischen Mittelpfeilern gestützt wurde. Der Haupteingang an der Schönen Aussicht führte zu einem im Grundriss rechteckig stehenden Eingangsraum, den ein Tonnengewölbe überspannte. Daran schloss ein rechteckig liegender Windfang an, der nach Osten zu einem Vorraum, nach Westen zu einem Flur führte. Nach Norden betrat man vom Windfang aus das von vier korinthischen Säulen getragene Atrium mit dem Treppenhaus beziehungsweise die dahinterliegende zweiläufige Treppe hinunter zum Innenhof.
Westlich und östlich des Eingangsraums lagen gleichartige Vorräume von drei Meter Breite und sechs Meter Tiefe mit je einem Fenster zum Portikus an der Straße. Der im Ostflügel war Schopenhauers einstige Bibliothek. Es schlossen flankierende, mit sechs Meter Breite auf sechs Meter Tiefe quadratische, zuletzt als, im Falle des Philosophen, Wohn-, auf der anderen Seite als Schlafzimmer genutzte Räume mit je zwei Fensterachsen und Türen nach Norden zum Flur an. Es folgten als größte Räume des Erdgeschosses Zimmer von sechs Meter Breite und acht Meter Tiefe. Schopenhauer nutzte das auf der Ostseite als Schlafzimmer, das auf der Westseite diente zuletzt als Wohnzimmer. Auch sie hatten jeweils zwei Fenster und waren so tief, weil in sie der bei den anderen Räumen vom Flur beanspruchte Raum einbezogen war.
Zum Flur öffneten sie sich durch Türen in der Nordwest- beziehungsweise Nordostecke, ferner zu Hinterzimmern nach Norden, die nahezu die Größe der Schlafzimmer an der Straßenseite hatten. Auf der Ostseite handelte es sich dabei um die ehemalige Küche Schopenhauers, auf der Westseite um einen zuletzt als Schlafzimmer genutzten Raum. Sie hatten jeweils ein Fenster zum Hof; von einem kleinen Nebenraum unterbrochen schlossen sich nach Norden auch die Seitenflügel mit eigenen Treppenhäusern an. Auf der Ostseite diente ein kleiner, wohl kaum mehr als drei Meter breiter und drei Meter tiefer Nebenraum als Wohnung der Haushälterin Schopenhauers.Die einzige Asymmetrie im Grundriss ergab sich nur bei den Räumen, die die Hinterzimmer östlich und westlich flankierten, da die Treppenspindel auf der Ostseite rund ein Drittel des Grundrisses beanspruchte, was auf der Westseite nicht der Fall war. Der Architekt hatte sich auf der erstgenannten Seite durch Aufteilung in drei kleine Räume mit je einem Hoffenster sowie mit einer Vergrößerung des angrenzenden Flurs zu dem bereits erwähnten Vorraum beholfen. Erstere waren nur über die Küche erreichbar und dienten zuletzt als Archiv, Kammer und Zählerraum. Auf der Westseite ließ sich dagegen in einem großen, nach Süden zum Flur erschlossenen Raum mit zwei Fenstern zum Hof eine weitere Küche unterbringen.
An das Atrium des Treppenhauses schloss sich ein zwei Meter breiter Treppenlauf aus Eichenholz mit einer Stufenhöhe von nur 0,15 Metern an. Von dort schwang sich die Treppe in Halbkreisen um einen durch zwei Fensterachsen der Rückwand stets belichteten Schacht zu den Podesten der Etagen hoch, die jeweils durch eine breite Doppeltür zu betreten waren. Im Erdgeschoss befand sich unterhalb der Treppe hinter einer Blindtür eine Kammer mit einer Toilette.
==== Obergeschosse ====
Auch im Grundriss der Obergeschosse ist deutlich der Einfluss der barocken Architektur, speziell des französischen Hotels jener Zeit zu erkennen. Zum Main hin reihten sich wie bei der Enfilade von Schlossanlagen jeweils fünf mit Flügeltüren verbundene Wohnräume, wobei sich die Türen jeweils dicht an der Außenwand befanden, um die Räume nicht zu zerschneiden.
Dabei war der mittlere, der Salon, mit je drei Fenstern, im ersten und dritten Stock mit Balkon, bei neun mal sechs Metern jeweils am größten. Die flankierenden Räume hatten Maße von sechs mal sechs, die Eckzimmer von acht mal sechs Metern. Hinter diesen fünf Vorderzimmern befand sich ein zwei Meter breiter, 20 Meter langer, zum Treppenhaus hin verglaster Korridor. An den Gang schlossen sich nach Norden in den kurzen Seitenflügeln frühere Bade- und Mädchenzimmer mit eigenen Treppen an.
Vom Dachgeschoss, das über Jahrzehnte die Ateliers von Bildhauern beherbergte, ist, bis auf die sehr gute Belichtung durch die großen Zwerchhäuser zu beiden Seiten, nichts überliefert.
== Archivalien und Literatur ==
=== Archivalien ===
==== Historisches Museum Frankfurt ====
Skizzenbücher der Gebrüder Treuner.
==== Institut für Stadtgeschichte ====
Bestand Rechnei vor 1816, Signatur 752.
=== Literatur ===
==== Hauptwerke ====
Lucia Franz-Schneider: Erinnerungen an das Schopenhauerhaus Schöne Aussicht Nr. 16 in Frankfurt am Main. Von Lucia Franz-Schneider niedergeschrieben im Jahre 1911. Mit einem Nachwort von Fried Lübbecke. 2. Auflage. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-7829-0347-1.
Georg Hartmann, Fried Lübbecke: Alt-Frankfurt. Ein Vermächtnis. Verlag Sauer und Auvermann KG, Glashütten/Taunus 1971, S. 226, 227 u. 321–330.
Wolfgang Klötzer (Hrsg.): Frankfurter Biographie. Personengeschichtliches Lexikon (= Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission. Band XIX, Nr. 2). Zweiter Band: M–Z. Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-7829-0459-1. , S. 329–334.
Günther Vogt: Frankfurter Bürgerhäuser des Neunzehnten Jahrhunderts. Ein Stadtbild des Klassizismus. Neuauflage. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-7973-0189-8, S. 17–29, 52–60, 123–129 u. 275.
==== Verwendete, weiterführende Werke ====
Adreßbuch für Frankfurt am Main und Umgebung 1916. Unter Benutzung amtlicher Quellen. Mit der Beigabe: Großer Plan von Frankfurt a. M. und Umgebung. Verlag August-Scherl Deutsche Adreßbuch-Gesellschaft m. b. H., Frankfurt am Main 1916.
Bernd Baehring: Börsen-Zeiten. Frankfurt in vier Jahrhunderten zwischen Antwerpen, Wien, New York und Berlin. Selbstverlag der Frankfurter Wertpapierbörse, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-925483-00-4.
Wolfgang Bangert: Baupolitik und Stadtgestaltung in Frankfurt am Main. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Städtebaues in den letzten 100 Jahren. Verlag Konrad Triltsch, Würzburg 1937.
Johann Georg Battonn: Oertliche Beschreibung der Stadt Frankfurt am Main – Band I. Verein für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1861 (online).
Johann Georg Battonn: Oertliche Beschreibung der Stadt Frankfurt am Main – Band II. Verein für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1863.
Johann Conradin Beyerbach: Sammlung der Verordnungen der Reichsstadt Frankfurt. Fünfter Theil. Verordnungen welche die Communication im Handel und Wandel zum Endzweck haben. Herrmannische Buchhandlung, Frankfurt am Mayn 1798.
Johann Friedrich Boehmer, Friedrich Lau: Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt. Zweiter Band: 1314–1340. J. Baer & Co, Frankfurt am Main 1905.
Gerhard Bott: Die angenehme Lage der Stadt Frankfurt am Main. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1954.
Alexander Dietz: Frankfurter Handelsgeschichte – Band IV, 2. Herman Minjon Verlag, Frankfurt am Main 1925.
Alexander Dietz: Stammbuch der Frankfurter Juden. Geschichtliche Mitteilungen über die Frankfurter jüdischen Familien von 1349–1849, nebst einem Plane der Judengasse. Verlag von J. St. Goar, Frankfurt am Main 1907.
Friedrich Siegmund Feyerlein: Ansichten, Nachträge und Berichtigungen zu A. Kirchners Geschichte der Stadt Frankfurt am Mayn. Frankfurt und Leipzig 1810 (online).
Johann Wolfgang von Goethe: Goethe’s Werke. Vollständiger Ausgabe letzter Hand. Acht und vierzigster Band. J. G. Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart und Tübingen 1833 (online).
Evelyn Hils: Johann Friedrich Christian Hess. Stadtbaumeister des Klassizismus in Frankfurt am Main von 1816–1845. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-7829-0364-1 (Studien zur Frankfurter Geschichte 24).
Heinrich Sebastian Hüsgen: H. S. Hüsgen’s Getreuer Wegweiser von Frankfurt am Main und dessen Gebiete für Einheimische und Fremde nebst einem genauen Grundriß der Stadt und einer akkuraten Charte von deren Gebiete. Behrenssche Buchhandlung, Frankfurt am Main 1802 (online).
Anton Kirchner: Ansichten von Frankfurt am Main der umliegenden Gegend und den benachbarten Heilquellen. Erster Theil. Verlag der Gebrüder Wilmans, Frankfurt am Main 1818.
Heinz Ulrich Krauß: Frankfurt am Main: Daten, Schlaglichter, Baugeschehen. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-7973-0626-1.
Georg Ludwig Kriegk: Deutsches Bürgerthum im Mittelalter. Neue Folge. Rütten und Löning, Frankfurt am Main 1871.
Georg Ludwig Kriegk: Frankfurter Bürgerzwiste und Zustände im Mittelalter. Ein auf urkundlichen Forschungen beruhender Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgerthums. J. D. Sauerländer’s Verlag, Frankfurt am Main 1862 (online).
Friedrich Krug: Die Hausnummern zu Frankfurt am Main, in einer vergleichenden Uebersicht der neuen mit den alten, und umgekehrt, zusammgestellt. Georg Friedrich Krug’s Verlags-Buchhandlung, Frankfurt am Main 1850.
Fried Lübbecke: Das Antlitz der Stadt. Nach Frankfurts Plänen von Faber, Merian und Delkeskamp 1552–1864. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1952.
Fried Lübbecke: Der Muschelsaal. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1960.
Fried Lübbecke: Spätlese vom Altstadtvater Fried Lübbecke. Bund tätiger Altstadtfreunde zu Frankfurt am Main E. V., Frankfurt am Main 1964.
Christoph Mohr: Stadtentwicklung und Wohnungspolitik in Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert. Habelt, Bonn 1992, ISBN 3-7749-2549-6 (Beiträge zum Denkmalschutz in Frankfurt am Main 6).
Karl Nahrgang: Die Frankfurter Altstadt. Eine historisch-geographische Studie. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1949.
Heinrich von Nathusius-Neinstedt: Baldemars von Peterweil Beschreibung von Frankfurt. In: Verein für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt am Main (Hrsg.): Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst. Dritte Folge, Fünfter Band, K. Th. Völcker’s Verlag, Frankfurt am Main 1896.
Tobias Picard: Wohnen, Leben und Arbeiten am Fluß. Die Mainufer im 19. und 20. Jahrhundert in Bildern und Fotografien. In: Dieter Rebentisch und Evelyn Hils-Brockhoff im Auftrag der Gesellschaft für Frankfurter Geschichte e. V. in Verbindung mit dem Institut für Stadtgeschichte (Hrsg.): Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst. Band 70, Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 2004.
Ludwig Schemann: Schopenhauer-Briefe. Sammlung meist ungedruckter oder schwer zugänglicher Brief von, an und über Schopenhauer. Mit Anmerkungen und biographischen Analekten. Nebst zwei Porträts Schopenhauers von Ruhl und Lenbach. Brockhaus, Leipzig 1893.
Hermann Karl Zimmermann: Das Kunstwerk einer Stadt. Frankfurt am Main als Beispiel. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1963.
==== Abbildungen (soweit bibliografisch nachweisbar) ====
Peter Becker: Bilder aus dem alten Frankfurt. Prestel, Frankfurt am Main etwa 1880.
Bibliographisches Institut (Hrsg.): Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig und Wien 1902–10.
Jakob Fürchtegott Dielmann: Frankfurt am Main. Album der interessantesten und schönsten Ansichten alter und neuer Zeit. 2. Auflage. Verlag von Carl Jügel, Frankfurt am Main 1848.
Carl Friedrich Fay, Carl Friedrich Mylius, Franz Rittweger, Fritz Rupp: Bilder aus dem alten Frankfurt am Main. Nach der Natur. Verlag von Carl Friedrich Fay, Frankfurt am Main 1896–1911.
Johann Hochester, Jakob Samuel Walwert: Plan Der Roemisch kayserlichen freyen Reichs Wahl und Handel Stadt Franckfurth am Mayn und Gegend. Jaegerische Buchhandlung, Frankfurt am Main 1792.
Max Junghändel: Frankfurt am Main. Aufnahmen nach der Natur von Max Junghändel. In Lichtdruck ausgeführt von der Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft vormals Friedrich Bruckmann in München. Verlag von Heinrich Keller, Frankfurt am Main 1898.
Wolfgang Klötzer (Hrsg.): Frankfurt-Archiv. Archiv-Verlag Braunschweig, Braunschweig 1982–88.
Adolf Koch: Aus Frankfurts Vergangenheit. Architecturstudien nach der Natur gezeichnet und beschrieben. Verlag von Heinrich Keller, Frankfurt am Main 1894.
Eberhard Mayer-Wegelin: Frühe Photographie in Frankfurt am Main: 1839–1870. Schirmer/Mosel Verlag GmbH, München 1982, ISBN 3-921375-87-8.
Matthäus Merian d. Ä. & Erben: Francofurti ad moenum, urbis imperialis, electioni rom. regum atque imperatorum consecratae, emporiique tam germaniae. Quam totius europae celeberrimi, accuratio declinatio. Jäger’sche Buchhandlung, Frankfurt am Main etwa 1770.
Johann Friedrich Morgenstern: Kleine Ansichten von Frankfurt am Main in 36 gestochenen und illuminirten Erinnerungsblättern. Faksimile der Auflage Friedrich Wilmans, Frankfurt am Main 1825 im farbigen Lichtdruck. F. Lehmann am Römerberg 3, Frankfurt am Main 1913.
Friedrich August Ravenstein: August Ravensteins Geometrischer Plan von Frankfurt am Main. Verlag des geographischen Instituts zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1862.
Christian Friedrich Ulrich: Geometrischer Grundriss von Frankfurt am Mayn. Verlag von Carl Christian Jügel, Frankfurt am Main 1811.
Christian Friedrich Ulrich: Geometrischer Grundriss der Freyen Stadt Frankfurt und Sachsenhausen mit ihrer fruchtbaren Umgegend bis auf 1/4tel Stunde Entfernung im Jahr 1819. Verlag von Carl Christian Jügel, Frankfurt am Main 1819.
== Weblinks ==
Schopenhauerhaus. In: Virtuelles Altstadtmodell Frankfurt am Main
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
=== Einzelnachweise ===
=== Anmerkungen ===
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schopenhauerhaus
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Seekrieg während der Operation Overlord
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= Seekrieg während der Operation Overlord =
Der Seekrieg während der Operation Overlord umfasste die Kampfhandlungen zwischen deutschen und alliierten Seeverbänden im Zeitraum von Anfang Juni bis Mitte August 1944 im Ärmelkanal.
Unter dem Codenamen Operation Overlord planten die West-Alliierten seit Anfang 1944 ein militärisches Unternehmen zur Gewinnung einer festen Basis in Frankreich und zur Errichtung einer weiteren Front (in Deutschland Westfront genannt) gegen das nationalsozialistische Deutschland. Unteroperationen im Rahmen dieses Projekts erhielten eigene Codenamen: Die Operation Neptune bezeichnete beispielsweise die eigentliche Invasion, also die Anfahrt, die Landung und die Sicherung eines Brückenkopfes an den Stränden der Normandie. Für diese Operation stellten die Alliierten eine große Flotte von Kriegsschiffen auf, die kurz vor und während der Landung die deutschen Verbände an den Stränden zermürben und deren Stellungen zerstören sollte. Außerdem sollte sie die eigentliche Invasionsflotte und später die Nachschubtransporte schützen.
Beide Seiten setzten während der Seegefechte neben konventionellen auch spezielle Methoden wie Kleinst-U-Boote, bemannte Torpedos oder Raketen ein. Die großen Verluste beider Seiten entstanden teilweise durch natürliche Widrigkeiten wie Stürme.
Den Alliierten gelang es, wichtige Versorgungseinrichtungen zu schaffen (zum Beispiel künstliche Häfen – die sogenannten Mulberrys – sowie zwei Pipelines durch den Ärmelkanal, eine am 12. August und eine am 10. Oktober).
Sie eroberten in der Schlacht um Cherbourg (14.–26. Juni 1944) den unter anderem für die Versorgung wichtigen Hafen von Cherbourg. Durch das Zusammenspiel von Marine-, Luft- und Landstreitkräften gelang es den Alliierten, eine feste Basis in Frankreich zu etablieren und zu stabilisieren und dadurch schließlich ihr Kriegsziel – die Eroberung Deutschlands und die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht – zu erreichen.
== Hintergrund ==
=== Ausgangssituation ===
Bereits vor dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 war ein Engagement auf dem europäischen Kriegsschauplatz absehbar. In der Konferenz von Washington 1941 kamen Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill überein, dass eine Landung auf dem europäischen Kontinent entweder über das Mittelmeer, von der Türkei aus auf dem Balkan oder in Westeuropa erforderlich wäre. Man zog den Angriff auf die deutsche Wehrmacht gegenüber dem Krieg im Pazifik gegen Japan vor.
Zur Entlastung der Roten Armee hatte Josef Stalin die Westalliierten zur Eröffnung einer zweiten Kriegsfront gedrängt. Auf der Konferenz von Teheran im November 1943 wurden daher Landungen in Nord- und Südfrankreich – die Operationen Overlord und Anvil – beschlossen. Im Gegensatz zu Winston Churchill, der – angeblich aufgrund fehlender Transportmittel – auf die Operation Anvil verzichten wollte, favorisierte Stalin die ursprünglich geplante Zangenbewegung. Die Rote Armee hatte diese Taktik schon öfter erfolgreich angewandt. Unterdessen hielten die Amerikaner eine Invasion in Südfrankreich ebenfalls für sinnvoll, da die Häfen von Toulon und Marseille gute Nachschub- und Versorgungsmöglichkeiten für die alliierten Truppen in Frankreich böten. Eine Invasion in Südfrankreich (Operation Anvil) wurde verschoben und als Operation Dragoon schließlich zeitversetzt im August 1944 durchgeführt, da Churchill befürchtete, dass durch einen zeitnahen Verlauf die Kampfkraft der alliierten Streitkräfte auf zu viele Kriegsschauplätze gleichzeitig verteilt und dadurch der Vormarsch verlangsamt würde.
Auf der Casablanca-Konferenz beschloss man in Abwesenheit Stalins die Gründung eines kombinierten Hauptquartiers, des Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force. Die Führung als Supreme Allied Commander sollte Dwight D. Eisenhower übernehmen. Bereits vor seiner Ernennung Anfang 1944 wurde ein Planungsstab unter dem Chief of Staff to the Supreme Allied Commander (COSSAC), Lieutenant-General (Generalleutnant) Frederick E. Morgan, gebildet, der die Vorplanungen für die Operation Overlord betrieb.
Den Oberbefehl über die Landeeinheiten erhielt Feldmarschall Bernard Montgomery.
Die Seestreitkräfte befehligte Admiral Bertram Ramsay, und
die Luftstreitkräfte Air Chief Marshal Trafford Leigh-Mallory.Ziel der Operation war, die Kontrolle über die Städte Caen, Bayeux, Saint-Lô und Cherbourg zu gewinnen.
=== Strategische Lage der Kriegsgegner ===
Die Briten hielten vor Schottland drei Flugzeugträger, drei moderne Schlachtschiffe und sechzehn weitere größere Kriegsschiffe in Reserve, zum einen, damit diese nicht vor der Normandie durch Minen beschädigt würden, zum anderen, damit Geleitzüge durch die Arktis sowie das Küstengebiet Großbritanniens geschützt werden konnten. Da das Repertoire an Schiffen, das der Royal Navy zur Verfügung stand, deshalb nicht für eine Invasion ausreichte, zogen die Briten Besatzungen von Heer, Luftwaffe und Minenlegeflottillen ab, um wichtigere Kriegsschiffe bemannen zu können. Außerdem zog die britische Admiralität Schiffe aus dem Mittelmeerraum ab, stoppte die Verlegung von Schiffsverbänden in den Indischen Ozean und verminderte die Anzahl der Geleitschiffe für Konvois im Atlantik.
Da Eisenhower und sein Stab aber weiterhin befürchteten, die Armada könnte zu klein sein, wurden Schiffsverbände der US-Marine zur Verstärkung hinzugezogen. Die Amerikaner mussten jedoch auf im Pazifik (→ Pazifikkrieg) stationierte Schiffe – so auch auf alle Flugzeugträger – verzichten. Durch die Lage im Pazifikkrieg ließen sich die Amerikaner vorerst auch nicht zu einer Zusicherung überreden, die von den Briten geforderte Anzahl an Landungsbooten zu schicken, obwohl die Massenproduktion von amphibischen Einheiten aufgrund des Marshall-Memorandums seit 1942 auf Hochtouren lief.
Nach Konflikten über die Notwendigkeit zusätzlicher amerikanischer Schiffe bei der Invasion in der Normandie entsandte der amerikanische Entscheidungsträger für die Marine, Ernest J. King, drei alte Schlachtschiffe und ein Zerstörergeschwader sowie zahlreiche Landungsboote zur Unterstützung der Invasion nach England. Neben diesen Schiffen sollten am 5. Juni 1944 auch 49 Kriegsschiffe mit französischen, polnischen, griechischen, niederländischen und norwegischen Besatzungen auslaufen.
Die Alliierten konnten zur Unterstützung der Invasion insgesamt sieben Schlachtschiffe, zwei Monitore, dreiundzwanzig Kreuzer, drei Kanonenboote, 105 Zerstörer und 1.073 kleinere Kriegsschiffe zusammenziehen. Des Weiteren zogen sie 4.126 Landungsschiffe und -boote, 736 Unterstützungsschiffe und -boote sowie 864 Handelsschiffe zusammen und kamen so insgesamt auf 6.939 eingesetzte Schiffe.
Der Stabschef der Royal Navy berichtete über die Anzahl der eingesetzten Schiffe:
Die Einsatzmöglichkeiten der deutschen Kriegsmarine gegen die alliierten Landeoperationen waren begrenzt (→ Deutsche Situation in der Normandie im Jahr 1944). Im Juni 1944 verfügte die Kriegsmarine über keine größeren Überwassereinheiten in den Stützpunkten in Frankreich (→ Schematische Kriegsgliederung der Wehrmacht für die Operation Overlord#Kriegsmarine). Die Einfahrten zum Kanal wurden zudem durch starke Kriegsschiffverbände der Alliierten geschützt, die auch die Lufthoheit über dem Kanal hatten (→ Luftkrieg während der Operation Overlord). Offensichtlich hatte daher die Kriegsmarine keine Chance, die alliierten Nachschublinien über den Kanal zu unterbrechen. Gleichwohl wurden Einheiten der Kriegsmarine in dieses Unterfangen geschickt.
Die Kriegsmarine besaß am 6. Juni 1944 im gesamten Kanalbereich nur fünf Torpedoboote, 39 Schnellboote – von denen fünf nicht einsatzbereit waren – 163 Minensuch- und Räumboote, 57 Vorpostenboote (Kriegsfischkutter) und 42 Artilleriefährprahme. Hinzu kamen fünf Zerstörer, ein Torpedoboot, 146 Minensuch- und Räumboote und 59 Vorpostenboote, die an der Atlantikküste zwischen Brest und Bayonne stationiert waren. Im mittleren Kanal – dort, wo die Invasion stattfand – verfügten sie nur über vier Torpedoboote, fünfzehn Schnellboote, neun Vorpostenboote und sechs Artilleriefährprahme. Die Deutschen hatten eine Invasion aufgrund der kürzeren Distanz und getäuscht durch die Operation Fortitude eher in der Gegend von Boulogne und Calais erwartet.
Generalfeldmarschall Erwin Rommel inspizierte 1944 die deutschen Verteidigungsanlagen des Atlantikwalls, die zu diesem Zeitpunkt teilweise schon veraltet waren, und gab mehrere Neuerungen vor Juni 1944 in Auftrag. Er setzte sich dabei stark für den Ausbau der Strandbefestigungen und des nahen Hinterlandes mit Hindernissen und Minen ein. Einige der Bunker waren noch in der Bauphase, als die alliierten Verbände landeten. In Frankreich errichtete die Organisation Todt mit erheblichem Bauaufwand und dem Einsatz tausender Zwangsarbeiter Bunkeranlagen für Geschütze schwersten Kalibers.
== Operation Neptune – Die Unterstützung der alliierten Landung an den Stränden ==
=== Vorbereitung und Planung ===
Am Montag, dem 17. April 1944, begann die Royal Navy, Minen an der von den Deutschen besetzten Küste des Kanals zu legen. Von diesem Tag an wurden bis Anfang Juni etwa 6.800 Seeminen an den Häfen zwischen IJmuiden in Holland und Brest in Frankreich gelegt. Die Alliierten benutzten zum Minenlegen meist kleinere Schiffe wie etwa Motortorpedoboote. Ziel war, die Deutschen durch die Minensperren daran zu hindern, der Operation Neptune mit Schiffen entgegenzuwirken. Im Tagebuch des OKW (Oberkommando der Wehrmacht) wird dazu bemerkt:
„[…], daß der Gegner erstmalig die Seine-Mündung bei Le Havre vermint hatte. Es fragte sich, ob daraus geschlossen werden durfte, daß er hier nicht zu landen beabsichtige. Es konnte sich aber auch um Minen handeln, die nur einige Zeit aktiv bleiben [und danach ungefährlich sind]“.Bei den Vorbereitungen auf die Normandielandungen wurden auch britische Chariots (bemannte Torpedos) und Kampftaucher eingesetzt. Diese untersuchten die Gewässer, in dem die Invasion stattfinden sollte, inspizierten die Strände, soweit das möglich war, und beseitigten Hindernisse, weshalb den Alliierten gute Informationen zum Landungsbereich zur Verfügung standen. Am 6. Juni zerstörten britische Kampftaucher viele der Strandhindernisse, die von den Deutschen zum Stoppen der Angreifer aufgestellt worden waren.
Am 23. Mai fing die Station X in Bletchley Park eine deutsche Marinenachricht auf, die deutsche Einheiten anwies, in der Seinebucht, dem alliierten Operationsgebiet, weitere Minen zu legen. Die alliierte Luftwaffe und Motortorpedoboote der Royal Navy wurden daraufhin entsandt, um die deutschen Verbände aufzuhalten und diese daran zu hindern, zusätzliche Minen in den Gewässern zu platzieren. Das gelang ihnen auch.
Die alliierte Landungsflotte war in fünf Gruppen eingeteilt, die Force U, O, G, J und S – jeweils eine pro Strandabschnitt.
Force U und O sollten in Dartmouth und Weymouth starten und die amerikanischen Strandsektoren anfahren. Diese zwei Gruppen waren zur Western Naval Task Force unter Konteradmiral Alan G. Kirk zusammengefasst, die zusammen mit der 1. US-Armee unter Lieutenant General Omar Bradley bei den Landungsstränden Omaha und Utah Beach operieren sollten. In der Nacht sollten die Force U (Konteradmiral Donald P. Moon) mit der 4. US-Infanteriedivision sowie die Force O (Konteradmiral John L. Hall) mit der 29. US-Infanteriedivision an den Stränden landen. Die Konvois für Utah und Omaha Beach bestanden insgesamt aus sechzehn Angriffstruppentransportern.
Die restlichen drei Gruppen starteten von Southampton (Force G), Portsmouth (Force J) sowie von Shoreham (Force S) und sollten die britischen und kanadischen Strandsektoren anfahren. Auch sie waren zu einer übergeordneten Gruppe, der Eastern Naval Task Force unter Konteradmiral Sir Philip Vian zusammengefasst, die zusammen mit der britischen 2. Armee unter Lieutenant General Miles Dempsey an den Landungsstränden Juno, Sword und Gold Beach operieren sollte. In der Nacht sollten die Force G (Commodore Sir Cyril Eustace Douglas-Pennant) mit der britischen 50. Infanteriedivision, die Force J (Commodore Geoffrey Oliver) mit der kanadischen 3. Infanteriedivision sowie die Force S (Konteradmiral Arthur G. Talbot) mit der britischen 3. Infanteriedivision an den Stränden landen.
Außerdem war vorgesehen, dass von der Themsemündung bei Felixstowe die Nachschubgruppe L und von Plymouth aus die Nachschubgruppe B in See stechen und gegen Abend des 6. Juni bzw. am Morgen des 7. Juni an der Normandieküste ankommen sollten.
Alle Gruppen sollten zu einem Punkt Z fahren, der dreizehn Kilometer südöstlich der Isle of Wight lag, wo sich die Flotte in einem Kreis von acht Kilometern Radius aufhalten sollte, den man „Piccadilly Circus“ nannte. Von dort würden Minensucher in Richtung Süden aufbrechen, um die fünf Küstenabschnitte vor Minen zu sichern und zu entminen. Für die Western Task Force waren hierfür 102 alliierte Minensucher und 16 Bojenleger und für die Eastern Task Force 102 Minensucher und 27 Bojenleger zugeteilt worden.
Am Morgen des 4. Juni erreichten zwei Mini-U-Boote der Alliierten die Zielgebiete von Juno und Sword Beach. Sie waren davon ausgegangen, die Invasion sei angelaufen. Sie hatten nicht mitbekommen, dass sie wieder gestoppt worden war. Da sie sich unter Wasser und nahe der Normandieküste befanden, hatten sie auch den Funkverkehr gestoppt und empfingen so nicht die Nachricht über die Verschiebung der Invasion. Am 5. Juni um 0:55 Uhr tauchten die beiden Boote dann auf und empfingen die Nachricht. Neben den zwei U-Booten waren auch 120 LCTs in See gestochen, die sich gegen 9:00 Uhr 40 Kilometer südlich der Isle of Wight befanden, dort aber noch von zwei Zerstörern gestoppt und von den neuen Befehlen in Kenntnis gesetzt wurden, woraufhin sie zurückkehrten.
Admiral Sir Bertram Ramsay, der Befehlshaber der alliierten Seestreitkräfte, informierte die Seestreitkräfte vor der bevorstehenden Operation wie folgt:
Admiral Theodor Krancke, Kommandeur des Marinegruppenkommandos West, trat am 5. Juni seine Inspektionsreise nach Bordeaux an, berichtete dem Oberbefehlshaber West jedoch vorher noch, dass „wegen der groben See die Vorpostenboote ihre Stützpunkte nicht verlassen können“, weshalb die Deutschen ihre sonstigen Aufklärungsfahrten am 5. Juni und in der Nacht zum 6. Juni nicht durchführten. Krancke berichtete später auch: „[…] nach den vorliegenden Wetterberichten […] schien eine Invasion in der Nacht vom 5. auf den 6. 6. kaum möglich“.
=== Ausführung ===
==== Ankunft der alliierten Armada ====
Um 9:00 Uhr des 5. Juni stach die alliierte Armada – ausgenommen die Forces U und O – in See. Die Gruppen U und O starteten erst um 16:00 Uhr desselben Tages. Die Fahrt und die Räumung der Minen verliefen planmäßig; nur ein amerikanischer Minensucher sank. Die ersten alliierten Schiffe, die vor der Normandieküste auf die zugewiesenen Positionen (vgl. nebenstehende Karte des Schiffsbeschusses auf die Küste) vor Anker gingen, waren die USS Bayfield um 2:29 Uhr 21 Kilometer vor dem Utah Beach mit General J. Lawton Collins an Bord und die USS Ancon um 2:51 Uhr 20 Kilometer vor dem Omaha Beach. Nach und nach erreichten auch die anderen 5.300 Schiffe der Invasionsflotte ihre Positionen, wobei die Schlachtschiffe etwa 9.900 Meter und die Zerstörer etwa 4.500 Meter vor der Küste ankern sollten. Viele der an Bord befindlichen Soldaten litten nach stundenlanger Überfahrt in schwerer See unter Seekrankheit. Um 4:15 Uhr begannen die Landungstruppen, in die Landungsboote umzusteigen.
Etwa um 4:30 Uhr, 45 Minuten vor der einsetzenden Morgendämmerung, befanden sich die ersten Landungsboote auf dem Weg zu den Stränden Utah und Omaha. Sie hatten mit hohem Wellengang, Strömungen und starkem Seitenwind zu kämpfen, die sie immer wieder vom vorgesehenen Kurs abbrachten. Die Landungsboote mussten daraufhin bei Omaha Beach etwa 17 Kilometer in Richtung Strand fahren. Hierbei wurden sie von mit Funk und Radar ausgestatteten Patrouillen- und Führungsbooten geleitet.
Der US-amerikanische Captain Anthony Duke erinnerte sich an die alliierte Armada:
==== Erste deutsche Reaktionen ====
Das deutsche Marinegruppenkommando West ließ um 4:35 Uhr Aufklärungspatrouillen auslaufen. Die 5. Torpedobootsflottille, die 15. Vorpostenflottille und die 38. Minensuchflottille liefen aus der Seinemündung aus. Beiderseits der Cotentin-Halbinsel kreuzten die 5. und die 9. Schnellboot-Flottille. Korvettenkapitän Heinrich Hoffmann verließ mit den drei einsatzbereiten Booten seiner 5. Torpedobootsflottille (T 28, Jaguar, Möwe) um 4:15 Uhr Le Havre und befand sich um 5:15 Uhr mit seinen Booten direkt vor den britischen Schiffen vor dem Sword Beach. Hoffmann entschloss sich anzugreifen und ließ um 5:35 Uhr 16 Torpedos abschießen. Die alliierten Schiffe um die HMS Warspite reagierten sofort mit Ausweichmanövern und konnten den anlaufenden Torpedos entkommen. Nur der norwegische Zerstörer Svenner erhielt einen Treffer mittschiffs und sank. Unterdessen hatten die deutschen Boote gewendet und entkamen im Nebel.
==== Eröffnung des alliierten und deutschen Geschützfeuers und Untergang der USS Corry ====
Nachdem die alliierten Zerstörer Fitch und Corry von einer deutschen Batterie von der Küste aus unter Beschuss genommen worden waren, gab Konteradmiral Morton Deyo, Befehlshaber der Western Task Force Bombardement Group, um 5:36 Uhr, zwanzig Minuten vor dem geplanten Zeitpunkt, allen Schiffen den Befehl zum Feuern. Die Schiffe der Eastern Task Force hatten schon früher, um 5:10 Uhr, zu feuern begonnen.
Der britische Major John Howard, der im Verlaufe der Operation Tonga schon in der Nacht mit Gleitern über der Normandie gelandet war, berichtete über den Schiffsartilleriebeschuss Folgendes:
Holdbrook Bradley, ein Korrespondent der amerikanischen Zeitung Baltimore Sun, der an Bord eines Landungsschiffes zum Omaha Beach fuhr und von diversen Kriegsschauplätzen und Kriegen berichtet hatte, beschrieb das Schiffsbombardement später:
Die Artilleriestellung bei Longues-sur-Mer eröffnete um 5:37 Uhr das Feuer auf den Zerstörer USS Emmons vor Omaha Beach. Die abgefeuerten zehn Schuss verfehlten aber das amerikanische Schiff. Als nächstes Ziel geriet das Schlachtschiff USS Arkansas ins Visier der Batterie. Auch hier konnten keine Treffer verzeichnet werden. Im Gegenzug eröffnete die USS Arkansas um 5:52 Uhr das Feuer auf die Batterie und schoss 130 Schuss auf sie ab, jedoch ohne zu treffen. Als näher liegende Ziele auftauchten, richtete die deutsche Batterie ihre Rohre darauf aus.
Alliierte Flugzeuge sollten eine Rauchwand zwischen der alliierten Armada und den deutschen Stellungen legen, um den Deutschen die Sicht zu nehmen. Einige dieser Flugzeuge erschienen um 6:10 Uhr auch am Utah Beach und legten die besagte Rauchwand. Das Flugzeug, das den US-amerikanischen Zerstörer USS Corry verdecken sollte, wurde jedoch von deutscher Flak abgeschossen, bevor es die Rauchwand legen konnte. Für einige Momente war die USS Corry deshalb das einzige für die Deutschen sichtbare alliierte Schiff, was dazu führte, dass die deutschen Geschütze ihre Salven auf den amerikanischen Zerstörer konzentrierten. Das Schiff begann zu manövrieren, um den Geschossen auszuweichen, was in dem noch stark verminten Abschnitt jedoch gefährlich war. Der Maschinist Mate G. Gullickson bemerkte:
Das Schiff war mittschiffs auf eine Mine gefahren und begann zu sinken. Gullickson, der zu diesem Zeitpunkt bereits bis zu seiner Weste im Wasser war, berichtete weiter: “At this time, there was another rumble from underneath the ship”. (Deutsch: „Zu diesem Zeitpunkt gab es ein erneutes Rumpeln von unterhalb des Schiffes.“) – Die USS Corry war zum zweiten Mal auf eine Mine gelaufenen und brach in zwei Teile. Viele der Besatzungsmitglieder ertranken oder erlitten Verbrennungen und Erstickungen.
Um 6:30 Uhr, 30 Minuten nach Sonnenaufgang, begannen die Landungen am Utah und Omaha Beach. Die vor der Küste liegenden Schiffe stellten ihren Beschuss kurz vorher ein und verlegten teilweise ihre Ziele weiter ins Hinterland, um die Soldaten an den Stränden nicht zu gefährden.
Ian Michie, ein Soldat der Royal Navy, der sich an Bord des britischen Kreuzers HMS Orion befand, berichtete Folgendes: “Our shooting was very good and direct hits were soon beeing recorded. We scored thirteen direct hits on the battery before shifting target.” (Deutsch: „Unser Beschuss war sehr gut, und wir konnten bald einige Volltreffer verzeichnen. Uns gelangen dreizehn Volltreffer auf die Batterie, bevor wir das Ziel wechselten.“) Die Batterien in Longues-sur-Mer, Pointe du Hoc und an anderen Stellen wurden durch die Schiffsartillerie nur geringfügig beschädigt, aber nicht zerstört, und sind teilweise noch heute vorhanden. In Stephen E. Ambroses Buch D-Day wird zu einem Bericht der Royal Navy aufgeführt:
Dies war laut Ambrose allerdings eher Wunschdenken, denn diverse deutsche Geschützbesatzungen konnten ihre Stellungen erneut bemannen, nachdem die Schiffe die Küste unter Beschuss genommen hatten. Die Batterien konnten allerdings aufgrund der alliierten Vorkehrungen wie beispielsweise dem Einsatz von künstlichen Rauchwänden keine oder nur wenige Ziele ausmachen und gezielt beschießen.
Die deutschen Batterien wurden meist mit anderen Mitteln ausgeschaltet. So wurde die Artilleriebatterie bei Merville im Verlauf der Operation Tonga von britischen Fallschirmjägern zerstört. Gleiches versuchten US-amerikanische Ranger-Einheiten bei der Batterie am Pointe du Hoc, die allerdings nach der Eroberung des Geländes feststellen mussten, dass die Geschütze weiter ins Hinterland verlegt worden waren. Nach kurzer Suche konnten einige Ranger die Geschütze jedoch unbewacht im Hinterland finden und unschädlich machen.
== Gefechte im Kanalbereich, an der Küste der Normandie und in der Bretagne ==
=== Juni 1944 ===
In den folgenden Tagen versuchten deutsche Torpedoboote, die Landungsoperationen durch Torpedoangriffe und Minensperren zu stören, dies blieb allerdings größtenteils erfolglos.
Aus Cherbourg liefen in der Nacht zum 7. Juni die deutschen 5. und 9. Schnellboot-Flottillen aus. Bereits auf dem Auslaufweg gingen vor Cap Barfleur zwei Schnellboote auf einer von der britischen 64. Motortorpedobootflottille zuvor gelegten Minensperre verloren. Dagegen durchbrachen vier Schnellboote die Verteidigungslinien der alliierten Küstenstreitkräfte und versenkten zwei Landungsschiffe vor St. Vaast.
Vor Le Havre kam es in derselben Nacht zu einem Gefecht zwischen der deutschen 4. Räumbootsflottille und der britischen 55. Motortorpedobootflottille und der kanadischen 29. Motortorpedobootflottille, bei dem ein deutsches sowie zwei alliierte Schiffe schwer beschädigt wurden. Am selben Tag führten die 2. und 8. Schnellboot-Flottillen von Ostende einen erfolglosen Aufklärungsvorstoß in die südliche Nordsee aus.
Um 5:15 Uhr am Morgen des 8. Juni sank die alliierte Fregatte HMS Lawford, möglicherweise nach einem Treffer durch eine funkgesteuerte Gleiterbombe Henschel Hs 293, die von einer Dornier Do 217 abgeworfen wurde.Auch in der Nacht vom 7. auf den 8. Juni kam es zu Gefechten, in denen sowohl alliierte Landungsboote als auch deutsche Schnellboote versenkt wurden. Die Deutschen versenkten zudem einige ihrer Schiffe selbst, um eine Übernahme durch die Alliierten zu verhindern. Die Alliierten erlitten ihrerseits mehrere Verluste durch Seeminen, unter anderem zwei Zerstörer. Andere Schiffe wurden durch deutsche Luft- oder Artillerieangriffe zerstört, meistens Schiffe, die vorher durch Minentreffer bewegungsunfähig gemacht worden waren.
Zwischen dem 6. und 30. Juni 1944 setzten die Deutschen mehrere U-Boote ein, um den alliierten Seestreitkräften entgegenzuwirken. Im Großteil der Fälle wurden diese U-Boote jedoch von alliierten Flugzeugen beschädigt oder zerstört und konnten dem Gegner nur Verluste von etwa fünf Schiffen zufügen.
In der Nacht vom 8. auf den 9. Juni versuchte die Kriegsmarine mit vier Zerstörern, den letzten größeren in Frankreich liegenden Schiffen, von Brest aus in den Invasionsraum vorzudringen. Der deutsche Admiral Krancke hatte dies befohlen, wovon der alliierte Nachrichtendienst jedoch erfuhr. Die 10. Zerstörerflottille der Royal Navy wurde entsandt, um den deutschen Verband anzugreifen. Nordwestlich der Isle de Bas kam es gegen 1:30 Uhr nachts zum Kampf zwischen der deutschen und der alliierten Zerstörerflottille, die aus vier britischen, zwei kanadischen und zwei polnischen Zerstörern bestand. Nach vier Stunden Kampf versenkten die Alliierten den deutschen Zerstörer ZH 1 und beschädigten Z 32 so schwer, dass sie auf Grund gesetzt werden musste. Die zwei restlichen Zerstörer kehrten, ebenfalls schwer beschädigt, nach Brest zurück. Auf alliierter Seite wurde die HMS Tartar schwer beschädigt.
In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni griffen 234 Lancaster-Bomber des Bomber Command der Royal Air Force die französische Stadt Le Havre an. Ein Flugzeug ging bei der Aktion verloren. Auf der anderen Seite verzeichneten die Deutschen Verluste von drei Torpedobooten, sechzehn Schnellbooten, zwei Geleitbooten sowie von zwei Räumbooten, sieben Minensuchern und acht Vorpostenbooten. Außerdem wurden ein Artilleriefährprahm und mehrere kleinere Hilfskriegsschiffe und Hafenfahrzeuge zerstört. In der darauf folgenden Nacht vom 15. auf den 16. Juni griffen 297 Bomber der Alliierten Boulogne an. Die deutschen Verluste beliefen sich auf drei Räumboot-Begleitschiffe, sechs Räumboote, drei Minensucher sowie zwei Vorpostenboote, zwei Artilleriefährprähme, drei Schlepper und fünf Hafenschutzboote. Des Weiteren wurden zwei Räumboote schwer beschädigt. Außerdem wurde der deutsche Tanker Sonderburg am 15. Juni im Hafen von Cherbourg als Blockschiff selbst versenkt.
In der Folgezeit kam es immer wieder zu Gefechten zwischen Hilfskriegsschiffen, bei denen Schnell-, Motor-, Räumboote und ähnliche Schiffe, manchmal aber auch alliierte Zerstörer und Fregatten zum Einsatz und diverse Male auch zu Schaden kamen. Diese Gefechte fanden bis mindestens Ende Juli vor der Normandie und der Bretagne statt. Außerdem attackierte die deutsche Luftwaffe die alliierte Armada aus der Luft mit Bombern, Jägern und dem Abwerfen von Minen.
Am 19. Juni 1944 traf die Kommandobootflottille 211 mit zehn Kommando- und vierundzwanzig Sprengbooten in Bolbec östlich von Le Havre ein und wurde in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni zu einem vorgeschobenen Stützpunkt bei Honfleur verlegt. Der erste Angriff dieser Flottille sollte in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni stattfinden. Für diesen Angriff wurden am Abend desselben Tages acht Kommando- und neun Sprengboote entsandt, die von Räumbooten in Schlepp genommen worden waren. Eines der Sprengboote stieß jedoch gegen die Bordwand eines Räumbootes, explodierte und versenkte das Räumboot sowie zwei Kommandoboote. Trotz des Unglücks wurde die Fahrt fortgesetzt, die Aktion wurde jedoch etwas später durch schlechtes Wetter gestört und die Schiffe kehrten zurück. Nachdem zwei weitere Versuche im Juni aufgrund von Unglücken und Materialfehlern zu Misserfolgen geführt hatten, befahl Adolf Hitler, den Einsatz von Sprengbooten in der Seinebucht zu stoppen und stattdessen Kleinst-U-Boote des Typs Marder einzusetzen. Ab dem 28. Juni traf die Kommandoflottille 361 mit 60 dieser Kleinst-U-Boote, die über den Landweg aus Deutschland herantransportiert worden waren, in Trouville ein. Die Einheit wurde anschließend in einen Wald bei Villers-sur-Mer verlegt, um dort ihre Einsätze vorzubereiten.
Zwischen dem 25. und 27. Juni unterstützten alliierte Schiffsverbände die Angriffe im Raum Caen (→ Schlacht um Caen) und Cherbourg (→ Schlacht um Cherbourg). Am 25. Juni traf ein Kleinst-U-Boot des Typs Biber in Rouen ein, das von Kiel über Aachen und Paris herantransportiert worden war. Von dort aus sollten mit dem Boot die Brücken über den Caen-Kanal und die Orne angegriffen werden. Der Einsatz wurde jedoch statt mit dem Biber durch deutsche Kampfschwimmer ausgeführt und schlug fehl. Über den Verbleib des Bootes ist nichts bekannt.
Bis zum 25. Juni verlor die Western Naval Task Force drei Zerstörer, einen Begleitzerstörer, zwei Minenräumboote und diverse kleinere Schiffe und Landungsboote. Außerdem wurden diverse Schiffe, so auch zwei Zerstörer, schwer beschädigt.
=== Juli 1944 ===
Als einige Schnellboote in Le Havre einliefen, explodierte in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli aus nicht genau bekannten Gründen die Torpedo-Werkstatt im dortigen Hafen: 41 Torpedos wurden zerstört, und die Schnellboot-Operationen mussten wegen des darauffolgenden Torpedomangels stark eingeschränkt werden.
In der Nacht vom 5. auf den 6. Juli wurden 26 der in Villers-sur-Mer stationierten Einmann-Torpedos des Typs „Marder“ gegen den alliierten Landungsbereich eingesetzt. Die Operation wurde von den Deutschen als Erfolg gewertet. Elf der Boote meldeten Erfolge, obwohl tatsächlich nur zwei alliierte Minensucher und ein Geleitzerstörer versenkt worden waren. Im Gegensatz dazu kehrten allerdings nur sechzehn der Kleinst-U-Boote wieder zurück. Bei einem erneuten Einsatz in der darauffolgenden Nacht setzten die Deutschen 21 „Marder“ ein und konnten einen Minensucher zerstören sowie den alten polnischen Kreuzer ORP Dragon so schwer beschädigen, dass dieser nur noch als Wellenbrecher im „Mulberry B“ eingesetzt werden konnte. Von den U-Boot-Besatzungen kehrte niemand zurück.
Außerdem kam es während des gesamten Monats zu Kampfhandlungen deutscher und alliierter Kriegsschiffe, bei denen meist Schnellboote oder Motortorpedoboote zerstört wurden, manchmal aber auch alliierte Zerstörer.
=== August 1944 ===
Vom 1. bis 27. August 1944 kämpften alliierte Seeverbände im Kanalgebiet und an der Küste der Biskaya gegen mehrere deutsche U-Boote, von denen elf versenkt wurden. Auf alliierter Seite ging nur ein Schiff verloren. Mitte August traf eine neue Welle deutscher U-Boote im Kanalbereich ein, denen es gelang, unter Verlust von vier U-Booten sechs alliierte Schiffe zu versenken sowie ein weiteres so schwer zu beschädigen, dass es kampfuntauglich war. Am 27. August wurden die fünf übrig gebliebenen deutschen U-Boote nach Norwegen zurückgerufen. Während der Rückfahrt legte eines der U-Boote, die U 218, am 20. August eine Minensperre bei Start Point, auf der am 10. Juli 1945 der britische Trawler Kned verlorenging.
Anfang August traf die Kommandobootflottille 211 in Houlgate ein, um einen kombinierten „Marder“- und „Linsen“-Einsatz unter gleichzeitiger Beteiligung von Schnellboot-Flottillen durchzuführen. In der Nacht vom 2. auf den 3. August fand der Einsatz statt, verbunden mit einem Luftangriff. Beteiligt waren eine aus sechzehn Kommando- und 28 Sprengbooten vom Typ „Linse“ bestehende Gruppe sowie eine zweite Gruppe mit 58 Einmann-Torpedos vom Typ „Marder“. Es gelang den Deutschen, den Zerstörer HMS Quorn, einen Trawler und ein Landungsboot zu versenken und zwei Frachter zu beschädigen. Mindestens sechs der „Marder“ wurden von den Alliierten zerstört, ein weiterer wurde unbeschädigt erbeutet. Zum letzten Mal wurden in der Nacht vom 16. auf den 17. August 42 „Marder“ eingesetzt. Sie versenkten ein alliiertes Schulboot, ein Landungsboot sowie den durch einen Schnellboot-Angriff beschädigten Frachter Iddesleigh. Nur sechzehn „Marder“ kehrten von dem Einsatz zurück.
Zwischen dem 5. und 30. August 1944 versenkten die Deutschen bei der Räumung der Häfen diverse eigene Schiffe in Le Verdon, Nantes, Brest, Saint-Malo, an der Seine und bei Paris sowie in Saint-Nazaire, an der Gironde und in Bordeaux. Insgesamt waren ein Wohnschiff, ein Zerstörer, ein Versorgungstanker, zwei Frachter, zwei Hilfsminensucher, drei Minensucher, vier Motortorpedoboote, sechs Sperrbrecher, neun Tanker, neun Räumungsboote, fünfzehn Vorpostenboote, einundzwanzig Handelsschiffe sowie zahlreiche kleinere Schiffe betroffen.
== Natürliche Gefahren – Stürme und Seegang ==
Gefahren für alliierte oder deutsche Schiffe drohten jedoch nicht nur bei Gefechten mit Schiffen der jeweiligen Gegenseite. Auch durch die Natur verloren beide Seiten Schiffe. So wurde beispielsweise der britische Zerstörer Fury am 21. Juni vor Sword Beach durch einen Minentreffer beschädigt. Nachdem er in Schlepp genommen worden war, rissen in einem Sturm die Trossen. Der Zerstörer lief auf Grund und ging verloren.
Aufgrund des Seegangs und hoher Windgeschwindigkeiten sanken bei der Überfahrt am 5. und 6. Juni einige kleinere Schiffe der Alliierten. Außerdem litten die meisten Heeressoldaten, welche die Schifffahrt nicht gewohnt waren, unter Übelkeit. Einige der schwimmfähig gemachten Panzer (→ DD tank) sanken aufgrund hoher Wellen.
Vom 18. bis 22. Juni 1944 herrschte im Kanalgebiet ein schwerer Sturm, der Einsätze der Streitkräfte auf beiden Seiten unmöglich machte. Die Alliierten stoppten die Nachschublieferungen von England nach Frankreich und unterbrachen die Entlade- und Transporteinsätze am Landekopf. Während der nächsten vier Tage war das alliierte Expeditionskorps dem vielleicht heftigsten Sturm im Ärmelkanal seit 40 Jahren ausgesetzt. Im Sturm wurde der alliierte künstliche Hafen „Mulberry A“, der vor Omaha Beach bei St. Laurent lag, weitgehend zerstört und unbrauchbar (→ vgl. Die Mulberrys).
== Versorgung der Alliierten ==
=== Die Mulberrys ===
Die Planung des Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force sah im Rahmen der Operation Neptune nach der erfolgreichen Landung in der Normandie die Errichtung zweier großer Anlegestellen für Transportschiffe vor. Ein Hafen, „Mulberry A“, sollte vor Vierville–Saint-Laurent von den Amerikanern, und ein zweiter, „Mulberry B“, vor Arromanches von den Briten errichtet werden. Die Einzelteile wurden in England vorgefertigt und vor der Normandieküste zusammengebaut.
In der ersten Phase der Errichtung der Mulberrys wurden am 9. Juni 1944 53 alte Handels- und Kriegsschiffe der Alliierten etwa 1400 Meter vor dem Strand der Normandie von den Alliierten versenkt, um ein vier Meilen großes Becken zu bilden. An Land bauten die Alliierten große Speicherhäuser, alte Straßen wurden verbreitert und neue zum schnelleren Warenabtransport zur Front angelegt.
Im Sturm wurde „Mulberry A“, der vor Omaha Beach lag, weitgehend zerstört und unbrauchbar. Viele Landungsfahrzeuge wurden außerdem im Verlaufe des Sturms an den Strand geworfen und zerstört, was die Landung von alliierten Nachschubgütern stark störte. Die Amerikaner verzichteten auf die Reparatur, sodass die noch verwendbaren Teile zur Komplettierung des leichter beschädigten Hafens „Mulberry B“ benutzt werden konnten. Bei Vierville-Saint-Laurent entluden die Amerikaner allerdings noch Transportschiffe an Land, was sich später sogar als effektiver erwies als die Entladung auf See.
Der britische Hafen „Mulberry B“ ging kurz darauf voll in Betrieb. Insgesamt konnten hier bis zum 31. Oktober 628.000 Tonnen Nachschubgüter, 40.000 Fahrzeuge und 220.000 Soldaten an Land gehen.
=== Der Hafen von Cherbourg ===
Nachdem der Stadtkommandant von Cherbourg am 26. Juli gegenüber den Amerikanern kapituliert hatte, fiel der Hafen der Stadt in alliierte Hände. Er war durch zahlreiche Schiffswracks blockiert, vermint und zu großen Teilen zerstört. Zuerst räumten die Alliierten die Minen mit Minensuchbooten und Tauchern, wonach eine Bergung der versenkten Schiffe folgte, um den Hafen wieder befahrbar zu machen. Außerdem mussten Schutt und zerstörte Gebäude beseitigt bzw. repariert werden.
Nach fünfzehn Tagen war der Hafen so weit instand gesetzt, dass er teilweise wieder benutzt werden konnte. Jedoch war der ganze Hafen erst nach drei Monaten, in denen Tag und Nacht gearbeitet werden musste, vollständig instand gesetzt.
Gilles Perrault bezeichnete den Hafen als „die wichtigste Versorgungsader der alliierten Streitkräfte“. Am 7. September gingen 23.000 neue amerikanische Soldaten in Cherbourg an Land, um weiter an die Front transportiert zu werden. Ab dem 15. Oktober wurden täglich mehr als 20.000 Tonnen Ausrüstungsmaterial umgeschlagen, woraufhin der Hafen am 2. November mit 133 anlegenden Schiffen sowie mit einer Million Bruttoregistertonnen zum größten Umschlagplatz der Welt wurde, was jedoch bereits im Februar 1945 von zwei Millionen Bruttoregistertonnen im selben Hafen übertroffen werden konnte.
=== Operation PLUTO (Pipe-Lines Under The Ocean) ===
Die Operation PLUTO (Pipe-Lines Under The Ocean) war eine Entwicklung britischer Wissenschaftler, um mittels einer unter dem Ärmelkanal verlaufenden Pipeline raffinierte Treibstoffe von Großbritannien nach Frankreich zu transportieren. Der Plan wurde von A.C. Hartley, dem Chefingenieur der Anglo-Iranian Oil Company, entwickelt, nachdem er von Admiral Louis Mountbatten konzipiert worden war.
Prototypen der Pipeline wurden im Mai 1942 über dem Fluss Medway und im Juni über dem Firth of Clyde erfolgreich getestet. Danach wurde mit der Produktion begonnen.
Die erste Pipeline wurde am 12. August 1944 zwischen der Isle of Wight und Cherbourg gelegt; sie war 70 Seemeilen (ca. 135 Kilometer) lang. Später wurden weitere Pipelines bei Cherbourg und noch später auch durch die Straße von Dover gelegt. Schlepper zogen riesige Trommeln über den Kanal und wickelten die Leitungen ab, verbanden die Teilstücke miteinander und verlegten sie. Die Operation war aufgrund sorgfältiger Vorbereitungen innerhalb von zehn Stunden beendet.
Mit der Pipeline wurden im Januar 1945 noch 300 Tonnen Treibstoff pro Tag gepumpt, die Leistung wuchs danach schnell auf mehr als 4.000 Tonnen pro Tag. Insgesamt wurden 172 Millionen Gallonen Treibstoffe bis zum Tag der deutschen Kapitulation Anfang Mai 1945 durch die Pipeline gepumpt. Neben den Mulberry-Häfen wird PLUTO als eine der größten militärischen Ingenieurleistungen der Geschichte angesehen.
== Nachwirkungen ==
Durch die große Anzahl an eingesetzten Schiffen, den Bau der Pipelines unter dem Kanal, die künstlichen Häfen und durch die Eroberung des für die Versorgung wichtigen Hafens von Cherbourg sowie durch das Zusammenspiel von Marine-, Luft- und Landstreitkräften gelang es den Alliierten, eine feste Basis in Frankreich zu etablieren und dadurch schließlich ihr Kriegsziel einer Eroberung Deutschlands zu erreichen. Außerdem gelang es, den Luftraum und auch den größten Teil des Kanalgebietes zu beherrschen.
Anschließend konnten sich die Alliierten auf andere Einsatzorte für ihre Schiffe konzentrieren. Beispielsweise konnten sich die Amerikaner mehr dem Pazifikkrieg zuwenden, wenngleich deutsche U-Boote weiterhin eine Gefahr darstellten.
Im Oktober 1944 eroberten die Alliierten den Hafen von Antwerpen, einen der größten Nordseehäfen. Diesen konnten sie aber erst benutzen, nachdem kanadische Streitkräfte in der Schlacht an der Scheldemündung (2. Oktober bis 8. November 1944) die Halbinsel freigekämpft hatten, die nördlich des Hafens liegt. Ab dann änderten sich die Nachschubströme erheblich; der Red Ball Express wurde am 16. November 1944 eingestellt.
== Verarbeitungen und weiterführende Informationen ==
=== Filme ===
Der Dokumentations-Spielfilm D-Day – Entscheidung in der Normandie des britischen Fernsehsenders BBC dokumentiert die Ereignisse während der Vorbereitungsphase „Exercise Tiger“, des D-Day und in der Folgezeit.
Im 1962 erschienenen, von Darryl F. Zanuck produzierten Spielfilm Der längste Tag wird die Bombardierung der Strände durch die Schiffsartillerie sowie die Anlandung dort nachgestellt. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Cornelius Ryan. Des Weiteren stellt der Film auch andere Operationen der alliierten Landung in der Normandie dar.
Der Film Der Soldat James Ryan von Steven Spielberg stellt die Landung der Alliierten auf Omaha Beach nach. Besonders die längere Anfangssequenz zeigt schonungslos und realistisch den Schrecken des Krieges.
=== Literatur ===
Einige der Bücher sind in deutscher sowie in englischer als auch in anderen Sprachen erhältlich. Bücher, die in deutscher Sprache erschienen, werden ausschließlich im Absatz In deutscher Sprache aufgelistet. Spezielle Literatur zu den Landungen an den Stränden oder zu einzelnen Operationen usw. sind in den jeweiligen Artikeln zu finden.
==== In deutscher Sprache ====
Tony Hall (Hrsg.): Operation „Overlord“. Motorbuch Verlag, 2004, ISBN 3-613-02407-1 – Umfassendes Werk internationaler Autoren zu den Aspekten der Operation Overlord. Das Buch ist thematisch gegliedert.
Janusz Piekalkiewicz: Invasion. Frankreich 1944. München 1979 – Das Buch beschreibt die Geschehnisse der Operation ausführlich, ist gut bebildert und enthält auch Briefwechsel, Originalberichte, Presseberichte etc.
Will Fowler: D-Day: The First 24 Hours. Amber Books Ltd., London 2003, ISBN 3-85492-855-6 – Fowlers Buch beschreibt ausschließlich die Operation Neptune, dies allerdings mit guter Bebilderung und vielen Karten.
Walter Lohmann und Hans H. Hildebrand: Die deutsche Kriegsmarine 1939–1945. Bad Nauheim 1956–64 – Werk zur Geschichte der deutschen Kriegsmarine während des Zweiten Weltkriegs.
Percy E. Schramm (Hrsg.): Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht 1944–1945. Teilband 1, ISBN 3-7637-5933-6 – Kommentierte Ausgabe des Kriegstagebuchs des Oberkommandos der Wehrmacht, insgesamt bestehend aus acht Bänden, von denen sich einer unter anderem mit der Lage an der Westfront im Jahr 1944 beschäftigt.
==== In englischer Sprache ====
Anthony Hall: Operation Overlord. D-Day Day by Day. New Line Books, 2005, ISBN 1-84013-592-1 – Tagebuch der Planung, Vorbereitung und Durchführung der Operation Overlord, allerdings nur bis etwa fünfzehn Tage nach dem D-Day.
Samuel Eliot Morison: History of United States Naval Operations in World War II: 1944–1945. University of Illinois Press, ISBN 0-252-07062-3 – Werk des Marine-Reservisten und Historikers Morison, das die Rolle der US Navy zwischen 1944 und 1945 beschreibt.
Stephen E. Ambrose: D-Day. Simon & Schuster, 1994, ISBN 0-7434-4974-6 – Dieses Buch basiert auf diversen Interviews mit Zeitzeugen und handelt ausschließlich vom D-Day, dem Tag davor und danach (D-1 und D+1). Ambrose verfasste neben diesem Buch diverse andere Bücher, so beispielsweise das Buch Band of Brothers, das Vorlage für die gleichnamige Fernsehserie war.
Robin Niellands: The Battle of Normandy – 1944. Weidenfeld & Nicholson military, 2002, ISBN 0-304-35837-1 – Niellands Buch zur Schlacht in der Normandie behandelt diverse Aspekte der Operation Overlord, so unter anderem auch den Seekrieg.
John Prados: Neptunus Rex – Naval Stories of the Normandy Invasion. June 6, 1944. Voices of the Navy Memorial. Presidio Press, Novato CA 1998, ISBN 0-89141-648-X.
=== Weblinks ===
Seekrieg 1944, Juni darunter auch der Kanalbereich, Württembergische Landesbibliothek
Seekrieg 1944, Juli darunter auch der Kanalbereich, Württembergische Landesbibliothek
Seekrieg 1944, August darunter auch der Kanalbereich, Württembergische Landesbibliothek
Zusammengefasste Informationen, Württembergische Landesbibliothek
Informationen bei der US-Navy (englisch)
Informationen zum Seekrieg während der Operation Neptune (englisch)
Informationen zum Seekrieg während der Folgezeit der Operation Neptune (englisch)
combinedops.com zum Seekrieg während der Operation Overlord (englisch)
Informationen bei ibiblio.org (englisch)
Die Royal Navy zum Seekrieg während Overlord (englisch)
Information zum Einsatz der Mulberrys u. a. (englisch)
Informationen zur US Coast Guard (englisch)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Seekrieg_w%C3%A4hrend_der_Operation_Overlord
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Sibley Railroad Bridge
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= Sibley Railroad Bridge =
Die Sibley Railroad Bridge ist eine eingleisige Eisenbahnbrücke der US-amerikanischen Class-1-Bahngesellschaft BNSF Railway über den Unterlauf des Missouri River. Sie liegt etwa 35 Kilometer östlich von Kansas City in der Nähe der namensgebenden Stadt Sibley, wo der Missouri River die Grenze zwischen dem Jackson County und dem Ray County im Bundesstaat Missouri der USA bildet.
Die erste Brücke wurde hier 1888 als Teil der Erweiterung des Eisenbahnnetzes der Atchison, Topeka and Santa Fe Railway (AT&SF) von Kansas City nach Chicago in Betrieb genommen. Der damals noch unregulierte wilde Missouri war besonders an seinem Unterlauf ein stark mäandrierendes Fließgewässer, was über Jahrzehnte umfangreiche wasserbauliche Maßnahmen zur Vermeidung von Flusslaufänderungen am Brückenstandort nötig machte. Mit der Entwicklung immer leistungsstärkerer Dampflokomotiven Anfang des 20. Jahrhunderts kam die schmiedeeiserne Fachwerkbrücke an ihre Belastungsgrenze, was den Austausch des Überbaus durch eine Stahlkonstruktion für höhere Traglasten erforderte. Von 1911 bis 1915 wurden die Fachwerkträger der Hauptbrücke sowie die Trestle-Brücke der nördlichen Zufahrt bei laufendem Betrieb schrittweise entlang des 1,2 Kilometer langen Bauwerks ersetzt. Die AT&SF ging 1995 in der BNSF auf, die die seit 1915 unveränderte Brücke als Teil ihrer transkontinentalen Hauptstrecke zwischen Südkalifornien und Chicago für den Schienengüterverkehr betreibt. Dieser auf die AT&SF zurückgehende Eisenbahnkorridor wird heute als Southern Transcon bezeichnet und ist die wichtigste Route für den intermodalen Güterverkehr der BNSF. Zudem verkehrt der Amtrak-Fernzug Southwest Chief über die Brücke. Das durchschnittliche Verkehrsaufkommen über die Brücke lag 2017 bei täglich 70–75 Zügen.
== Geschichte ==
=== Expansion der AT&SF bis Mitte der 1880er-Jahre ===
Die Atchison, Topeka and Santa Fe Railway (AT&SF) hatte ihre Anfänge im Zentrum der USA, wo 1859 eine Verbindung der namensgebenden Städte Atchison und Topeka im Bundesstaat Kansas in Angriff genommen wurde. Mit der Erweiterung des Streckennetzes nach Südwesten durch Colorado und New Mexico, wurde in den 1860er-Jahren der angestrebte Zielort Santa Fe mit in den Unternehmensnamen aufgenommen. Die Gesellschaft erreichte 1880 Albuquerque und expandierte bis Mitte der 1880er-Jahre weiter westwärts nach Kalifornien und südwärts bis zum Golf von Mexiko. Für die Erweiterung in die nördlichen und östlichen Bundesstaaten des Mittleren Westens stellte der Missouri River eine natürliche Barriere dar, hielt aber andererseits auch Eisenbahngesellschaften von der Expansion nach Kansas ab. Erst ab 1869 entstanden die ersten Eisenbahnbrücken über den Fluss, wie die Hannibal Bridge in Kansas City (1869), die Wabash Bridge in Saint Charles (1871) oder die Omaha Bridge in Omaha (1872), die aber unter der Kontrolle anderer Eisenbahngesellschaften standen. Kansas City war der Hauptumschlagpunkt der AT&SF mit den nordöstlichen Eisenbahnnetzen, aber mit der Expansion anderer Gesellschaften nach Kansas Anfang der 1880er-Jahre setzte der damalige Präsident der AT&SF William Barstow Strong (1881–1889) auf den Ausbau des eigenen Streckennetzes von Kansas nach Chicago. Strong wollte mit seinem Chefingenieur Albert A. Robinson die direkteste und schnellste Verbindung nach Chicago schaffen. Strong erwarb dazu 1886 in Illinois die Chicago and St. Louis Railway zwischen Chicago und Pekin und ließ von Robinson den Verlauf der neu gegründeten Tochtergesellschaft Chicago, Santa Fe and California Railway planen, die über 500 Kilometer von Kansas City nach Streator nahezu entlang der Luftlinie verlaufen sollte (daher auch als Airline bezeichnet).
=== Erste Eisenbahnbrücke in Sibley 1888 ===
Robinson engagierte für die größten Brücken entlang der Strecke den Bauingenieur und späteren Luftfahrt-Pionier Octave Chanute, der 1869 schon die Hannibal Bridge errichtet hatte. Zusammen planten sie Querungen über den Missouri, den Grand, den Des Moines, den Mississippi und den Illinois. Nach den Vorgaben des War Departments durfte der Schiffsverkehr auf dem Missouri und Mississippi nicht behindert werden, was Chanute bei der Mississippibrücke in Fort Madison durch eine Drehbrücke und bei der Sibley Railroad Bridge durch eine hohe Konstruktion mit ausreichend lichter Höhe über dem Fluss gewährleistete. Zur Führung des Gleisverlaufs in fast 28 Meter Höhe über Niedrigwasser waren für die Missouribrücke ausgedehnte Zufahrten nötig, wodurch sich die hauptsächlich aus Schmiedeeisen bestehende Brücke über eine Länge von 1,2 Kilometern erstreckte, ergänzt um einen Bahndamm über die nordöstliche Schwemmebene des Missouri River Valley.Zur Realisierung einer möglichst direkten Streckenführung war die Querung des stark mäandrierenden Missouri zwischen den Flussschlingen Jackass Bend (Prallhang am Nordufer) und Sibley Bend (Prallhang am Südufer) nördlich von Sibley vorgesehen (siehe unter Flusslauf des Missouri). Im Januar 1887 durchgeführte Bodenuntersuchungen entlang des Missouri River Valley zeigten jedoch, dass das Grundgestein meist erst in einer Tiefe von fast 20 Meter erreichbar war. Unterhalb der Flussschlinge Sibley Bend kam es aber zu einem Ansteigen des Grundgesteins auf eine Tiefe von weniger als 10 Meter. Das Vorkommen von größeren Gesteinsbrocken oberhalb der Erhebung ließ auf das Vorhandensein einer Endmoräne schließen, die den Endpunkt eines eiszeitlichen Gletschervorstoßes markiert, der hier maßgeblich das Profil des Grundgesteins der nördlichen Seite des Flusstals prägte. Man entschied sich daher für einen leichten Umweg in der Streckenführung nach Sibley und errichtete eine Fachwerkbrücke am unteren Ende der Sibley Bend, die durch wasserbauliche Maßnahmen heute nur noch schwach ausgeprägt ist. Die flussauf liegende Flussschlinge Jackass Bend ist nur noch ein Altarm, markiert aber nach wie vor den Grenzverlauf zwischen dem Jackson County und dem Ray County. Die Brücke gliederte sich von Südwest nach Nordost in einen kurzen Balkenträger, sieben Fachwerkträger von insgesamt 610 Meter Länge, gefolgt von einer 580 Meter langen Eisen-Trestle-Brücke. Dann folgte noch eine 1,1 Kilometer lange Holz-Trestle-Brücke, die am Anfang eine Rechtskurve beschrieb und dann in gerader Linie nach Osten verlief; sie wurde wenig später zu einem Bahndamm verfüllt. Die Steigung entlang der Zufahrt über die nordöstliche Schwemmebene betrug 8 ‰ und am Südufer des Missouri war die Gleisebene der Brücke auf Bodenniveau. Die Fachwerkbrücke ruhte auf acht bis zu 35 Meter hohen aus Sandstein gemauerten Brückenpfeilern, die größtenteils mittels Senkkästen direkt auf dem Grundgestein errichtet wurden. Die Bauarbeiten begannen im April 1887 und waren nach nur 293 Tagen im Januar des Folgejahres abgeschlossen.
=== Ausbau der Southern Transcon und neuer Brückenüberbau 1915 ===
Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Dampflokomotiven immer leistungsstärker und schwerer. Zudem nahm der Verkehr auf der wichtigen Hauptstrecke zwischen Chicago und Südkalifornien stetig zu. Während der Präsidentschaft von Edward Payson Ripley (1896–1920) modernisierte die AT&SF die Hauptstrecke und baute sie teilweise zweigleisig aus. Mit dem Belen Cutoff entstand 1903–1907 zudem eine Verbindung von der über Amarillo in Texas verlaufenden Pecos-Zweigstrecke an die Hauptstrecke über den Raton Pass, die südlich von Albuquerque in Belen angeschlossen wurde. Damit konnten die bis zu 3,5 % großen Steigungen über den Raton Pass umfahren werden. Der Güterverkehr nach Südkalifornien verläuft bis heute entlang dieser Verbindung über den Abo Canyon mit maximalen Steigungen von 1,3 %, hauptsächlich die Personenzüge der AT&SF – wie der seit 1936 verkehrende Super Chief – nutzten später noch die alte Strecke über den Raton Pass. Der so entstandene Eisenbahnkorridor wird heute als Southern Transcon bezeichnet und zählt zu den wichtigsten transkontinentalen Eisenbahnverbindungen der USA. Im Rahmen der Modernisierung mussten auch viele Brücken durch Konstruktionen für höhere Traglasten ersetzt werden. In Sibley prüfte man den Neubau einer zweigleisigen Brücke in gerader Verlängerung des nordöstlichen Bahndamms, um die vorhandenen Kurven zur alten Brücke zu umgehen. Die Modernisierung der vorhandenen Konstruktion bei Wiederverwendung der alten Brückenpfeiler war aber kostengünstiger. Die Brückenpfeiler ließen zwar keinen neuen Überbau für zwei Gleise zu, aber der zweigleisige Streckenausbau bis zur Flussquerung und die Verwendung einer Gleisverschlingung auf der Brücke wurde als vorerst ausreichend eingestuft; wenn nötig konnte später immer noch auf einen Neubau zurückgegriffen werden.
Zusätzlich zum Austausch des Überbaus sollte die ursprüngliche Steigung der nordöstlichen Zufahrt auf 5 ‰ reduziert und der Bahndamm für zwei Gleise ausgebaut werden. Dies erforderte eine Erhöhung, Verlängerung und Verbreiterung des Bahndamms und eine Erhöhung der Trestle-Brücke. Da alle Arbeiten bei laufendem Verkehr erfolgen mussten, wobei etwa 16 Züge in den Tagstunden die Brücke überquerten, erstreckten sich die Bauarbeiten über mehrere Jahre von September 1911 bis Juli 1915. Zuerst besserte man witterungsbedingte Schäden im oberen Bereich der Brückenpfeiler aus und modifizierte einige von ihnen wie auch die beiden Widerlager für den neuen Überbau. Danach wurden mit Hilfe von Portalkränen nacheinander die ursprünglichen drei großen parallelgurtigen Whipple-Fachwerkträger (engl. whipple truss, nach dem Erfinder Squire Whipple, 1804–1888) der Hauptöffnung über dem Missouri durch moderne Halbparabelträger ersetzt sowie die angrenzenden kleineren Fachwerkträger ausgetauscht. Dann musste der Bahndamm stufenweise erhöht werden, bevor schließlich mit dem Austausch der Trestle-Brücke begonnen werden konnte.
Eine bemerkenswerte Neuerung an der Fachwerkbrücke war die Verwendung eines Gleisbettes aus Schotter auf einem Holzunterbau, wodurch langfristig die Wartungskosten des Gleises deutlich reduziert werden konnten. Die Planung und Ausführung erfolgte unter der Leitung der Ingenieure der AT&SF Charles F. W. Felt (Chefingenieur) und Albert F. Robinson (Brückeningenieur); Robinson entwarf später auch die neue Mississippibrücke der AT&SF in Fort Madison (1927). Die American Bridge Company fertigte den neuen Stahl-Überbau, der von der Missouri Valley Bridge and Iron Co. errichtet wurde. Arbeitskräfte der AT&SF führten die Arbeiten am Bahndamm und an der neuen Stahl-Trestle-Brücke aus.
=== Übernahme durch die BNSF Railway 1995 ===
Mit dem Ausbau des Straßennetzes in den USA verlagerte sich der Personen- und Güterverkehr von der Eisenbahn zunehmend auf die Straße, was ab den 1960er Jahren die großen Bahnnetze in Nordamerika immer unrentabler machte und in der Folgezeit zu mehreren Insolvenzen und Fusionen der Eisenbahngesellschaften führte. Um sich breiter über weitere Wirtschaftsbereiche aufzustellen, wurde 1967 die Holdinggesellschaft Santa Fe Industries gegründet. Nach einer gescheiterten Fusion mit der Southern Pacific Company zur Santa Fe Pacific Corporation wurde die AT&SF 1995 mit der Burlington Northern Railroad zur heutigen BNSF Railway (Burlington Northern and Santa Fe Railway) vereinigt. Schon Anfang der 1990er-Jahre begann die AT&SF mit dem umfassenden zweigleisigen Ausbau der über 800 Kilometer langen Strecke zwischen Südkalifornien und dem Michigansee, der von der BNSF fortgeführt wurde. Die Sibley Railroad Bridge ist heute einer von zwei verbliebenen eingleisigen Abschnitten und wird von täglich 70–75 Zügen befahren (2017); die Gleisverschlingung auf dem Bauwerk ist nicht mehr vorhanden. Die BNSF betreibt nur noch Schienengüterverkehr, der Personenverkehr in den USA wurde bis Anfang der 1980er Jahre vollständig von der 1971 gegründeten National Railroad Passenger Corporation übernommen, bekannt unter dem Markennamen Amtrak. Der über die Brücke verkehrende Fernzug Super Chief der AT&SF wurde ab 1974 von Amtrak als Southwest Limited und ab 1984 schließlich unter dem Namen Southwest Chief weiterbetrieben. Er nutzt gleich dem Güterverkehr die Southern Transcon der BNSF, verläuft aber zwischen Kansas City und Albuquerque entlang der alten Hauptstrecke der AT&SF über den Raton Pass.
== Beschreibung ==
=== Gesamtüberblick ===
Die Sibley Railroad Bridge liegt senkrecht zur Fließrichtung des Missouri und erstreckt sich zwischen den Widerlagern von Südwest nach Nordost über 1244 m. Das Bauwerk gliedert sich vom Sibley-Ufer beginnend in eine Balkenbrücke von 85,6 m Länge, gefolgt von einer das Flussbett überspannenden Fachwerkbrücke aus sechs Einfeldträgern von insgesamt 548,5 m Länge und einer abschließenden 609,9 m langen Trestle-Brücke über das Schwemmland des Missouri River Valley. Die 8700 t schwere Stahlkonstruktion von 1915 ruht auf den beiden Widerlagern und neun Brückenpfeilern aus Sandstein und Beton sowie 15 Gerüstpfeilern aus Stahl. Am Sibley-Ufer ist die Gleisebene auf Bodenniveau, auf der Fachwerkbrücke liegt sie waagerecht in 28 m Höhe über Niedrigwasser und verläuft dann mit einem Gefälle von 5 ‰ über die Trestle-Brücke. Der sich anschließende bis zu 17 m hohe Bahndamm mit dem gleichen Gefälle macht dann eine Rechtskurve, bevor er in gerader Linie etwa drei Kilometer nach Osten über das Schwemmland bis zum Fishing River verläuft.
=== Fachwerkbrücke ===
Seit der Modernisierung der Brücke in den 1910er-Jahren beginnt das Bauwerk auf der Südseite mit einer dreifeldrigen Balkenbrücke aus Trägern von 24,5 m und zweimal 30,3 m Länge, da der ursprünglich nach dem ersten kurzen Balkenträger folgende 61,0 m lange Fachwerkträger ebenfalls durch zwei neue Vollwandträger ersetzt wurde. Dazu mussten damals der erste Brückenpfeiler erhöht und ein weiterer Betonpfeiler (1b) errichtet werden. Die Abfolge der sechs folgenden Fachwerkträger blieb bezogen auf die Spannweiten unverändert, da man die Brückenpfeiler 2–8 von 1885 weiterverwendete. Diese wurden bis auf die Pfeiler 2 und 8 mittels Senkkästen direkt auf dem Grundgestein errichtet, das in Tiefen von 9–12 m unter Niedrigwasser liegt. Die Strompfeiler ragen bis zu 26 m aus dem Wasser empor und besitzen 7–10 m hohe Fundamente, mit Grundflächen von bis zu 19 m × 8 m (Pfeiler 3 und 4). Der größte Pfeiler 5 erreicht dadurch eine Höhe von 35,2 m von der Fundamentunterkante. Der Überbau gliedert sich von Pfeiler 2 bis 5 in drei 120,7 m lange Halbparabelträger mit untenliegendem Gleis, die als spezielle Ständerfachwerke ausgeführt sind. Diese als Pennsylvania truss bezeichnete Bauform wurde von der Pennsylvania Railroad entwickelt und bis in die 1930er Jahre hauptsächlich für Eisenbahnbrücken verwendet. Durch zusätzliche Pfosten sowie zusätzliche Längs- und Querverstrebungen im unteren Bereich werden die Fachwerkfelder hier nochmals unterteilt und verstärkt. Die Bauform war bei höheren Traglasten im Design materialsparender als ältere Fachwerkskonstruktionen, was zur Minimierung des Eigengewichtes gerade bei großen Spannweiten von Bedeutung war. Zwischen Pfeiler 5 und 8 folgen dann drei parallelgurtige Fachwerkträger mit obenliegendem Gleis, mit Längen von 75,3 m und zweimal 52,6 m Länge. Der längere ist als einfaches Ständerfachwerk und die beiden kürzeren sind als Strebenfachwerke mit Pfosten ausgeführt. Die Breite der Fachwerkträger beträgt 6,4 m bei den drei langen und 4,9 m bei den drei kürzeren Trägern, wobei immer der Abstand zwischen den Mittelachsen der Fachwerke angegeben wird.
=== Trestle-Brücke ===
Auf die Fachwerkbrücke folgt über das nördliche Schwemmland eine 609,9 m lange Trestle-Brücke (Gerüstpfeilerviadukt) aus 30 Balkenträgern, die von 14 etwa 14 m breiten Gittermasten bzw. Gerüstpfeilern sowie zwei schmalen Stahlpfeilern am jeweiligen Ende (einer auf dem letzten Steinpfeiler Nr. 8 der Fachwerkbrücke und einer vor dem nördlichen Widerlager) getragen werden. Die gleichmäßige Abfolge von 27,4 m langen Trägern zwischen den Masten und 13,7 m langen Trägern über den Masten wird ergänzt durch einen Träger von 22,9 m Länge, der den Anschluss zur Fachwerkbrücke bildet, und zwei Trägern von 18,4 m Länge zum nördlichen Widerlager hin, zwischen denen der letzte schmale Stahlpfeiler steht. Die 14 Gittermasten und der letzte Stahlpfeiler ruhen auf jeweils vier bzw. zwei Betonsockeln, wobei quer zur Längsachse der Brücke jeweils zwei der Sockel durch eine schmale Betonwand zu einem Fundament verbunden sind. Diese sind mittels Pfahlgründung im Boden verankert und variieren in der Höhe so, dass bei Verwendung von baugleichen Gittermasten die leichten Höhenunterschiede über das Schwemmland ausgeglichen sowie das Gefälle der Gleisebene realisiert werden konnte. Die Balkenträger bestehen aus zwei parallelen Vollwandträgern in einem Abstand von etwa 3 m, wobei die Träger größer 20 m Länge höher sind als die kürzeren Träger, die wiederum auf den höheren Trägern aufgelagert sind. Dieser Umstand bedingte eine leichte Kippung des letzten Gittermastes, da die hier zum Widerlager folgenden Träger die gleiche Höhe des Trägers auf dem Mast haben.
== Flusslaufänderungen des Missouri am Brückenstandort ==
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war der Missouri ein wilder unregulierter Fluss und transportierte jährlich über 300 Mio. Tonnen Geschiebe, was ihm den Spitznamen Big Muddy verlieh. Besonders sein Unterlauf war dadurch ein stark mäandrierendes Fließgewässer, mit einem sich stetig verändernden Flusslauf im durchschnittlich etwa acht Kilometer breiten Missouri River Valley. Die flussaufwärts von Sibley liegende Flussschlinge Jackass Bend wanderte schon vor der Errichtung der ersten Brücke nach Osten auf deren zukünftigen Standort zu und veranlasste die AT&SF ab 1887 zum Bau von mehreren Deichen und Uferbefestigungen am Ostufer der Flussschlinge. Dies war der Auftakt zu einem bis 1909 stufenweise fortgeführten Flussbauprogramm, dessen Kosten sich auf über 340.000 US-Dollar aufsummierten. Anfang des 20. Jahrhunderts begann das United States Army Corps of Engineers mit umfangreichen Uferbefestigungen zwischen Sioux City und St. Louis. Zudem wurden zwischen 1937 und 1963 mehrere Staustufen am Oberlauf des Missouri errichtet, die die transportierte Geschiebemenge auf unter 25 % reduzierten. Im Rahmen des Bank Stabilization and Navigation Project (BSNP) wurde dann der Flusslauf bis in die 1980er Jahre begradigt, wobei 1957 oberhalb von Sibley ein künstlicher Mäanderdurchbruch der Jackass Bend entstand und die Flussschlinge zu einem Altarm machte. Der Verlauf des Missouri ist seither in der Umgebung von Sibley unverändert. Besonderes Merkmal des Flussbettes am Brückenstandort ist heute eine Sandbank zwischen Pfeiler 4 und 5, die den Flusslauf bei Niedrigwasser in zwei Seitenarme teilt. Trotz der Staustufen am Oberlauf kommt es bedingt durch die Begradigung des Missouri manchmal zu hohen Wasserständen auch bei den heute regulierten Abflussmengen, wodurch es bei extremen Wetterlagen in der Hochwassersaison zu großflächigen Überschwemmungen kommen kann. Während der größten Missouri-Flut im 20. Jahrhundert wurden 1993 daher die bisherigen Höchststände aus dem Jahre 1844 am Unterlauf teilweise überschritten. Chanute konzipierte 1885 den Überbau der Brücke mit einer lichten Höhe von 50 ft (15,2 m) über dem Hochwasserstand der Missouri-Flut von 1844 (etwa 11 m über Niedrigwasser), der hier bei der Great Flood of 1993 bis auf etwa einen Meter knapp erreicht wurde, das Bauwerk aber nicht gefährdete.
== Literatur ==
The Sibley Bridge. In: Railroad Gazette. Vol. 20, 17. Februar 1888, S. 104.
The Sibley Bridge Over the Missouri. In: The Railroad and Engineering Journal. Vol. 62, Nr. 3, 1888, S. 134.
Octave Chanute, John F. Wallace, William H. Breithaupt: The Sibley Bridge. In: Transactions of the American Society of Civil Engineers. Vol. 21, September 1889, S. 97–132.
New Bridge Across the Missouri River at Sibley, Mo. In: Railway Age Gazette. Vol. 59, Nr. 1, 1915, S. 13–16.
Raising the Grade on a High Embankment. In: Railway Age Gazette. Vol. 60, Nr. 16, 1916, S. 907 f.
Ballasted Timer Flour for the Sibley Bridge. In: Engineering News-Record. Vol. 74, Nr. 25, 1915, S. 1156 f.
Bank Protection Above Sibley Bridge; Santa Fe Ry. In: Engineering News. Vol. 75, Nr. 14, 1916, S. 638–640.
Brian Solomon: North American Railroad Bridges. Voyageur Press, 2008, ISBN 978-1-61060-458-1, S. 95–97.
== Weblinks ==
Sibley Railroad Bridge (1888). BridgeHunter.com
Sibley Railroad Bridge (1915). BridgeHunter.com
Sibley Railroad Bridge. JohnMarvigBridges.org
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sibley_Railroad_Bridge
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Slime (Band)
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= Slime (Band) =
Slime ist eine deutsche Punk-Band aus Hamburg. 1979 gegründet, wurde sie zu einer der stilprägenden Bands der 1980er Jahre. Musikalisch und auch textlich wandelte sie sich von einer Band mit simplen, eingängigen Liedern im Stile des britischen Punkrocks der späten 1970er Jahre zu einer Gruppe mit ausgefeilteren Songstrukturen und komplexen, verschlüsselten Texten. Sie beeinflusste durch ihre antifaschistischen Texte die Geschichte der deutschen Punk-Bewegung. Einzelne Parolen, besonders aus ihrer frühen Phase, fanden Verbreitung in der autonomen Szene.
Zeitweilig war Slime umstritten. Der Gruppe wurde im Zuge des wachsenden Erfolges „Ausverkauf“ vorgeworfen. Auch ihre antiamerikanischen Texte sorgten für Kritik in der linken Szene. Mehrere Lieder, insbesondere das 1980 veröffentlichte Wir wollen keine Bullenschweine (auch bekannt als Bullenschweine), waren Gegenstand von Ermittlungsverfahren.
Nach der Auflösung 1984 kam es Anfang der 1990er Jahre unter dem Eindruck fremdenfeindlicher Ausschreitungen zu einer Wiedervereinigung, die jedoch nur für zwei Alben Bestand hatte. Erst zu dieser Zeit hatte die Band kommerziellen Erfolg. Nach einer Pause von fünfzehn Jahren vereinte sich die Gruppe im Jahre 2009 wieder, 30 Jahre nach dem Datum der Erstgründung, und veröffentlichte 2012 ein neues Album.
== Bandgeschichte ==
=== Erste Phase: 1979–1984 ===
Michael „Elf“ Mayer und Sven „Eddie“ Räther besuchten das Gymnasium Heidberg im Hamburger Stadtteil Langenhorn. Gemeinsam entdeckten sie ihre Liebe zur Punk-Musik über das erste Album der Ramones und beschlossen, eine Band zu gründen. Mayer übernahm die Gitarre und Räther den Bass, hinzu kam der Hafenarbeiter Peter „Ball“ Wodok am Schlagzeug. Erster Sänger wurde Thorsten „Scout“ Kolle, ein Klassenkamerad von Mayer und Räther. Zunächst gab man sich den Namen „Slime 79 and the Sewer Army“, abgeleitet vom bekannten gleichnamigen Spielzeug. Kurz darauf verkürzte man ihn in Anlehnung an andere kurze und prägnante Punk-Band-Namen aus Hamburg zu Slime. Den ersten Text, den die junge Band schrieb, war Polizei SA/SS, eine Reaktion auf Polizeiaktionen gegen Atomkraftgegner. 1979 folgte der erste Auftritt im Jugendzentrum Kiwittsmoor mit einem zweiten Gitarristen namens Oliver Laudahm. Die Band trat zusammen mit The Kreislaufkollaps auf. Deren Sänger Dirk Jora imponierte der Band, und so trennte man sich von Kolle, der mit der Sängerrolle noch nie zufrieden gewesen war. Kolle ist heute Drehbuchautor für Gute Zeiten, schlechte Zeiten und Rote Rosen, zu Räther pflegt er noch heute Kontakt.In Eimsbüttel probte die Band in einem ehemaligen Bunker. Das erste Lied, das sie in dieser Besetzung schrieb, war Wir wollen keine Bullenschweine. Tom Meyer von Moderne Musik bot ihnen an, eine Single aufzunehmen. Im Herbst 1979 nahm Slime mit Bullenschweine, Iran, Hey Punk und Ich hasse insgesamt vier Stücke auf, sodass statt einer Single genügend Material für eine Extended Play vorlag. Diese erschien im Februar 1980 in einer Auflage von 2.000 Stück, die rasch ausverkauft war. Zusammen mit The Buttocks folgte am 24. Februar ein Konzert in der Turnhalle des Jugendgefängnisses Neuengamme, das auf dem Gelände des ehemaligen KZ Neuengamme errichtet worden war. Jora spielte darauf mehrfach während des Auftrittes an. Dort spielten sie auch unter anderem Polizei SA/SS und Wir wollen keine Bullenschweine sowie ein Cover von Drafi Deutschers Marmor, Stein und Eisen bricht. Das Publikum reagierte heftig auf die Musik der Band. Nach dem Auftritt durften in dem Gefängnis jahrelang keine Rock-Konzerte mehr stattfinden. Kurz nach dem Auftritt stieg Christian Mevs als zweiter Gitarrist ein.
Durch den Erfolg angespornt, liehen sich die Mitglieder von Slime bei Bekannten und Freunden Geld, um die erste LP in den Raubbau-Studios in Hamburg in Eigenregie aufzunehmen. Die erste Pressung von Slime I erreichte eine Auflage von 5.000 Stück und wurde insgesamt fünf Mal auf eigene Kosten nachgepresst. Ein Großteil der Stücke war in Englisch verfasst. Das erste Album erregte wegen des Lieds Wir wollen keine Bullenschweine das Interesse der Hamburger Staatsanwaltschaft und des Verfassungsschutzes. Erstere führte in Klaus Maecks Plattenladen Rip Off eine Razzia durch und beschlagnahmte einige Exemplare des Debütalbums. Zudem erhielt Maeck, der irrtümlich für den Produzenten der Platte gehalten wurde, eine Anzeige wegen Volksverhetzung; das Verfahren wurde später eingestellt.Nachdem das Debütalbum in der Punk-Szene großen Erfolg gehabt hatte, wurde Karl-Ulrich Walterbach von Aggressive Rockproduktionen (AGR) auf die Band aufmerksam. Der erste Vertragsabschluss erfolgte per Handschlag. Walterbach ließ 50.000 LPs pressen. Parallel dazu veröffentlichte er 1980 auf dem Sampler Soundtracks zum Untergang die beiden Stücke Polizei SA/SS und Keine Führer. Ersteres musste auf späteren Veröffentlichungen zensiert werden. Der Sampler wurde 1982 wegen dieses Lieds und Helden von Middle Class Fantasies indiziert, da die Strafverfolgungsbehörden „eine Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“ sahen. 1989 erschien Slime I bei AGR noch einmal unzensiert auf CD, 2003 wurde es bei Weird System mit einer neu aufgenommenen, zensierten Version von Wir wollen keine Bullenschweine erneut veröffentlicht.
Nach der Veröffentlichung wurde Schlagzeuger Peter Wodok aus der Band ausgeschlossen. Er hatte schon damals schwere Alkoholprobleme und starb 1994 an den Folgen seines jahrelangen Alkoholkonsums. Für ihn kam Stephan Mahler, ein ehemaliger Bandkollege von Mevs. Mahler hatte zu Slime I den Text von Karlsquell beigesteuert sowie bei I Wish I Was mitgesungen. 1982 erschien die zweite LP Yankees raus. Mit dem Album entschloss man sich, bestärkt durch den Erfolg der deutschen Texte auf der EP und dem Debütalbum, bei weiteren Veröffentlichungen ausschließlich auf deutschsprachige Songs zu setzen. Mahler begann auch als Songschreiber aktiv zu werden und steuerte mit Demokratie und Pseudo zwei Texte bei. Das Album festigte Slimes Ruf als radikalste Punk-Band in der deutschen Szene, wenn auch die Texte auf dem zweiten Album wesentlich persönlicher gehalten waren. Zusammen mit Beton Combo, Aheads und Middle Class Fantasies tourte Slime durch Deutschland.
Mahler übernahm bei Slime schnell eine führende Rolle und schrieb einen Großteil des dritten Albums Alle gegen Alle, das am 15. April 1983 erschien. Zum ersten Mal verfügte es dank Harris Johns über eine professionelle Produktion. Musikalisch wandte sich die Band vom 77er-Punk-Rock ab und begann, Einflüsse des wesentlich dichteren und dunkleren Hardcore Punks, im Stile der Dead Kennedys und von Black Flag, zu integrieren. Das Werk ist textlich differenzierter, besteht aus weniger Parolen und ist düsterer als die vorherigen Alben. Dies lag vor allem an der desolaten Lage der Punk-Szene, die sich politisch stärker ausdifferenzierte, unter anderem in verschiedene neonazistische Auswüchse, aber auch in politisch dogmatische Linke. Beiden widmeten Slime auf diesem Album mehrere Lieder, unter anderem Linke Spießer und Nazis raus, eine Coverversion von Beton Combo. In diese Zeit fallen weitere Konzerte, teilweise mit Vorbildern der Band. Zum Beispiel 1982 in Hamburg-Harburg zusammen mit den Dead Kennedys und MDC, begleitet von einer Hundertschaft Bereitschaftspolizei unter der Bühne. Auftritte mit Bad Brains in Osnabrück und Ton Steine Scherben in Neumünster folgten. Doch kurz darauf verließ Mahler die Band wieder. Ausschlaggebend waren Kommerzvorwürfe und Anfeindungen aus der Linken, die Mahler nur schwer aushalten konnte. Er war überzeugt, dass Slime nicht mehr weiterkommen könne und schlug Mayer vor, eine andere Band zu gründen. Als er im Urlaub hörte, dass die Band ohne seine Zustimmung ein Livealbum geplant hatte, verließ er sie. Michael Mayer versuchte noch, Slime zusammenzuhalten. Er holte Stéphane Larsson von The Buttocks in die Band. Zusammen spielte man das Album Live (Pankehallen 21. Januar 1984) ein. Es folgten weitere Auftritte, doch letztlich konnte sich die neue Aufstellung der Band nicht etablieren. Sie löste sich schließlich offiziell auf.
=== Zwischenjahre 1984–1990: Andere Projekte ===
Trotz ihrer Auflösung spielte Slime in der Zeit bis zur Wiedervereinigung der Band 1992 mehrmals, so im „Störtebeker“ in der besetzten Hafenstraße oder auf dem „Störtebeker-Barkassen-Trip“ im Hamburger Hafen, bei dem es Freibier gab und die Barkasse beinah im Hafenbecken versenkt worden wäre. Auch für die besetzte Hafenstraße sowie für alternative Projekte wie die Volxküche engagierten sich die Mitglieder mit Benefiz-Auftritten.Die Bandmitglieder gingen während dieser Zeit verschiedenen Projekten nach. Eddi Räther und Michael „Elf“ Mayer gründeten zusammen mit Stéphane Larsson von The Buttocks die kurzlebige Punk-Band Targets.
Stephan Mahler spielte Schlagzeug in der Gothic-Rock-Band „Mask For“ und in der Gruppe Torpedo Moskau. Beide waren auch in der Gruppe George & Martha aktiv. Mahler und Mevs lernten außerdem Jens Rachut kennen. Während Mahler schon bei Das Moor mit diesem zusammenarbeitete, gründeten Rachut, Mahler und Mevs gemeinsam die Band Angeschissen. Mevs und Mahler gründeten außerdem das „Soundgarden-Studio“ in Hamburg. Insbesondere Mevs leistete dort die Studioarbeit und produzierte zahlreiche Bands. Das Studio wurde bald erste Adresse für das Hamburger Independent-Label L’age d’or. So erledigte er Produktionen für Tocotronic, Blumfeld und Die Sterne und wurde so einer der wichtigsten Produzenten für die Hamburger Schule.Michael Mayer widmete sich ab 1988 der Band Destination Zero, an der auch Peter Siegler von Razzia beteiligt war. Ab 1989 wurden beide Mitglieder der Punk-Legende Abwärts, die nach kurzer Auflösung von Frank Z. und FM Einheit fortgeführt wurde und bis 1995 bestand hatte. Mayer betrieb die Band Abwärts parallel nach der Wiedervereinigung von Slime.
=== Zweite Phase (1990–1994) ===
1990 erschien die Kompilation Die Letzten mit altem, bisher unveröffentlichten Material sowie diversen Samplerbeiträgen. Am 7. September 1991 traten Slime auf dem „Viva St. Pauli“-Festival auf. Es war der erste Auftritt nach der deutschen Wiedervereinigung. 15.000 Menschen verfolgten den Auftritt. Im Zuge der folgenden politischen Stimmung im Land, mit den Ausschreitungen in Hoyerswerda als Höhepunkt einer rassistischen Welle von Gewalt, beschlossen die Bandmitglieder, Slime wiederzuvereinigen. 1992 erschien das Album Viva la Muerte. Das Album wurde von Rodrigo González, dem späteren Bassisten von Die Ärzte, produziert. Die Produktion des Albums war etwas diffus: Es wurden mehrere Studios benutzt, die finale Abmischung geschah in einem auf Metal spezialisierten Studio. Auch musikalisch war das Album etwas anders als die vorherigen. Es handelte sich um ein Konglomerat aus verschiedenen Genres, unter anderem Seemannslieder, Fußballlieder und Folk-Songs sowie politische Lieder wie Mensch und eher persönliche Songs. Dadurch wurde das Album zum untypischsten im Katalog von Slime. In der Punk-Szene und auch in der Musikkritik kam es nicht besonders gut an. Schnell machten erneute Ausverkaufsvorwürfe die Runde.Nach einigen Auftritten nahm Slime 1993 das Album Schweineherbst auf. Das Album ist textlich differenzierter und anspruchsvoller als frühere Veröffentlichungen und auch musikalisch ausgereifter. Es ist in seiner klaren politisch linken Machart eine Antwort auf die rassistischen Pogrome in Deutschland. Das Lied Der Tod ist ein Meister aus Deutschland wurde als Single ausgekoppelt und stellt eine musikalische Verarbeitung des Gedichtes Todesfuge von Paul Celan dar. Es ist eine direkte Antwort auf die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und den Mordanschlag von Mölln. Das Stück zog Parallelen zum KZ-System im Dritten Reich, dem Ausgangspunkt des Originalgedichts. Marcus Wiebusch, zu jener Zeit bei But Alive, schrieb den Text Aufrecht gehen, der von Mayer vertont wurde. Der Großteil des Albums wurde von Mahler geschrieben. Eddie Räther blieb aus privaten Gründen dem Album fern, so dass Mayer dessen Bassparts einspielte. Schweineherbst wurde dem kurz zuvor verstorbenen Drummer Peter Wodok gewidmet. Es war das bis dato erfolgreichste Album der Band und verkaufte in den ersten Wochen 40.000 Einheiten. Damit erreichte das Album Platz 66 der deutschen Album-Charts.Ende 1994 trennte sich die Band nach einer Abschiedstour erneut. Stephan Mahler und Christian Mevs waren mit dem Erfolg der Band überfordert. Aus ihrer Sicht waren Slime keine reguläre Rock-Band, die von der Musik leben sollte, und sie alle keine Rock-Stars. Mevs begründete dies später so:
Mayer dagegen bewertete den großen Erfolg der Band positiv und wollte unbedingt weitermachen. Auf der gemeinsamen Tour kam es daher häufig zu Streitereien, die letztlich zur erneuten Auflösung führten. Auf der Tour produzierte die Band noch ihr zweites Livealbum Live Punk Club, aufgenommen in der Großen Freiheit in Hamburg.
=== Zwischenjahre von 1995 bis 2009: Wiederveröffentlichungen und Rubberslime ===
Die einzelnen Mitglieder widmeten sich anderen Projekten. Mayer gründete seine Soloband Elf, benannt nach seinem Pseudonym, die zwei Alben veröffentlichte. Zusammen mit Jora sowie Musikern von Abstürzende Brieftauben und Heiter bis wolkig gründete er die Band C.I.A. (Church of Independent Assholes), die jedoch nach der Veröffentlichung eines Albums eingestellt wurde.
Mahler machte sich mit dem Stoffgroßhandel seines Vaters selbstständig und beendete seine Musikkarriere. Auch Mevs zog sich nach einem Hörsturz bis zur Reunion von der aktiven Musikerkarriere zurück. Er arbeitet heute als Komponist für Hörspielmusik für den Norddeutschen Rundfunk und Deutschlandradio Kultur.Im Jahr 2000 erklärten die Richter des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) Deutschland muss sterben zur „Kunst im Sinne des Grundrechts“. Ein Veranstalter einer Demonstration, der das Lied gespielt hatte, bekam zunächst eine Geldstrafe, legte dagegen jedoch so lange Einspruch ein, bis er die oberste Instanz erreichte.2002 und 2003 erschienen bei Weird System Nachpressungen der ersten drei Alben, die zensierten Stücke wurden hierfür in Teilen neu eingesungen, um strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen. 2004 erschien dort auch die Doppel-DVD Wenn der Himmel brennt, die bereits für 2003 angekündigt worden war, jedoch wegen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft verschoben werden musste. Die DVD bietet in Camcorder-Qualität einen dokumentarischen Überblick über die gesamte Bandgeschichte und enthält ein 56 Seiten starkes Booklet mit einem Interview, das die komplette Bandgeschichte umfasst, sowie ein komplettes Werkverzeichnis.2003 gründeten Jora, Mayer und die Band Rubbermaids nach dem gescheiterten Versuch einer erneuten Slime-Wiedervereinigung das Projekt Rubberslime, das bis 2005 in dieser Besetzung bestand. Dann stieg Jora aus. Jora, finanziell seit 1996 durch Steuerschulden ruiniert, hielt sich bis 2007 als Taxifahrer über Wasser und lebte anschließend von Arbeitslosengeld II. Mayer stieg in die Punk-Band Die Mimmi’s ein, bei der er auch heute noch aktiv ist.
2007 gelang es Mayer, sich und der Band die Rechte an den Mastertapes der ersten drei Alben zu sichern, nachdem Universal, die die Rechte an den AGR-Produktionen besaß, eine Zahlungsfrist verpasst hatte. Die Alben wurden umgehend digital remastered und, um Bonustracks angereichert, über das Label Slime Tonträger neu aufgelegt. Weird System brachte zudem neue LP-Versionen heraus.
=== 2009–2020: „Sich fügen heißt lügen“ ===
Ende Oktober 2008 planten Michael Mayer, Christian Mevs und Dirk Jora einen Neustart ohne Mahler. Alex Schwers, der vorher bei Hass, Knochenfabrik und Eisenpimmel spielte, aber seine Musikkarriere beim Schlagersänger Ibo gestartet hatte, übernahm das Schlagzeug. Eddie Räther sollte wieder den Bass übernehmen, bat jedoch wegen einer Sehnenscheidenentzündung um Aufschub. Im Sommer 2009 sagte er jedoch endgültig ab. Er ist heute als Unternehmer im Bau- und Müllentsorgungsgeschäft tätig. Mayer fragte seine Lebensgefährtin Nici, mit der er bereits bei Die Mimmi’s gespielt hatte.Pfingstsamstag 2010 trat die Band als einer der beiden Headliner auf dem Punk-Festival Ruhrpott Rodeo bei Hünxe auf. Es handelte sich dabei um den ersten Auftritt seit 15 Jahren. Eine Woche später spielte die Band am Millerntor beim hundertjährigen Jubiläum des FC St. Pauli einen zweiten Auftritt. Die Band wurde von Rocko Schamoni angekündigt. Darauf folgte eine Deutschland-Tour.In einer am 17. und 21. Januar 2011 ausgestrahlten Sendung trat Gitarrist Michael Mayer als Kandidat bei Günther Jauchs Wer wird Millionär? auf. Sein Ziel war es, mit der Gewinnsumme eine Konzertreise seiner Band in die USA so weit wie möglich zu finanzieren. Er gewann 16.000 Euro. 2011 beteiligte sich die Band am Soundtrack zum Film Gegengerade von Tarek Ehlail. Die beiden Lieder St. Pauli und Mittendrin sind die ersten neuen Lieder der Band seit der Reunion. Ein Auftritt der Band im Jolly Roger, der Fankneipe des FC St. Pauli, ist im Film zu sehen.2011 wurde das 30 Jahre zuvor veröffentlichte Stück Wir wollen keine Bullenschweine indiziert – die Entscheidung betraf sowohl die gleichnamige EP als auch das erste Album. Das Landeskriminalamt Brandenburg hatte die Entscheidung beantragt. Hintergrund war ein Auftritt der Band am 15. Dezember 2010 im Berliner SO36. Im Anschluss kam es zu einer kleinen Straßenschlacht, bei der Polizisten mit Flaschen und Steinen beworfen wurden. Später im Jahr hatte die Band auf dem Wacken Open Air einen ihrer größten Auftritte. Der geriet freilich in die Kritik, weil im gleichen Jahr auch Frei.Wild, die von der Punk-Szene als Grauzonenband mit ihrer Meinung nach fragwürdigen konservativen Texten wahrgenommen wird, auf dem Festival spielten.Am 15. Juni 2012 erschien das neue Album Sich fügen heißt lügen auf People Like You Records. Es war das erste Studioalbum der Band seit 18 Jahren. Die Band hatte aus der Not, ohne Mahler keinen veritablen Songwriter mehr zu haben, eine Tugend gemacht: Auf diesem Album wurden nur Texte des anarchistischen Dichters Erich Mühsam vertont. Im Sommer 2012 spielten Slime bei einigen Open-Air-Festivals, wie Area4 und das Nonstock-Festival nahe Darmstadt. Im Herbst und Winter folgte eine Club-Tour.
Am 4. März 2013 erschien die offizielle, von Daniel Ryser verfasste Bandbiografie Slime: Deutschland muss sterben. Die anschließende Lesereise wurde von Mevs, Mayer und Jora akustisch begleitet. 2013 folgte die Indizierung von Polizei SA/SS. Die Indizierung hatte auch Folgen für diverse Bands, die den Slime-Song gecovert haben, so unter anderem für Totenmond und Japanische Kampfhörspiele, deren Tonträger daraufhin ebenfalls indiziert wurden.
Am 29. September 2017 folgte das Studioalbum Hier und jetzt, das zum ersten Mal seit der Neugründung neue Lieder enthält. Als Songwriter beteiligten sich Max Richard Leßmann, Frank Nowatzki (ex-Beton Combo) sowie Andreas Hüging an dem Album. Bereits vorher waren die Singles Sie wollen wieder schießen (dürfen) und Unsere Lieder als 7’’ erschienen. Eine limitierte Box enthielt neben dem Album im Digipak, einem Aufnäher und einer Posterflag ein bis dato unveröffentlichtes Livealbum. Das Album erreichte Platz 20 der deutschen Albencharts.
Am 13. März 2020 erschien das Album Wem gehört die Angst, das von Christian Mevs selbst produziert wurde. Das Album wurde über Arising Empire veröffentlicht und erreichte als erste Slime-Veröffentlichung mit Platz 9 die Top 10 der deutschen Charts.Am 30. Juli 2020 verkündete Sänger Dirk Jora über eine E-Mail an diverse Fanzines, dass er die Band mit sofortiger Wirkung verlassen habe. Jora verwies auf „unüberbrückbare interne Probleme“ und sprach unter anderem von Differenzen bei der praktischen Umsetzung von Texten des letzten Slime-Albums sowie bei der Frage, wie die Band mit Crew- und Band-Mitgliedern umgehen sollte. Mit seinem Ausstieg habe sich die Band ebenfalls aufgelöst, erklärte Jora. Am gleichen Tag gaben die verbliebenen Bandmitglieder über die Facebook-Fanpage der Band bekannt, Dirk Jora habe Slime „aufgrund seiner gesundheitlichen Situation verlassen“ und sagten die für 2020 geplanten Konzerte ab. Von einer Auflösung der Band war in diesem Statement explizit keine Rede. Stattdessen teilten die verbliebenen Bandmitglieder mit: „Wie, ob und wann es eventuell weitergeht muss erstmal offen bleiben“.
=== Seit 2021: Neuer Sänger Tex Brasket ===
Am 17. Dezember 2021 veröffentlichten Slime die Video-Single Komm schon klar mit dem ehemals wohnungslosen Berliner Straßensänger Tex Brasket, den die Band nach Dirk Joras Ausscheiden kennengelernt hatte. Der Text zum Song stammt aus der Feder des Sängers und handelt von seinem Leben auf der Straße. Außerdem wurde für den Sommer 2022 ein neues Album namens Zwei angekündigt, das über Slime Tonträger/Hulk Räckorz am 15. Juli 2022 erschien.
== Stil ==
Slime verstand sich von Beginn an als politische Punk-Band. Dies war zur damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit, waren die Anfänge der Punk-Bewegung doch zunächst politisch diffus. Zwar lehnte man sich gegen Autoritäten auf, doch ein linkes und radikal libertäres Weltbild war in der Punk-Szene jener Zeit nicht verankert. Auch eher am No-Future-Ideal der britischen Punk-Szene orientierte Texte, wie sie bei anderen frühen Punk-Bands wie Razzia oder Chaos Z zu finden waren, fehlten bei Slime. Stattdessen war es zu Beginn die Lust an „Randale“ und der „Wille zur Veränderung“, der aus den Texten sprach. Bereits der Titel der EP Wir wollen keine Bullenschweine sowie das gleichnamige Titellied waren ein Affront gegen die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Aus der Anti-Atomkraft-Bewegung kommend und durch die Ausschreitungen bei den Demonstrationen der AKW-Gegner entscheidend geprägt, versteifte sich die Wut über das repressive Agieren des Staates, der letztlich das stark umstrittene Wir wollen keine Bullenschweine, aber auch die weiteren Texte der ersten beiden Alben prägte. Weitere Themen in der ersten Phase waren die Abgrenzung von anderen Jugendkulturen (D.I.S.C.O.) und Spießern sowie Alkoholkonsum (so besang Slime die Aldi-Marke Karlsquell). Fußball war ebenfalls von Beginn an ein großes Thema, ironischerweise zunächst für den HSV, dann jedoch für den FC St. Pauli.
Musikalisch litten die ersten Aufnahmen unter dem fehlenden Geld, das erst mit der Vertragsunterzeichnung bei Aggressive Rockproduktionen zur Verfügung stand. So wurden die ersten Alben in Eigenregie produziert und verfügten daher über eine eher rohe Tonqualität. Zunächst noch von der britischen Punk-Bewegung um Bands wie The Clash, The Damned und den Sex Pistols beeinflusst, adaptierte man später auch den Sound des US-amerikanischen Hardcore-Punks, hier insbesondere Black Flag und Dead Kennedys. Die ersten Aufnahmen waren entsprechend den Vorbildern eher simpel gehalten, jedoch mit einem stärker rock-lastigen Sound, der vor allem auf die Verehrung von Ton Steine Scherben zurückgeht. Bis zum Ende der ersten Band-Phase steigerte sich der musikalische Anspruch – gerade das letzte Album Alle gegen Alle war zudem wesentlich aufwändiger produziert. Durch das Hinzukommen von Stephan Mahler als Haupttexter veränderten sich auch die Texte, die zunächst stark parolenhaft und provokant waren. Bei Alle gegen Alle wurden mehr persönliche Themen behandelt. Zudem waren die Texte reflexiver und behandelten das Verhältnis zur eigenen Szene.Nach der Wiedervereinigung der Band 1990 wurden die Texte wesentlich anspruchsvoller. Sowohl Viva la Muerte, von Rodrigo González mit einer Metal-Produktion versehen, als auch Schweineherbst arbeiten mit einer metaphorischen Symbolik, die sich von den klaren Aussagen früherer Produktionen verabschiedete. Beide Alben sind geprägt von den fremdenfeindlichen Brandanschlägen nach der deutschen Wiedervereinigung. Musikalisch war Viva la Muerte stärker vom Metal geprägt, während Schweineherbst wieder deutlich mehr Punk-Elemente besaß. Diverse Riffs erinnerten sowohl an Slayer als auch an Social Distortion. Schweineherbst wird von der Kritik als Opus magnum in Slimes Schaffen gesehen, als „bestes Deutschpunk-Album aller Zeiten“, das über „[i]ntelligente Texte, kraftvolle[n] Midtempo-Hardcore und eine unglaubliche Sound-Dichte“ verfügt.
== Bedeutung ==
=== Punk-Szene und Protestkultur ===
Slime war eine der einflussreichsten deutschen Punk-Bands der frühen Bewegung und prägte so die politische Grundhaltung eines großen Teiles der deutschen Szene. Sie gehörte zusammen mit Toxoplasma, Canal Terror, Daily Terror und Razzia der zweiten Welle an Punk-Bands an. Allen diesen Bands waren effektvolle und provokative Parolen gemein, die sie wesentlich von früheren Bands unterschieden. Aus dem Gros ähnlicher Bands hob sich die Band vor allem durch ihre extrem provozierenden Texte heraus. Die vor allem polizeifeindlichen Texte der ersten Aufnahmen beeinflussten die Protestkultur jener Zeit. Slime prägten verschiedene Parolen der damaligen und zum Teil auch noch heutigen links-autonomen Demonstrationskultur. So gehen Parolen wie „Polizei SA – SS“, „Demokratie – die klappt wohl nie“, „Ich glaube eher an die Unschuld einer Hure als an die Gerechtigkeit der deutschen Justiz“, „Mollis und Steine gegen Bullenschweine“ und „Legal – Illegal – Scheißegal“ auf Slime zurück. Bis heute ist nicht klar, ob sich die Parole A.C.A.B. („All Cops Are Bastards“, dt. „Alle Bullen sind Bastarde“) in Deutschland durch Slime verbreitete oder ob das gleichnamige Lied der britischen Band The 4-Skins hier anregend war. Die harten Texte der ersten Veröffentlichungen imponierten der Punk-Szene jener Zeit. Noch heute ist Slime „[d]ie Band, auf die sich jeder einigen kann, die musikalisch wie textlich von 1979 bis 1985 und von 1990 bis 1994 Generationen von politisch interessierten Punks prägte“.Slime richtete sich in Songs wie Sand im Getriebe gegen den Staat und sang in Nazis raus (Original von Beton Combo) sowie Schweineherbst gegen Nazis. Hey Punk gilt als Punk-Hymne. Das Lied Deutschland mit seiner Zeile „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“ ist eine Umkehrung der Losung „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“ auf dem 1936 errichteten Hamburger Kriegerdenkmal am Dammtorbahnhof und sorgte für heftige Kontroversen. Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 2000 ist es jedoch erlaubt, das Lied öffentlich abzuspielen oder zu zitieren. In seiner Urteilsbegründung bezog es sich auf die im künstlerischen Anspruch metaphorische Ähnlichkeit mit Heinrich Heines Gedicht Die schlesischen Weber.Die hessischen Grünen plakatierten ein ironisches „Legal, Illegal, Scheißegal“ im Landtagswahlkampf, der in die Zeit der Flick-Affäre 1984 fiel.Der Umgang der Punk- und der linken Szene mit Slime ist jedoch nicht frei von Konflikten. Wegen des Lieds Gerechtigkeit, in dem es heißt „Ich glaube eher an die Unschuld einer Hure als an die Gerechtigkeit der deutschen Justiz“ wurde die Band von autonomen Frauengruppen angegriffen. Kommerzvorwürfe machten sowohl vor Alle gegen Alle als auch bei den beiden Reunions die Runde. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Antiamerikanismus der Band, unter anderem bei Yankees raus. Bereits bei der Erstveröffentlichung des Liedes wurde die Band stark kritisiert – ihr wurde unter anderem Rassismus unterstellt. Die Band reagierte bei Alle gegen Alle darauf und veröffentlichte eine Erklärung, in der sie die Vorwürfe zurückwies. Das Lied blieb umstritten und sorgte noch einmal für böse Reaktionen, als Rubberslime es 2003 neu auflegten. Attac wollte das Lied auf einem Unterstützungssampler veröffentlichen. Einigen Mitgliedern der Organisation gefielen die Vergleiche mit dem Nationalsozialismus jedoch nicht. Es kam zu einer längeren Diskussion, in die sich auch Mahler einschaltete, der die Rechte an seinem Lied verletzt sah. Letztlich entschied sich Attac, den Sampler als Peace Attack Vol. 2 über Impact Records herauszubringen und nicht namentlich auf dem Titel genannt zu werden. Insbesondere die antideutsche linke Szene ging ebenfalls auf Abstand. Im Szeneladen Conne Island in Leipzig hatte Rubberslime Auftrittsverbot, das sich auch nach der Reunion als Slime fortsetzte.
=== Interpretationen durch andere Bands und Musiker ===
Slime war eine der wichtigsten Bands der linken Szene in den frühen 1980ern, und so tauchen Referenzen auf sie auch Jahre später auf. Die Ärzte verwenden Material aus Bullenschweine in ihrem Nummer-1-Hit Männer sind Schweine (allerdings am Schluss des Stückes und kaum wahrnehmbar) und spielen auf einigen Live-Konzerten am Ende des Lieds Richtig schön evil den Refrain von Polizei SA/SS. Auch im Lied Kein Gerede von WIZO findet sich ein direkter Bezug auf eine Zeile des Liedes „Bullenschweine“ (Noch ein Aufruf zur Revolte, noch ein Aufruf zur Gewalt). Auch die Broilers haben auf ihrer 2008 erschienenen Ruby-Light-and-Dark-EP ein Lied von Slime gecovert, nämlich Zusammen.
Auch Bands aus der rechtsradikalen Szene wie Endstufe und Kampfzone coverten Slime-Songs (Gewinnen werden immer wir auf der 10″ 2003 von Kampfzone; Linke Spießer auf dem 2006er Album Feuer frei von Endstufe).Alec Empire veröffentlichte mit seinem Projekt Atari Teenage Riot 1997 das Lied Deutschland (Has Gotta Die) als Hommage an Deutschland muss sterben. Später coverte er für den von ihm zusammengestellten Chaostage-Soundtrack das Stück Bullenschweine, das zusammen mit dem Original Grundlage der Indizierung des Soundtracks wurde.Stücke von Slime werden außerdem in der deutschsprachigen Hip-Hop-Szene rezipiert. So verwendeten die Absoluten Beginner in den 1990ern Bullenschweine als Vorbild für ihren Beitrag K.E.I.N.E. Die Hamburger Hip-Hop-Formation Fischmob verwendete den Text für ihren Song Polizei Osterei, ein Stück im Stile der Dance-Aufnahmen der Schlümpfe. 2014 zitierte Casper das Stück auf seiner Single Im Ascheregen: Ein drittel Heizöl, zwei drittel Benzin. Zudem postete er auf seiner Facebook-Seite ein Video zu Deutschland muss sterben, was zu einer lebhaften Diskussion seiner Fans um politische Richtungen führte.Im April 2009 erschien das Tribut-Album Alle gegen Alle – A Tribute to Slime, auf dem Bands aus der deutschen Punk- und Oi!-Szene Songs von Slime covern. Beiträge zu diesem Sampler lieferten unter anderem Die Toten Hosen (Viva la Muerte), Die Mimmi’s (Der Tod ist ein Meister aus Deutschland), Dritte Wahl (Yankees raus), Rasta Knast (Störtebecker), Stage Bottles (Robot Age), Broilers (Zusammen), Volxsturm (Gewinnen werden immer wir), Pöbel & Gesocks (Keine Führer), Ungunst (Goldene Türme) und die Jesus Skins (Wenn der Himmel brennt).
Ein weniger populärer Tribut-Sampler erschien 2004 auf dem Label Kink Records. Unter anderem sind Popperklopper, Hausvabot, Kumpelbasis sowie die brasilianische Band Agrotóxico auf der Tape-Compilation vertreten. Einige der veröffentlichten Songs fanden sich später ebenfalls auf dem Alle gegen Alle – A Tribute to Slime-Sampler wieder.
Auch in der Metal-Szene wurde die Band rezipiert. Stücke von Slime wurden unter anderem von Kreator, Totenmond und Japanische Kampfhörspiele gecovert.
Neben Cover-Versionen und Song-Zitaten ist die Band auch Gegenstand verschiedener Song-Texte. Jens Rachut, angesäuert über die Reunion von Slime 1990, widmete der Band das Blumen-am-Arsch-der-Hölle-Stück Schleim, in dem es heißt:
Dies war in erster Linie gegen Mahler gerichtet, der mit ihm bei der Vorgängerband Angeschissen zusammengearbeitet hatte. Allerdings versöhnten sich die beiden später wieder: 2006 arbeiteten sie bei Kommando Sonne-nmilch wieder zusammen. In Egotronics Kotzen, einer Antwort auf die Reaktionen zu ihrem kontroversen Stück Raven gegen Deutschland, ist ein Slime-Shirt der Aufhänger für folgende Beobachtung:
Die Hip-Hop-Formation Antilopen Gang bezieht sich in ihrem Song Outlaws mit dem Satz „Deutschrap muss sterben damit wir leben können“ auf den Song Deutschland.Das Band-Logo von Slime mit seinem hohen Wiedererkennungswert findet sich in geringfügiger Abwandlung im Logo von Michael Mayers Band Elf sowie im Logo der Crossover-Band Emils wieder.
== Besetzungen ==
=== Besetzung (2016) ===
== Diskografie ==
=== Studioalben ===
1981: Slime I (Eigenproduktion, 1982 auf Aggressive Rockproduktionen lizenziert, indiziert im Mai 2011)
1982: Yankees raus (Aggressive Rockproduktionen)
1983: Alle gegen Alle (Aggressive Rockproduktionen)
1992: Viva la Muerte (Aggressive Rockproduktionen)
1994: Schweineherbst (Indigo)
2012: Sich fügen heißt lügen (People Like You Records)
2017: Hier und jetzt (People Like You Records)
2020: Wem gehört die Angst (Arising Empire)
2022: Zwei (Slime Tonträger & Hulk Räckorz)
=== Livealben und Kompilationen ===
1984: Live (Pankehallen 21. Januar 1984) (Aggressive Rockproduktionen)
1990: Compilation ’81–’87 (Bitzcore)
1990: Die Letzten (Aggressive Rockproduktionen)
1995: Live Punk Club (Slime Tonträger)
2012: Rebellen 1979–2012 (Beilage zum Visions Juni 2012)
2017: Live (Beilage zum Box-Set von Hier und jetzt)
=== Singles und EPs ===
1980: Wir wollen keine Bullenschweine (EP, Moderne Musik, indiziert)
1993: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland / Schweineherbst (7″, Weserlabel/Indigo)
1993: 10 kleine Nazischweine (Split-7″ mit Heiter bis Wolkig, Weserlabel)
2015: Fick das Gesetz (7″, Aggressive Punk Produktionen)
2016: Sie wollen wieder schießen (dürfen) (7″, People Like You Records)
2017: Unsere Lieder (7″, People Like You Records)
2018: Patrioten/Hallo Hoffnung (Split-7″ mit ZSK, People Like You Records)
=== Tribute-Sampler ===
2009: Alle gegen Alle – A Tribute to Slime (mit Toten Hosen, Rasta Knast, Dritte Wahl etc., indiziert)
=== Videoalben ===
1994: Schweineherbst (VHS, Indigo)
2004: Wenn der Himmel brennt (2 DVD, Weird System)
=== Exklusive Samplerbeiträge ===
1981: Keine Führer und Polizei SA-SS auf Soundtracks zum Untergang (indiziert)
1990: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland (Ostinato RMX) auf Zensur!?
1991: Career Opportunities auf Slam-Brigade Haifischbar – Punk in Hamburg 1984–90
1992: Hey Punker (zusammen mit Abwärts) auf Prollhead! fordert Tribute
1993: Krieg in den Städten auf …Ist es wirklich schon so spät? (Tributalbum für Abstürzende Brieftauben)
1994: We Must Bleed auf Strange Notes! A Germs Cover Compilation
2011: Mittendrin, St. Pauli und Ab jetzt gewinnen immer wir auf Gegengerade (Soundtrack)
2012: Heute hier, morgen dort auf Heute hier, morgen dort – Salut an Hannes Wader
2013: Trau dich auf Giraffenaffen 2
== Siehe auch ==
Liste der Lieder von Slime
== Literatur ==
Daniel Ryser: Slime – Deutschland muss sterben. 2. Auflage. Wilhelm Heyne Verlag, München 2013, ISBN 978-3-453-67653-4.
== Weblinks ==
Website der Band
Slime bei laut.de
Slime bei Discogs
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Slime_(Band)
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St. Christophorus (Reinhausen)
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= St. Christophorus (Reinhausen) =
Die Kirche St. Christophorus ist die evangelisch-lutherische Pfarrkirche des Dorfes Reinhausen im Landkreis Göttingen (Niedersachsen). Sie steht auf dem Sandsteinfelsen des Kirchbergs über dem Ortskern des Dorfes. Ursprung des Kirchenbaus war eine im 10. Jahrhundert errichtete Burgkapelle der Grafen von Reinhausen. Nach Umwandlung der Burg in ein Kollegiatstift diente sie diesem und seit dem 12. Jahrhundert dem daraus hervorgegangenen Benediktiner-Kloster Reinhausen als Kirche. Noch heute wird sie deshalb häufig als Klosterkirche Reinhausen bezeichnet. Gleichzeitig war sie immer Pfarrkirche des Dorfes Reinhausen. Wenige Jahrzehnte nach Einführung der Reformation im Jahr 1542 wurde das Kloster nach und nach aufgelöst, die Kirche danach mit kurzen Unterbrechungen nur noch als Gemeindekirche genutzt. Sie gehört heute zum Kirchenkreis Göttingen im Sprengel Hildesheim-Göttingen der Hannoverschen Landeskirche.
Trotz erheblicher baulicher Änderungen im Stil der Gotik und des Barocks tritt im Gesamtbild der Stil der romanischen Klosterkirche deutlich hervor. Das zeigt sich besonders an dem weithin sichtbaren Westriegel mit Doppelturmanlage. Der Bautypus wurde in mehreren Bauphasen von einer romanischen Basilika zu einer Hallenkirche geändert. Im Innenraum sind mehrere spätmittelalterliche Kunstwerke erhalten, darunter zwei spätgotische Altäre, großflächige Reste von Wandmalereien sowie Steinplastiken, die unter anderem den heiligen Christophorus als Schutzpatron der Kirche darstellen.
== Lage ==
Die Klosterkirche steht auf einer Höhe von etwa 210 m ü. NHN auf dem Kirchberg, etwa 30 Meter nördlich einer Felsenkante, die steil zum Tal des Wendebachs und zum im Tal südöstlich der Kirche gelegenen Dorfkern von Reinhausen abfällt. Durch die Lage auf einem sich nach Westen erstreckenden Ausläufer des Knülls, der steil über dem Dorf aufragt, ist die Kirche stark exponiert. Im Gegensatz zum Ortskern ist sie von den westlich angrenzenden Hügeln und selbst vom Westhang des Leinetals aus sichtbar.
Die Straße, die vom Dorf auf den Kirchberg führt, wurde erst im frühen 19. Jahrhundert angelegt, zuvor war der Zugang vom Dorf zur Kirche nur zu Fuß über drei in den Felsen gehauene Treppen möglich, deren Stufen heute stark ausgetreten sind. Eine Zufahrt mit Fuhrwerken war bis dahin nur von Nordosten über den Domänenhof möglich.Die Kirche ist nicht genau geostet, sondern um einen Winkel von etwa 23 Grad in Richtung Norden gedreht. Der genau genommen nach Westsüdwesten ausgerichtete Westriegel der Kirche grenzt an einen befestigten Parkplatz, an dem die heutige Zufahrtsstraße endet. Auch zu dieser Seite fällt das Gelände deutlich ab. Westlich davon stehen auf einem Ausläufer des Kirchbergs die ehemalige Schule und der Kindergarten des Ortes. Die Süd- und Ostseite der Kirche grenzen an den umfriedeten Kirchhof, während die Nordseite nicht öffentlich zugänglich ist. Sie grenzt an das ehemalige Klostergelände, das im ehemaligen Amtshaus unter anderem das Forstamt Reinhausen beherbergt und zum Kirchhof mit einer Sandsteinmauer abgegrenzt ist. Ein Zwischenbau, der die Westfront der Kirche mit dem Amtshaus verband, wurde 1955 durch einen Brand bis auf die Außenwände der beiden massiven Untergeschosse zerstört.
Nordöstlich des Friedhofs liegt die Domäne Reinhausen.
== Geschichte ==
=== Burg der Grafen von Reinhausen ===
Der älteste archäologische Nachweis für menschliche Aktivitäten auf dem Reinhäuser Kirchberg ist das Bruchstück eines Steinbeils aus der Jungsteinzeit. Eine kontinuierliche Besiedlung kann allerdings erst seit dem Frühmittelalter nachgewiesen werden. Seit dem 9. Jahrhundert befand sich eine Burganlage der Grafen von Reinhausen auf dem durch Felsabbrüche zum Tal hin natürlich gesicherten Bergsporn über dem Dorf Kirchberg. Eine größere Zahl archäologischer Funde aus der Umgebung der Klosterkirche konnte auf das 9./10. Jahrhundert datiert werden. Im 10./11. Jahrhundert hatten die Grafen von Reinhausen das Gaugrafenamt im Leinegau inne und damit auch überregionale Bedeutung. Entsprechend war ihre Stammburg in Reinhausen dimensioniert: Der Wohnbereich mit Kirche im Westen umfasste etwa anderthalb Hektar Fläche, der nordöstlich angrenzende Wirtschaftshof etwa einen weiteren Hektar. Der heutige Standort der Kirche, der Kirchhof und angrenzende Gebiete waren mit eingeschlossen. Seit 1980 wurden in mehreren Einzelgrabungen und Befundaufnahmen kleinere Bereiche des Burggeländes archäologisch untersucht. An der Abbruchkante des Bergsporns wurde auf etwa neun Metern Länge eine bis zu 3,30 Meter dicke zweischalige Befestigungsmauer freigelegt. Anhand hochmittelalterlicher Kleinfunde im Baubefund und im Abbruchschutt wurde der Abbruch der Mauer auf das 12. Jahrhundert datiert. Zum flach ansteigenden Hang hin bestand die Befestigung aus zwei Abschnittsgräben und einer drei Meter dicken vermörtelten Mauer. Die Innenbebauung der Burg ist schwierig zu rekonstruieren, weil das Gelände noch im Hochmittelalter durch das Kloster überbaut wurde. Im Inneren der Klosterkirche wurden bei Ausgrabungen allerdings Reste der Burgkirche der Grafen von Reinhausen gefunden. Über die genaue bauliche Gestaltung der Burgkirche liegen keine Zeugnisse vor.
=== Stiftskirche ===
Ende des 11. Jahrhunderts wandelten die Grafen Konrad, Heinrich und Hermann von Reinhausen sowie ihre Schwester Mathilde ihre Stammburg in ein Stift um. Der Datierung der Umwandlung in ein Stift auf das Jahr 1079 in älterer Literatur wird jedoch in neuerer Forschung widersprochen. Stattdessen werden anhand möglicher Todesdaten eines der Stifter, des Grafen Konrad von Reinhausen, die Jahre 1089 oder 1086 als spätester Zeitpunkt der Stiftung angenommen. Nach der historischen Bauforschung durch Ulfrid Müller in den Jahren 1963–1967 gilt als sicher, dass die bauliche Substanz der Eigenkirche nach der Umwandlung der Burg in ein Kanonikerstift und später in ein Kloster für dessen Kirche Verwendung fand. Unter anderem weist darauf die Ausführung der südlichen Chorwand hin. So wird in der Anlage der Burgkirche in ottonischer Zeit bereits die Grundkonzeption der späteren Stiftskirche gesehen. Die Südwand des Chores mit einem noch erkennbaren zugesetzten Rundbogenfenster, dessen Nordwand, der Chorbogen mit den Kämpferplatten, die den unteren Bogenansatz hervorheben, und die unteren Bereiche der Pfeiler im Mittelschiff gelten als Baureste der Burgkirche. Ulfrid Müller nahm für die Ursprungskirche ein Westportal an, an dessen Stelle später die heutige Turmfront errichtet wurde. Im Vergleich zu anderen Burgkapellen in der Region ist die Kirche ungewöhnlich groß und entspricht damit der regionalen Vorrangstellung der Grafen von Reinhausen im 10. und 11. Jahrhundert.Die Klosterkirche Reinhausen geht demnach auf eine Eigenkirche in der Adelsburg der Grafen von Reinhausen zurück, die an dieser Stelle ab dem 10. Jahrhundert archäologisch nachgewiesen wurde. Entsprechend ist der Beginn der Baugeschichte der Kirche auf das 10. Jahrhundert anzusetzen. Trotz fehlender schriftlicher Zeugnisse aus der Frühzeit ist deshalb eine über tausendjährige Geschichte der Kirche nahezu sicher. In der Forschung Müllers wurde zunächst von dem Bau der Burgkirche im 11. Jahrhundert ausgegangen.
=== Klosterkirche ===
Ebenso wie die vorklösterliche Geschichte ist die frühe Geschichte des Klosters Reinhausen hauptsächlich durch einen Bericht des ersten Reinhäuser Abtes Reinhard bekannt, den er zwischen 1152 und 1156 verfasst haben muss. Bei der Umwandlung vom Stift in ein Kloster handelte es sich wahrscheinlich um einen mehrere Jahrzehnte dauernden Prozess. Die Weihe der Klosterkirche wird in die Zeit zwischen 1107 und 1115 datiert und erfolgte durch Bischof Reinhard von Halberstadt. Reinhausen gehörte zum Erzbistum Mainz, insofern stand die Kirchweihe dem Mainzer Erzbischof zu. Da das Erzbistum Mainz nach dem Tod Bischof Ruthards und vor der Bischofsweihe Adalberts vakant war, war ein auswärtiger, benachbarter Bischof beauftragt worden, die Weihe vorzunehmen. Von Bischof Reinhard hatte sich Graf Hermann von Winzenburg als Initiator der Klostergründung eine großzügige Schenkung erhofft, die jedoch nicht gewährt wurde. Im Niedersächsischen Klosterbuch wird als wahrscheinliches Datum der Weihe der 3. Dezember 1111 angenommen. Die Angaben zur Klosterweihe beziehen sich höchstwahrscheinlich auf die Konsekration der Klosterkirche, denn die Berufung eines Abtes erfolgte frühestens im Jahr 1116.Für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts lässt sich das Aussehen der Klosterkirche ungefähr rekonstruieren. Ulfrid Müller und Klaus Grote gehen nach den Erkenntnissen ihrer Bauforschung davon aus, dass diese Gestalt der Burg- und Stiftskirche auch für den Ursprungsbau der Klosterkirche anzunehmen ist, dass also größere Umgestaltungen erst stattfanden, als das Kloster bereits einige Zeit bestand. Während die Kirche für eine Burgkapelle außerordentlich groß war, hatte und hat sie bis heute im Vergleich zu anderen Klosterkirchen der Romanik sehr geringe bauliche Ausmaße. In der Bausubstanz aus der ältesten Klosterzeit ist fast keine Bauornamentik nachzuweisen und die Kirche war nicht eingewölbt – anders als die Kirche des Klosters Lippoldsberg, die architektonisch Vorreiterfunktion in der Region hatte und Mitte des 12. Jahrhunderts vollendet wurde. Das weist darauf hin, dass die eigentliche Errichtung der Kirche wesentlich früher erfolgte. Nach den Ergebnissen der Bauforschung entsprach auch die ursprüngliche Klosterkirche noch etwa der Burg- und Stiftskirche: Erhalten sind Teile dieser ersten Klosterkirche in der Nordwand und Südwand des Chorraums, möglicherweise im Chorbogen einschließlich der Kämpferplatten, in dem östlichen Pfeilerpaar sowie in der unteren Hälfte der beiden westlichen Pfeiler, die im Mittelschiff der heutigen Kirche stehen. Die Kirche war Rekonstruktionen zufolge eine Pfeilerbasilika mit kreuzförmigem Grundriss. Sie besaß ein Querhaus, das im Norden und Süden über die heutigen Außenwände hinausging, und ein gegenüber den Seitenschiffen erhöhtes Mittelschiff, das oberhalb der Seitenschiffe durch Obergaden belichtet war. Die dadurch architektonisch stark hervorgehobene Vierung könnte ähnlich gebaut gewesen sein wie der diesem Bauteil heute entsprechende vordere Teil des Mittelschiffs, das Fußbodenniveau war jedoch gegenüber dem Kirchenschiff um drei Stufen erhöht, also war das Fußbodenniveau des Langhauses entsprechend niedriger. Die Seitenschiffe waren vom Querschiff durch eine Mauer – wahrscheinlich mit einer Öffnung – getrennt, deren Fundament auf der Südseite der Kirche gefunden wurde. Die östlichen Pfeiler des Mittelschiffs hatten ausweislich der Fundamentbefunde ursprünglich einen kreuzförmigen Grundriss. Über die Gestaltung der Westfront der ersten Klosterkirche, etwa durch einen Turm oder ein Westwerk, liegen noch keine Erkenntnisse vor, der heutige romanische Westbau ist jünger.
Nach dem Bericht des ersten Abtes Reinhard über die Geschichte des Reinhäuser Klosters wurde jedoch entgegen der Anlage des Stiftes das Kloster wegen Platzmangels von der Südseite auf die Nordseite verlegt und erweitert. Diese Angabe kann sich auf die Klosterkirche beziehen, denn südlich der Kirche sind tatsächlich nur etwa 10 Meter Platz bis zum Felsabhang.
In die Zeit als Klosterkirche fallen einige Umgestaltungen, der Ein- und Anbau von Kapellen sowie die Stiftung von Altären.
Bauphasen-Rekonstruktion nach Ulfrid Müller
Die romanische Westfassade mit ihren beiden Türmen, die das äußere Erscheinungsbild am stärksten prägt, wurde um 1170 errichtet. Für die Umgestaltungen ab Mitte des 12. Jahrhunderts wird ein Einfluss der Äbtissin Eilika von Ringelheim angenommen, die aus der Familie der Grafen von Reinhausen stammte und mehrere Monate jährlich an ihrem ehemaligen Stammsitz im Kloster Reinhausen verbrachte. Das starke Geländegefälle ließ kein Portal in der Westfassade zu, so dass der Eingang für Besucher, die nicht aus dem Kloster kamen, an die heutige Stelle in ein Zwischenjoch an der Südseite östlich des Turmes gelegt wurde. Gegenüber an der Nordwand befand sich der Zugang aus dem Klosterbereich. Ob bei der Errichtung des Westriegels im Mittelbau bereits eine Empore eingebaut wurde, wird unterschiedlich bewertet: Ulfrid Müller nimmt eine Empore nahezu als sicher an, weil sie der Äbtissin und Gräfin Eilika als Herrschaftsempore dienen konnte und ihr auch in der Art einer Nonnenempore die Teilnahme am Gottesdienst in der Mönchskirche ermöglichte. Außerdem werden Bezüge der später aufgebrachten Wandmalereien zu dem nördlichen Emporenzugang aus dem Obergeschoss des Klostergebäudes gesehen. Tobias Ulbrich sieht diese Bezüge nicht zwangsläufig und bestreitet die zwingende Datierung einer Emporenanlage auf die Zeit vor 1400. Eine Belichtung des Mittelschiffs erfolgte zusätzlich zu den Obergadenfensten durch zwei große Rundbogenfenster im Westriegel, die später verändert und 1893 wieder rekonstruiert wurden.Weil das Seitenschifffundament auf der Innenseite deutlich vorspringt, wird angenommen, dass die Seitenschiffe in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts etwas verbreitert wurden. Anhand zugemauerter Rundbogenfenster und der inneren Malereien lässt sich feststellen, dass sie drei Viertel so hoch waren wie heute. Die neuen Mauern der Seitenschiffe wurden dicker errichtet: Ihre Stärke beträgt wie die des Westriegels knapp 1,30 Meter, während die älteren Mauern nur rund 90 Zentimeter stark sind. Ulfrid Müller nimmt auch eine deutliche Erhöhung des Mittelschiffs in dieser Bauphase an, von anderen wird diese These jedoch abgelehnt. Unverändert blieb in der späten romanischen Bauphase die ausgeschiedene Vierung.Ein erneuter wirtschaftlicher Aufschwung des Klosters in der Zeit zwischen 1245 und 1309 brachte neue Bautätigkeiten an der Klosterkirche mit sich. Erzbischof Gerhard II. von Mainz gewährte in einer Mainzer Ablassurkunde des Jahres 1290 jedem, der sich am Bau der Reinhäuser Kirche beteiligte, einen vierzigtägigen Ablass. Ende des 13. Jahrhunderts erhielten das nördliche und südliche Joch des Westriegels sowie die beiden angrenzenden Zwischenjoche ein einfach gestaltetes Kreuzgratgewölbe, die Gurtbögen der Turmuntergeschosse wurden spitzbogig umgestaltet, ebenso die Bögen der Ostseite des ersten Obergeschosses im Turm. Der Haupteingang auf der Südseite verlor das Tympanon, das ursprünglich das Bogenfeld des Rundbogenportals gefüllt hatte, und erhielt eine Spitzbogentür. Ein zweites, heute zugesetztes Portal wurde auf der Südseite westlich des Querhauses eingebrochen.
In derselben Bauperiode wurde über dem Eingang an der Südseite der Kirche eine Kapelle des heiligen Mauritius (Moritz) mit drei gotischen Spitzbogenfenstern eingerichtet. Die Mauritiuskapelle erstreckte sich über zwei Joche, die Seitenschiffwand wurde für die Kapelle an dieser Stelle erhöht. Der Zugang erfolgte über die Empore. Wegen der Größe des Kapellenraumes befand sich die Ostwand nicht in der Achse des vorhandenen Pfeilers, sondern einen Meter östlich davon. Die Wand im Erdgeschoss wurde von einer unmittelbar darunter stehenden Wand getragen, so dass unter der Kapelle eine abgetrennte Eingangshalle entstand. Der Altar der Moritzkapelle erhielt ein eigenes gemauertes Fundament, das als Pfeiler in der Nordostecke der gewölbten Eingangshalle sichtbar ist. Urkundlich erwähnt wurde der Altar und damit die Kapelle erst 1415 anlässlich der Stiftung einer Seelenmesse. Eine weitere Kapelle soll nach der Überlieferung des Göttinger Chronisten Franciscus Lubecus durch Abt Gunter von Roringen vor seinem Tod im Jahr 1300 als Grablege der Äbte des Reinhäuser Klosters errichtet worden sein. Diese Datierung muss in Zweifel gezogen werden, weil Gunter dem Kloster noch 1382 und 1385 als Abt vorstand.Bei den Sanierungsarbeiten 1965 wurden nördlich des Chorraums im Bereich der dort errichteten Sakristei Ansätze eines Kreuzrippengewölbes gefunden. Es gehörte zu einer gotischen Seitenkapelle mit 3/8-Schluss. Zwischen dem nördlichen Querhausarm und der Kapelle gab es einen schmalen Gang, der den direkten Zugang zum Chorraum vom Klostergebäude her ermöglichte. Die Funde der Kapellenreste werden auf die im Jahr 1394 urkundlich erwähnte Kapelle nördlich des Chores bezogen, die als Grablege der Herren von Uslar diente. Sie wird auch als Johanniskapelle bezeichnet, weil die Überlieferungen sie als Standort eines dem Evangelisten Johannes geweihten Altars nennen: Schriftlich erwähnt wurde 1360 ein neuer Altar im Umgang, 1378 eine Grablege des Ritters Ernst von Uslar vor dem Altar des Evangelisten Johannes und 1399 eine Dotation der vier Söhne des Ernst von Uslar für den St.-Johannis-Altar in der neuen Kapelle im Umgang. Die Grabkapelle der Uslarer ist in der Inventarliste im Jahr 1707 noch aufgeführt. In älterer Literatur wurde die Kapelle auf das Jahr 1322 datiert. Die Datierung stützte sich auf zwei deutlich beschädigte Schlusssteine eines Kreuzrippengewölbes mit Inschriften, die im 19. Jahrhundert in diesem Bereich gefunden und dieser Kapelle zugerechnet wurden. Heute lagern sie in der Mauritiuskapelle. Gegen diese frühe Datierung der Schlusssteine spricht die neuere, von der früheren Lesart abweichende Entzifferung der Inschriften „•an(n)o•1•5•22•d(omi)n(u)s•m[at]hias• […]“ und „frater•reÿnerus•prior•“. Damit gilt die Zuordnung dieser Schlusssteine zur Grabkapelle der Herren von Uslar als nicht mehr wahrscheinlich und auch die Datierung dieser Kapelle auf das Jahr 1322 als hinfällig.
Der Durchgang vom nördlichen Zwischenjoch der Kirche in die Südwestecke des angrenzenden Kreuzgangs wurde nach neuerer Erkenntnis bereits im Mittelalter von innen zugemauert. Auf der Außenseite entstand eine Nische, deren unterer Teil später ebenfalls ausgemauert wurde. Darunter wurden unter einer Humusschicht 1993 bei Dränagearbeiten vier gotische Maßwerkfliesen gefunden, die als Fußbodenbelag dienten. Weder im angrenzenden Bereich des Kreuzgangs noch im Türschwellenbereich unter der mittelalterlichen Vermauerung gab es eine Fortsetzung des Fliesenbelages oder Hinweise darauf. Hildegard Krösche erwägt eine Zuordnung dieser Fliesen zu der Kapelle nördlich des Chorraums.Vom Beginn des 14. Jahrhunderts bis zur Auflösung des Klosters im Jahr 1574 dienten Baumaßnahmen überwiegend der Ausgestaltung der Kirche und ihrer Kapellen. So wurden zwischen 1387 und 1442 die Innenseiten der Wände zumindest in der Eingangshalle, an den Seitenwänden der Empore und im südlichen Seitenschiff mit Wandmalereien verziert. Nach Anschluss des Klosters Reinhausen an die Bursfelder Kongregation 1446 wurden weitere spätgotische Ausstattungsstücke gestiftet. Die letzte speziell dem Bau der Kirche und des Klosters dienende Stiftung, die schriftlich überliefert ist, erfolgte 1451 durch die Herren von Uslar. 1498 und 1507 wurde jeweils ein spätgotischer Schnitzaltar gestiftet, von beiden sind große Teile bis heute erhalten. Nach der jüngeren Lesart der Inschriften auf den beiden Schlusssteinen, die in der Mauritiuskapelle liegen, muss angenommen werden, dass noch im Jahr 1522 eine größere An- oder Umbaumaßnahme auf dem Klostergelände durchgeführt und ein Gewölbe in ein Gebäude eingezogen wurde. Darauf könnte auch die Inschrift auf einem inzwischen verlorenen Stein hindeuten, der im 19. Jahrhundert als Spolie in die Friedhofsmauer eingelassen war: „M.ccccc.xxii. / S.georivs ora pro nobis.“ („1522 / Hl. Georg (?), bitte für uns.“)
=== Seit der Reformation ===
Befand sich das Kloster schon vor der Reformation wirtschaftlich und personell im Abwärtstrend, so beschleunigte sich diese Entwicklung durch die Einführung der Reformation 1542 und die Einrichtung eines Amtshofes im Klostergut noch. 20 Jahre nach Einführung der lutherischen Klosterordnung wurde das Inventar des Klosters und der Kirche aufgelistet, weil das Kloster dem als Amtmann eingesetzten Ludolf Fischer übergeben werden sollte. In Reinhausen verstarb der letzte Mönch des alten Konvents 1564.
Die weitere Umgestaltung des Kirchengebäudes nach Auflösung des Klosters ist zunächst nur aus der ersten bildlichen Darstellung auf einem Stich von Matthäus Merian ersichtlich, der 1654 in der Topographia Germaniae erschien. Zu dieser Zeit war die Form einer Basilika äußerlich nicht mehr erkennbar. Das Querhaus war mit der Vierung, dem Chor und dem Langhaus unter ein Satteldach zusammengefasst. Die Türme wurden mit hohen Spitzhelmen bekrönt, außerdem gab es einen Dachreiter auf dem Chor. Das wird durch eine Inventarliste des Klosters aus dem Jahr 1707 bestätigt, in der eine Glocke über dem Chor erwähnt ist.Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde der kreuzförmige Grundriss aufgegeben, indem die Querhausmauern abgebrochen und die Längswände der Seitenschiffe durchgehend in einer Flucht errichtet wurden. Die Ostwand des Chors wurde mit den alten Steinen neu aufgemauert und erhielt ein großes barockes Fenster, auch in die Seitenschiffwände wurden große Fensteröffnungen im Barockstil gebrochen. Die Westfassade erhielt ebenfalls ein barockes Fenster. Eine von Mithoff im Jahre 1861 berichtete Verkürzung der Kirche, die 150 Jahre zuvor stattgefunden haben soll, wird sich auf diese Maßnahmen beziehen. Durch das Einziehen einer niedrigeren Decke über alle Kirchenschiffe erfolgte die grundlegende Umgestaltung der Basilika in eine Hallenkirche.In den Jahren 1885–1887 fand eine umfangreiche Sanierung statt, bei der das Verbindungsgeschoss zwischen den Türmen rekonstruiert wurde. Im Zuge der Arbeiten wurden auch die Westempore umgestaltet, die Dachgauben entfernt und das Dach ohne den vorher vorhandenen Absatz durchgezogen. Außerdem erhielt die Kirche nach dem Abbau der barocken Kanzelaltarwand einen aus Resten eines mittelalterlichen Marienaltars zusammengesetzten und um neue Teile ergänzten Flügelaltar, der seitdem als Hauptaltar dient. Um die Wände des Chorraums gegen eindringende Feuchtigkeit zu sichern, wurde im unteren Bereich innenseitig eine zweite Wandschale vor die Wände gemauert. Eine erneute grundlegende Restaurierung des Kirchenraums erfolgte 1963 bis 1967. Dabei wurden nördlich neben dem Chorraum eine Sakristei und ein Heizungsraum angebaut. Mit den Umbau- und Sanierungsarbeiten an der Kirche wurden in den Jahren 1965 bis 1968 archäologische Grabungen durchgeführt und die vorhandene Bausubstanz der Kirche durch Ulfrid Müller genau vermessen und untersucht. Weil die baugeschichtlichen Untersuchungen erst lange nach Beginn der Umbauarbeiten einsetzten, konnten im Westteil der Kirche keine Grabungen mehr stattfinden. Erkenntnisse über einen eventuellen Turm oder einen anders gestalteten westlichen Abschluss des ursprünglichen Kirchenbaus konnten deshalb nicht gewonnen werden. 1990/1991 musste die Turmfassade saniert werden.Im Februar 2011 wurde der Kirch-Bauverein St. Christophorus Reinhausen e. V. gegründet, um Mittel zur Finanzierung von Erhaltungs- und Sanierungsmaßnahmen an der Kirche einzuwerben.
== Architektur ==
=== Außenbau ===
Das Erscheinungsbild der Klosterkirche wird durch die monumental wirkende romanische Doppelturmfassade im Westen bestimmt. Sie wurde aus vor Ort gewonnenen roten Sandsteinquadern mit geringer Festigkeit errichtet und weist neben schmalen Fensteröffnungen, die die Geschlossenheit des Gesamteindrucks kaum stören, lediglich eine Gliederung durch ein sehr schmales, schlichtes Sohlbankgesims auf. Die Gesamtbreite des Westbaus beträgt 16,30 Meter. Die Türme schließen mit niedrigen Walmdächern mit querliegendem First ab, die ihnen besonders in der Fernansicht einen etwas gedrungenen Ausdruck verleihen. Dabei ist das südliche Turmdach etwas niedriger als das nördliche. Unter den Dächern sind die Schallöffnungen als gekuppelte Fenster angeordnet, deren romanische Teilungssäulen Würfelkapitelle und attische Basen aufweisen. Das Mauerwerk der Türme überragt das des Mitteltraktes um 5,50 Meter, zwischen ihnen liegt die Dachschräge des nach Westen abfallenden Mittelschiffdaches. Das 5,75 Meter hohe Obergeschoss ist unter den Türmen noch einmal in zwei Geschosse unterteilt, die oben durch ein etwas breiteres Rundbogenfenster mit Mittelsäule und darunter ein einfaches schmales Rundbogenfenster belichtet werden. Zwei deutlich größere Rundbogenfenster weist lediglich das bei einer größeren Renovierung am Ende des 19. Jahrhunderts rekonstruierte Obergeschoss zwischen den Türmen auf. Im Erdgeschoss der Westfassade sind noch einmal vier Rundbogenfenster von jeweils 45 Zentimetern Breite und 1,40 Metern Höhe angeordnet. Unter dem südlichen dieser Fenster ist in den Sockel des Südturms eine Tür gebrochen.Die schlichte Grundform des heutigen Erscheinungsbildes über längsrechteckigem Grundriss wirkt wie die einer Saal- oder einfachen Hallenkirche. Mit einer Länge von 28,60 Metern ohne Chorraum ist die Kirche im Vergleich zu anderen Klosterkirchen der Region deutlich kleiner. Der gesamte Bau ist außen unverputzt. Das einfache Satteldach mit durchgehendem First und Abwalmung über dem Turmverbindungsgeschoss und über dem Chorraum unterstreicht die Einfachheit der Gebäudeform.
Besonders auffällig ist das romanische Hauptportal an der Südseite unmittelbar hinter dem Westriegel, das geringfügig aus der Bauflucht hervortritt; der vorspringende Wandteil ist leicht hochrechteckig und oben durch ein schlichtes Gesims abgeschlossen und betont, das Portal ist darin nicht mittig, sondern deutlich nach links versetzt. Das Sandstein-Quadermauerwerk neben der vorspringenden Portalzone ist ohne Baunaht an das Mauerwerk des Turms angesetzt. Das Rundbogenportal selbst ist durch mehrfach gestufte Gewände und seitlich eingestellte Säulen mit Würfelkapitell und attischer Basis geprägt, der Übergang der seitlichen Portalgewände zu dem hohen Bogenfeld über dem Portal ist als profilierte Kämpferzone ausgebildet. Das innerste Türgewände weist dagegen einen glatten Übergang der Kämpferzone und einen leichten Spitzbogen auf. Mit etwas Abstand über dem Portal sind dicht nebeneinander drei gotische Spitzbogenfenster angeordnet, die zu der Mauritiuskapelle über der Eingangshalle gehören. Der Außenwandbereich der Kapelle ist mit gröber behauenen Sandsteinquadern ausgeführt und weist nur an der ursprünglich freiliegenden Ostkante großformatige und sorgfältiger geglättete Steine auf. Die größeren Steine der Mauritiuskapelle haben Zangenlöcher, anders als die Quader am älteren Westriegel und in der Portalzone.
An der Nordseite der Kirche, gegenüber von Moritzkapelle und Portalzone, hat ein Wandbereich eine gemischte Mauerwerksstruktur. Von einer vermauerten Rundbogentür mit 82 Zentimetern Breite ist nur noch der obere Teil sichtbar. Sie ermöglichte ursprünglich einen direkten Durchgang zwischen Kirche und Kreuzgang. Eine weitere, heute vermauerte Rundbogentür auf der Nordseite führte vom oberen Geschoss des Kreuzgangs in das erste Obergeschoss des Turms.
Östlich der Portalzone ist die Südwand des Kirchenschiffs aus überwiegend grob behauenen Sandsteinen ausgeführt, wobei der durch eine Baunaht abgegrenzte östliche Bereich von etwa 7,50 Metern Breite, in dem sich bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts das Querschiff befand, eine noch deutlich unregelmäßigere Steinsetzung und geringere Oberflächenbearbeitung aufweist. An der Südostecke des Kirchenschiffs fehlt die sonst übliche sorgfältige Eckquaderung, weil das frühere Querschiff an dieser Stelle abgebrochen wurde. Die drei barocken Rundbogenfenster haben eine Breite von etwa 2 und eine Höhe von 3,35 Metern. Sie sind mit schlichten, aber sorgfältig scharrierten Werksteinfassungen aus rotem und hellem Sandstein eingefasst, die Kämpfer- und Schlusssteine treten gegenüber der restlichen Leibung leicht vor. Den Fensteröffnungen der Südwand entsprechen jeweils gegenüberliegende an der Nordwand, wobei dort das östliche Fenster zugunsten einer darunter angeordneten Tür zum ehemaligen Klosterhof in der Höhe verringert ist. Zwischen dem westlichen und dem mittleren Fenster der Südwand sind deutlich die innen stark abgeschrägten Leibungssteine eines wesentlich kleineren schlichten Rundbogenfensters zu erkennen, das noch aus der Romanik stammt und später zugemauert wurde. Auch diesem ehemaligen Fenster entspricht ein gleich großes zugemauertes Fenster in der Nordwand der Kirche. Die Leibungssteine einer ebenfalls zugesetzten kleinen spitzbogigen Tür sind links unterhalb des mittleren Fensters an der südlichen Außenmauer des Kirchenschiffs sichtbar, sie weisen als einzige Zierde an der Leibungskante eine schlichte Fase auf. Die Ostwand des südlichen Seitenschiffs und die Seitenwände des Chorraums sind heute fensterlos. Oberhalb der Dachkante des Seitenschiffes befindet sich lediglich eine hölzerne Luke.
Der 6,40 Meter tiefe und 7,30 Meter breite eingezogene Ostchor mit geradem Abschluss weist an der Südwand ein kleinteiliges, regelmäßiges Schichtenmauerwerk auf, das sich von dem weniger regelmäßig geschichteten Mauerwerk am Ostende der Seitenschiffe und von der Ostwand des Chors deutlich unterscheidet. Auch in der Südwand des Chorraums ist ein kleines, inzwischen zugesetztes romanisches Fenster erkennbar. Das Mauerwerk der nördlichen Chorwand oberhalb des späteren Anbaus ähnelt dem der südlichen Wand. Diese Chorseitenwände stammen noch aus der Erbauungszeit der Kirche. An den Außenecken des Chors sind breite, zierlose Strebepfeiler angesetzt. Dass es sich dabei um eine spätere Hinzufügung handelt, ist anhand einer Baunaht zum eigentlichen Chorraum und einzelner in Wandebene durchgehender Quadersteine deutlich. In der barocken östlichen Chorraumwand befinden sich ebenso wie im zur gleichen Zeit veränderten Ostabschluss der Seitenschiffe wiederverwendete Steine aus älteren Bauphasen. Sie sind durch Profilierung oder Zangenlöcher erkennbar und wurden zur Wiederverwendung mit dem Spitzmeißel überarbeitet. Mittig in der Ostwand des Chorraums entspricht ein Barockfenster in seiner Gestaltung den Fenstern der Seitenschiffe. An der Nordseite des Chorraums befinden sich ein 1965 während der Renovierung der Kirche errichteter niedriger Anbau für die Heizungsanlage und die Sakristei. Seine Wände sind außen ebenfalls mit Sandstein verkleidet. Um eine höhere Anschüttung des nach Osten und Norden ansteigenden Geländes an den Chorraum zu vermeiden, wurde östlich davon eine Stützmauer errichtet, so dass zum Chorraum hin ein Graben entstanden ist. Im Bereich des Heizungsanbaus ist dieser Graben etwa 1,80 Meter tief, so dass von dem Anbau bei Betrachtung vom Friedhof aus nur das Dach sichtbar ist. Nördlich des Anbaus befindet sich eine alte Sandsteinwand, die zu der Grube hin Konsolen eines ehemaligen Kreuzrippengewölbes sowie die unteren Ansätze der Gewölberippen aufweist. Die Wand trennt oberhalb des Anbaus das Kirchengrundstück von dem des Forstamts. Die später erstellte östliche Verlängerung der Wand bildet die Stützmauer des Friedhofs.Die Nordseite der Kirche grenzt unmittelbar an das Nachbargrundstück und ist für Besucher nicht einsehbar. Von einem ehemals im Norden an das Westwerk der Kirche angebauten Gebäude des Forstamts blieb nach einem Brand im April 1955 nur noch die Westwand erhalten, sie steht in der Flucht der unteren Westwand der Kirche.
=== Innenraum ===
Die Kirche ist innen in einen westlichen und einen östlichen Abschnitt gegliedert. Der Zugang erfolgt über eine kleine Eingangshalle mit bemaltem spitzbogigem Kreuzgratgewölbe im Süden des westlichen Gebäudeabschnitts. Von dort bietet je eine Tür den Zugang nach Westen in den Südturm und zur Treppe in die oberen Geschosse, nach Norden in den Gemeinderaum und nach Osten in den um drei Stufen höher liegenden eigentlichen Kirchenraum.
Der östliche Hauptteil der Christophoruskirche ist ein hell verputzter dreischiffiger Langhaussaal mit flacher zierloser Holzdecke. Der Innenraum ist 7,10 Meter hoch, das Mittelschiff 5,50 Meter breit. Die Seitenschiffe haben eine Breite von je 3,50 Metern, wobei sich das nördliche Seitenschiff durch eine im mittleren Bereich erheblich höhere Wandstärke der Nordwand bis auf 2,70 Meter verengt. Die Seitenschiffe sind vom Mittelschiff durch je zwei Rechteckpfeiler getrennt, die über schmalen Kämpfergesimsen rundbogige, im Verhältnis zu den Maßen des Kirchenraums weitgespannte Arkadenbögen tragen. Die Spannweite der drei Joche beträgt jeweils etwas über fünf Meter. Die Pfeiler stehen ohne Basen auf dem Fußboden. Die beiden östlichen Pfeiler – ursprünglich die Vierungspfeiler am westlichen Beginn des Querschiffs – haben mit einer Grundfläche von je 87 Zentimetern Breite und 1,60 Metern Länge einen erheblich stärker gestreckten Querschnitt als das ebenso breite, aber nur einen Meter lange westliche Pfeilerpaar. Am Übergang der Pfeiler zu den Bögen sind jeweils mit umlaufenden Wulsten und Kehlen profilierte Kämpferplatten eingebaut, die durch eine dem roten Sandstein angepasste Farbgebung gegenüber dem weißen Putz zusätzlich akzentuiert sind. Die großen Barockfenster der Seitenschiffe und des Chorraums sind mit kleinformatigen farblosen Scheiben zwischen Holzsprossen verglast. Die inneren Laibungen der Fensternischen schließen oben mit Segmentbögen ab und sind leicht, die Fensterbänke stark abgeschrägt. Die an der Außenseite erkennbaren zugesetzten Tür- und Fensterlaibungen früherer Bauphasen sind im Innenraum nicht sichtbar, an der Südwand deutet nur das Fehlen der inneren Wandbemalung darauf hin. Das obere Ende dieser Wandmalereien kennzeichnet auch die frühere Höhe der Seitenschiffe. Der Innenraum hat durch die großen Rundbogenfenster eine barocke Prägung, die romanische Grundstruktur kommt dennoch voll zum Ausdruck. Der östliche Teil des Mittelschiffs und der Seitenschiffe vor den östlichen Pfeilern ist gegenüber dem bestuhlten Teil des Kirchenschiffs um eine Stufe erhöht und liegt damit auf derselben Ebene wie der Chorraum. Dort stehen Kanzel und Lesepult.
Der ebenso wie das Schiff schlicht hell verputzte Ostchor ist vom Mittelschiff durch einen Rundbogen getrennt, der auf Mauervorlagen an den Chorecken ruht. Mit je 5,50 Meter Breite und Länge ist er im Grundriss nahezu quadratisch, durch seine gegenüber dem Hauptteil des Kirchenschiffs um eine Stufe erhöhte Lage allerdings etwas niedriger als dieser. Die Rückseite des mittig im Chorbogen stehenden Altartischs mit dem Flügelaltar wird vom großen Barockfenster in der Ostwand des Chores beleuchtet.
Der westliche Teil der Kirche mit dem Untergeschoss beider Türme, dem jeweils östlich angrenzenden Zwischenjoch und der westlichen Verlängerung des Mittelschiffs bis zum zweiten Pfeilerpaar ist vom Hauptraum der Kirche abgegrenzt. Nördlich der gotischen Eingangshalle besteht diese Abtrennung aus einer später eingezogenen Wand. Der im Westteil abgetrennte Bereich wird als Gemeinderaum und Winterkirche genutzt. So ist der außen in der Südansicht optisch abgesetzte Bereich, nämlich die Türme und das angrenzende Zwischenjoch mit der Portalzone und der Mauritiuskapelle, auch in der Innenaufteilung erkennbar. Der Gemeinderaum in der westlichen Verlängerung des Mittelschiffs trägt eine flache Balkendecke. Der nördliche Teil – also die Verlängerung des nördlichen Seitenschiffes nach Westen – ist durch zwei in Längsrichtung der Kirche verlaufende spitzbogige Gurtbögen mit dem Gemeinderaum verbunden. Die Bögen, das nördlich angrenzende zweijochige Kreuzgratgewölbe und die Ecke des Nordturms werden von einem in der Grundfläche quadratischen Pfeiler von einem Meter Stärke getragen. Das Erdgeschoss des Nordturms mit dem angrenzenden Zwischenjoch bildet so einen optisch separaten Teil des Gemeinderaums, in dem eine Küchenzeile eingebaut ist. Entsprechende Pfeiler auf der Südseite des Gemeinderaums und die vermauerten Gurtbögen dazwischen lassen eine analoge Bauweise erkennen. Während jedoch das östliche Gewölbejoch auf der Südseite in der Eingangshalle erhalten ist, wurde das westliche im Südturm entfernt. Dort wurde 1966 eine Treppe eingebaut, darunter befindet sich ein Toilettenraum. Die beiden anderen Auflager der Gurtbögen sind ein Pfeiler in der Verlängerung der Trennwand zwischen Gemeinderaum und Kirchenschiff, der ursprünglich Seiten- und Hauptschiff der Kirche trennte, und die westliche Außenwand.
Das Obergeschoss über dem Gemeinderaum ist zum Kirchenraum hin als Empore geöffnet. Im Mittelschiff steht dort die Orgel, der nördliche Teil ist durch eine Rundbogentür von der Mittelempore aus zugänglich. Südlich der Empore befindet sich neben dem Turm die frühere Mauritiuskapelle mit drei nebeneinander angeordneten Spitzbogenfenstern. Bis zur Höhe der Fensterbank ist die Außenwand des Raums deutlich dicker als darüber. Der so entstandene Wandabsatz von 58 Zentimetern Tiefe ist mit Sandsteinplatten abgedeckt und weist an der rechten Seite noch eine Piscina auf. Ein Mauerpfeiler in der Nordostecke der Mauritiuskapelle, der in der Eingangshalle senkrecht über die gesamte Raumhöhe verläuft und mit Wandmalereien verziert ist, bricht dort unregelmäßig oberhalb des Fußbodens ab. An der Verzahnung mit den Wänden ist erkennbar, dass er früher den Altar getragen hat, dessen Platte sich einen Meter über dem Fußboden befand. In der Mauritiuskapelle lagern die verwitterten Mittelsäulen der gekuppelten Schallöffnungen der Türme, die durch neue ersetzt werden mussten. Außerdem liegen dort zwei Schlusssteine eines Kreuzrippengewölbes, die sich durch ihre Inschrift auf das Jahr 1522 datieren lassen. Die Mauritiuskapelle bildet den Durchgang zur Empore und enthält eine Holztreppe als Zugang zum Südturm, dessen Turmschaft leer ist. Im Nordturm führt eine Leiter in das Glockengeschoss.
== Ausstattung ==
=== Wandmalereien ===
An mehreren Stellen im Innenraum der Kirche sind größere Reste farbiger Wandmalereien auf dem Putz erkennbar. Diese Gemälde werden auf die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert datiert. Alle Wandmalereien wurden bei einer Sanierungsmaßnahme 1965–1967 restauriert.
==== Eingangshalle ====
Die Wandmalereien im Vorraum am südlichen Haupteingang zur Klosterkirche wurden in den Jahren 1909/1910 freigelegt. Das Gewölbe der Eingangshalle ist mit floralen Ornamenten verziert, in die vier Medaillons mit je einer Halbfigur eingebettet sind. Die Figuren stellen möglicherweise die vier Kirchenväter dar, die Zuordnung ist jedoch nicht gesichert. An den Wänden der Eingangshalle sind Maria unter dem Kreuz sowie der heilige Christophorus mit dem Christuskind auf den Schultern dargestellt. Der Text eines Spruchbandes in der Christophorusdarstellung ist schwer lesbar. Eine weitere Figur ist am Gewölberand nahe dem Eingang zum südlichen Seitenschiff erkennbar. Am Spitzbogen über diesem Eingang ist ein ebenfalls schwer lesbares dreizeiliges Spruchband aufgemalt.
==== Hauptraum ====
Weitere Wandmalereien befinden sich im südlichen Seitenschiff der Kirche. Einige der Wandmalereien sind nur noch teilweise erhalten. Dargestellt sind Szenen aus der Christophorus-Legende nach der Legenda aurea, besonders sein der Legende nach auf Befehl des Königs Dagnus in Lykien erlittenes Martyrium: Über dem Eingang an der Westwand des südlichen Seitenschiffes ist dargestellt, wie der heidnische König Dagnus beim Anblick des Christophorus vom Thron fällt, rechts daneben die Geißelung des Christophorus. Darunter sind links Fragmente von männlichen und rechts mit männlichen und weiblichen Personendarstellungen erhalten. Der weiße Hintergrund der Bilder ist mit roten Blüten geschmückt, in der Geißelungsszene sind es rote Sterne. Über der oberen linken Darstellung beschreibt ein zweizeiliges Spruchband die Szene, das nicht mehr vollständig lesbar ist. In den Szenen an der Südwand des Seitenschiffs sind oben rechts Christophorus und das Christuskind am Flussufer, oben links der predigende und unten rechts der betende Christophorus dargestellt. In der Gebetsszene befinden sich links neben Christophorus noch König Dagnus und eine weitere Person, das erläuternde Spruchband ist nur noch in geringen Teilen zu entziffern. Unten links sitzt König Dagnus auf dem Thron und Pfeile schweben in der Luft, die der König auf Christophorus schießen ließ. Auch diese Szene ist mit einem nur teilweise lesbaren Spruchband versehen. Wieder sind die Hintergründe mit roten Blumen und Sternen verziert. Links zum östlichen Teil der Südwand hin sind Fragmente weiterer Malereien vorhanden. Die Wandmalereien wurden zum Teil durch spätere Umbauten, insbesondere durch den Einbau der großen barocken Fenster und den Rückbau des Querschiffs zerstört. Der obere Wandbereich der heutigen Seitenschiffwände ist nicht bemalt, er wurde später aufgemauert, als die Kirche ein einheitliches Satteldach erhielt und die basilikale Aufrissform aufgegeben wurde.
==== Empore ====
An den Seitenwänden der Empore sind Szenen zu Geschichten aus dem Neuen Testament und zum Jüngsten Gericht dargestellt: auf der Südseite die Auferstehung sowie der Erzengel Michael als Wäger der Seelen, auf der Nordseite Jesus und die schlafenden Jünger im Garten Gethsemane sowie der Höllenrachen. Diese Wandmalereien wurden erst bei der Instandsetzung 1963–1967 freigelegt.
=== Altar ===
Der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Hauptaltar dienende Flügelaltar besteht aus einem Mittelschrein mit Schnitzfiguren vor goldenem Hintergrund und zwei beidseitig bemalten Klappflügeln. Sowohl aus den Gemälden auf den Flügeltafeln als auch aus den Textzeilen auf Vorder- und Rückseite geht hervor, dass es sich ursprünglich um einen Marienaltar handelte. Bei einer Restaurierung 1885–1887 wurde er zu einem Kreuzigungsretabel umgestaltet. Die Altarflügel sind inschriftlich auf das Jahr 1498 datiert. Die Weihe des Altars nahm Johannes, der Titularbischof von Sidon und Generalvikar des Erzbischofs Berthold von Mainz, vor. Eine schriftliche Überlieferung über den oder die Stifter des Altars ist nicht erhalten. In einer Ablassurkunde des Jahres 1499 wird die neu geweihte Tafel mit geschnitzten und gemalten Bildern der Jungfrau Maria erwähnt.Die Flügel und die äußeren Teile des Mittelschreins waren vor der Restaurierung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts getrennt vom Mittelteil in eine barocke Altarwand eingebunden, ebenso die Figuren des Jodokusschreins. Das Altarretabel steht auf einer mit Wappen und Inschriften verzierten Predella über dem aus Sandsteinquadern errichteten Altartisch, der gegenüber dem Chorraum um zwei Stufen erhöht steht.
In dem 1,86 Meter hohen und 1,78 Meter breiten Mittelschrein ist eine Kreuzigungsgruppe das zentrale Element. Ursprünglich befand sich dort sicher, passend zur Altarwidmung, eine Mariendarstellung, wahrscheinlich als Strahlenkranzmadonna oder als Marienkrönungsgruppe. An jeder Seite des Mittelschreins stehen übereinander zwei Heiligenfiguren: Maria Magdalena unten links, Katharina oben links, Barbara oben rechts und Cyriakus unten rechts. Diese geschnitzten und bemalten Figuren werden in den meisten Veröffentlichungen als Schnitzwerke aus der Werkstatt des Meisters Bartold Kastrop bezeichnet. Andere Autoren lehnen dagegen eine Zuschreibung zur Werkstatt Kastrops ab oder diskutieren sie zumindest kritisch. Die Heiligenfiguren, das Maßwerk und die Sockel ähneln denen auf dem Marienretabel aus der Kirche St. Martin in Geismar, das aufgrund einer Inschrift sicher Bartold Kastrop zugeordnet werden kann. Andererseits spricht das Jahr der Erstellung des Reinhausener Altaraufsatzes – 1498 – gegen Kastrop als Schnitzmeister, weil er erst ein Jahr später nach Göttingen eingebürgert wurde und bis dahin eine Werkstatt im deutlich weiter entfernten Northeim betrieb. Außerdem sind gegenüber den Geismarer Schnitzfiguren Kastrops Unterschiede in Gesichtsausdruck und Lebendigkeit der Figuren festzustellen. Antje Middeldorf Kosegarten sieht Ähnlichkeiten zu den Figuren des Schnitzaltars der St.-Johannis-Kirche in Uslar sowie zu einer steinernen Sakramentsnische der Göttinger Johanniskirche. Jede Schnitzfigur steht auf einem Sockel mit vorn seitlich abgeschrägten Ecken, auf dem sie mit schwarzer Schrift bezeichnet ist: „S(an)c(t)a maria magdalena“, „S(an)c(t)a katerina ora p(ro nobis)“, „S(an)c(t)a barbara virgo“ und „S(an)c(tu)s ciriacus mar(tyr)“. Die Schnitzfiguren der Maria und des Johannes unter dem Kreuz wurden im Zuge der Restaurierung des Altars 1885 neu angefertigt. Während einige Autoren von einer gleichzeitigen Herstellung der Kreuzigungsgruppe ausgehen, datieren andere die Figur des gekreuzigten Christus in die Barockzeit, während das Kreuz selber später erneuert worden sein soll. Wieder andere gehen davon aus, dass die gesamte Kreuzigungsgruppe barock sei. Die Sockel der Begleitfiguren des Kreuzes sind deutlich höher als die älteren, sie überbrücken einen gemalten Zierstreifen am unteren Rand des Altarmittelstückes und heben die beiden Figuren auf die Ebene des Kreuzesfußes. Diese Sockel sind nicht abgeschrägt und tragen die Aufschriften „Sca maria“ und „Scs iohannes“. Die Ausführung der Buchstaben orientiert sich an den älteren Schnitzfiguren des Altars.Die Innenseiten der je 88 Zentimeter breiten Flügel zeigen Szenen aus dem Leben der Maria: oben auf dem linken Flügel die Verkündigung und auf dem rechten Flügel den Besuch bei Elisabeth; unten auf dem linken Flügel die Geburt Jesu und auf dem rechten Flügel die Anbetung der Könige. Als Vorlage diente zumindest für die letzte Szene ein Kupferstich von Martin Schongauer. Über die Urheberschaft der Gemälde gibt es unterschiedliche Annahmen: Nach neueren Angaben stammen sie aus derselben Werkstatt wie die Flügelrückseiten, können aber nicht sicher dem Meister selbst zugeordnet werden. Ältere Kunsthistoriker gehen dagegen von einem unbekannten, wenig fortschrittlichen Maler ohne weitere bekannte Werke in Niedersachsen aus. Die Hintergründe der Gemälde sind in Gold gehalten, das kennzeichnet diese Seiten als Festtagsseiten. Goldfarben sind auch die waagerechten Leisten an Ober- und Unterkante der Flügel und des Schreins sowie in der Mitte der Flügel, die zur Begrenzung der Darstellungen dienen.
Die Außenseiten der Flügel sind die Werktagsseite des Altars und haben einen rotfarbigen Hintergrund. Dargestellt sind in Dreiergruppen die Zwölf Apostel mit Matthias anstelle von Judas Iskariot. Sie sind zusätzlich zu ihren Attributen durch ihre Namen am oberen Rand und auf der Leiste, die beide Reihen trennt, bezeichnet. Acht Figuren tragen ihre Namen außerdem auf dem Gewandsaum. Die Gemälde werden einem unbekannten Meister zugeschrieben, der aufgrund dieses Werkes als „Meister der Reinhausener Apostel“ bezeichnet wird. Andere Veröffentlichungen schreiben die Flügelgemälde einem Schüler des Hans von Geismar oder dem Hildesheimer Epiphaniusmeister zu oder gehen davon aus, dass der Meister der Reinhausener Apostel ein direkter Schüler Hans von Geismars war. Auch für einige dieser Arbeiten dienten wahrscheinlich Stiche von Martin Schongauer als Vorlage. Die Außenseite trägt am unteren Rand als Herstellungsdatum die Inschrift „Anno dni 1498 pletum est hec tabella / Jn honore gloriose marie virgini.“ (Im Jahre des Herrn 1498 wurde diese Tafel vollendet / Zur Ehre der ruhmreichen Jungfrau Maria.) Dem l in „[com]pletum“ (vollendet) fehlt die Oberlänge, dieses Wort wurde auch als „pictum“ (gemalt) gedeutet.In die waagerechten goldbelegten Leisten der Flügelinnenseiten über und unter den Gemälden sowie in die obere und untere waagerechte Leiste des Mittelschreins sind Schriftzüge einpunziert, die ursprünglich einen über die Flügel und den Schrein durchlaufenden Satz ergaben. Bei der Rekonstruktion des Mittelteils wurde die Schrift durch ein Zierband ersetzt, so dass ein größeres Teilstück fehlt. Die obere Kante des Altars zeigt das Salve Regina, eine Antiphon des Hermann von Reichenau:
(deutsch: „Sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barmherzigkeit, Leben, Wonne und unsere Hoffnung, sei gegrüßt! Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas; zu dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen. Wohlan denn, unsre Fürsprecherin“),
die untere eine von Heinrich Isaac vertonte Antiphon:
(deutsch: „Sei gegrüßt, heiligste Maria, Mutter Gottes, Königin des Himmels, Tor zum Paradies, Herrin der Welt! Du bist eine einzigartig reine Jungfrau, du empfingst Jesus ohne Sünde, du gebarst den Schöpfer und Erlöser der Welt, an dem ich nicht zweifle.“).
In der Mitte des linken Flügels befindet sich ein Vers aus der lateinischen Übersetzung des Hohenliedes:
(deutsch: „Vollkommen schön bist du, meine Freundin, und an Dir ist kein Makel“),
auf dem rechten Flügel:
(deutsch: „O blühende Rose, Mutter des Herrn“)
nach einer Antiphon des Hermann von Reichenau. In älterer Literatur werden auch abweichende Lesarten und weitere Fehlstücke angegeben, insbesondere für die Schrift an schwer erkennbaren Stellen.Die Predella wurde später angefertigt als die Altartafeln. Die Angaben über die Entstehungszeit reichen vom späten 16. Jahrhundert über die Barockzeit bis zum 19. Jahrhundert. Sie trägt mittig in verschlungenen Ringen zwei Wappenschilde mit Oberwappen, die in einigen Veröffentlichungen als Allianzwappen gedeutet werden. Nach der heutigen Farbgebung zeigt das heraldisch rechte Wappen in Silber einen aufgerichteten, mit goldenen Kugeln belegten roten Löwen, auf dem rot-silbern bewulsteten Helm vier rechtwinklig gekreuzte silberne Stäbe mit jeweils unterschiedlichen Spitzen an beiden Enden, Helmdecken rot-silbern. Das heraldisch linke Wappen zeigt in Silber ein rot gesatteltes und gezäumtes, springendes schwarzes Ross, auf dem silbern bewulsteten Helm ein rot gesatteltes und gezäumtes, springendes schwarzes Ross vor fünf fächerförmig angeordneten schwarz-silbernen Federn, Helmdecken schwarz-silbern. Auf älteren Fotos, die den Zustand vor 1945 zeigen, ist das Wappenrelief ohne oder mit anderer Bemalung erkennbar. Eine Zuordnung der Wappen zu den Familien von Werder und von Pentz wird von Hans Georg Gmelin angesprochen, aber nicht als sicher bezeichnet. An beiden Außenseiten neben den Wappen steht in Gold auf schwarzem Grund der Text der Einsetzungsworte für das Abendmahl. Diese Texttafeln sind auf Fotos, die vor 1945 angefertigt wurden, noch nicht vorhanden.
=== Jodokusschrein ===
Im nördlichen Seitenschiff ist an der Ostwand der sogenannte Jodokusschrein angebracht, der Mittelteil eines ehemaligen Flügelretabels, dessen Schnitzfiguren bis zur Restaurierung des Hauptaltars Ende des 19. Jahrhunderts oberhalb des Schalldeckels in eine barocke Kanzelaltarwand eingebaut waren. Nach der Auflösung der Kanzelaltarwand und der Rekonstruktion des Hauptaltars wurde der Schrein an der Ostwand des südlichen Seitenschiffes aufgehängt, seit den Renovierungsmaßnahmen der Jahre 1963–1967 befindet er sich im nördlichen Seitenschiff. Der Schrein ist inschriftlich auf 1507 datiert und gilt als Werk des Epiphaniusmeisters aus Hildesheim.Drei Figuren – alle mit einem Buch in der Hand – stellen in der Mitte den heiligen Jodokus als Pilger mit einer Jakobsmuschel an der Kopfbedeckung, links den heiligen Bartholomäus und rechts den heiligen Blasius dar. Die zentrale Figur des Jodokus ist gut einen Kopf größer als die flankierenden Heiligen. Alle stehen auf Postamenten mit Inschriften und haben hinter den Köpfen auf goldenem Hintergrund Heiligenscheine mit den Inschriften: „SANCTVS.BARTHoLOMEVS.“, „SANCTVS.JODOCVS.“ und „SACTVS.BLASIVS.“ (sic!). Die Postamentinschriften lauten links „SANCTVS.BARTOLOMEVS“, rechts „SANCTVS.BLASIVS.EPISC“, Unter der mittleren Figur steht allerdings die Jahresangabe „.DVSENT.VNDE.VIF.HVNDERT.SEFVEN.“ (1507). Die Jodokus-Figur trägt auch am Gewandsaum Inschriften, die durch umgeschlagene Bereiche und Falten des Mantelsaums unterbrochen sind: „CRISTVS“ am rechten Arm, der das Buch trägt, „MARIE“ unter dieser Hand, am rechten Kragen (vom Betrachter aus links) „IHESVS“, am linken Kragen „M“, am unteren Mantelsaum „SANCTVS“, nach einem umgeschlagenen Saumteil „(…)OCVS“ und „FA“ und ganz rechts unten „MANG“. Alle Schriften auf dem Jodokusschrein sind in frühhumanistischer Kapitalis ausgeführt. Die von Hector Wilhelm Heinrich Mithoff genannten Bezeichnungen der Figuren als „S.JACOB.MAJ“ in der Mitte, „SCS.BLASIVS“ rechts und „S.BARTHOLOMEVS“ links sind in dieser Form nicht mehr vorhanden; Tobias Ulbrich hält es für möglich, dass sich die Beschriftung für Jakobus an der nicht sichtbaren Rückseite des Sockels der mittleren Figur befindet.Seit der Beschreibung Mithoffs haben verschiedene Autoren die namensgebende Figur in der Mitte des Schreins als Jakobus den Älteren identifiziert. Ulbrich begründet dies mit der von Mithoff erwähnten Inschrift, mit den Pilgerinsignien der Figur einschließlich der Jakobsmuschel an der Kopfbedeckung sowie mit einem angeblichen zweiten Flügelpaar des Hauptaltars, das durch figürliche und bildliche Darstellungen der Jakobus-Legende eine Verehrung dieses Heiligen in Reinhausen belege. Als zusätzlicher Altarflügel neben den beiden Flügeln des Hauptaltars war allerdings schon im 19. Jahrhundert nur ein einzelner Flügel erhalten, der sich damals im Besitz von Carl Oesterley befand. Er wurde von Mithoff zusammen mit den damals in einer Kanzelaltarwand verbauten gotischen Kunstwerken – Jodokusschrein, beide Flügel des Hauptaltars, vier geschnitzte Heiligenfiguren aus dem Schrein des Hauptaltars – einem einzigen Altar zugeordnet. Dieses im 19. Jahrhundert sehr beschädigte und seitdem restaurierte Flügelbild befindet sich heute im Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover. Es wird allgemein nicht mehr dem Hauptaltar, sondern dem Jodokusschrein zugeordnet und dem Maler Hans Raphon zugeschrieben. Dieser Altarflügel war der linke äußere Flügel des Jodokus-Retabels, das nach einigen Veröffentlichungen ursprünglich zwei Flügelpaare besessen haben soll. Sowohl der rechte Flügel als auch ein inneres Flügelpaar fehlen. Die auf dem erhaltenen Flügel dargestellten Szenen sind seit der Restaurierung klarer erkennbar, es sind auf jeder Seite zwei übereinander angeordnete Bilder vorhanden. Auf der Außenseite befindet sich oben die Abbildung des Apostels Jakobus des Älteren mit Stab, Buch und der Muschel an der Stirn des Hutes, unten die des heiligen Hubertus mit Bischofsstab, Buch, Mitra und einem Jagdhorn unter der linken Hand. Beide Heiligen sind auf Felsen sitzend dargestellt, Jakobus trägt einen langen Bart. Auf der Innenseite sind zwei Szenen aus der Heiligenlegende des Jodokus dargestellt: im oberen Bild das Quellwunder des Jodokus, durch das er den auf der Jagd befindlichen Grafen Heymo vor dem Tod bewahrte, im unteren die wunderbare Erhaltung seiner Leiche. In der Darstellung des Quellwunders wird Jodokus – wie auch die Schnitzfigur im Schrein – als bartloser junger Mann in Pilgerkleidung dargestellt, seine am Boden liegende Mütze trägt auch hier die Pilgermuschel. Eine einzelne neuere Beschreibung kennt von dem Reinhäuser Jodokus-Retabel nur diesen einen Flügel und bezeichnet nicht nur den rechten Flügel, sondern auch den Mittelteil als verloren.
=== Triumphkreuz ===
Das später überarbeitete Kruzifix an der östlichen Stirnseite des südlichen Seitenschiffs ist ebenfalls in die späte Gotik einzuordnen und soll früher als Triumphkreuz gedient haben. Es hat eine Höhe von 2,92 Metern, im 19. Jahrhundert war es im unteren Geschoss des Westriegels untergebracht.
=== Steinbildwerke ===
In der Ostwand des Chorraums ist ein halbrundes romanisches Steinrelief eingemauert. Darauf sind in einem Bogen ein Kreuz auf einer Halbkugel und darunter ein Löwe mit menschlichem Kopf dargestellt, der einen zweiten Menschenkopf zu verschlingen scheint. Das Relief diente wahrscheinlich früher als Tympanon im Bogenfeld des Portals der Kirche.Ebenfalls in die Ostwand des Chorraums eingemauert ist der Rest eines gotischen Steinbildwerks mit einer zentralen Fiale, die anstelle einer Kreuzblume eine von zwei Engeln getragene Krone aufweist. Seine ursprüngliche Funktion wird als bekrönender Aufsatz einer Sakramentsnische gedeutet. Es soll sich dabei um eine erheblich gröber gearbeitete Kopie einer Sakramentsnische aus der Göttinger Johanniskirche handeln.An der südlichen Chorwand steht auf einem neueren Steinsockel eine Steinplastik des heiligen Christophorus, ein Relikt der Verehrung des Namenspatrons der Kirche, das noch aus der Zeit der Romanik stammt. Der Heilige ist mit dem Christuskind auf seinen Schultern und einem Stab in der Hand dargestellt. Vor den Renovierungsmaßnahmen 1963–1967 befand sich die Plastik in einer Mauernische an der Ostwand des südlichen Seitenschiffes unterhalb des Jodokusschreins. Sie gehört erst seit dem 19. Jahrhundert zu den Kunstwerken im Kirchengebäude; zuvor befand sie sich im Klosterhof.In die Nordwand des Chorraums ist eine detailliert ausgearbeitete Plastik eingemauert, die Christus beim Tragen seines Kreuzes darstellt. Die im zentralen Bereich gut erhaltene Steinhauerarbeit zeigt neben Christus, der sich unter dem Kreuz wieder erhebt, als weitere vollständig dargestellte Personen einen Mann vor dem Kreuz, der Christus an einem Strick hält, und hinter Christus stehend wahrscheinlich Simon von Cyrene. Von drei weiteren Personen im Hintergrund sind nur jeweils der Kopf und Teile des Oberkörpers zu sehen.
=== Grabdenkmale ===
Im Chorraum ist an der Nord- und der Südwand je eine Grabplatte aus Gusseisen aufgestellt. Beide stammen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Platte an der südlichen Chorraumwand wurde für den am 15. Februar 1569 verstorbenen Pfandinhaber des Klosters Christoph Wolff von Gudenberg angefertigt, die an der Nordwand für den am 8. September 1574 verstorbenen Melchior von Uslar und seine Frau Margarete von Ohle. An der Ostwand des Chorraums hängt eine bemalte Holztafel aus dem Jahr 1735, die an Maria Magdalena Hinüber geb. von Busch erinnert. Die beiden gusseisernen Grabtafeln waren noch bis nach Ende des Zweiten Weltkriegs nebeneinander an der Südwand des Chorraums aufgestellt, die Holztafel hing zusammen mit einem weiteren Holzepitaph oberhalb der Platten. Die zweite Holztafel war ebenfalls in Medaillonform mit seitlichem Rankenwerk und Bekrönung gestaltet, sie erinnerte an den 1752 gestorbenen Amtmann Christian Erich Hinüber, der auch auf der erhaltenen Tafel als Ehemann der Verstorbenen genannt wird. Eine weitere Grabplatte aus Stein von 1706 für Veit Andreas Hornhardt an der Ostwand des nördlichen Seitenschiffs ist stark verwittert. Hornhardt war von 1680 bis 1705 Amtmann des Amtes Reinhausen.
=== Taufbecken ===
Der Taufstock besteht aus dunkel gebeiztem Holz. Der Fuß ist vierseitig, das Becken mit der Aufnahme für die Taufschale wird von vier neuromanischen Säulen getragen und ist achteckig. Es trägt die umlaufende Inschrift: „Wer da | glaubet | und getauft | wird, der | wird selig | werden | Mark. 16,16“ . Auf der achten Seite ist eine Rankenverzierung vorhanden.
=== Kanzel ===
Die nur geringfügig erhöhte Kanzel links vom Chorraum ist ebenso wie das Lesepult rechts ein modernes, sehr schlichtes Ausstattungsstück. Die in die ehemalige Altarwand eingearbeitete barocke Kanzel wurde 1885–1887 entfernt. Bis zur Sanierung der 1960er Jahre stand die Kanzel auf vier neoromanischen Säulen an dem vorderen freistehenden Pfeiler.
=== Vasa sacra ===
In einem Inventar des Kirchenschatzes, das nach Einführung der Reformation 1542 angefertigt wurde, wurden noch sieben Kelche und Patenen aufgeführt, von denen ein Paar dem Hospital gehörte, sowie ein auswärtig untergebrachter Kelch. Dazu kam eine vergoldete Monstranz. Zwanzig Jahre später wurde bei der Übergabe des Klosters an einen Amtmann wieder ein Inventar angelegt, in dem kaum noch sakrales Gerät aufgeführt war und das nur einen nicht näher beschriebenen Kelch enthielt. Heute sind noch zwei silberne Abendmahlskelche und zwei dazugehörige Patenen erhalten, die nicht öffentlich in der Kirche ausgestellt sind.
Der ältere Kelch aus vergoldetem Silber wird aufgrund des Stils auf das 14. Jahrhundert datiert. Der 16,4 Zentimeter hohe Kelch hat einen flachen, schlicht runden Fuß von 14 Zentimetern Durchmesser, einen sechsseitigen Schaft, einen gerippten Nodus und eine weit ausgestellte, schlichte Kuppa mit einem Durchmesser von 11,7 Zentimetern. Der niedrige senkrechte Rand des Fußes ist mit je einer Reihe von Punkten und Kreuzen verziert, der Schaft hat oben und unten ein umlaufendes Ornament aus Kreuzchen. Auf der Oberseite des Fußes ist die Inschrift „· CVRT · HANS · HENRICH · VON · VSLER · MARIA · VON · VSLER · ELSABET · SOPHIÆ · VON · VSLER · PIGATA · MAGDALENA · VON · VSLER · SCHONETTE · LISABETH · VON · VSLER“ eingraviert. Aufgrund der genannten Namen kann die Inschrift mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das zweite Viertel des 17. Jahrhunderts datiert werden, denn der braunschweigisch-lüneburgische Landkommissar und Kriegskommissar Curt Hans Heinrich von Uslar heiratete im Jahr 1627 Maria von Uslar und hatte mit ihr die Töchter Elisabeth Sophie, Beate Magdalena und Schonetta Elisabeth. Letztere war 1661 bereits verheiratet, so dass die Inschrift wahrscheinlich deutlich vor diesem Datum angebracht wurde. Unter dem Fuß des Kelches ist die Schrift „FB / 1908“ aus neuerer Zeit eingeritzt.
Die dazu passende Patene aus dem zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts besteht ebenfalls aus vergoldetem Silber und hat einen Durchmesser von 15,8 Zentimetern. Sie trägt am Rand eine Inschrift, die bis auf zwei Buchstaben mit der des Kelches identisch ist, dazu ein Scheibenkreuz.Der zweite Kelch aus Silber ist 18 Zentimeter hoch und stammt vom Ende des 16. Jahrhunderts. Die Sockelplatte und der Fuß mit einem Durchmesser von 14 Zentimetern haben die Form eines Sechspasses, darüber trägt ein sechsseitiger Schaft mit einem abgeflachten Nodus an der Seite in Rautenformen die Buchstaben „I H E S V S“ und ist, wie auch der Schaft, mit gravierten Ornamenten verziert. Die steil ansteigende kleine Kuppa hat zehn Zentimeter Durchmesser. Auf einem Segment des Fußes ist ein liegendes vergoldetes Kruzifix aufgesetzt, in das gegenüberliegende Segment ist das viergeteilte baunschweigisch-calenbergische Wappen Herzog Erichs eingraviert. Am Rand neben dem Kruzifix ist die Inschrift „TEMPLO REINHVSANO SACRVM“ eingraviert, die eine Zugehörigkeit zur Reinhäuser Kirche belegt. Das Segment des Fußes trägt die Initialen des Amtmanns: „M(ATTHIAS) · S(CHILLING) · A(MT)M(ANN) · Z(V) · R(EIN)H(AVSEN)·“, was eine ungefähre Datierung ermöglicht: Matthias Schilling trat sein Amt als herzoglicher Amtmann zu Reinhausen im Jahr 1578 an, Herzog Erich starb 1584. Da beide auf dem Kelch genannt sind, muss er in diesem Zeitraum entstanden sein.Die dazugehörige Patene aus Silber hat einen Durchmesser von 15,1 Zentimetern. Sie hat auf dem Rand auf der Unterseite dieselbe gravierte Inschrift „TEMPLO REINHVSANO SACRVM“ wie der Kelch und trägt an der Oberseite ein Scheibenkreuz.
== Orgel ==
Die heutige Orgel der Christophoruskirche wurde 1967 durch Rudolf Janke als Ersatz für eine ältere erbaut. Der Prospekt der Manualwerke ist fünfachsig und wird von zwei freistehenden Pedaltürmen flankiert. Das Instrument verfügt über 16 Register, die auf zwei Manuale und Pedal verteilt sind. Die Disposition lautet wie folgt:
Koppeln: II/I, I/P, II/PDas Vorgängerinstrument der jetzigen Orgel wurde im Jahr 1841 aus Osterode am Harz nach Reinhausen versetzt. Als die Osteroder Schlosskirche St. Jacobi eine neue Orgel des Orgelbaumeisters Johann Andreas Engelhardt erhielt, wurde die alte Orgel der Reinhäuser Christophoruskirche unentgeltlich überlassen.
== Glocken ==
Lange Zeit gab es in der Kirche nur eine große Glocke, die im Jahre 1890 in Hildesheim durch die Radlersche Glockengießerei aus Bronze gegossen wurde. 1948 wurden dann durch die Firma J. F. Weule aus Bockenem eine Stundenglocke mit einem Gewicht von 60 Kilogramm und eine Viertelstundenglocke mit einem Gewicht von 45 Kilogramm für die Kirche hergestellt. Diese kleineren Glocken sind Schlagglocken und hängen im Nordturm der Kirche.
Die älteste Glocke der Kirche wurde 1585 durch einen in einschlägigen Verzeichnissen nicht aufgeführten Glockengießer Rofmann gegossen, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Turm der Christophoruskirche aufgehängt. Sie stammte ursprünglich aus Ostpreußen aus dem Kreis Mohrungen und war im Krieg zum Einschmelzen nach Hamburg gebracht worden. Diese Glocke hat eine Höhe von 60 Zentimetern, mit Krone ist sie 73,5 Zentimeter hoch, der Durchmesser beträgt 84,5 Zentimeter. Sie wiegt 360 Kilogramm und trägt an der Schulter die umlaufende Inschrift:
„DVRCHS · FEVWR · BIN · ICH · GEFLOSSEN · MIT GOTTES · HILF HAT · MICH · ROFMAN · GEGOSSEN · 1585 ·“
== Nutzung ==
Die Grafen von Reinhausen besaßen auf dem heute als „Kirchberg“ bekannten Felsen über dem Dorf ihre Stammburg, die sie gegen Ende des 11. Jahrhunderts in ein Stift umwandelten. Die ehemalige Eigenkirche auf dieser Burg bekam dadurch die Funktion einer Stiftskirche.
Als das Chorherrenstift Anfang des 12. Jahrhunderts in ein Benediktinerkloster umgewandelt wurde, wurde die Kirche zur Klosterkirche. Die Weihe wird in die Zeit zwischen 1107 und 1115 datiert und erfolgte durch Bischof Reinhard von Halberstadt. Außer als Klosterkirche diente die Kirche auch der Bevölkerung des Ortes Reinhausen als Gotteshaus, die Pfarrrechte lagen beim Kloster.Im Zuge der Einführung der Reformation 1542 durch Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Calenberg-Göttingen musste der Konvent unter Abt Johann Dutken zum lutherischen Bekenntnis konvertieren. Der Abt starb 1549. Von 1548 bis 1553 wurden Kloster und Kirche durch Elisabeths Sohn Erich II. im Rahmen des Augsburger Interims noch einmal rekatholisiert und mit Peter von Utrecht auch ein Abt eingesetzt. Nach Ende des Interims 1553 verweigerte er sich der neuen lutherischen Lehre, wurde verhaftet und aus Reinhausen vertrieben. Als letzter Mönch des alten Konvents verstarb Jakob Pheffer 1564 im Reinhäuser Kloster.Im Zuge der Reformation wurde die Kirche von der Kirchengemeinde Reinhausen als Pfarrkirche genutzt, die Pfarrgemeinde wurde mit der Pfarrstelle in Diemarden vereinigt. Die Pfarrstelle von Reinhausen wurde dabei aufgelöst und die Gemeinde als Mutterkirche ohne eigene Pfarrstelle (mater coniuncta) vom Diemardener Pfarrer mit betreut. Während des Dreißigjährigen Krieges gab es noch einmal einen Versuch der Rekatholisierung, der jedoch nur von 1629 bis 1631 dauerte. In dieser Zeit wurde dem lutherischen Pfarrer die Kirche versperrt. Die Einwohner Reinhausens wurden verpflichtet, die katholischen Feiertage und Gottesdienste anzunehmen. Auch der Besuch des evangelischen Gottesdienstes im Nachbardorf Diemarden wurde unter Strafandrohung untersagt und der Weg dorthin streng kontrolliert.Das Kirchengebäude befand sich seit der Reformation im Besitz der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg. Für den im direkt angrenzenden ehemaligen Kreuzgang untergebrachten Sitz des Amtes Reinhausen wurde noch 1865 auch der erste und zweite Boden der Kirche genutzt. Dort wurden die Zinsfrüchte gelagert und von dort weiterverkauft. 1956 wurde die Kirche aufgrund der Regelungen des Loccumer Vertrages der Kirchengemeinde übergeben.Die ehemalige Klosterkirche dient heute als Gemeindekirche der evangelisch-lutherischen Kirche und wird zusammen mit der Kirche in Diemarden von einem Pfarramt aus betreut, das sich seit 1962 in Reinhausen befindet. Beide Kirchengemeinden gehören zum Kirchenkreis Göttingen-Münden im Sprengel Hildesheim-Göttingen der Hannoverschen Landeskirche. Die Kirchengemeinde Reinhausen hat fast 900 Gemeindeglieder und unterhält neben der Kirche den südlich und östlich gelegenen Friedhof sowie den örtlichen Kindergarten. Daneben dient die Kirche der katholischen Gemeinde St. Michael in Göttingen als Außenstelle. Bis Januar 2010 wurde in der Klosterkirche zweimal im Monat katholische Messe gefeiert, seitdem nur noch an vier Feiertagen im Jahr.Die Kirche dient zudem als Veranstaltungs- und Aufnahmeort für Kirchenmusik und (geistliche) Konzerte. Im Jahr 2015 gründete die Kirchengemeinde ein Konzertteam, das musikalische Veranstaltungen plant und organisiert. Die Kirche ist täglich von 10 bis 18 Uhr zur Besichtigung und zum Gebet geöffnet und als „Verlässlich geöffnete Kirche“ gekennzeichnet. Sie liegt an der Via Scandinavica, einem der Jakobswege in Deutschland.Für das Jahr 2014 wurden spezielle Gottesdienste, Konzerte, Vorträge, Führungen und andere Veranstaltungen zur Feier der über tausendjährigen Geschichte der Kirche angesetzt und durchgeführt. Weil ein genaues Errichtungsdatum der Kirche nicht bekannt ist und die schriftlichen Zeugnisse erst später einsetzen, bezieht sich die als Millenniumsfeier bezeichnete 1000-Jahr-Feier der Kirche auf eine Zeit, in der anhand der vorhandenen baulichen Substanz die Existenz der Kirche als gesichert gelten kann.
== Pastoren ==
Seit der Einführung der Reformation 1542 wurde die Kirchengemeinde mit kurzen Unterbrechungen von evangelisch-lutherischen Pastoren betreut. Viele der seitdem an der Christophoruskirche eingesetzten Pastoren sind namentlich bekannt.
== Literatur ==
Ulfrid Müller: Die Klosterkirche in Reinhausen. In: Harald Seiler (Hrsg.): Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte. Band IX. Deutscher Kunstverlag, München Berlin 1970, S. 9–44.
Ulfrid Müller: Klosterkirche Reinhausen (= Große Baudenkmäler. Nr. 257). Deutscher Kunstverlag, München Berlin 1971.
Manfred Hamann: Urkundenbuch des Klosters Reinhausen. Göttingen-Grubenhagener Urkundenbuch, 3. Abteilung. Hahnsche Buchhandlung, Hannover 1991, ISBN 978-3-7752-5860-9.
Tobias Ulbrich: Zur Geschichte der Klosterkirche Reinhausen. Reinhausen 1993.
Peter Aufgebauer: Von Burg, Kloster und Kirche Reinhausen – und von deutscher Geschichte. In: 1000 Jahre Kirche auf dem Kirchberg zu Reinhausen. Das Milleniumsbuch zu 1000 Jahre Kirche, Kultur und Leben. Hrsg. von Henning Behrmann u. a., Reinhausen 2015, S. 18–35.
== Weblinks ==
St. Christophorus Reinhausen, Internetseite der Kirchengemeinde bei „Wir sind evangelisch“, abgerufen am 13. April 2016
St. Christophorus Reinhausen auf der Internetseite des Kirch-Bauvereins, abgerufen am 18. September 2013
Historische Fotos der Klosterkirche und ihrer Ausstattung auf der Internetseite www.unser-reinhausen.de von Christian und Karin Schade, abgerufen am 24. Januar 2019
Bildindex der Kunst und Architektur mit historischen Fotos der Klosterkirche und ihrer Ausstattung, abgerufen am 24. Januar 2019
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/St._Christophorus_(Reinhausen)
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St. Martin (Memmingen)
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= St. Martin (Memmingen) =
Die denkmalgeschützte Stadtpfarrkirche Sankt Martin in Memmingen ist eine der ältesten Kirchen Oberschwabens. Die Kirche ist ein Wahrzeichen der Stadt. Sie befindet sich am Rande der nordwestlichen Altstadt, im alten evangelischen Kirchenbezirk vor dem alten aufgelassenen Friedhof an einer Anhebung des Memminger Achtals. Ihr Turm ist weithin sichtbar und mit etwa 65 Metern das höchste Gebäude der Stadt.
Ihre Geschichte lässt sich bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgen. Sie war ein Schauplatz der Memminger Reformation im 16. Jahrhundert, die nach Oberschwaben und ins Allgäu ausstrahlte. Reformator war der Prediger Christoph Schappeler.
Die in ihrer heutigen Form um 1325 begonnene und um 1500 vollendete dreischiffige Basilika ist Hauptkirche des evangelisch-lutherischen Kirchenbezirkes Memmingen, regelmäßiger Predigtort des Memminger Dekans und das Zentrum einer der vier evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden der Stadt. Die von den Bürgern finanzierte Basilika war nach ihrer Vollendung die größte gotische Stadtkirche zwischen Bodensee und Lech. Sie beherbergt viele Kunstwerke, darunter das über 500 Jahre alte Chorgestühl, das zu den besten spätgotischen Schnitzwerken in Süddeutschland zählt und als größter Kunstschatz der Stadt gilt.
== Geschichte ==
Bereits aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. sind am Standort der Kirche Siedlungsspuren nachgewiesen. Bei Grabungen im Jahr 1912 wurden unter dem Gebäude Reste eines römischen Burgus entdeckt. Der erste Kirchenbau an dieser Stelle kann nicht genau datiert werden. Forscher gehen davon aus, dass er um das Jahr 800 errichtet wurde. Ob St. Martin oder die Frauenkirche in der Südstadt Königshofkirche war, ist ungeklärt. Die bis dahin welfische Kirche wurde 1178/1179 staufisch. Im Jahre 1214 übergab Friedrich II. das Patronat an die Antoniter, die in Memmingen ihre erste Niederlassung auf deutschem Boden gründeten. Die Kirche wurde in den nächsten Jahren, beschleunigt durch das Wachstum und den Reichtum der Stadt, zur Stadtpfarrkirche. Ende des 14. Jahrhunderts entstanden der Chor und der Turm. Danach folgten weitere Innenumbauten bis in das 20. Jahrhundert. 1562 endete das Patronat der Antoniter und die Kirche wurde endgültig der Stadt übergeben. Die Finanzierung aller Erweiterungen und Umbauten wurde von den Bürgern der Stadt übernommen. Die Antoniter (auch Antonier genannt) bauten gegenüber dem östlichen Vorzeichen die Kinderlehrkirche als Klosterkirche und beschränkten sich auf diese und ihre Präzeptorei.
=== Welfenbasilika ===
Im 10. Jahrhundert kam der Ort Memmingen an die Welfen. Dadurch muss St. Martin welfische Eigenkirche geworden sein. Es ist davon auszugehen, dass eine starke Bautätigkeit eingesetzt hat. Anhand von Chroniken kann die Baugeschichte dieser Zeit nachvollzogen werden. Demnach wurde St. Martin 926 erbaut, 1077 erweitert und 1176 umgestaltet. Diese Daten sind allerdings nicht durch Funde belegbar. Die Umgestaltung von 1176 passt gut in die Stadtentwicklungsgeschichte, so dass man davon ausgehen kann, dass dieser Zeitpunkt richtig ist. Aufgrund verschiedener Unregelmäßigkeiten innerhalb des heutigen Baukörpers ist anzunehmen, dass auf eine frühere Bebauung Rücksicht genommen wurde. So ist das östliche Bogenjoch um 1,20 Meter breiter als die anderen Joche, das sechste differiert um 80 Zentimeter von der üblichen Bogenspannweite. Das Südostportal steht nicht mit dem gotischen Arkadenrhythmus in Einklang, so dass man beim Eintreten auf einen Pfeiler blickt. Vermutlich wurde eine gotische Vorhalle an den romanischen Baukörper angefügt. Forscher gehen davon aus, dass der Vorgängerbau eine Basilika mit westlichem Turmpaar war. Das Querschiff hatte demnach im ersten Joch seinen Standort, während sich die Türme im sechsten Joch befanden. Zwischen den Türmen und dem Querschiff hätten nach den damaligen Größenverhältnissen sechs romanische Joche Platz gefunden. Eine Rekonstruktion der Basilika auf dieser Basis würde mit anderen welfischen Bauten zusammenpassen. 1216 wurde St. Martin Wallfahrtskirche. Vom nahen Benningen wurde eine Blutreliquie in die Kirche überführt. Bereits 1446 wurde der Status als Altarsakrament durch den Augsburger Bischof und Kardinal Peter von Schaumberg entzogen, nachdem die Hostie allmählich zerfallen war. Er gestattete lediglich die Verehrung als Reliquie. In der Reformation soll die Bluthostie an unbekannter Stelle vermauert worden sein.
=== Ausbau zur gotischen Basilika ===
Um 1325 war die Kirche für die stark angewachsene Zahl von Bürgern der Stadt zu klein geworden, so dass erste Erweiterungen durchgeführt wurden. Der Turm sowie ein Chor wurden angebaut. Von diesem hochgotischen Bauwerk sind ein Strebepfeiler und ein Fenstermaßwerk im nördlichen Chor erhalten. Die Datierung stützt sich auf ein erhaltenes Freskofragment an der Mauer des untersten Turmstockwerkes. Im Anschluss an diese Baumaßnahme müssen die ersten Pfeilerpaare des Langhauses und der nördlichen Arkadenreihe mit dem darüber aufragenden, stärker dimensionierten Mauerfeld erbaut worden sein. Um 1345 kamen die Baumaßnahmen ins Stocken, obwohl im selben Jahr Kaiser Ludwig der Bayer „die beiden Brottische“ (wohl der erste Markt Memmingens) für die Erweiterung des Friedhofs überließ. Ob dies mit der politischen Unruhe um Kaiser Ludwig IV. oder mit der Pestepidemie des Jahres 1349 zusammenhing, konnte nicht geklärt werden. Erst in der Mitte der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist ein erneutes Einsetzen der Bautätigkeit nachweisbar. Der unbekannte Baumeister muss eine gute Ausbildung in der gotischen Architektur seiner Zeit genossen haben, da die schwerfällige Bauweise der ersten Strebepfeiler ab dem zweiten Joch in einen schlankeren, hochgotischen Baustil verändert wurde. Mit Baubeginn des vierten Joches mit einer schlichten Konsolenbauweise muss der Baumeister wiederum gewechselt haben. Nachdem das fünfte Joch vollendet war, trat eine längere Pause in der Bautätigkeit ein. Forscher gehen davon aus, dass dort das Westwerk der Welfenbasilika stand und sie damit vorläufig fertiggestellt war.
Ab 1404/1405 wurde mit dem Ausbau des sechsten Joches begonnen. Allerdings kamen die städtischen Werkleute damit nicht zurecht, worauf sich der Rat der Stadt nach München wandte. 1405 konnte Conrad von Amberg für den Ausbau verpflichtet werden. Vermutlich machte das alte Westwerk den Ausbau äußerst schwierig, da es teilweise als Tragwerk für die Arkaden diente und teils abgebrochen, teils integriert werden musste. Das sechste Joch musste um 80 Zentimeter breiter werden als die bestehenden Joche. Conrad führte die Mittelschiffswände zur endgültigen Höhe empor. 1407 wurde bereits das Dachwerk aufgeschlagen. Es ist eines der frühesten Beispiele des liegenden Stuhles im deutschen Sprachraum. Damit war es möglich, das erste Dachgeschoss ins Mittelschiff einzubeziehen. Man geht davon aus, dass erst Meister Conrad das vierte Turmgeschoss mit dem hohen Spitzhelm vollendet hat. Ähnliche Beispiele für diese gotische Kirchturmbedeckung befinden sich in Woringen und in Westerheim. Bis 1409/1410 vollendete Conrad vom Amberg die Kirche als sechsjochige Basilika.
In den folgenden Jahren konzentrierten sich die Aktivitäten vor allem auf den Innenausbau. Die östlichen Vorhallen entstanden 1438. Die im Jahr 1458 begonnene Einwölbung der Seitenschiffe war nur durch massive Spenden der Familien Besserer und Wespach möglich geworden. Die Funk-Kapelle machte den Anfang einer Reihe von Kapellenstiftungen in der Basilika. So kam 1476 die Vöhlin-Kapelle und 1482 die Zwicker-Kapelle hinzu. 1489–1491 konnte durch den Abbruch zweier Häuser in der Zangmeisterstraße das Langhaus um zwei Joche erweitert werden. Da die Memminger Baumeister mit dieser heiklen Aufgabe überfordert waren, konnte der Rat der Stadt den Ulmer Baumeister Matthäus Böblinger gewinnen. Von 1496 bis 1500 wurde der Chor neu errichtet und damit die größte Stadtpfarrkirche zwischen Bodensee und Lech vollendet.
=== Pfarrkirche und Reformation ===
Unter dem Schweizer Prediger Christoph Schappeler verbreitete sich in Memmingen ab 1524 die Reformation. Schappeler hatte eine gut dotierte Predigerstelle der Vöhlin-Kapelle in St. Martin inne und vollzog in diesem Jahr erstmals in deutscher Sprache die Taufe. Zusammen mit Lindau, Konstanz und Straßburg legte die zunächst zwinglianisch orientierte Stadt auf dem Augsburger Reichstag 1530 ein Sonderbekenntnis vor, die Confessio Tetrapolitana (Vierstädtebekenntnis).
Ein Stadtratsbeschluss aus dem Jahr 1531, der besagte, dass sämtliche kirchlichen Kultgegenstände aus den Kirchen der Stadt verschwinden mussten, führte zum größten Verlust an Ausstattungselementen von St. Martin. Die Kirche verlor 21 Seitenaltäre und den spätgotischen Hochaltar im Chorraum. Von der Einrichtung des Hochchores verblieb nur das Chorgestühl.
Zur lutherischen Lehre bekannte sich die Stadt im Jahr 1532 durch die Übernahme der Augsburger Konfession. Endgültig wurde Memmingen und damit auch St. Martin 1536 durch die Annahme der Wittenberger Konkordie der lutherischen Lehre verpflichtet.
=== Nach der Reformation ===
Im Dreißigjährigen Krieg erließ Kaiser Ferdinand II. das Restitutionsedikt, wonach alle bei der Reformation enteigneten Güter den katholischen Besitzern zurückgegeben werden sollten. Dies betraf auch St. Martin, jedoch setzte sich die Stadt dagegen erfolgreich zur Wehr. Bei der Beschießung durch die Kaiserlichen und die Bayern wurde im Jahr 1647 auch die Kirche getroffen, wobei die Holzdecke beschädigt wurde. Hans Knoll ersetzte sie durch ein Brettergewölbe aus Rippen und Schlusssteinen mit Bemalung, ähnlich dem Chorgewölbe. Knoll schuf 1656 im ersten Mittelschiffsjoch auch eine Musikanten- und Sängerempore. Die mittelalterliche Kirchhofmauer wurde 1810 abgebrochen. Gleichzeitig wurde der ehemalige Gottesacker in eine parkähnliche Landschaft mit Baumpflanzungen umgestaltet. Die Decke des Mittelschiffs wurde ab 1845 neu gestaltet und ein Scheingewölbe eingezogen. Das Langhaus und der Turm wurden 1867 und 1872 mit Schiefer neu gedeckt. Von 1926 bis 1927 wurde die Kirche renoviert und die Eindeckung wieder zurückgenommen. 1962 bis 1965 und 1984 bis 1988 wurde die Kirche erneut renoviert.
=== Turm ===
Von den Vorgängertürmen der Welfenbasilika auf der Westseite ist nichts mehr erhalten. Der erste Turmbau an der heutigen Stelle wird um 1300 datiert. Das unterste Geschoss des heutigen Turms wurde um 1325 erbaut. Ein Weiterbau des fünften Obergeschosses muss in die Zeit um 1370 datiert werden. Das dort verwendete Ziegelformat von 34×16,5×7,5 Zentimetern wurde auch bei dem um 1370 entstandenen Frauenkirchturm vermauert. Die weiteren Stockwerke kamen um 1405 bis 1410 durch Baumeister Conrad von Amberg hinzu. Der Turm wurde damals mit einem hohen Spitzhelm mit grüner Plattendeckung abgeschlossen. Die Wendeltreppe, die vom Nordschiff in das erste Obergeschoss führte, brannte 1420 ab. Im Jahre 1428 wurde der heutige Glockenstuhl als Gerüstbauwerk in den Turm eingebaut. Bis dahin hingen die Glocken in einer mit dem Mauerwerk verbundenen Balkenanlage. Zwei Jahre später wurde der über vier Steingiebel aufsteigende Spitzhelm vollendet. Aufgrund der Überwölbung der Seitenschiffe innerhalb der Kirche wurde der Turmeingang an die heutige Stelle in der nordöstlichen Ecke versetzt. Nach einem Blitzeinschlag 1470 erhielt der Turm einen Turmknopf und er wurde mit grünglasigen Ziegeln neu eingedeckt. Durch schnelle Löschmaßnamen der Bevölkerung konnte der Turm 1482 gerettet werden, nachdem vier Blitze in den Turm eingeschlagen waren und ihn in Brand gesetzt hatten. In den Chroniken sind für das Jahr 1494 zwei nächtliche Blitzeinschläge vermerkt, als der spätere Kaiser Maximilian I. in die Stadt einzog. Der durch einen weiteren Blitzschlag im Jahr 1535 zerstörte Turmhelm wurde 1537 durch den heutigen Achteckbau auf dem Turmstumpf ersetzt. Ein hölzerner Erker wurde 1573 über dem Zifferblatt der Turmuhr angebaut. Der Zimmermeister Jacob Britzel und der Kupferschmied Bartholomäus Seybrand errichteten über dem Helm eine welsche Haube aus Kupfer. Seitdem hat der Turm eine Höhe von etwa 65 Metern. 1872 wurde die Haube mit Schiefer gedeckt, was bei der Renovierung 1927 wieder rückgängig gemacht wurde. Der Turm wurde 1966 und 2012 letztmals renoviert. Seit dem Bau gehörte der untere Teil der Kirchengemeinde, der obere Teil der Stadt. 1927 übergab die Stadt ihren Teil ebenfalls der Kirchengemeinde.
== Baubeschreibung ==
Die Kirche ist eine dreischiffige, achtjochige Basilika mit erhöhtem Chorraum, der in einem 5/8-Abschluss endet. Der nördliche Teil des Gebäudes wird durch den Turm und den Chor geprägt. Auf der Südseite befindet sich der alte, seit 1530 aufgelassene Friedhof der Stadt. Auf diesem stehen über 300 Jahre alte Buchen und jüngere Kastanien. Gegenüber der östlichen Vorhalle steht die Kinderlehrkirche.
=== Außenbau ===
Die Außenwände der Seitenschiffe ragen hinter dem Chor hervor. An den Chor schließen sich vor dem Langhaus die neue Sakristei auf der Südseite sowie die alte Sakristei und der Turm auf der Nordseite an. Das Mittelschiff besitzt ein Satteldach, die beiden Seitenschiffe haben ein Pultdach. Die Wände bestehen aus verputztem Ziegelmauerwerk. Über den Seitenschiffen ist pro Joch ein mit einfachem Maßwerk verziertes Oberlicht sichtbar. Direkt unterhalb der Fenster schließt sich die Eindachung der Seitenschiffe an. Das Maßwerk der Fenster in den Seitenschiffen wurde während des Barocks entfernt, die einstigen Spitzbögen wurden zu Rundbögen umgearbeitet. Aufgrund der Bauweise mit verputzten Ziegeln sind die einzelnen Bauabschnitte äußerlich nicht sichtbar. Die Westseite ist komplett verputzt. Begrenzt wird sie durch die enge Durchfahrt des Martin-Luther-Platzes, welcher sich an dieser Stelle zu einer Straße verengt. Oberhalb des Brauttor genannten Westportals der Kirche befanden sich früher zwei Fenster, die heute zugemauert sind. Darüber befindet sich ein kleines Rundfenster, dem in Höhe des Scheitelpunktes des Satteldaches ein weiteres, etwas größeres rundes Fenster folgt. Der Chor ist aus Tuffstein gemauert. Die Fenster sind mit Maßwerk verziert. Die Strebepfeiler haben wenig Verzierung.
=== Innenraum ===
==== Mittelschiff ====
Das 11,40 Meter breite Mittelschiff hat eine Länge von 50 Metern und ist 18,80 Meter hoch. Es kann direkt durch das sogenannte Brauttor an der Westseite betreten werden. Die Wände über den acht Jochen sind schlicht gehalten. Der Baustil entspricht der Gotik. Nach oben abgeschlossen wurde es früher von einer flachen Holzdecke. Im Zuge des Historismus im 19. Jahrhundert wurde 1845 die Deckenhöhe um 3,80 Meter reduziert, ein Scheingewölbe im gotischen Stil eingezogen und an den Hängebalken des Dachstuhls mit Eisenstäben befestigt. Für Licht im Mittelschiff sorgen Oberlichter. Die Jochbögen ruhen auf Achtkantpfeilern, von denen die östlichsten offensichtlich wiederverwendet wurden. Forscher gehen davon aus, dass diese Spolien aus einer anderen, abgebrochenen Kirche stammen. Zeitlich könnte dazu der Vorgängerbau des Ulmer Münsters passen. Aufgrund der Natursteinarmut in Oberschwaben konnten nur Ziegel verwendet werden, was einer hochgotischen Bauweise im Wege stand.
==== Nordschiff ====
Das Nordschiff ist 50 Meter lang, 5,7 Meter breit und 9,45 Meter hoch. Man betritt es durch zwei Eingänge an der Zangmeisterstraße, die dem größeren Ausbau der Nordschiffkapellen im Wege stand. Die Kapellen sind als kleine Spitzbogennischen zwischen den Strebepfeilern erkennbar. Lediglich die Bruderschafts-Kapelle von 1501 weicht mit ihrem Rundbogen davon ab. Abgeschlossen wird das Nordschiff von einem unbemalten, weiß getünchten gotischen Kreuzrippengewölbe.
==== Südschiff ====
Das Südschiff ist bei sonst gleichen Dimensionen mit zehn Metern etwas höher als das Nordschiff. Es hat zwei Eingänge über die östliche und die westliche Vorhalle. Es befinden sich mehrere größere Kapellen darin. Abgeschlossen wird es von einem gotischen Kreuzrippengewölbe.
==== Chor ====
Der Chor ist 24,6 Meter lang und 10,67 Meter breit. Er ist weiß getüncht. Die spätgotischen hohen Fenster sind im vorderen Teil bunt, an den Längsseiten klar verglast. Unter den Fenstern sind im leicht erhöhten Hochaltarbereich Grabtafeln eingelassen, die sich früher am Boden des Kirchenraums befanden. Abgeschlossen wird der Chor auf 17,62 Meter Höhe von einem gotischen Sternnetzgewölbe, an dem sich auch die einzigen Fresken des Chors befinden.
== Ausstattung ==
Die Kirche ist reich an Kunstwerken der Malerei und Holzschnitzerei, die aus dem 13. bis 19. Jahrhundert stammen.
=== Schnitzereien ===
Schnitzereien befinden sich am Chorgestühl, am Hochaltar, an den Kirchenbänken und an der Kanzel. Als großes Einzelwerk kann auch die Ausstattung der neuen Sakristei angesehen werden. Alle anderen sakralen Schnitzwerke wurden beim Bildersturm, der am 19. Juli 1531 vom Rat der Stadt angeordnet wurde, zerstört oder in andere Kirchenbauten gerettet.
==== Chorgestühl ====
In St. Martin entstand zwischen 1501 und 1507 eines der großartigsten und ausdrucksstärksten Chorgestühle im süddeutschen Raum. Es ist neben dem Chorgestühl im Ulmer Münster von Jörg Syrlin dem Älteren und dem Gestühl im Konstanzer Münster die bedeutendste spätgotische Arbeit in Deutschland. Das Chorgestühl ist noch in gottesdienstlichem Gebrauch.
Die Reichsstadt Memmingen befand sich damals auf dem Höhepunkt ihrer Geschichte – ein wirtschaftliches, politisches und kulturelles Erfolgsmodell. Dieser Erfolg zeigte sich gerade auch in einer regen Bautätigkeit. In der Hauptpfarrkirche St. Martin waren die letzten Jahre des 15. Jahrhunderts geprägt von der Erweiterung des Kirchenraumes, seiner Ausstattung mit Kapellen und Altären und ab 1496 der Errichtung eines neuen Hochchores, dessen Äußeres aus Tuffstein gefertigt ist.
Im Inneren des Chorraumes bietet das Sternnetzgewölbe ein filigranes Dach und einen würdigen Rahmen für das Chorgestühl. Den Auftrag dazu erteilten im September 1501 die beiden Kirchenpfleger von St. Martin. Bis 1507 schufen die Meister Hans Stark (Schreiner) und Hans Herlin (Bildhauer) ein aus Eichenholz geschnitztes Gestühl mit insgesamt 63 Sitzen. An einigen Skulpturen dieses Chorgestühls lassen sich auch zwei von Herlins Gesellen erkennen: Hans Thoman und Christoph Scheller. Beide brachten es später als Meister zu eigener künstlerischer Größe.
Unterbrochen von zwei Portalen, stellen im Memminger Chorgestühl 66 Plastiken zwei Zyklen dar: Der theologische Zyklus zeigt unter den Baldachinen Sibyllen und Propheten des Alten Testaments. Sie zeugen vom Kommen des Messias in Christus. An den vorderen Stuhlwangen sind ausdrucksstarke Porträts von Personen aus der Memminger Geschichte zu sehen. Eine genaue Zuordnung bestimmter Personen ist allerdings nicht immer möglich. Nur die Gegenstände, welche die großen Plastiken in den Händen halten, ergeben eine halbwegs sichere Zuordnung. So sind zum Beispiel der Bürgermeister und seine Frau oder aber der Amman und dessen Frau näher bestimmbar. Eine bislang als Abt des Antoniterklosters gedeutete Figur kann mit großer Wahrscheinlichkeit nicht als solcher identifiziert werden. Allerdings müssen die abgebildeten Personen in Memmingen so bekannt gewesen sein, dass eine nähere Erläuterung nicht notwendig war. Auch kann bei einer der Plastiken relativ sicher davon ausgegangen werden, dass sie den römisch-deutschen König und späteren Kaiser Maximilian I. darstellt, der sich gerade zur Entstehungszeit des Chorgestühls oft in Memmingen aufgehalten und die Stadt seine „Ruh- und Schlafzell“ genannt hat. Auch weil der Antonierklosterpräzeptor sein Hauskaplan war, scheint diese Annahme der Wahrheit nahezukommen.
Aber auch die zahlreichen Intarsien an den Rückwänden und die kalligraphische Vielfalt der Schriftfelder, die in keinem zweiten Chorgestühl dieser Zeit vorkommen, verdienen Beachtung. Sie stammen aus der Werkstatt Bernhard Strigels. Früher wurde angenommen, die Intarsien seien erst nachträglich am Chorgestühl angebracht worden. Aufgrund verschiedener Details kann heute jedoch mit Bestimmtheit gesagt werden, dass die Intarsienfelder – zwei an jedem Stuhl – bereits zur Entstehungszeit eingefügt wurden.
Eine umfassende Restaurierung und Ergänzung fehlender Teile erfuhr das Chorgestühl in den Jahren 1892 bis 1901 durch den Memminger Kunstschreiner Leonhard Vogt. Hierbei wurde dem Chorgestühl der im Jahre 1813/1814 entfernte Baldachin wieder aufgesetzt. Forschungen haben ergeben, dass früher Teile der Figuren bemalt waren. Dadurch war eine noch lebensechtere Darstellung möglich. Das Chorgestühl zählt zu den berühmtesten und kunstvollsten Deutschlands.
==== Kanzel ====
Die Kanzel im Langhaus der Basilika wurde von Johann Friedrich Sichelbein entworfen und nach dessen Plänen von 1699 bis 1700 gefertigt. Sie stellt eine Gemeinschaftsarbeit zweier Künstler dar. Die Schreinerarbeiten führte Georg Rabus aus, die bildhauerischen Elemente Christoph Heinrich Dittmar aus Arnstadt. Die Kanzel wurde überwiegend aus Nussbaum mit wenigen goldenen Verzierungen hergestellt. Der Schalldeckel hat die Form einer Zwiebelhaube und wird von einem Posaune spielenden Engel bekrönt. Außen zieren ihn Akanthusblätter. In den Kanzelkorb sind fünf Statuen von Jesus und den vier Evangelisten in dafür vorgesehene Aussparungen eingelassen. Am unteren Ende des Korbes gruppieren sich Engelsköpfe um eine goldene Traube. Der Kanzelaufgang ist mit Felderungen und Fruchtgehängen geschmückt. Über der Tür ist eine Figur Johannes des Täufers angebracht. Insgesamt ist es ein hohes Kunstwerk des oberschwäbischen Barocks.
==== Neue Sakristei ====
Die Ausstattung der neuen Sakristei wurde vermutlich zur gleichen Zeit wie das Chorgestühl angefertigt. Dementsprechend ist es reich mit Schnitzereien und Intarsien geschmückt. Die dreigeschossige Schrankwand setzt sich unter den Fenstern in brusthohen Kredenzen fort. Reiche Laubwerkschnitzereien, Intarsien, Zinnbeschläge und der grün hinterlegte Flachschnitt sorgen insgesamt für ein großartiges Nadelholzwerk der Spätgotik. Als Meister kommt Heinrich Stark in Betracht. Der in der neuen Sakristei aufgestellte barocke Tisch stammt vermutlich von Johann Christoph Dittmar.
==== Kirchenstühle ====
Im Langhaus selbst sind keine erwähnenswerten Kirchenstühle aufgestellt. Lediglich in den Seitenkapellen des Südschiffes gibt es einzelne spätgotische oder aus der Zeit der Renaissance stammende Stücke. Auf einem Stuhl in der Vöhlin-Kapelle befindet sich eine der frühesten Abbildungen des Stadtwappens, die um 1480 geschnitzt wurde.
=== Malereien ===
In der Kirche gibt es zahlreiche Wandmalereien und Ölbilder. Die ältesten stammen aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die jüngsten aus dem 18. Jahrhundert. Viele der Wandmalereien entstammen der Memminger Schule.
==== Strigelfresken ====
Von der Künstlerfamilie Strigel stammen einige Fresken in dem Gebäude. Im östlichen Vorzeichen des Südschiffes malte Hans Strigel der Ältere 1445 ein Bildnis des Jüngsten Gerichts. Aus seiner Hand stammt auch die Darstellung der Kreuzigung Jesu in der Nische in der Westwand. Darunter befinden sich die Stifter mit Wappen und einem Schriftband, auf dem zu lesen ist, dass das Bild von Erhard Hantteller aus Graz gestiftet wurde. Eine Verkündigung an Maria ist am östlichen Bogenfeld zu sehen. Die Decke ist mit den Symbolen der vier Evangelisten versehen, die sich um das Lamm Gottes gruppieren. Die Propheten Jesaja und Ezechiel sind im östlichen Stichkappenfeld, Kain, der mit dem Teufel um eine Garbe kämpft, und Abels Opfergabe an Gott sind im Gegenstück zu sehen. Um 1480 schuf vermutlich Hans Strigel der Jüngere ein Madonnen-Pfeilerfresko im Südschiff. Das größte erhaltene Freskenwerk der Künstlerfamilie ist die Zangmeister-Kapelle. Hier wurde um 1510 ein beeindruckendes Freskenwerk von Bernhard Strigel geschaffen. An der gotischen Decke behandelt es die selten gemalten Themen der Verklärung Christi und der Opferung Isaaks durch Abraham. An den Wänden sind die heilige Elisabet bei einem Besuch Marias sowie die Teufelsaustreibung einer Besessenen, die der heilige Eberhard durchführt, abgebildet. Darüber hinaus befinden sich in der ganzen Kapelle kleinere Fresken mit Ornamenten, Putten und Ähnlichem. Diese Fresken wurden bereits 1531 beim Bildersturm verdeckt und konnten 1963 wieder freigelegt werden. Um 1500 sind im Chorbogen Fresken der tugendhaften und törichten Jungfrauen entstanden. Sie werden Bernhard Strigel stilistisch zugeschrieben, dem führenden Meister der Memminger Schule.
==== Sichelbeinfresken ====
Vermutlich Caspar Sichelbein der Ältere schmückte die Kirche 1587 mit ornamentalen Malereien aus, denen ein Jahr später ein Passionszyklus folgte. Die Vorlage war vermutlich Albrecht Dürers Kleine Passion. Sichelbein musste die Bilder teilweise stilistisch verändern, da der Platz an den Wänden der Ostseite des Hauptschiffes nicht groß genug war. Sie wurden 1656 überdeckt, 1926 und 1965 wieder aufgedeckt und ergänzt. Ebenfalls 1588 entstand an dem äußeren Chorbogen ein Fresko des Jüngsten Gerichts. Dieses ergänzte thematisch den Passionszyklus. Es reichte 3,80 Meter über den heutigen Gewölbescheitel hinaus. Auch hier lag vermutlich Dürers Kleine Passion zugrunde. Von dem Fresko ist heute nur noch ein Rest über dem Scheingewölbe erhalten. Der sogenannte grüne Teufel, eines der sieben Memminger Wahrzeichen, verschwand ebenso über dem Scheingewölbe. Feuerschutzfarbe, mit welcher der Dachstuhl im Zweiten Weltkrieg vor Feuer geschützt wurde, zerstörte auch den Rest des grünen Teufels.
==== Ölgemälde ====
In der Basilika gibt es aufgrund der theologischen Auffassung der Reformation, dass jeglicher Kirchenschmuck vom gesprochenen Wort ablenkt, wenige Ölgemälde. Johann Friedrich Sichelbein malte acht Bilder, die das Leben Jesu darstellen. Sie hingen früher an den Pfeilern im Hauptschiff. Im Zuge der Innenrenovierungen wurden sie in den Kapellen des Südschiffes untergebracht. Sie zählen zum Hauptwerk des bedeutendsten Mitgliedes der Künstlerfamilie Sichelbein, die seit 1581 in Memmingen sesshaft war. Ein weiteres Ölgemälde befindet sich im Nordwestportal. Es wurde von dem gebürtigen Antwerpener Abraham del Hel gemalt, der sich später in Augsburg niederließ, und zeigt Christus vor Pilatus.
==== Glasmalereien ====
Die ehemals gotischen Glasmalereien des Chors sowie der neuen Sakristei sind verschollen. Die heute zu sehenden Malereien stammen aus dem Jahr 1894 und gelten als herausragende Kunstwerke des Historismus. Geschaffen wurden sie von der Hofglasmalerei Franz Xaver Zettler aus München. Lediglich einige wenige gotische und Renaissanceglasmalereien haben sich in den Kapellen erhalten.
=== Kreuzaltar ===
Der Kreuzaltar in der St.-Martins-Kirche gehört zu den kunstvollsten und frühesten derartigen Arbeiten in Deutschland. Die neue theologische Ausrichtung nach zwinglischem Vorbild machte einen solchen Altar notwendig. Er musste das bisherige Zentrum des Gottesdienstes, den Hochaltar, ersetzen. Zusammen mit diesem wurden insgesamt 21 weitere Altäre aus der Kirche entfernt.
Der Kreuzaltar wurde 1531 geschaffen und aufgestellt und besitzt Stilelemente der Gotik und der Renaissance. Die Säulen sind kräftig gearbeitet und besitzen oben leere Wappenschilde. Die massive Tischplatte wird von aus Fischblasen gebildeten und mit Eierstabornamenten verzierten Querverbindungen getragen. Er gehört zu den größten historischen Schätzen der ehemaligen Reichsstadt.
=== Chorgitter ===
Das Stabgitter mit den Türen zum Hochchor ist einfach gehalten, das Chorgitter, welches den Kreuzaltar umgibt, ist dagegen sehenswert. Es stammt aus dem Jahr 1603 und besitzt Spiralen, Blumen und Blätter. Rechts daneben soll sich die Grabstätte der Mönche des Antoniterklosters befunden haben. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich dort ein Solnhofer Stein mit dem Antoniter-T.
=== Orgel ===
Die Orgel hat in St. Martin lange Tradition. So wurde die erste Orgel bereits 1453 erwähnt. Sie hatte ihren Platz auf einer Schwalbennestempore an der südlichen Hochschiffwand. 1528 wurde sie aus reformatorischen Gründen entfernt. 1597/1598 wurde eine neue Orgel von Kaspar Sturm und Aaron Ruck erbaut. Am 21. November 1599 erklärte der fuggersche Hoforganist Hans Leo Haßler die Orgel für gelungen. Das berühmte Werk wurde 1758 von Joseph Gabler umfassend instand gesetzt. Die Disposition wurde modernisiert, Gablers typische Klangelemente wurden eingefügt. Im Stadtarchiv ist dazu zu lesen: „Er hat die Orgel wohl repariert und in vollkommenen Stand gestellt, daß man darob ein seltsames Vergnügen gefunden.“ Johann Nepomuk Holzhey überholte die Orgel zuletzt 1778. 1827 wurde das baufällig gewordene Schwalbennest zugunsten einer Westempore ersetzt. Die Orgel zog mit dorthin um, allerdings erreichte sie nie mehr den Klang wie im Schwalbennest. Die Verkleidung wurde auf Schloss Illerfeld (Volkratshofen) gebracht, in dem die Flügel der Orgel in der Kassettendecke verbaut sind.
1853, als eine neue Orgel mit spätgotischem Gehäuse der Orgelbauwerkstatt Walcker und Spaich aus Ludwigsburg angeschafft wurde, kam die Orgelmusik in der Kirche wieder in das Blickfeld der breiten Öffentlichkeit. Dieses Instrument wurde 1900 von Steinmeyer repariert und 1938 von Paul Ott nach damaligen Gesichtspunkten erweitert. Diese Orgel musste 1962 aufgegeben werden. Es wurde eine Orgel der Firma Walcker eingebaut. Schlechte Verarbeitung und Materialien ließen dieses Instrument allerdings nur 36 Jahre lang bestehen.
1991 überlegte sich die Kirchengemeinde ein neues Konzept für die Orgel, da die alte nicht mehr zu reparieren war. Es sah vor, eine moderne, große Orgel am bisherigen Standort an der Westwand zu installieren. Am 8. November 1998 wurde die neue Orgel aus dem Hause Goll eingeweiht. Sie hat 62 Register (4.285 Pfeifen) auf vier Manualwerken und Pedal. Die baßschwache Akustik des 72 Meter langen und 20 Meter hohen Kirchenraumes machten es erforderlich, den Bass- und Mitteltonbereich kraftvoll und doch variabel zu gestalten. Man entschloss sich, eine symphonische Orgel nach französischem Vorbild einzubauen. Sie nimmt die gesamte Westfassade ab der ersten Empore ein. Lediglich das Brauttor darunter ist nicht verbaut. Dadurch kann sich der Klang der Orgel frei in das Kirchenschiff entfalten. Das Orgelgehäuse sowie die Empore sind aus unbehandeltem Eichenholz mit gotischen Stilelementen gebaut und verbinden die alte Gotik mit dem modernen Baustil des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die Empore selbst ist für etwa 70 Chormitglieder oder ein vergleichbares Instrumentalensemble ausreichend.
Über das Jahr verteilt finden oft Orgelkonzerte statt. Zahlreiche Aufnahmen wurden auf der Orgel eingespielt. Samstags um 11 Uhr vormittags kann bei einer OrgelKultour durch die Kirche der Klang der Orgel erlebt werden.
== Turmuhr ==
Im Jahre 1524, ein Jahr vor den Bauernkriegen, wurde die erste Räderuhr in Betrieb genommen. Das erste Zifferblatt gestaltete Bernhard Strigel, einer der herausragendsten Künstler der Stadt Memmingen. 1537, bei der Umgestaltung des Turms, wurde diese Malerei durch Ursus Werlin überarbeitet. Es folgte 1688 eine weitere Überarbeitung, wobei die barocken Formen der Wappen und das Band mit der Beischrift hinzugefügt wurden. Im Jahre 1829 erfolgte eine Anbringung eines Ziffernblattes aus Eisenblech. Auch wurden die schadhaften Stellen der Umrahmung verputzt.
Michael Geiger der Ältere legte 1906 die Umrahmung wieder frei. Während der großen Turmrestaurierung von 1927 unter dem Ulmer Münsterbaumeister Karl Wachter wurde das eiserne Zifferblatt entfernt und dabei der komplette Putz abgeschlagen. Zuvor erfolgte eine Abnahme des Originals und die Neufassung durch die Gebrüder Haugg aus Ottobeuren. Seit diesem Zeitpunkt kann auch nicht mehr von einer Malerei von Bernhard Strigel gesprochen werden. Diese musste 1966 abermals erneuert werden. Der heutige Zustand gibt die Darstellung aus dem Jahr 1697 wieder. Das Zifferblatt wird von zwei Memminger Stadtwappen oben links flankiert. Zwei Löwen halten eine Kartusche mit dem kaiserlichen Doppeladler sowie den Kopf eines Königs als obersten Herrn der freien Reichsstadt. Der abgebildete Königskopf wurde allerdings durch die Bevölkerung nicht als solcher erkannt, sondern wurde als Haupt der „Heiligen“ Hildegard angesehen und verehrt. Dies ist verwunderlich, da Memmingen bereits 1530 zum reformierten Bekenntnis übertrat und danach die Heiligenverehrung praktisch nicht mehr vollzogen wurde. Die Malerei wurde eines der sieben Memminger Wahrzeichen. Auf einem Spruchband über den Löwenköpfen steht der reichsstädtische Wahlspruch: „DOMINE HUMILIA RESPICE“ (Herr, siehe das Niedrige an, Psalm 138,6).
Das heutige Uhrwerk ist ein Aufziehuhrwerk. 1927 wollte die Kirchengemeinde bei der Übergabe des Turmes von der Stadt ein neues Uhrwerk ohne Pendel zum Aufziehen haben. Die Stadt schlug diese Bitte ab, worauf die Kirchengemeinde auf die Überlassung der Turmuhr verzichtete und das Uhrwerk im Besitz der Stadt verblieb. Es muss daher noch heute eine städtische Bediensteter alle paar Tage die Pendel der Uhr aufziehen.
== Glocken ==
Die Kirche besitzt insgesamt acht Glocken. Vier große Glocken hängen im Martinsturm in einem über 600 Jahre alten hölzernen Glockenstuhl und sind läutbar. Weitere vier Glocken hängen außerhalb der Glockenstube und sind nicht läutbar. Zu früheren Zeiten gab es in der Glockenstube eine weitere kleine Glocke, die als Messnerglocke diente und dem Glockenschwinger signalisierte, wann die großen Glocken geschlagen werden mussten. Die ursprünglich älteste Läuteglocke, die Zwölfuhrglocke, wurde im Jahre 1415 gegossen; im Jahre 1942 musste sie zum Einschmelzen nach Hamburg gegeben werden und ist seitdem verschollen; im Jahre 1954 wurde sie durch einen Neuguss ersetzt. Die heute älteste Glocke, die große Osannaglocke, wurde 1460 von dem in Memmingen ansässigen St. Galler Glockengießer Ulrich Snabelburg II. gegossen; sie war dem heiligen Martin, Maria und Georg geweiht, was jedoch mit der Reformation in Vergessenheit geriet. Die beiden weiteren Läuteglocken, die Elfuhrglocke und die Marienglocke und weitere der Läuteglocken wurden im Jahre 1514 gegossen.
Außerhalb des Martinsturmes hängen vier weitere Glocken, die nicht zum Geläute gehören.
Die Stundenschlagglocke befindet sich in einem kleinen Erker oberhalb des Turmuhrzifferblattes. Sie wurde 1573 gegossen und ging bei der Beschießung der Stadt durch die Kaiserlichen im Dreißigjährigen Krieg 1632 zu Bruch. Leonhard Ernst II. goss sie 1644 neu. Sie schlägt außer der elften und zwölften jede Stunde des Tages.
Die Stadtfeuerglocke hängt über der Türmerstube im Freien und wurde 1728 von Johann Melchior Ernst gegossen. Sie wurde bei Bränden innerhalb der Stadt angeschlagen, wiegt 2,5 Zentner, hat einen Durchmesser von 48 und eine Höhe von 35,5 Zentimetern. Die Inschrift lautet „DEO GLORIA ANNO 1728“.
Die Viertelstundenglocke wurde 1990 als Ersatz für die 1986 vom Baugerüst gestohlene Armsünderglocke gegossen. Sie hängt über einem Fenster der Türmerstube. In früherer Zeit begleitete die Armsünderglocke mit ihrem schrillen Klang die zum Tode Verurteilten bis zum Richtplatz. In jüngerer Zeit schlug sie die Viertelstunden. In ihr war „Hilf Maria“ eingraviert. Sie war die älteste noch erhaltene Glocke der Stadt. Seit dem Diebstahl ist sie verschollen.
Die Landfeuerglocke ist in dem kleinen Dachreiter über dem Südostbalkon angebracht. Sie wurde 1966 gegossen. Früher wurde sie bei Bränden im evangelischen Umland geschlagen. Brannte es hingegen im katholischen Umland, wurde die Stadtfeuerwehr nicht zur Hilfe gerufen.
== Nutzung ==
Gegründet wurde die Kirche vermutlich als Königshofkirche der Welfen. Erst 1214 wurde das Patronat an die Antoniter übergeben, die schräg gegenüber an der Stadtmauer ihre Präzeptorei einrichteten. Seitdem war die Kirche eigentlich die Klosterkirche der Antoniter. Da die Bevölkerung Memmingens sie immer schon mitbenutzte und die Umbauten bezahlte, wurde die Kirche nach und nach zur Stadtpfarrkirche. In der Reformation wurden die Antoniter 1531 vertrieben, die endgültige Ablösung des Klosters erfolgte erst 1562. Seit diesem Zeitpunkt ist die Kirche eine reine Stadtpfarrkirche.
Heute ist die Kirche Dekanatskirche des Dekanates Memmingen. Der Dekan ist gleichzeitig Inhaber der ersten Pfarrstelle in St. Martin. Gottesdienste finden in der Regel jeden Sonntag statt. Kirchenführungen werden jeden Samstag um zwölf Uhr mit Orgelbegleitung durchgeführt. Der Kirchenraum dient auch als Konzertsaal für Orgelkonzerte, Oratorien, Vokalkonzerte und kleinere Ensembles. Turmführungen finden von Mai bis Oktober täglich um 15 Uhr statt.
== Literatur ==
Evangelisch-lutherisches Pfarramt St. Martin, Memmingen (Hrsg.): St. Martin und Kinderlehrkirche • Memmingen. Memminger Mediencentrum AG, Memmingen 2006.
Historischer Verein Memmingen e. V. (Hrsg.): 500 Jahre Chorgestühl in St. Martin zu Memmingen. Memminger Mediencentrum AG, 2007, ISSN 0539-2896.
Historischer Verein Memmingen e. V. (Hrsg.): Kirche St. Martin Memmingen. Memminger Mediencentrum AG, 2017, ISSN 0539-2896.
== Weblinks ==
offizielle Website der Kirchengemeinde
Beschreibung der Goll-Orgel St. Martin in Memmingen
offizielle Website der Kirchenmusik an St. Martin, Memmingen
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/St._Martin_(Memmingen)
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Staatsforst Burgholz
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= Staatsforst Burgholz =
Der Staatsforst Burgholz ist ein Waldgebiet in Wuppertal mit Ausläufern ins Solinger Stadtgebiet in der Mittelgebirgsregion Bergisches Land in Nordrhein-Westfalen. Er ist für sein bundesweit einmaliges Arboretum bekannt, in dem forstwissenschaftliche Studien durchgeführt werden.
== Geographie und Lage ==
=== Lage ===
Der Staatsforst Burgholz liegt zum überwiegenden Teil auf Wuppertaler Stadtgebiet an der Grenze zu Solingen, dem ein kleinerer Teil im Südwesten zugeordnet ist. Im Norden wird der Forst durch die Wuppertaler Stadtteile und Bezirke Vohwinkel, Sonnborn und Elberfeld begrenzt, im Osten und Südosten umfasst Cronenberg mit dem Hauptort und den Bezirken Küllenhahn, Hahnerberg und Cronenfeld das Areal, im Süden liegt der Cronenberger Ortsteil Kohlfurth und westlich der Solinger Stadtteil Gräfrath. Die Topographie reicht von 120 m ü. NHN bis zu 282 m ü. NHN. Der ehemalige Von der Heydt’sche Privatwald und die daraus hervorgegangenen städtischen Erholungsanlagen im Norden am Kiesberg werden auch dem Waldgebiet zugeordnet.
=== Gewässer ===
Der Lauf der Wupper in Nord-Süd-Richtung trennt das Waldgebiet in einen größeren östlichen und einen kleineren westlichen Teil. Der Fluss hat sich bis zu 160 m tief durch das Gebirge gegraben. Der westliche Teil des Burgholzes wird auch als Klosterbusch bezeichnet, ein Name, der auf ein früheres Besitztum des nahen ehemaligen Gräfrather Klosters hinweist.
Zahlreiche Bäche beziehungsweise Siepen münden von beiden Seiten in die hier nach Süden fließende Wupper. Die von Osten kommenden Bäche Burgholzbach, Rutenbecker Bach (auch Rutenbeck genannt), Glasbach, Kaltenbach und die von Westen kommenden Bäche Flockertsholzer Bach und Steinbach haben tiefe, aber verflachte Kerbtäler gegraben und stellen die wasserreichsten Nebenbäche der Wupper.
Weitere Nebenbäche der Wupper im Waldgebiet sind: Kleiner Meersiepen, Großer Meersiepen, Gerretsiefen, Flockertsberger Bach, Weilandsiepen, Fuchskuhler Bach, Herichhauser Bach, Untenholzer Bach, Wahlert, Flächsgessiepen, Ketzberger Bach, Jacobsbergsiefen und Kohlfurther Brückenbach. Der Burgholzbach besitzt ebenfalls mehrere Nebenbäche, darunter der Vonkelner Bach, Nöllenhammer Bach, Steinsiepen und Langensiepen. Am Burgholzbach und am Kaltenbach befinden sich mehrere kleine Stauteiche, die zur Nutzung der Wasserkraft für Hammerwerke in der Zeit der Frühindustrialisierung (16. bis 19. Jahrhundert) angelegt wurden.
=== Erhebungen ===
Die höchste einzelne Erhebung stellt mit 282,8 Metern der zentral gelegene Burggrafenberg dar. Der Name ist eine etymologische Weiterentwicklung des früheren Namens Burggrabenberg bzw. Burggrawenberg. Weitere Erhebungen sind der Kiesberg im Norden, der Nesselberg im Osten, der Jacobsberg im Süden und der Flockertsberg im Westen.
=== Klima ===
Das vorherrschende Klima ist wärmegetönt und regenreich. Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt 8,5 bis 9 °C, die Jahresdurchschnittsniederschlagsmenge zwischen 1100 und 1200 Millimeter mit Niederschlagsmaxima im Juli/August und im Dezember/Januar. Die Winter sind mild bei durchschnittlichen Januartemperaturen um +1,3 °C. Die Vegetationszeit, in der das Temperaturmittel bei 14,5 bis 15 °C liegt, dauert 155 bis 160 Tage im Jahr. Die vorherrschende Windrichtung ist Südwest und West. Im Winter können Orkanwindstärken erreicht werden.
=== Verkehrsanbindung ===
Die Landesstraße 74 folgt dem Lauf der Wupper im Tal und stellt neben dem Fluss die zweite große Trennlinie im Waldgebiet dar. Für die Allgemeinheit befahrbare öffentliche Straßen sind nicht vorhanden.
Das Waldgebiet ist durch die umliegenden Stadtteile und -bezirke an den ÖPNV angeschlossen. Für Besucher, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen und das Kerngebiet Rutenbeck/Burgholz erreichen wollen, empfiehlt sich ab Wuppertal Hbf die Buslinie 613 (Ausstieg Harzstraße). Schneller ans Ziel, aber mit Umsteigen verbunden, führen die Linien CE64 (Richtung Solingen) und CE65 (Richtung Sudberg), Umsteigen jeweils an der Haltestelle Hahnerberg in die Linie 633, die Ausstiegshaltestelle ist Am Burgholz. Das südliche Waldgebiet ist mit der Linie CE64 zu erreichen (mögliche Ausstiegshaltestellen sind Wahlert oder Kohlfurther Brücke). Das Gebiet des Klosterbusches kann vom Bahnhof Wuppertal-Vohwinkel aus mit den Linien 621 und 631 erreicht werden, Ausstieg an der Endhaltestelle Dasnöckel Mitte.
Die Burgholzbahn durch den Wald von Elberfeld nach Cronenberg, im Volksmund Samba-Express genannt, ist seit 1988 stillgelegt und abgebaut. Der ehemalige Bahnhof Burgholz beherbergt heute eine bei Wanderern beliebte Gastronomie. Am 27. Oktober 2006 wurde mit Mitteln der Regionale 2006 ein Rad- und Wanderweg auf der so genannten Sambatrasse eröffnet, der ungefähr vom Wuppertaler Zoo bis zum Bahnhof Küllenhahn in Wuppertal-Cronenberg reicht. Seit 2007 ist die Sambatrasse als (Rad)Wanderweg bis zum damaligen Endhaltepunkt Wuppertal-Cronenberg Bhf nutzbar.
Unter dem Forst befindet sich der 2006 eröffnete und ca. 1800 Meter lange Burgholztunnel, durch den die L 418 verläuft. Sie verbindet das Sonnborner Kreuz mit den Wuppertaler Südhöhen. Ursprünglich sollte diese Schnellstraßenverbindung aus Kostengründen oberirdisch ausgeführt werden; aus Gründen des Umweltschutzes wurde aber die aufwendige Tunnelvariante gewählt.
== Geschichte ==
=== Mittelalter ===
Das Waldgebiet Burgholz besitzt eine weitgehend regionaltypische Entwicklungsgeschichte. Bis zum 8. Jahrhundert kaum erschlossen, wurde mit Gründung der Grafschaft Berg infolge von Ansiedelungen und Rodungen die Waldfläche immer stärker zurückgedrängt. Ausgangs des Mittelalters nahm der Raubbau immer größere Ausmaße an. Neben dem wachsenden Verbrauch von Holz als Bau- und Brennmaterial wurden vor allen Weideflächen für die Viehwirtschaft dem Wald abgerungen. Der Wald verbuschte in großen Teilen, man sprach daher als Landschaftsform von dem Bergischen Busch.
Das Kernrevier des Burgholz gehörte den Grafen von Berg, deren Hauptsitz und Burganlage Schloss Burg nicht weit entfernt lag. Der Name des Waldgebiets, sowie Ortsbezeichnungen wie Burggrafenberg (früher Burggrabenberg) weisen laut anderen Quellen aber ebenso auf einen Besitz der ehemaligen Burg Elberfeld sowie auf eine alte Ringwallanlage am Burggrafenberg hin, von der nur noch der Burggraben als Bodendenkmal erhalten ist.
=== Beginn der Forstwirtschaft ===
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es erstmals eine geregelte Forstwirtschaft, die dieser Entwicklung entgegentrat. Als Nutzgehölze wurden in den folgenden Jahren bevorzugt Fichten und Kiefern angepflanzt, auch da sie als anspruchslosere Baumarten als einzige noch siedlungsfähig waren. Forstwissenschaftliche Erkenntnisse über die Vorteile einer Mischbepflanzung waren zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht bekannt.
Der wachsende Bedarf an Bau- und Brennholz führte schnell zur Mittelwaldwirtschaft, die aber aufgrund des Aufkommens der Steinkohle als Brennstoff bis 1840 wieder aufgegeben wurde. Ab 1820 begann allmählich der Übergang zur Hochwaldwirtschaft und es wurden nun bevorzugt Europäische Lärche und Waldkiefer, aber auch Laubbäume angepflanzt.
Um 1860 wurde ein Nadelwald-Laubwald-Verhältnis von 1:2 erreicht, wobei geschlagene Rotbuchenflächen sukzessive durch Eichenanpflanzungen ersetzt wurden. Der Anteil der Fichten war 20 %. Die erste Anpflanzung von Gehölzen anderer Kontinente begann um 1900 mit der Ansiedelung von Weymouthskiefer (Pinus strobus), Amerikanischer Roteiche (Quercus rubra), Douglasie (Pseudotsuga menziesii) und Japanischer Lärche (Larix kaempferi). Gleichzeitig nahm der Fichtenanteil wegen Rauchschäden, einer frühen Form der Waldschädigung durch Schadstoffemissionen, ab.
=== Kriegs- und Nachkriegsjahre ===
Die nächste große Zäsur ergab sich in den Kriegs- und Nachkriegsjahren des Zweiten Weltkriegs. Der Mangel an Brennstoffen führte wieder zu einer übermäßig starken Abholzung, besonders der Wuppertaler Wälder. Neuanpflanzungen erfolgten mit schnellwüchsigen und schadstoffresistenten Baumarten. Auch sollten rasch belebende Elemente für die Bevölkerung der nahen Großstädte geschaffen werden. Dieses Geschehen nahm der damalige Revierförster Heinrich Hogrebe zum Anlass, über Erhöhung der Baumartenquantität zum Zweck der effizienteren Bewirtschaftung nachzudenken. Auf Hogrebes Anregung hin wurde schon 1958 begonnen, regionaluntypische Baumarten anzupflanzen.
Anfang der 1970er-Jahre wurde der Forstbetriebsbezirk Burgholz von der Landesforstverwaltung NRW zum Versuchsrevier für den Anbau und die Erprobung verschiedener Baumarten bestimmt. Von vornherein sollte eine ökologische Verzahnung der Fremdhölzer mit heimischen Arten stattfinden. Dieses wurde durch das Anpflanzen innerhalb von Grundbeständen heimatlicher Gehölze erreicht. Ab 1972 wurden auch drei großflächige geographische Gruppenpflanzungen durchgeführt, die Gehölze jeweils eines Kontinents zusammenfassten.
1974 wurde ein 120 Hektar großes Waldstück namens „Piedboef“ westlich der Wupper auf Solinger Stadtgebiet angekauft und dem Staatsforst Burgholz zugeordnet. Dieses Waldstück wurde schon 1975 in die Anbauplanung der fremdländischen Baumarten einbezogen.
Heute ist das Arboretum im Staatsforst Burgholz das größte anerkannte deutsche Versuchsrevier zum Anbau von Gehölzen aus Fremdländern.
Anfang der 1990er Jahre machten die Schadstoffemissionen in Verbindung mit anderen Faktoren auch dem Staatsforst Burgholz zu schaffen. Buchen waren bis zu 40 %, Eichen bis zu 70 % von dem Phänomen des Waldsterbens betroffen. Eine leichte Erholung ist seitdem festzustellen, auch wenn diese nur sehr gering ausfällt.
== Geologie und Bodenkunde ==
=== Entstehung ===
Geologisch zählt das Burgholz zum Remscheider Sattel (auch als Remscheid-Altenaer Sattel bezeichnet) im Rheinischen Schiefergebirge. Als Gestein findet sich Lagunen- und Schelf-Meeressediment eines Flachmeeres aus dem Unter- und Mitteldevon, das vor 300 bis 400 Mio. Jahren gebildet wurde. Die vorgefundenen Schichten beginnen in der höheren Eifel-Stufe und reichen bis in die Givet-Stufe hinein. Das durchschnittliche Alter liegt bei 380 Mio. Jahren, gleichwohl die Fazies über einen längeren Zeitraum betrachtet werden muss und kein fixer Zeitpunkt der Entstehung genannt werden kann.
=== Gesteinsschichten ===
Im Gegensatz zu der im Gebiet Wuppertals üblichen Vielfalt an Gesteinsschichten sind die des Burgholzes weitestgehend homogen. Der Schichtenaufbau ist vom Typ Brandenbergschicht (selbstständige Abfolge des Lenne-Schiefers), eine Schichtfolge des Rheinischen Schiefergebirges, die erstmals beim Brandenberg südlich von Iserlohn-Letmathe erforscht wurde.
Die Mächtigkeit der Brandenbergschicht liegt bei 750 m. Die Schichtenfolge besteht überwiegend aus einer kalkfreien Abfolge von grauen und rötlichen Schiefern, durchsetzt mit Grauwackebänken. (Grauwacke ist eigentlich geologisch inkorrekt, da es sich um Sandstein handelt. Die traditionell amtliche Bezeichnung lautet dennoch Grauwacke.) Im nördlichen Zipfel des Burgholzes geht die Brandenbergschicht in die Untere Honselschicht über. Die Gesteinsfolgen der umgebenden Region unterscheiden sich deutlich von der des Burgholzes.
=== Fossilien ===
Obwohl in der Brandenbergschicht relativ wenige Fossilien vorhanden sind, finden Paläontologen durchaus auch fossile Reste der ursprünglichsten Sprosspflanzen (Asteroxylon elberfeldense, Hicklingia erecta, Calamophyton primaevum, Hyenia elegans, Aneurophyton germanicum, Protopteridium thomsonii und Duisbergia mirabilis), manchmal auch Muscheln (oft Archanodon rhenanus, Myophoria oblonga und Modiomorpha waldschmidti) und Armfüßer (Spiriferen und Rhynochelliden). Auf Interesse stieß auch eine Panzerfisch-Platte (Placodermi).
=== Bodenbildung ===
Aus den devonischen Verwitterungsprodukten und überlagerten Fließerden aus dem Diluvium sind überwiegend einheitliche, nährstoffarme bis mäßig nährstoffarme Braunerden mit unterschiedlichem Stein- und Grusgehalt entstanden. Die Böden sind meist mittel- bis tiefgründig mit guter Wasserversorgung.
=== Wupperablagerungen ===
Die jüngeren Ablagerungen erfolgten in Form von Wupper-Terrassen während der Kaltzeiten vor 400.000 und 15.000 Jahren. Der Fluss führte während der Tauperioden stark erhöhtes Wasser und lagerte dadurch Schotterkörper an den Hängen des Wuppertals ab. Die älteren Terrassen finden sich bis zu 45 m oberhalb des Flusspegels, die jüngeren kaum höher als das heutige Flussniveau.
== Ökologie ==
=== Flora ===
==== Einheimische Population ====
Die einheimische Waldlandschaft umfasst nur knapp 30 Baumarten, von denen nur fünf in einer nennenswerten Anzahl zu verzeichnen sind. Es überwiegt seit dem ausgehenden Mittelalter ein Hainsimsen-Buchenwald (Fagus), ergänzt in der Oberschicht von Eichen (Quercus), sowie geringen Anteilen von Birken (Betula), Fichten (Picea) und Europäischer Lärche (Larix decidua). Die Mittelschicht wird zumeist von Buchen gebildet.
In der Unterschicht finden sich häufig die Europäische Stechpalme (Ilex aquifolium), sowie Eberesche (Sorbus aucuparia), Buchen, Fichten, Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus L.) und Birken.
Die Begleitflora umfasst neben der Stechpalme weitgehend auch Brombeeren (Rubus fruticosus agg.), Sauerklee (Oxalis), Knoten-Braunwurz (Scrophulariaceae), Brennnessel (Urtica) Mauerlattich (Mycelis muralis), Springkraut (Impatiens) und verschiedene Farne (Filicinophyta).
Als weitere Waldlandschaften und Biotope finden sich Rotbuchenhochwälder, Birken-Hainbuchenwälder sowie Feucht- und Sumpfgebiete und freie Heideflächen.
==== Die Naturwaldzellen Steinsieperhöh und Meersiepenkopf ====
Im Rahmen des bundesweiten Naturwaldzellenprogramms wurden zwei Bereiche des Staatsforstes Burgholz als Naturwaldzellen ausgewiesen. In diesen Naturwaldzellen mit einer Kernfläche von 12,9 (Meersiepenkopf) bzw. 5,3 Hektar (Steinsieperhöh) sollen sich regionale Waldlandschaften ohne jeglichen Eingriff des Menschen natürlich entwickeln. Teile der Naturwaldzellen sind vor Wildverbiss durch Umzäunung geschützt. Man erhofft sich davon forstwissenschaftliche Erkenntnisse über die natürliche Regeneration des Waldes und naturnahe forstwirtschaftliche Anbauverfahren.
Die Naturwaldzellen befinden sich zum einen im Quellgebiet des Steinsiepen, eines Nebenbachs des Burgholzbachs, und im Oberlauf des Bachs Großer Meersiepen, eines Nebenbachs der Wupper. Sie besitzen jeweils einen regionaltypischen Bestand eines Hainsimsen-Buchenwaldes mit einigen Traubeneichen und Unterwuchs aus Stechpalme. Das Alter der Bäume wird mit 155 bis 185 Jahre (2013) angegeben. Diese Flächen unterliegen seit 1972 nicht mehr der Bewirtschaftung und entwickeln sich demnach durch die natürliche Sukzession zu einem „neuen Urwald“. Die Flächen sind in 20 × 20 m große Quadrate aufgeteilt, in denen alle zehn Jahre Art, Durchmesser, Vitalität und soziologische Stellung der Bäume untersucht werden.
=== Fauna ===
==== Säugetiere ====
Die höheren Tierarten umfassen das regional übliche Spektrum an Rot-, Reh- und Schwarzwild, Füchsen und kleinen Säugern (Hasen, Dachse, Marder etc.). Aufgrund des Schwerpunktes auf dendrologischen Forschungen werden die Bestände des Schalenwilds kleingehalten, um den Wildverbiss zu begrenzen. Dementsprechend sind die Populationen in den herkömmlich bewirtschafteten Waldteilen etwas stärker.
==== Entomofauna ====
In den herkömmlich bewirtschafteten Waldteilen finden sich laut einer Zählung der zoologischen Abteilung des Wuppertaler Fuhlrott-Museums je nach Baumbestand zwischen 81 und 96 Käferarten. In Mischgebieten von einheimischen und fremdländischen Baumarten ist sogar eine vermehrte Anzahl von 112 Arten gezählt worden. Den als Waldschädlingen geltenden Arten wie Borkenkäfer und Rüsselkäfer steht eine ausbalancierte Anzahl an natürlichen Feinden wie Rindenkäfer und Wurzelkäfer gegenüber. Milbenarten stellen mit 100.000 Individuen pro Quadratmeter Bodenfläche die häufigsten Organismen. Die Mischbepflanzungen sowie die natürliche Waldwirtschaft haben einen messbar positiven Einfluss auf den Artenreichtum und dessen Zusammensetzung.
Insgesamt 423 Großschmetterlingsarten sind im Burgholz bestimmt worden, darunter bedrohte und seltene Arten wie Pestwurzeule (Hydraecia petasitis) und Wegerichbär (Parasemia plantaginis).
Häufige Arten sind Sackträger (Psychidae), Schneespanner (Apocheima pilosaria), Großer Frostspanner (Erannis defoliaria), Großes Jungfernkind (Archiearis parthenias), Kleiner Fuchs (Aglais urticae), Tagpfauenauge (Inachis io), Zitronenfalter (Gonepteryx rhamni), Rundflügel-Kätzcheneule (Orthosia cerasi), Nagelfleck (Aglia tau), Großer und Kleiner Kohlweißling (Pieris brassicae, Pieris rapae), Aurorafalter (Anthocharis cardamines), Faulbaum-Bläuling (Celastrina argiolus), Schwalbenschwanz (Papilio machaon), Rostfarbiger Dickkopffalter (Ochlodes sylvanus), Mädesüß-Perlmuttfalter (Brenthis ino).
==== Avifauna ====
Auch die Vogelwelt setzt sich aus regionaltypischen Arten zusammen. Je nach Jahreszeit lassen sich unterschiedliche Arten gut beobachten.
In den Wintermonaten sind es: Amsel, Blaumeise, Bergfink, Buchfink, Buntspecht, Dompfaff, Eichelhäher, Erlenzeisig, Gartenbaumläufer, Grünfink, Haubenmeise, Kernbeißer, Kleiber, Kohlmeise, Rotdrossel, Schwarzspecht, Tannenmeise, Wasseramsel und Wintergoldhähnchen. Habicht und Mäusebussard stellen die Prädatoren.
Im Frühjahr treffen nach und nach die Zugvögel ein. Neben den Arten, die sich hier niederlassen, nutzen viele weiter nördlich brütende Zugvogelarten das Burgholz als Rastplatz. Zu beobachten sind: Bachstelze, Feldschwirl, Fitis, Gartengrasmücke, Gartenrotschwanz, Gebirgsstelze, Grauschnäpper, Haussperling, Kuckuck, Mönchsgrasmücke, Mauersegler, Mehlschwalbe, Nachtigall, Pirol, Rauchschwalbe, Ringeltaube, Rotkehlchen, Singdrossel, Star, Teichrohrsänger, Trauerschnäpper, Wacholderdrossel, Waldkauz, Waldohreule, Zaunkönig und Zilpzalp.
Im Sommer ist bei einigen Arten schon die Zweitbrut flügge. Es dominieren nun die Hochsommersänger wie Mönchsgrasmücke, Ringeltaube und Bluthänfling. Mäusebussarde und Turmfalken kreisen über dem Wald. Ab August ziehen die ersten Zugvögel ab. An der Wupper fischt der Graureiher.
Im Herbst wird das Burgholz wieder Station für die südwärts ziehenden Zugvögel. Feldlerche, Wiesenpieper, Rauchschwalbe und Kranich werden oft beobachtet. Fichtenkreuzschnäbel ernähren sich von Fichtenzapfensamen.
== Das Naturschutzgebiet Burgholz ==
1992 wurden erstmals kleinere Bereiche um die Naturwaldzellen unter Naturschutz gestellt. Diese nur wenige Hektar großen Schutzgebiete erfuhren 2005 eine starke Erweiterung auf eine Fläche von mehr als 600 Hektar, so dass heute der größte Teil des Burgholzes als zweitgrößtes Naturschutzgebiet des Bergischen Landes ausgewiesen ist.Die Unterschutzstellung hat das Ziel, natürliche bergische Waldgesellschaften wie Hainsimsen-Buchenwald (Luzulo luzuloides-Fagetum), Bach-Eschen-Wald (Carici remotae-Fraxinetum), Bachbegleitender Erlenwald (Stellario nemorum-alnetum glutinosae), Eichen-Birkenwald auf flachgründigen Felsstandorten (Betulo-Quercetum) zu erhalten. Neben Waldlandschaften stehen weitere Biotoptypen wie Quellen, naturnahe Bachläufe, bachbegleitende Feuchtwiesen, Feuchtbrachen, Hochstaudenfluren, Pestwurzfluren und Stillgewässer unter Schutz.
Weitere Schutzziele sind:
die Erhaltung und Förderung der Waldlebensgemeinschaften mit den für die natürlichen Laubwaldgesellschaften typischen Artenspektren in unterschiedlichen Bestandsaltern und standörtlichen Variationen sowie der Lebensstätten von seltenen, gefährdeten sowie landschaftsraumtypischen Tier- und Pflanzenarten in großen zusammenhängenden Waldökosystemen.
die Erhaltung der charakteristischen waldgebundenen Säugetier-, Vogel-, Reptilien-, Amphibien- und Wirbellosenfauna der Bergischen Waldflächen
die Erhaltung der naturnahen Quellsiepen und BachtälerDaneben ist das Gebiet aus landeskundlichen, naturgeschichtlichen und erdgeschichtlichen Gründen sowie aus wissenschaftlichen Aspekten der Forstentwicklung und Waldökologie geschützt. Der Schutz erfolgt nicht zuletzt auch wegen der seltenen besonderen Eigenart und der hervorragenden Schönheit des Gebietes, der landschaftsgebundenen Naherholung und seiner Funktion als Naturerlebnis- und Bildungsraum.
== Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten ==
Der Staatsforst Burgholz diente seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend der Erholung der Bürger der Städte Gräfrath, Cronenberg und der damaligen Großstädte Elberfeld und Barmen (1929 zur Großstadt Wuppertal vereinigt).
=== Der nördliche Erholungswald ===
Der Norden des Staatsforstes Burgholz hat im Gegensatz zu den südlich gelegenen Teilen mehr den Charakter einer bewaldeten Parkanlage und wurde Anfang des 20. Jahrhunderts auch offiziell als städtische Anlage geführt. Zahlreiche Gedenksteine und die namentliche Ausweisung einer Vielzahl von Waldwegen belegen die Funktion als Erholungsgebiet. 1872 entstand auf der Königshöhe ein Ausflugslokal. Hierdurch wurde das ehemalige Armenviertel „Am Elend“ mehr und mehr zum Naherholungsort. 1892 wurde nahe der Spitze des Kiesbergs mit dem Von-der-Heydt-Turm ein Aussichtsturm eröffnet. Nicht nur vom Aussichtsturm kann man sich eines Panoramablicks auf Elberfeld erfreuen, auch zahlreiche Waldschneisen bieten schöne Aussichten auf Elberfeld, Rutenbeck, Buchenhofen, Sonnborn und Vohwinkel. Zu schätzen wissen das insbesondere die Kleingärtner der nahe der Königshöhe in Hanglage gelegenen Kleingartenanlagen „In der Hoffnung“ und „In der Heiterkeit“.
Ein Ehrenfriedhof für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Elberfelder Bürger komplettiert den parkähnlichen Charakter des Waldes. Ausgangspunkt für Spaziergänge in der Parkanlage war oftmals der Haltepunkt Boltenberg an der Burgholzbahn, die diesen Teil des Burgholzes in einer topografisch bedingten großen Schleife fast vollständig umrundete.
Der 1970 eingeweihte Kiesbergtunnel, ein doppelstöckiger Straßentunnel, unterquert mit einer Länge von knapp 1000 m den Erholungswald und verbindet das Elberfelder Stadtzentrum über die Landesstraßen L70 und L418 mit der Autobahn A46 am Sonnborner Kreuz.
==== Angrenzende Wohnquartiere ====
Im Norden des Waldes reichten die Elberfelder Armenviertel, die sich schnell den Namen „Elendstal“ oder „Am Elend“ erwarben, bis an den Von der Heydt'schen Privatwald und die städtischen Grünanlagen auf der oberhalb gelegenen Königshöhe heran. Hier standen nur Lehm- und Bretterhütten armer Bewohner. Johanna Faust begann 1868 die Gegend zu missionieren und erreichte, dass eine Kapelle errichtet werden konnte.
Im Kontrast dazu stand das bürgerliche Villenviertel am Zoologischen Garten, das ebenfalls an das Waldgebiet grenzt. Das Zooviertel entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Gelände „Am Kothen“. Ursprünglich beherbergte die Gegend am Westhang des Kiesberges nur einige Gehöfte und war im Besitz weniger Wuppertaler Familien. 1879 wurde die Aktiengesellschaft Zoologischer Garten gegründet. Sie erwarb den Südteil des Gebiets, auf dem 1881 der Wuppertaler Zoo eingeweiht wurde. Die Bahnstation Zoologischer Garten an der Strecke der Bergisch-Märkischen Eisenbahn-Gesellschaft wurde angelegt und von ihr eine erste Straßenverbindung zum Zoo gebaut.
Nördlich des Zoos wurde durch die Firma Herrmanns & Riemann ein gehobenes Stadtviertel geplant. In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden allmählich Straßen und erste Villen angelegt. Das Zooviertel ist heute noch ein gehobenes Wohngebiet, zahlreiche der Villen stehen unter Denkmalschutz. 1924 entstand am Wupperufer westlich des Zoos das heute denkmalgeschützte Stadion am Zoo.
Das Wohnviertel Boltenberg, südlich von Sonnborn am Hang gelegen, ist ebenfalls ein gehobenes Wohnviertel. Am westlichen Ende der städtischen Anlagen gelegen, bot es durch seinen Bahnhaltepunkt einen günstigen Ausgangspunkt für Spaziergänge im Wald oder auch im nahgelegenen Zoo. Das Kurhaus Waldesruh mit Blick auf den Wald über das Tal der Wupper bot sich für die weniger Aktiven an.
=== Das Kerngebiet des Staatsforstes Burgholz ===
Das Kerngebiet des Staatsforstes Burgholz umfasst den Bereich nördlich und südlich des Burgholzbachs, dessen Tal auch Nöllenhammertal genannt wird. Von dem nördlichen Erholungswald wird es durch den Rutenbecker Bach getrennt, dessen Bachtal durch den dortigen Verlauf der autobahnähnlich ausgebauten Landesstraße L418 stark an Attraktivität verloren hat. Im Westen begrenzen der Lauf der Wupper und die Landesstraße L74 das Gebiet, auf deren gegenüberliegender Seite sich der Teil des Burgholzes anschließt, der Klosterbusch genannt wird.
Die Trasse der Burgholzbahn zieht sich durch den östlichen Teil des Forstes. Im Untergrund unterhalb der Trasse der Burgholzbahn wurde Ende 2005 der 1.800 m lange Burgholztunnel fertig gestellt, der den Lückenschluss zwischen zwei schon bestehenden Abschnitten der Landesstraße L418 bildete.
==== Der Burgholzbach und seine Sehenswürdigkeiten ====
Der Burgholzbach prägt mit seinem tiefen Tal das Kerngebiet des Burgholzes. Er entspringt in 284 m ü. NN nahe dem Freibad Neuenhof im Cronenberger Ortsteil Küllenhahn, fließt in westlicher Richtung und mündet nach 3,335 km auf 120 m ü. NN in der Wupper. Das Freibad wird von der nahe gelegenen Wuppertaler Müllverbrennungsanlage mit Wärme versorgt, so dass es ganzjährig genutzt werden kann. Bis zur Stilllegung der Burgholzbahn war das am Waldrand gelegene Schwimmbad über den Haltepunkt Neuenhof verkehrsgünstig angebunden.
Das Bachtal bildet laut dem Handbuch der naturräumlichen Gliederung Deutschlands eine eigene Naturräumliche Einheit mit der Nummer 338.051 (Burgholzberge) und gehört als Teil der Naturräumlichen Einheit 338.05 (Lichtscheider Höhenrücken) zu dem übergeordneten Naturraum 338 (Bergische Hochflächen).Auf dem Gelände der am Waldrand gelegenen Müllverbrennungsanlage befindet sich ein Steinbruch, der sich nach Aufgabe der Bewirtschaftung mit Grundwasser füllte und in der lokalen Bevölkerung „Silbersee“ genannt wurde. Andere Teile des für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Steinbruchs werden mit den Verbrennungsrückständen der Müllverbrennungsanlage aufgefüllt. Die einzige Wuppertaler Großwindkraftanlage hat hier ebenfalls ihren Standort.
===== Frühe Nutzung der Wasserkraft =====
Am Burgholzbach befinden sich Stauteiche, die Wasser für den Antrieb von Hammerwerken und Schleifkotten (siehe auch Kotten) aus der Zeit der Frühindustrialisierung bereithielten. Bis 2009 noch erhalten war der Nöllenhammer, bei dem sich auch das Cronenberger Wasserwerk, bestehend aus fünf Brunnen und einem Pumpwerk, befand. Von dem 1607 gegründeten Kremershammer kurz vor der Mündung des Burgholzbachs in die Wupper sind nur noch die Grundmauern erhalten. Vom Bremershammer, dem Plätzershammer, dem Evertshammer und dem Nöllenkotten sind dagegen kaum noch Spuren zu finden. Ein linksseitiger Nebenbach des Burgholzbachs speist ein Waldschwimmbad in Cronenberg.
===== Die Ringwallanlage am Burggrafenberg =====
Am nördlichen Hang des Burgholzbachtals finden sich die Reste einer Ringwallanlage, deren Bezeichnung Burggraben für den Namen des Berges Burggrafenberg (282,8 m) Pate stand, an dessen Flanke sie sich befindet. Über die Historie der als Bodendenkmal eingetragenen Anlage ist wenig bekannt. Sie soll der Stammsitz eines „Ritters von Kronenburg“ gewesen sein. Die Anlage war vermutlich schon um 1715 vollkommen niedergelegt, da sie selbst im detaillierten regionalen Kartenwerk Topographia Ducatus Montani (Topographie des Herzogtums Berg) von Erich Philipp Ploennies nicht eingezeichnet ist.
==== Der Glasbach und seine Sehenswürdigkeiten ====
Das dem Burgholzbach benachbarte nördliche Bachtal wird vom Glasbach durchflossen. Er entspringt bei 251 m ü. NN zwischen dem Zimmerplatz und der im Wald gelegenen Bildungsstätte des Paritätischen Bildungswerks, die bis in die 1960er Jahre dem Müttergenesungswerk des Deutschen Roten Kreuzes diente. Der Glasbach fließt westlich durch das Arboretum Burgholz mit dem Schwerpunkt auf europäischen und kleinasiatischen Gehölzen und mündet nach knapp einem Kilometer auf 136 m ü. NN gegenüber den kommunalen Klärwerk Buchenhofen in die Wupper.
Vom Burgholzbach trennt ihn ein 282 m ü. NN hoher Höhenzug mit dem Burggrafenberg als höchster Erhebung. Auf diesem Höhenzug liegt neben dem abgeschiedenen und mittlerweile aufgelassenen Schießstand auch die Naturwaldzelle Steinsieperhöh. In unmittelbarer Nähe des Schießstandes, in der heutigen Naturwaldzelle „Steinsieperhöh“ wurden in der Zeit des Dritten Reiches, etwa Ende Februar/Anfang März 1945 30 osteuropäische Zwangsarbeiter (6 Frauen und 24 Männer) von der lokalen Gestapo hingerichtet und in einem Massengrab verscharrt. Eine Gedenktafel erinnert an das Verbrechen. Die Leichen der Opfer wurden im September 1945 exhumiert und auf dem Schorfer Friedhof im angeordneten Beisein der Bevölkerung beigesetzt. Der Zugang zu dem Arboretum liegt am Zimmerplatz, einem Kreuzungspunkt mehrerer Hauptwege im Forst, der neben Sitzgelegenheiten und einer Schutzhütte auch Informationstafeln beherbergt. Eine Vielzahl von Beschreibungstafeln erläutern im Arboretum Namen, Herkunft und Besonderheiten der Baumarten.
==== Der Rutenbecker Bach und seine Sehenswürdigkeiten ====
Ein weiterer Höhenzug trennt den Glasbach vom Rutenbecker Bach. Dieser Höhenzug geht nach Osten im Cronenberger Stadtteil Küllenhahn in die Wuppertaler Südhöhen über. Am Waldrand befinden sich der ehemalige Haltepunkt Bahnhof Burgholz der Burgholzbahn und die alte Fachwerkhofschaft Obere Rutenbeck. In der Nähe des Haltepunktes befindet sich als Naturdenkmal die Kaisereiche, die 1871 zur Erinnerung an die Gründung des Deutschen Reiches von Schülern eines Elberfelder Gymnasiums gepflanzt wurde.
Mitten im Wald auf dem Höhenzug liegen die Gebäude eines ehemaligen städtischen Kinderheims „Zur Kaisereiche“, welches früher eine Waldschule beherbergte. Das Kinderheim wurde 2008 geschlossen; in den Gebäuden will die Caritas ein stationäres Kinderhospiz einrichten, das 2010 eröffnet werden soll. Am zur Wupper abfallenden Westhang befindet sich die Naturwaldzelle Meersieperkopf.
Das Bachtal des Rutenbecker Bachs wird von der autobahnähnlich ausgebauten Landesstraße L418 dominiert, die von der ursprünglichen Naturbelassenheit wenig übriggelassen hat. Der Bach wurde für die Portale des Kiesbergtunnels und des Burgholztunnels abschnittsweise in ein neues, künstliches Bett verlegt. Der Bach selbst entspringt auf 281 m ü. NN bei der Fachwerkhofschaft Obere Rutenbeck im Cronenberger Stadtteil Küllenhahn und mündet nach 2,25 km bei der Jugendfarm Rutenbeck, einer erlebnispädagogischen Einrichtung der Stadt Wuppertal, auf 132 m ü. NN im gleichnamigen Stadtteil in die Wupper.
==== Entlang der Wupper ====
Auch das Tal der Wupper besitzt trotz der heute dominierenden, zweispurig ausgebauten Landesstraße L74 Sehenswürdigkeiten und historische Wüstungen.
Im Norden weitet sich das Tal und bietet in einer ausholenden Wupperschleife Raum für die kommunale Kläranlage Buchenhofen, die einen Großteil der Wuppertaler Abwässer reinigt. Schon im Jahre 1906 wurde an gleicher Stelle ein Klärwerk für die damals selbstständigen Großstädte Elberfeld und Barmen gegründet, das sich mit der Zeit, seit der Übernahme 1930 durch den Verband, zu einem der wichtigsten Klärwerke im Wupperverband entwickelte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es dann zum Großklärwerk Buchenhofen, es wurden unter anderem zahlreiche neue, mechanische Anlagen wie die Schlammverbrennungsanlage oder das Wasserkraftwerk errichtet. 2005 wurde der letzte Bauabschnitt fertiggestellt und rechtzeitig zum Jubiläum eröffnet.
An der Mündung des Burgholzbachs und des gegenüberliegenden Flockertsholzer Bachs befindet sich eine der wenigen Brücken im Burgholz über die Wupper. Sie wird in Anlehnung an den unweit befindlichen hohen und markanten Felsvorsprung „Teufelsklippe“ von der Bevölkerung als „Teufelsbrücke“ bezeichnet.
Die heutige Spannbetonbrücke ist in den 1970er Jahren im Rahmen des Ausbaus der Landesstraße errichtet worden, aber schon hundert Jahre zuvor gab es dort einen schmalen Steg desselben Namens. Er verband den östlichen Teil des Burgholzes mit dem Friedenstal, wo sich der seit 1715 belegte Dritte Kotten oder auch Burgholzkotten, ein Schleifkotten an der Wupper, befand.
Das einzige heute noch dort bestehende Wohngebäude war Anfang des 20. Jahrhunderts ein beliebtes Ausflugslokal. Weitere Schleifkotten an der Wupper im Burgholz waren der Lechmigskotten (um 1856 erbaut) und der Zweite Kotten (ab 1684 belegt).
=== Der Kaltenbach und seine Sehenswürdigkeiten ===
Eine weitere Schnittlinie im Burgholz bildet die Landesstraße L427, die auf einem zur Wupper abfallenden Höhenrücken das Cronenberger Zentrum über Wahlert mit der Siedlung Kohlfurt an einer ehemaligen Furt in der Wupper verbindet. Das sich dem Höhenzug südlich anschließende Tal wird durch den Kaltenbach gebildet, der auf 231 m ü. NN nahe dem Cronenberger Zentrum entspringt und nach 2,2 km auf 110 m ü. NN in die Wupper mündet. Auch dieser Bach besitzt zahlreiche Stauteiche und lieferte die Antriebsenergie für sechs Hammerwerke, Schleifkotten und Mühlen, unter anderem den Friedrichshammer, den Kaltenbacher Hammer und den Manuelskotten.
Oberhalb von Kohlfurth, das durch einen beliebten Motorradtreff auf der Solinger Seite einen überregionalen Bekanntheitsgrad besitzt, bietet seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Aussichtspavillon namens Adelenblick einen Blick über das Tal der Wupper auf Solingen.
==== Der Manuelskotten ====
Der Manuelskotten, auch Kaltenbacher Kotten genannt, ist der einzige noch funktionsfähige Schleifkotten auf Wuppertaler Stadtgebiet. Die restaurierte Anlage gehört seit 1993 der Stadt Wuppertal und dient als Industriemuseum, um das alte Schleiferhandwerk vorführen zu können. Gleichzeitig werden in der Anlage aber auch heute noch für ein Remscheider Werkzeugunternehmen Cuttermesser industriell gefertigt, so dass das gezeigte Handwerk keineswegs nur musealen Charakter besitzt.
==== Die Strecke der Bergischen Museumsbahnen ====
Ebenfalls im Kaltenbachtal verläuft die Trasse der Museumsstrecke des Bergischen Straßenbahnmuseums. Ein 3,2 km langer, durch den Wald verlaufender Abschnitt der ehemaligen Straßenbahnstrecke von Elberfeld nach Solingen wurde vom Museumsverein erworben und wird am Wochenende zwischen Cronenberg-Greuel und Cronenberg-Kohlfurth mit historischen Straßenbahnwagen befahren. Die umfangreiche Sammlung von Fahrzeugen bewahrt der Verein in seinen Hallen in Kohlfurth auf, wo die Straßenbahn einst auf einer inzwischen denkmalgeschützten Brücke die Wupper überquerte.
=== Türme im Staatsforst Burgholz ===
Im Staatsforst Burgholz oder in seiner unmittelbaren Umgebung befinden sich drei Türme, die sich in ihrer historischen und heutigen Nutzung grundlegend voneinander unterscheiden.
Auf dem Kiesberg im Norden des Burgholzes befindet sich auf 260 m Höhe ü. NN der 20 m hohe Von-der-Heydt-Turm, ein Aussichtsturm mit Blick auf Elberfeld. Der Turm wurde im Jahr 1892 aus Spendenmitteln des Wuppertaler Bankiers August Freiherr von der Heydt errichtet und nach dem Stifter benannt.
In nächster Nähe zur höchsten natürlichen Erhebung der Stadt Solingen steht der Gräfrather Lichtturm. Der heute mit einer Glaskuppel versehene Turmbau ist der 1904 erbaute ehemalige Wasserturm Gräfraths, der im Krieg stark beschädigt und 1983 stillgelegt wurde. Seit 1993 befindet sich der Turm im Privatbesitz des Lichtdesigners Johannes Dinnebier, der den Wasserbehälter durch die Glaskuppel ersetzte und darin ein Lichtlabor einrichtete. Von dem nicht öffentlich zugänglichen Turm hat man einen Panoramablick über das Tal der Wupper auf große Teile des Burgholzes. Im Cronenberger Stadtteil Küllenhahn befindet sich der Fernmelde- und Fernsehturm Rigi-Kulm. Seine Form, Höhe und der rot-weiße Anstrich der Antennen qualifizieren ihn als gut sichtbare Landmarke im ganzen Areal. Auf der Königshöhe befand sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein Aussichtsturm.
== Tourismus ==
=== Wanderwege ===
Durch den Staatsforst Burgholz verlaufen zahlreiche markierte Wanderwege. Abgesehen von den vier Arboretumswegen werden seit den 1930er-Jahren alle Wanderwege des Walds vom Sauerländischen Gebirgsverein (SGV) gezeichnet.
==== Arboretumswege ====
Die Forstverwaltung hat vier Wanderwege eingerichtet, die mit Schildern am Wegesrand die einzelnen Baumarten des Arboretums beschreiben. Näheres zu den Wegen: siehe Unterkapitel Themenwege im Kapitel Arboretum
==== Hauptwanderstrecken des SGV ====
Zwei Hauptwanderstrecken des Sauerländischen Gebirgsvereins durchqueren den Staatsforst Burgholz:
Die SGV-Hauptwanderstrecke X7 (153 km), Residenzenweg, von Arnsberg nach Düsseldorf-Gerresheim durchläuft den Wald in Ost-West-Richtung und passiert folgende Sehenswürdigkeiten:
Fernmeldeturm Rigi-Kulm, Königshöhe, Erholungswald bei Boltenberg, Naturwaldzelle Meersiepenkopf, Jugendfarm RutenbeckDie SGV-Hauptwanderstrecke X29 (133 km), Bergischer Weg, von Essen nach Uckerath (Siebengebirge) durchläuft den Wald in Nord-Süd-Richtung und passiert folgende Sehenswürdigkeiten:
Zoo Wuppertal, Königshöhe, Kaisereiche, Bahnhof Burgholz, Exotenwald, Nöllenhammer, Waldschwimmbad Cronenberg
==== Bezirkswege des SGV ====
Der Bezirkswanderweg 6 (SGV-Bezirk Bergisches Land, 125 km), Wupperweg genannt, durchquert das Kerngebiet des Burgholzes und folgt anschließend der Wupper. Er passiert folgende Sehenswürdigkeiten:
Fernmeldeturm Rigi-Kulm, Obere Rutenbeck, Kaisereiche, Naturwaldzelle Meersieperkopf, Exotenwald, Nöllenhammer, Kremershammer, Teufelsbrücke, Friedenstal, Kohlfurth
==== Ortswege des SGV ====
Die Ortsabteilungen Wuppertal und Solingen des SGV unterhalten Wanderwege auf lokaler Ebene.
Der Wuppertaler Rundweg (Wanderweg rund um Wuppertal, 106 km) und der Solinger Klingenpfad (Wanderweg rund um Solingen, 75 km) durchqueren ebenfalls den Wald. Der Klingenpfad bleibt dabei im Solinger Teil des Burgholzes, dem Klosterbusch, der Wuppertaler Rundweg durchläuft das gesamte Kerngebiet und den Klosterbusch.
Weitere Ortswanderwege sind:
Rundwanderwege vom Ausgangspunkt Kaisereiche
Wolfgang-Kolbe-Weg
Rundwanderwege vom Ausgangspunkt Gräfrather Lichturm
Kleingartenweg
Zugangswege zum Wuppertaler Rundweg
Zielwanderwege
== Arboretum Burgholz ==
=== Geschichte des Fremdanbaus ===
Das Arboretum Burgholz steht in einer langen Tradition der Anpflanzung nichtheimischer Baumarten im Waldgebiet Burgholz. Schon ab 1820 wurden regionalfremde Gehölze wie die Europäische Lärche (Larix decidua) und die Waldkiefer (Pinus sylvestris) angebaut. Das geschah aber nicht aus Gründen der Wissenschaft, sondern diente der raschen Gewinnung von Holzerträgen.
Um 1900 herum wurden erstmals gezielt Xenophyten aus anderen Kontinenten angepflanzt. Zu nennen wäre die Douglasie (Pseudotsuga menziesii) und die Weymouthskiefer (Pinus strobus) aus Amerika, die Japanlärche (Larix kaempferi) aus Ostasien und die Roteiche (Quercus rubra) aus dem östlichen Nordamerika. Grund für die Ansiedlungen waren der schlechte Wuchs der Fichtenbestände und die sich schwertuende Verjüngung der Buchenbestände.
Unter dem Eindruck des Raubbaus als Folge der Kriegs- und Nachkriegszeit begann um 1955 unter dem Revierförster Forstamtmann Heinrich Hogrebe, seit 1988 Ehrenmitglied der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft, der gezielte Anbau fremdländischer Nadelgehölze. Die Anbauflächen wuchsen rasch, so dass das Burgholz bald zu einem anerkannten Schwerpunkt des Fremdländer-Anbaus in Nordrhein-Westfalen wurde.
Hogrebe experimentierte mit tatkräftiger Unterstützung eines im Fremdländeranbau qualifizierten Mitarbeiters – trotz Widerständen auf Ebene seiner unmittelbaren Vorgesetzten und der Kritik aus dem Kollegenkreis – immer mehr mit fremdländischen Baumarten, deren Setz- und Sämlinge mühsam beschafft werden mussten und später im forsteigenen Gewächshaus nachgezüchtet wurden. Anfänglich als Misserfolg gedeutete Anbauversuche wurden von Hogrebe aufgrund seiner damals unzureichenden Erfahrung zum Teil heimlich durch Nachpflanzungen nachgebessert, obwohl sich im Laufe der Zeit herausstellte, dass sich auch diese Flächen mehrheitlich gut von alleine entwickelten.
Da die heimische Population nur 30 Arten umfasste, der Wald als Nutzwald nicht ertragsstark genug und auch als Erholungswald nicht optimal aufgestellt war, fiel schließlich 1970 nach anfänglichen Widerständen auf unteren Ebenen der Forstverwaltung im Landesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten die Entscheidung, Versuche mit nordamerikanischen Gehölzen zu beginnen. Ausgewählt wurden Arten, die einen gleich großen oder höheren Ertrag im Vergleich zu heimischen Bäumen versprachen.
Auf Vorschlag des Landesforstmeisters Gottfried Pöppinghaus von der Höheren Forstbehörde Rheinland, des Ministerialrats Fritz Rost (Waldbaureferent des Landesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten) und des Oberforstmeisters Genßler sollte die Keimzelle eines Bundesarboretums geschaffen werden. Der Rat der Stadt Wuppertal sprach eine entsprechende Empfehlung an die Landesregierung aus. Der Vorgang versandete allerdings zunächst in den Mühlen der Bürokratie. Im Jahr 1972 wurde ein neuer Anlauf genommen, der erfolgreicher war: Ein Beschluss des Landesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Schaffung eines großflächigen Fremdländeranbaus folgte.
Am 1. Mai 1973 übernahm der Forstamtmann Herbert Dautzenberg den Forstbetrieb. Unter seiner Leitung wurden die bestehenden Fremdländeranbaugebiete durchforstet und zahlreiche neue Anpflanzungen vorgenommen.
=== Forschungsschwerpunkte ===
Ab 1972 wurden im Staatsforst Burgholz auf mehr als 250 ha (25 % der Gesamtfläche) im forstwissenschaftlichen Rahmen nichtheimische Baumarten mit Schwerpunkt auf Umweltverträglichkeit angepflanzt. Ein weiterer Schwerpunkt lag in der dendrologischen Forschung mit Ausrichtung auf forstwirtschaftliche Aspekte.
Forschungsschwerpunkte waren:
die Anbaufähigkeit und die Anbauwürdigkeit verschiedener Baumarten
das Auffinden von ökologisch und ökonomisch überlegenen Baumarten
Erkenntnisse über das Wachstum von Bäumen aus fremden Klimazonen, die angesichts möglicher Klimaveränderungen zukünftig von großer Bedeutung sein könnten
Erhöhung der Vielfalt des Waldes und Verschönerung des Landschaftsbilds
Erkundung zusätzlicher Erntemöglichkeiten von Weihnachts-, Schmuck- und BrauchtumspflanzenAngebaut werden sowohl fremde Einzelarten innerhalb regionaler Waldlandschaften als auch komplette, geschlossene fremdländische Waldlandschaften. In forsteigenen Gewächshäusern mit einer Gesamtfläche von zwei Hektar werden Setzlinge gezüchtet, die Vermehrung der Xenophyten wird gefördert und unter verschiedenen Aspekten wissenschaftlich untersucht. Die Schwerpunkte liegen dabei u. a. in der Aufzucht bedrohter Baum- oder Straucharten und dem Aufbau einer immissionsresistenten Baumpopulation.
In der Geschichte des Arboretums gab es lediglich zum Jahreswechsel 1978/79 größere Ausfälle einer Baumart, die auf der Südhalbkugel beheimatet ist: Zwei Artvertreter aus der Gattung der Scheinbuchen (Nothofagus) fielen einem Temperatursturz von 35 Grad Celsius zum Opfer.
=== Verwaltung und wissenschaftliche Begleitung ===
Das Arboretum Burgholz wird als landeseigener Wald vom Landesbetrieb Wald und Holz NRW (www.wald-und-holz.nrw.de) betreut. Die Bewirtschaftung des Staatswaldes erfolgt seit Mai 2012 durch das Regionalforstamt Rhein-Sieg-Erft mit Sitz in Bonn, Forstbetriebsbezirk Großgrimberg. Die wissenschaftliche Begleitung wird in Zusammenarbeit mit dem Lehr- und Versuchsforstamt Arnsberger Wald durchgeführt. Hoheitlich ist als sogenannter „Träger öffentlicher Belange“ das Regionalforstamt Bergisches Land mit Sitz in Gummersbach zuständig. Interessierte Laien können sich Informationen beim Waldpädagogischen Zentrum (WPZ) Burgholz in Wuppertal-Cronenberg erfragen.
=== Das Arboretum aus Sicht des Naturschutzes ===
Wie viele derartige Projekte war das Arboretum aus Sicht des Naturschutzes anfangs umstritten. Das Arboretum ist weit davon entfernt, eine Ökologie zu bieten, wie sie naturbelassene und regionaltypische Naturflächen aufweisen. Es wurde befürchtet, dass neben der sowieso stark abweichenden Flora sich auch die Bodenfauna und die Insektenpopulation atypisch stark und nachteilig verändern würden.
Nach anfänglichen Studien haben sich diese Befürchtungen nicht bewahrheitet. Die Fauna, insbesondere die Insektenpopulation, veränderte sich zwar zwangsläufig, nahm aber rasch eine natürliche Balance an. Die heimischen Arten nahmen die neuen Waldlandschaften zum Großteil an, ohne dass sich das natürliche Gefüge asymmetrisch zu bestimmten Spezies hin verschob. Im Vergleich zu den üblichen Monokulturen der herkömmlichen Waldwirtschaft ist das Artenverhältnis zwischen phytophagen Arten und Prädatoren in den exotischen Waldlandschaften sogar sehr natürlich und gut ausgeglichen.
Diese Befürchtungen führten dennoch dazu, dass in der neuen rot-grünen nordrhein-westfälischen Landesregierung von der neuen Ministerin für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft Bärbel Höhn 1995 die Anweisung erging, den fremdländischen Anbau einzustellen und die bereits bestehenden Flächen zu roden und mit heimischen Buchen zu bepflanzen.
Der Revierförster Herbert Dautzenberg erreichte mit wissenschaftlicher Unterstützung unter anderem von dem Leiter des Naturwissenschaftlichen und Stadthistorischen Museums in Wuppertal, der Entomologe Wolfgang Kolbe, der zahlreiche Veröffentlichung über das Waldgebiet und die Ökologie des Fremdländeranbaus verfasst hatte, dass von diesem Plan Abstand genommen wurde. Es erfolgte aber ein bis heute bestehendes Verbot des weiteren Anbaus und der Durchforstung der fremdländischen Bestände. Durch die Umwandlung des Staatsforsts in ein Naturschutzgebiet wurde dieses Verbot durch die Naturschutzgebietsverordnung gefestigt.
Aus heutiger Sicht überwiegen allerdings klar die Vorteile, vor allem die wissenschaftliche Erkenntnisse in Bezug auf Klimaveränderungen. Nach dem Trockenjahr 2018 war auch das erste Halbjahr 2019 zu trocken für die heimischen Baumarten, so dass die heimischen Bestände geschwächt und auch durch den Befall durch Borkenkäfer so stark wie noch nie zuvor geschädigt und teilweise sogar ihrer Substanz gefährdet sind. Einige der fremdländischen Baumarten erwiesen sich dagegen unter diesen Verhältnissen als sehr resistent, weisen keine Schäden auf und könnten in einem veränderten Klima für die zukünftige Forstwirtschaft und bei der pflanzlichen CO2-Reduktion eine wichtige Rolle spielen, sollten in absehbarer Zukunft heimische Arten nicht mehr anbaufähig sein. Diese Erkenntnisse können aufgrund des bestehenden Anbau- und Pflegeverbots im Arboretum nicht durch neue Pflanzungen weiteren Flächen mit abweichenden Standortbedingungen weiter vertieft werden.
=== Der Exotenwald im Arboretum ===
Am 26. Mai 1999 wurde durch die Landesministerin Bärbel Höhn der sogenannte Exotenwald im Arboretum Burgholz eröffnet. Die drei großflächigen Anbauflächen mit Arten aus drei Kontinenten wurden durch Wanderwege für die Öffentlichkeit erschlossen. Viele der ca. 100 fremdländischen Baumarten werden mittels Beschilderung vorgestellt.
==== Nordamerikanische Gehölze ====
Der Schwerpunkt für nordamerikanische Gehölze liegt nahe dem Forsthaus im südlichen Bereich des Burgholzes. Folgende Arten sind hier zu finden (Auszug):
==== Asiatische Gehölze ====
Der Schwerpunkt für asiatische Gehölze liegt nahe dem Forsthaus im südlichen Bereich des Burgholzes. Folgende Arten sind hier zu finden (Auszug):
==== Europäische und Kleinasiatische Gehölze ====
Der Bereich der europäischen und kleinasiatischen Gehölze ist nahe dem ehemaligen Bahnhof Burgholz angesiedelt. Folgende Arten sind hier zu finden (Auszug):
=== Themenwege ===
Der Landesbetrieb Wald und Holz NRW hat 1999 vier Wanderwege – sogenannte Themenwege – eingerichtet, die mit Schildern am Wegesrand die einzelnen Baumarten des Arboretums beschreiben. Drei der vier Wanderwege (Impressionen aus Europa, Impressionen aus Nordamerika und Impressionen aus Asien) sind Rundwege durch die einzelnen Arboretumsflächen für europäische, nordamerikanische und asiatische Gehölze. Gute Ausgangspunkte für einen Spaziergang sind der „Zimmerplatz“ im nördlichen Teil des Arboretums im Ortsteil Küllenhahn und das Waldpädagogische Zentrum (WPZ) Burgholz im Ortsteil Cronenberg. Den Zimmerplatz erreicht man mit PKW über den Parkplatz Kaisereiche in der Straße „Zur Kaisereiche“, das WPZ Burgholz liegt in der Friedensstraße.
Der vierte Weg, Wälder der Welt genannt, beginnt ebenfalls am Forsthaus und führt durch das Burgholzbachtal am Zimmerplatz vorbei zur Kaisereiche. Er bietet einen einführenden Blick auf die Vielfalt der Vegetation im Burgholz. Im Einzelnen zeigt er:
Mischbestand aus Mammutbaum, Kalifornischer Weihrauchzeder und Douglasie
Mischbestand aus Westamerikanischer Hemlocktanne, Douglasie, Riesen-Lebensbaum, Mammutbaum und Lawsons Scheinzypresse
Bestand aus Edler Tanne und einzelnen Mammutbäumen
Mischbestand aus Douglasie, Edler Tanne, Großer Küstentanne, Kolorado-Tanne, Kalifornischer Weihrauchzeder, Jeffrey-Kiefer und Gelb-Kiefer
Mischbestand aus Edler Tanne, Felsengebirgs-Tanne und Purpur-Tanne
Mischbestand aus Kalifornischer Weihrauchzeder, Douglasie, Kolorado-Tanne und Westamerikanischer Hemlocktanne
Im Bachbereich Sumpfzypresse
Bestand aus Mammutbaum und Edler Tanne
Kultur aus Sitka-Fichte und Engelmann-Fichte, im weiteren Verlauf des Weges Kultur aus Fichte der Herkunft Istebna
Mischbestand aus Küsten-Mammutbaum (Redwood) und Leyland-Zypresse
Mischbestand aus Großer Küstentanne und Purpur-Tanne, entlang des Baches Chinesisches Rotholz sowie Berg-Hemlocktanne, Nikko-Tanne und Veitchs-Tanne am Gegenhang
Reinbestand aus Lindenblättriger-Birke, Heimat Japan
Papierbirke und Japanische Birke, Heimat Japan
Nordmanns-Tanne und Nikko-Tanne
Bestand aus Chinesischem Rotholz, Douglasie und Mammutbaum
Mischbestand aus Felsengebirgs-Tanne und Edler Tanne
Reinbestand aus Dreh-Kiefer
Westamerikanische Weymouthskiefer
Reinbestand aus Edel-Zypresse
Amerikanische Rot-Fichte
Bestand aus Riesen-Lebensbaum und Japanischer Sicheltanne am Nordrand
Mischbestand aus Douglasie und Großer Küstentanne
Mischbestand aus Küsten-Mammutbaum (Redwood) und Berg-Hemlocktanne
Mischbestand aus Riesen-Lebensbaum, Lawsons Scheinzypresse, Serbischer Fichte, Mammutbaum, Großer Küstentanne und Chinesischem Rotholz
Mischbestand aus Mammutbaum, Edler Tanne, Großer Küstentanne und Douglasie
Mischbestand aus Mammutbaum und Berg-Hemlocktanne
== Literatur ==
Kolbe, Wolfgang / Uwe Lünsmann (Hg.): Burgholz Monographie – Jahresberichte des Naturwissenschaftlichen Vereins in Wuppertal Nr. 53. Wuppertal 2000
Arboretum Burgholz. (Infobroschüre). Hrsg. v. Ministerium für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft NRW. Staatl. Forstamt Bergisch Gladbach-Königsforst, Bergisch Gladbach 1998.
Herbert Dautzenberg, Klaus Offenberg, Ute Nolden-Seemann, Alfred Becker, Uta Schulte et al.: Burgholz. Vom Versuchsrevier zum Arboretum. Heft 11 der Schriftenreihe der Landesforstverwaltung Nordrhein-Westfalen. Herausgegeben vom Ministerium für Umwelt, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz NRW/ Staatliches Forstamt Bergisch Gladbach-Königsforst, Düsseldorf 2000 (Onlineversion als PDF-Datei (Memento vom 15. März 2007 im Internet Archive))
Wolfgang Kolbe (Hrsg.): Der Bergische Wald – Lebensraum für Pflanzen, Tiere und Menschen, vorgestellt am Beispiel des Staatswalds Burgholz in Wuppertal und Solingen. Natur beobachten und kennenlernen, Bergisches Land, Band 7. Born-Verlag, Wuppertal 1991, ISBN 3-87093-044-6
Roland R. Theimer, K. Bathen (Hrsg.): Staatsforst Burgholz – Studie zur Erfassung und Analyse des Anbaus einheimischer und fremdländischer Baumarten., 1995
Heinrich Hogrebe: Fremdländische Baumarten in der Staatlichen Revierförsterei Burgholz. Deutscher Forstverein (Hrsg.), Düsseldorf 1966
== Siehe auch ==
Liste der Naturschutzgebiete in Wuppertal
== Weblinks ==
Naturschutzgebiet „Burgholz“ im Fachinformationssystem des Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen
Waldpädagogisches Zentrum & Arboretum Burgholz e. V.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Staatsforst_Burgholz
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Steinernes Haus (Frankfurt am Main)
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= Steinernes Haus (Frankfurt am Main) =
Das Steinerne Haus, in älterer Literatur auch Haus Bornfleck genannt, ist ein historisches Gebäude in der Altstadt von Frankfurt am Main. Es liegt mit der Vorderseite zum Markt (Hausanschrift: Markt 44), der den Dom mit dem Römerberg verbindet. Vor allem durch seine mittelalterliche Architektur und seine sehr lange, gut dokumentierte Geschichte hebt es sich von anderen Gebäuden der Altstadt ab.
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Steinerne Haus bei den Luftangriffen auf Frankfurt am Main im März 1944 durch Sprengbomben fast völlig zerstört. Dennoch rekonstruierte man es Anfang der 1960er Jahre als eines von nur wenigen Frankfurter Baudenkmälern unter hohem Kostenaufwand relativ originalgetreu, wodurch es aus der eher schlichten Nachkriegsbebauung seines Umfelds hervorragt. Heute beherbergt das Haus den Frankfurter Kunstverein.
== Geschichte ==
=== Vorgeschichte (Römerzeit bis 1460) ===
Wie Altstadt-Grabungen 1906 und in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ergaben, war das Gelände, auf dem das Steinerne Haus steht, schon zu römischer Zeit bebaut. Unter den massiven Kellern des rund 1000 Jahre später entstandenen Gebäudes fand man starke Mauerreste, die die Archäologen einem ehemaligen Gutshof zuordneten. Des Weiteren wurden aus der gleichen Zeit stammende Dachziegel und Schieferplatten gefunden. Nördlich des Geländes floss zu dieser Zeit noch oberirdisch ein Nebenarm des Mains, die Braubach, ungefähr entlang des heutigen Verlaufs der gleichnamigen Straße. Das Gelände südlich davon war somit strategisch und wirtschaftlich bedeutsam. Zum einen schützte er es als natürliche Grenze, zum anderen ermöglichte die Nähe zum Fluss dem dort Siedelnden einen schnellen Zugriff auf die wichtige Ressource Wasser.
Die ältesten schriftlichen Zeugnisse in Form von Urkunden, die Besitzstandsverhältnisse nachweisen, reichen beim Steinernen Haus bzw. seinen Vorgängerbauten bis ins späte 13. Jahrhundert zurück. Zwar ging ein Großteil dieser Quellen im letzten Weltkrieg verloren, doch konnten sie glücklicherweise von der älteren Forschung, insbesondere von Johann Georg Battonn und Rudolf Jung, noch ausgewertet werden, um ein detailliertes Bild der Hausgeschichte zu zeichnen.
Demnach standen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf der späteren Parzelle des Steinernen Hauses zwei schmale Fachwerkhäuser, das linke bzw. westliche Haus zum Rauchfaß, das rechte bzw. östliche Haus Bornfleck genannt. Beide stießen mit ihrer Rückseite an die als Stadtgraben dienende Braubach und waren mit der Vorderseite nach dem Markt ausgerichtet. Etymologisch erlaubt die Hausbezeichnung Bornfleck den Rückschluss, dass sich dort zuvor ein Brunnen – auf Altdeutsch Born – befand. 1280 ist erstmals ein Konrad Bornfleck urkundlich als Besitzer des Hauses nachgewiesen, der spätestens 1306 starb. Nicht nur seine Erwähnung als Schöffe in einer Urkunde des Jahres 1291 zeigt, dass er wohl eine bedeutende Persönlichkeit war. Auch nennt ihn der damalige Erzbischof von Mainz, Gerhard II., seinen lieben Wirt in Frankfurt. Seine Gattin Hedwig war eine Tochter des Gypel von Holzhausen, einer der bedeutendsten Familien des Frankfurter Stadtpatriziats. Dies lässt vermuten, dass ihr Mann in höchsten Kreisen des damaligen Frankfurter Gesellschaftslebens verkehrte.
Als Frankfurt im Jahr 1356 durch die Goldene Bulle als Wahlstätte der deutschen Kaiser bestätigt wurde, erhielt der Markt den Beinamen Krönungsweg oder via regia, weil über ihn der neugewählte Kaiser zum Römer zog, um sich vom Volk und dem Rat der Stadt huldigen zu lassen. Dies steigerte die Bedeutung des Straßenzuges in den folgenden Jahrhunderten erheblich und machte die daran gelegenen Parzellen zu einem bevorzugten Wohnort wie Baugrund für Adel und begütertes Stadtbürgertum.
Vier Jahre später findet sich die nächste urkundliche Erwähnung des besagten Geländes, wonach 1360 die Kinder des Kulmann Weiß von Limpurg im Besitz des Hauses Bornfleck und des Nachbarhauses zum Rauchfaß waren. Letzteres wurde erstmals 1320 urkundlich als Nachname seines damaligen Besitzers Konrad erwähnt, der es wahrscheinlich in den 50er Jahren des 14. Jahrhunderts an die Kinder der vorgenannten Familie verkaufte. 1362 nahmen sie eine Teilung vor, indem sie zwischen den Gebäuden eine Mauer errichteten, die bis an den Stadtgraben reichte. Haus Bornfleck kam in den Besitz der Alheid, der Witwe des Gypel Knoblauch, während Haus Rauchfaß in den Besitz der anderen Kinder des Kulmann Weiß von Limpurg überging. 1374 verkaufte sie das Haus Bornfleck für 1.600 Gulden, wenig später auch Haus Rauchfaß an Albeids Schwiegersohn Peter Apothecker. Aus dessen Familie ging Haus Bornfleck 1410 in den Besitz der Ergersheim über.
=== Entstehungszeit und die Dynastie Melem (1460 bis 1708) ===
Mitte des 15. Jahrhunderts erwarb der reiche Gewandhändler Johann Dorfelder aus Mainz, dessen Töchter an Klas von Rücklingen und Johann von Melem verheiratet waren, Haus Bornfleck. Am 4. Januar 1462 verkaufte Katharina, Witwe des Klas von Rücklingen und Frau des Georg Breidenbach, das Gebäude an ihren Schwager und ihre Schwester Johann und Gredgen von Melem. Am 21. April 1464 erwarben die neuen Eigentümer auch Haus Rauchfaß von Johann Apothecker.
Die Tatsache, dass sich nun beide Gebäude wieder in einer Hand befanden, nutzte das Ehepaar Melem im Oktober 1464 zu einem Abriss, um beide Parzellen zu einem Neubau zusammenzuführen. Aus der Lersnerschen Chronik sind die Geschehnisse vor mehr als einem halben Jahrtausend mit großer Genauigkeit zu erfahren:
1464. Auff den Sambstag nächst vor St. Galli Tag [d. h. Samstag, 13. Oktober] bauet Johann von Melem daß Hauß zum Bornflecken auff dem Haber-Marckt; den ersten Stein legte sein Sohn Johann von Melem [der Jüngere] und legte auff den Stein drey Alturnes oder Turonos denen Werckleuten zu vertrinken. Dieses geschahe an dem Orte gegen der Schmieden zu Nachmittags um 1 Uhr.Obgleich die Chronik von Lersner von der modernen Geschichtsforschung kritisch betrachtet wird, bestätigt in diesem Fall ein Eintrag im Kirchenbuch der St. Nicolaus-Kapelle die Information weitestgehend:
Item anno 1464 hat man das huß genannt zum Bornflecken abgebrochen und darnach mit steynen und muwern nuwe gebuwet und ist dasselbe huß gelegen under den kremen [Anm.: Krämergasse, mittelalterliche Bezeichnung für den Markt] zuschen der alden Guldenschaffe und Kursener louben.Das neu entstandene Gebäude überragte die umgebende Dächerlandschaft fast 500 Jahre, bis die Altstadt 1944 dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fiel. Neben dem Steinernen Haus selbst wurde in nördlicher Richtung dahinter noch eine im Wesentlichen aus zweigeschossigen Fachwerkhäusern bestehende Hofanlage errichtet. Sie diente sowohl den Hausangestellten der jeweiligen Besitzer als Wohnstätte als auch als Unterbringungsmöglichkeit für Gäste der Frankfurter Messe oder von Krönungsfeierlichkeiten. Die Anlage mit ihren zweifelsfrei bedeutsamen Gebäuden aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erhielt sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts und wurde erst mit dem Durchbruch der Braubachstraße niedergelegt.Der Bauherr, Johann von Melem, war kein gebürtiger Frankfurter, sondern stammte aus Köln. Nachdem er 1454 bereits als Großkaufmann die Tochter Johann Dorfelders geheiratet hatte, erhielt er zwei Jahre später als erstes Mitglied seiner Familie das Bürgerrecht in Frankfurt. Die von ihm begründete Melemsche Handelsgesellschaft wurde bald eine der bedeutendsten Firmen des ausgehenden Mittelalters in Frankfurt und Johann einer der reichsten Bürger der Stadt. Die von der auswärtigen Herkunft Melems ableitbaren niederrheinischen Einflüsse haben sich auch in der Architektur seines Baus niedergeschlagen, für die hier auf den architektonischen Abschnitt des Artikels verwiesen sei.
Nach dem Tode Johanns am 20. März 1484 folgte ihm noch im selben Jahr sein gleichnamiger Sohn, Johann von Melem der Jüngere – der den ersten Stein des Steinernen Hauses gelegt hatte – in der Leitung des Handelsgesellschaft nach (s. Bild). Neben dem Geschäft betätigte er sich, im Gegensatz zu seinem Vater, auch an der Verwaltung der Stadt. Seine Karriere dort zeichnete bereits den Werdegang seiner Nachfahren vor, die zunehmend vom Vermögen und gewaltigen Grundbesitz der Familie leben und sich der Politik widmen konnten, anstatt noch vorrangig als Kaufleute tätig zu sein: 1486 wurde er in die Patriziergesellschaft Zum Frauenstein aufgenommen, 1511 bis zu seinem Tod 1529 gehörte er dem Rat der Stadt an und war 1516 sogar jüngerer Bürgermeister.
Das Steinerne Haus blieb in den kommenden Generationen in Familienbesitz. Ogier von Melem, der Sohn von Johann von Melem des Jüngeren wurde 1522 nach der Hochzeit mit Brun von Brunfels in die Patriziergesellschaft Alten Limpurg aufgenommen. Damit hatte sich die Familie Melem nur knapp 60 Jahre nach ihrer Ankunft in Frankfurt in den obersten gesellschaftlichen Rängen der Stadt etabliert. Ogier, der 1575 starb, und sein gleichnamiger Sohn, der 1611 starb, haben das Haus stark mit Hypotheken belastet. 1607 verkaufte letztgenannter Ogier von Melem die ihm gehörende Hälfte des Hauses für 2.040 Gulden an die Vormünder der Juliane Margarete Steffan, welche 1610 Johann Philipp Weiß von Limpurg heiratete. Die andere Hälfte war schon im Besitze des Fräulein Steffan, welche die Enkelin einer Schwester von Ogier war.
1642 übergab Johann Philipp Weiß das Haus seinem Schwiegersohn Johann Hektor von Holzhausen gegen eine jährliche Zahlung von 250 Gulden. Nach dem Tode des Schwiegervaters 1644 ging das Haus in seinen Besitz über. Ihm folgte als Eigentümer sein Sohn Johann Maximilian. Mit seinem Tode 1708 endete die Ära, in der das Steinerne Haus alleine durch Familienbande in den Besitz der jeweils nächsten Generation übergegangen war. Knapp 50 Jahre zuvor war das Geschlecht der Melem mit Philipp Ludwig von Melem erloschen, als er 1654 als Frankfurter Gesandter auf dem Reichstag in Regensburg starb.
=== Von der Ganerbschaft zum Stadtbesitz (1708 bis 1898) ===
1708 gründeten die insgesamt sechs verbliebenen Erben eine Ganerbschaft. Unter ihnen fanden sich einige hervorragende Geschlechter der Stadt: Maria Sibylla Ruland, eine geborene Glauburg, Anna Sibylla von Holzhausen, eine geborene von Lersner, Johann Philipp von Stalburg sowie Johann Hieronymus und Justinian von Holzhausen.
Die Gesellschaft setzte, wie schon nachweislich sein letzter Besitzer aus der Familie Holzhausen, als Einnahmequelle primär auf eine Vermietung des Gebäudes an bürgerliche Familien und nutzte es nicht mehr selbst als Wohnstätte. Unter den ungezählten Mietern, die über die folgenden rund zwei Jahrhunderte im Steinernen Haus untergebracht waren, ist einer des 18. Jahrhunderts besonders hervorzuheben: um 1750 verlegte der französische Mal- und Zeichenlehrer Roland eine Kunstschule in das Gebäude, die sich von anderen Schulen dieser Art durch eine außergewöhnlich freie Art des Unterrichts abhob. Goethes Schwester Cornelia dürfte zu den bekanntesten nachweisbaren Schülerinnen der Einrichtung zu zählen sein.Als die Vermietung zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch den zunehmenden Bedeutungsverlust der Altstadt immer schwieriger wurde, erlaubten die Ganerben den Mietern auch, selbständig freie Räume an weitere Untermieter zu vergeben. Ursächlich für den Bedeutungsverlust waren vor allem zwei Entwicklungen: infolge der französischen Besetzung, der Blockade des Wirtschaftsverkehrs mit England sowie der beginnenden Industrialisierung wurde das klassische Messegeschäft innerhalb weniger Jahrzehnte auf einen wirtschaftlich bedeutungslosen Jahrmarkt reduziert. Zum anderen fanden mit dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 auch die Kaiserkrönungen und damit verbundenen Feierlichkeiten ein plötzliches Ende. Die wirtschaftlichen Auswirkungen für Hausbesitzer im alten Zentrum der Stadt lassen sich durch Steuerbücher der Zeit belegen: zur Zeit Johann Hektor von Holzhausens brachten die ständigen Mieten 172 Gulden 30 Kreuzer, die Vermietung an Messfremde aber 325 Gulden ein. Das bedeutet, dass alleine die Messe knapp 2/3 der Einnahmen des Gebäudes begründete. Auch die Vermietung zu Zeiten der nur unregelmäßig stattfindenden Kaiserkrönungen ist offenbar nicht zu unterschätzen: so behielten es sich die Ganerben im 18. Jahrhundert bei allen Mietverträgen explizit vor, die vorderen Räume mit ihren vielen Fenstern, die einen exzellenten Blick auf den Markt boten, zu Zeiten von Kaiserkrönungen an gut zahlende Schaulustige zu vergeben.
Trotz alledem diente das Gebäude 1848 und 1849 der konservativen Fraktion der in der nahen Paulskirche tagenden Frankfurter Nationalversammlung als Treffpunkt. Unter Joseph von Radowitz versammelten sich regelmäßig die Ultramontanen, wie man sie damals auch nannte, zur Besprechung von Kirchen- und Schulfragen; die Bekanntesten von ihnen waren wohl Ignaz von Döllinger, August Reichensperger und Beda Weber.
Spätestens ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, als der gründerzeitliche Bauboom vor den Toren der Stadt einsetzte, kam auch das Steinerne Haus zusammen mit dem Rest der Altstadt zusehends in Verfall und erlitt größere Schäden an seinem äußeren (vgl. Bild) und inneren Bauschmuck. Dieser war bis zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen seit dem 15. Jahrhundert unverändert geblieben. In Anbetracht zeitgleich vielerorts stattfindender Straßendurchbrüche in der Altstadt und Abbrüchen mittelalterlicher Bauten von teils großem historischen Wert war das Frankfurter Stammhaus der Melems zu jener Zeit gefährdet wie nie zuvor.
=== Vom Stadtbesitz bis zum Zweiten Weltkrieg (1898 bis 1944) ===
In den 1880er Jahren begann die Stadt Frankfurt bedeutende Bürgerbauten der Altstadt aufzukaufen und aufwändig zu restaurieren, um sie vor einem weiteren Verfall zu schützen und als Baudenkmäler zu erhalten. Beispiele dafür sind das Haus zur Goldenen Waage (1898 gekauft, 1899 restauriert, 1944 zerstört) oder der Große und Kleine Engel (1906 gekauft und restauriert, 1944 zerstört, 1982 rekonstruiert).
So erwarb die Stadt 1898 auch das Steinerne Haus, neben dem Haus Fürsteneck und dem Leinwandhaus seinerzeit einer der letzten noch verbliebenen gotischen Steinbauten der Stadt. Der Ganerbschaft, die bis dato trotz leicht veränderter Familienanteile im Wesentlichen Bestand gehabt hatte, bezahlte man dafür 250.000 Mark. Die dahinterstehenden denkmalpflegerischen Absichten lassen sich in der Begründung des Magistrats für den Kauf erkennen:
Die Stadt muß hohen Wert darauf legen, ein Gebäude, das für die Baugeschichte Frankfurts von so hervorragender Bedeutung ist, in eigenen Besitz zu erwerben und dadurch zu verhindern, daß ein solches Baudenkmal allmählich vernachlässigt oder gar vernichtet werde.Dass dies jedoch nicht für alle Bauten der Frankfurter Altstadt galt, zeigte der Durchbruch der Braubachstraße von 1904 bis 1906, dem weit über hundert, darunter zahlreiche in ihrer Substanz mittelalterliche Fachwerkhäuser zum Opfer fielen. Darunter waren bereits im Jahr 1904 die gesamten Hinterhofbauten des Steinernen Hauses, obgleich die geschlagene Wunde sogleich mit einem historistischen Bau zur Braubachstraße hin wieder geschlossen wurde. Dieser war von Anfang an als Restaurant der gehobenen Klasse konzipiert und knüpfte in seinen neogotischen Formen durchaus an den Stil seines zum Markt gelegenen Pendants an.
Nur wenige Jahre später überließ die Stadt das Gebäude auf Anregungen aus Künstlerkreisen hin der Frankfurter Künstlergesellschaft, der es bereits in den Jahrzehnten davor oftmals als Treffpunkt gedient hatte. Um die finanziellen Mittel für eine grundlegende Sanierung zu akquirieren, veranstaltete die Künstlergesellschaft am 6., 7. und 8. April 1905 ein Altstädtisches Fest in den Festräumen des Römers. Dem Fest lag der Gedanke zugrunde, Leben und Treiben in den Tagen einer mittelalterlichen Kaiserkrönung in Frankfurt für drei Tage wieder aufleben zu lassen. Die Aktion kann im Rückblick wohl als Erfolg bezeichnet werden, belief sich der Reingewinn doch auf 60.000 Mark.In der folgenden Zeit wurde das Steinerne Haus nach Plänen des Architekten Franz von Hoven seiner baugeschichtlichen Bedeutung entsprechend aufwändig renoviert; unter anderem wurden stilwidrige Einbauten entfernt, wertvolle Gebäudeteile freigelegt sowie eine moderne Beleuchtung und moderne Garderoben- und Toilettenräume eingebaut. Bereits am 19. Januar 1907 fand nach Abschluss der Bauarbeiten die Einweihungsfeier der Künstlergesellschaft statt. Mit Ausstellungen und Veröffentlichungen machte sich das Haus schnell über die Stadtgrenzen hinaus wieder einen Namen. Wie der Vergleich fotografischer Außenaufnahmen des Gebäudes zeigt, wurden in den folgenden Jahren auch die ursprüngliche gotische Außengestalt und der Gebäudeschmuck teils rekonstruktiv wiederhergestellt; insbesondere der 1842 vermauerte Zinnenkranz sowie der 1872 abgebrochene Baldachin der Madonnenstatue an der Südwestecke des Hauses zeigten sich alsbald in ihrer ursprünglichen Erscheinung (vgl. Bild).
=== Zweiter Weltkrieg, Wiederaufbau und Gegenwart (1944 bis heute) ===
Im Zweiten Weltkrieg brannte das Gebäude bei einem Luftangriff am 22. März 1944, der auch die restliche Altstadt in Trümmer legte, innerlich völlig aus. Aufgrund der massiven Bauweise blieben die Außenmauern aber zunächst noch gut erhalten. Zwei Tage später erlitt es am 24. März 1944 dann einen Volltreffer durch eine Sprengbombe, der aufgrund der nun fehlenden inneren Statik die komplette Fassade niederriss. Aus kunsthistorischer Sicht äußerst schmerzvoll ist der Verlust der gesamten Inneneinrichtung aus gotischer Zeit. Wie durch ein Wunder blieben das gotische Gewölbe mit den steinernen Wappen des Ehepaars Melem in der Tordurchfahrt des Erdgeschosses sowie der historistische Gebäudepart an der Braubachstraße fast unbeschadet erhalten.Obwohl die Ruinen der restlichen Altstadt schon zu Beginn der 50er Jahre beseitigt und alsbald durch Zweckbauten im Stil der Zeit ersetzt worden waren, blieb das Steinerne Haus von diesem Schicksal verschont. 1959 bis 1962 wurde es mit einem für diese Zeit ungewöhnlich hohen Aufwand von 2,4 Millionen DM (heute entsprechend etwa 4 Millionen Euro) wieder aufgebaut. Im Gegensatz zu vielen anderen Wiederaufbauprojekten orientierte man sich dabei sehr stark am Original; zu seiner Zeit war das Steinerne Haus zusammen mit dem Goethe-Haus der einzige Bürgerbau der Altstadt überhaupt, den man rekonstruierte. Allerdings beschränkte sich die Rekonstruktion auf das äußere Erscheinungsbild, die Innenräume wurden in Zweckformen der Zeit errichtet und anschließend wieder dem Kunstverein zur Verfügung gestellt. Weiterhin erhielt das Gebäude einen modernen Anbau an der Ostseite, um seine Nutzfläche zu vergrößern und für Barrierefreiheit zu sorgen. Am 8. November 1962 wurde das rekonstruierte Steinerne Haus mit einer Edvard-Munch-Ausstellung feierlich eingeweiht und dient seitdem mit Ausstellungsräumen wieder seinem alten Zweck als eines der Zentren der Kunst in Frankfurt. Auch der nördliche Gebäudeteil an der Braubachstraße diente schon bald wieder als Restaurant und präsentiert sich nach der Reparatur kleinerer Kriegsschäden bis heute äußerlich wie innerlich unverändert.
Im Rahmen des Dom-Römer-Projektes entstanden 2013 bis 2018 südlich und östlich des Steinernen Hauses die historisch bedeutenden Gassen Markt und Hinter dem Lämmchen mit ihrer kleinteiligen, teilweise nach historischen Vorbildern rekonstruierten Bebauung neu. Der Frankfurter Kunstverein ergänzte im Rahmen des Projektes den modernen Anbau um einen zweiten Eingang, der sich nach Osten zur Gasse Hinter dem Lämmchen hin öffnet. Im September 2018 wurde an der Fassade des Anbaus die Außenskulptur Die Große Illusion des Künstlerduos Wolfgang Winter und Berthold Hörbelt installiert. Der neue Eingang bildet zusammen mit der Skulptur eine Blickachse vom Hühnermarkt durch die Gasse Hinter dem Lämmchen mit einem markanten Kontrast zwischen der modernen und der rekonstruierten Architektur.
== Architektur ==
=== Allgemeines ===
Das Steinerne Haus ist der letzte noch existierende bürgerliche Profanbau seines Typs in Frankfurt, von dem es im Mittelalter im Bereich der heutigen Altstadt um die zwanzig gab. Nur wenige von diesen gotischen Steinbauten, dafür jedoch umso bedeutendere wie der Große Braunfels oder das Fürsteneck, erhielten sich bis ins 20. Jahrhundert, fielen jedoch sämtlich den Bomben des Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Ebenso erging es dem Leinwandhaus, das erst in den 80er Jahren wieder aufgebaut wurde und dem Steinernen Haus architektonisch sehr nahekommt. Es ist jedoch seit seiner Erbauung 1399 dem öffentlichen Profanbau zuzurechnen.
Das Steinerne Haus ist im denkmalpflegerischen Sinne nur noch wenig mittelalterlich: obwohl sich – abgesehen von der Fassade – die Außenmauern größtenteils erhielten, mussten sie beim Wiederaufbau größtenteils abgetragen werden. Zum einen hatte die ungeheure Hitze des Feuersturms den Putz geschwächt, wie es Fried Lübbecke schon 1944 in befürchtet und berichtet hatte. Zum anderen war die Ruine lange Zeit uneingedeckt Wind und Wetter ausgesetzt, so dass Feuchtigkeit in das Mauerwerk einziehen konnte.
So besteht das Steinerne Haus heute, abgesehen vom erhaltenen Gewölbe des Erdgeschosses und geringen Teilen der Außenmauern, weitestgehend aus Baumaterialien der 1950er Jahre. Auch das Innere hat sich in den etwas über 15 Jahren zwischen der Zerstörung 1944 und dem Abschluss des Wiederaufbaus 1962 so stark verändert wie in den über 500 Jahren zuvor nicht.
=== Äußeres ===
==== Allgemeine Beschreibung ====
Die massiven Außenmauern des Gebäudes bedecken eine fast quadratische Parzelle, die für mittelalterliche Verhältnisse mit ungefähr 15 Metern in der Breite und 20 Metern in der Tiefe enorme Maße aufwies (vgl. Bilder u. Ravenstein-Plan). Sie zeigt mit einem stumpfen Winkel zur Südostecke hin bis heute noch den ursprünglichen Grundriss des Hauses Bornfleck, das 1464 zugunsten des Steinernen Hauses abgerissen wurde. Die hierdurch hervorgerufene Asymmetrie des Grundrisses hat der mittelalterliche Baumeister geschickt durch ein Gesims ausgeglichen, das sich – zunächst merkwürdig erscheinend – nur an der südöstlichen Hausecke zwischen Erd- und erstem Geschoss befindet. So folgt nur das Mauerwerk des Erdgeschosses bis zum Gesims dem asymmetrischen Grundriss, die darüber befindlichen Geschosse sind gerade ausgerichtet.
Die zum Markt gewandte Fassade ist im Bereich des Erdgeschosses durch ein großes spitzbogiges Tor mit je zwei Rundbögen links und rechts vertikal fünfachsig gegliedert. Die horizontale Gliederung ist gleichfalls äußerlich ersichtlich: Mit dem Erdgeschoss beherbergt das Haus drei Stockwerke, wobei das erste und zweite durch ein kräftiges Gesims voneinander getrennt sind. An das Erdgeschoss schließt außerdem ein niedriges Zwischengeschoss an, die so genannte Bobbelage. Diese Bauweise ist für die Frankfurter Häuser des Mittelalters charakteristisch; das Zwischengeschoss diente als Lagerraum, während im Erdgeschoss während der Messezeiten die Waren für den Verkauf aufgestapelt wurden.
Im Bereich der Bobbelage befindet sich über dem spitzbogigen Tor eine Steinmetzarbeit mit dem Wappen der Familie Melem, links und rechts ein kleines Rechteckfensterpaar über jedem Rundbogen. Die sich darüber anschließenden Stockwerke sind mit zahlreichen, für die Erbauungszeit enorm großen Kreuzstockfenstern durchbrochen, die allerdings unregelmäßig über die Front verteilt sind.
So zeigt der erste Stock eine Gruppe von vier gleich verteilten Fenstern neben einer Gruppe von drei gleich verteilten Fenstern, die sich sowohl im Baumaterial wie auch in ihrer Profilierung unterscheiden. Die erstgenannte Gruppe ist – anders als die anderen Fenster am Haus – aus rotem Mainsandstein und nochmals von separaten Profilleisten eingerahmt; die zweite Gruppe ist dagegen, wie alle weiteren Fenster am Haus, aus Basalt und ohne zusätzliche Profilleisten. Von einem kräftigen horizontalen Gesims über die gesamte Fassade getrennt, weist der zweite Stock ähnliche Verhältnisse auf; hier gibt es ganz links ein sehr schmales Fenster, eine sich daran anschließende Gruppe von drei gleich großen Fenstern, einen großen Freiraum, nun wieder ein einzelnes Fenster von der gleichen Größe wie das der vorangegangenen Gruppe, und anschließend rechts wieder ein sehr schmales, sozusagen halbes Kreuzstockfenster.
Um das sich dem zweiten Geschoss anschließende steile Walmdach verläuft ein begehbarer Wehrgang mit einem Zinnenkranz, der – allerdings nur an der Straßenfront – in zweistöckigen, wiederum von Zinnen gekrönten, überhängenden Ecktürmchen endet. Unter dem Wehrgang verläuft als klassisches gotisches Gestaltungselement ein Dreipassfries. Das Walmdach selbst beherbergt noch einmal vier Dachgeschosse, in die durch kleine Gauben etwas Licht einfällt.
Die asymmetrische Verteilung der Fenster hat in der Literatur immer wieder zu Spekulationen geführt, inwieweit sich hierin eventuell die bauliche Situation von 1464 widerspiegelt, als das Steinerne Haus auf den Parzellen zweier zuvor eigenständiger Häuser erbaut wurde. Weitere Beweise dafür, dass das Steinerne Haus, wie wir es heute kennen, eventuell in zwei autonomen Bauabschnitten entstand, meint man darin zu sehen, dass in historischen Urkunden der Zeit immer nur von Haus Bornfleck, nicht aber von Haus Rauchfaß die Rede ist. Tatsächlich genügt aber schon ein Vergleich von Plänen, die die alte Raumeinteilung zeigen (vgl. Bilder), um mit größter Sicherheit nachzuweisen, dass die Fensterabstände einzig aus der ursprünglichen inneren räumlichen Gliederung resultieren.
==== Die Madonna am Steinernen Haus ====
An der südwestlichen Hausecke befindet sich in Höhe des ersten Geschosses seit der Entstehungszeit des Gebäudes eine Madonnenfigur. Eine alte Sage beschreibt ihre Entstehung:Johann von Melem wollte, wie es im Mittelalter üblich war, eine Madonna an der dem Römerberg zugewandten Seite seines neuen Hauses anbringen lassen. Er beauftragte einen jungen Frankfurter Steinmetz namens Andreas mit dieser Arbeit. Andreas war nach seiner Lehre auf Wanderschaft in Italien gewesen. Nun kam er mit einer Empfehlung der italienischen Handelspartner Melems in seine Heimatstadt zurück. Er erhielt eine Werkstatt im Haus zugewiesen, wo er Tag und Nacht an seinem Werk arbeitete.
Eines Abends trat er vor die Tür seiner Werkstatt und erblickte hinter einem Fenster Ursula, die jüngere Tochter Johanns von Melem, die in seiner Jugend seine Spielgefährtin gewesen war. Auch Ursula erkannte ihn sogleich. Die beiden verliebten sich ineinander, mussten jedoch bald die Aussichtslosigkeit einer Verbindung zwischen dem Handwerker und der Patriziertochter einsehen.
Bald darauf hielt ein Kölner Kaufmannssohn bei Johann von Melem um Ursulas Hand an, und der stimmte zu. Melem legte den Termin der Hochzeit fest und bat Andreas, die Madonnenfigur bis dahin fertigzustellen.
Kurz vor der Hochzeit kamen Ursula und ihre Eltern eines Morgens an der Werkstatt vorbei. Die Tür war nur angelehnt, die Werkstatt aufgeräumt und verlassen. In der Mitte stand die Madonna mit dem Kind; sie trug Ursulas Züge. Andreas hatte die Stadt in der Nacht zuvor verlassen, um nie mehr zurückzukehren, so dass ein anderer den Baldachin fertigstellen musste. Der Sage nach bat Ursula ihren Vater, die geplante Hochzeit abzusagen, um ledig zu bleiben.
Tatsächlich überliefert das erhaltene Familienbuch der Melems jedoch, dass Ursula den Frankfurter Patrizier Walter Schwarzenberg heiratete und nach dessen Tod Bernhard Rohrbach. Ursulas ältere Schwester Katharina war mit dem Patrizier Jakob Heller verheiratet.
Die heute zu sehende Madonna ist eine Kopie des Originals, das ebenfalls durch die Kriegseinwirkungen schwer beschädigt wurde und nur noch fragmentarisch im Historischen Museum erhalten ist. Auch ist der heute zu sehende Baldachin nur ein mäßiger Ersatz für das Original, das mit meisterlich gearbeiteten Fialen, selbige wieder mit Kreuzblumen geschmückt, ein bedeutsames Werk mittelalterlicher Steinmetzkunst darstellte. Er wurde allerdings bereits 1872 auf Beschwerden einiger Marktfrauen hin abgebrochen, da er sich nach über 400 Jahren in seine Bestandteile auflöste und diese auf die Straße zu stürzen drohten. Einige Fragmente konnten dennoch gerettet und für seine Wiederherstellung Anfang des 20. Jahrhunderts verwendet werden.
Dieser wiederhergestellte Baldachin teilte dann allerdings das Schicksal der ihm unterstellten Madonna und wurde beim Wiederaufbau durch die heute zu sehende, weit schlichtere Variante ersetzt. Eine Rekonstruktion des originalen Zustands erscheint in Anbetracht der guten Dokumentationslage zumindest möglich.
==== Bezüge zur mittelrheinischen Architektur ====
Einige der vorgenannten Eigenschaften des Steinernen Hauses – wie das Zwischengeschoss, das sonst in Frankfurt nur am Fachwerkbau auftrat, aber insbesondere die Trennung der Geschosse durch ein Gesims, die teilweise überreiche Profilierung der Fenstergewände sowie der Typus der verwendeten halben Kreuzstockfenster – sind in Frankfurt an anderen, freilich nicht mehr erhaltenen steinernen Gebäuden des Mittelalters nicht nachweisbar.
Für das Jahr 1461 kann in Köln dem gotischen Haus Saaleck (Anschrift: Unter Taschenmacher 15–17, vgl. Bild) Johann von Melem als Besitzer nachgewiesen werden. Das Gebäude hat, abgesehen von der Tatsache, dass es aus Werksteinen erbaut ist, alle oben genannten, besonderen Eigenschaften, die sich am drei Jahre später erbauten Steinernen Haus wiederholen. Es steht also außer Frage, dass der Erbauer des Steinernen Hauses diese mittelrheinischen, speziell Kölner Einflüsse mit nach Frankfurt brachte. Sie sind allerdings, wie praktisch immer im alten Frankfurt, Import geblieben und haben in der lokalen Architektur keine Nachahmer gefunden.
Nicht klar als mittelrheinischer Einfluss belegbar, aber doch auffällig ist die Tatsache, dass auch der Kölner Bau über eine Hausmadonna verfügt, deren prominente Nische an der Hausecke mit aufwändigem vollplastischen Schmuck geziert ist.
Haus Saaleck erlitt das gleiche Schicksal wie das Steinerne Haus und wurde am 31. Mai 1942 durch Brandbombeneinwirkung weitestgehend zerstört. Allerdings erfolgte bis 1957 der Wiederaufbau unter weitest möglicher Verwendung der originalen Bausubstanz, so dass sich das Gebäude, von kleineren Veränderungen im Bereich des Erdgeschosses abgesehen, wieder in seiner ursprünglichen Gestalt präsentiert und als Beispiel für diesen interessanten architektonischen Zusammenhang aus der Zeit der Spätgotik dienen kann.
=== Inneres (1464 bis 1944) ===
==== Erdgeschoss ====
Hinter dem spitzbogigen Tor in der Mitte der Fassade erstreckte sich eine Passage, die geradewegs auf der Nordseite durch ein ebensolches spitzbogiges Tor wieder hinausführte. Bis zum Bau der Braubachstraße Anfang des 20. Jahrhunderts befand sich hier bereits seit dem Bau des Steinernen Hauses ein zugehöriger Hof mit Gebäuden für Hausangestellte und Messegäste. Somit kann davon ausgegangen werden, dass die Passage dazu diente, Pferdefuhrwerken ein direktes Einfahren in jenen Hof zu ermöglichen, um dort die Güter direkt auf die Hofanlage zu verteilen. Diese Vermutung wird durch die Tatsache untermauert, dass sich auf der dem Hof zugewandten Nordseite des Daches des Steinernen Hauses ein Zwerchhaus mit Seilwinde befand, mit dem die Güter eines Fuhrwerks auch auf den Dachboden verladen werden konnten. Es ist auf Vorkriegsbildern, die die Dachlandschaft der Altstadt zeigen (vgl. Bild im geschichtlichen Teil), aufgrund der enormen Höhe des Steinernen Hauses oftmals gut zu erkennen.
Das hintere Drittel der Passage war als aufwändiges Kreuzrippengewölbe ausgeführt. In der Mitte zwischen den beiden Jochen des Gewölbes, dessen Rippen glatt in die Wand einschnitten, hielten vollplastische Engel die Wappenschilder des Erbauerehepaares – Melems und seiner Gattin, die eine geborene Dorfelder war. Darüber hinaus war das Gewölbe reich mit spätgotischen Krabben versehen, wobei der virtuose Steinmetz selbige nochmals mit winzigen Menschen- und Tierfiguren geschmückt hatte (vgl. Bilder). Der weitestgehende Schutz vor der Witterung hat dieses Gebäudeteil, das, wie schon erwähnt, als einziges die Zerstörung des Gebäudes 1944 überstand, bis heute vor größeren Alterungsspuren bewahrt.
Am nördlichen Ende des Gewölbes befanden sich durch spitzbogige Türen Zugänge zu ebenfalls von – jedoch einfachen – Gewölben überspannten Räumen, die vermutlich als Hauskapellen dienten. Von hier aus führten wieder Ausgänge Richtung Norden zum Hof, und in Richtung Süden zu lang gezogenen, von der Ausstattung her schlichten Räumen, in denen ursprünglich Handel getrieben bzw. Messverkehr abgewickelt wurde. Die Tatsache, dass praktisch ihre gesamte Südwand durch die rundbogigen Zugänge zum Markt, der Hauptverkehrsader des mittelalterlichen Frankfurts hin eröffnet war, untermauert dies. Die Oberlichter des Zwischengeschosses, das klassischerweise der Lagerung von Waren diente, hellte sie wohl zumindest in den klassischen Geschäftszeiten hierfür auch ausreichend auf.
Interessanterweise waren die Innenwände dieses den vorderen, etwa zwei Drittel der gesamten Hausparzelle einnehmenden Bereiches, welche die Räume links bzw. rechts von der eingangs beschriebenen Durchfahrt trennten, nicht massiv ausgeführt. Stattdessen zeigte sich eine Holzfachwerkkonstruktion: als verputzte Ausfachungen erstreckten sich die Wände zwischen drei kräftigen Stielen auf jeder Seite, auf denen, über geschweifte Kopfbänder verbunden, die Unterzüge der Balkendecke ruhten. Die parallel zur Wand verlaufenden Kopfbänder hatte man in die Wand eingearbeitet und darunter jeweils mit einem Riegel versteift.
Auf der rechten bzw. östlichen Hausseite war zwischen diesen Raum und die zuvor beschriebene Kapelle das Treppenhaus eingeschoben, das, an einem Geländer aus schön gedrechselten Stäben entlang, in die oberen Stockwerke führte. Kleinere Fenster in der Ostwand erhellten das Treppenhaus auf natürliche Weise.
==== Obergeschosse und Dach ====
Den oberen Stockwerken gemein war, dass sich die großen, zum Markt hin gelegenen Fenster in der Südwand in tiefen Nischen befanden. Steinsitze in ebendiesen Nischen ermöglichten es den jeweiligen Hausbewohnern, sowohl das Markttreiben als auch die Kaiserkrönungen aus einer privilegierten Position heraus zu verfolgen. Im ersten Obergeschoss befanden sich unterhalb der Decke der zwei westlich gelegenen Zimmer Kragsteine mit Tierfiguren – die eine einen im Nest sitzenden Adler (vgl. Bild), die andere eine aus Blätterwerk hervorschauende Meerkatze zeigend. Es spricht aufgrund dieser Gestaltung vieles dafür, dass wenigstens diese zwei Räume ursprünglich als ein einzelner Raum auftraten und erst durch nachträgliche Veränderungen geteilt wurden (vgl. Grundriss). In wird gar davon ausgegangen, dass es sich hier um den Raum handelte, in dem die Melems Gäste empfingen, da auch die Westwand durch einen äußerst repräsentativ gestalteten Wandschrank geziert wurde (vgl. Bild). Aufgrund seines Alters und zudem offensichtlich musealen Qualität ist es umso bedauerlicher, dass auch dieses Ausstattungsstück infolge der Kriegseinwirkungen vernichtet wurde.
Kunsthistorisch betrachtet ein wirklich schmerzvoller Verlust ist dagegen der Kamin, der das nordöstliche Zimmer des ersten Stocks zierte (vgl. Bild). Die an ihm zu bewundernde Ornamentik stammte zweifelsfrei aus der Hochphase der deutschen Plastik. Die Tatsache, dass an ihm ein antikes Motiv in gotischer Fassung aufgegriffen wurde, deutet auf einen unbekannt gebliebenen Steinmetz hin, der nicht nur sein Handwerk meisterlich beherrschte, sondern wohl auch einen hohen Bildungsgrad aufwies. Darüber hinaus war die Decke dieses Zimmers noch mit einer einfach-geometrischen Stuckdecke geschmückt, die allerdings eher als Zutat der späten Renaissance zu verstehen war. Westlich dieses Raumes befand sich ursprünglich die Küche, die restlichen Räume des Stockwerks waren schmucklos bzw. zu Zeiten ihrer Dokumentation nicht mehr einem bestimmten Zwecke zuordenbar.
Auch im zweiten Stock gab es außer einer Reihe von viereinhalb hängenden Wandbogen unter der Decke des westlichen vorderen Eckzimmers, deren genaue Bedeutung unklar bleibt, nichts merkwürdiges mehr. Das repräsentative Treppenhaus endete hier, eine separate, nur zweckmäßig gestaltete Treppe führte in das erste Dachgeschoss. Die einzelnen Dachgeschosse wurden wiederum durch einfache Holztreppen miteinander verbunden, die ins letzte Dachgeschoss führende Treppe verlief dabei entgegen den anderen parallel zum First. Die kleinen Gauben im Dach auf allen Stockwerken ermöglichten in Anbetracht der Höhe einen für mittelalterliche Verhältnisse vermutlich atemberaubenden Weitblick.
=== Inneres seit 1962 ===
So sehr sich der Wiederaufbau des Steinernen Hauses – für die Zeit durchaus untypisch – um eine originalgetreue Wiederherstellung des Äußeren bemühte, so wenig war dies beim Innenleben der Fall. Andererseits kann bezüglich der Kriegsschäden an der Innendekoration im Grunde von einem Totalschaden gesprochen werden. Eine etwaige Rekonstruktion auch nur von Teilen hätte aufwändige kunsthandwerkliche Arbeiten nach sich gezogen, die die Kosten für den völlig aus Steuermitteln finanzierten Wiederaufbau noch einmal gesteigert hätten.
Somit ist einzig die Einteilung der Geschosse, die ohnehin durch die Fassade vorgegeben wird, am Vorkriegszustand orientiert; inwieweit tatsächlich die exakte Geschosshöhe wiederhergestellt wurde, bleibt allerdings unklar. Im ersten und zweiten Stock befinden sich nüchterne, lichtdurchflutete Ausstellungsräume im typischen Stil der 1960er Jahre. Auch das im Erdgeschossbereich zum Markt hin befindliche Cafe erinnert durch seine Ausstattung mit großen Glasflächen und schmucklosen Betonpfeilern in keinem Detail mehr an die einst reiche gotische Ausstattung. Hinter einer Wand aus matten Glasbausteinen, die das Cafe ungefähr auf zwei Dritteln der Gebäudeparzelle nach Norden hin begrenzt, befindet sich allerdings bis heute das Kreuzrippengewölbe, das als einziger Gebäudeteil den Krieg überstand. So zeigt es noch immer die Wappen des Ehepaars Melem, das den Grundstein für das Haus vor über einem halben Jahrtausend legte.
== Einzelnachweise ==
== Literatur ==
Achilles Augustus von Lersner: Der weit-berühmten Freyen Reichs-, Wahl- und Handels-Stadt Franckfurt am Main Chronica, oder Ordentliche Beschreibung der Stadt Franckfurt Herkunfft und Auffnehmen. Selbstverlag, Frankfurt am Main 1706 (Digitalisat)
Architekten- & Ingenieur-Verein (Hrsg.): Frankfurt am Main und seine Bauten. [Selbstverlag], Frankfurt am Main 1886, S. 35 (archive.org).
Johann Georg Battonn: Oertliche Beschreibung der Stadt Frankfurt am Main – Band III. Verein für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1864, S. 164–165. (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D~GB%3DQ2YAAAAAcAAJ~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D)
Hartwig Beseler, Niels Gutschow: Kriegsschicksale Deutscher Architektur – Verluste, Schäden, Wiederaufbau – Band 2, Süd. Karl Wachholtz Verlag, Neumünster 1988, S. 820–821
Gerhard Bott: Am alten Markt von Frankfurt. Das Steinerne Haus. In: Amt für Fremdenverkehr und Kongreßwesen (Hrsg.): Frankfurt, lebendige Stadt. Vierteljahresheft für Kultur, Wirtschaft und Verkehr. Jahrgang 5, Heft 1, Frankfurt am Main 1960, S. 34–35
Georg Hartmann, Fried Lübbecke: Alt-Frankfurt. Ein Vermächtnis. Verlag Sauer und Auvermann, Glashütten 1971
Rudolf Jung: Das Steinerne Haus. In: Verein für Geschichte und Altertumskunde, Verein für das Historische Museum und die Numismatische Gesellschaft in Frankfurt am Main (Hrsg.): Alt-Frankfurt. Vierteljahrschrift für seine Geschichte und Kunst. Jahrgang 3, Heft 1, Frankfurt am Main 1911
Adolf Meuer: Das „Steinerne Haus“ in neuem Gewand. 30 Jahre Frankfurter Kunstverein. In: Frankfurter Verkehrsverein (Hrsg.): Frankfurter Wochenschau. Bodet & Link, Frankfurt am Main 1937, S. 470–471
Hans Pehl: Kaiser und Könige im Römer. Das Frankfurter Rathaus und seine Umgebung. Verlag Josef Knecht, Frankfurt 1980, S. 64–70, ISBN 3-7820-0455-8
Walter Sage: Das Bürgerhaus in Frankfurt a. M. bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Wasmuth, Tübingen 1959 (Das Deutsche Bürgerhaus 2), S. 11–47.
Otto Schembs: Die Madonna am Steinernen Haus. In: Spaziergang durch die Frankfurter Geschichte, Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-7829-0530-X
Wolf-Christian Setzepfandt: Architekturführer Frankfurt am Main / Architectural Guide. 3. Auflage. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-496-01236-6, S. 10 (deutsch, englisch).
Rudolf Jung, Julius Hülsen: Die Baudenkmäler in Frankfurt am Main. Dritter Band. Privatbauten. Heinrich Keller, Frankfurt am Main 1914, S. 41–60 (Digitalisat [PDF]).
== Weblinks ==
Das Steinerne Haus. altfrankfurt.com
Der Wiederaufbau des Steinernen Hauses (Memento vom 30. Dezember 2012 im Internet Archive)
Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hrsg.): Steinernes Haus In: DenkXweb, Online-Ausgabe von Kulturdenkmäler in Hessen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Steinernes_Haus_(Frankfurt_am_Main)
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Stiftung Scheuern
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= Stiftung Scheuern =
Die Stiftung Scheuern ist eine diakonische Einrichtung der Behindertenhilfe. Sie betreut Menschen mit geistiger Behinderung, erworbener Hirnschädigung und psychischer Erkrankung. Diese Personengruppen unterstützt die Stiftung Scheuern mit vielfältigen Leistungen, die von individuellen Wohnformen über Bildung und Qualifizierung bis hin zu Arbeitsplätzen sowohl in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) als auch in Unternehmen der regionalen Wirtschaft reichen. Auch die therapeutische Begleitung von Menschen mit Behinderung, Angebote zu ihrer Tages- und Freizeitgestaltung, die Gastbetreuung im Rahmen einer Verhinderungspflege und vieles mehr zählen zu ihren Schwerpunkten.
Der Hauptsitz der Stiftung Scheuern, dessen Gebäude teilweise unter Denkmalschutz stehen, befindet sich im Nassauer Stadtteil Scheuern. Dazu kommen zahlreiche weitere Wohnhäuser in der Region Rhein-Lahn-Westerwald. Die Stiftung Scheuern ist eine gemeinnützige Stiftung bürgerlichen Rechts. Sie ist Mitglied in der Diakonie Hessen und im Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB). Sie hat circa 1200 Mitarbeiter.
Die wechselvolle Geschichte der Stiftung Scheuern reicht zurück bis zur Gründung 1850, wobei einzelne Gebäude deutlich älter sind. In der Zeit des Nationalsozialismus diente die Stiftung Scheuern als einzige Anstalt der Inneren Mission als Zwischenanstalt für die NS-Tötungsanstalt Hadamar, wobei ihre Übernahme einen Präzedenzfall darstellte. Für über 1500 Menschen war sie die letzte Station vor ihrer Ermordung. 153 Menschen kamen in dieser Zeit in den Anlagen der Stiftung Scheuern selbst ums Leben. Die Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre war geprägt vom geänderten gesellschaftlichen Umgang mit behinderten Menschen. Die bewusste Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit setzte erst Mitte der 1990er Jahre ein. Strukturelle Veränderungen haben bis 2020 und darüber hinaus stattgefunden.
== Lage und Beschreibung ==
Die Kernanlage der Stiftung Scheuern liegt in dem südlich an die Stadt Nassau angrenzenden Stadtteil Scheuern im Mühlbachtal mit den umliegenden Wäldern und der Burg Nassau. Aufgrund der Größe der Anlage dominiert die Einrichtung das Ortsbild Scheuerns. Im Norden und Osten begrenzt der Mühlbach das Gelände der Einrichtung, in die man über eine Brücke gelangt. Die Anlage der Stiftung dehnt sich von einem Tal im Nordosten bis auf einen Höhenzug im Westen aus. Im Süden begrenzen die Friedhofstraße und die Straße Am Schimmerich die Anlage.
Kern der Anlage ist ein Karree mit dem Haus am Bach, dem Haus Bodelschwingh, dem Weißen Haus, dem Schlösschen, dem Alten Haus und dem Casino (mit Zentralküche), den ältesten Gebäuden. Sie stehen unter Denkmalschutz.
Außerhalb des Zentralbereichs befinden sich weitere wesentliche Bestandteile der Stiftung Scheuern. Dies sind am Standort Nassau das Wohnheim Lahnberg mit insgesamt sechs Häusern, das Wohnhaus Neuzebachweg, das in der Stadtmitte gelegene Wohnhaus Gerhart-Hauptmann-Straße, ein Geschäft für Orthopädie-Schuhtechnik sowie die Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) im Mühlbachtal. Am Standort Singhofen ist die Stiftung mit einer weiteren Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) vertreten. In Bad Ems unterhält sie das Elmar-Cappi-Haus, bei dem es sich um ein Wohnhaus für Menschen mit erworbener Hirnschädigung handelt, sowie ein Wohnhaus für Menschen mit geistiger Behinderung, eine Beratungsstelle für Menschen mit psychischer Erkrankung, einen Berufsintegrationsservice, ein Montage- und Dienstleistungszentrum mit Druckerei und einen Eine-Welt-Laden. Am Standort Nastätten befinden sich zwei Wohnhäuser für Menschen mit Behinderung und ein Eine-Welt-Laden, am Standort Laurenburg ein Wohnhaus und eine Tagesförderstätte und am Standort Hillscheid ein CAP-Markt, der unter anderem sechs Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bietet. Hinzu kommt das Hofgut Mauch in Misselberg, ein Obstbaubetrieb mit integriert-kontrolliertem Anbau.
== Organisation ==
Die Stiftung Scheuern ist eine Einrichtung der Behindertenhilfe. Sie unterbreitet Angebote im Sinne von Assistenz, Begleitung und Förderung, die sich am individuellen Hilfebedarf orientieren. Zur Qualitätssicherung kommt dabei das Verfahren zur Gestaltung der Betreuung von Menschen mit Behinderung (GBM) zur Anwendung.Die Stiftung Scheuern setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können und ein selbstbestimmtes Leben führen.
Die Stiftung Scheuern ist Mitglied im Diakonischen Werk Hessen und Nassau e. V., im Bundesverband der Evangelischen Behindertenhilfe sowie im Bundesverband Stiftungen.
Sie bietet 650 differenzierte Wohnplätze, ergänzt durch ambulante Angebote wie das Betreute Wohnen. In der Langauer Mühle, Werkstatt für behinderte Menschen, werden circa 180 Arbeits- und Ausbildungsplätze angeboten. In der Tagesförderstätte werden Menschen betreut, die durch Art und Schwere ihrer Behinderung nicht in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig sein können.
Die Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) der Stiftung Scheuern ist seit 1977 staatlich anerkannt und seither eine wirtschaftlich selbständige Einrichtung innerhalb der Stiftung.
In den Werkstätten der verschiedenen Standorte finden rund 430 Menschen angemessene Beschäftigung im Rahmen der Teilhabe am Arbeitsleben. Zum Teil haben die Beschäftigten ihren Lebensmittelpunkt in den Wohnangeboten der Stiftung; andere suchen ihren Arbeitsplatz als Pendler auf.
== Geschichte ==
=== Die Gründung als Rettungshaus für verwahrloste streunende Buben ===
Die Mitte des 19. Jahrhunderts war geprägt von den sozialen und gesellschaftlichen Umbrüchen der Industrialisierung. Die klassischen Familienverhältnisse zerbrachen, traditionelle Dorfgemeinschaften lösten sich auf. Als Folge waren viele Kinder und Jugendliche mit Armut und Obdachlosigkeit konfrontiert. Einige Städte gründeten Rettungshäuser, um diesen „verwahrlosten Knaben“ ein Heim anzubieten und sie dort zu „tüchtigen Bürgern“ aufzuziehen.Besonderen Anteil an der Gründung des Rettungshauses hatten der evangelische Kaplan Burchardi, der Lehrer Reichard und Gräfin Henriette von Giech. Letztere war eine Tochter des Reichsfreiherrn vom und zum Stein und wurde von Burchardi für seinen Plan der Gründung eines Rettungshauses etwa zwei Jahre nach dem 1848 abgehaltenen 1. Wittenberger Kirchentag gewonnen. Entscheidend für die Geschichte der Heime Scheuern war dieser Kirchentag, da Johann Hinrich Wichern dort einen Vortrag hielt und für die Gründung von Rettungshäusern warb. Beeindruckt von diesem Vortrag betrieb Burchardi die Gründung eines solchen Hauses in Nassau. Aus Wicherns Vortrag resultierte 1848 ferner die Gründung des Centralausschusses für Innere Mission, einer Dachorganisation für viele vergleichbare Organisationen und Initiativen.Es gründete sich ein Verein mit dem Ziel, das Rettungshaus einzurichten und zu betreiben und dafür Spenden zu sammeln. Der Lehrer H. Reichard, ein Freund Burchardis, stellte sein Schulhaus in Hömberg als Unterkunft zur Verfügung, in das am 18. Oktober 1850 der erste Junge einzog.
Schon im Folgejahr ermöglichte Gräfin von Giech den Umzug des Rettungshauses in das Schloss Langenau zwischen Obernhof und Nassau. Die notwendigen Baumaßnahmen hatte Eduard Zais geleitet.
1865, zwanzig Jungen waren inzwischen im Rettungshaus beheimatet, starb die Gräfin von Giech. Im gleichen Jahr gelang es dem Verein, das Schlösschen in Scheuern mitsamt einer Mühle und einigem Grundbesitz zu erwerben. Das Schlösschen, Kerngebäude der Heime Scheuern, basiert auf einer kleinen Wasserburg, die 1596 für die Gräfin Maria von Nassau-Idstein als Witwensitz errichtet wurde. Von 1607 an bewohnte sie dieses Schloss. Der Verein musste sich für diese Erwerbungen erheblich verschulden, was die Arbeit deutlich erschwerte. Der Vereinsvorstand bat Johann Hinrich Wichern um Hilfe. Dieser entsandte einen seiner erfahrensten Mitarbeiter nach Scheuern, Moritz Desiderius Horny.
=== Vom Rettungshaus zur Anstalt für Blödsinnige ===
Von 1863 an fungierte Horny als Hausvater. Unter dem Eindruck, dass sich im Regierungsbezirk Wiesbaden einige Rettungshäuser entwickelt hatten und faktisch ein Überangebot vorlag, es aber keine einzige Einrichtung für geistig behinderte Menschen gab, wurde die Ausrichtung der Einrichtung verändert.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stand im Zeichen eines sozialen Umbruchs. So wuchs infolge von Landflucht im Zeitraum zwischen 1871 und 1910 die Bevölkerung Frankfurts um 355 %, Wiesbadens um 207 % und Offenbachs um 148 %. Für die meist am Existenzminimum lebenden Arbeiterfamilien bedeutete die Unterbringung behinderter Familienmitglieder in einer Anstalt eine erhebliche Erleichterung, zumal durch die Änderung des Unterstützungswohnsitzgesetzes ab 1892 der Landeshauptmann die Kosten der Unterbringung übernahm.
Von 1869 an wurden als Aufgaben festgelegt, zum einen „bildungsfähige Blödsinnige“ zu erziehen und zu heilen, zum anderen „bildungsunfähige Blödsinnige“ zu pflegen und zu verwahren. Explizit wurde in den Statuten von 1872 festgehalten, dass es sich bei den Heimen Scheuern um eine evangelische Einrichtung handelte und sich daher alle Mitarbeiter auch zur evangelischen Konfession bekennen mussten. Demgegenüber wurden auch Zöglinge anderer Konfessionen aufgenommen, die gemäß ihrer Konfession religiös unterwiesen wurden.
=== Entschuldung und Ausbau ===
Eine besondere Leistung Hornys war die Entschuldung der Anstalt, die von 1878 auch einen eigenen Anstaltsarzt beschäftigte. Gleichzeitig wurde sie kontinuierlich erweitert. Zwischen 1870 und 1886 wurden 1225 Aufnahmeanträge gestellt, von denen 807 aufgrund von Platz- und Personalmangel abgelehnt werden mussten. Um dieser Nachfrage zu begegnen, wurden 1875 das Knabenhaus (heute Altes Haus) und 1888 die Langauer Mühle hinzugekauft. Auch Neubauten wurden veranlasst: 1886 das Mädchenhaus (heute Weißes Haus) und 1895 das Rote Haus (heute Haus Bodelschwingh).Parallel hierzu wurden Arbeits- und Werkstätten eingerichtet, die sowohl zu schulischen als auch zu wirtschaftlichen Zwecken genutzt werden konnten. Unter anderem gab es eine Schreinerei, eine Korbflechterei, eine Schneiderei, eine Strohflechterei und eine Bäckerei. Auch Viehzucht und Landwirtschaft waren ein wesentlicher Faktor der wirtschaftlichen Basis der Heime Scheuern.
Entscheidend für die Heime Scheuern wie auch für viele andere Anstalten vergleichbarer Art war die Änderung des Unterstützungswohnsitzgesetzes ab 1892, da von diesem Zeitpunkt an der Landeshauptmann die Kosten der Unterbringung behinderter Familienmitglieder übernahm. Dies festigte die wirtschaftliche Basis deutlich und machte die Anstalt unabhängiger von Spenden.
Verstärkter staatlicher Kontrolle war ab Beginn des 20. Jahrhunderts der Schulbetrieb ausgesetzt. 1902 wurde erstmals ein Lehrplan ausgearbeitet, wie er regierungsseitig gefordert wurde. Von 1905 an wurde der Name Anstalt Scheuern verwendet.
=== Der Erste Weltkrieg und die Folgejahre ===
Die Jahre des Ersten Weltkriegs von 1914 bis 1918 waren sehr schwierig, da die öffentlichen Zuschüsse drastisch sanken, während die Kosten für die Nahrungsmittelversorgung stiegen. Die Existenz der Anstalt war trotz der Aufnahme von Krediten gefährdet. Mangelernährung herrschte vor und die Sterblichkeitsrate der Bewohner stieg deutlich.
Von 1919 an nannte sich die Anstalt Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Scheuern. Da im Krieg die Belegung des Heims stark zurückgegangen war, wurde 1920 in der Langauer Mühle ein Kindererholungsheim für die Stadt Offenbach eingerichtet. 1927 zog dieses Erholungsheim auf den Lahnberg um. Am 29. Oktober 1920 verstarb Direktor Karl Todt. Die Leitung übernahm sein Sohn Karl Todt jun.
1928 wurde der erste ausgebildete Sonderschullehrer eingestellt. Die Anstalt gliederte sich 1931 in vier Bereiche: das Heim für schwer erziehbare Kinder, das Pflegeheim Langau für ältere Behinderte, die Bildungsanstalt für geistig zurückgebliebene und epileptische Knaben und Mädchen mit Schule, Werkstätten und dem landwirtschaftlichen Lehrlingsheim am Hof Mauch und dem Erholungsheim auf dem Lahnberg.
=== Die Heime Scheuern im Nationalsozialismus ===
==== Entkonfessionalisierung und Gleichschaltung ====
Als Einrichtung der Inneren Mission war der unmittelbare Zugriff der staatlichen Stellen auf die Anstalt Scheuern vorerst nicht möglich. Während andere Anstalten wie beispielsweise der Kalmenhof in Idstein sehr rabiat und schnell übernommen wurden, dauerte dies bei den Einrichtungen der Inneren Mission länger. Trotzdem war der Einfluss des Nationalsozialismus auch schon in der Zeit vor der faktischen Übernahme zu spüren. Zwangssterilisationen wurden durchgeführt, Wehrsportübungen und freiwillige Arbeitsdienste organisiert; die Erziehungsarbeit richtete sich nach dem Vorbild eines Arbeitslagers, die Strafen für Verstöße gegen die Anstaltsordnung nahmen deutlich zu.
1937 meldete Landeshauptmann Wilhelm Traupel, Vorsitzender des Landesfürsorgeverbandes, den Anspruch auf die Führerschaft aller Einrichtungen an, in denen Menschen auf Kosten seiner Behörde untergebracht waren. Als er in der Anstalt Scheuern auf Widerstand traf, drohte er damit, ein der Anstalt gewährtes Darlehen zu kündigen und alle Bewohner zu verlegen, deren Unterbringung seine Behörde bezahlte. Eine solche Maßnahme hätte wahrscheinlich den wirtschaftlichen Ruin der Anstalt Scheuern bedeutet.
Es wurde eine neue Satzung, basierend auf dem Führerprinzip, verabschiedet, das Vorstandsgremium abgeschafft und durch einen Einzelvorstand, den Fürsorgereferenten und SS-Hauptsturmführer Fritz Bernotat, ersetzt. Anstaltsleiter blieb Karl Todt.
Geprägt war dieser Führungswechsel von der Entscheidung des Vorstandes der Anstalt, sich der Weisung des Centralausschusses zu widersetzen und eigenmächtig eine Satzungsänderung zu veranlassen. Todt begründete diese Entscheidung unter anderem mit dem Hinweis auf die finanzielle Abhängigkeit, den drohenden Verlust der Arbeitsplätze und Schaden für die Bewohner durch eine potentielle Entwurzelung. Vermutet wird, dass sich Todt, der im selben Jahr in die NSDAP eintrat, von dieser Konstellation selbst auch Vorteile für seine persönliche Handlungsfreiheit versprochen hatte.Mit den Heimen Scheuern wurde so ein Präzedenzfall geschaffen, der den Centralausschuss der Anstalten der Innern Mission dazu veranlasste anzuweisen, dass künftig die Verhandlungen mit den Behörden durch den Centralausschuss zu führen seien. Gleichartige Übernahmen konnten so an den Anstalten Hephata in Treysa und Nieder-Ramstadt verhindert werden, auch wenn dies mit ausgeprägten wirtschaftlichen Verlusten durch den Abzug der staatlich untergebrachten Kranken verbunden war.
==== Zwangssterilisationen ====
Schon vor der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten und der Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) forderten auch Ärzte konfessioneller Anstalten ein Gesetz, das die Sterilisierung bestimmter behinderter Menschen erlaubte. Zu diesen gehörten auch Anstaltsarzt Anthes und Direktor Todt.
Von 1934 an, also vor der faktischen Übernahme durch die nationalsozialistische Verwaltung, wurden in den Heimen Scheuern Zwangssterilisationen durchgeführt. Mindestens 110 Bewohner wurden dabei in den Jahren 1934 bis 1938 geschädigt. Über das Ausmaß an Zwangssterilisationen in den Folgejahren lassen sich wegen mangelhafter Aktenlage keine Aussagen mehr treffen. Zu vermuten ist einerseits, dass die Zahl der Zwangssterilisationen stark zurückgegangen war, und andererseits, dass die inzwischen eingeübte Praxis nicht mehr erwähnenswert erschien.
Dabei waren im Wesentlichen drei Krankenhäuser für die Sterilisationen zuständig: das Henrietten-Theresien-Stift in Nassau, das Diakonissenheim in Bad Ems und die Landesheilanstalt in Herborn.
==== Der Zweite Weltkrieg ====
Der Zweite Weltkrieg wirkte sich unmittelbar auf das Leben und den Alltag in Scheuern aus. So wurden Teile der Anstalt Scheuern im Krieg als Lazarett für verwundete deutsche Soldaten genutzt, was zu räumlicher Enge führte. Zudem wurde die Versorgung mit Nahrungsmitteln so desolat, dass einige Soldaten ihre Rationen mit den Heimbewohnern teilten, um deren Leid zu mindern.Mit dem Fortschreiten des Krieges wurden mehr und mehr Heimbewohner in der Kriegsproduktion eingesetzt. Zöglinge arbeiteten unter anderem in der Nieverner Hütte, bei Gebrüder Lotz Wagen- und Karosseriebau in Bad Ems, in der Gitter- und Torefabrik Jean Holler in Bad Ems, bei Buderus in Staffel und bei der Reichsbahn in Niederlahnstein.Am 1./2. Februar sowie am 19. März 1945 wurde Nassau von schweren Luftangriffen getroffen. Zöglinge der Anstalt halfen bei der Bergung von vermissten Soldaten, die seinerzeit im Kurhaus untergebracht waren, das als Lazarett diente.Das Ende des Zweiten Weltkriegs kam für die Anstalt am 27. März 1945, als Truppen der US-Armee von Süden über Scheuern nach Nassau vorstießen. Sie erschossen hierbei einen Pflegling, der gerade mit Grabarbeiten auf dem Friedhof beschäftigt war. Der Getötete war einer derjenigen, die dem ersten Transport am 18. März 1941 entkommen konnten. Er war der letzte Tote in der Anstalt Scheuern während der Zeit des Nationalsozialismus.
==== Die Heime Scheuern als Zwischenanstalt ====
Ab Ende 1939 wurden im Rahmen der Aktion T-4 verschiedene Heil- und Pflegeanstalten zu Tötungsanstalten umgebaut. Dort wurden „unnütze Esser“ unter anderem durch Vergasen massenhaft vernichtet. Die Anstalt Scheuern war Zwischenanstalt der Tötungsanstalt Hadamar wie u. a. auch die Anstalten in Andernach, Eichberg in Eltville am Rhein, das Klinikum Weilmünster und der Kalmenhof in Idstein. In Hadamar wurden ab Januar 1941 Tötungen durchgeführt. Funktion der Zwischenanstalten war die „Zwischenlagerung“ der für Hadamar bestimmten Transporte. Das heißt, es sollte sichergestellt werden, dass nur so viele Opfer angeliefert wurden, wie unmittelbar darauf ermordet werden konnten. Sie wurden mit sogenannten Gekrat-Bussen und auch mit der Reichsbahn verlegt.
Von Mitte 1940 an wurden auch an die Anstalt Scheuern Meldebögen zur Selektion verteilt, mit denen die Zöglinge erfasst wurden und die danach an den Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden zurückgeschickt wurden. Dort wurde dann über Leben und Tod entschieden.
Am 18. März 1941 erfolgte der erste Transport von 38 Menschen in die Anstalt Arnsdorf. Ursprünglich war der Transport von 50 Menschen geplant. Als aber die Zusammenstellung erfolgte, stellte sich heraus, dass nur 23 verfügbar waren. So wurden ad hoc 15 weitere Menschen ausgewählt. 31 dieser Menschen wurden schon wenige Tage nach ihrer Ankunft in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein transferiert, wo sie vergast wurden. Ihre Tötung wurde sogar gefilmt.Bis 23. Juli 1941 folgten neun weitere Transporte, allesamt mit dem Ziel Hadamar. Insgesamt wurden mit diesen Transporten 658 Menschen der Ermordung zugeführt. Während der Transport nach Arnsdorf und die ersten vier Transporte nach Hadamar ausschließlich Stammbewohner der Anstalt Scheuern umfassten, wurden mit den anderen fünf Transporten überwiegend sogenannte „Zwischenanstaltspatienten“ deportiert.Am 24. August 1941 gab Adolf Hitler die mündliche Weisung, die Aktion T-4 zu beenden und die „Erwachseneneuthanasie“ in den sechs Tötungsanstalten einzustellen. Diese Weisung beruhte auf den öffentlichen Protesten gegen diese Aktion. Die „Kinder-Euthanasie“ wurde jedoch fortgesetzt, ebenso die dezentrale Tötung behinderter Erwachsener in einzelnen Heil- und Pflegeanstalten.
In der Folge dieser Weisung gab es im Jahr 1942 nahezu keine Verlegungen in Scheuern, obwohl noch rund 300 Zwischenpatienten hier einquartiert waren. Anfang 1943 begannen die Verlegungen erneut. Bis 1945 wurden weitere 717 Menschen nach Hadamar transportiert, von denen 651 meist schon kurz nach ihrer Ankunft dort verstarben.
In weiteren Anstalten wurden sogenannte Kinderfachabteilungen eingerichtet. Im Bereich des Bezirksverbands Hessen-Nassau betraf dies die Anstalten Eichberg und Kalmenhof. Getötet wurde nun nicht mehr durch Vergasungen, sondern durch Medikamentenvergiftungen und gezieltes Verhungern lassen. So ist für die Jahre 1943 bis 1945 bekannt, dass von 141 von Scheuern an den Kalmenhof verlegten Kindern 88 dort ums Leben kamen.Aber auch in Scheuern selbst verstarben 153 Menschen aus den Zwischentransporten, von denen 129 auf dem lokalen Friedhof bestattet sind. Hunger, Kälte, medizinische Unterversorgung und lediglich notdürftige Betreuung waren die Ursachen für die hohe Sterblichkeit. Dokumentiert ist in diesem Zusammenhang in der Anstalt Scheuern auch die Verwendung eines sogenannten Klappsarges, einer Sargkonstruktion, die aufgrund der Häufigkeit der Sterbefälle mehrfach Verwendung finden konnte.
==== Widerstand ====
Direktor Todt versuchte regelmäßig einige langjährige Bewohner der Heime vor dem Abtransport zu bewahren, indem er sie unter anderem in der Anstalt versteckte oder bei Bauern unterbrachte, die deren Arbeitskraft in der Erntezeit benötigten. Mehrfach wurden durch ihn Angehörige von Bewohnern vor einer anstehenden Deportation gewarnt, sodass eine Entlassung vor der Abholung arrangiert werden konnte. Allerdings kam es in diesem Rahmen auch vor, dass Familien die Aufnahme der Zöglinge verweigerten. In einigen Fällen wurden Zöglinge sogar zu Anstaltsmitarbeitern gemacht, um die Deportation zu verhindern. Vom Transportleiter wurden in solchen Fällen aber häufig andere Bewohner zur Deportation ausgewählt.
Heute ist davon auszugehen, dass die Zentraldienststelle T4 den Anstaltsleitern hier stillschweigend einen gewissen Handlungsspielraum einräumte. Durch dieses Zugeständnis wurde die Kooperation vieler Anstaltsleiter gefördert und offener Widerstand verhindert. Tatsache ist aber, dass in Scheuern selbst deutlich weniger Menschen starben als in anderen Anstalten vergleichbarer Größe, die Hadamar als Zwischenanstalt zugeordnet waren.
=== Nachkriegszeit ===
Todt und Anthes wurden nach Kriegsende durch die französischen Besatzungsbehörden verhaftet. Es folgten zwei Verfahren, zunächst am Landgericht Koblenz, in der Berufung am Oberlandesgericht Koblenz. In diesen Verfahren wurden beide rechtskräftig freigesprochen. Erstinstanzlich hielt das Gericht fest, dass die beiden Angeklagten objektiv und subjektiv Schuld auf sich geladen hätten, ihr Handeln aber bestimmt war von dem Willen, noch größeres Unheil abzuwenden. Zweitinstanzlich wurde das Verstecken von Opfern als subversive Tätigkeit gegen die Verbrechen gewertet, während mehr nicht möglich gewesen sei.Nach dem Krieg wurde im Vorstand die weitere Ausrichtung der Anstalt grundlegend diskutiert. Die Frage war, ob man sich in der Erziehungsarbeit wieder an den evangelisch-christlichen Grundsätzen orientieren solle, oder ob allgemeine Wohlfahrtspflege betrieben werden solle. In der Satzung von 1947 wurde die Bindung an die Diakonie und die Evangelische Kirche abschließend klar betont. Mit dieser Satzung wurde der Name Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern geprägt.1956 wurde die mit 430 Plätzen seinerzeit in Rheinland-Pfalz größte Sonderschule für Lernbehinderte an den Heimen Scheuern eingeweiht, die Wichernschule. 1959 folgte die Einweihung des Horny-Hauses. Das Erholungsheim für Kinder auf dem Lahnberg wurde allerdings 1961 geschlossen.Am 21. Februar 1962, ein halbes Jahr nach dem Tod seiner Frau Marie, verstarb Karl Todt jun. im Alter von 75 Jahren.
=== Die Ära Fischer ===
Am 1. Dezember 1963 trat Bernhard Fischer die Nachfolge von Werner Stöhr als Direktor an. Geprägt wurden die 1960er und 1970er Jahre in den Heimen Scheuern von den gesetzlichen Neuerungen, die in dieser Zeit in der Bundesrepublik bezüglich des Lebens und der Arbeit in Heimanlagen eingeführt wurden. Zu nennen sind hier das Heimgesetz, das Schwerbehindertengesetz, das Bundessozialhilfegesetz und die Heim-Mindestbauverordnung. Definiert wurden unter anderem Mindeststandards in Bezug auf den Personalschlüssel und die allgemeine Wohnsituation. In den Heimen machte dies die Ausbildung zu qualifizierten Mitarbeitern notwendig, weswegen ab 1964 ein interner Ausbildungskurs angeboten wurde, der 1967 von der Ausbildung zum Heilerziehungshelfer abgelöst wurde. Parallel wurden die Plätze reduziert.
1973 war so die Anzahl der Angestellten auf 310 gestiegen und hatte sich somit im Vergleich zu 1963 mit 158 Angestellten nahezu verdoppelt. Im gleichen Zeitraum sank die Zahl der Heimbewohner von 847 auf 691.1966 wurde erstmals eine Mitarbeitervertretung gewählt. 1970 erfolgte eine weitere Umbenennung in Heilerziehungs- und Pflegeheime Scheuern.Kontinuierlich wurden die baulichen Anlagen erweitert und neue Wohnmöglichkeiten geschaffen. Von 1975 an wurde das Schloss Laurenburg als Wohnheim für ältere Menschen gepachtet. Umfangreiche Neubauten erfolgten 1967 mit dem Buchardihaus auf Hof Mauch, den Wohnheimen Lahnberg 1977 und den Wohnheimen am Schimmerich 1984.In den 1970er Jahren fand eine erneute Profiländerung der Anstalt statt, da in Rheinland-Pfalz ein flächendeckendes System von Sonderschulen eingerichtet wurde. Entsprechend war ein starker Rückgang der Aufnahmeanträge von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderungen zu verzeichnen. Der Schwerpunkt der Tätigkeit verlagerte sich so auf die Begleitung praktisch bildbarer und schwerstbehinderter Menschen.
In der Folge musste die Wichernschule 1985 geschlossen werden. Demgegenüber wurden umfangreich angemessene Arbeitsplätze geschaffen. 1982 wurde die Langauer Mühle mit 180 Arbeitsplätzen eingeweiht, 1994 folgte die Einweihung der WfbM in Singhofen. 1995 wurde das Haus Rosengarten eingeweiht.
=== Aufarbeitung der Vergangenheit ===
Bis zu einer bewussten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und einem institutionalisierten Gedenken dauerte es in den Heimen Scheuern lange – länger als in den meisten vergleichbaren staatlichen oder diakonischen Anstalten. Vielmehr galten die Heime Scheuern in Forscherkreisen sogar ihre Vergangenheit betreffend als sehr verschwiegen. Verdeutlicht wird dies in den Aussagen von Ute Daub und Ernst Klee bei einem Symposium des Hessischen Landtags am 25. Oktober 1995.Bewusst verleugnet wurde die nationalsozialistische Vergangenheit indes nicht – sie wurde nur nicht thematisiert. So ging bereits eine Filmdokumentation von 1952/53 auf die Rolle der Heime Scheuern ein. In den 1960er Jahren wurden auf dem Friedhof Holzkreuze für die 130 Opfer aufgestellt, die in der Aufenthaltszeit in den Heimen starben und auf dem Friedhof begraben wurden. Diese Kreuze verrotteten allerdings mit der Zeit, wurden abgeräumt und nicht ersetzt.Ab Mitte der 1980er Jahre mehrten sich Anfragen von Forschern zum Schicksal von nach ihrem Zwischenaufenthalt verlegten Patienten. Bei nachgewiesenem wissenschaftlichen Interesse gewährten die Heime Einsicht in ihre Hauptbücher. Allerdings teilte Direktor Fischer noch 1983 mit, dass die Anstalt nicht in besonderem Maß dem staatlichen Zugriff ausgesetzt war, auch wenn die Heime aufgrund der räumlichen Nähe zur Tötungsanstalt Hadamar mehrmals letzter Aufenthaltsort gewesen seien.Mit dem Leitungswechsel 1987, als Herrmann Otto Fuchs von Bernhard Fischer die Leitung der Heime übernahm, änderte sich der Umgang mit der Vergangenheit. Dokumente wurden zusammengetragen, Filmaufnahmen für „Alles Kranke ist Last“ wurden genehmigt. Im Rahmen einer Ausstellung zur Geschichte der Heime wurde in einem Kapitel auch auf die Euthanasieverbrechen eingegangen.Weiteren Impuls erhielt die Aufklärungsarbeit 1997 durch den Fund der Prozessakten Karl Todts. Von nun an wurde gezielt geforscht, um den Weg zum Gedenken an die Opfer zu beschreiten. Dies umfasste unter anderem Zeitzeugengespräche mit überlebenden Bewohnern der Heime, eine Archivierung der vorliegenden Unterlagen, die Einrichtung einer Ausstellung und den Beschluss, im Jahr 1999 zur 150-Jahr-Feier ein Mahnmal für die Opfer der Euthanasie-Verbrechen aufzustellen.Von 1999 an wurden Fahrten zur Gedenkstätte in Hadamar ein fester Bestandteil im Fortbildungsprogramm der Mitarbeiter der Heime Scheuern. Am 19. November 2000 wurde das im zentralen Gebäudekarree gelegene Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der Euthanasie eingeweiht.An der Ecke Burgberg/Brückenstraße wurde im Januar 2011 von dem Kölner Künstler Gunter Demnig eine Stolperschwelle in den Gehweg eingelassen. Sie trägt die Inschrift Mehr als 1000 Menschen wurden von den Nationalsozialisten zwischen 1941 und 1945 aus der zur Zwischenanstalt umfunktionierten Landesanstalt Scheuern in andere ‚Heilanstalten‘ überwiesen und dort ermordet. Die meisten in Hadamar.Vor dem Hintergrund der problematischen Stellung Karl Todts zur NS-Zeit, seiner Verantwortung für die Geschehnisse in Scheuern und auch seiner Äußerungen zur Zwangssterilisation hatte man sich seitens des Vorstands der Stiftung entschlossen, zum 27. Januar 2012 – dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – dem Karl-Todt-Haus wieder seinen ursprünglichen Namen Haus Lahnberg zu geben.
=== Umbruch und Neuausrichtung für die Zukunft ===
Der von einem Pfarrer begangene sexuelle Missbrauch 2002 in den Heimen Scheuern wurde restlos aufgeklärt. Bei voller Geständigkeit wurde der Pfarrer zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt. Ein kirchliches Disziplinarverfahren schloss sich an.Seit 1997 werden alternative Wohnformen kontinuierlich ausgebaut. Derzeit unterhält die Stiftung Scheuern zwei dezentral gelegene Wohnhäuser in Bad Ems, von denen eines auf Menschen mit geistiger Behinderung und eines speziell auf Menschen mit erworbener Hirnschädigung ausgerichtet ist. Hinzu kommen zwei Wohnhäuser in Nastätten und zwei in Nassau. Weitere Wohnhäuser, zum Beispiel in der Kreisstadt Montabaur im Westerwaldkreise, sind geplant. Hintergrund dieser Dezentralisierung ist das gesellschaftliche Modell der Inklusion.
Im Zug dieser Neuausrichtung wurde vom Vorstand Anfang 2011 eine Satzungsänderung beschlossen, die die Umbenennung in Stiftung Scheuern zur Folge hatte. Eine weitere Satzungsänderung folgte Anfang 2015: An die Stelle des bisherigen Direktors trat der Vorstand, der die Geschäfte der Stiftung Scheuern führt und die Gesamteinrichtung in eigener Verantwortung führt. Der bisherige Vorstand wurde durch einen sieben- bis neunköpfigen Stiftungsrat ersetzt. Dieser ist das oberste Stiftungsorgan, das den Vorstand bei seiner Arbeit überwacht, berät und begleitet.
Im August 2012 hat die Inklusa gGmbH, eine hundertprozentige Tochter der Stiftung Scheuern, in der Westerwald-Gemeinde Hillscheid einen zirka 1000 Quadratmeter großen CAP-Lebensmittelmarkt eröffnet, der unter anderem sechs Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bietet.
== „Bescheuert sein“ ==
Der Philologe und Volkskundler Lutz Röhrich brachte den Begriff „bescheuert sein“ in Zusammenhang mit den Heimen Scheuern und den dort lebenden geistig behinderten Menschen. Diese Annahme gilt allerdings als unwahrscheinlich. Vermutlich steht der Begriff im Zusammenhang mit einer Schlaghandlung wie dem Ohrfeigen.
== Literatur ==
Stadt Nassau (Hrsg.): Ursprung und Gestaltung – Geschichte und Geschichten. 1997.
Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation (Hrsg.): Psychiatrie im Dritten Reich – Schwerpunkt Hessen. Klemm&Oelschläger, Ulm 2002, ISBN 978-3-932577-51-2.
Peter Sandner: Verwaltung des Krankenmordes – Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus. In: Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen – Hochschulschriften. Band 2, Psychosozial-Verlag, Gießen 2003. (Online-Zugriff, PDF-Datei)
Bernhard Fischer: Heime Scheuern 1963–1987. Heime Scheuern, Montabaur 1987.
Heime Scheuern (Hrsg.): „Vergiss mich nicht und komm …“. 2000.
LG Koblenz, 4. Oktober 1948. In: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. III, bearbeitet von Adelheid L. Rüter-Ehlermann, C. F. Rüter. Amsterdam : University Press, 1969, Nr. 88, S. 249–272 Mitwirkung am 'Euthanasieprogramm' durch Weiterleitung von Zwischentransporten zur Vernichtung bestimmter Geisteskranker, durch Ausfüllen von Meldebögen und Auflistung arbeitsunfähiger Patienten
== Weblinks ==
Website der Stiftung Scheuern
http://www.stiftung-scheuern.de/index.php?id=196 (Link nicht abrufbar)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Stiftung_Scheuern
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Stuttgarter Schuldbekenntnis
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= Stuttgarter Schuldbekenntnis =
Mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis oder der Stuttgarter Schulderklärung (Originaltitel: Schulderklärung der evangelischen Christenheit Deutschlands) bekannte die nach dem Zweiten Weltkrieg gebildete Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) erstmals eine Mitschuld deutscher evangelischer Christen an den Verbrechen des Nationalsozialismus.
Die EKD-Ratsmitglieder Hans Christian Asmussen, Otto Dibelius und Martin Niemöller verfassten die Erklärung gemeinsam auf einer Ratstagung in Stuttgart und verlasen sie dort am 19. Oktober 1945. Die Autoren hatten schon in der Bekennenden Kirche Leitungsämter bekleidet. Die Erklärung ging aus ihren Einsichten über das Versagen der evangelischen Kirchenleitungen in der Zeit des Nationalsozialismus hervor, die sie im Kirchenkampf und nach Kriegsende gewonnen hatten. Anlass war der Besuch hochrangiger Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), die bereit waren, sich mit den Deutschen zu versöhnen und die EKD aufzunehmen. Dazu erwarteten sie von deren Vertretern ein glaubwürdiges Schuldbekenntnis. Mit der Erklärung kamen die Autoren dieser Erwartung nach und öffneten der EKD den Weg zu ökumenischer Gemeinschaft und verstärkter Hilfe für die notleidenden Deutschen.
Der Text war ein Kompromiss aus vorherigen persönlichen Schulderklärungen und Vorentwürfen der Autoren. Sie wollten zuerst ihre eigene Schuld, dann die der evangelischen Christen, dann auch die der Deutschen benennen, jedoch nicht im Sinne einer Kollektivschuld. Die Veröffentlichung des Textes löste heftige Kontroversen in der EKD und der deutschen Bevölkerung aus, bildete langfristig aber den Ausgangspunkt einer Neubesinnung des deutschen Protestantismus.
== Wortlaut ==
Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland gegenüber den Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen
Stuttgart, den 18./19. Oktober 1945Die Unterzeichner waren neben den drei Autoren:
Theophil Wurm, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Württemberg
Hans Meiser, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern
Heinrich Held, Pfarrer in Essen, später Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland
Johannes Lilje, Generalsekretär des Lutherischen Weltkonvents, später Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers
Hugo Hahn, Pfarrer, später Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens
Wilhelm Niesel, Pfarrer, später Theologieprofessor und Präses des Reformierten Bundes
Rudolf Smend, Professor, Staats- und Kirchenrechtler
Gustav Heinemann, Rechtsanwalt, Synodaler, Laienvertreter, später Bundespolitiker und Bundespräsident
== Vorgeschichte ==
=== Kirchenkampf ===
Die Deutsche Evangelische Kirche (DEK) hatte sich 1934 nicht am Verhältnis zum Nationalsozialismus gespalten. Fast alle späteren Unterzeichner der Stuttgarter Erklärung hatten Adolf Hitlers Kanzlerschaft begrüßt, zu fast allen Verfolgungs- und Terrormaßnahmen der Nationalsozialisten vor 1939 geschwiegen, die Eroberungskriege des NS-Regimes, beginnend mit dem Überfall auf Polen, unterstützt und nur in einigen die Kirche betreffenden Teilbereichen gegen Maßnahmen des Regimes Stellung bezogen. Dabei hatte auch die Bekennende Kirche (BK) ihre grundsätzliche Staatstreue ständig bekundet und mit Ergebenheitsadressen – bis hin zu einem freiwilligen Führereid der Pastoren 1937 – versucht, sich gegenüber den Deutschen Christen (DC) und staatlichen Dienststellen zu behaupten.
Im Kirchenkampfverlauf erkannten jedoch einige BK-Vertreter den Unrechtscharakter des Regimes, das sie um des organisatorischen Erhalts der Kirche willen bejaht hatten. Am 19. September 1938 rief der aus Deutschland ausgewiesene Schweizer Theologe Karl Barth alle Tschechen auf, dem Hitlerregime im Falle einer Besetzung der Tschechoslowakischen Republik aus christlicher Verantwortung bewaffneten Widerstand zu leisten. Er folgerte dies aus der Barmer Theologischen Erklärung, dem von ihm 1934 verfassten Glaubensbekenntnis, auf dessen Basis die BK im Juni 1934 gegründet worden war. Die „Vorläufige Kirchenleitung“ der BK (VKL) distanzierte sich sofort von diesen „für sie untragbaren Äußerungen“, in denen nicht mehr der Theologe, sondern der Politiker Barth rede.
Am 27. September 1938, auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise, schlug die zweite VKL unter dem Dahlemer Pfarrer Fritz Müller ihren Pastoren vor, „anlässlich drohender Kriegsgefahr“ im folgenden Sonntagsgottesdienst ein Schuldbekenntnis am Maßstab der Zehn Gebote zu verlesen:
Zwei Tage darauf schien das Münchner Abkommen die Kriegsgefahr gebannt zu haben. Die meisten Pastoren verlasen den Gebetsvorschlag nicht mehr, sofern die lutherischen Kirchenleitungen diesen überhaupt an sie weitergeleitet hatten.
Am 27. Oktober griff Das Schwarze Korps, die Zeitschrift der SS, die VKL wegen Landesverrats an: „Politisierende Kleriker und ihre Klüngel“ hätten den „Kampf um die Freiheit von Millionen Blutsbrüdern“ vor „bolschewistischer Vernichtung“ als „Strafe Gottes“ hingestellt und nicht für den Führer, sondern nur für fremde Regierungen gebetet. Das sei Sabotage an der „geschlossenen Einsatzbereitschaft des Volkes“, dessen Sicherheit die „Ausmerzung der Verbrecher“ zur Staatspflicht mache. Daraufhin suspendierte Kirchenminister Hanns Kerrl die VKL-Mitglieder, sperrte ihre Gehälter und bestellte die lutherischen Landesbischöfe ein, worauf diese sich alle aus „religiösen und vaterländischen Gründen“ eilig von der VKL distanzierten und deren Mitglieder aus der Kirchengemeinschaft ausschlossen. Nur die Landesbruderräte solidarisierten sich mit der völlig isolierten VKL und wurden daraufhin ebenfalls kirchenrechtlich diszipliniert. Dies beendete die zuvor laufenden Einigungsbemühungen der sogenannten „intakten“ Landeskirchen mit Staatsbehörden und BK-Vertretern.
Kurz darauf schwiegen deren Bischöfe ausnahmslos zu den Novemberpogromen. Nur einzelne Christen wagten öffentlich Protest, noch weniger leisteten Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Dietrich Bonhoeffer etwa nahm seit 1937 auf eigene Verantwortung als Christ an konspirativen Attentats- und Putschplänen teil. Nach Hitlers siegreichem Frankreichfeldzug 1940 verfasste er in seiner Ethik ein stellvertretendes Schuldbekenntnis für die ganze evangelische Kirche. Er stellte das Schweigen der Kirche zu staatlicher Gewalt gegen die wehrlosen Juden und andere Minderheiten heraus, so dass sich im Angesicht Jesu Christi jeder Seitenblick auf die Schuld anderer verbiete. Doch nach seiner Inhaftierung 1943 ließen die Fürbitten der BK Bonhoeffer bis nach Kriegsende 1945 unerwähnt.Hans Asmussen, der die Barmer Erklärung im Sinne der Zwei-Reiche-Lehre als strikte Trennung von Glaube und Politik interpretierte, sandte im Dezember 1942 einen Brief an den ÖRK, in dem er als Vertreter der BK das „Bewusstsein deutscher Schuld“ aussprach.
=== Innenpolitische Situation ===
Nach Kriegsende war die Lebenssituation in großen Teilen Europas äußerst schwierig. Wohnraum und Infrastruktur waren besonders in den deutschen Großstädten vielfach zerstört. Es mangelte überall an wichtigen Lebens-, Arznei- und Heizmitteln, Bekleidung und Krankenhäusern. Schwerstarbeit beim Schuttaufräumen, hohe Säuglingssterblichkeit, Krankheiten wie die Ruhr, Demontagen, Zustrom von Millionen Flüchtlingen und Kriegsgefangenschaft weiterer Millionen belasteten die Deutschen. Die Nahrungsrationen reichten nur zur Abwehr von Hungerkatastrophen aus.In dieser Notlage konzentrierten sich die meisten Deutschen auf ihr Überleben. Eine Rückbesinnung auf das eigene Verhalten in der NS-Zeit und politische Neubesinnung fanden zunächst kaum statt. Mit den Juden schien auch die „Judenfrage“ verschwunden, so dass der Antisemitismus sich nur noch wenig bemerkbar machte und bis zur Gründung der Bundesrepublik auch kaum öffentlich debattiert wurde.
Viele Deutsche empfanden das Potsdamer Abkommen angesichts der Vertreibungen als schlimmere Neuauflage des Versailler Vertrags. Die ersten Direktiven zur Umerziehung (reeducation) und Entnazifizierung wirkten wegen ihrer Gleichbehandlung von einfachen Mitläufern und Führungskadern der NSDAP ungerecht und bewirkten vielfach Denunziationen. Auch die Angst vor sowjetischer Besetzung ganz Deutschlands spielte bereits eine Rolle, zumal Gewalttaten der Roten Armee schon bekannt bzw. die im Hitlerdeutschland systematisch geschürte Angst davor in der Bevölkerung noch präsent waren.
Auf diesem Hintergrund zögerten die Kirchenführer, die schon im Dritten Reich Hitlers Antikommunismus unterstützt hatten, ein öffentliches Schuldbekenntnis auszusprechen. Sie fürchteten, den Besatzungsmächten damit nur Argumente für umso härtere Vergeltungsmaßnahmen zu liefern.
=== Neubildung der EKD ===
Am Himmelfahrtstag 1945 (10. Mai), zwei Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, fand in Stuttgart die erste Großkundgebung der evangelischen Kirche statt. Vor einer großen Menge verkündete der württembergische Landesbischof Wurm als „Sprecher der ganzen Bekennenden Kirche in Deutschland“ im Beisein des Generals der französischen Besatzungstruppen:
Er wies die Schuld an Krieg und Völkermord der „Gottlosigkeit“ des NS-Regimes und seiner „Abkehr von Gott und seinen Lebensordnungen“ zu. Die Kirche habe diesen „Säkularismus“ bekämpft. Tatsächlich hatten gerade Wurm und die übrigen lutherischen Landesbischöfe im Hitlerstaat die „von Gott gesetzte Ordnung“ erblickt und die Christen im Mai 1939 angewiesen, „sich in das völkisch-politische Aufbauwerk des Führers mit voller Hingabe einzufügen.“ Statt Protest gegen den Krieg folgten seit Kriegsbeginn demgemäß gemeinsame Aufrufe von Bekennenden und Deutschen Christen zur Opferbereitschaft. Seit 1941 versuchte Wurm, BK, DC, „Neutrale“ und „intakte“ Landeskirchen unter dem Dach seines „Kirchlichen Einigungswerkes“ zu vereinen. Nur den radikalsten Flügel der „Neuheiden“ wollte er ausschließen.So traten die ungelösten Konflikte um Glauben, Gestalt und Aufgabe der Evangelischen Kirche nun wieder hervor. Die erste Initiative zur Bildung einer Deutschen Lutherischen Nationalkirche nach dem Modell der DEK ergriff August Marahrens, der Bischof der Hannoverschen Landeskirche, am 30. Mai 1945 mit einem Schreiben an den noch bestehenden Lutherrat. Dies löste heftige Proteste seitens des ÖRK aus, der darauf hinwies, dass Marahrens 1939 mit den Godesberger Thesen die Vereinbarkeit von nationalsozialistischer Ideologie und christlichem Glauben unterzeichnet hatte.
Am 8. Juni 1945 lud Wurm die bestehenden Kirchenleitungen nach Treysa zur Gründungsversammlung einer neu zu bildenden Evangelischen Kirche ein, wobei er den Reichsbruderrat der BK überging. Daraufhin lud Martin Niemöller, KZ-Überlebender und im Ausland als glaubwürdig angesehener Vertreter der BK, seinerseits die Bruderräte der BK zu einem Vorbereitungstreffen für Treysa nach Frankfurt am Main ein. Er bat auch Karl Barth brieflich um Teilnahme und theologischen Rat. Barth sagte sofort zu und reiste erstmals seit seiner Zwangsentlassung 1935 wieder nach Deutschland.
In Frankfurt betonte Niemöller in seinem Einleitungsreferat am 21. August die Schuld der ganzen Kirche an der „Entwicklung der letzten 15 Jahre“ und forderte, die Evangelische Kirche mit unbelasteten Kräften auf der Beschlussbasis der Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem 1934 völlig neu aufzubauen. Als einziger der in Frankfurt anwesenden Bruderräte analysierte Barth das politische Versagen der BK im Dritten Reich und führte es auf die lange antidemokratische Fehlorientierung des deutschen Protestantismus zurück:
Er erntete dafür unter seinen deutschen Freunden nur Empörung, eine Aussprache über sein Referat unterblieb.
Niemöllers anschließender Briefwechsel mit Wurm konnte tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über die künftige Gestalt der EKD nur teilweise ausräumen. Niemöller warf z. B. Dibelius vor, er habe sich den Bischofstitel unrechtmäßig zugelegt, um kirchenpolitisch Karriere zu machen. Die Landeskirchenverfassungen seien aufzuheben, die Landesbischöfe seien als geistliche Leiter der Christen ungeeignet.Das Treffen zur Bildung einer provisorischen Kirchenleitung in Treysa vom 27. bis 31. August leitete Niemöller mit einem Vortrag ein, in dem er zunächst ein persönliches Schuldbekenntnis aussprach, zu dem er in der KZ-Haft gelangt war. Dann stellte er die besondere Verantwortung der BK für die NS-Katastrophe heraus:
Diese Einsichten wollte Niemöller als „Wort an die Pfarrer“ allen Predigern nahebringen, doch dies lehnten die in Treysa versammelten Kirchenführer ab. Stattdessen wurde ein „Wort an die Gemeinden“ verabschiedet, in dem es hieß:
Hier wurde also keine besondere Schuld der BK benannt, sondern die gesamte Kirche als Lobby für die vom NS-Regime Entrechteten dargestellt, deren Protest durch staatliche Verfolgung nicht habe wirksam werden können. Im Widerspruch dazu redete die Abschlusserklärung vom Versagen der Kirche aufgrund traditioneller lutherischer Bejahung des Obrigkeitsstaates.
Die Einheit der EKD wurde in Treysa nur gewahrt, indem die konfliktträchtige Frage nach der dem Barmer Bekenntnis gemäßen Kirchenverfassung offen gelassen wurde. Das kirchliche Außenamt unter dem Bischof Theodor Heckel, der DC-Positionen vertreten hatte, wurde aufgelöst und die Pflege der ökumenischen Beziehungen wurde Niemöller übertragen.
Barth war in Treysa nur Gast; viele Kirchenvertreter sahen ihn nicht als Delegierten der BK, sondern wie 1938 als reformierten Ausländer und denunzierten ihn teilweise als „Oberinspektor der alliierten Armeen“. Er bekräftigte in einem Brief an Niemöller am 28. September, was er vor dem Treffen öffentlich mehrfach erbeten hatte: Ein einfaches, klares Wort aller deutschen Kirchenführer zu ihrer Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus sei notwendig, um einmal ohne Umschweife aus[zu]räumen, was zwischen ihnen und uns steht. Um den hilfsbereiten Kräften in der Ökumene entgegenzukommen, sollten sie öffentlich erklären:
die Zustimmung des deutschen Volkes zur Politik Hitlers sei ein Irrweg gewesen,
die gegenwärtigen Nöte Deutschlands und Europas seien eine Folge dieses Irrtums,
die deutsche evangelische Kirche habe sich durch falsches Reden und falsches Schweigen an diesem Irrtum mitverantwortlich gemacht.
=== Erste Schulderklärungen nach 1945 ===
Nach der bedingungslosen Kapitulation aller deutschen Streitkräfte am 8. Mai 1945 äußerte sich Pastor Friedrich Bodelschwingh mit einer Predigt am 27. Mai 1945 als Erster zur Schuldfrage:
Asmussen sandte Anfang Juni eine Predigt an den anglikanischen Bischof George Bell, in der es hieß:
Das blieben jedoch zunächst Einzelstimmen. Für die Gesamtkirche entwarf Bischof Wurm im Juli ein „Wort an die Christenheit im Ausland“, das erst Monate später zusammen mit der Stuttgarter Erklärung veröffentlicht wurde. Darin gestand er die Schuld der Deutschen am Kriegsausbruch ein, wies aber den Siegermächten zugleich die Verantwortung dafür zu, dass Hitler überhaupt zur Macht gelangen konnte. Er sah die Kirche in der Opferrolle, die nur unter Lebensgefahr Protest wagen konnte:
Hier wurden drei später immer wiederkehrende Argumentationsmuster deutlich:
Die Kirche wurde so dargestellt, als habe sie als Ganze wenigstens manchmal gegen Unrecht protestiert, sei aber vom Staat daran gehindert worden. Verschwiegen wurde, dass meist nur einzelne Protestanten, selten Kirchenleitungen, Rechtsbruch benannt hatten und noch weniger dagegen aufgestanden waren.
Die Staatsmaßnahmen gegen die Kirche und die Beschneidung ihres öffentlichen Einflusses wurden mit dem Judenmord in einer Reihe aufgezählt. So sah man sich eher als Opfer neben Opfern, nicht als Mitverursacher des Holocaust. Das Wort sollte erklären, weshalb die Kirche dazu nichts sagen konnte. Dass die Bischöfe selbst kritische Erklärungen der VKL häufig nicht weitergaben und sich von deren Autoren lossagten, wurde nicht als Schuld erkannt.
Eine spezifische Schuld der Kirche kam nicht vor. Ihren Anteil am Aufstieg der Nationalsozialisten und den Zusammenhang zwischen kirchlichem Antijudaismus und Antisemitismus reflektierte Wurm nicht. Stattdessen redete er in traditioneller Solidarisierung mit dem Nationalismus über die Kränkung der „deutschen Ehre“.Dem standen Privatinitiativen einiger Pastoren gegenüber. So sandte Gottlieb Funcke an Bischof Wurm einen Entwurf für das Stuttgarter Treffen, der die deutsche Schuld nicht durch Hinweise auf alliierte Schuld relativierte und den Verbrechen an den Juden den ersten und ausführlichsten Platz einräumte:
Danach zählte er die Vernichtungslager auf, in denen Juden ermordet wurden, wies auf „Grausamkeiten gegen deutsche, polnische, russische und vor allem jüdische Menschen“ hin und wies die Berufung auf Unkenntnis der Judenverfolgung zurück:
Funcke sprach die Verantwortung der Deutschen für die Überlebenden des Holocaust an, denen man das Versprechen einer neuen Lebensgemeinschaft unter den „Leitsternen“ von Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit schulde.
=== Ökumenische Erwartungen ===
Die Vertreter der Ökumene hatten im Kirchenkampf auf vielfältige Weise versucht, den Bekennenden Christen und „Nichtariern“ zu helfen und sich dabei nicht selten den Unmut ihrer eigenen Regierungen zugezogen. Sie wollten nun unbedingt verhindern, dass die ökumenische Kirchengemeinschaft erneut wie 1918 die Kriegsschuldfrage ausklammerte und so zu ihrer gesamtpolitischen Verdrängung beitrug. Zugleich wollten sie dazu beitragen, dass die Bevölkerungen der Siegerstaaten einen Neubeginn mit den Deutschen mittragen würden.
Bischof George Bell, dessen Protest im britischen Oberhaus gegen die alliierte Luftkriegsführung 1942/43 ihn das Führungsamt der Church of England gekostet hatte, hatte die Predigt von Friedrich Bodelschwingh am 27. Mai 1945 aufmerksam wahrgenommen und freudig begrüßt:
Im Juli 1945 besuchten hochrangige Vertreter des ÖRK – Hans Schönfeld, Stewart Herman und der emigrierte deutsche Pfarrer Adolf Freudenberg – erstmals die westlichen Besatzungszonen, um die Bereitschaft der deutschen Protestanten zur Aufnahme in die Ökumene zu sondieren. Sie erwarteten, dass die Evangelische Kirche sich einer „Selbstreinigung “ unterziehen und kirchliche Würdenträger wie Marahrens und Heckel, die „ständige Verbeugungen vor den Nationalsozialisten“ gemacht hatten, zum Rücktritt zwingen solle. Denn die Besatzungsbehörden übten in dieser Richtung damals keinen Druck aus, sondern sahen evangelische Kirchenvertreter weithin unkritisch als Vertretung einer innerdeutschen Opposition zum Hitlerregime an.In ihren Berichten registrierten die Besucher die Stimmung unter den Protestanten: Der Theologe Paul Althaus etwa sah die „Nationale Revolution“ von 1933 nach wie vor als legitime Reaktion auf das „Unrecht von Versailles“. Er schrieb in einem Vortrag: „Unsere Führung hat furchtbare Fehler gemacht“, ohne diese zu benennen und ohne eine kirchliche Mitschuld anzudeuten. Sodann ging er nahtlos zum „Vertreibungsunrecht der Alliierten“ über, das er sehr konkret darstellte und daran die Frage anschloss, ob die Deutschen nun aus einem unbegreiflichen Willen Gottes heraus unter einen vergleichbaren „Fluch“ wie die Juden geraten seien. Deshalb sahen die Ökumenevertreter Christen, die wie Niemöller seit Monaten vor dem Stuttgarter Treffen unaufgefordert, öffentlich und rückhaltlos eigene Schuld bekannten, als ihre vorrangigen Gesprächspartner an.
Am 24. Juli schrieb der Generalsekretär des ÖRK, Willem Adolf Visser ’t Hooft, an George Bell und bat ihn, auf die Briten einzuwirken, damit diese Marahrens zum Rücktritt aufforderten: Die Auslandskirchen würden sonst keine normalen Beziehungen zur EKD aufnehmen können. Bell, dem dies widerstrebte, versuchte stattdessen, Marahrens in einem persönlichen Besuch in Loccum von der Notwendigkeit seines Rücktritts zu überzeugen: vergeblich. Marahrens blieb bis 1947 im Amt, verlor aber seinen Einfluss auf die Gestaltung der EKD.
Am 25. Juli schrieb Visser ’t Hooft zudem an Dibelius und bat ihn um ein „brüderliches Gespräch“ mit den Kirchenvertretern, die schwer unter der deutschen Besetzung gelitten und deren Folgen zu tragen hätten:
Er erwartete diese Erklärung ebenso wie die Entlassung von besonders belasteten deutschen Kirchenführern bereits als Ergebnis des Treffens in Treysa, wo beides jedoch ausblieb.
Während Dibelius ausweichend antwortete, lud Niemöller Visser ’t Hooft am 10. Oktober nach Stuttgart ein. Ein weiterer Brief von Ehrenberg an Niemöller bekräftigte unmissverständlich die entscheidende Bedeutung einer Schulderklärung auf dem Stuttgarter Treffen für die Hilfsbereitschaft der Ökumene und künftigen Beziehungen zu ihr. Das machte den deutschen Kirchenvertretern deutlich, dass ohne eindeutiges Schuldbekenntnis keine erneuerten Beziehungen zur Ökumene erreichbar waren.
== Verlauf des Stuttgarter Treffens ==
Nach wochenlangen Bemühungen um eine Einreiseerlaubnis traf sich die Delegation des ÖRK am 15. Oktober 1945 in Baden-Baden, um ihr Treffen mit den EKD-Vertretern vorzubereiten. Zu ihr gehörten:
Willem Adolf Visser ’t Hooft, Generalsekretär des Ökumenischen Rates,
Samuel McCrea Cavert, Generalsekretär der christlichen Kirchen Nordamerikas,
G.C. Michelfelder, Präsident des Rates der lutherischen Kirchen in den USA,
Pierre Maury, Pastor und Vertreter der Reformierten Kirche Frankreichs,
Marcel Sturm, reformierter Feldbischof der französischen Armee,
Hendrik Kraemer, Vertreter der Reformierten Kirche der Niederlande,
Alphons Koechlin, Präsident des Evangelischen Kirchenbundes der Schweiz.Letzterer notierte als Ziel des Treffens:
Am 17. Oktober morgens trafen die Delegierten in Stuttgart mit Eugen Gerstenmaier zusammen und erörterten Unterstützungsprogramme für die notleidende deutsche Bevölkerung. Am Nachmittag suchten sie Bischof Wurm auf. Dieser zeigte sich überrascht, setzte aber das Gespräch mit den Gästen auf die Tagesordnung für den Folgetag. Am Abend predigte der nur eine Stunde zuvor eingetroffene Martin Niemöller in der Markuskirche über den Bibeltext Jer 14,17–21 . Er bekräftigte, was er in Treysa gesagt hatte:
Nicht nur Deutschland, auch die europäischen Nachbarstaaten litten furchtbar unter den deutschen Vergehen. Nur echte Buße könne echte Vergebung Gottes und damit den nötigen politischen Neuanfang bewirken. Visser 't Hooft erinnerte sich an Niemöllers Predigt in seiner Autobiografie:
Einen anderen Akzent setzte der Stuttgarter Prälat Karl Hartenstein in seiner Eröffnungsansprache:
Er erwartete also ein zur deutschen Schulderklärung analoges oder gemeinsames Schuldbekenntnis der Ökumene, das keine konkreten Aussagen über Kriegs- und Völkermordursachen enthalten sollte.
Am Donnerstagmorgen um 9:00 Uhr beriet der Rat das Thema Entnazifizierung im eigenen kirchlichen und im gesellschaftlichen Bereich und erließ Richtlinien zur Entlassung von DC-Pfarrern, über die eigens gebildete Spruchkammern aus zwei Pastoren und einem Juristen entscheiden sollten. Parallel dazu berieten die ÖRK-Gäste nochmals über Fragen des Wiederaufbaus. Nach dem Mittagessen empfing Oberst Dawson, der US-Befehlshaber für Stuttgart, die deutschen und ökumenischen Delegierten. Gegen 15:00 Uhr trafen sich Visser 't Hooft, Asmussen und Niemöller in einem Café, um die folgende Ratssitzung vorzubesprechen. Sie waren sich einig, dass nun eine Schulderklärung der deutschen Vertreter unumgänglich sei.
Um 16:00 Uhr leitete Asmussen die entscheidende Sitzung mit einem persönlichen Schuldbekenntnis ein:
Er betonte, diese Schuld an den Brüdern könne nur zwischen den Schuldigen und Gott „geregelt“ werden, so dass auch die ökumenischen Brüder ohne Rücksicht auf politische Wirkungen ihre Schuld mit Gott ausmachen könnten.
Niemöller stellte sich hinter Asmussens Erklärung: Sie spreche das „Gewissen unserer Kirche“ aus und sei Zeichen für einen völlig neuen Anfang. Er betonte die besondere kirchliche Mitschuld:
Als dritter Redner betonte Niesel:
Als erster Gast beantwortete Hendrik Kraemer: Die Gemeinschaft in Christus stehe über allem, was die Nationen trenne. Deshalb könne und müsse dieses Trennende dann aber auch ausgesprochen werden. Die deutsche Besetzung habe sein Land schwer leiden lassen, und dies habe Hass auf die Deutschen ausgelöst, den er nicht verschweigen wolle. Alphons Koechlin fragte nach, ob alle Ratsmitglieder die Schulderklärungen mittrügen und ob die EKD sie gegenüber ihren Mitgliedskirchen veröffentlichen werde. Er fuhr fort:
Diese Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, bestimmte das weitere Gespräch. Daraufhin schlug Asmussen vor, der Rat der EKD solle eine öffentliche Erklärung „im Geist des eben geführten Gesprächs“ ausarbeiten, die die ÖRK-Vertreter ihren Heimatkirchen vorlegen könnten. Bevor die Ratsmitglieder sich zurückzogen, um diese zu formulieren, erörterten sie im Beisein der Gäste die katastrophale Lage in Ostdeutschland.
Der endgültige Wortlaut der Stuttgarter Erklärung entstand aus einem Textentwurf von Dibelius, in den Sätze aus Asmussens persönlichem Schuldbekenntnis sowie Passagen aus Niemöllers Predigt über Jeremia 14,17–21 eingebaut wurden. Unter dem Eindruck der Vertreibungen wurden konkrete Aussagen zur deutschen Kriegsschuld vermieden, weil man fürchtete, sonst in ein gegenseitiges Aufrechnen von Schuld einzutreten.
Niemöller stellte die Endfassung her, indem er einige Formulierungen von Dibelius änderte. So ersetzte er die Feststellung „Nun ist in unserer Kirche ein neuer Anfang gemacht worden“ durch die Aufgabe: „Nun soll in unserer Kirche ein neuer Anfang gemacht werden.“ Er setzte auch gegen das Zögern von Dibelius durch, dass ein Kernsatz aus Asmussens Vorentwurf in den Text kam:
Erst am späten Abend traf Bischof Bell als Vertreter der Anglikaner Großbritanniens bei dem Treffen ein, begleitet von Ernest Gordon Rupp, Pastor der Methodisten in England. Sie besuchten Wurm in seiner Privatwohnung und tauschten sich bis weit in die Nacht hinein aus. Am Morgen des 19. Oktober händigte Asmussen den Ökumenegästen je eine Kopie der getippten Erklärung aus, verlas sie und fügte hinzu:
Nachdem die von allen Ratsvertretern unterzeichnete Urkunde dem ÖRK überreicht war, bedankte sich Maury für diese mit den Worten:
Nach weiteren Dankesworten hielt Bell seine auf dem Flug vorbereitete Rede, in der er das Zeugnis der BK würdigte und die NS-Verbrechen, aber auch die Vertreibungen der Deutschen aus den Ostgebieten als „grausam, ungerecht und unmenschlich“ benannte. Um dem entgegenzuwirken, sprach er sich leidenschaftlich für die künftige Verwirklichung einer Bruderschaft der Kirchen in der ökumenischen Bewegung aus.
== Wirkung ==
=== Reaktionen in Deutschland ===
Die Stuttgarter Erklärung wurde am 27. Oktober 1945 zuerst im Kieler Kurier, einer Zeitung der britischen Militärregierung, veröffentlicht; vier Tage später auch in der Hamburger Neuen Presse. Beide Artikel standen unter der Überschrift: Schuld für endlose Leiden. Evangelische Kirche bekennt Deutschlands Kriegsschuld. Es folgten der volle Wortlaut der Erklärung mitsamt den Namen ihrer Unterzeichner und Adressaten.Die Veröffentlichung löste ungeheure Empörung, Unverständnis und heftigen Widerspruch aus und stieß nur selten auf Zustimmung. Ihre Entstehungsumstände waren in der Bevölkerung weitgehend unbekannt. Der Wortlaut wurde vielfach als Fälschung angezweifelt, zumal die EKD-Führung den Gemeinden diesen erst viel später bekannt machte.
Mit der „deutschen Kriegsschuld“ stellten die Zeitungen ein Stichwort in den Vordergrund, das in der Erklärung weder vorkam noch primär gemeint war. Nach den ersten Entnazifizierungsdirektiven der Besatzungsmächte fürchteten gerade auch evangelische Christen diese öffentliche Schulderklärung weithin als einseitiges Zugeständnis an eine vom Ausland aufgenötigte Siegerjustiz und als weiteres Argument für harte Vergeltungsmaßnahmen. Diesen hielt man angebliche oder wirkliche alliierte Verbrechen entgegen, so der schleswig-holsteinische Präses Wilhelm Halfmann:
So distanzierte man sich von den Vertretern der eigenen Kirche wie von feindlichen Vaterlandsverrätern. Gerade der von Niemöller eingefügte Kernsatz blieb jahrelang umstritten und war Stein des Anstoßes für viele konservative Lutheraner, die hier die traditionelle Unterscheidung von Kirche und Staat vermissten und dem Staat allein die Verantwortung für Krieg und Völkermord zuweisen wollten. Vom Antijudaismus als Wurzel der NS-Ideologie sprach ohnehin noch niemand; Wurm und Dibelius waren Antisemiten und thematisierten diese besondere Verantwortung der Kirche für den Holocaust kaum.
Einige Christen aus dem Umfeld der Dahlemiten, des radikaleren Flügels der BK, kritisierten, dass die Erklärung weder Holocaust noch Kriegsursachen explizit benannte. Sie widersprachen den von Asmussen übernommenen Komparativen („… nicht mutiger bekannt …“), die den Positiv „wir haben mutig bekannt“ voraussetzten. Denn fast dieselbe Formulierung hatte die Junge Kirche, ein der BK nahestehendes Kirchenblatt, 1939 zum „50. Geburtstag des Führers“ verwendet:
Paul Schempp und Hermann Diem sahen die Voraussetzung, man habe mutig bekannt, nur nicht mutig genug, als den Tatsachen des Kirchenkampfes völlig unangemessenes Eigenlob.
=== Reaktionen in der Ökumene ===
Nach der Verlesung war es dem anglikanischen Bischof George Bell vorbehalten, den Hauptmangel der Erklärung anzudeuten, indem er an den Widerstand seines engen Freundes Dietrich Bonhoeffer erinnerte und hinzufügte:
Bell hatte das Ausmaß der Vergasungen noch nicht vor Augen, hob aber die Juden hervor und sprach die aktuell nötige Solidarität mit ihnen an. Seine Äußerung über die „gegenwärtig erfolgenden Ausweisungen aus dem Osten“ bezog sich primär auf die nach dem Krieg einsetzende Vertreibung von Juden, die den Krieg überlebt hatten, aus Polen, aber auch auf die Vertreibung von Millionen Deutschen aus dem Sudetenland sowie den Gebieten östlich von Oder und Neiße, gegen die sich Bell um diese Zeit in Großbritannien wandte. Doch auch er ließ offen, was die Kirche dazu beigetragen hatte, dass es zu dieser Grausamkeit kommen konnte, und welche besonderen Aufgaben über allgemeine menschliche Betroffenheit hinaus daraus in Zukunft zu folgern seien.
=== Reaktionen in den deutschen Landeskirchen ===
Der Rat versäumte, den Text den Gemeinden sofort zugänglich zu machen. Umso mehr überraschte die Autoren der Sturm der Entrüstung, den die Veröffentlichung auslöste. Hanns Lilje betonte, das Wort sei ja nur für die Adressaten der Ökumene gedacht gewesen. Dass man diesen gegenüber eine Veröffentlichung zugesagt hatte, verschwieg er.
Nur vier von 28 evangelischen Landeskirchen – Baden, Hannover, Rheinland, Westfalen – und einige Kreissynoden machten sich die Erklärung ausdrücklich zu eigen. Die übrigen Landeskirchen unterließen dies mit Blick auf zahlreiche Protestbriefe aus den Gemeinden. Diese sprachen der vorläufigen EKD-Leitung oft das Recht ab, für alle evangelischen Christen zu sprechen. Dennoch begann allmählich ein Umdenken: Den 31. Oktober, Reformationstag, und folgenden 7. November, Buß- und Bettag, nutzten viele Pastoren als Anstoß zur Auseinandersetzung mit der Schuldfrage.
Am 24. November schickte die EKD-Leitung die Erklärung mitsamt einem Kommentar Hans Asmussens als offizielle Erläuterung an die Landeskirchen. Darin betonte Asmussen, es habe sich um ein allein vor Gott ausgesprochenes Schuldbekenntnis gehandelt. Dieses sei gültig ohne Rücksicht auf das, was Politik daraus mache. Er rief die Christen auf, alles Aufrechnen von Schuld hinter sich zu lassen und sich Gott zuzuwenden. Dann müsse sich der einzelne Christ zwangsläufig dem Bruder zuwenden, sich also mit der Schuld seines Volkes solidarisch erklären und deren Folgen mittragen. Diese priesterliche Haltung sei Sinn und Ausdruck der wahren christlichen Existenz. Welche politischen Konsequenzen diese Haltung haben könne und müsse, ließ er offen.
Der Kirchenhistoriker Martin Greschat erklärt das Zögern des Rates, den Text selbst zu veröffentlichen, damit, dass den Autoren dessen Tragweite nicht bewusst war. Sie hätten faktisch politische Verantwortung für das deutsche Volk übernommen und damit einen Bruch mit der obrigkeitshörigen Tradition des deutschen Nationalprotestantismus eingeleitet. Sie hätten sich klar darüber sein müssen, dass dieser erste Schritt Folgeschritte erforderte und als Herausforderung an alle Gemeinden offensiv vertreten werden musste.
=== Weitere Folgen ===
In den folgenden Jahren zeigte sich, dass die Stuttgarter Erklärung nicht geeignet war, den Prozess der Aufarbeitung des kirchlichen Versagens in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland zu fördern. Sie trug zunächst eher zu einer raschen Selbstberuhigung und Hinwendung zu restaurativen Tendenzen bei. Deutliches Zeichen dafür war die öffentliche Entlastung für zahlreiche von der Entnazifizierung betroffene ehemalige NSDAP-Angehörige in der BK, die Hans Meiser am 15. März 1947 gab:
Dies kritisierten Angehörige der BK wie Karl Steinbauer, der im Gegensatz zu Meiser, Dibelius, Lilje und anderen Autoren der Erklärung im Konzentrationslager gesessen hatte, umgehend als „Generalpersilschein“. Die Tübinger theologische Fakultät warnte im Blick auf das damals umstrittene Entnazifizierungsgesetz davor, „der Rat der EKiD könnte vergessen haben, dass es sich um ein Gesetz zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus und nicht um ein Gesetz zur Reinigung des Nationalsozialismus und Militarismus oder gar um ein Gesetz zu gemäßigter Rechtfertigung [derselben] … handelt.“Das Darmstädter Wort von 1947 war die erste Nachkriegserklärung deutscher Protestanten, die die längerfristigen historischen Ursachen des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und die kirchliche Mitverantwortung dafür ansprach. Auch darin wurden der Holocaust und Antijudaismus noch nicht direkt genannt. Entscheidende Anstöße für deren Aufarbeitung gaben erst das „Wort zur Judenfrage“ der EKD-Synode von Berlin-Weißensee 1950, dann die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, die 1961 gegen den Widerstand der meisten Autoren der Stuttgarter Erklärung im Auftrag der EKD gegründet wurde und bis heute besteht.
== Weiterführende Informationen ==
=== Siehe auch ===
Kirchen und Judentum nach 1945
=== Quellen ===
Die Stuttgarter Erklärung. Verordnungs- und Nachrichtenblatt der EKD Nr. 1, Januar 1946 (Faksimile)
Das Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland, 18./19. Oktober 1945. In: 1000dokumente.de
EKD: Stuttgarter Schulderklärung
=== Literatur ===
Karl Richard Ziegert: Die Entstehung der Stuttgarter Schulderklärung. In: Karl Richard Ziegert: Zivilreligion – der protestantische Verrat an Luther. Wie sie in Deutschland entstanden ist und wie sie herrscht. Olzog, München 2013, ISBN 3-9576809-8-0, S. 187–205.
Clemens Vollnhals: Entstehung und Grenzen des Stuttgarter Schuldbekenntnisses. In: Hans Woller, Klaus-Dietmar Henke, Martin Broszat (Hrsg.): Von Stalingrad zur Währungsreform: Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland. De Gruyter, Berlin 2009, ISBN 3-486-59551-2, S. 130–140
Günter Brakelmann: Kirche und die Frage der Mitschuld 1945–1950. In: Günter Brakelmann: Evangelische Kirche und Judenverfolgung. Drei Einblicke. Hartmut Spenner, Waltrop 2001, ISBN 3-933688-53-1, S. 67–95.
Wolfgang Gerlach: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden. Institut Kirche und Judentum, Berlin 1993, ISBN 3-923095-69-4.
Siegfried Hermle: Evangelische Kirche und Judentum – Stationen nach 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1990, ISBN 3-525-55716-7.
Hans Prolingheuer: Wir sind in die Irre gegangen. Die Schuld der Kirche unterm Hakenkreuz. Pahl-Rugenstein, Köln 1987, ISBN 3-7609-1144-7.
Walter Bodenstein: Ist nur der Besiegte schuldig? Die EKD und das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945. Ullstein, Frankfurt am Main / Berlin 1986, ISBN 3-548-33065-7.
Gerhard Besier, Gerhard Sauter: Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985, ISBN 3-525-52181-2.
Martin Greschat (Hrsg.): Im Zeichen der Schuld: 40 Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis, eine Dokumentation. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1985, ISBN 3-7887-0779-8.
Brigitte Hiddemann (Hrsg.): Das Stuttgarter Schuldbekenntnis: 1945–1985. Evangelische Akademie, Mülheim/Ruhr 1985.
Martin Greschat (Hrsg.): Die Schuld der Kirche: Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945. Christian Kaiser, München 1982, ISBN 3-459-01427-X
Albrecht Schönherr: Welche unerledigten Aufgaben ergeben sich aus dem Stuttgarter Schuldbekenntnis? In: Andreas Baudis (Hrsg.): Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens: Helmut Gollwitzer zum 70. Geburtstag. Christian Kaiser, München 1979, ISBN 3-459-01186-6, S. 299–308.
Eberhard Bethge: Geschichtliche Schuld der Kirche. Anmerkungen zum Stuttgarter Schuldbekenntnis. In: Eberhard Bethge (Hrsg.): Am gegebenen Ort. Aufsätze und Reden 1970–1979. Christian Kaiser, München 1979, ISBN 3-459-01217-X, S. 117–129.
Hartmut Ludwig: Karl Barths Dienst der Versöhnung. Zur Geschichte des Stuttgarter Schuldbekenntnisses. In: Heinz Brunotte, Ernst Wolf (Hrsg.): Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze II. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1971, ISBN 3-525-55528-8, S. 265–310.
=== Weblinks ===
Armin Boyens: Das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 – Entstehung und Bedeutung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 19 (1971), S. 374–397 (PDF, 5,9 MB).
Gerhard Besier: Die politische Rolle des Protestantismus in der Nachkriegszeit. Bundeszentrale für politische Bildung
EKD: Pressetexte zum 60. Jahrestag der Stuttgarter Erklärung
=== Einzelnachweise ===
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https://de.wikipedia.org/wiki/Stuttgarter_Schuldbekenntnis
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Städtische Straßenbahn Cöpenick
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= Städtische Straßenbahn Cöpenick =
Die Städtische Straßenbahn Cöpenick (SSC) war ein Straßenbahnbetrieb in der damals noch selbstständigen Stadt Cöpenick. 1882 als Cöpenicker Pferde-Eisenbahn (CPfE) gegründet, wurde der Betrieb mit der Elektrifizierung 1903 umbenannt. Dem Ankauf der Friedrichshagener Straßenbahn im Jahr 1906 folgten in den Jahren 1907 bis 1912 Verlängerungen in die Gemeinden Mahlsdorf, Grünau und Adlershof. 1920 ging die SSC im Zuge des Groß-Berlin-Gesetzes in der Berliner Straßenbahn (BSt) auf, die bis 1925 einen Gleisanschluss an das übrige Straßenbahnnetz herstellte.
Das ehemals von der Cöpenicker Straßenbahn betriebene Netz bildet zusammen mit der Schmöckwitz–Grünauer Uferbahn sowie der 1993 stillgelegten Straßenbahn Adlershof–Altglienicke das Teilnetz Köpenick innerhalb des Berliner Straßenbahnnetzes. Der Teilnetzcharakter kommt unter anderem durch die Liniennummern im 60er Bereich, bis 1993 vor allem im 80er Bereich, zum Ausdruck. Bis auf wenige kurze Abschnitte werden zudem alle ehemals von der SSC befahrenen Strecken nach wie vor bedient.
== Geschichte ==
=== Anfänge als Pferdebahn ===
Cöpenick (ab 30. Dezember 1930 Köpenick geschrieben) erhielt 1842 mit Eröffnung der Strecke Berlin–Frankfurt (Oder) der Berlin-Frankfurter Eisenbahn-Gesellschaft seinen ersten Bahnhof. Der Bahnhof Cöpenick lag fast zwei Kilometer außerhalb der am Zusammenfluss von Spree und Dahme gelegenen Stadt an einem Verbindungsweg nach Mahlsdorf. Entlang des Weges, der späteren Bahnhofstraße, entstand in der Folgezeit die Dammvorstadt. 1866 eröffnete die Berlin-Görlitzer Eisenbahn-Gesellschaft die an Adlershof und Grünau vorbeiführende Strecke Berlin–Cottbus–Görlitz, 1873 wurden die Wäscherei Spindler in die Nähe der Köllnischen Vorstadt und die damit verbundene Siedlung Spindlersfeld angelegt.
Zwischen der Stadt und den Bahnhöfen Cöpenick und Adlershof entstand somit ein Verkehrsbedürfnis, das zunächst mit Pferdeomnibussen bedient wurde. Die Abfahrtszeiten der Fuhrwerke richteten sich nach denen der Eisenbahn. Während die Verbindung vom Schloßplatz nach Adlershof als unzuverlässig beschrieben wurde, bildete die Verbindung zum Bahnhof Cöpenick die Grundlage für die spätere Pferdebahn. Der Vorortverkehr auf der Strecke von Berlin nach Cöpenick nahm so sehr zu, dass die Preußischen Staatsbahnen ab 1876 zusätzliche Vorortzüge zwischen beiden Städten verkehren ließen.Unter den ersten Planungen für eine Straßenbahn in Cöpenick befand sich ein Projekt, das eine Pferdebahn bis zum Molkenmarkt in Berlin mit einer Gesamtlänge von rund 18 Kilometern vorsah. Die für Pferdebahnen enorme Länge wie auch die zu erwartenden hohen Kosten führten dazu, dass das Projekt wieder fallengelassen wurde.1882 entschied sich die Stadt zur Anlage einer Pferdebahn auf der 1,8 Kilometer langen Strecke vom Schloßplatz zum Bahnhof Cöpenick als Ersatz für den bestehenden Omnibus. Den Bau übernahm die Stadt selbst, die benötigten Wagen übernahm die Cöpenicker Pferde-Eisenbahn gebraucht von der Neuen Berliner Pferdebahn (NBPf) und der Großen Berliner Pferde-Eisenbahn (GBPfE); die Gesamtkosten lagen bei 32.187 Mark (umgerechnet und inflationsbereinigt ca. 271.000 Euro). Den Betrieb auf der Pferdebahn verpachtete die Stadt zunächst an den Fuhrunternehmer Oskar Weber, ab 1884 übernahm der Fuhrunternehmer August Neuendorf gegen eine jährliche Gebühr in Höhe von 1500 Mark den Betrieb.Am 18. Oktober 1882 wurde die Cöpenicker Pferdebahn eröffnet. Für die Strecke vom Bahnhof am heutigen Elcknerplatz über die noch hölzerne Dammbrücke bis zum Schloßplatz benötigte die Bahn 17 Minuten. Die Abfahrtszeiten richteten sich wie schon zuvor beim Omnibus nach denen der Vorortzüge, 16 Fahrten führte die Cöpenicker Pferde-Eisenbahn täglich durch.Der Ersatz der Dammbrücke durch eine steinerne Konstruktion 1892 ermöglichte ein Verdichten des Fahrplanangebots auf 31 Fahrten pro Tag, da die Wartezeiten vor der alten Zugbrücke nun entfielen. 1895 wurde daher die Strecke zweigleisig ausgebaut. Im gleichen Jahr überließ die Stadt die Betriebsführung der Bahn der Firma Vering & Waechter, vermutlich verpachtete sie diese weiter an Neuendorf. Bis 1902 stieg die Anzahl der täglichen Fahrten auf 52 an.
=== Elektrifizierung und erster Netzausbau ===
Der steigende Verkehr auf der Bahn führte die Pferdebahn an ihre Belastungsgrenze, so dass zur Jahrhundertwende Forderungen nach der Elektrifizierung aufkamen. Vor allem die Eröffnung der von den Berliner Ostbahnen betriebenen Linie I vom Bahnhof Niederschöneweide-Johannisthal nach Sadowa (in Höhe der heutigen Alten Försterei) an der Grenze zu Cöpenick am 15. Dezember 1901 soll letztlich zum Elektrifizierungsbeschluss geführt haben.Die vorhandene Strecke wurde um rund zwei Kilometer vom Schloßplatz über die Grünstraße, Kietzer Straße und Müggelheimer Straße bis zur Marienstraße (heute Wendenschloßstraße) verlängert, wo die Stadt einen neuen Betriebshof errichten ließ. Die elektrische Ausrüstung übernahm die Allgemeine Electrizitäts-Gesellschaft (AEG), die die Bahn für den Oberleitungsbetrieb mit Lyrabügeln ausrüstete. Mit der Eröffnung des elektrischen Betriebs am 11. August 1903 erfolgte die Umbenennung in Städtische Straßenbahn Cöpenick. Da die Stadt auch die Betriebsführung übernahm, richtete der Magistrat von Cöpenick hierfür eine Straßenbahnkommission ein.
Bis Ende 1903 folgten zwei weitere Streckeneröffnungen. Am 2. Oktober 1903 gingen eine Stichstrecke vom Schloßplatz über Lange Brücke, Köllnischer Platz und Berliner Straße zum Bahnhof Spindlersfeld sowie vom Betriebshof über die Marienstraße zum Ortsrand von Wendenschloß in Höhe der Eichhornstraße (heute Lienhardweg) in Betrieb. Letztere wurde am 28. Dezember 1903 entlang der Rückertstraße (heute Wendenschloßstraße) zur Schillerstraße (heute Ekhofstraße) verlängert. Das Netz der Cöpenicker Straßenbahn vergrößerte sich damit auf eine Streckenlänge von 6,85 Kilometern. Es verkehrten zunächst drei Linien, deren Kennzeichnung mittels farbiger Signaltafeln erfolgte. Treffpunkt aller Linien war der Schloßplatz.
Am 4. Dezember 1904 verlängerten die Berliner Ostbahnen ihre Linie I um wenige hundert Meter bis zur Kreuzung Bahnhofstraße Ecke Lindenstraße. Eine Gleisverbindung zur Cöpenicker Straßenbahn bestand nicht.
=== Anschluss nach Friedrichshagen und zweiter Netzausbau ===
1906 erwarb die Stadt Cöpenick die 1891 eröffnete Pferdebahn der Gemeinde Friedrichshagen. Bis zum Ende des Jahres erfolgte die Elektrifizierung und Umspurung der Bahn auf Normalspur sowie die Verbindung beider Netze. Die neue Verbindungsstrecke begann an der Kreuzung Bahnhofstraße Ecke Kaiser-Wilhelm-Straße (heute Seelenbinderstraße) und lief weiter über Bellevuestraße und Berliner Straße zum Hirschgarten. Dort verzweigte sie sich in einen Nordast zum Bahnhof Friedrichshagen und einen Südast bis zur Haltestelle Fähre am südlichen Ende der Friedrichstraße (heute Bölschestraße). Am 16. Dezember 1906 nahm die elektrische Straßenbahn in Friedrichshagen ihren Betrieb auf, sechs Tage später ging die Verbindung nach Cöpenick in Betrieb. Für den Betrieb entrichtete die Stadt Cöpenick jährlich einen Beitrag in Höhe von 2000 Mark (ab 1912 3000 Mark) an die Gemeinde Friedrichshagen.
Mit der Ausdehnung nach Friedrichshagen führte die SSC auf ihren Linien Nummern zur Kennzeichnung ein. Die bestehenden drei Linien behielten parallel dazu noch eine Zeit ihre farbigen Signaltafeln. Neu eingerichtet wurden die Linie 4 in Nachfolge der Friedrichshagener Straßenbahn vom Bahnhof Friedrichshagen zum Wasserwerk, die Einsetzlinie 5 vom Bahnhof Friedrichshagen zum Bahnhof Cöpenick sowie die Linien 6 und 7, die vom Betriebshof beziehungsweise Bahnhof Spindlersfeld aus kommend zum Bahnhof Friedrichshagen führten. Mit Ausnahme der Linie 4 wurden die Linien innerhalb von Friedrichshagen als Schleifenfahrt geführt. Die Linie 5 wurde wegen des Parallelverkehrs zu den Vorortzügen 1907 eingestellt.Am 10. Mai 1907 ging die eingleisige Strecke in Verlängerung der Bahnhofstraße ab Bahnhof Cöpenick über die Mahlsdorfer Straße, Cöpenicker Allee (heute Hultschiner Damm), Cöpenicker Straße und Bahnhofstraße (beide heute Hönower Straße) zum Bahnhof Mahlsdorf an der Ostbahn in Betrieb. Das Cöpenicker Stadtparlament beschloss zwar den Bau der Bahn, viele Cöpenicker Bürger verschmähten diese jedoch als „unrentable Wüstenbahn“. Die SSC bediente die 6,7 Kilometer lange Strecke zunächst nicht durchgehend, die Linie 2 wurde vom Bahnhof Cöpenick bis Mahlsdorf-Süd, Hubertus verlängert, von wo aus die Pendellinie 8 den weiteren Abschnitt bediente. Am 1. Oktober 1907 übernahm die Linie 1 die Aufgaben der Linie 8. Die von der Linie 3 gebotene Verbindung zwischen Wendenschloß und Spindlersfeld wurde zur gleichen Zeit mangels Nachfrage auf einen sonntäglichen Stundentakt ausgedünnt; für die Arbeiter des damals größten deutschen Wäschereibetriebes W. Spindler verkehrte tagsüber ein gesonderter Wagen zwischen Spindlersfeld und dem Depot. Ab dem 11. Juli 1909 beschränkte sich der sonntägliche Einsatz der Linie auf die Nachmittage.
Am 4. November 1908 ging der Streckenabschnitt vom Köllnischen Platz über die Grünauer Straße zur Cöpenicker Stadtgrenze in Höhe der Pestalozzistraße in Betrieb. Die Strecke wurde am 11. Juni 1909 über die Cöpenicker Straße (heute Regattastraße) und Wilhelmstraße (heute Wassersportallee) zum Bahnhof Grünau (Mark) verlängert. Die Bedienung übernahm die Linie 2. Am 20. Juni um eine kurze Stichstrecke in der Wilhelmstraße bis zur Fähre nach Wendenschloß verlängert. Sonntags fuhr eine Pendellinie zwischen Bahnhof Grünau und der Fähre, für die bis zur Einstellung im August 1914 gesonderte Fahrscheine ausgegeben wurden. Die Endhaltestelle befand sich zunächst auf der südlichen Straßenseite des Adlergestells am Bahnhofsgebäude und wurde am 20. Dezember 1911 in die Wilhelmstraße zurückverlegt. Die alten Anlagen übernahm die im Bau befindliche Schmöckwitz–Grünauer Uferbahn, eine Gleisverbindung zwischen beiden Strecken bestand nicht. Ab dem 1. Juli 1909 verkehrte zusätzlich zwischen Bahnhof Cöpenick und Grünauer Straße eine Verstärkerlinie 8. Den Abschnitt zwischen Mahlsdorf-Süd und Bahnhof Cöpenick übernahm seit dem 15. Juni 1909 eine neu eingerichtete Linie 5 zum Hirschgarten. Bereits am 1. August 1909 wurden beide Linien zur Linie 5 (Mahlsdorf-Süd – Grünauer Straße) vereint. Ab dem 6. April 1912 übernahm die Linie 2 dann die Bedienung nach Mahlsdorf-Süd, die Linie 5 blieb als werktags verkehrende Pendellinie zwischen Bahnhof Cöpenick und Mahlsdorf-Süd bestehen.Auf der Linie 1, die seit 1908 unverändert im Halbstundentakt verkehrte, kam es ab Sommer 1909 zur Einrichtung einer Verstärkerlinie 10 zwischen Bahnhof Cöpenick und dem Depot beziehungsweise Wendenschloß.Im März 1910 führten die SSC erneut farbige Signaltafeln sowie farbige Richtungsschilder ein.Die letzte Streckenverlängerung unter Regie der SSC ging am 29. September 1912 in Betrieb. 1906 schlossen die Stadt Cöpenick und die Gemeinde Adlershof einen Vertrag über den Bau und Betrieb einer Straßenbahn zwischen beiden Orten ab. Da die Bahn auch forstfiskalisches Gebiet berührte, mussten zusätzliche Verhandlungen geführt werden. Die Eröffnung verzögerte sich abermals, da sich die Auslieferung der Schienen verzögerte. Adlershof war drei Jahre vor dem Anschluss nach Cöpenick seit dem 5. Juni 1909 mit einer Linie der Teltower Kreisbahnen mit Altglienicke verbunden. Am 19. Dezember 1912 wurden beide Strecken miteinander verbunden, so dass die Wagen der Teltower Kreisbahnen im Cöpenicker Depot gewartet werden konnten. Die Bedienung übernahm die Linie 5, die werktags bis Mahlsdorf-Süd und sonntags bis zum Bahnhof Cöpenick fuhr.Die Streckenlänge des Cöpenicker Straßenbahnnetzes betrug somit 27,4 Kilometer.Ab dem 1. Oktober 1913 endete jeder zweite Wagen der Linie 2 im Spätverkehr an der Grünauer Straße, diese Wagen führte die SSC als Linie 8. Zweieinhalb Monate später verschwand die Linie wieder aus dem Schema.
=== Zweckverband und Erster Weltkrieg ===
Am 1. April 1912 nahm der Verband Groß-Berlin seine Arbeit auf, infolgedessen gingen die zwischen der Stadt Cöpenick und den umliegenden Gemeinden abgeschlossenen Verträge auf diesen über. Die zu dieser Zeit laufenden Verhandlungen zur Übernahme der Adlershof-Altglienicker Straßenbahn durch die SSC sowie der Verlängerung der Linie I der Berliner Ostbahnen zum Schloßplatz wurden vorerst vom Verband gestoppt. Weitere Vorhaben wie die Verlängerung der Straßenbahn von Altglienicke über Falkenberg zum Bahnhof Grünau mit Anschluss an das Cöpenicker Netz kamen aber über die Planungen hinaus.Mit Beginn des Ersten Weltkrieges kam es zu ersten Einschränkungen im Linienbetrieb. Die Verkehrsleistung ging zunächst merklich zurück, gleichzeitig sank die Zahl der Beschäftigten; über die Hälfte des SSC-Personals wurde eingezogen.Mit der Ausweitung der Rüstungsproduktion ab 1915 stieg die Nachfrage erneut an. Um den Personalmangel zu beheben stellte die SSC vermehrt Frauen als Schaffner ein. Die Fahrgastzahlen stiegen bis 1917 auf einen Höchststand von annähernd 10,5 Millionen Fahrgästen an. Für das 1913 eröffnete Städtische Krankenhaus Cöpenick ging 1915 eine Betriebsstrecke entlang der Müggelheimer Straße in Betrieb. Der Abschnitt war vermutlich Bestandteil einer von der Stadt geplanten Kleinbahn von Spindlersfeld über Müggelheim und Neu Zittau nach Storkow. Die Beiwagen 21 bis 23 wurden zu Lazarettwagen umgerüstet. Sie dienten bis Kriegsende zur Beförderung Verwundeter und dem Transport von Gepäck.
Verschiedene Behörden drängten die Stadt wegen des Personal- und Kohlemangels zur Einschränkung des Betriebs. Mit Ausnahme der 1914 eingestellten Linie 3 und der Verbindung zur Fähre nach Wendenschloß konnten fast sämtliche Strecken nach wie vor bedient werden. Lediglich die Linie 4 zum Wasserwerk war angesichts ihrer kurzen Länge wiederholt von Einsparungen betroffen. Vom 16. bis zum 19. Januar 1918 kam der Verkehr von und nach Friedrichshagen wegen starker Schneefälle und der Vereisung der Strecke zum Erliegen. Während die Linien 6 und 7 nach Behebung der Schäden wieder fuhren, blieb die Linie 4 bis zum 6. Februar 1918 wegen Kohlemangels eingestellt.
=== Übernahme durch die Berliner Straßenbahn ===
1918 schlossen der Verband Groß-Berlin und die Stadt Cöpenick einen Vertrag ab, der dem Verband den Erwerb der Straßenbahn zusicherte. Die Stadt ihrerseits verpflichtete sich, die eingleisigen Strecken bei etwaigem Bedarf zweigleisig auszubauen.Am 1. Oktober 1920 trat das am 27. April vom Preußischen Landtag beschlossene Groß-Berlin-Gesetz in Kraft. Die Stadt Cöpenick, die mit den umliegenden Gemeinden nach Berlin eingemeindet wurde, bildete nun den Mittelpunkt des neuen Verwaltungsbezirks Cöpenick. Mahlsdorf kam als Ortsteil zum Bezirk Lichtenberg. Die Städtische Straßenbahn ging damit in den Besitz der Stadt Berlin über und wurde im Dezember 1920 von der Berliner Straßenbahn übernommen.Die Liniennummern wurden bis zum 1. Juli 1921 beibehalten, auf den Fahrscheinen war zur Unterscheidung die Bezeichnung Cöp 1, Cöp 2 etc. angegeben. Anstelle der Linie 1 trat die Linie 183, aus der 2 wurde die 86, die 4 verkehrte weiter als Linie 85 und die Linien 5 bis 7 wurden zur Linie 84 vereint, mit Laufweg von Bahnhof Friedrichshagen über Bahnhof Adlershof nach Altglienicke Kirche, unter Einbeziehung der Linie der ehemaligen Teltower Kreisbahnen. Die zu dieser Zeit voranschreitende Inflation führte zur drastischen Steigerung sowohl der Fahrpreise als auch der Kosten. Die Berliner Straßenbahn erwog daher im Oktober 1922 den Betrieb in Cöpenick sowie in weiteren Vororten komplett einzustellen.Am 1. Dezember 1922 erhielten die Linien 183 und184 die Nummern 83 beziehungsweise 84, die Linie 85 wurde am gleichen Tag eingestellt. Der Streckenast zum Wasserwerk Friedrichshagen blieb bis 1923 ohne Verkehr.
=== Weitere Netzentwicklung ===
Bis etwa 1922 wurde der Betrieb auf Oberleitung mit Rollenstromabnehmern umgestellt, um das System dem der früheren Großen Berliner Straßenbahn anzugleichen, deren Strecken den Großteil des Berliner Straßenbahnnetzes ausmachten.Ab dem 5. März 1925 fuhr die Linie 87 ab Bahnhof Cöpenick regulär bis zum Krankenhaus Cöpenick. Am 31. Mai 1925 erfolgte die Verknüpfung mit dem übrigen Berliner Straßenbahnnetz und der Zusammenschluss mit dem ebenfalls als Linie 87 bezeichneten westlichen Linienteil bis zur Kreuzung Behrenstraße Ecke Markgrafenstraße im Bezirk Mitte. Am Bahnhof Grünau entstand im gleichen Jahr eine Gleisverbindung zur Schmöckwitz-Grünauer Uferbahn. Die Berliner Straßenbahn vereinigte die Linie 86 mit der Anschlusslinie 186 nach Schmöckwitz am 15. Mai 1926.Zur Entlastung des eingleisigen Abschnitts in der Grünstraße zwischen Schloßplatz und Kietzer Straße ging etwa zu dieser Zeit eine Umfahrung über die nördliche Kietzer Straße und Kirchstraße zur Schloßstraße (heute Alt-Köpenick) in Betrieb. Die Linien in Richtung Lindenstraße nutzten fortan diesen Streckenabschnitt, die Linien zum Schloßplatz nahmen weiterhin die alte Strecke über die Schloßstraße. Das zweite Gleis in der Schloßstraße blieb zunächst noch bestehen und wurde später ausgebaut.
Zum Abschluss der Streckenneubauten entstand die Straßenbahn vom Bahnhof Friedrichshagen nach Rahnsdorf. Weitere Projekte, darunter die Verlängerung vom Wasserwerk Friedrichshagen über Rahnsdorf nach Erkner, vom Krankenhaus nach Müggelheim als auch die Übernahme der seit 1910 bestehenden Straßenbahn Schöneiche–Kalkberge kamen nicht zustande.Die jüngste Erweiterung im Raum Köpenick war die Verlängerung der Straßenbahn vom S-Bahnhof Adlershof in die Wissenschaftsstadt Adlershof (Karl-Ziegler-Straße) am 4. September 2011, die Fortsetzung in Richtung S-Bahnhof Schöneweide ist darüber hinaus bis 2016/17 geplant. Eine weitere Planung sieht die Verlegung der Straßenbahn aus dem Müggelheimer Damm in die Pablo-Neruda-Straße vor, dadurch soll das Salvador-Allende-Viertel als auch das Krankenhaus einen besseren Anschluss an den Öffentlichen Personennahverkehr erhalten. Die Anwohner stehen einer Erweiterung kritisch gegenüber, da sie eine höhere Lärmbelästigung durch die Straßenbahn befürchten. Der Berliner Senat stoppte das Vorhaben im Juli 2001.Die meisten der Köpenicker Linien fahren heute noch auf ihren angestammten Routen, wenngleich unter einer anderen Liniennummer. Seit der Netzreform im Mai 1993 haben die Linien Nummern im 60er Bereich erhalten, die letzte größere Umstellung erfolgte im Dezember 2004. Die Linie 62, ehemals 83 verkehrt so seit 1908 zwischen Wendenschloß und Bahnhof Mahlsdorf, sie ist somit die Berliner Straßenbahnlinie mit dem ältesten unveränderten Linienlauf.
== Infrastruktur ==
=== Streckennetz ===
Entsprechend der ländlichen Besiedlung des Straßenbahneinzugsgebietes waren die Strecken vorwiegend eingleisig. Sie verliefen entweder gepflastert im Straßenplanum oder, wo es der Platz erlaubte, in Straßenrandlage. Auf einigen Außenstrecken, etwa nach Mahlsdorf, waren die genutzten Wege noch unbefestigt.
Die 1882 eröffnete Pferdebahnstrecke war anfangs eingleisig und erhielt 1895 ihr zweites Gleis. Die 1903 eröffneten Strecken nach Wendenschloß und Spindlersfeld waren mit Ausnahme eines kurzen Abschnittes in der Grünstraße und Kietzer Straße von Beginn an zweigleisig. Gleiches galt für die 1906 eröffneten Verbindungsstrecken nach Friedrichshagen. Die Straßenbahn in der Friedrichshagener Friedrichstraße war bis 1894 eingleisig, die im Folgejahr in Betrieb genommene Verlängerung zum Wasserwerk ist es bis heute.
Die Strecke nach Mahlsdorf hatte zur Eröffnung vier Ausweichen, 1912 baute die SSC den Abschnitt bis Hubertus auf zwei Gleise aus. Etwa zu dieser Zeit ging die heute noch bestehende Wendeschleife Mahlsdorf-Süd in Betrieb.Die Grünauer Strecke war ebenso überwiegend eingleisig, ein längerer zweigleisiger Abschnitt befand sich hier in der Wilhelmstraße. 1975 baute die BVB die Strecke durchgehend zweigleisig aus; in der Kurve zwischen Wassersportallee und Regattastraße entstand wegen der ungünstigen Kurvenradien eine Gleisverschlingung, die 1989 beseitigt wurde.Die Strecke nach Adlershof weist einen längeren eingleisigen Abschnitt innerhalb der heutigen Dörpfeldstraße aus, sie ist ansonsten zweigleisig. Die Gleise liegen im Nordostabschnitt der Dörpfeldstraße zwischen Waldstraße und der Grenze zu Köpenick beidseitig der Fahrbahn.
Die Straßenbahn zum Krankenhaus war von Beginn an zweigleisig. Die 1929 eröffnete Straßenbahnstrecke nach Rahnsdorf erhielt 1985 das zweite Gleis.Zur Entlastung des eingleisigen Abschnittes in der Grünstraße ging um 1925 die Altstadtschleife in Betrieb, Züge von der Bahnhofstraße zum Schloßplatz nutzen seitdem die alte Führung der Gleise am Rathaus Köpenick vorbei, Züge der Gegenrichtung die neuen Gleise über Kirchstraße. Nördlich der St.-Laurentius-Stadtkirche sind beide Gleise miteinander verbunden, so dass ein Linienbetrieb in allen Richtungen erfolgen könnte. In der Grünstraße ergab sich wegen der beengten Platzverhältnisse eine ungewöhnliche Gleisanordnung, bei der das in Richtung Müggelheimer Straße führende Gleis zunächst links abzweigt und dann rechts abbiegt, das Gleis in Richtung Kirchstraße entsprechend umgekehrt.
Am 28. November 2000 ging ein Streckengleis in der Müggelheimer Straße in Betrieb, deren Ausbau in den 1980er Jahren bis zum Schloßplatz erfolgte. Das Streckengleis in der Grünstraße ging am gleichen Tag außer Betrieb. Mittelfristig ist der Einbau eines zweiten Gleises in Gegenrichtung vorgesehen, wodurch ein direkter Verkehr von der Müggelheimer Straße in Richtung Adlershof und Grünau ohne Umweg durch die Köpenicker Altstadt ermöglicht würde.
Für die an den Bahnhöfen Köpenick beziehungsweise Spindlersfeld endenden Wagen bestanden Wendeanlagen in der Dahlwitzer Straße (heute Stellingdamm) sowie in der heutigen Ernst-Grube-Straße. Letztere ließ die Berliner Straßenbahn nach 1920 ausbauen, die Kehranlage im Stellingdamm baute die BVG-Ost im September 1960 zu einer Blockumfahrung entlang der Hirtestraße zur Mahlsdorfer Straße aus.
=== Betriebshof ===
==== Pferdebahn ====
Das erste Depot der Cöpenicker Straßenbahn lag unweit des Schloßplatzes in der Rudower Straße unmittelbar vor der Langen Brücke. Die zweigleisige Halle war in Holzfachwerkbauweise errichtet. Die Cöpenicker Straßenbahn nutzte den Bau bis kurz vor Abschluss der Elektrifizierungsarbeiten 1903, da die Strecke nach Spindlersfeld die Zufahrt blockierte. Die Pferdebahnwagen waren in diesem Zeitraum in der Grünstraße abgestellt. Nach 1903 erwarb das Krankenhaus Cöpenick das Gebäude und veranlasste die Umsetzung des Gebäudes in die Rudower Straße. Nach dem Umzug des Krankenhauses in die Kämmereiheide im Jahr 1913 befand sich auf dem Grundstück eine Mädchenschule.Die Pferde waren beim jeweiligen Pächter untergebracht.
==== Elektrischer Betrieb ====
Für den elektrischen Betrieb entstand 1903 in der Marienstraße ein neuer Straßenbahnhof nach Plänen von Hugo Kinzer. Das Gelände an der Marienstraße 50–52 (heute Wendenschloßstraße 138) befand sich seit 1877 im Besitz der Stadt und gehörte zuvor der Charité. In Betrieb ging zunächst eine viergleisige Wagenhalle für 20 Wagen, darauf folgte 1904 ein Verwaltungsbau und 1906 eine zweigleisige Halle im hinteren Teil des Betriebshofes. 1910 wurde neben dieser eine große zweischiffige Wagenhalle mit zwölf Gleisen für 80 Wagen errichtet und die alte Wagenhalle diente fortan als Montagehalle. Mit der Übernahme durch die BSt wurde das Depot als Hof 26 weitergeführt, ab 1935 führte die BVG das noch heute gültige Kürzel Köp für den Betriebshof ein. In den 1970er Jahren sollte der Hof zusammen mit dem Betriebshof Nalepastraße geschlossen und dafür ein Ersatz in der Straße An der Wuhlheide errichtet werden, da dort genügend Freiflächen für Erweiterungen bestanden. Mit Errichtung der Neubaugebiete in Hohenschönhausen, Hellersdorf und Marzahn Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre, kam es jedoch zu einer Verlagerung des Verkehrs in diese Gebiete, wodurch die Pläne zu Gunsten eines Betriebshofes in Marzahn aufgegeben wurden.In den 1990er Jahren erfolgte die denkmalgerechte Sanierung des Baus.Im Betriebshof Köpenick sind nach wie vor die meisten der in Köpenick fahrenden Wagen beheimatet.
=== Stromversorgung und -entnahme ===
Die Cöpenicker Straßenbahn war für den Oberleitungsbetrieb mit Bügelstromabnehmern eingerichtet. Die elektrische Ausrüstung hierfür lieferte die AEG, den nötigen Strom bezog die Bahn aus der Zentrale Oberschöneweide der Berliner Elektrizitätswerke. Der Drehstrom wurde an mehrere Unterwerke verteilt, wo die Umwandlung auf 550 Volt Gleichstrom erfolgte. Ein Unterwerk am Platz des 23. April (Bahnhofstraße Ecke Lindenstraße) ist als Baudenkmal erhalten geblieben. In seinem Erdgeschoss befanden sich zusätzlich eine Wartehalle der Straßenbahn und eine Toilettenanlage, die heute nicht mehr genutzt werden. Die Wartehalle diente um 1990 als Räumlichkeit für die Dispatcher der BVB.Um 1922 wurden die Oberleitungsanlagen für den Betrieb mit Rollenstromabnehmern umgestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden sich die Berliner Verkehrs-Betriebe zur erneuten Umrüstung auf Bügelbetrieb (Scherenstromabnehmer). Die Umstellung erfolgte in beiden Stadthälften unabhängig voneinander. In Köpenick zog sich dieser Prozess von Oktober 1951 bis Juni 1955 hin.
== Tarif ==
Für die Pferdebahn galt ab Eröffnung zunächst ein Einheitstarif von 10 Pfennig für die einfache Fahrt, Kinder zahlten die Hälfte. Der Tarif änderte sich mit der Netzausdehnung 1903 nicht, berechtigte aber zum Umsteigen am Schloßplatz an Werktagen.Nach der Übernahme der Friedrichshagener Straßenbahn gab die SSC Fahrscheine zum Preis von 15 Pfennig (Kinder 10 Pfennig) aus, die für die Fahrt zwischen Cöpenick und Friedrichshagen galten. Innerhalb der Orte blieb der alte Preis bestehen. Für die Verlängerungen nach Mahlsdorf und Grünau galten ebenfalls erhöhte Tarife. Für die Linie vom Bahnhof Grünau zur Fähre gab die SSC besondere Fahrscheine zum Preis von 10 Pfennig (Kinder 5 Pfennig), die auch zur Benutzung der Fähre nach Wendenschloß berechtigten.Am 3. Januar 1910 trat eine größere Tarifänderung in Kraft. Die Umsteigeberechtigung wurde neben dem Schloßplatz auf die Haltestellen Bahnhof Cöpenick, Bahnhofstraße Ecke Kaiser-Wilhelm-Straße, Friedrichstraße Ecke Seestraße und Mahlsdorf-Süd ausgedehnt, war fortan aber nur gegen einen Aufpreis von 5 Pfennig und ausschließlich an Werktagen erlaubt. Gleichzeitig führte die SSC Monatskarten zu 5,00 Mark (bei maximal zwei Fahrten pro Tag zu 10 Pfennig), Wochenkarten zu 75 Pfennig (bei maximal zwei Fahrten pro Tag zu 10 Pfennig) und Wochenkarten zu 90 Pfennig (bei maximal zwei Fahrten pro Tag auf den übrigen Strecken) ein.
Vermutlich mit Beginn des Ersten Weltkrieges kam ein Einheitstarif von 10 Pfennig zur Anwendung. Er wurde am 1. Juli 1918 auf 15 Pfennig erhöht, ab dem 7. September 1919 lag der Fahrpreis bei 25 Pfennig, ab dem 21. Mai 1920 dann bei 50 Pfennig.Nach der Übernahme durch die Berliner Straßenbahn blieb auf den Cöpenicker Linien ebenso wie auf der vormaligen Städtischen Straßenbahn Spandau und der Straßenbahn der Gemeinde Heiligensee an der Havel ein gesonderter Vororttarif bestehen. Die Berliner Straßenbahn gab ab dem 15. Januar 1921 einen Übergangsfahrschein zum Preis von 1,20 Mark aus, der am 3. März 1921 auf 1,50 Mark erhöht wurde. Der Einheitstarif lag zur selben Zeit bei mittlerweile 80 Pfennig, Umsteiger zahlten innerhalb Cöpenicks 1,00 Mark.Der Umsteigefahrschein kostete ab dem 1. Dezember 1921 1,50 Mark, Fahrkarten für die einfache Fahrt innerhalb Cöpenicks gab die BSt hingegen nicht mehr aus. An ihre Stelle traten Sammelkarten für acht Fahrten zum Gesamtpreis von 10,00 Mark, ab dem 4. Februar 1922 zum Preis von 14,00 Mark, am 13. April 1922 lag der Preis bei 22,00 Mark. Ab dem 22. Juni 1922 gab die BSt wieder Einzelfahrscheine für die Vorortbahnen aus, der Fahrpreis lag bei der Einführung bei 3,00 Mark und stieg bis zum 23. September 1922 auf 8,00 Mark an.Die Erhöhungen fanden ab dieser Zeit in immer kürzer werdenden Abständen statt, so dass die BSt bald darauf verzichtete, die Fahrpreise auf den Fahrkarten anzugeben. Einen Monat nach dem Zusammenbruch der Berliner Straßenbahn am 8. September 1923 führte die neue Berliner Straßenbahn-Betriebs-Gesellschaft einen neuen Einheitstarif ein, der Sondertarif wurde gleichzeitig aufgehoben.
== Fahrzeuge ==
=== Allgemeines ===
Der Wagenpark der Cöpenicker Straßenbahn setzte sich ausschließlich aus zweiachsigen Fahrzeugen zusammen. Insgesamt kamen 61 Fahrzeuge zum Einsatz, davon sieben Pferdebahnwagen, 32 Triebwagen, 24 Beiwagen sowie ein Arbeitstriebwagen. Drei Pferdebahnwagen wurden 1903 für den elektrischen Betrieb umgerüstet. Die Wagen verfügten über elektrische Bremse und waren über Rundstangen miteinander gekuppelt.
Die Wagen erhielten zunächst eine zweifarbige Lackierung in elfenbein mit tannengrünen Seitenwänden unterhalb der Fenster. Mittig an den Seitenwänden sowie an den Wagenenden war die Wagennummer angeschrieben. Darunter war der Schriftzug Cöpenicker Strassenbahn angeschrieben. Ab Februar 1912 wurden die Wagen komplett in elfenbein lackiert. Anstelle der seitlich angebrachten Wagennummer prangte das Stadtwappen Cöpenicks. Der Schriftzug wurde in Städtische Strassenbahn Cöpenick abgeändert.
=== Entwicklung ===
Die Pferdebahnwagen übernahm die CPfE gebraucht von der Neuen Berliner Pferdebahn (NBPf) sowie von der Großen Berliner Pferde-Eisenbahn (GBPfE). Zwei der NBPf-Wagen waren zuvor als Perambulatorwagen für den gemischten Betrieb auf Schiene und Straße im Einsatz. Bis auf einen zweispännigen Decksitzwagen handelte es sich um einspännige Eindecker. Die Wagen 5 bis 7 wurden nach 1903 unter den neuen Nummern 11 bis 13 weitergenutzt.
1903 bestellte die CPfE/SSC zehn dreifenstrige Trieb- sowie zwei achtfenstrige Beiwagen bei der Waggonfabrik Act. Ges. vorm. P. Herbrand & Cie. in Köln-Ehrenfeld. Die Triebwagen hatten Fahrgestelle des Typs Neu-Berolina und ähnelten somit den zur gleichen Zeit von der Großen Berliner Straßenbahn eingesetzten Berolina-Wagen. Die Beiwagen waren als so genannte Sommer-Winter-Wagen mit herausnehmbaren Fensterscheiben konzipiert.Mit dem stetigen Netzausbau wächst auch der Wagenbestand kontinuierlich an. Lieferant war bevorzugt die Waggonfabrik Herbrand, deren dreifenstrige Trieb- und Beiwagen sich wagenbaulich ähnelten. Die Wagen hatten offene Einstiegsplattformen, 1907 erhielt ein Triebwagen nachträglich eine Verglasung.1912/13 lieferte Lindner in Halle-Ammendorf nochmals acht Trieb- und zwei sechsfenstrige Beiwagen mit geschlossenen Plattformen. Im gleichen Jahr nahm die SSC einen Sprengtriebwagen zur Reinigung der Rillenschienen in Betrieb, der ab 1914 auch auf den unbefestigten Strecken eingesetzt werden konnte.Ein weiter Einzelgänger war Beiwagen 40. Der Metropol-Wagen war 1899 bei Herbrand gebaut worden und bis 1906 bei der Friedrichshagener Straßenbahn im Einsatz. Er wurde als einziger Wagen von der Cöpenicker Straßenbahn übernommen und 1925 ausgemustert.
Sämtliche Wagen gingen 1920 in den Bestand der BSt über und erhielten neue Wagennummern. Die Triebwagen liefen zunächst unter den Nummern 4199 bis 4222 weiter, die Beiwagen mit den Nummern 1554 bis 1577. Ein Großteil der Triebwagen wurde während der 1920er Jahre zu Beiwagen umgebaut, die übrigen gingen in den Arbeitswagenbestand über. Bis Anfang der 1930er Jahre waren die meisten Cöpenicker Wagen ausgemustert. Der Saugwagen A62 (ex SSC 57) wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, möglicherweise wurden noch verwendbare Teile des Wagens für den Aufbau des Saugwagens A29II genutzt. Der Arbeitstriebwagen A165 entstammte der 1913 von Lindner gelieferten Serie und war ab 1952 einer von zwei fahrbaren Büchereiwagen der Berliner Verkehrs-Betriebe. Er wurde 1974 außer Dienst gestellt.
=== Fahrzeugübersicht ===
Die nachfolgende Tabelle gibt eine tabellarische Übersicht über die von der CPfE beziehungsweise SSC eingesetzten Fahrzeuge. Soweit vorhanden werden Baujahr, Hersteller, die Wagennummer, Anzahl der Seitenfenster zwischen den Plattformen, die Achsanzahl sowie die Wagennummer bei der BSt angegeben. In der Spalte Bemerkungen werden weitere Informationen sowie der Verbleib der Fahrzeuge angegeben. In der Tabelle werden zuerst Pferdebahnwagen, dann die elektrischen Trieb- und Beiwagen mit aufsteigender Nummerierung aufgelistet.
=== Historischer Triebwagen ===
Von den Fahrzeugen des SSC ist keines erhalten geblieben. Als historisches Fahrzeug des Denkmalpflege-Verein Nahverkehr Berlin ist ein Nachbau des Triebwagen 10 vorhanden, der zuletzt als Arbeitstriebwagen A277 fuhr. Als Spenderwagen diente der Arbeitstriebwagen A277II, ein ehemaliger U3l-Wagen, der Anfang der 1920er Jahre aus einem Berolina-Triebwagen umgebaut wurde. Er hat somit in etwa die gleichen Maße wie der Cöpenicker Triebwagen. Am 21. Juni 1969 wurde er anlässlich der Festwoche „Köpenicker Sommer“ als erster Traditionswagen vorgestellt. Das völlig abweichende Laufgestell der Originalbauart wurde durch hell lackierte Blenden auf beiden Seiten nachgebildet. Der Triebwagen ist fahrfähig und wird bei diversen Sonderfahrten eingesetzt.
== Literatur ==
Denkmalpflege-Verein Nahverkehr Berlin (Hrsg.): Tram Geschichte(n). 100 Jahre „Elektrische“ in Köpenick. Verlag GVE, Berlin 2003, ISBN 3-89218-082-2.
Heinz Jung, Wolfgang Kramer: Die Straßenbahn in Cöpenick. In: Berliner Verkehrsblätter. Hefte 3, 4, 6, 7, 8 aus 1957; Heft 12/1964.
Uwe Kerl, Wolfgang Kramer: 100 Jahre elektrisch durch Cöpenick. Die Geschichte der Cöpenicker Straßenbahn. In: Berliner Verkehrsblätter. Hefte 8, 9, 2003.
== Weblinks ==
Markus Jurcizek von Lisone: Die Cöpenicker Straßenbahn. In: Berliner Verkehrsseiten. April 2006, abgerufen am 2. Januar 2010.
Streckennetzplan der SSC um 1912
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/St%C3%A4dtische_Stra%C3%9Fenbahn_C%C3%B6penick
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Tanzlinde
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= Tanzlinde =
Tanzlinden sind kunstvoll geleitete Lindenbäume, die früher in manchen Regionen häufig der Mittelpunkt dörflicher Feste und Bräuche waren. Heute gibt es sie nur noch in wenigen Dörfern.
Tanzlinden im engeren Sinne sind eine besondere Form von geleiteten Linden. Ursprünglich wurden als Tanzlinden nur geleitete Linden bezeichnet, die Podeste trugen, damit in der Baumkrone getanzt werden konnte. Die Stützpfeiler der geleiteten Tanzlinden sind dabei, ähnlich wie die übrigen Konstruktionen, häufig kunstvoll gearbeitet.
Tanzlinden im weiteren Sinne sind geleitete Linden, bei denen am Boden unter der Linde oder außerhalb des Astbereiches um sie herumgetanzt wird.
Sonstige Tanzlinden sind Linden, die im Mittelpunkt von Tanzbräuchen stehen oder standen, ohne einer besonderen Formgebung unterzogen worden zu sein und ohne über Gerüstkonstruktionen zu verfügen.
Daneben gibt es noch geleitete Linden, die mit ihrer Formgebung der klassischen Tanzlinde sehr ähnlich sind (und deshalb oftmals auch als Tanzlinde bezeichnet werden), aber niemals mit Tanzbräuchen verbunden waren (etwa manche Stufenlinden).
Der Vollständigkeit halber sind auch weitere Formen geleiteter Linden wie etwa Gerichtslinden sowie Linden-Lauben aufgeführt.
== Allgemeines ==
Bei beiden geleiteten Hauptformen der Tanzlinden ist um den Stamm der Linde, auf Höhe des unteren Astkranzes, ein Gerüst gebaut, das unter anderem dem Verziehen der Äste dient. Bei Tanzlinden sind die Bäume in der Regel Naturdenkmale, die stützenden Bauwerke meist auch Baudenkmale, die gemeinsam als Teil dörflicher Kultur, meist als Mittelpunkt lokaler Traditionen und Tanzbräuche in Zusammenhang mit Kirchweihfesten, dienen; auf diesem einmaligen Zusammenspiel dreier Elemente beruht die besondere, weit über die Standortdörfer und -regionen hinausgehende eigenständige kulturelle Bedeutung der Tanzlinden.
In Limmersdorf entsteht zurzeit das Deutsche Tanzlindenmuseum, in dem neben einer umfassenden Bestandsaufnahme unter anderem auch erstmals eine Klassifizierung und Typisierung und eine umfassende Bibliothek erfolgen soll.
Seit 2014 zeigt das Lindenbaum-Museum in Neudrossenfeld anhand von Modellen über 40 Beispiele von geleiteten Lindenbäumen in Europa, davon viele Tanzlinden. Die Ausstellung wurde in Form einer Begleitpublikation verschriftlicht.
=== Tanzlinden im engeren Sinne ===
Bei den Tanzlinden im engeren Sinne wachsen die Äste des untersten Astkranzes, meist in einer Höhe zwischen zwei Metern und drei Metern, unter einem Gerüst aus massiven Holzbalken entlang und dann außerhalb an laubenartigen (über-)mannshohen Spalieren mit Fensterausschnitten oder an Balustraden wieder nach oben, so dass es aussieht, als ob die Äste die Balkenkonstruktion trügen; eigentlich hängen die Äste aber an den Balkenkonstruktionen. Tatsächlich werden die Konstruktionen dann hauptsächlich von Säulen aus Sandstein oder Holz getragen (manchmal auch Metall), die am Rand der Baumkrone ringförmig um den Stamm mit Radien zwischen drei Metern und fünf Metern angeordnet sind; je nach statischem Bedarf werden manchmal Säulen innerhalb des Ringes aufgestellt. Die horizontale Balkenlage ist entweder dauerhaft oder nur zu den Tanzfesten mit Brettern belegt; diese Tanzfläche ist über eine Treppe zu erreichen. So entstehen imposante, luftige Baumpavillons, die Tanzpaaren und manchmal sogar den Musikkapellen Platz bieten, früher angeblich manchmal sogar auf zwei Ebenen verteilt.
„Klassische“ Tanzlinden, die noch zum Tanzen benutzt werden (können), stehen in:
Limmersdorf (Oberfranken, seit 1686)
Langenstadt (Oberfranken, Nachpflanzung 1995), öffentlich genutzt, aber auf privatem Grund
Peesten (Oberfranken, Nachpflanzung 1951)
Effelder (Südthüringen, seit 1707)
Sachsenbrunn (Südthüringen, seit etwa 1650)
Oberstadt (Südthüringen, seit 1800), betriebsbereit
Großensee (Werra-Suhl-Tal), dreistufig gezogen, 1966 als Naturdenkmal ausgewiesenNeue Tanzlinden entstehen in:
Bärstadt (Hessen, Neupflanzung 2004)
Leeden (Westfalen, Neupflanzung 2005)
Limmersdorf II (Oberfranken, 1990), Nachpflanzung und Demonstrationsobjekt im Deutschen Tanzlindenmuseum
Limmersdorf III (Oberfranken, 1991), Demonstrationsobjekt im Deutschen Tanzlindenmuseum
Selbitz (Oberfranken), Erstpflanzung 1997 durch den Schülerjahrgang 1946/47
Wald (Baden-Württemberg), Neupflanzung 2008
Rudolstadt (Thüringen), Neupflanzung 2014Baumveteranen, die vermutlich Tanzlinden im engeren Sinne waren in:
Eishausen (Thüringen)
Faistenau (Österreich, seit 1320), die Dorflinde in Faistenau ziert auch das Gemeindewappen
Himmelsberg (Hessen)
Lischeid (Hessen)
Neustadt im Eichsfeld (Thüringen, seit etwa 1650), die Tanzlinde ziert auch das Dorfwappen
Niedenstein (Hessen)
Bexten (Westfalen)
Linde in Schenklengsfeld, mit etwa 1275 Jahren vermutlich der älteste Baum Deutschlands
Stein am Rhein (Schweiz): ca. 400 Jahre alte SchützenlindeBäume, die wie „echte“ Tanzlinden geformt sind, aber mit keiner Tanztradition verbunden sind:
Podest ohne Astkranz:
Galenbeck (Mecklenburg-Vorpommern), Privatbesitz
Podest ohne Mittelstamm und ohne Stütz-Gerüst:
Gescher (Westfalen, seit etwa 1880), Privatbesitz
Podest zur Aussicht oder für Musikanten:
Elstra-Rehnsdorf (Sachsen), Privatbesitz
Klein Görnow (Mecklenburg-Vorpommern), Privatbesitz
=== Tanzlinden im weiteren Sinne ===
Bei den geleiteten Tanzlinden im weiteren Sinne ist das Zusammenspiel von Baum und Gerüst andersherum: Dort wachsen die Äste über den Konstruktionsbalken, weil in der Regel die Gerüste die Äste tragen. Deshalb konnte bzw. kann nicht auf, sondern lediglich unter den Linden getanzt werden (Platz- oder Plan-Tanz).
Solche Tanzlinden stehen beispielsweise in:
Effeltrich (Oberfranken)
Hilgershausen (Felsberg) (Hessen)
Rheine (Westfalen)
=== Sonstige Tanzlinden ===
Bei den sonstigen Tanzlinden ist hingegen kein Gerüst vorhanden, das umgebende Gelände dient jedoch als Tanzplatz; in einigen Fällen wird die Bezeichnung Tanzlinde auch ohne jeden erkennbaren Bezug zu Tanzbräuchen als Interpretation der Form des Baumes benutzt.
Linden dieser Art stehen beispielsweise in
Kaltennordheim (Südthüringen)
Neudrossenfeld (Oberfranken)
Guttenberg (Oberfranken)
Schloss Spangenberg (Hessen)
Dorla (Hessen)
Langenbeutingen (Baden-Württemberg).
=== Stufenlinden ===
Eine besondere Form geleiteter Linden, die oftmals als Tanzlinden bezeichnet werden, sind die Stufenlinden.
Diese eindrucksvollen Bäume mit bis zu zehn Astkränzen erhielten aber in der Regel nicht zu Tanzzwecken, sondern als rein ästhetisch-romantische Spielart ihre Form. Die bekanntesten davon stehen in
Untertheres (Unterfranken)
Grettstadt (Unterfranken), zwei Bäume
Salz (Unterfranken)
Bad Tabarz (Thüringen)
Isling (Oberfranken).
== Geschichte ==
Tanzlinden waren sowohl Orte der Gerichtsbarkeit als auch Versammlungsstätten. Linden wurden und werden deshalb oftmals an zentralen Plätzen innerhalb von Siedlungen gepflanzt und erreichen dort zum Teil imposante Größen.
== Verbreitung ==
Tanzlinden sind heute vorwiegend noch in kleineren Orten zu finden, in denen sie sowohl das Ortsbild als auch die dörflichen Feste prägen. Schwerpunkt dieser Tradition sind eindeutig die fränkischen Regionen Oberfranken, Südthüringen, Osthessen und Hohenlohe.
Vereinzelt existieren ähnliche Bäume auch in anderen deutschen Regionen (etwa Westfalen) und angrenzenden europäischen Ländern (Schweiz, Frankreich, Belgien, Österreich). Allerdings sind die Linden dort zwar in entsprechende Form geleitet, Tanztraditionen wie bei den „klassischen“ Tanzlinden in Oberfranken und Thüringen sind aber meist nicht überliefert.
== Tanz auf der Linde ==
Die heute bekannteste Tanzlinde steht im oberfränkischen Limmersdorf im Landkreis Kulmbach, das seit 1978 zum Markt Thurnau gehört. Die dortige Lindenkirchweih ist das älteste, ununterbrochen seit mindestens 1729 veranstaltete Fest, bei dem der Tanz auf der Linde und der Platztanz unter der Linde im Mittelpunkt des Kirchweihfestes stehen. Die Musikkapelle hat ein eigenes kleines Häuschen in der Plattform. Am Linden- und Kirchweihplatz, unmittelbar neben der 500-jährigen Kirche St. Johannes der Täufer, ist in Limmersdorf wegen der besonderen Bedeutung der Limmersdorfer Tanzlinde und dieses Brauchtums in Oberfranken das Deutsche Tanzlindenmuseum im Aufbau; auch die Deutsche Tanzlindenroute und der Tanzlindenradweg rund um Thurnau (Limmersdorf – Langenstadt – Peesten – Limmersdorf, ca. 30 km) beginnen dort.
Im Jahr 2014 wurde die Limmersdorfer Lindenkirchweih für die Region Franken als einer von 27 Bräuchen in Deutschland in die Nationale Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen; seitdem gilt die Tanzlinde in Limmersdorf für viele als „Baum der Franken“, manche sehen in ihr auch den neuen „Baum der Bayern“.
2014 wurden das Gerüst um die Linde, der Tanzboden und die tragenden Sandsteinsäulen umfassend saniert.
Der Tanz auf der Linde zur Kirchweih findet auch noch auf den Linden in Langenstadt, Peesten und Effelder statt; in Bärstadt wird seit einigen Jahren begonnen, die Tradition nach fränkisch-thüringischem Vorbild neu zu begründen.
== Literatur ==
Friedrich Wallner: Die Dorflinde zu Effeltrich (Oberfranken). In: Friedrich Stützer (Hrsg.): Die größten, ältesten oder sonst merkwürdigen Bäume Bayerns in Wort und Bild. Band 1. Piloty & Löhle, München 1900, S. 29–31 mit Lichtdruck-Tafel, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00113451-1.
Friedrich Stützer: Die Plan- oder Tanzplatzlinde in Peesten bei Kulmbach (Oberfranken). In: Friedrich Stützer (Hrsg.): Die größten, ältesten oder sonst merkwürdigen Bäume Bayerns in Wort und Bild. Band 2. Piloty & Loehle, München 1901, S. 75–76, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00113452-7.
Friedrich Gollwitzer: Die Tanz- und Platzlinden im Bezirk Kulmbach. In: Fränkische Heimat. Band 6, 1927, S. 180.
Herrmann Röttger: Über die Dorflinde. In: Bayerischer Heimatschutz. Band 24, 1928, S. 24–30.
Oskar Moser: Lindentanz und Kirchweihrecht. In: Festschrift für Franz Koschier. Klagenfurt 1974, S. 58.
Rainer Graefe: Geleitete Linden. In: Daidalos. Nr. 23: Baum und Architektur. Gütersloh 1987.
Katrin Birkner, Volker Illigmann, Jürgen Kraus, Heike Schwandt: Limmersdorf 1255–2005. Boullion, Bayreuth 2005 (Verein zur Erhaltung und Förderung der Limmersdorfer Kirchweihtradition).
Uwe Kühn, Stefan Kühn, Bernd Ulrich: Bäume, die Geschichten erzählen. BLV, München 2005, ISBN 3-405-16767-1.
Michel Brunner: Bedeutende Linden – 400 Baumriesen Deutschlands. Haupt, Bern 2007, ISBN 978-3-258-07248-7.
Andreas Zehnsdorf: Thüringens merkwürdige Linden. In: Thüringer Hefte für Volkskunde. Erfurt 2009.
Rainer Graefe: Bauten aus lebenden Bäumen. Geleitete Tanz- und Gerichtslinden. In: Arbeitsblätter zur Baugeschichte. Band 4, Geymüller, Aachen/Berlin 2014, ISBN 978-3-943164-08-4.
Anette Lenzing: Gerichtslinden und Thingplätze in Deutschland. Die Blauen Bücher, Königstein im Taunus 2005, ISBN 3-7845-4520-3.
== Weblinks ==
Deutsches Tanzlindenmuseum in Limmersdorf.
LindenbaumMuseum in Neudrossenfeld.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tanzlinde
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Das Ei und ich (Buch)
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= Das Ei und ich (Buch) =
Das Ei und ich (Titel des englischen Originals: The Egg and I) ist eine autobiografische humoristische Erzählung der amerikanischen Schriftstellerin Betty MacDonald. Das 1945 erschienene Buch beschreibt die Erlebnisse der Erzählerin auf einer Hühnerzuchtfarm am Rande der Olympic Mountains Ende der 1920er Jahre. Es wurde ein Bestseller, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde und von dem weltweit über drei Millionen Exemplare verkauft wurden. Eine Verfilmung des Buchs gab Anlass zu einer ganzen Serie weiterer Filme, deren Mittelpunkt die im Buch beschriebenen Hillbillys bildeten.
Das Werk fand erst in den 1970er Jahren, im Zuge einer Diskussion über häuslichen Humor und „komischen Feminismus“, einige Beachtung in der Literaturwissenschaft, insbesondere in den Women’s Studies. Bereits 1951 war jedoch im Zuge eines Verleumdungsprozesses die Frage nach der Textsorte von The Egg and I juristisch akut geworden, also die Frage, ob es sich um eine autobiografische Erzählung oder ein fiktionales Werk handele. Schließlich wurde es auch Thema in einer Debatte über literarischen Regionalismus und die Werte des amerikanischen Westens. Philologische Fragen der Entstehung, Veröffentlichung und Vermarktung des Buches sowie der biografischen Bezüge und Schauplätze wurden erst in einer 2016 erschienenen Biografie von Paula Becker geklärt.
== Handlung und formaler Bau ==
Die durchgängig in der Ich-Form erzählte Geschichte ist in fünf Teile (parts) unterteilt, die jeweils mehrere Kapitel enthalten und durch ein Zitat eingeführt werden, das als Motto dem Text voransteht. Der Titel des ersten Teils, „Such Duty“ („Solche Pflicht“), ist dem Motto dieses Teils entnommen, einem Shakespeare-Zitat aus Der Widerspenstigen Zähmung: „Such duty as the subject owes the prince,/Even such a woman oweth to her husband“ („Die Pflicht, die der Vasall dem Fürsten zollt,/die ist die Frau auch schuldig ihrem Gatten“). Er bezieht sich direkt auf die Ermahnung der Mutter der Erzählerin, es sei die Pflicht der Frau, dafür zu sorgen, dass der Mann sich bei seiner Arbeit wohlfühlt – eine Pflicht, die die Erzählerin trotz großer Anstrengung nicht zu erfüllen vermag. Die drei Kapitel des ersten Teils enthalten zunächst einen gerafften, anekdotischen Überblick über die Kindheit der Erzählerin. Es folgt die Heirat der 18-Jährigen mit dem Versicherungsangestellten Bob und dessen Entschluss, auf der Olympic-Halbinsel eine Hühnerfarm zu betreiben – eine Entscheidung, die die Erzählerin gemäß dem Leitsatz der Mutter freudig unterstützt. Die beiden begeben sich in die „ungezähmteste Ecke der Vereinigten Staaten“ („most untamed corner of the United States“), kaufen eine verlassene Farm und richten sie her. Dies nimmt etwa den Zeitraum zwischen März und November ein.
Die Titel der anderen vier Teile folgen dem Jahreslauf: November – Frühling – Sommer – Herbst. Die Erzählung verlässt hier weitgehend die chronologische Folge und reiht Anekdoten, wiederkehrende Ereignisse und daran geknüpfte Reflexionen aneinander. Der Teil „November“, eingeleitet mit einem gekürzten Zitat von Thomas Hoods Gedicht No!, welches das Fehlen von Farbe, Licht und Wärme und Leben im November beschwört, schildert zunächst ausführlich die Arbeiten der Farmerin in einer einsamen Farm ohne Strom und Wasseranschluss und die ungleiche Verteilung und Anerkennung der Arbeit zwischen den Geschlechtern. Das geht von den Kämpfen mit dem anthropomorphisierten Ofen „Stove“ über das Waschen, Bügeln, Backen und Putzen bis zum Aufstehen in tiefer Dunkelheit und Nässe um 4 Uhr morgens. Mit optimistischerem Tonfall werden dann die reichlich vorhandenen Nahrungsmittel aufgezählt – und der Kontrast zu den Sitten der alteingesessenen Bevölkerung, die sich trotz dieser Überfülle von Schweinebauch mit Makkaroni ernährt. Hier wird auch erstmals ihre Schwangerschaft erwähnt, in Verbindung mit einem Angebot zur Abtreibung mittels eines Stiefelknöpfers („plain oldfashioned buttonhook“), das ihr ein Ortsansässiger macht.
Der „Frühling“ trägt als Motto ein Zitat von John Keats: „Hear ye not the hum of mighty workings!“ Die „mächtigen Werke“ beziehen sich auf das Erwachen der Natur und die Fortpflanzungstätigkeit: Die Erzählerin bringt ihre Tochter zur Welt, und als sie aus dem Krankenhaus zurück ist, haben auch auf dem Hof alle Tiere eifrig Nachwuchs in die Welt gesetzt („had been busy producing“), was die Arbeit noch vermehrt. Der Kern des Frühlingsteils ist jedoch der gesellschaftliche Verkehr, besonders mit den nächsten Nachbarn. Das sind einerseits die Kettles, „Paw“ und „Maw“ (Papa und Mama) Kettle mit ihren 15 Kindern. Ihre Farm ist, anders als die des tüchtigen Bob und der Erzählerin, unordentlich, schmutzig und nur von Improvisationen zusammengehalten. Paw kommt, sobald die Beziehungen einmal etabliert sind, ständig an, um etwas zu borgen. Das sind auf der anderen Seite die Hicks’: Während Mr Hicks nur als „a large ruddy dullard“ (stämmiger Einfaltspinsel mit gerötetem Teint) erscheint, ist Birdie Hicks vom Haushalt geradezu besessen, ein Putzteufel und in der Lage, schon vor dem Frühstück Hunderte Gläser Obst und Gemüse einzumachen. Die Sympathien der Erzählerin liegen bei Maw Kettle. Ein weiteres Kapitel ist der aufwändigen Hühner- und Kükenpflege gewidmet, die die Erzählerin dazu bringt, selbst Küken hassen zu lernen, denn: „Chickens are so dumb. Any other living thing which you fed 365 days in the year would get to know and perhaps to love you. Not the chicken.“ („Hühner sind so dumm. Jedes andere Lebewesen, das du 365 Tage im Jahr fütterst, würde dich irgendwann kennen und vielleicht lieben. Das Huhn nicht.“)
Der „Sommer“ beginnt mit dem Motto: „Man works from dawn to setting sun/But woman’s work is never done“ („Von morgens bis abends arbeitet der Mann/Doch die Arbeit der Frau ist nie getan“), einem bekannten Sprichwort. Das damit angeschlagene Thema der Geschlechterrollen in der Arbeit betrifft unter anderem die Konservierungsarbeiten (Einmachen, Sterilisieren usw.), die der Frau zufallen; die Erzählerin, die mit Birdie Hicks’ Leistungen weder mithalten kann noch will, erlebt den glücklichsten Tag ihres Farmlebens, als endlich der Drucktopf in die Luft fliegt – aber Bob sucht ungerührt einen größeren aus dem Sears-&-Roebuck-Katalog aus. Ein weiteres Kapitel beschreibt Besuche naturschwärmerischer Bekannter auf der Farm, die blind für die Plackerei ihrer Gastgeberin sind. Vor allem geht es in diesem Teil aber um die Indianer, in engem Bezug zum Gender-Thema. Crowbar, Clamface und Geoduck Swensen sind „Bobs gute Freunde, aber zu meinen konnte ich sie nicht rechnen“, weil Frauen für sie nicht zählen („They were Bob’s good friends. I couldn’t count them as mine, for they had no use for women and were unable to understand Bob’s attitude toward me“). Die Kapitelüberschrift „Mit Pfeil und Bogen“ steht in ironischem Kontrast zum von der Erzählerin wahrgenommenen Erscheinungsbild: klein, o-beinig und meist betrunken. Das Kapitel berichtet unter anderem von einer bedrohlichen Situation: Ein betrunkener Freund von Geoduck sucht sie zu Hause auf, als sie allein ist, und belästigt sie; sie wird ihn nur mit vorgehaltener Flinte wieder los. Die Erzählerin wird danach, sozusagen als Friedensangebot, samt Kind und Mann zu einem indianischen Picknick eingeladen. Sie ist entsetzt von der Sauferei, dem Schmutz und dem Umgang mit den Kindern. Es folgen Kapitel über die Erziehung der Kinder in nicht-indianischen Kreisen – die mit Schweinebauch und Bier gefüttert werden – und die gefährliche, häufig zu Todesfällen führende Arbeit der Männer im Holzfällerlager.
Der abschließende Teil „Herbst“, eingeleitet erneut mit einem Zitat von Thomas Hood, diesmal dem Anfang seines Gedichts Autumn, beginnt mit einer technischen Veränderung, die auf den Abschied vom unzivilisierten Leben vorausdeutet: Bob baut eine Wasserleitung für die Farm. Es folgen Erlebnisse des ländlichen, mit viel Alkohol verbundenen geselligen Verkehrs („The Theatah – the Dahnse“), darunter eine große Geburtstagsparty für Maw Kettle. Später führt ein Brand, ausgelöst durch Unachtsamkeit von Paw Kettle, zu einer vereinten Anstrengung der Männer, das Feuer einzudämmen; der Erzählerin fällt die Aufgabe zu, die Helfer bis fünf Uhr morgens mit Essen und Alkohol zu versorgen. Schließlich berichtet Bob von einer Farm im Stadtgebiet von Seattle, die zum Verkauf stehe. Die Erzählerin ist begeistert von der Aussicht auf Strom- und Wasseranschluss und hofft, künftig morgens länger im Bett bleiben zu können, doch Bob dämpft ihren Enthusiasmus: Hühner müssten immer früh gefüttert werden. Die Erzählung endet mit der lakonischen Feststellung: „Which just goes to show that a man in the chicken business is not his own boss at all. The hen is the boss“ („Woraus ersichtlich ist, dass der Besitzer einer Hühnerfarm keineswegs sein eigener Herr ist. Die Henne ist sein Meister“).
Eine räumliche Einordnung der Handlung in der Nähe des Puget Sound an der Pazifikküste des Staates Washington und, genauer, auf der Olympic-Halbinsel ist gut möglich, obwohl die Orts- und Landschaftsnamen fast durchweg verschleiert sind. Auf die zeitliche Einordnung gibt es hingegen kaum Hinweise. Lediglich die wiederholten Anspielungen auf die Prohibition lassen darauf schließen, dass die Handlung bereits über zwanzig Jahre zurückliegt.
== Entstehungs-, Veröffentlichungs- und Vermarktungsgeschichte ==
=== Entstehung und Lektorat ===
Die Grundlage des Buchs bilden die Erfahrungen der Autorin. Sie heiratete 1927 als Zwanzigjährige den Versicherungskaufmann Robert Heskett, mit dem sie bis 1930 auf der Olympic-Halbinsel eine Hühnerzuchtfarm bewirtschaftete. Anekdoten aus dieser Zeit erzählte sie vielfach im Familien- und Kollegenkreis, auch in Briefen. Gemäß MacDonalds eigenen Angaben, sowohl in ihrem späteren Buch Anybody can do anything als auch in Briefen, ging der Entschluss, sie niederzuschreiben, auf das wiederholte Drängen ihrer Schwester Mary Bard zurück, die später selbst Schriftstellerin wurde. Ihr ist The Egg and I auch gewidmet, die Widmung lautet: „To my sister Mary who has always believed that I can do anything she puts her mind to“, also etwa: „Für meine Schwester Mary, die immer geglaubt hat, dass ich alles schaffen kann, was sie sich in den Kopf gesetzt hat.“
Begonnen hat MacDonald das Manuskript aber vermutlich bereits 1940 oder 1941 in Seattle, möglicherweise auf die Anregung eines Professors für Creative Writing an der University of Washington. Sie ließ es zunächst liegen, als sie ihren zweiten Mann Donald MacDonald kennenlernte. Seit 1942 lebte sie mit Donald MacDonald auf Vashon Island und beide pendelten mit der Fähre zur Arbeit nach Seattle. Mary Bard, die Kontakt zu einem Lektor und Literaturscout von Doubleday, Henri Verstappen, hatte, erzählte diesem, dass ihre Schwester an einem Buch über die Region schreibe, und arrangierte ein Treffen. Verstappen bat Betty MacDonald, bis zum nächsten Tag ein Exposé zusammenzustellen. Um das zu schaffen, meldete sie sich bei dem Bauunternehmen, in dessen Büro sie arbeitete, krank und verlor prompt ihre Arbeitsstelle. Da Verstappen das Exposé vielversprechend fand, betrieb sie nun ernsthaft die Fertigstellung des Manuskripts. Weil sie wieder Arbeit suchen musste und zudem die beiden Kinder versorgte, stockte die Schreibarbeit aber immer wieder. Schließlich verließ Verstappen Ende 1943 den Verlag und sandte die fertiggestellten Kapitel zurück.Im Februar 1944 schickte Betty MacDonald, wiederum auf Marys Drängen hin, zunächst ein Exposé und dann ein weiter fortgeschrittenes Manuskript an die Agentur Brandt & Brandt in New York. Bernice Baumgarten, Literaturagentin und Leiterin der Buchabteilung bei Brandt & Brandt, hielt es für aussichtsreich, verlangte aber verschiedene Veränderungen: Statt, wie das ursprüngliche Manuskript, in Tagebuchform, sollte es im Stil einer durchgehenden Erzählung gehalten sein; zudem sei es zu kurz. Auf diese Intervention gingen die biografischen Kapitel des ersten Teils zurück. Ferner fand Baumgarten das Ende zu bitter; man gewinne den Eindruck, MacDonald habe ihren Mann zeitweise geradezu gehasst. MacDonald schrieb das Ende um, wobei sie, wie ein Brief an Baumgarten bezeugt, Robert Hesketts Charakter („in Wirklichkeit war er der größte Bastard, den es jemals gab, aber … ich hoffte, man würde es nicht merken“; „actually he was the most concentrate bastard that ever lived but … I hoped it was not apparent“) mit dem ihres zweiten Mannes Donald MacDonald amalgamierte. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass in der Erzählung zu viel die Rede vom illegalen Schnapsbrennen sei. Auch diese anstößige Aktivität milderte die Autorin daraufhin ab. Im Oktober 1944 gelang es Baumgarten schließlich, das Buch auf der Basis des Exposés an den Verlag J. B. Lippincott & Co. in Philadelphia zu verkaufen. Es gab mit Lippincott noch eine Debatte um den Buchtitel: Der Verleger schlug „Fine Feathered Friends“ (Fein gefiederte Freunde) vor, MacDonald konnte sich jedoch mit ihrem ursprünglichen Titel The Egg and I durchsetzen. Zudem wünschte Lippincott aus juristischen Gründen eine Veränderung der Personennamen, die den wirklichen Namen noch zu ähnlich seien, was MacDonald umsetzte. Von den Manuskripten ist nach Angaben von MacDonalds Biografin Paula Becker nichts erhalten, es ist Becker jedoch gelungen, den Briefwechsel der Autorin mit Baumgarten und Lippincott aufzufinden, der Rückschlüsse auf den Entstehungs- und Lektoratsprozess erlaubt.Eine humoristische Beschreibung des „langen, langen Jahrs zwischen der Empfängnis und der Geburt von The Egg and I“ unter der Überschrift „Anybody Can Write Books“ (Jeder kann Bücher schreiben) bietet das 17. und letzte Kapitel von MacDonalds drittem autobiografischen Buch Anybody can do anything (1950). Die Hindernisse des Schreibprozesses schilderte die Autorin anschaulich in ihrem vierten autobiografischen Buch, Onions in the Stew: „Ich habe versucht, in der Küche, im Esszimmer, im Wohnzimmer, in unserem Schlafzimmer, im Gästehaus, auf der Terrasse, im Innenhof zu schreiben – es ist immer dasselbe. Ich bin zuerst und zuletzt und immer Ehefrau und Mutter, und egal, was ich mache, ich muss damit aufhören, um ‚zu überlegen, wo ich den großen Schraubenzieher hingelegt habe‘ …“
=== Veröffentlichung ===
Zunächst wurde eine Fassung im Sommer 1945 in drei Nummern der Zeitschrift The Atlantic Monthly vorabgedruckt. Diese Fassung war gegenüber der Buchausgabe gekürzt und entschärft („bowdlerized“). Die Zeitschrift sorgte zusätzlich für eine Veränderung aller Ortsnamen, um juristische Probleme zu vermeiden. Im Oktober 1945 brachte Lippincott schließlich die Buchausgabe heraus, die ebenfalls die geänderten Ortsnamen aufwies und sich glänzend verkaufte. Die ersten Auflagen zeigten auf dem Schutzumschlag einen kolorierten Holzschnitt einer Farmszene von Richard Bennett, bald ersetzte der Verlag diese Illustration jedoch durch ein Porträtfoto der Autorin. Urheber dieses Fotos, aufgenommen im Januar 1945, war der Fotograf Leonid Fink (Seattle). Eine Taschenbuchausgabe, eine Buchclubausgabe sowie eine Ausgabe für die „Armed Services“ erschienen noch 1945. Bereits am 30. Dezember 1945 erklomm das Buch die Spitze der Bestsellerliste der New York Times und blieb dort 42 Wochen lang, am 5. Januar 1946 erschien es auch auf Rang 1 der Bestsellerliste von Publishers Weekly und hielt diese Position für 33 Wochen. Auf der Nonfiction-Jahresbestsellerliste (also als Sachbuch) 1946 von Publishers Weekly belegte das Buch Platz 1. Im September 1946 war eine verkaufte Auflage von einer Million erreicht. Reader’s Digest brachte in der November-Ausgabe 1946 eine stark gekürzte Version. Die ersten Übersetzungen erschienen: 1946 ins Dänische, Schwedische und Spanische, 1947 ins Deutsche, Finnische, Französische, Niederländische, Norwegische (Bokmål) und Tschechische, 1948 ins Italienische und 1949 ins Polnische. Der Verlag schrieb 1967 in einer Broschüre, allein in den USA und Kanada seien bis August 1966 mehr als 1.801.450 Exemplare verkauft worden, davon 760.501 in der ursprünglichen Hardcover-Ausgabe von Lippincott. Es sei das bestverkaufte Buch gewesen, das Lippincott je verlegt habe. Beth Kraig geht von einer Weltauflage des Buchs von über drei Millionen Exemplaren aus; es sei in 32 Sprachen übersetzt worden.
=== Vermarktung: Filmrechte ===
Vor allem aber gelang es, die Filmrechte zu verkaufen. Chester Erskine schrieb gemeinsam mit Fred F. Finklehoffe auf der Basis des Buchs ein Drehbuch und drehte dann für Universal Pictures den Film The Egg and I mit Claudette Colbert als Betty, Fred MacMurray als Bob, Marjorie Main als Maw Kettle und Percy Kilbride als Paw Kettle, der im März 1947 Premiere hatte. Das Drehbuch reduzierte den beißenden Witz der Erzählerin deutlich und schnitt die Geschichte auf ein versöhnlich endendes Liebesdrama zu. Eine attraktive Farmerin, die den handelnden Personen hinzugefügt wurde, bot Gelegenheit für Eifersucht, die im Happy End überwunden werden konnte. Komik bezog der Film hauptsächlich aus seinem Umgang mit den Hillbillys, besonders den Kettles: Marjorie Main wurde sogar für einen Oscar (beste Nebenrolle) nominiert, bekam ihn aber nicht. Der Film war ein Kassenerfolg und spielte über 5 Millionen Dollar ein. Das Erfolgsrezept der ländlichen Komödie (rural comedy) verwertete Universal dann bis 1957 mit einer ganzen Serie von insgesamt neun Ma-und-Pa-Kettle-Filmen weiter, die lediglich die Figuren (auch Birdie Hicks, Geoduck und Crowbar) nutzten, aber nichts mehr mit dem ursprünglichen Buch zu tun hatten.
1946 erschien bei Columbia Records auch eine Schallplatte mit dem Song The Egg and I, der aus dem Soundtrack des Films stammte. Als Urheber waren Harry Akst, Harry Ruby, Al Jolson und Bert Kalmar ausgewiesen, Betty MacDonald war als Urheberin des Titels genannt. Es sang Dinah Shore zur Begleitung einer von Sonny Burke geleiteten Bigband. 1947 erschien eine weitere Aufnahme bei RCA Victor, hier waren die Interpreten Sammy Kaye und Mary Marlow (Gesang).Das Lux Radio Theatre sendete am 5. Mai 1947 über CBS Radio eine einstündige Live-Radiofassung mit Orchester und den Stimmen von Claudette Colbert und Fred MacMurray. CBS lancierte auch eine Seifenoper auf der Basis von The Egg and I, mit Pat Kirkland als Betty und John Craven als Bob, die von September 1951 bis August 1952 im Fernsehen lief.
== Historischer Hintergrund ==
=== Hühnerhaltung ===
Die Geschichte, wie sie in The Egg and I erzählt wird, markiert einen grundlegenden Wandel in der Entwicklung der erwerbsmäßigen Hühnerhaltung in den USA. Hühnerhaltung war zunächst zum großen Teil von Bäuerinnen auf dem Hinterhof oder im Garten betrieben worden, um die ökonomischen Risiken der Landwirtschaft etwas abzufedern. Gepflegt wurden die Tiere meist nach tradierten Rezepten, das „Eiergeld“ war meist ein (geringes) eigenständiges Einkommen der Frau. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs lassen sich zunehmende Anstrengungen nachweisen, die Hühnerhaltung zu rationalisieren und zu verwissenschaftlichen. An Universitäten wurden „Extension Services“ zur Schulung der Farmer eingerichtet, so im Jahre 1918 im Bundesstaat Washington, in dem die Handlung spielt. In Alderwood Manor im Snohomish County von Washington gab es eine riesige Demonstrationsfarm, die Farmern den richtigen Weg vorführen sollte, mit Hühnerzucht Geld zu verdienen. Im Zuge der Farmkrise der 1920er Jahre, als die Preise für landwirtschaftliche Produkte kräftig nachgaben, viele Farmer insolvent wurden und nach Westen zogen, gewann das an den Extensions gelehrte neue „mechanistische Modell der Hühneraufzucht“ erheblich an Bedeutung. Damit ging die Hühnerhaltung zugleich von der weiblichen Domäne in die männliche über.
Die in The Egg and I beschriebene Hühnerfarm kann einerseits als einer der letzten Ausläufer des Familienbetriebs betrachtet werden, bevor die Geflügelzucht zur Agrarindustrie wurde. Andererseits handelte es sich durchaus um Intensivtierhaltung, sowohl von den Bestandsgrößen als auch von den Methoden her. Die Protagonisten beginnen mit 750 Hühnern und legen die Größe des Betriebs auf maximal 2000 an, Bob wird zum tüchtigsten Hühnerzüchter der Gemeinde, „wissenschaftlich, gründlich und nicht behindert durch Traditionen oder Altweibergeschichten“. Er konzentriert sich auf die Zucht, da ihm zufolge Eierproduktion und Zucht nicht gleichzeitig wirtschaftlich betrieben werden können. Effiziente Fütterung, sorgfältige Dokumentation und umstandslose Beseitigung der unproduktiven Tiere sind erforderlich, um ein optimales Ergebnis zu erzielen. Literatur zur Hühnerzucht ist reichlich vorhanden und wird genutzt. Die Kontrolle liegt explizit beim männlichen Farmer, die Erzählerin fühlt sich als Arbeitspferd („Percheron“).Das Motto „Zurück zur Natur“ gilt demnach nur für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, nicht aber für die Methoden der Tierproduktion. Das Gegenstück der vorwissenschaftlichen Tierhaltung ist ebenfalls noch im Buch vorhanden, nämlich bei den Kettles. Maw Kettle zieht ihre Küken in der Küche auf, ohne Desinfektionsmittel und Thermometer. „Das sollte der Leitfadenverfasser sehen“, denkt die Erzählerin bitter.
=== Schauplatz ===
Die Hühnerzuchtfarm wurde zu der Zeit, in der die Handlung spielt, dem Siedlungsplatz Center zugerechnet, heute wird sie zu Chimacum gezählt. Diese beiden Siedlungsplätze („neighboring areas“) waren sehr dünn besiedelt, 1926 lebten dort insgesamt etwa 276 Personen. Es gab kaum ausgebaute Straßen, elektrischer Strom war erst in den späten 1940er Jahren verfügbar, außer in den wenigen Häusern, die über eigene Generatoren verfügten. Autos waren noch selten, schwere Transport- und Farmarbeiten wurden mit Pferden verrichtet. Immerhin gab es in Chimacum einen kleinen Laden und eine Post sowie eine High School, die Bettys Schwester Dede besuchte. Größere Einkäufe mussten in Port Ludlow oder Port Townsend erledigt werden, wofür man im letzteren Fall einen ganzen Tag rechnen musste.
Die Bards hatten als Kinder eines umherziehenden Bergbauingenieurs im amerikanischen Westen durchaus ein einfaches Leben kennengelernt, hatten sich danach aber in Seattle an Komfort und ein gesellschaftliches Leben gewöhnt. Dass die Farm in Chimacum für die Autorin einen „Kulturschock“ darstellte, hatte auch mit der Kultur der Familien zu tun, die dort seit Jahrzehnten das Land bewirtschafteten und vielfach miteinander verwandt und verschwägert waren. Dies war keine günstige Situation für Zugezogene aus der Stadt.Dass ein großer Teil der Einwohner indianische Vorfahren hatte, wie MacDonald schreibt, traf zu. Nach dem Puget-Sound-Krieg siedelten sich um 1860 Küsten-Salish-Indianer und europäische Einwanderer im Chimacum Valley an und heirateten untereinander. Einflussreich waren vor allem die Bishops (nicht verwandt mit denjenigen Bishops, die später gegen Betty MacDonald klagten), die aus einer Ehe eines englischen Seemanns mit einer Snohomish hervorgegangen waren. William Bishop jr., der zur Zeit der Handlung von The Egg and I dort lebte, war einer der ersten politischen Vertreter der Native Americans im amerikanischen Westen. Es gab dort auch die einflussreiche Familie Hicks (wiederum nicht identisch oder verwandt mit den Hicks’ aus The Egg and I), Skykomish-Indianer, die an der Mündung des Chimacum Creek wohnten.
== Analysen und Interpretationen ==
=== Textsorte: Autobiografie oder Fiktion ===
In den USA wurde das Buch durchweg als Sachbuch (non-fiction) vermarktet. Paula Becker hält fest, dass es dort zu keinem Zeitpunkt als belletristisches Werk ausgegeben wurde und der Text auch nie eine substanzielle Änderung, die über Neusatz und Druckfehlerkorrektur hinausging, erfahren hat. In Deutschland hingegen erhielt Das Ei und ich spätestens seit der Taschenbuchausgabe von Rowohlt in den 1950er Jahren den Untertitel „Roman“ und wurde durchgängig unter der Kategorie Belletristik eingeordnet.
==== Überarbeitete Wirklichkeit ====
Dass die Handlung eng an wirkliche Ereignisse im Leben der Autorin angelehnt war und auch die handelnden Figuren Vorbilder in der Wirklichkeit hatten, steht fest; ebenso jedoch, dass MacDonald diese Ereignisse und Figuren für die Veröffentlichung bewusst verändert hat. So vermutet Paula Becker, dass die Tätigkeit der Hesketts auf der Farm in Wahrheit weit mehr mit der Schwarzbrennerei zu tun hatte, als die veröffentlichte Fassung zugibt. Insbesondere der Charakter und Verlauf der Ehe weichen stark von dem ab, was über die Biografie der Autorin bekannt ist: Sie verließ Robert Heskett mit ihren beiden Töchtern und ließ sich von ihm scheiden; die Begründung war Alkoholismus und häusliche Gewalt. Damit stimmen auch die später eingeholten Berichte von Nachbarn der Hesketts überein. Das versöhnlich stimmende Ende der Erzählung ist entsprechend reine Fiktion. Ebenso wenig wird im Buch die Tatsache erwähnt, dass die Mutter und die Geschwister der Autorin während der ersten Zeit in der Nähe ebenfalls eine Farm betrieben und damit scheiterten, also keineswegs so weit von ihr entfernt waren, wie das im Buch scheint. Selbst die Geburt einer der beiden Töchter von Betty MacDonald fehlt in der Erzählung.
==== Die Verleumdungsklagen ====
Relevant wurde die Frage „Autobiografie oder Fiktion“ in zwei Verleumdungsklagen („libel suits“), die von Personen, die sich im Buch wiedererkannt hatten, gegen die Autorin eingereicht wurden. Beide folgten mit erheblichem Abstand auf die Buchveröffentlichung und wurden vermutlich durch die Reklame für den Film bzw. im zweiten Fall den Erfolg der Kettle-Filme ausgelöst. Am 25. März 1947 erhoben Edward und Ilah Bishop, die in Chimacum Nachbarn der Hesketts gewesen waren, Klage. Sie gaben an, sie seien die Vorbilder der Hicks’, als solche wiedererkennbar und daher der Lächerlichkeit, dem Hass und der Verachtung preisgegeben. Dafür forderten sie 100.000 Dollar Schadensersatz. MacDonalds Anwalt bestritt die Zulässigkeit der Klage. Es gab ein längeres Hin und Her über zwei Jahre, doch bevor der Fall vor Gericht kam, handelten die Anwälte beider Seiten einen außergerichtlichen Vergleich aus, der im Mai 1949 in Kraft trat. Die Klagenden erhielten 1.500 Dollar und verpflichteten sich im Gegenzug schriftlich, ihre Forderung nicht mehr öffentlich zu erwähnen.Erheblich ernster war die zweite Klage, die am 17. September 1949 von Albert Bishop, sechs seiner Söhne, zwei seiner Töchter und einer Schwiegertochter gegen die Autorin, den Verlag, den Taschenbuchverlag und eine Buchhandlung eingereicht wurde. Bishops Frau, die als Maw Kettle identifiziert wurde, war mittlerweile verstorben. Sie gaben an, sie seien erkennbar als Paw Kettle und seine Kinder porträtiert worden. Dazu kam eine Klage von Robert Johnson, der sich als der Indianer Crowbar beschrieben sah. Alle führten an, die Veröffentlichung habe schlimme und demütigende Folgen für sie gehabt. Die beiden Klagen wurden zusammengezogen, die Schadensersatzforderungen der Kläger summierten sich auf 975.000 Dollar. Am 5. Februar 1951 wurde die Hauptverhandlung in Seattle eröffnet, die bis zum Urteil am 20. Februar 1951 großen Publikumsandrang fand. Die Kläger hatten zu beweisen, dass sie in dem Buch wiedererkennbar dargestellt wurden und dass sie davon bezifferbaren Schaden erlitten hatten. Der Ausgang des Prozesses hing wesentlich davon ab, ob die Kettles und Crowbar erfundene Figuren in einem ansonsten autobiografischen Buch waren oder tatsächlich Porträts der Kläger darstellten.Ein Großteil des Prozesses war dieser Frage gewidmet, was den Zuschauern einige Unterhaltung bot, da die Kläger in dem Bemühen, ihre Identität mit den Kettles nachzuweisen, ihr Hillbilly-Image öffentlich bestätigten. So sah einer der Bishop-Söhne jedem Jurymitglied tief in die Augen, um zu beweisen, dass er tatsächlich blaue Augen habe, wie im Buch beschrieben. Die Verteidigung sprach gewöhnlich von einem Roman („novel“) und bestritt, wenn möglich, jede Identität der Figuren und Schauplätze mit wirklichen Personen und Orten. Vor allem aber hob sie darauf ab, dass die Verbindung zwischen real existierenden Orten und Personen und den im Buch beschriebenen durch die Kläger und andere Personen selbst hergestellt worden sei, um von der Popularität des Buchs zu profitieren. In diesem Fall könnten sie kaum berechtigt sein, auf Schadensersatz zu klagen. Sie rief Zeugen auf, die bestätigten, dass sich die Bishops mit einem gewissen Stolz selbst gegenüber anderen als die Kettles identifiziert hätten und dass eine Schwägerin der Bishops, Anita Larson, die die mutmaßliche Heskett-Farm übernommen hatte, entgeltliche Führungen durch die „Egg and I Farm“ angeboten und dafür sogar Werbeschilder an der Straße aufgestellt habe.Betty MacDonald trat selbst als Zeugin auf und gab an, es habe sich bei den Schauplätzen wie den Personen um Fiktion gehandelt. Sie habe keine wirklichen Personen außerhalb ihrer eigenen Familie geschildert. Es sei ihr lediglich um typische Orte und Personen gegangen, die nicht identisch mit real existierenden seien. „I was writing about an imaginary place in an imaginary country“ („Ich habe über einen imaginären Ort in einem imaginären Land geschrieben“), fasste sie zusammen. Am 20. Februar fällte die Jury ihr Urteil: Die Klage wurde abgewiesen.Paula Becker weist darauf hin, dass MacDonalds Aussage offensichtlich nicht der Wahrheit entsprach. Nicht nur waren die Orte, obwohl sie im Buch „Town“ und „Docktown“ hießen, ohne weiteres als Port Townsend und Port Ludlow identifizierbar, vor allem hatte sie in der Korrespondenz mit dem Verlag die Personennamen einen nach dem anderen abgehakt, um den Forderungen Lippincotts nach juristischer Absicherung nachzukommen. In einem Brief an Bernice Baumgarten hatte sie bereits 1945 sogar geschrieben: „Vielleicht hätte das Buch einen besseren Beigeschmack, wenn ich die Wahrheit vergessen und die Leute weniger wie die ignorante, un- und amoralische, vulgäre Gruppe aussehen lassen würde, die sie tatsächlich waren, und eher rustikal und urig. Wenn es verleumderisch sein soll, die Leute so zu beschreiben, wie sie waren, dann zeigen wir sie doch ruhig so, wie sie nicht waren.“
=== Lokalkolorit und Mythen ===
==== Die letzte Grenze: Natur und Pioniergeist ====
Zu den Gründen für den Erfolg von The Egg and I zählte, wie Analysen der Eigenschaften amerikanischer Bestseller wahrscheinlich machen, das Lokalkolorit des amerikanischen Westens. Ruth Miller Elson meinte: „Wenn man einen Roman schreiben wollte, der sich in den USA gut verkaufen sollte, war ein westlicher Schauplatz für wenigstens einen Teil der Handlung eine gute Idee.“ James Hart schrieb in seiner Arbeit The Popular Book: A History of America’s Literary Taste die Beliebtheit von MacDonalds Buch der allgemeinen Attraktivität von „Americana“ während der 1940er Jahre zu, einer Zeit, in der viele Leute vom Land in die Stadt zogen bzw. ziehen mussten. Dabei stand der Westen für unverdorbene Natur und Pioniergeist, der Osten für Stadt und Zivilisation.
Bereits bei der Entstehung von The Egg and I spielte die Spekulation auf die Attraktivität des Schauplatzes eine Rolle: Der Literaturscout, auf dessen Anfrage hin MacDonald ihr Exposé schrieb, war auf der Suche nach Autoren und Themen aus dem amerikanischen Nordwesten. Im letzten Kapitel ihres dritten autobiografischen Buchs Anybody can do anything legte MacDonald ihrer Schwester Mary eine zugespitzte Version der Stereotypen in den Mund, die aus Buchmarktgesichtspunkten für diese exotische Lokalität sprachen: „Wir leben an der letzten Grenze der Vereinigten Staaten. Das Land der großen Lachswanderungen, der Riesentannen, der unkartierten Gewässer und der unbezwungenen Berge, und es ist fast nichts darüber geschrieben worden. Wenn du den Leuten in New York erzählst, dass die Lachse bei uns zur Haustür hereinspringen und nach unseren Knöcheln schnappen, dann glauben die das. Die meisten Leute in den Vereinigten Staaten glauben, dass wir entweder die ganze Zeit zugefroren sind wie die Antarktis oder dass wir noch Tierhäute tragen und mit den Indianern kämpfen. Also ich persönlich glaube, es ist Zeit, dass jemand von hier mal die Wahrheit schreibt.“Doch wie MacDonald schrieb, wählte sie einen besonderen Dreh, um mit diesen Stereotypen zu spielen, eine Art Gegenschrift gegen die Illusionen des Zurück-aufs-Land-Schemas: „Ich würde eine Art Widerlegung zu all den letzthin erfolgreichen ‚Ich-liebe-das-Leben-Büchern‘ von guten Kameradinnen schreiben, deren Ehemänner sie gezwungen hatten, ohne Licht und fließendes Wasser auf dem Land zu leben. Ich würde die andere Seite zeigen. Ich würde einen Bericht einer schlechten Kameradin über das Leben in der Wildnis ohne Licht, Wasser oder Freunde und mit Hühnern, Indianern und schwarzgebranntem Schnaps verfassen.“ Vor Augen hatte sie dabei speziell Louise Dickinson Richs Erfolgsbuch We took to the woods (Wir zogen in die Wälder), einen 1942 bei Lippincott erschienenen hymnischen Bericht über das gemeinsame Leben eines Ehepaars in der wilden Natur von Maine. In einem Brief an Brandt & Brandt schrieb MacDonald sogar, ihr Buch sollte eigentlich „We don’t take to the woods“ heißen. Für James Hart lag hier ein weiteres Erfolgsgeheimnis von The Egg and I: Die neu in die Stadt verschlagenen Amerikaner hätten sich darin bestätigt fühlen können, dass „es noch belastender sein konnte, zur Natur zurückzukehren, als ihr zu entkommen“.Beth Kraig hat das ambivalente Spiel der Autorin mit den Stereotypen der unverdorbenen Natur, des Pioniergeists und der „letzten Grenze“ (last frontier) näher untersucht und meint, dass Betty MacDonald als „shaky regionalist“, also „wacklige Regionalistin“ bezeichnet werden könne. Sie geht dabei vor allem auf das in The Egg and I mehrfach wiederkehrende Motiv der Pionierin ein. Im einleitenden Kapitel erscheinen zwei weibliche Haltungen zum westlichen Pioniergeist („pioneer spirit“), personifiziert in zwei Vorbildern: Die Mutter der Erzählerin liebt die Gefahr und das Abenteuer und folgt ihrem Mann, wohin ihn sein Weg führt. Sie begleitet ihn freudig, „lebte in einer Hütte und ritt hoch zu Pferd mit dem Baby vor ihr auf dem Sattel“, während Gammy, ihre Großmutter väterlicherseits, den Kindern obsessiv die Gefahren des Lebens im Freien einprägt: „Sie überzeugte uns davon, dass die Bäume am Rand der Lichtung, wo unsere Hütte stand, wie Käfigstangen im Zoo waren und direkt dahinter Hunderte von Wölfen, Grizzlybären und Berglöwen lauerten, die um eine Gelegenheit kämpften, uns zu fressen.“ Zwischen diesen beiden explizit aufgerufenen und jeweils mit großer Sympathie bedachten Vorbildern laviert die Erzählerin, als sie ihrem Mann in die Wildnis folgt.Ähnliches gilt für die Naturbeschreibungen: Das Land sei „nur mit Superlativen zu beschreiben. Am zerklüftetsten, am westlichsten, am größten, am tiefsten, am weitesten, am wildreichsten, am reichsten, am fruchtbarsten, am einsamsten, am verlassensten.“ Solche Darstellungen wirkten durchaus attraktiv auf die Leser. Doch mit dem Aufrufen des Stereotyps der unverdorbenen Natur ging auch ein Gefühl der Unheimlichkeit einher: „Ich sah missmutig auf die so nah dräuenden Berge, die mir ein Gefühl eingaben, als schaute jemand über meine Schulter, und auf die erschreckende Männlichkeit der Wälder, und ich dachte: ‚Um Himmels willen, diese Berge könnten uns abschütteln wie eine Fliege von ihrem Rock, ihre Bäume ein bisschen umstellen und niemand würde je davon erfahren.‘ Es war kein tröstlicher Gedanke.“ Und an anderer Stelle: „‚Dieses Land hasst die Zivilisation, und nicht nur in dem harmlosen Sinn, dass es den Menschen die Zunge herausstreckt, sondern es ist ein gewaltiger, großer, überwältigender Hass mit allen Kräften der Natur hinter sich‘, dachte ich und hoffte, wir würden bald eine Stadt erreichen.“ Damit wird das Bild des „geheiligten Orts“ aufgegriffen, wie es im „echten Regionalismus“ des Westens verwurzelt sei, und zugleich ins Zwielicht gerückt. Ungestört kann die Erzählerin die Idylle der Wildnis nur von der Fähre aus genießen, von wo sie die „großartige Kette der Olympic Mountains“ bewundert, die sich „zuvorkommenderweise in ihrer ganzen verschneiten Pracht“ präsentiert.
==== Hinterwäldler und Indianer ====
Die Biografin von Betty MacDonald, Paula Becker, fand The Egg and I witzig und aufmunternd, aber auch „irgendwie gemein“ („kind of mean“). Von anderen Autoren gibt es deutlichere Urteile: Jerry Wayne Williamson meinte, MacDonald sei offenbar eine „sehr arrogante Person“ gewesen, die „garstige Dinge über andere Leute sagte und sie auch so meinte“. Diese Urteile betreffen vor allem die Beschreibungen zweier Gruppen im Buch: die Landbevölkerung und die Indianer. Dass man an der Art, wie die Hinterwäldler dargestellt werden, Anstoß nehmen konnte, wird bereits in den Verleumdungsprozessen um das Buch sichtbar. Die Vorstellung dieser Figuren war im Buch „weit weniger unbeschwert als in dem Film, den Hollywood daraus machte“. So wird Maw Kettle in drastischen Ausdrücken als vulgär und unsauber geschildert, wenn auch diese Beschreibung durch die Sympathie der Erzählerin bis zu einem gewissen Grade entschärft wird; bei Paw Kettle, der als arbeitsscheuer Schnorrer erscheint, ist eine solche Abmilderung kaum erkennbar. Paula Becker kommentiert: „Was auch immer sie an Menschlichem an diesen Leuten beobachtet hatte, war abgestreift worden, als Betty ihr Buch schrieb, und so blieben bloß Karikaturen übrig.“Dennoch stießen gerade diese Karikaturen auf das Interesse der Leserschaft und das galt besonders für die Kettles, die im Buch die Rolle der Hanswurste oder Narren in der Komödie bzw. der Zanni in der Commedia dell’arte spielten. In der Verfilmung wurden die aggressiven Züge, die ihre Schilderung aufwies, stark verdünnt und es entstanden volkstümliche Figuren mit goldenem Herzen, aber unkultivierten Sitten, über die man gutmütig lachen konnte. Sie wurden zu ikonischen Figuren der ländlichen Komödie („rural comedy“) in Amerika. Im Buch hingegen schlägt die Einsamkeit und Entmutigung der Erzählerin durch, die, wie sie an Bernice Baumgarten schrieb, ihre Nachbarn eher als schreckenerregend denn als amüsant erlebte, als „ignorante, un- und amoralische, vulgäre Gruppe“. In manchen Fällen, etwa bei der Kritik der üblichen Kindererziehung, ist der Ton kaum mehr humoristisch. Allerdings bleibt die Bewertung doch ambivalent. Wenn die Kinder auch mit Kaffee, Bier und Schweinebauch großgezogen und von jeder frischen Luft ferngehalten wurden: „Sie überlebten und wurden groß, und ihr Leben war sicher faszinierender als das von modernen Babys mit ihren festen Fütterungszeiten und sterilen Fläschchen.“ Die Hinterwäldler-Welt, so erschreckend sie erscheinen mag, hat bei MacDonald auch ihre faszinierenden Seiten.
Die Beschreibung der Indianer in The Egg and I hingegen ist von solchen Ambivalenzen fast völlig frei. Sie werden als Gegenbild zum Ideologem des edlen Wilden eingeführt, das die Autorin, wie sie berichtet, aus ihrer Kindheit in Butte kannte: Prärieindianer mit Federschmuck. „Ich hegte noch immer diese romantischen Vorstellungen von Indianern, als ich auf die Hühnerfarm kam, und es war ein schwerer Schlag, als ich merkte, dass der kleine rote Bruder von heute, zumindest die pazifische Variante, die ich sah, nicht ein großer kupferhäutiger Krieger ist, der, nur mit Perlen und Federn bekleidet und Pfeil und Bogen führend, in den tiefen Wäldern umherzieht. Unser Indianer, untersetzt und schlammfarben, war eher hingelümmelt in einem Ford Modell T zu finden, mit einem Zahnstocher zwischen den gelben Zähnen, betrunken und einen anzüglichen Blick im flachen Gesicht.“ Der Ton wird sogar noch schärfer: „Die Indianer der Pazifikküste, die ich sah, waren den Bildern im Great-Northern-Railroad-Kalender so wenig ähnlich, wie Nacktschnecken Libellen ähneln. […] Der Küstenindianer ist untersetzt, o-beinig, dunkelhäutig, flachgesichtig, breitnasig, schmutzig, krank, ignorant und verschlagen.“An diesen Beschreibungen scheint zur Zeit der großen Popularität des Buches kaum ein Leser Anstoß genommen zu haben. Paula Becker hat aus dieser Zeit keine Beispiele für die Kritik solcher rassistischer Beschreibungen gefunden. Ruth Miller Elson diskutiert in ihrer Analyse amerikanischer Bestseller von 1865 bis 1965 die Behandlung der Indianer in diesen Büchern und meint, die meisten Bestsellerautoren hätten wohl diesem Zitat aus The Egg and I zugestimmt: „Je mehr ich von ihnen [den Indianern] sah, desto mehr dachte ich, was für eine hervorragende Idee es doch gewesen sei, ihnen das Land wegzunehmen.“ Später jedoch wurden diese Beschreibungen als untragbar empfunden. Jerry Wayne Williamson schreibt: „Die volle Kraft ihrer Verachtung aber reservierte sie für die Indianer der Nordwestküste“, die als „lasterhaft und minderwertig“ erscheinen. In der Verfilmung trat dieser Zug allerdings deutlich in den Hintergrund. Die Neuausgabe von The Egg and I 1987 erschien mit einem Vorwort der beiden Töchter von Betty MacDonald, in dem diese schrieben: „Wir sind sicher, würde Betty heute noch leben, so würde sie die Misere des Indianers in einer ganz anderen Weise adressieren. Wir glauben, dass sie nur das, was sie als erschreckende Situation erlebte, in eine witzige Begegnung umformen wollte.“In ihrem folgenden autobiografischen Buch, The Plague and I, behandelte die Autorin den antijapanischen Rassismus ihrer Zeitgenossen völlig anders, nämlich mit tiefer Verachtung.
=== Humor und Gender ===
==== Aufbauender und aggressiver Humor ====
Sowohl in der Buchwerbung als auch in allen Reaktionen auf das Buch wurden die humoristischen Qualitäten von The Egg and I besonders hervorgehoben. „Wenn Sie vergessen haben, wie man lacht – dieses Buch ist es, was Ihnen der Arzt verschreibt“, lautete ein Zitat auf dem Buchumschlag. Die deutsche Taschenbuchausgabe 1951 warb damit, es handle sich um „eines der heitersten Bücher …, die die neue angelsächsische Literatur kennt“.In der Literatur gibt es verschiedene Versuche, diesen humoristischen Charakter näher zu bestimmen. So ordnete Hamlin Hill das Werk als zeitgenössische Realisierung der Tradition des „einheimischen amerikanischen Humors“ (native American humor) ein, für den im 19. Jahrhundert etwa Mark Twain stehe. Diese Tradition, die Hill auch als „gesunden Humor“ apostrophiert, sei durch Werte wie Common Sense, Selbstvertrauen und vor allem die Fähigkeit des Protagonisten geprägt, mit der komischen Situation umzugehen. Die Zutaten der Komik stammten im Wesentlichen aus der Außenwelt: Charakterisierung der Personen, Wortspiele und physische Handlung. Im Gegensatz dazu stehe der moderne „neurotische Humor“, städtisch, am Rande der Irrationalität und des Wahnsinns und vor allem introvertiert, die Komik entstehe gerade aus dem Unvermögen des Protagonisten, mit der Situation umzugehen (Mein Freund Harvey ist eines seiner Beispiele). Betty MacDonald sei trotz aller Ausbrüche der Verzweiflung durchaus fähig, Hühner zu züchten, und die Figuren, insbesondere die Kettles, seien in ihrer Charakterisierung von starkem Lokalkolorit geprägt und könnten als moderne Varianten des Dialekthumors durchgehen.Paula Becker beschrieb den Humor des Buchs in ähnlichem Sinn als aufbauend und ermutigend. Sie paraphrasierte seine Botschaft so: „Das Leben ist hart. Kontrollieren können wir nur unsere Reaktion darauf, und da ist Lachen besser als Weinen. Dieses Gefühl erheiterte und ermutigte Leser auf der ganzen Welt.“ Doch diese Lesart des Humors von The Egg and I ist nicht die einzige, die in der Rezeption hervorgehoben wurde. Eine beißende, ätzende Qualität des MacDonald’schen Witzes wurde ebenfalls öfter wahrgenommen. Der Künstler William Cumming, der ihre Hühnerzuchterzählungen im Kollegenkreis in der National Youth Administration hörte, schrieb: „Bettys Humor war nicht gütig, gemütlich oder freundlich. Er hatte die bösartige Schärfe eines Skalpells und konnte schneiden. Betty betrachtete die Fehler der Menschheit als verwerflich. Dass diese Fehler gewöhnlich zu komischen Reinfällen führten, hieß nicht, dass sie in ihren Augen weniger tödlich gewesen wären. Sie richtete ihren beißenden Humor gegen die Dummheit der Menschen, weil diese sie wütend machte.“ Er verglich sie gar mit Billie Holiday: MacDonald habe wie sie gelacht, um nicht kotzen zu müssen. An anderer Stelle wies auch Paula Becker darauf hin, dass ein „unbarmherziges Urteil über die Schwächen anderer“ ein Charakterzug der Autorin und des Buchs sei. Wenn die clever zugeschnittenen Porträts ihrer Mitmenschen Verletzungen verursachten, dann habe die Autorin das eben für eine gute Geschichte in Kauf genommen.Diese beiden Seiten des Humors von The Egg and I spielten eine Rolle in der feministischen Debatte um das Buch. Bereits ein zeitgenössischer Kritiker, Clifton Fadiman in Booklist, brachte seine Wahrnehmung des Humors von The Egg and I mit Eigenschaften der Geschlechter in Verbindung: „Der trockene Humor ist der einer Frau, aber die Sprache ist männlich: Sie sticht realistische Bauernromane aus, indem sie die Dinge beim Namen nennt (‚calling a spade a spade‘), und das tut sie reichlich (‚and there were plenty of spades‘).“ Nancy Walker und Zita Z. Dresner zitierten Fadimans Kritik und erklärten, dass MacDonald in The Egg and I „vor dem Körperlichen nicht zurückschreckte und nirgends versuchte, die Brutalitäten, die Rohheiten und den Irrsinn zu schönen, die sie in ihrer Umgebung vorfand“.In ihrer Diskussion des Bucherfolgs rückte Becker die komischen Qualitäten des Buchs zudem in einen Zusammenhang mit dessen Erscheinungszeitpunkt, nämlich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. The Egg and I habe die Themen der Schlacht, des Konflikts und des Durchhaltens, wie sie während des Krieges die nichtfiktionale Literatur bestimmt hätten, in einen häuslichen Kontext übertragen, wo es nicht um Leben und Tod, sondern um weit geringere Einsätze ging. Die Komik des Buches speise sich auch aus dieser Übertragung. „The Egg and I traf den Nerv eines kriegsmüden Publikums als eine tröstliche Überlebensgeschichte: der erfolgreiche Kampf einer Frau darum, jeden Morgen wenigstens das Aufstehen zu schaffen, den Unbequemlichkeiten und Herausforderungen zum Trotz.“
==== Häuslicher Humor und komischer Feminismus ====
Das Ei und ich gilt als Ausgangspunkt einer weiblichen autobiografischen Literatur der „schreibenden Hausfrauen“ (der Begriff der Housewife Writers stammt von Betty Friedan), die unter die Begriffe „häuslicher Humor“ (domestic humor) und „komischer Feminismus“ (funny feminism) gefasst worden ist. Friedan schrieb: „Es sind gute Handwerkerinnen, die besten dieser schreibenden Hausfrauen. Und manches an ihrem Werk ist auch komisch. … Aber es gibt etwas an ihnen, was nicht komisch ist, wie bei Onkel Tom … ‚Lach‘, sagt die schreibende Hausfrau der wirklichen Hausfrau, ‚wenn du dich verzweifelt, leer, gelangweilt, gefangen fühlst in den Routinen des Bettenmachens, Herumfahrens, Geschirrspülens. Ist es nicht komisch? Wir stecken alle in derselben Falle.‘“ Doch die wirklichen Hausfrauen hätten nicht die Möglichkeiten der schreibenden Hausfrauen, ihre Frustration in erfolgreiche Zeitungsartikel und humorvolle Bücher umzuwandeln.
===== Weibliche Selbstironie als Selbsterniedrigung =====
Friedan erwähnte MacDonald in diesem Zusammenhang nicht. Das tat zwölf Jahre später die Literaturwissenschaftlerin Patricia Meyer Spacks in ihrem Buch The Female Imagination: Sie identifizierte in den autobiografischen Schriften zeitgenössischer ‚schreibender Hausfrauen‘, etwa von Erma Bombeck und Jean Kerr, eine Tendenz zur Selbstironie und Selbsterniedrigung (self-deprecation) mit den Mitteln der Komik, die ihr zufolge wohl mit Betty Macdonald und The Egg and I begonnen habe. Dieses Merkmal des Humors analysierte sie detailliert anhand verschiedener Textstellen, so in der kurzen Schilderung der Liebesgeschichte der Erzählerin. „Seine gebräunte Haut, sein braunes Haar, seine blauen Augen, seine weißen Zähne, seine rauchige Stimme, seine freundliche, liebenswürdige Art waren an sich schon genügend gute Eigenschaften, die Krämpfe der Bewunderung bei Mary und ihren Freundinnen hervorriefen, aber das Wunderbarste an ihm, das ganz Besondere war, dass er mich mochte. Ich kann immer noch nicht verstehen, warum eigentlich …“ In Kapitel 4 des Buches besteht Bob darauf, weiße Kieferndielen für den Küchenfußboden zu verwenden, die unmöglich sauberzuhalten sind (schlimmer wäre nur noch weißer Samt, schreibt die Erzählerin). Sie hasst es, den Boden täglich zu schrubben, und tut es doch, obwohl ihr die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens klar ist, aber natürlich nützt es nichts. Spacks kommentiert, die Erzählerin präsentiere sich als minderwertig und Versagerin. Der humoristische Ton dieser Episode hintertreibe den Groll und die Wut, die darunter lägen und nicht zum Ausdruck kämen. So werde vielleicht ein wenig Mitgefühl für die geplagte Hausfrau erzeugt, das Hauptgewicht dieser Erzählweise liege jedoch darauf, dass sie sich selbst mit ihren sinnlosen Bemühungen lächerlich und zum Objekt der Komik mache. Diese Komiktradition sei „grundlegend konservativ in ihren sozialen Implikationen“, indem sie das Bild weiblicher Inkompetenz bestätige. Die Erzählerin triumphiere über ihr Leiden, indem sie es in Komik verwandle, und dies bedeute letztlich, das Leiden hinzunehmen. „Und die, die lachen, akzeptieren es auch.“
===== Kritische Potenziale =====
Diese negative Einschätzung aus der zweiten Welle des Feminismus versuchten später Nancy Walker, Zita Z. Dresner und vor allem Jane F. Levey teilweise zu revidieren. Walker räumte in ihrem Aufsatz von 1985 über den ‚komischen Feminismus‘ ein, dass der „unbeschwerte Humor“ der kritisierten Autorinnen eine idealisierende Seite habe: Die Beschränkung auf hausfrauliche und mütterliche Pflichten werde mit einem heiteren Lächeln hingenommen. Sie betonte jedoch die unter dieser Oberfläche liegenden Signale von Unruhe und Unzufriedenheit und analysierte die darin liegende Kritik anhand von The Egg and I als einem Werk, das die Standards für die Nachfolger gesetzt habe. Zunächst sei zwar das Objekt der Komik hier, wie auch später regelmäßig, die Erzählerin selbst, die den ihr auferlegten und von ihr akzeptierten Normen nicht nachzukommen vermöge, und der Humor nehme Züge von Selbstironie und Selbsterniedrigung an. In den Themen der Isolation der Erzählerin, des frustrierten Ehrgeizes, das Ziel der perfekten Hausfrau zu erreichen, und des damit verbundenen Ressentiments gegen den Mann verberge sich aber sehr wohl eine Kritik an den sozialen Normen, denen die Erzählerin unterworfen sei. Ein ungewöhnlicher Fall sei The Egg and I insofern, als speziell die emotionale Isolation der Erzählerin von ihrem Mann offen zutage trete; die Kritik sei nur mehr mit einer dünnen Schicht Humor überdeckt. So straft Bob die Erzählerin mit schweigender Missachtung, als sie vergessen hat, Petroleum für die Lampen zu bestellen: „Bob … zeigte sein Enttäuschtsein von mir, indem er, noch während er den letzten Bissen kaute, vom Tisch aufstand und sich ins Bett warf – zweifellos um von den guten alten Tagen zu träumen, als man noch Frauen schlug.“ Und gegen Ende des Buchs sitzen die beiden zusammen „wie Nachbarn, die sich plötzlich im selben Hotelzimmer wiederfinden“, eine unverstellte Darstellung von Entfremdung in der Partnerschaft, die in den Werken des „häuslichen Humors“ selten sei, weil sie mit dessen heiterem Tonfall nicht zusammenpasse.Zita Z. Dresner wies in einem Sammelbandbeitrag von 1991 zudem darauf hin, dass die Protagonistin des Buchs die junge, unerfahrene Ehefrau sei, während die Erzählerrede die seitdem gemachten Erfahrungen der Autorin reflektiere. The Egg and I könne daher als weiblicher Bildungsroman gelesen werden: Die Protagonistin lerne Schritt für Schritt Lektionen der Desillusionierung, sie befreie sich nach und nach von den hemmenden Idealbildern der Hausfrau, die sie zu Beginn der Erzählung noch selbst vertrete, und diese Bildungsgeschichte werde mit humoristischen Mitteln erzählt. Dass die Erzählung, statt die im realen Leben erfolgte Trennung und Scheidung und damit die Konsequenz dieses Bildungsprozesses zu thematisieren, mit einer versöhnlichen Note ende, sei den Konventionen der humoristischen weiblichen Autobiografie geschuldet.
===== Gemischte Botschaften =====
Levey konturierte in ihrem Zeitschriftenbeitrag von 2001 die „gemischten Botschaften“ (mixed messages) des Buchs noch schärfer. The Egg and I biete nicht nur detaillierte Beschreibungen mühsamster und unattraktivster Hausarbeit, sondern auch eine Kritik der Mutterrolle der Frau – freilich indirekt und dadurch bei zu einem gewissen Grade entschärft. Während Schwangerschaft und Mutterschaft durchaus als lohnend geschildert werden, aber nur eine relativ kleine Rolle in der Erzählung einnehmen, trägt die Beziehung der Erzählerin zu den Küken, die sie aufziehen muss, Züge von Abneigung und Ekel, ja unverkennbarer Feindschaft. „Alles andere, was ich von Geburt an versorgt hätte, hätte einen so festen Platz in meinen Gefühlen bekommen, dass ich mich nur mit Gewalt davon hätte losreißen können, aber hier kam es so weit, dass ich tatsächlich mit Freuden Bob zusehen konnte, wie er mit seinem mörderischen Messer fünfzig Hähnchen die Gurgel durchschnitt und sie zum Ausbluten aufhängte“, zitierte Levey aus MacDonalds Buch, und sie kommentierte: „Ihre Kritik der Mutterschaft hat ihren Ort im Hühnerhaus.“ Dieser drastische Ausdruck von Hass auf die Objekte ihrer mütterlichen Fürsorge, am ungefährlichen Gegenstand der Küken ausagiert, habe einen Resonanzboden für die inneren Konflikte geboten, die die Leserinnen angesichts ihrer mütterlichen Pflichten empfunden hätten.
Ebenfalls am ungefährlichen Objekt werde der Machtkampf zwischen Mann und Frau ausagiert, nämlich in Form des Kampfs der Erzählerin mit dem widerspenstigen Ofen. Dieser wird nicht nur vermenschlicht, indem er den großgeschriebenen Eigennamen „Stove“ erhält, sondern auch vermännlicht, indem er mit einem maskulinen Personalpronomen („he“) ausgestattet wird. Der Ofen hatte „keine der warmen, freundlichen Eigenschaften, die man mit dem Namen assoziiert … schmollte in seiner Küchenecke … rauchte und würgte und spie …“ Und am ersten Regentag erkennt die Erzählerin, „dass Stove mein Feind war“. Levey kommentierte: „Hier war ein unzweifelhaft feindlicher Herd.“ Hätte MacDonald einen solchen Machtkampf mit ihrem Mann ausgetragen, so wäre das vom Lesepublikum nicht akzeptiert worden, so Levey, wohl aber in Form dieser indirekten Inszenierung.
===== Umgekehrte Pilgerfahrt =====
Die Kritik der „schreibenden Hausfrauen“ bezog sich auf eine bestimmte historische Situation: die Verdrängung der Hausfrau aus dem öffentlichen Leben an Heim und Herd in den amerikanischen Vorstädten („suburbia“) nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem in den 1950er und 1960er Jahren. In den als typisch betrachteten Fällen weiblicher Autobiografien, wie Shirley Jackson, Jean Kerr, Phyllis McGinley oder Erma Bombeck, war dies auch die Situation, die die Autorinnen auf humoristische Weise glossierten. Für The Egg and I traf dies offensichtlich nicht zu: Es beschrieb das Hausfrauenleben in der urtümlich erscheinenden „Wildnis“ der Provinz. Die Diskussion über dieses Buch als Ausgangspunkt des ‚komischen Feminismus‘ war auf die Leserschaft fokussiert, die vor allem, so die Vermutung der Autorinnen, aus Vorstadthausfrauen bestanden habe.
Levey sah hier einen weiteren Anhaltspunkt für eine indirekte Spiegelung der Erfahrung der Leserinnen: Es handle sich um eine „umgekehrte Pilgerfahrt“, nicht, wie in der Nachkriegsgesellschaft allgemein, vom Land in die Vorstadt, sondern von der Stadt aufs Land. Die von ihr geschilderte Entfremdung vom Gemeinschaftsleben habe daher mit der Entfremdung korrespondiert, die die Leserinnen erfahren hätten, jedoch durch eine Migration in umgekehrter Richtung, aus der Modernität heraus. Diese Umkehrung erlaube mehrere Lesarten: Das Leben auf dem Land könne mit seiner Isolation und ungleichen Verteilung der Hausarbeit als Vergrößerungsspiegel für die Situation der Frauen in den Vorstädten aufgefasst werden, aber auch als negatives Gegenstück zum technisch besser ausgestatteten Stadtleben sowie schließlich in einzelnen Zügen auch als positives, nostalgisches Gegenbild. Es sei gerade diese Mehrdeutigkeit, die es dem Buch ermöglicht habe, so viele Erfahrungen seiner Leserinnen zu spiegeln.
== Rezeption ==
=== USA ===
The Egg and I war ein Überraschungserfolg, der weniger von den Rezensionen in der Presse als vielmehr vom Enthusiasmus der Buchhändler und spontanen Leserreaktionen getrieben wurde. Dabei spielte auch die geschickte Werbestrategie des Verlags eine große Rolle, der großzügig Anzeigen platzierte, sobald er aufgrund der Reaktion auf den Vorabdruck erkannt hatte, dass hier ein potenzieller Bestseller entstanden war. Ein weiterer Kniff des Verlags war es, auf dem Umschlag ein großes Foto der Autorin zu zeigen, so dass die reale Person der Autorin für das Buch warb – und umgekehrt das Buch für die Autorin. Dies führte zu einem wahren Run auf das neue Heim der MacDonalds – und zu Busladungen von Touristen, die die Handlungsstätten des Buchs identifiziert hatten und dort einfielen. Life druckte bereits im Januar 1946 eine Homestory über Bettys Heim auf Vashon Island, mit einer mehrseitigen Fotostrecke.Aber auch die Presse zeigte sich angetan von dem Werk. Clifton Fadiman machte in Booklist zwar einige despektierliche Bemerkungen über die schicksalsergebene Opferhaltung der Erzählerin in ihrer unglücklichen Ehe, lobte aber die realistische Sprache des Buchs. Harmonischer nahm ein anderer New Yorker Rezensent die Wirkung des Buches wahr: „Für Stadtmenschen, die es trocken und gemütlich haben, ist Mrs. MacDonalds Leben in den Wäldern ein ungetrübtes Vergnügen.“Die Hollywood-Verfilmung und insbesondere die daraus hervorgegangenen Ma-and-Pa-Kettle-Filme trugen erheblich zur Popularität des Buchs bei. Der Filmkritiker Bosley Crowther verriss allerdings in der New York Times die Verfilmung vernichtend, weil sie den beißenden Witz des Buches nicht zu transportieren vermöge und stattdessen auf konventionelle Männer- und Frauenbilder setze, offenbar in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem Hays Code.Am 3. Februar 1981 gab das Jefferson County Board of Commissioners der Straße, die an der ehemaligen Heskett-Farm vorbeiführte, offiziell den Namen „Egg and I Road“.
=== Europa: Sonderfall Tschechoslowakei ===
The Egg and I verkaufte sich auch in Europa sehr gut. Die französische Ausgabe, unter dem Titel L’Œuf et moi, hatte eine verkaufte Auflage von 150.000. In Deutschland schrieb Der Spiegel über Das Ei und ich: „Es geht nicht um großartige psychologische Probleme, aber um ein Stück amerikanisches Alltagsleben. Und es ist mit bezauberndem Freimut und mit blinzelndem Humor beschrieben.“ In der Zeit erhielt es eine Kurzrezension in der Rubrik „Von Frauen geschrieben“. Die Rezension hob als Qualitäten hervor: „Amüsant, optimistisch, oft mit drastischem Humor.“Ein echter Longseller mit zeitlicher Verzögerung wurde es jedoch in der Tschechoslowakei. Die erste tschechische Ausgabe erschien 1947, doch zwischen 1948 (dem Jahr der Machtübernahme der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei) und 1970 gab es keine Neuauflagen. Seit 1970 wurde das Buch aber immer wieder gedruckt, insgesamt zählt Samantha Hoekstra von 1947 bis 2010 51 Auflagen von Betty MacDonalds Büchern auf Tschechisch und Slowakisch. In Tschechien führte der Literaturwissenschaftler Jiří Trávníček über einen Zeitraum von acht Jahren mehrere Umfragen zur Popularität von Büchern bei der tschechischen Leserschaft durch. 2007 und 2010 führte The Egg and I (unter dem tschechischen Titel Vejce a já) die Liste an, 2013 belegte es Rang 5. 2015 berichtete er in einem Radiointerview: „Das populärste Buch aller drei Studien, die wir durchführten, ist Vejce a já von Betty MacDonald. Ich habe keine Erklärung für dieses Phänomen, aber es ist definitiv etwas sehr Tschechisches.“ Bei einer Umfrage tschechischer Bibliotheken, die über 93.000 Leserantworten auf die Frage nach ihrem Lieblingsbuch auswerteten, lag Vejce a já auf Rang 9 (und Anybody can do anything, ein weiteres Buch der Autorin, auf Rang 8). In einem Interview 2018 gab Trávníček an, Tschechinnen über 50 bezeichneten Betty MacDonalds Bücher als ihre Lieblingsbücher.In Philip Roths Roman Epilogue: The Prague Orgy (Die Prager Orgie. Ein Epilog) findet dieses Phänomen eine eigentümliche literarische Rezeption. Der Erzähler Nathan Zuckerman, wie Roth selbst ein amerikanischer jüdischer Schriftsteller, reist ins Prag der 1970er Jahre, um das unveröffentlichte Manuskript eines jiddischen Autors zu finden. Kaum ist ihm dies gelungen, wird es beschlagnahmt und Zuckerman wird genötigt, in ein Auto zum Flughafen zu steigen. Dort trifft er auf Novak, der sich als tschechoslowakischer Kulturminister vorstellt und ihn unvermittelt auf Deutsch anspricht: „Kennen sie Fraulein Betty MacDonald?“ Als Zuckerman verneint, benennt Novak sie als Autorin von The Egg and I. Zuckerman erinnert sich: „Handelte von einer Farm – nicht wahr? Ich habe es nicht mehr gelesen, seit ich zur Schule gegangen bin.“ Und weiter: „Es würde mich überraschen, wenn in Amerika jemand unter dreißig von The Egg and I überhaupt nur gehört hat.“ Novak kann das nicht glauben und erklärt es für eine „Tragödie“, dass dieses „Meisterwerk“ in Amerika in Vergessenheit geraten sei. Es schließt sich eine lange Tirade über die wahre tschechische Literatur und ihre Schriftsteller an, die „von ihren Lesern geliebt werden“, im Gegensatz zu „irgendwelchen entfremdeten, degenerierten, egoistischen Künstlern“, worunter Novak auch Franz Kafka fasst. Wahre Schriftsteller seien „Leute, die wissen, wie man sich auf anständige Weise in sein historisches Unglück fügt“.Roth war befreundet mit Dissidenten der tschechischen Literatur; Stanislav Kolář hält es für höchstwahrscheinlich, dass Roth bei seinen Besuchen in der Tschechoslowakei von der dortigen Popularität des Buches erfuhr.
=== Wissenschaft ===
MacDonalds autobiografische Erzählung fand zunächst kaum Berücksichtigung in den Literaturwissenschaften. Lediglich im Bereich der Bestsellerforschung wurde das Buch gelegentlich behandelt, so in James Harts Monografie The Popular Book: A History of America’s Literary Taste (1950) und viel später in Ruth Miller Elsons Werk Myths and Mores in American Best Sellers 1865–1965 (1985). Eine Ausnahme ist der Mark-Twain-Forscher Hamlin Hill, der 1963 in einem Zeitschriftenaufsatz The Egg and I als zeitgenössisches Beispiel von „native American humor“ abhandelte, einem Konzept, das ursprünglich von Walter Blair 1937 für den eigenständigen Beitrag der amerikanischen Literatur zum humoristischen Schreiben entwickelt worden war.Dies änderte sich mit dem Aufkommen der Women’s Studies in den 1970er Jahren. Im Anschluss an Betty Friedans Kritik der „schreibenden Hausfrauen“ analysierte die Literaturwissenschaftlerin Patricia Meyer Spacks 1975 detailliert die weibliche Selbstironie in The Egg and I und kam zu einem sehr negativen Urteil über die Wirkungen dieses Stilmittels. In den 1980er Jahren griffen verschiedene Forscherinnen diese Analysen auf, erweiterten sie um Überlegungen zu den kritischen Potenzialen des Buchs und versuchten das starke normative Urteil von Spacks zu relativieren bzw. zu revidieren. Hier sind besonders die Beiträge von Nancy Walker und Zita Z. Dresner sowie ein postum erschienener Aufsatz von Jane F. Levey (2001) zu erwähnen, die auch textanalytisch neue Erkenntnisse brachten. Seitdem gehört The Egg and I zu den Werken, die regelmäßig im Kontext der Themen „häuslicher Humor“, „weiblicher Humor“ und „weibliche Autobiografie“ behandelt werden. So hat die Autorin einen Eintrag in The Oxford Companion to Women’s Writing in the United States. Barbara Levy widmete dem Buch einen Abschnitt in Ladies Laughing (1997), Kristi Siegel betrachtete es in ihrer Monografie über Women’s Autobiographies (1999) unter dem Aspekt der Mutter-Tochter-Beziehung, und Penelope Fritzer und Bartholomew Bland zählten das Werk in ihrer History of Domestic Humor Writing (2002) zu den Vorreitern des häuslichen Humors in den USA.Neben diesem Strang der wissenschaftlichen Debatte, der die Themen Gender und Humor in den Mittelpunkt stellte, gab es auch einige Beiträge, die die „ländliche Komödie“ und das Bild der Hinterwäldler und Indianer fokussierten. Sie gingen meist von der sehr breitenwirksamen Verfilmung aus und schlossen analytische Bemerkungen zum Buch an. Das gilt etwa für Jerry Wayne Williamsons Hillbillyland (1995) und Tim Hollis’ Rural Comedy in the 20th Century (2008).Unter dem regionalen Aspekt, nämlich als Beitrag zur Literatur und Bildlichkeit des amerikanischen Westens, hat die Literaturwissenschaftlerin Beth Kraig The Egg and I einer ausgedehnten Analyse unterzogen (2005). Regionalhistorisch ausgerichtet sind auch einige Beiträge von Mildred Andrews, Beth Kraig und Paula Becker auf der Webseite HistoryLink, insbesondere zur Biografie der Autorin, den Örtlichkeiten der Erzählung und vor allem zu dem aufsehenerregenden Verleumdungsprozess von 1951.Einen ungewöhnlichen Ansatzpunkt für die Analyse des Buchs hat Susan M. Squier (2011) gewählt: Sie analysierte es in einer Geschichte der Hühnerzucht unter dem Aspekt des „fellow feeling“, also des Gefühls der Verbundenheit zwischen Mensch und Tier.Die Biografie Betty MacDonalds von Paula Becker (2016) konnte erstmals zahlreiche Dokumente zum Entstehungs- und Veröffentlichungsprozess von The Egg and I auswerten. Becker war es insbesondere gelungen, Ordner mit MacDonalds Korrespondenz zu diesem und den folgenden Büchern ausfindig zu machen und zu sichten, vor allem mit Bernice Baumgarten und dem Lippincott-Verlag, aber auch etwa MacDonalds Antworten auf Leserpost. Ferner verwertete Becker viele Archivauskünfte erstmals und konnte so eine Reihe von Daten korrigieren, unter anderem das Geburtsdatum der Autorin.Einige Bemerkungen zur Rezeption der Erzählung außerhalb der USA, speziell in der Tschechoslowakei, finden sich in einer Masterarbeit von Samantha Hoekstra an der Florida University (2008). Zahlen zur Beliebtheit des Werks in der Tschechischen Republik bieten die Forschungen des tschechischen Literaturwissenschaftlers Jiří Trávníček. Ein Forschungsprojekt Trávníčeks am Institut für tschechische Literatur bei der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik zielte darauf, Gründe für die Popularität der Autorin in der tschechischen Leserschaft zu bestimmen. 2022 erschienen die Ergebnisse in Buchform.
== Ausgaben (Auswahl) ==
=== In englischer Sprache ===
The Egg and I. Gekürzter Vorabdruck in The Atlantic Monthly, Juni 1945, S. 97–108, Juli 1945, S. 91–100, August 1945, S. 97–106
The Egg and I. Lippincott, Philadelphia 1945
The Egg and I. Rockefeller Center, NY Pocket Books, New York 1945
The Egg and I. Life on a wilderness chicken ranch. Edition for the Armed Services (Nr. 1100), New York 1945
The Egg and I. Penguin Books, London 1956
=== Übersetzungen ===
Das Ei und ich. Übersetzung ins Deutsche: Renate Hertenstein. Alpha-Verlag, Bern 1947
Das Ei und ich. Taschenbuchausgabe mit Leinenrücken. Rowohlt, rororo Nr. 25, Hamburg 1951.
Ägget och jag. Übersetzung ins Schwedische: Sten Söderberg. Ljus, Stockholm 1946
Ægget og jeg. Übersetzung ins Dänische: Christen Fribert. Erichsen, Kopenhagen 1946
El huevo y yo. Übersetzung ins Spanische: Lidia Yadilli. Peuser, Buenos Aires 1946
Egget og jeg. Übersetzung ins Norwegische (Bokmål): Lill Herlofson Bauer. Ekko, Oslo 1947
Het ei en ik. Übersetzung ins Niederländische: E. H. van Meeteren-Verhagen. Amsterdam 1947
L’œuf et moi. Übersetzung ins Französische: George Belmont. Laffont, Paris 1947
Muna ja minä. Übersetzung ins Finnische: Eeva-Liisa Manner. Gummerus, Jyväskylä 1947
Vejce a já. Übersetzung ins Tschechische: Leopold Havlik. Žikeš, Praha 1947
Io e l’uovo. Übersetzung ins Italienische: Ada Salvatore. Bompiani, Milano 1948
Jajko i ja. Übersetzung ins Polnische: Marta Wańkowicz-Erdmanowa. Kuthan, Warschau 1949
Vajce a ja. Übersetzung ins Slowakische: Bohuslav Kompiš. Mladé letá, Bratislava 1971
== Literatur ==
Paula Becker: Looking for Betty MacDonald. The Egg, the Plague, Mrs. Piggle-Wiggle, and I. University of Washington Press, Seattle und London 2016
Zita Z. Dresner: Domestic Comic Writers. In: June Sochen (Hrsg.): Women’s Comic Visions. Wayne State University Press, Detroit 1991, S. 93–114. Zu The Egg and I: S. 99–104
Hamlin Hill: Modern American Humor: The Janus Laugh. In: College English, Jg. 25 (1963), S. 170–176
Beth Kraig: It’s About Time Somebody Out Here Wrote the Truth: Betty Bard MacDonald and North/Western Regionalism. In: Western American Literature, Jg. 40 (2005), Nr. 3, S. 237–271
Jane F. Levey: Imagining the Family in U.S. Postwar Popular Culture: The Case of The Egg and I and Cheaper by the Dozen. In: Journal of Women’s History, Jg. 13 (2001), Nr. 3, S. 125–150
Patricia Meyer Spacks: The Female Imagination. A literary and psychological investigation of writing by women – novels, autobiographies, letters, journals – that reveals how the fact of womanhood shapes the operations of the imagination. Knopf, New York 1975, besonders das Kapitel Finger Posts (S. 190–226) über weibliche Autobiografien und dort S. 218–223 über The Egg and I
Susan M. Squier: Poultry Science, Chicken Culture. A Partial Alphabet. Rutgers University Press, New Brunswick 2011, besonders S. 128–129 zu The Egg and I
Nancy Walker: Humor and Gender Roles: The „Funny“ Feminism of the Post-World War II Suburbs. In: American Quarterly, Jg. 37 (1985), Nr. 1, Special Issue: American Humor, S. 98–113
== Weblinks ==
Life Goes Calling on the Author of “the Egg and I” – Best-seller Betty MacDonald lives a very happy life without chickens. Homestory in Life, 18. März 1946, S. 134–137, online
Beth Kraig: Betty and the Bishops: Was The Egg and I libelous? Ursprünglich veröffentlicht in Columbia Magazine, Jg. 12 (1998), Nr. 1, Beth Kraig: Betty and the Bishops, online zugänglich über die Seite der Washington State Historical Society
Paula Becker: Betty MacDonald’s The Egg and I is published on October 3, 1945. HistoryLink-Essay Nr. 8261, 14. August 2007, letzte Revision am 17. Oktober 2014. Online
Paula Becker: Washington Governor Mon C. Wallgren presents Betty MacDonald with the one millionth copy of The Egg and I on September 12, 1946. HistoryLink-Essay Nr. 8263, 18. August 2007, letzte Revision am 17. Oktober 2014. Online
Paula Becker: Libel trial against Betty MacDonald of Egg and I fame opens in Seattle on February 5, 1951. HistoryLink-Essay Nr. 8270, 31. August 2007, letzte Revision am 17. Oktober 2014. Online
Paula Becker: Seattle jury finds for the defendants in libel suit against Egg and I author Betty MacDonald on February 20, 1951. HistoryLink-Essay Nr. 8271, 5. September 2007, letzte Revision am 17. Oktober 2014. Online
Paula Becker: Jefferson County resolution officially establishes Egg and I Road in Center on February 3, 1981. HistoryLink-Essay Nr. 8273, 12. September 2007, letzte Revision am 17. Oktober 2014. Online
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Ei_und_ich_(Buch)
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Transregionaler Karawanenhandel in Ostafrika
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= Transregionaler Karawanenhandel in Ostafrika =
Der transregionale Karawanenhandel in Ostafrika bezeichnet den Handelsboom in Ostafrika im 19. Jahrhundert, dessen Grundlage die rasant wachsende Nachfrage nach Elfenbein auf dem Weltmarkt war. Über einen Zeitraum von rund 70 Jahren prägten der Karawanenhandel mit Elfenbein und die Kämpfe um dessen enorme Profite das gesamte Gebiet, das heute Kenia, Uganda, Tansania, Ruanda und Burundi, Malawi, den östlichen Kongo und den nördlichen Teil Mosambiks umfasst.
Die stark gewachsene Nachfrage nach Elfenbein ging von Europa und Amerika aus; die Insel Sansibar wurde zur Drehscheibe des Warenaustausches. Händler der Swahili-Küste und aus dem Inland organisierten mit Karawanen von mehreren Tausend Menschen den Ankauf des Elfenbeins und seinen Transport zur Küste. Da keine anderen Transportmittel zur Verfügung standen, wurden die Waren ausschließlich von menschlichen Trägern befördert. Während zuvor verschiedene regionale Handelsnetze ineinandergriffen, etablierte sich nun ein Handelsnetzwerk, das von der Küste bis in den Kongo, ins Zwischenseengebiet und nach Buganda reichte.
Menschen aus allen Regionen hatten Anteil an dem Handel, sie profitierten von den Gewinnen oder hatten unter den Auswirkungen zu leiden. Der stetig steigende Import von Feuerwaffen als Tauschware gegen Elfenbein hatte in einigen Regionen grundlegende Änderungen der sozialen Verhältnisse zur Folge, und kriegerische Auseinandersetzungen um den Einfluss auf den Karawanenverkehr betrafen nun viele Gegenden Ostafrikas.
Gemeinsam mit dem Handel entwickelte sich eine spezielle Karawanenkultur, die auf den langen Handelstraditionen der Afrikaner im Inland gründete. Mit dem regen Karawanenverkehr fand zugleich ein umfangreicher Kulturtransfer und -austausch statt, der etwa im Inland die Ausbreitung des Islams, der Schriftkultur und anderer kultureller Elemente der Küstenregionen förderte.
Der transregionale Karawanenhandel wird als Eintritt Ostafrikas in den kapitalistischen Welthandel und als prägend für die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Kolonialisierung Tanganyikas verstanden. Auch wenn der auf dem Elfenbeinhandel basierende Karawanenverkehr am Ende des Jahrhunderts abrupt abbrach, setzten sich wesentliche Strukturen des Handelssystems fort und bestimmten zukünftige Entwicklungen.
== Gesellschaft, Karawanenkultur und Handel in Ostafrika bis 1800 ==
Während die Küste Ostafrikas seit Jahrhunderten als Azania bekannt und in das Handelsnetz des Indischen Ozeans eingebunden war, geben nur wenige schriftliche Quellen Auskunft über die Gesellschaften im Inneren Ostafrikas vor dem 19. Jahrhundert. Deutlich wird daraus, dass es sich größtenteils um kleine, flexible soziale Gebilde handelte, in denen die politische Macht dezentral organisiert war, verteilt auf Ältestenräte, rituelle Oberhäupter und Krieger. Sklaverei und persönliche Abhängigkeit waren verbreitet, allerdings handelte es sich dabei um eine Form der Sklaverei, die eine relative ökonomische Unabhängigkeit der Sklaven und deren Aufstieg in höhere soziale Ränge zuließ. Neben politischen und verwandtschaftlichen Beziehungen bildeten der Handel und Handelsreisen über größere Strecken hinweg ein Netzwerk, das den Kontakt zwischen den unterschiedlichen Gesellschaften förderte und ihr Wissen übereinander wesentlich bestimmte. Ethnische Identitäten spielten in den Handelsbeziehungen kaum eine Rolle, da sich die Gesellschaften nicht nach ethnischen Grenzen gliederten, sondern durch Sklaverei und eine hohe politische Flexibilität multiethnisch waren.Unklar ist, wie weit die Handelsnetze im Inland jeweils reichten und wie sie ineinandergriffen. Die Küstenstädte pflegten seit langem enge Handelsbeziehungen mit den Gebieten im direkten Hinterland des Küstenstreifens. Diese Beziehungen wurden von innerafrikanischen Händlern und Elefantenjägern dominiert, die mit unterschiedlichen Strategien versuchten, Küstenhändler von Reisen ins Inland abzuhalten. Durch Überfälle auf Reisende von der Küste oder Gerüchte von Menschenfressern und Monstern gelang es ihnen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, ihre Position als Zwischenhändler für den Warenaustausch zwischen dem Landesinneren und der Küste zu behaupten und die Preise zu bestimmen. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts gelangten Waren aus dem Inland ausschließlich über diese Zwischenhändler zur Küste. Küstenhändler reisten selbst nicht dorthin.Im weiter entfernten Inland, in Zentraltanganyika, entstanden ebenfalls Handelsnetzwerke, die Verbindungen zu den Händlern im Küstenhinterland hielten und Beziehungen bis in den Kongo, nach Bunyoro und Buganda hinein aufbauten. Für eine Handelsreise taten sich mehrere Händler zu einem Karawanenunternehmen zusammen. Die Waren wurden ausschließlich von Menschen transportiert. Gehandelt wurde mit Soda, Eisen, Kupfer, Vieh, Häuten, Getreide und Töpferwaren.Elfenbein stellte eine untergeordnete Handelsware dar, die über Zwischenhändler zur Küste gelangte. Hauptabnehmer waren indische Händler. In Indien wurde das Elfenbein vornehmlich zu Brautschmuck verarbeitet, den Frauen als Zeichen ihres ehelichen Status bei ihrer Heirat erhielten. Da der Schmuck beim Tod der Frau ebenfalls „bestattet“ wurde, bestand ein stetiger, nahezu unveränderter Bedarf an ostafrikanischem Elfenbein.Ein weiteres Exportprodukt Ostafrikas waren Sklaven, die von der ostafrikanischen Küste in viele Anrainerstaaten des Indischen Ozeans verschifft wurden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts stieg die Nachfrage durch den Bedarf an Arbeitskräften auf den französischen Zuckerrohrplantagen von Mauritius und Réunion: Der Handel intensivierte sich entsprechend. Um diese Zeit exportierte die südliche Swahiliküste einige Hundert bis einige Tausend Sklaven jährlich.Die Steigerung des Handels führte dazu, dass sich die verschiedenen Handelsnetzwerke gegen Ende des 18. Jahrhunderts deutlich ausweiteten, die Händler suchten nach neuen Absatz- und Gewinnmöglichkeiten. Um 1800 erreichten zwei Elefantenjäger aus Zentraltansania auf der Suche nach neuen Handelspartnern die ostafrikanische Küste vor Sansibar. Damit hatten die Handelsnetzwerke der Küste und des Inlandes Anschluss aneinander gefunden.
== Ostafrika und der Oman als politische und wirtschaftliche Macht ==
Die Städte an der ostafrikanischen Küste pflegten seit Jahrhunderten nicht nur Kontakte zu den Gesellschaften in Innerafrika, sondern auch zu den Anrainergebieten des Indischen Ozeans, zu Indien, dem Iran, Mosambik und Äthiopien. Besonders enge Beziehungen bestanden zu den arabischen Reichen des Nahen Ostens. Einflussreiche omanische Dynastien hatten seit dem 17. Jahrhundert eine wichtige Rolle an der ostafrikanischen Küste gespielt. Zentrum ihrer Macht hier war die Stadt Mombasa gewesen.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bauten omanische Plantagenbesitzer erfolgreich Gewürznelken und Zucker auf Sansibar an, und der daraus entstandene Bedarf an Arbeitskräften kurbelte den Sklavenhandel zusätzlich kräftig an. Nachdem der Export von Elfenbein, der hauptsächlich nach Indien ging, über die mosambikanischen Häfen besteuert wurde, wurde der Elfenbeinhandel zunehmend über die nördlicheren Teile der ostafrikanischen Küste abgewickelt, die Regionen also, denen die Inseln Mafia, Sansibar und Pemba vorgelagert waren. Die Konzentration des Handels auf die Küstenregion zwischen Mombasa und Kilwa traf so mit der Verknüpfung der Handelsnetze bis weit ins Innere Ostafrikas zusammen.
Schließlich trafen diese Ereignisse mit einer wachsenden Nachfrage nach Elfenbein zusammen. Zudem stiegen die Weltmarkt-Preise für Öle, die in Ostafrika in Form von Kokosnüssen und Sesam produziert wurden, sowie für Kopal, das für die Produktion von Anstrichen genutzt wurde. Nelken und Zucker, Öle, Kopal und Elfenbein versprachen hohe Profite, doch bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein wurden diese Produkte weiterhin von innerafrikanischen Händlern zur Küste gebracht und der Handel wurde von ihnen kontrolliert.
== Sansibar als Sitz des omanischen Sultans ==
Ein einschneidender politischer und in der Folge auch wirtschaftlicher Wandel vollzog sich zwischen 1830 und 1850. Sansibar als Zentrum eines sich anbahnenden Wirtschaftsbooms weckte zunehmend das Interesse asiatischer und europäischer Mächte. Großbritannien und Frankreich sahen darüber hinaus in der Insel einen strategisch wichtigen Stützpunkt, um ihren Einfluss im westlichen Indik zu behaupten.
Kapitalstarke Handelshäuser aus Bombay, die seit langem Beziehungen zum omanischen Königshaus pflegten und in den ostafrikanischen Elfenbeinhandel involviert waren, eröffneten Dependancen, zahlreiche risikobereite indische Händler zogen in die Stadt. In den 1830er und 1840er Jahren etablierten auch Handelshäuser aus Europa und Amerika Niederlassungen, darunter etwa die Hamburger Firmen Hansing & Co sowie O’swald & Co.1832 trug das omanische Herrscherhaus dieser Entwicklung Rechnung: Die führende omanische Busaid-Dynastie verlegte ihren Sitz von Maskat nach Sansibar und löste damit die in Mombasa ansässigen Dynastien ab, die bisher den omanischen Einfluss an der ostafrikanischen Küste vertreten hatten. Sansibar wurde unter der Autorität des Imams von Maskat, Sultan Sayyid Said, zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum Ostafrikas.Mit dem Umzug des Regenten folgten zahlreiche weitere wohlhabende und einflussreiche Familien aus Anrainerregionen des Indischen Ozeans sowohl auf die Inseln als auch auf den Küstenstreifen des Festlandes und ließen sich als Plantagenbesitzer nieder. Sultan Sayyid Said war selbst Besitzer ausgedehnter Nelkenplantagen auf Sansibar und Pemba, deren Unterhalt von Sklavenarbeit abhängig war, und er unterstützte die Entstehung von weiteren Nelkenfeldern auf den Inseln. Neben Gewürznelken entstanden auch ausgedehnte Zuckerrohrplantagen. Der Bedarf an Plantagenarbeitern und damit an Sklaven stieg enorm. Gewürze, Sklaven, Zucker und Elfenbein versprachen hohe Profite. Um 1850 waren bereits um die 200.000 der Bewohner Sansibars Sklaven, vermutlich mehr als die Hälfte der Einwohnerschaft.Die Macht des omanischen Sultans war nicht auf die Inselgebiete, die Sansibar, Mafia und Pemba umfassten, beschränkt. Im Küstenstreifen zwischen Tanga und Kilwa baute der omanische Herrscher seinen Einfluss aus, und es entstand eine Verwaltung zur Steuereintreibung, die den Sultan an den Geschäften der Kaufleute in seinem Einflussbereich profitieren ließ. Die Grenzen seines Einflusses waren jedoch nicht klar definiert, die Loyalität der Küstenstädte war stets ein Gegenstand von Verhandlungen. Über militärische Mittel, seinen Einfluss ins Landesinnere hinein auszubauen, verfügte der Sultan nicht.
== Sansibar als kosmopolitisches Zentrum Ostafrikas ==
Die Bevölkerung Sansibars spiegelte die unterschiedlichen Einflüsse auf die Insel und die vielfältigen Beziehungen ihrer Bewohner wider. Araber aus dem Oman und dem Hadramaut, Inder, Komorer und Afrikaner aus verschiedenen Gegenden des Inlands lebten hier hauptsächlich vom Karawanenhandel, hinzu kamen die Sklaven aus dem Inneren, die ebenfalls einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklungen an der Küste hatten.
Mit den Einwanderern kamen ihre Religionen und kulturellen Gepflogenheiten. Die indischen Kaufleute waren zumeist Hindus. Der Islam erfuhr eine Erneuerung, die auf die Einwanderer aus dem Hadramaut und den Komoren zurückging. Unter ihnen waren viele muslimische Gelehrte, die Sansibar zu einem Zentrum islamischer Gelehrsamkeit machten. Während der Islam an der ostafrikanischen Küste bisher durch Oralität, Status und religiöse Reinheit bestimmt war, basierte der neue Islam auf Schriftlichkeit, der Vernetzung mit der sich modernisierenden globalen islamischen Welt und einem weitaus egalitäreren Gesellschaftsmodell.
Ein rasch entstehendes urbanes Zentrum aus mehrstöckigen Steinhäusern verdrängte die bis dahin typischen Swahili-Häuser an den Rand von Sansibar-Stadt. Sansibar wurde zum kosmopolitischen Schmelztiegel, der eine große Anziehungskraft ausübte und die kulturellen und religiösen Trends der Region maßgeblich mitbestimmte.
== Impulse für den Elfenbeinhandel ==
=== Die Nachfrage auf dem Weltmarkt ===
Den entscheidenden Impuls für den Elfenbeinhandel lieferte der rapide kletternde Preis für Elfenbein auf dem Weltmarkt. Der wachsende Wohlstand bürgerlicher Haushalte in Europa und Amerika steigerte die Nachfrage nach Elfenbein, aus dem Musikinstrumente und Billardkugeln, Zahnersatz, Schachfiguren, Gehstockknäufe, Devotionalien, Schmuck und weitere Luxusgegenstände gefertigt wurden. Ein Frasila (ca. 36 Pfund) Elfenbein kostete 1825 21 Rupien, etwa 23 Dollar, in den 1870er Jahren hatte sich sein Preis verdreifacht.
Zugleich blieben durch die Industrialisierung die Preise für Baumwollstoffe, Messingdraht und Musketen, die aus Europa nach Ostafrika importiert wurden, stabil, vielfach sanken sie sogar. Damit stiegen die Gewinne aus Elfenbeinexporten unablässig und machten Elfenbein ab ungefähr 1825 zum wertvollsten Exportprodukt Ostafrikas, was es bis zum Ende des Jahrhunderts blieb.
=== Die Handelspolitik des sansibarischen Staates ===
Der Gewinn, den der Handel mit Elfenbein und Sklaven versprach, veränderte die traditionellen Handelsstrukturen tiefgreifend. Die Händler an der Küste trachteten danach, die Profite zu monopolisieren und zu kontrollieren. Das ließ sich am ehesten bewerkstelligen, indem man die innerafrikanischen Zwischenhändler umging und selbst in das Innere reiste, um das kostbare Elfenbein und die Sklaven an die Küste zu bringen.Die sansibarischen Sultane trugen entscheidend zu dieser Entwicklung bei, sie waren bestrebt, den Aufbau einer Infrastruktur für den Handel so gut wie möglich zu unterstützen. Said Seyyid sah den Handel als treibende gesellschaftliche Kraft an und sagte von sich selbst, er sei „nichts weiter als ein Händler“. Der Handel war neben der Plantagenwirtschaft die wichtigste Einnahmequelle für den sansibarischen Staat, die Sultane betrieben daher eine aktive Steuerpolitik und schufen Anreize für die weitere Immigration arabischer Händler.
Mit der Ernennung indischer Kaufleute zu Steuerpächtern banden sie indisches Kapital direkt an den sansibarischen Staat. Damit standen den Händlern finanzkräftige Kreditgeber zur Verfügung.Der Sultan verfügte allerdings nicht über militärische Mittel, um Karawanenwege ins Innere für die Küstenhändler zu sichern. Stattdessen stattete er diese mit Empfehlungsschreiben auf ihrem Weg ins Inland aus. Die Reaktionen darauf waren höchst unterschiedlich; sie reichten von Gewährung der erbetenen Unterstützung bis zur völligen Ignoranz.
Wichtig war vor allem die Anbindung der Händler von Sansibar an die Handelsnetze des indischen Ozeans, Amerikas und Europas. Sansibar wurde zum Zentrum eines ostafrikanischen Handelsnetzwerkes und zur logistischen Drehscheibe für den Karawanenhandel: Importe aus Arabien und Indien wurden in Sansibar umgeschlagen, bevor sie weitere ostafrikanischen Häfen anliefen, und der Export von Elfenbein und Sklaven wurde über Sansibar geleitet, von wo aus der Weiterverkauf nach Indien, Arabien, an die Elfenbeinmärkte von London und Antwerpen und die Inseln im Indischen Ozean vonstattenging.
== Die Etablierung des interregionalen Karawanenhandels ==
Wenn dem sansibarischen Staat auch daran gelegen war, den Handel anzutreiben, so war es letztlich doch die Initiative von Privatleuten, auf deren Interessen und Bemühungen das entstehende Handelsnetzwerk gründete. Sansibar und andere Küstenstädte mit ihren Karawansereien wurden die logistischen Zentren. Hier wurden die Karawanen finanziert und ausgestattet, Träger angeworben, Tauschwaren für das Inland angeboten und die Waren, die aus dem Inland flossen, aufgekauft.
=== Geschäftsstrukturen des Karawanenhandels ===
==== Handelshäuser ====
Europäische und indische Handelsunternehmen sorgten mit ihren globalen Netzwerken und jeweiligen Niederlassungen in Sansibar dafür, dass der lokale Warenaustausch mit dem Welthandel verknüpft wurde. Sie organisierten den Import von Tauschwaren und den Export des Elfenbeins.
==== Kreditgeber ====
Die kostspieligen Unternehmungen einer Karawane wurden fast ausschließlich von indischen Kreditgebern finanziert. Indische Händlerdynastien agierten mit weitreichenden Beziehungen im Handelsnetzwerk des Indischen Ozeans und nutzten ihre zuweilen seit dem 18. Jahrhundert geknüpften, engen Beziehungen zum omanischen Herrscherhaus. Kapitalstarke Verbindungen zu den einflussreichen Handelshäusern von Bombay versetzten sie in die Lage, riskante Unternehmungen, wie zum Beispiel eine Karawane ins Landesinnere, finanziell zu tragen. Mit den indischen Kaufleuten verbreitete sich die indische Rupie, die seit etwa 1860 neben dem Maria-Theresien-Taler an der ostafrikanischen Küste die verbreitete Währung war und sich auch entlang der Karawanenstraßen als gängige Währung durchsetzte. Als Kredite flossen zum Teil immense Summen, so wurde etwa für eine Karawane des Händlers Tippu-Tip ein Darlehen von 50.000 Maria-Theresien-Talern vergeben.Nachdem Stützpunkte entlang der Karawanenrouten etabliert waren, an denen sich die indischen Kaufleute mit Niederlassungen und Zweitwohnsitzen ansiedelten, entwickelte sich ein bankenähnliches System, das finanzielle Transaktionen zwischen dem Festland und der Küste auf der Basis von Schecks und Kreditbriefen erlaubte.
==== Karawanenhändler ====
Die Kreditnehmer und Karawanenhändler stammten zum großen Teil von der Küste und aus Arabien. Oft lässt sich ihre Herkunft nicht genau bestimmen, die Zusammensetzung ihrer Familien und die Lebensläufe waren so komplex und multikulturell wie die Swahili-Gesellschaft überhaupt.
Als vermutlich erste Händler reisten zwei indische Kaufleute von der Küste bis nach Unyamwesi. Musa Mzuri und sein älterer Bruder gründeten dort mutmaßlich Tabora und weitere als Handelsniederlassungen gedachte Stationen im Inneren; sie gliederten Buganda und Karagwe an das bisher bekannte Handelsnetz an und erschlossen für die Küstenhändler Handelsrouten bis in den östlichen Kongo.Die Gefahren und finanziellen Risiken einer Karawanenhandelsreise waren groß. Oft verschuldeten sich die Händler hoch und mussten, wenn der erhoffte Profit ausblieb, im Landesinneren untertauchen. Angesichts solcher Unwägbarkeiten muss der Profit eine viel versprechende Motivation für die Händler gewesen sein. Der bekannte Karawanenhändler Tippu-Tip schilderte noch ein weiteres Motiv für die Aufnahme der wagemutigen Unternehmungen: Sein Vater begann die Handelsreisen ins Innere in der Hoffnung, in Unyamwesi das Leben eines Sultans führen zu können. Die Händler reisten oft mit großer Gefolgschaft, die bis zu tausend Bewaffnete umfassen konnte, und waren daher vielerorts in der Lage, ihre Interessen durchzusetzen. Dazu gehörte auch die Eröffnung von Handelsniederlassungen und die Einrichtung von Zweitwohnsitzen entlang der Handelsrouten.Allerdings lag der Elfenbeinhandel nicht allein in der Hand von Küstenhändlern. Auch Afrikaner aus dem Inland, die einst als Sklaven oder unabhängige Händler zur Küste gelangt waren, statteten eigene Karawanen aus. Daneben florierten weiterhin die Geschäfte innerafrikanischer Händler, die im Inland Karawanen zusammenstellten und Sklaven und Elfenbein zur Küste transportierten.
=== Karawanenrouten ===
Auf ihren Reisen nutzten die Küstenhändler die bereits vorhandenen Karawanenstraßen etablierter lokaler Handelssysteme. Neu war an ihren Unternehmungen, dass sie die Pfade verschiedener Handelsnetze durchquerten und damit miteinander verknüpften.
Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten sich vier große Karawanenstraßen, die jeweils von Küstenstädten aus ins Landesinnere führten. Von Kilwa und Lindi im südlichen Küstenteil führte eine Route zum Malawi-See, eine Strecke, für die Karawanen einen Monat benötigten. Von Bagamoyo gegenüber Sansibar führte eine Route durch Ugogo nach Tabora in Unyamwesi in Zentraltanganyika und weiter nach Ujiji zum Tanganyika-See. Karawanen brauchten für diese ca. 1300 km lange Strecke rund 90 Tage. Von hier aus führten weitere Straßen in den östlichen Kongo.
Ein weiterer Karawanenweg führte von Pangani und Tanga ins Kilimandjaro-Gebiet, wo er sich in Strecken zum Victoria-See, ins Zwischenseengebiet und zum Mount Kenya aufteilte. Schließlich führte eine Strecke von Mombasa zum Mount Kenya und von dort weiter zum Turkana-See.
Da der Einfluss des Sultans im Inland zu Beginn der Handelsaktivitäten kaum, später nur an größeren Orten auf der Strecke eine Rolle spielte, mussten die Händler in Eigeninitiative die Handelsstrukturen erkunden und ausbauen. Dabei waren die Kenntnisse von erfahrenen Händlern aus dem Landesinneren von unschätzbarem Wert. Die Karawanen brachen in den Karawansereien der Küstenorte auf und hielten sich im Wesentlichen an die bereits bekannten und genutzten Routen. Entlang der Karawanenrouten entstand eine Reihe von Stützpunkten der swahilischen Händler, die für den längerfristigen Handel überlebensnotwendig waren. Karawanen von 5000 Personen oder mehr mussten mit Lebensmitteln und Trinkwasser versorgt und während der Reise vor Überfällen geschützt werden. Stützpunkte halfen, die Karawanenwege begehbarer zu machen. Sie konnten nicht über den Kopf der einheimischen Bevölkerung errichtet werden. Oft gingen langwierige Verhandlungen mit den lokalen Oberhäuptern voraus. War eine Station etabliert, diente sie den Karawanen als Rastplatz und Ort, wo sie den Handel aufnehmen konnten.
Während zu Beginn des Handels bereits in Regionen, die relativ nahe der Küste lagen und innerhalb von vier Wochen erreicht werden konnten, Elfenbein in großen Mengen aufgekauft werden konnte, verlängerten sich die Reisezeiten mehr und mehr, da der Elefantenbestand durch die intensive Bejagung abnahm. Immer neue und weiter abgelegene Regionen wurden von den Händlern auf der Suche nach Elfenbein erschlossen.
=== Ethnisierung der Inlandsbewohner ===
In dem Bestreben der Küstenhändler, das unbekannte Inland in berechenbare Kategorien zu ordnen, entstand eine Vielzahl von Begriffen für Regionen und Bevölkerungsgruppen. Die Bevölkerung des Inlands war äußerst heterogen; hinzu kam, dass das Gebiet des heutigen Tansania im 19. Jahrhundert durch die Geschehnisse im südlichen Afrika von mehreren Einwanderungswellen betroffen war. Die Gesellschaften im Inland waren daher weder ethnisch noch sprachlich homogen. Vielmehr existierten viele kleinere, flexible politische Einheiten, die sich auf lokale Identitäten oder einen gemeinsamen Patriarchen beriefen. Dieser für die Küstenhändler unübersichtlichen Heterogenität versuchten sie zu begegnen, indem sie die Bewohner des Inlands nach ihren eigenen Kenntnissen einteilten.
So entstand etwa der Begriff der Nyamwezi, der die unterschiedlichen bantusprachigen Gruppen in Zentraltansania zusammenfasste. Die Händler verstanden unter Nyamwesi (übersetzt: „die Leute vom Mond“) verlässliche Träger aus dem fernen Inland. Zunehmend begannen die Menschen aus dieser Region sich selbst als Nyamwesi zu bezeichnen, da damit innerhalb des Karawanenhandels mancher Vorteil verbunden sein konnte: die Aussicht auf Anstellung, bessere Bezahlung und Behandlung. Tatsächlich konnte man von Nyamwesi nicht als Ethnie sprechen, allein schon wegen der zahlreichen Sklaven, die aus anderen Regionen stammten.
In ähnlicher Weise entstanden auch für Personengruppen aus anderen Regionen zusammenfassende Bezeichnungen.
=== Aufbau von Handelskontakten ===
Für die Händler von der Küste war die Etablierung von Handelskontakten im Inneren eine langwierige, komplizierte und zuweilen höchst gefährliche Angelegenheit. Im Weltbild der muslimischen Händler, die sich als Teil einer kultivierten Weltreligion verstanden, waren die im Inland Ostafrikas lebenden Menschen ungläubige und gefährliche Wilde mit rohen Sitten und primitiven Kulturen. Das drückte sich in dem Swahili-Ausdruck Washenzi, Wilde, für die Bevölkerung des Inlands aus. Die jahrhundertelange Tradition, Menschen aus dem Inneren – wenn auch in kleinem Maßstab – zu kaufen und zu versklaven, basierte auch auf dieser Weltsicht.
Zugleich waren die Küstenhändler von ebendiesen Menschen abhängig, wenn sie sich auf eine Reise ins Inland begaben. Sie mussten mit den Ansässigen verhandeln, um mit den riesigen Karawanen deren Gebiete zu durchreisen, sie waren darauf angewiesen, dass ihnen Lebensmittel verkauft, Zugang zu Wasserstellen gewährt und eine Unterkunft geboten wurde und dass die Karawanen nicht überfallen wurden. Gute Beziehungen zu lokalen Chiefs erleichterten den Einkauf von Waren beträchtlich. Für all das waren ständige Verhandlungen notwendig, Misstrauen und Konflikte erschwerten von beiden Seiten immer wieder die Beziehungen.
==== Kulturelle „Übersetzer“ ====
In diesen Verhandlungen waren Vermittler notwendig – Personen, die sich im Inland auskannten, die jeweiligen Sprachen beherrschten, Sitten und Bräuche erklären konnten und über die örtlichen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Bescheid wussten. Zentrale Fragen für die Händler waren, wer das jeweilige Gebiet beherrschte, wer die Kontrolle über den Handel mit Elfenbein hatte und wie die Preise standen. Andererseits war wichtig, was an Trinkwasser- und Lebensmittelvorräten zur Verfügung stand und inwiefern die politischen Verhältnisse als stabil galten.
Auch den Chiefs im Inland standen als Berater und kulturelle Übersetzer Personen zur Seite, die aus der Welt des Karawanenhandels kamen, etwa ehemalige Händler oder auch Sklaven aus dem Inland, die an die Küste gelangt waren und sich daher in der Küstengesellschaft ebenso wie in der Herkunftsgesellschaft auskannten.
==== Blutsbrüderschaft ====
Angesichts der Unsicherheiten im Inland war es eine wichtige diplomatische Strategie der Küstenhändler, mit Blutsbrüderschaften verlässliche Kontakte zu den Chiefs der Gesellschaften im Inland aufzubauen. Die Blutsbrüderschaft war in ganz Ostafrika eine verbreitete Möglichkeit, eine Form von Verwandtschaft zu schaffen, die sichere und berechenbare Beziehungen aufbaute. Allerdings hatten Blutsbrüderschaften in verschiedenen Regionen unterschiedliche Bedeutungen, nicht überall garantierten sie verwandtschaftsähnliche Beziehungen, insbesondere verloren sie ihre Bedeutung, wo sie zu häufig eingegangen wurden.
==== Verwandtschaft ====
Auch Heiraten stellten verwandtschaftliche Beziehungen her, obwohl die Küstenhändler die Verbindung durch die Ehe nur als unter Gleichrangigen möglich betrachteten und daher eine solche Bindung an die Chiefs im Inneren prinzipiell ausschlossen. Dennoch gingen vielerorts Swahili-Händler Ehen mit Töchtern lokaler Chiefs ein. Die polygyne Eheinstitution, die von allen Gesellschaften in Ostafrika geteilt wurde, ermöglichte es den Händlern, in verschiedenen Regionen durch die Heirat eine geschäftliche Niederlassung zu etablieren, die durch Verwandtschaftsbande zementiert wurde.
Auch die politischen Oberhäupter im Inland waren an solchen Verbindungen interessiert. Durch sie wurden beide beteiligte Seiten in die Pflicht genommen: Händler konnten auf die Unterstützung ihrer Schwiegerfamilie zählen, umgekehrt fanden Sklavenjagden oder die Ausübung militärischer Gewalt zur Durchsetzung von Handelsinteressen in den Regionen solcher Verwandter nur mit deren Zustimmung statt.
=== Waren ===
Während Elfenbein die alles bestimmende Ware war, die es zur Küste zu bringen und dort zu verkaufen galt, waren die Küstenhändler auch an anderen Gütern aus dem Inland interessiert. Zum einen waren Sklaven eine profitable Ware, denn sie waren als Arbeitskräfte an der Küste sehr begehrt. Darüber hinaus erzielte gegen Ende des 19. Jahrhunderts Kautschuk, der insbesondere im Kongo in großen Mengen zu finden war, an der ostafrikanischen Küste gute Preise.
Als Tauschwaren führten die Küstenhändler bei ihren Reisen ins Inland ihrerseits eine breite Palette von Gütern mit sich. Begehrt im Landesinneren waren besonders Feuerwaffen sowie Zucker, der an der ostafrikanischen Küste produziert wurde. Des Weiteren wurden Baumwollstoffe, Glasperlen, Messing- und Kupferdraht in großen Mengen mitgeführt, Güter, deren Herstellung im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Industrialisierung in Europa und Amerika stetig preiswerter wurde und daher die Profite steigen ließ. Perlen, Messing und Draht wurden von einheimischen Goldschmieden in aufwendiger Arbeit zu Schmuck verarbeitet. Baumwollstoffe stellten eine begehrte Kleidung dar, die durch ihre Imitation der Kleidung von der Küste zu hohem Ansehen beitrug. Stoffe, Metalle und Perlen dienten auch als Brautpreis und wurden im Inland zunehmend zu einer Währungsform. Die Waren, die ins Inland flossen, waren daher in erster Linie Prestigegüter, die zum einen in Ansehen, Prestige und Rang, zum anderen in Ehefrauen und Vieh umgemünzt werden konnten und so zum Wohlstand beitrugen. Darüber hinaus waren etwa Glasperlen ein wichtiges Symbol für den Status der Träger. Sie kamen bereits seit 200 n. Chr. aus Indien, von 600 bis 1200 auch aus dem Süden, aus Mupungubwe in Südafrika. Auch Edelsteinperlen stießen auf eine viel höhere Nachfrage als in Europa, von wo aus der Bedarf zunehmend gedeckt wurde.
Schließlich waren europäische Luxusgüter jeglicher Art, wie Regenschirme, Uhren, Kleidung, Fernrohre, sogar Möbelstücke, deren Wert durch ihre Seltenheit im Landesinneren ins Unermessliche stieg, äußerst gefragt.
== Karawane und Karawanenkultur ==
Die Karawanen in ihrer sozialen Zusammensetzung und Hierarchie waren Schmelztiegel für Identitäten und Kulturen. In ihnen trafen Tausende von Menschen – von der Küste und aus allen Regionen Ostafrikas – aufeinander, verbrachten Wochen und Monate unter mitunter extremen Bedingungen miteinander, mussten sich gemeinsam nach außen behaupten und nicht selten verteidigen, aber auch untereinander ihr Wissen teilen und ihre Positionen verhandeln. Die Karawanen wurden dadurch zu einem integrativen Moment. Durch die Arbeit in der Karawane konnten Menschen von der Küste im Inland bestimmte Positionen erringen, die ihnen an der Küste verschlossen waren; umgekehrt bot die Karawane für Menschen aus dem Inneren die Möglichkeit, zum Angehörigen der angesehenen Swahili-Gesellschaft aufzusteigen.
Karawanenarbeit und Beteiligung am Karawanenhandel bedeutete daher für viele nicht nur ein profitables Auskommen, sondern auch eine Beschäftigung, die das persönliche Ansehen hob und festigte. Das galt insbesondere für Sklaven, die durch Karawanenarbeit zu Wohlstand gelangen konnten und zum Teil ganz aus dem Abhängigkeitsverhältnis ausbrechen konnten. Die Grenzen zwischen den sich selbst als kulturell fortschrittlich sehenden Küstenhändlern und den von ihnen als Wilde – Washenzi – bezeichneten innerafrikanischen Gesellschaften waren daher ständig im Wandel.Obwohl der Impuls, das Handelsnetz ins Innere auszuweiten, von den Händlern an der Küste ausging, war es die seit langem bestehende Karawanenkultur der Gruppen aus Zentralostafrika, die die Form des Handels entscheidend mitbestimmte. Die Küstenhändler wurden von afrikanischen Geschäftsleuten und Unternehmern aus dem Inland aktiv unterstützt. Auf ihr Wissen und ihre Erfahrung waren die Küstenhändler in der Phase der Expansion entscheidend angewiesen, was dazu führte, dass die Kultur des interregionalen Karawanenhandels, der von der Küste dominiert wurde, in seiner Gestaltung auf tradierten Handelsstrukturen des Inneren beruhte. Die soziale Struktur und Ordnung der Karawane war wesentlich durch die Form der Nyamwezi-Karawanen geprägt, die einen Großteil der Träger in den Swahili-Karawanen stellten.
=== Die soziale Struktur der Karawane ===
Die Karawanen waren nicht nur ökonomische Großunternehmungen, sie waren auch wandernde soziale Gemeinschaften, in denen eine strenge hierarchische Ordnung herrschte. Diese Ordnung spiegelte sich in der Marschaufstellung wider. An der Spitze ging der kirongozi, ein von den Trägern gewählter Führer, der mit kleinem Gefolge die Vorhut bildete, die Wege wählte und die Wegzölle für die Durchreise aushandelte. Danach folgte die „Aristokratie“ der Karawane. Dazu gehörte der nyampara, das Oberhaupt und geistlicher Führer der Karawane, in auffälliger, punktvoller Kleidung und ohne Traglast, sowie die Händler mit Gefolge und Dienern, die Sonnenschirme und Waffen trugen. Danach marschierten die Träger, ihrerseits in der Reihenfolge der Waren, die sie trugen, unterteilt und jeweils wiederum begleitet von Waffenträgern: Träger von Stoßzähnen gingen voran, ihnen folgten Träger von Tauschwaren mit Stoffen, Perlen und Kupferdraht, am Ende schließlich jene, die die materielle Ausstattung der Karawane transportierten. Den Schluss des Zuges bildeten unabhängige Kleinhändler, gefesselte Sklaven, Frauen und Kinder, Kranke, Schaulustige und Träger von leichten Waren wie Nashornhörnern, Werkzeugen, Salz und Tabak, Taschen, Schlafmatten, Zelten, Wasserbehältern und Töpfen. Für bestimmte Tätigkeiten, wie das Führen durch unbekannte Gebiete, gab es erfahrene Spezialisten, wie auch Köche, Heiler, Dolmetscher und Soldaten.Eine Karawane bestand nicht allein aus den Unternehmern und den von ihnen angeworbenen Trägern. Oft schlossen sich ihr freie Händler aus dem Inland an, die in Eigeninitiative mit Elfenbein oder anderen Waren, wie Vieh und Getreide, handelten. Viele Frauen und Kinder reisten als Familienangehörige der Diener, Waffenträger oder Träger mit.
==== Karawanenführer ====
Die Führer der Karawanen verfügten über große Autorität und hatten die Disziplinargewalt innerhalb ihrer Karawane inne. Sie waren rituelle und soziale Oberhäupter. Ihre Aufgabe bestand zum einen in der praktischen Führung, weshalb sie über ausgezeichnetes geographisches Wissen verfügen mussten. Darüber hinaus waren Kenntnisse über die kulturellen und politischen Strukturen der Gesellschaften im Inneren notwendig. Oft waren die Führer mehrsprachig und beherrschten neben Swahili und Arabisch die jeweils wichtigsten Verkehrssprachen auf ihrer Route. Zum anderen bestand ihre Aufgabe in der spirituellen und rituellen Führung. Sie führten die für die große Reise notwendigen Rituale durch, die Unheil abhalten und Geschäftserfolg bescheren sollten. Oft verfügten sie auch über heilmedizinisches Wissen. Die Karawanenführer stammten in der Regel aus dem Inland. Sie waren sowohl innerhalb der Karawane als auch in ihrer Heimatgesellschaft aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Status hochangesehene Persönlichkeiten.
==== Träger ====
Die Träger stammten aus unterschiedlichen sozialen Gefügen. Es gab unter ihnen professionelle, insbesondere auf der zentralen Route zum Tanganyika-See, die sich für die gesamte Strecke zwischen dem Inland und der Küste anwerben ließen und so praktisch mit saisonalen Unterbrechungen hin- und herreisten. Es waren junge Männer, die aus dem Inland oder von der Küste stammen, sie konnten Freie, aber auch Sklaven sein. Sklaven wurden zum Teil von ihren Besitzern vermietet und gewannen so eine gewisse Freiheit, oder sie handelten in Eigenregie und führten einen Teil ihres Verdienstes an ihren Besitzer ab.In der Regel wurden professionelle Träger über Agenturen in den wichtigen Karawanenstädten angeheuert und für die gesamte Strecke verpflichtet. Dabei wurden auch die Lohnbedingungen ausgehandelt. Ihre Arbeit war streng geregelt. Sie transportierten Lasten von 60 bis 70 Pfund für die Karawane, hinzu kamen die persönliche Ausstattung, etwa eine Schlafmatte, Kochgeschirr, Verpflegungsrationen, Werkzeuge und Waffen und zum Teil Handelswaren, die der Träger in Eigenregie verkaufte. Insgesamt konnte so eine Traglast von rund 90 Pfund zusammenkommen.Professionelle Träger waren hervorragend organisiert. Sie bildeten, ähnlich wie in ihren Herkunftsgemeinschaften als Jäger oder Handwerker, innerhalb der Karawanen Gruppen, die sich gemeinsam um Unterkunft und Versorgung während der Rast kümmerten und gegenüber der Karawanenelite die Interessen der Träger vertraten. Nicht selten kam es auf der Strecke zu Auseinandersetzungen um Lohn, angemessene Verpflegung und Rastzeiten und Schutz während des Marsches. Die Träger hatten eine starke Position; wenn sie desertierten, bedeutete das für die Karawanenhändler hohe finanzielle und Zeitverluste. Daher konnten die Träger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer bessere Löhne erzielen. 1871 etwa erhielt ein Träger einen Monatslohn von 2,50 Maria-Theresien-Talern (MTT), einige Jahre später bereits 5 oder gar 8 MTT, ausgezahlt entweder in Form von Geld, Stoffen oder Messing- beziehungsweise Eisendraht. Hinzu kam eine Verpflegungsration, entweder in Lebensmitteln oder in Tauschwaren, so dass die Träger selbst auf der Strecke ihre benötigten Lebensmittel einhandeln mussten und dabei durch Preisspekulation zusätzlich profitieren konnten.Professionelle Träger arbeiteten einige Jahre im Karawanengeschäft und kehrten danach oft in ihre Heimat zurück. Ihre Verdienste, aber auch ihre Arbeits- und Reiseerfahrungen machten sie zu angesehenen Männern. So gewannen die Arbeit als Träger und das Reisen zur Küste generell in vielen Gesellschaften des Inlands einen zentralen Stellenwert. In den frühen 1890ern, so schätzt der Historiker Juhani Koponen, waren auf den Karawanenstraßen Ostafrikas jährlich um die 100.000 Träger unterwegs. Da die Trägerarbeit zum Wohlstand beitrug und das gesellschaftliche Ansehen beträchtlich hob, wurden junge Männer ermutigt, als Träger bei einer Karawane anzuheuern oder gar als eigenständige Karawanen-Unternehmer zur Küste zu reisen. Bei den Nyamwezi entwickelte sich die Reise zu einer Mannbarkeitsprüfung, die Voraussetzung für eine Heirat war. Oft änderten Männer, die zum ersten Mal mit einer Karawane an die Küste gelangten, ihren Namen, um damit dem veränderten sozialen Status Ausdruck zu verleihen.
==== Söldner und bewaffnete Begleitung ====
Wichtig für die Hierarchie in der Karawane war auch die mitreisende bewaffnete Gefolgschaft der Händler. Sie stellte eine Privattruppe der Händler im Landesinneren dar. Sie diente einerseits dem Schutz der Karawanenangehörigen und musste dafür sorgen, dass die kostbaren Waren nicht geraubt wurden. Andererseits wurde sie auch zur Disziplinierung der Träger eingesetzt, sollten diese desertieren oder meutern. Tatsächlich kam es häufiger zu Auseinandersetzungen innerhalb der Karawanen, wenn Träger eine bessere Vergütung, bessere Versorgung oder die Verringerung ihrer Lasten forderten.
Die Bewaffneten waren Söldner aus allen Landesteilen, die oft bereits als Karawanenträger oder Mitreisende bei Karawanen Erfahrungen gesammelt hatten. Sie wurden von den Händlern mit modernen Waffen ausgestattet und erhielten eine militärische Ausbildung. Zumeist handelte es sich um sehr junge Männer, nicht selten um Kinder, wie etwa die militärische Gefolgschaft Tippu-Tips, die sich ihm im Alter von 10 bis 18 Jahren anschlossen und auf deren unbedingte Loyalität der Händler zählen konnte. Im Laufe der Zeit professionalisierten sich diese Söldner mehr und mehr und wurden als Rugaruga bekannt. Ausgestattet mit Waffen und einer Kleidung, die sie als angesehene Männer auszeichnete, waren sie hochmobil und schlossen sich in Eigeninitiative Chiefs oder Händlern an, die ihnen die meisten Vorteile boten. Andere verbanden sich zu militärischen Einheiten und errichteten auf der Grundlage ihrer militärischen Macht eigene Reiche, wie etwa unter der Führung Mirambos, der vom Sohn eines wenig bedeutenden ntemi in Unyamwesi zu einem der mächtigsten Männer im Inland aufstieg.
==== Frauen ====
Mit den Karawanen reisten stets auch Frauen. Viele von ihnen waren Verwandte, Ehefrauen, Sklavinnen oder Konkubinen der Träger oder anderer Karawanenangehöriger, in jedem Fall waren sie eine unterstützende Arbeitskraft. Sie halfen bei Traglasten, indem sie die persönlich notwendigen Dinge der Träger oder Militärs transportierten, und sorgten bei der Rast für Verpflegung. Offenbar gab es aber auch Frauen, die in Eigeninitiative mitreisten. Frauen, die in ihren Herkunftsgesellschaften am sozialen Rand lebten, nicht verheiratet oder kinderlos geblieben waren, fanden während der Zeit des intensiven Sklavenhandels, der für sie als Außenseiter eine besondere Gefahr darstellte, in den Karawanengemeinschaften einen sozialen Schutzraum. Unglücklich verheirateten Frauen bot die Karawane die Gelegenheit, aus ihrer Ehe zu flüchten; entlaufene Sklavinnen fanden hier Unabhängigkeit. Einige der Frauen ließen sich als Träger anheuern, andere lebten vom individuellen Kleinhandel oder Bierbrauen, arbeiteten als Köchin oder boten sexuelle Dienstleistungen an.
== Die Auswirkungen des Karawanenhandels im afrikanischen Inland ==
=== Politische Veränderungen ===
Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigt expandierende Karawanenhandel hatte in den Gesellschaften im Inneren Ostafrikas gravierende Veränderungen zur Folge. Die Konkurrenz um die Profite aus dem stetig zunehmenden Karawanenhandel führte in vielen Gegenden zu größerer sozialer Unsicherheit, zu Krieg, politischer Instabilität und dem Aufstieg von Kriegsherren.
==== Zentralisierung politischer Macht ====
Politik und Handel waren dabei aufs Engste miteinander verknüpft. In vielen Gesellschaften des Inlands, die traditionell politisch dezentral organisiert waren, gelang es Einzelpersonen, den politischen Einfluss zu zentralisieren und auszuweiten. So handelte es sich bei den Nyamwesi dabei um ntemi, die sich bisher als rituelle Oberhäupter die Macht mit Ältestenräten geteilt hatten. Traditionell stand ihnen ein Anteil aller Jagdbeute zu, bei Elefanten erhielten sie die Stoßzähne (oder zumindest einen Stoßzahn jedes getöteten Elefanten), die einen rein symbolischen Wert hatten. Das Elfenbein wurde gelagert, bei den Kamba zu Eingangstoren in die Höfe angesehener Männer verbaut, in anderen Regionen als schutzbringendes Totem vergraben. Im Kontakt mit den Küstenhändlern erwies sich dieser Brauch als materieller Vorteil. So waren die ntemi die Ersten, die ihre Elfenbeinvorräte an die Küstenhändler veräußerten. Durch den Verkauf des Elfenbeins gelangten sie an eine bisher unbekannte Menge von Prestigegütern, darunter auch Feuerwaffen, die ihnen in der Folge bei ihrem Ausbau der Macht von großem Nutzen waren.
Die Küstenhändler waren an der Zentralisierung der Mächte interessiert und unterstützten sie militärisch, sofern sie mit ihnen kooperierten. Mit klaren politischen Machtteilungen wurde für sie der Zugang zum Elfenbein erleichtert, da so klargestellt war, mit wem sie handeln und verhandeln mussten. Durch Allianzen mit diesen politischen Kräften konnten die Küstenhändler im Inneren ihren Handelsgewinn steigern. Der Einfluss der Küstenhändler mit ihrem militärischen und ökonomischen Potential wurde in den Gesellschaften im Inneren zunehmend zu einem wichtigen Faktor für die politischen Verhältnisse. Sie stützten Herrscher, die für sie angenehme Handelspartner waren, und mischten sich vielerorts in die lokale Politik ein, um Herrscher, die nicht mit ihnen zusammenarbeiteten, zu schwächen oder zu stürzen.
==== Handelschiefs ====
Es gelangten aber auch Persönlichkeiten an die Macht, die bisher kaum politischen Einfluss hatten und diesen nun aufgrund ihrer Erfahrungen im Karawanenhandel aufbauten.
Zumeist handelte es sich um Personen, die im Karawanenhandel gearbeitet hatten und dabei zu Geld und Waffen gekommen waren. Die jährlich zunehmende Zahl an Feuerwaffen, die durch den Handel ins Innere gelangte, war dabei besonders mitbestimmend. In den 1880ern wurden jährlich bereits um die 100.000 Waffen ins Inland exportiert.Diese in der Forschung Handelschiefs genannten Männer, zu denen etwa auch Mirambo zählte, adaptierten die Praxis der Karawanenhändler, junge Krieger um sich zu sammeln, oft Männer, die ebenfalls als Träger, Karawanenführer, auch Kriegsgefangene oder Sklaven im Umfeld des Karawanenhandels tätig gewesen waren. Sie verfügten aus dem Erlös ihrer Arbeit entweder selbst bereits über Waffen oder sie wurden damit ausgerüstet. So sammelte sich eine bewaffnete Gefolgschaft um einen Herrscher, der in Regionen entlang der Karawanenstraßen seinen Machtbereich etablierte.
Aufgrund ihrer militärischen Ausstattung und ihres Wissens über den Handel und seine Strukturen, das weit über die lokalen Verhältnisse hinausging, gelang es ihnen, neue Reiche auf der Grundlage neuer politischer Strukturen aufzubauen. Anders als in den traditionellen Gesellschaften ruhte die politische Macht fast ausschließlich in den Händen junger Männer; oft herrschten sie mit bis dahin ungekannter Gewalt. Sklavenjagden, deren Beute an die Küstenhändler verkauft wurde, und Raubzüge gegen Gesellschaften, wo Elfenbein gesammelt wurde, das ebenfalls in den Handel gelangte, war die wirtschaftliche Grundlage dieser Gesellschaften.
==== Sklavenhandel ====
In den Gesellschaften im Inland war die Versklavung von Kriegsgefangenen eine gängige Praxis, da Menschen und ihre Arbeits- und Reproduktionskraft Gewinn versprachen. Solche Versklavten wurden spätestens in der nächsten Generation in den Haushalt eingefügt und trugen so zu dessen Wohlstand bei. Mit der Etablierung von Handelsbeziehungen zur Küste änderte sich diese Praxis. Viele Sklaven wurden nun an Händler von der Küste verkauft, wo sie als Arbeitskräfte gebraucht wurden, und stellten somit im Inland die Quelle für schnelle Gewinne dar. Das führte dazu, dass zunehmend Raubzüge mit dem Ziel unternommen wurden, möglichst viele Sklaven zu erbeuten und zu verkaufen.
=== Ökonomische Auswirkungen des Handels ===
Die hohen Profite, die der Elfenbeinhandel einbrachte und die Millionen Menschen in das sich rasch formierende Handelssystem einbanden, bewirkte, dass sich auch viele andere Wirtschaftsbereiche mehr und mehr auf diesen Handel ausrichteten. Die landwirtschaftliche Produktion im Inland wurde zunehmend für die Versorgung der Karawanen ausgerichtet. Viehzüchter trieben Rinderherden über 1000 Kilometer zur Küste, um von den dort herrschenden hohen Preisen für Lebensmittel zu profitieren.
Die neue Mobilität, die der rege Karawanenverkehr darstellte, bedeutete Bewegung in vieler Hinsicht. Arbeitskräfte, die der Handel band, waren in den lokalen Wirtschaften nicht mehr verfügbar. Zunehmend mussten Frauen bisherige Arbeiten von Männern übernehmen, Sklaven hingegen konnten in neue Aufgabenbereiche einsteigen und damit sozial aufsteigen.
==== Professionalisierung der Trägerarbeit ====
Während Viehzucht und Feldwirtschaft in den Gesellschaften des Inlandes bis ins 19. Jahrhundert hinein die wichtigsten wirtschaftlichen Grundlagen bildeten, wurde spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Handel mit Elfenbein die alles bestimmende Wirtschaftskomponente. Das zeigte sich in der unmittelbaren Beteiligung vieler Menschen am Handel. Zum einen richteten sie selbst Karawanen zur Küste aus, zum anderen arbeiteten sie als Träger. War zuvor Handel eine beigeordnete Tätigkeit, die von einem kleinen Teil der Gesellschaft betrieben wurde, waren nun zahlreiche Männer und Frauen involviert, um 1890 etwa ein Drittel der männlichen Bevölkerung von Unyamwesi. Der sansibarische Historiker Abdul Sheriff sprach in diesem Zusammenhang auch von einer Proletarisierung der Träger. Gleichzeitig trugen die Einkommen der Träger dazu bei, dass Reichtum in den Heimatgesellschaften angehäuft werden konnte. Der Verdienst der Träger wurde zum großen Teil in Vieh und weitere Ehefrauen umgemünzt, die zum Wohlstand des heimischen Haushaltes beitrugen.
==== Professionalisierung der Elefantenjagd ====
Darüber hinaus wirkte sich der Handel auch indirekt auf die lokale Wirtschaft aus. Die Jagd nach Elefanten wurde zu einem wachsenden Wirtschaftszweig. Die Küstenhändler jagten nicht selbst, vielmehr kauften sie vorhandenes Elfenbein auf oder rüsteten Jägergruppen im Inland aus, die die Jagdzüge unternahmen.In anderen, von den Karawanenrouten weiter abgelegenen Gegenden hatten die Gesellschaften keinen direkten Kontakt zu den Küstenhändlern. Zu ihnen gelangte die gestiegene Nachfrage nach Elfenbein über Zwischenhändler. Auch in diesen Regionen stiegen die Preise für Elfenbein in raschem Tempo und führten zur Bildung von professionellen Elefantenjägergruppen.
==== Demographische Entwicklung ====
All diese Faktoren führten zu einem zunehmenden Ungleichgewicht in der wirtschaftlichen Entwicklung, hin zu einer Ökonomie, die immer weniger auf Nachhaltigkeit ausgerichtet war. Der Wohlstand, der durch den Handel akkumuliert werden konnte, konzentrierte sich auf eine abnehmende Bevölkerungsgruppe. Lebensmittelvorräte schmolzen und boten keine Sicherheit mehr bei drohenden Dürren.
Die Krankheiten stellten ein gefährliches Hindernis für die demographische Entwicklung dar. Nicht allein die Mobilität, auch die Kriege und daraus resultierende Bevölkerungskonzentrationen in großen Siedlungen mit Verteidigungsanlagen führten zu einer rascheren Ausbreitung von Ansteckungskrankheiten. Karawanenmitglieder waren häufig mit Pocken infiziert, vermutlich virulente asiatische und europäische Varianten der Krankheit, gegen die kaum Immunität bestand. Auch die Cholera und Geschlechtskrankheiten wurden weithin verbreitet. Der Zusammenzug der Menschen in größeren Siedlungen hatte eine Verwilderung großer Gebiete zur Folge und begünstigte die Ausbreitung der Tsetsefliege und damit der Schlafkrankheit. Die Gonorrhoe, die wenig akute Symptome aufweist, führte bei vielen Frauen zu Unfruchtbarkeit und war vermutlich die Hauptursache für die niedrigen Geburtenraten ab den 1870er Jahren.
==== Abnehmende Elefantenbestände ====
Die Folge des boomenden Handels war schließlich eine dramatische Abnahme der Elefantenbestände in ganz Ostafrika. In den 1880er Jahren wurden drei Viertel des Weltmarktbedarfs von ostafrikanischem Elfenbein gedeckt, wofür jährlich 40.000 bis 60.000 Tiere gejagt wurden. Die „Elefantenfrontier“ verschob sich damit immer weiter in den Kontinent hinein, die Profite waren stärker umkämpft, Karawanenhändler mussten immer längere Reisen auf sich nehmen, um die stetig steigende Nachfrage zu befriedigen.
=== Kulturtransfer ===
Der transregionale Handel, der große Teile der Bevölkerung Ostafrikas mit einbezog, bewirkte auch eine Reihe von wichtigen kulturellen Veränderungen. Die Menschen im Inland sahen in der islamischen Küstenkultur eine attraktive Lebensform und begannen sie in vielerlei Hinsicht nachzuahmen und sich anzueignen. Durch die hohe Mobilität entlang der Karawanenrouten entwickelte sich auch ein reger Austausch kultureller Elemente ganz unterschiedlicher Art unter den innerafrikanischen Gesellschaften. Tanz- und Musiktraditionen, landwirtschaftliche Techniken und Anbauprodukte, Kleidungsstile, religiöse Praktiken und Kinderspiele veränderten sich unter dem Einfluss der Begegnungen.
==== Stadtgründungen ====
Wie die Karawanen selbst Orte des Waren- und Ideenaustausches darstellten, so galt das auch für die Stützpunkte entlang der Karawanenrouten. Sie wurden an Orten errichtet, die den einheimischen Karawanenführern bereits bekannt waren. Oft handelte es sich dabei um bereits vorhandene Dörfer, zuweilen um den Sitz einer freundlich gesinnten einheimischen Autorität. Die Küstenhändler etablierten hier im Laufe der Zeit starke Niederlassungen mit militärischer Verstärkung, in der Regel in Allianz mit den lokalen Oberhäuptern. Nicht selten wurden sie von ihnen um Unterstützung gebeten.
Diese Orte entwickelten sich schnell zu lebendigen Anlaufpunkten für den Handel und zogen weiteren Zuzug nach sich. Indische und Küstenhändler errichteten Zweitwohnsitze und heirateten in angesehene lokale Familien ein. Hier ließen sie sich auch nieder, wenn sie nicht mehr zur Küste zurückkehren konnten, weil sie verschuldet waren. Es entstanden Moscheen, Wechselbüros, Geschäfte, Steinhäuser im Swahili-Stil und Karawansereien. Tabora und Ujiji sind Beispiele für diese Expansion der Küstenkultur, in die der sansibarische Sultan seine Macht auszuweiten versuchte, indem er auch hier Gesandte ernannte. Solche Städte hatten eine große Anziehungskraft für die umliegenden lokalen Gesellschaften; sie waren daher auch keine Kopien der urbanen Swahili-Kultur, sondern verschmolzen mit den jeweiligen regionalen Kulturen. In Ujiji am Tanganjika-See beispielsweise lebten, als der Missionar Edward Hore sich 1876 dort aufhielt, ungefähr 30 bis 40 Küstenhändler, die mehrere Tausend Menschen umfassende Einwohnerschaft indes stammte fast ausschließlich aus dem Umland. Dennoch übten diese Städte, ebenso wie die Karawanen während ihrer Reise selbst, mit ihrem Flair von Weltgewandtheit und den Verbindungen zu einem internationalen Handelsnetz eine große Anziehungskraft aus. Sie waren Zentren des Kulturtransfers und der Aneignung kultureller Elemente der Küste.
==== Islamisierung ====
Eine zentrale Rolle in diesem Prozess der Kulturtransfers nahm die Islamisierung ein. Viele Beteiligte im Karawanenhandel erlebten, dass der Übertritt zum Islam den Handel mit den Kaufleuten von der Küste erleichterte. Zudem konnte man damit den sozialen Unterschied zu den Küstenhändlern, die sich den „heidnischen“ Völkern im Inland überlegen fühlten, verringern. Die Ausbreitung des Islams erfolgte in den Karawanen und entlang der Karawanenrouten. Händler unterstützten oft die Konversion ihrer Gefolgsleute zum Islam. Dabei spielten die sich in Ostafrika ausbreitenden Sufi-Bruderschaften, insbesondere die Qadiriyya, eine zentrale Rolle. Sie verbanden Elemente lokaler Religionen mit dem Islam und waren durch öffentliche religiöse Tanzzeremonien und Rituale besonders populär. Vom an der ostafrikanischen Küste bisher praktizierten Islam unterschied sich die Qadiriyya auch durch ihren integrativen Charakter. In ihr fanden Menschen ungeachtet ihres sozialen Status, ihrer Herkunft und Bildung Aufnahme.
==== Alltags- und Konsumkultur ====
Die Anpassung an die Küstenkultur bedeutete nicht allein die Übernahme eines neuen religiösen Glaubens. Sie war verbunden mit der Aneignung einer neuen Körperkultur, mit der Übernahme von Kleidungsstilen, Ernährungsregeln, Reinheitsgeboten und islamischen Beschneidungsgewohnheiten; junge Männer ließen sich keine Zöpfe mehr wachsen, sondern schoren sich nach dem Vorbild der Küste die Köpfe; es breitete sich auch die Sitte aus, Koranverse als Amulette bei sich zu tragen.Die Händler des Inlands legten im Laufe der Zeit und ihres Kontaktes mit den Küstenhändlern großes Interesse für jede Art von importierten Waren an den Tag. So wurden innerhalb kurzer Zeit Regenschirme zu begehrten Prestigegütern, andere begehrte Waren waren Jagdgewehre, Geld in Münzen und Medizin. Kleidung aus den Baumwollstoffen, die durch den Handel ins Landesinnere gelangten, wurde zum Zeichen von Ansehen und Macht. Chiefs, so etwa Semboja in Mazinde, kleideten sich in feine arabische Stoffe und richteten ihr Haus mit Luxusgütern aus aller Welt ein.Die Insignien der Karawanenkultur, Gewehre und Gewehrkugeln, Flaggen und Münzen, fanden Eingang in die Alltagskultur, wurden in die Ausstattung lokaler Kriegergruppen integriert, zu Schmuck verarbeitet und spiegelten sich in Kinderspielen wider. Kinder fertigten sich allerorten Spielzeuggewehre an. Der Historiker John Iliffe berichtet von einem Spiel der Yao, bei dem sich Kaufleute und Sklaven gegenüberstanden: Der Verlierer starb unterwegs.
== Sklaven und Sklavenhandel ab 1870 ==
Ab 1870 wuchs der Einfluss Großbritanniens auf den sansibarischen Sultan massiv. Nachdem Said ibn Sultan 1856 gestorben war, kam es unter seinen Söhnen zu Streitigkeiten um den Thron. Das Reich wurde aufgeteilt, in Sansibar bestieg Madschid bin Said den Thron, sein älterer Bruder Thuwaini wurde Sultan von Oman. Der Nachfolgestreit und ein Umsturzversuch, von seinem Bruder Barghasch ibn Said unternommen, setzten Madschid so unter Druck, dass ihm die britischen Bemühungen, zu schlichten und ihn zu unterstützen, willkommen waren.
Großbritanniens Einfluss als starker Partner machte sich zunehmend in der sansibarischen Politik bemerkbar, nachdem als Madschids Nachfolger Bargash 1866 den Thron bestieg. Bargash baute die Kontrolle des Sultans über die Küste beträchtlich aus. Unterstützt wurde er dabei vom britischen Generalkonsul John Kirk in Sansibar und dem militärischen Kommandeur Lloyd Mathews, beide auch im Innern des Landes bekannt und gefürchtet. Im Gegenzug verlangten die Briten vom Sultan die Durchsetzung des Sklavenhandelsverbotes, das seit den 1850er Jahren wiederholt Verhandlungsgegenstand zwischen Großbritannien und den Sultanen in Sansibar gewesen war. Sklaverei stellte unverändert einen gewinnträchtigen Faktor der sansibarischen Wirtschaft dar, als Exportprodukt im Indischen Ozean ebenso wie als Arbeitskraftreservoir für die Plantagenwirtschaft an der Küste. Großbritannien indes wurde im Indischen Ozean eine immer stärkere Seemacht – insbesondere, nachdem 1869 der Suezkanal eröffnet war – und konnte mit seiner Macht über den Handelsweg nach Indien Sansibar empfindlich unter Druck setzen.
== Plantagenwirtschaft und Sklaverei an der Küste ==
Obwohl sich Bargash den britischen Forderungen nach einem Verbot des überseeischen Sklavenhandels gebeugt hatte, wurde auch weiterhin mit Sklaven gehandelt. Da sie jedoch nicht mehr verschifft werden konnten, überschwemmten sie das Festland des ostafrikanischen Marktes. Der Bedarf an Arbeitskräften war ohnehin groß und stieg durch den Handelsboom unablässig. Neben der Produktion von Gewürznelken für den Export diente die Plantagenwirtschaft an der ostafrikanischen Küste zum einen der Subsistenzwirtschaft, um die Städte zu versorgen. Zum anderen arbeitete sie auch dem interregionalen Handel zu, indem sie Zucker produzierte, der im Inland zu einer begehrten Tauschhandelsware wurde.Tatsächlich führte das Sklavenhandelsverbot zu einer dramatischen Verschlechterung der Lebensbedingungen für Sklaven. Das Verbot von Sklavenexporten machte Sklaven zu einer billigen Handelsware, die Profite sanken. Sklaven waren nicht mehr ein Besitz, um dessen Wohlergehen man sich, ganz zum eigenen Vorteil, sorgte. Tatsächlich wurde es für Plantagenbesitzer preiswerter, die Arbeitskraft der Sklaven rücksichtslos auszubeuten und nachzukaufen, wenn sie starben, als Vorkehrungen für ihre angemessene Versorgung zu treffen.Die Folge war ein beträchtlicher Werteverlust und immer rücksichtslosere Sklavenjagden, um den Profitverlust aufzufangen. Das bevorzugte Gebiet der Sklavenjäger war das südliche Tanganyika um Nyassa-See und Sambesi, das bereits seit mehr als zweihundert Jahren als Lieferant für Sklaven diente und wo seit langem die Yao als Sklavenhändler Handelsstrukturen etabliert hatten. Hier wurden ganze Landstriche entvölkert, der Exodus von vor allem kräftigen, jungen Männern und Frauen führte zum Niedergang wirtschaftlicher, kultureller und politischer Strukturen. Viele Opfer starben bereits während der Jagd: Der anstrengende Marsch zur Küste mit schlechter Versorgung und ohne medizinische Betreuung forderte nach Schätzungen das Leben von 50 bis 70 Prozent derjenigen, die den Weg angetreten hatten.
== Kolonialisierung und das Ende des Karawanenhandels ==
Dem rasanten Wirtschaftswachstum und der damit einhergehenden rücksichtslosen Plünderung von menschlichen und ökologischen Ressourcen folgte am Ende des Jahrhunderts ein nicht weniger abrupter wirtschaftlicher Bruch. Er war nicht allein die Folge der um 1888 einsetzenden Kolonialisierung durch das Deutsche Reich, auch wenn diese die politischen Strukturen zu Ungunsten der Händler veränderte und die Eroberer den Handel unter ihre Kontrolle zu bringen versuchten. Am Ende des 19. Jahrhunderts erlebte Ostafrika ein Jahrzehnt des Hungers und der grassierenden Krankheiten, die – durch die sich globalisierende Wirtschaft – die Region eroberten. Das Elfenbein musste aus immer entfernteren Regionen zur Küste gebracht werden, die Reisen wurden länger und durch die Militarisierung des Inlands immer gefährlicher. Neue Rohstoffe, vor allem Kautschuk, eroberten den Markt.
=== Europäische Expeditions- und Verwaltungsreisende ===
Der Beginn der Kolonialisierung Tanganyikas Ende des 19. Jahrhunderts bedeutete nicht das Ende des Karawanenhandels. Vielmehr reisten viele europäische Reisende, wie David Livingstone, Henry Morton Stanley, Richard Burton und John Hanning Speke sowie die erste Generation von Kolonialbeamten, etwa Hermann von Wissmann und Carl Peters, mit erfahrenen Karawanenhändlern und profitierten von deren geographischen Kenntnissen und ihrem Wissen über die Bewohner des Landesinneren. Tatsächlich hatte sich in Sansibar bereits seit den 1870er Jahren eine Infrastruktur für die europäischen Reisenden entwickelt, die sich von hier aus aufmachten, den Kontinent zu „entdecken“. Sewa Hadji, ein indischer Geschäftsmann an der Küste, war die erste Adresse für die Ausrüstung der Expeditionen ruhmhungriger europäischer Reisender, er vermittelte zudem Träger und Anschluss an Handelskarawanen.Auch die deutschen Kolonialherren bedienten sich Methoden, die an jene der Karawanenhändler angelehnt waren. Sie errichteten ihre Stationen entlang der bestehenden Karawanenstraßen, stellten ihre Truppen zum großen Teil aus Führern, Dolmetschern und Söldnern zusammen, die ihre Kenntnisse bei der Arbeit im Karawanenhandel erworben hatten, und waren daran interessiert, den Handel und seine Gewinne unter ihre Kontrolle zu bekommen.
=== Die koloniale Kontrolle über den Handel ===
Das geschah mit dem Hinweis auf die durch die Karawanen sich ausbreitenden Krankheiten, vor allem aber unter dem Vorwand, damit den Sklavenhandel zu bekämpfen, der in den 1890er Jahren verboten wurde, und die „arabische Vorherrschaft“ auf dem Festland aufzuheben. Ab 1895 dominierten zunehmend deutsche Firmen den Handel mit Kopal und Kautschuk, deutsche Dampfer stellten eine starke Konkurrenz zu den bisherigen Transportmitteln auf See, den Dhaus, dar.Durch den sogenannten Helgoland-Sansibar-Vertrag wurde Sansibar administrativ vom unter deutschem Herrschaftseinfluss stehenden Festland getrennt und in das britische Imperium eingefügt. Die indische Handelselite, die im Elfenbeinhandel eine Schlüsselstellung eingenommen hatte und die von Briten wie von Deutschen als Untertanen des britischen Imperiums gesehen wurden, wurde von deutschen Handelshäusern als Konkurrenz mehr und mehr ausgeschaltet.Schließlich verfügte die Kolonialregierung in den Küstenorten den Markthallenzwang. Durch die Errichtung von Markthallen, in denen der Wert aller Produkte aus dem Landesinneren durch öffentliche Versteigerung festgelegt werden sollte, ließ sich der Handel besser kontrollieren und durch die zusätzlich erhobenen Gebühren profitierte die Kolonialadministration erheblich vom Handel. Die Preise für Produkte aus dem Inland stiegen rasch und Importfirmen und Händler machten wesentlich kleinere Gewinne.
=== Verbot des Elfenbeinhandels ===
Die vielerorts dezimierten Elefantenbestände, über die sich europäische Beobachter schon Ende des 19. Jahrhunderts besorgt geäußert hatten, versuchte man mit einem Export- und Jagdverbot zu schützen. Seit 1908 galt in Deutsch-Ostafrika ein Jagdverbot für Elefanten, das nur für Inhaber von Jagdscheinen gegen hohe Gebühren Ausnahmen erlaubte und insgesamt das Erlegen von zwei Tieren je Inhaber gestattete.
=== Eisenbahnbau ===
Mit dem Bau der Eisenbahnlinien, ab 1891 von Tanga aus die Usambarabahn, ab 1896 in Britisch-Ostafrika die Uganda-Bahn und ab 1904 die Tanganjikabahn, fand der Karawanenhandel durch die Konkurrenz der Bahn schließlich ein Ende. Die Zahl der Träger, die von Bagamoyo ins Landesinnere reisten, sank zwischen 1900 und 1912 von 43.880 auf 193. In anderen Gegenden waren die Menschen noch lange auf den Transport von Gütern durch menschliche Kraft angewiesen. Dennoch entwickelten sich mit der Eisenbahn neue Zentren und die des Karawanenhandelssystems verfielen. Ujiji und Bagamoyo etwa verloren mit der Bahn völlig an Bedeutung, während die Städte Dar es Salaam und Kigoma, Anfangs- und Endpunkte der Tanganjika-Bahn, florierten.
== Kontinuität der Handelsstrukturen des 19. Jahrhunderts ==
Die sozialen, geographischen und kulturellen Strukturen, die sich durch den Handel im 19. Jahrhundert herausgebildet hatten, bestimmten jedoch die weitere Entwicklung der Region wesentlich mit. Die neu entstehenden kolonialen Eisenbahnen, so die Tanganjika-Bahn, die Bahnlinie zum Kilimandscharo und die Uganda-Bahn, wurden mit geringen Abweichungen entlang bisheriger Karawanenstraßen gebaut und sollten dem gleichen Zweck dienen wie die Karawanenwege: dem Abtransport von Rohstoffen zur Küste.
Die koloniale Machtergreifung erfolgte von den Zentren des Karawanenhandels aus, von der Küste und von den im 19. Jahrhundert entstandenen Städten im Inland. Die innerafrikanischen Gesellschaften reagierten auf die neuen Eindringlinge mit den zuvor etablierten Strategien: Sie arrangierten sich und versuchten, ihrerseits davon zu profitieren. So stammten Wanderarbeiter auf Plantagen der neuen Kolonialherren sowie auf den Baustellen der Bahnlinie aus jenen Gegenden, aus denen Jahrzehnte zuvor Träger für Karawanen gekommen waren. Sie organisierten sich nach den gleichen Strukturen wie die Träger des Karawanenhandels, arbeiteten zu gleichen Bedingungen und nutzten ähnliche Strategien, um ihre Forderungen nach Lohn, angemessener Arbeitszeit und Verpflegung durchzusetzen.Kulturell blieb eine Zweiteilung zwischen der islamisch geprägten Küste mit ihren Niederlassungen entlang der Karawanenwege und dem nichtislamischen Inland bestehen. Zwar setzte sich die Ausbreitung des Islams im Inland fort, sie geschah aber vor allem entlang der neu entstandenen Eisenbahnlinien. Kiswahili als Verkehrssprache des Karawanenhandels wurde von den britischen und deutschen Kolonialadministrationen als Sprache der Herrschaft übernommen. Nach der Unabhängigkeit der ostafrikanischen Staaten bildete Ostafrika so die einzige Region südlich der Sahara, die auf eine afrikanische Sprache als gemeinsame Verkehrssprache zurückgreifen konnte.
Eine entscheidende Folge des regen Kulturaustausches, der im 19. Jahrhundert stattgefunden hatte, war die Organisation eines breiten, ethnische Gruppen übergreifenden Widerstandes gegen die deutsche Kolonialherrschaft während des Maji-Maji-Krieges 1905–1907. In dem Aufstand äußerte sich nicht nur eine erneuerte Form der Religion, die auf den intensiven Kontakt mit Elementen anderer Religionen zurückging, sondern auch das Bewusstsein eines ethnisch übergreifenden Zusammenhaltes unter den innerafrikanischen Bewohnern.
== Forschungsgeschichte ==
Der Einfluss der Küste bei der Etablierung des interregionalen Karawanenhandels in Ostafrika ist lange vornehmlich als Tyrannei der arabischen Händler über das afrikanische Hinterland beschrieben worden. Europäische Reisende, insbesondere Missionare, die im Lauf des 19. Jahrhunderts Ostafrika bereisten, zeichneten das Bild gewissenloser muslimischer Sklavenhändler wiederholt und nachdrücklich. Das Bild der islamischen Tyrannen blieb lange unhinterfragt, christliche Missionen diskreditierten damit die Konkurrenz des sich ausbreitenden Islam in ihrem Betätigungsfeld, deutsche Kolonialagenten fanden darin einen willkommenen Vorwand, das Land unter ihren „Schutz“ zu stellen.
Diese Perspektive blieb in der Forschung lange vorherrschend. Der Handel in Ostafrika wurde in erster Linie als Sklavenhandelssystem thematisiert, innerhalb dessen die Küstenhändler agierten, während die innerafrikanischen Gruppen passive Opfer darstellten. Die intensiven wirtschaftshistorischen Arbeiten der Historiker der sogenannten Dar-es-Salaamer Schule in den 1960er Jahren, die sich besonders einer afrikanischen Nationalgeschichtsschreibung verpflichtet fühlten, verschoben diesen Fokus. Sie zeigten, dass der Karawanenhandel sich am Weltmarkt orientiert hatte, zuvörderst auf dem Profit des Elfenbeines basierte und der Sklavenhandel sich dabei vielmehr als Nebenprodukt entwickelte. Dennoch thematisierten auch sie die Geschichte des Karawanenhandels in erster Linie als eine Geschichte einer Unterentwicklung des originären Afrikas.In den 1980er Jahren setzte mit einer allgemeinen Erweiterung der historischen Perspektiven auf afrikanische Geschichte auch eine Neubeurteilung des ostafrikanischen Handelsbooms ein. Er wurde nicht mehr als Ausbeutung des Inlands durch die Küstenhändler bewertet, vielmehr wurde der Handel als komplexes System verstanden, in dem Gewinner und Verlierer nicht ethnisch oder geographisch zuzuordnen waren. Die Beteiligung einzelner Regionen und spezieller Akteure des Handels, wie der Träger oder die von Frauen, gewannen ebenfalls Raum in den Darstellungen. Innerafrikanische Händler als Akteure, die selbst mit Sklaven handelten, oder Sklaven aus dem Inland, die in der Küstengesellschaft aufstiegen, die Aneignung des Islams als Strategie, Teil der Swahili-Gesellschaft zu werden, sind Beispiele, die zeigen, dass aus allen Regionen Ostafrikas Menschen aktiv die Veränderungen mitgestalteten.
Aufbauend auf dem Urteil des britischen Historikers John Iliffe wurde das komplexe Handelsnetzwerk, das im 19. Jahrhundert die Gesellschaften Ostafrikas so gravierend bestimmte, zunehmend als prägend für die nachfolgende Kolonialisierung und die heutige Gestalt der einzelnen Nationalstaaten der Gegend beurteilt. Viele Veränderungen, die während der Kolonialzeit und in der nachkolonialen Phase stattfanden, so der Schluss aktueller Forschungen, wurden von der afrikanischen Bevölkerung durch Reaktionen und Strategien geprägt, die ihre Wurzeln in den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts hatten.
== Literatur ==
Edward A. Alpers: Ivory and Slaves in East Central Africa. Changing Pattern of International Trade in East Central Africa in the later Nineteenth Century. London 1975.
Jonathan Glassman: Feasts and Riot. Revelry, rebellion, and Popular Consciousness on the Swahili Coast, 1856–1888. Portsmouth 1995.
Iris Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert. München 1990.
John Iliffe: A Modern History of Tanganyika. Cambridge University Press, Cambridge 1979 ISBN 0-521-29611-0
John Iliffe: Geschichte Afrikas. Beck, München 1997 ISBN 3-406-46309-6
Juhani Koponen: People and Production in Late Precolonial Tanzania. History and Structures. Uppsala 1988.
Michael Pesek: Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-593-37868-X.
Stephen J. Rockel: Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa. Porthsmouth 2006.
Abdul M. H. Sheriff: Slaves, Spices, and Ivory in Zanzibar. Integration of an East African Commercial Empire into the World Economy, 1770–1873. London 1987.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Transregionaler_Karawanenhandel_in_Ostafrika
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Trio (Trio-Album)
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= Trio (Trio-Album) =
Trio ist das erste Studioalbum der gleichnamigen norddeutschen Band Trio. Es erschien am 20. Oktober 1981 mit einer Bonus-Single und einem Tragegriff am Cover beim Label Mercury Records. Produziert wurde das Album von Klaus Voormann. Der kommerzielle Erfolg des Albums setzte erst Mitte 1982 mit Veröffentlichung seiner dritten Auflage ein, die das zuvor nur auf einer gesonderten Single erhältliche Lied Da Da Da enthielt. Dieses Lied hatte sich seit April 1982 im Zuge der Neuen Deutschen Welle zu einem nationalen und später auch internationalen Erfolg entwickelt. In Deutschland erreichte das Album Platz drei der Albumcharts. Das Album Trio enthält insgesamt 14 Lieder, deren Instrumentierung sich meist in der Verwendung von Schlagzeug, E-Gitarre und Gesang erschöpft. Ein Großteil der Lieder beschreibt gescheiterte Liebesbeziehungen, vereinzelt wird auch Medienkritik geübt.
== Entstehung ==
=== Vorgeschichte ===
Der Sänger Stephan Remmler und der Gitarrist Kralle Krawinkel hatten bereits in den 1960er Jahren gemeinsam in einer norddeutschen Beatband namens Just Us gespielt. Nach deren Auflösung 1970 und erfolglosen Versuchen, als Solokünstler im Musikgeschäft Fuß zu fassen, wurden Remmler und Krawinkel Anfang der 1970er Jahre verbeamtete Lehrer. Im Januar 1979 – nach einem einmaligen erneuten Auftritt als Just Us – trafen sie die Entscheidung, einen zweiten Versuch zu unternehmen, kommerziell erfolgreiche Musik zu produzieren. In Krawinkels damaligem Bauernhof im niedersächsischen Rastede entstanden bereits die ersten Lieder für das spätere Album Trio. In dieser Phase wurden die Titel, darunter unter anderem Nasty oder Energie, noch mit der klassischen Rockbesetzung interpretiert: Gitarre, Bass, Schlagzeug, Keyboard und Gesang. Die Begleitmusiker von Remmler und Krawinkel fluktuierten; unter ihnen befand sich auch der seinerzeit arbeitslose Schlagzeuger Peter Behrens. Stephan Remmler beschreibt die letztliche Entscheidung, nur noch zu dritt mit Behrens als Trio zu musizieren wie folgt:
Die drei bezogen gemeinsam ein für 600 DM im Monat gemietetes Einfamilienhaus in der Großenknetener Siedlung Regente im Ortsteil Sage. Im Keller befand sich der Proberaum, in dem nach und nach die Lieder für das Album Trio entstanden. Annähernd alle Texte wurden von Stephan Remmler verfasst, der hierfür auch Alltagssituationen aus dem gemeinsamen WG-Leben verwendete. 2008 beschrieb Krawinkel den Ursprung des Textes zum Lied Los Paul, der entstand, als er und Behrens gemeinsam ein Fußballspiel im Fernsehen sahen:
Eine Auswahl der so entstandenen Lieder nahm die Band, die sich mittlerweile schlicht Trio nannte, auf einer Vierspur-Maschine von Teac im eigenen Proberaum auf. Zwei Titel (Lady-O-Lady und Sunday You Need Love Monday Be Alone) sowie eine knapp neun-minütige Live-Fassung des Liedes Broken Hearts for You and Me ließ Trio in kleiner Auflage auf eine 10″-Mini-LP pressen. Mit diesen Schallplatten bewarb sich die Band bei Schallplattenfirmen um einen Plattenvertrag, erhielt allerdings 23 Absagen. Ein Exemplar erhielt der A&R-Manager Louis Spillmann von der deutschen Plattenfirma Phonogram von einem Mitarbeiter des Musikverlages Francis, Day & Hunter. Weil das Lied Sunday You Need Love Monday Be Alone seine Aufmerksamkeit erregte, besuchte er ein Konzert von Trio. Die überzeugende Live-Darbietung der Band bewog Spillmann noch am selben Abend dazu, der Band einen Plattenvertrag anzubieten.Klaus Voormann, Beatles-Intimus und vormals unter anderem Bassist bei John Lennon, war zu dieser Zeit als Berater für Spillmann tätig. Auch er besuchte ein Konzert von Trio und war Gast einer Probe der Band in Großenkneten. Er bestärkte Spillmanns Entschluss, die Band unter Vertrag zu nehmen, nicht zuletzt aufgrund ihrer professionellen Bühnenshow, insbesondere aber auch wegen der idealen, den Charakteren entsprechenden Rollenverteilung innerhalb der Formation. Spillmann setzte Voormann fortan als Produzent von Trio ein und ein Plattenvertrag wurde abgeschlossen.
=== Produktion ===
Im Sommer 1981 bat Klaus Voormann Spillmann um 10.000 DM für zwei Achtspur-Maschinen, um mit der Produktion des Debütalbums von Trio zu beginnen. Die Wahl des Musikstudios fiel auf das Schweinestall-Studio in der Nähe von Husum, das der Produzent und ehemalige Keyboarder Detlef Petersen von der deutsch-englischen Band Lake gemeinsam mit Geoffrey Peacey betrieb. Letzterer arbeitete als Tontechniker an dem Album.Schlagzeug und E-Gitarre für alle Titel des Albums wurden von Krawinkel und Behrens live eingespielt und im Anschluss der Gesang von Remmler im Overdub-Verfahren aufgenommen. Aufgrund der minimalen Instrumentierung aller Lieder gab es bei den Aufnahmen nur wenig hinzuzufügen oder wegzulassen. Die Band beherrschte durch intensives Proben und viele Auftritte ihr Repertoire, sodass die Aufnahmen zügig vonstattengingen. Für Spannungen sorgte zeitweise der Perfektionismus von Stephan Remmler, der für ein konzentriertes Singen seine Bandkollegen und Klaus Voormann „eine Runde um das Haus schickte“.Einige Lieder der Band enthielten instrumentale Passagen, die bei Aufführungen in die Länge gezogen wurden. Diese Passagen wurden im Tonstudio gekürzt. So wurde beispielsweise ein langes Solo auf einer Kindergitarre am Ende des Liedes Kummer, das sich auf der Bühne zu einer Kakophonie ausbreitete, durch ein sehr frühes Fadeout gekürzt. Auch ein langes Gitarrensolo in Broken Hearts for You and Me wurde ersatzlos entfernt. Andere Lieder dagegen wurden durch kleine Zusätze verfeinert: Im Lied Nasty wird das Gitarrensolo durch ein klirrendes Geräusch eingeleitet, das durch einen mit Glas gefüllten und im Studio umher geworfenen Karton erzeugt wurde. Das Outro des Liedes Danger Is endete live bislang damit, dass Trio rhythmisch „Da Gefahr!“ ruft. Für die Studio-Fassung sollten die Rufe dagegen nicht im Takt zu hören sein. Um dies zu erreichen, warf sich die Band im Studio Bälle zu; jeder der gerade einen Ball warf, musste „Da Gefahr!“ rufen, um die Rufe möglichst zufällig erklingen zu lassen.Zu den insgesamt dreizehn im Studio aufgenommenen Liedern wurden für das Album Trio noch zwei ältere Live-Aufnahmen (Ja ja ja und TRIO) sowie die originale Demo-Fassung des Liedes Sabine Sabine Sabine hinzugefügt.Weitere Lieder aus dem Live-Repertoire von Trio blieben auf dem Album unberücksichtigt, darunter das Lied Oder doch – Wird so schlimm nicht sein, da der Text zu anstößig ist:
Auch die Lieder Du ich wär so gern bei dir, A Little Love, Country Boy und Nirgendwohin aus Trios Live-Repertoire erschienen nicht auf dem Album Trio. Ob die genannten Titel überhaupt produziert wurden, ist nicht bekannt, da die originalen Mehrspurbänder des Albums als verschollen gelten. Oder doch – Wird so schlimm nicht sein erschien 1985 in einer textlich überarbeiteten Fassung unter dem Namen Ready for You auf Trios letztem Studioalbum Whats the Password. Du ich wär so gern bei dir wurde ebenfalls überarbeitet und als Anna – Lassmichrein Lassmichraus Ende 1982 als Single veröffentlicht. Stephan Remmler produzierte 1993 das Lied in seiner ursprünglichen Form neu und veröffentlichte es auf seinem Soloalbum Vamos.Abgemischt wurde das Album im Anschluss von Klaus Voormann. Wo das Album gemastert wurde, ist nicht bekannt.
Die fertige Produktion wurde der Plattenfirma Phonogram präsentiert und führte dort zu Irritationen. Klaus Voormann erinnert sich, dass der Produktmanager Thomas Quast verzweifelt auf den Einsatz des E-Basses wartete:
Letztendlich sprach Louis Spillmann ein Machtwort, und der Mix von Klaus Voormann wurde akzeptiert. Das Album Trio erschien am Dienstag, den 20. Oktober 1981, beim Sublabel Mercury Records der Phonogram.
Die sich an die Veröffentlichung des Albums anschließende Deutschlandtournee und den minimalen Aufwand der Live-Darbietung nutzte die Band zu Werbezwecken, indem sie an jedem Gastspielort nachmittags direkt im lokalen Schallplattenladen auftraten. Trio spielte bis Ende 1981 in insgesamt 39 Schallplattengeschäften, beginnend bei „Montanus“ in Berlin und endend im „Studio 2000“ in Homburg. Aus dem Drogeriemarkt Müller in Bad Tölz wurde Trio vor die Tür gesetzt, da sie zu laut waren. Einige Kurz-Konzerte wurden auch in den Schallplattenabteilungen von Kaufhäusern wie Hertie oder Karstadt gegeben. Erst abends spielte das Trio seine etwa zweistündige Live-Show in den lokalen Clubs.
=== Da Da Da ===
Im Laufe der Deutschlandtournee 1981 entstand das Lied Da Da Da, das vom Publikum sehr gut angenommen wurde. Der Rolling-Stone-Redakteur Joachim Hentschel verknüpfte im Jahr 2003 die Karriere von Trio mit der Komposition von Da Da Da:
Anfang 1982 entschloss sich Klaus Voormann, Da Da Da als Single zu veröffentlichen. Im Zürcher Studio der befreundeten Band Yello nahm Trio Musik und Gesang des Liedes auf. Im Berliner Audio-Studio fügten Annette Humpe und Joachim Behrendt von der Band Ideal Background-Gesang und Kastagnetten hinzu. Eine Single und eine Maxi-Single von Da Da Da wurden im Februar 1982 veröffentlicht. Bekannt geworden durch mehrere Fernsehauftritte, darunter bei Bananas und in der ZDF-Hitparade, stieg Da Da Da am 5. April 1982 in die deutschen Singlecharts ein und erreichte dort letztlich Platz zwei.
Aufgrund dieses Erfolges wurde Da Da Da in der mittlerweile dritten Auflage des Albums Trio als zweites Lied auf der B-Seite nachträglich eingefügt.
== Covergestaltung ==
Im Sinne des musikalischen Minimal-Konzepts wurde auch das Cover des Albums Trio so minimalistisch wie möglich gehalten. Der vollständig weiße Hüllenhintergrund ist großflächig in schwarz mit dem Bandnamen, einem Bandlogo und der Privatadresse und -telefonnummer von Trio beschriftet. Bei der Abbildung handelt es sich um einen stark vergrößerten Abdruck eines Adressstempels der Band, mit falscher Schreibung des Straßennamens (richtig ist „Regenter Str.“). Auf der Album-Rückseite findet sich lediglich eine Auflistung der enthaltenen Lieder, die Remmler selbst handgeschrieben hat. Informationen zur Musik oder zur Identität der Musiker oder des Produktionsteams sind dem Cover nicht zu entnehmen.
Auf der Plattenschutzhülle sind alle Liedtexte schwarz auf weiß abgedruckt. Auch hier wurde minimiert: Es wird vollständig auf Satzzeichen verzichtet.
Erst auf dem Plattensticker finden sich die Namen „Remmler“ und „Kralle“ als Komponisten. Zudem ist als Produzent „Klaus Voormann“ genannt. Behrens, der an keiner Komposition des Albums beteiligt war, wird namentlich nirgends auf dem Album erwähnt.
Bei der Plattenfirma Phonogram gab es im Vorfeld der Veröffentlichung des Albums Vorbehalte, da Mitarbeiter befürchteten, dass sich auf dem weißen Cover im Schallplattenladen Fingerdreck ansammeln könnte.
Die auf 6.000 Exemplare limitierte Vinyl-Erstauflage des Albums enthielt eine Bonus-Single mit den Liedern Halt mich fest ich werd verrückt und Lady-O-Lady. Am oberen Rand der Schallplattenhülle war ein Tragegriff aus Pappe angebracht.Die 1984 erschienene CD-Fassung des Albums behielt das schlichte Cover weitgehend bei. Lediglich das handschriftliche Tracklisting wurde gegen eine Version in Druckbuchstaben ausgetauscht. Auf der CD finden sich im Gegensatz zur Vinyl-Ausgabe weder eine Nennung der Autoren noch des Produzenten. Insgesamt umfasst daher der Informationsgehalt der CD-Fassung nur: Bandname, Privatadresse, Telefonnummer, Titelliste und Texte.
Die Nennung der Telefonnummer von Trio führte zwangsläufig zu einer großen und wohl auch intendierten Anzahl von Anrufen im Haus von Trio in Großenkneten. Wegen der zunehmenden Popularität der Band schaffte sich Trio einen Anrufbeantworter an, den mal Remmler, mal Krawinkel, mal Behrens besprach. Auch die Nennung der Privatadresse führte zu zahllosen Besuchen von Fans, die ein konzentriertes Musizieren nahezu unmöglich machten. 1984 zogen Remmler und Behrens aus; Krawinkel verließ 1989 als letztes Bandmitglied das Haus in Großenkneten.
== Musikalische Beschreibung ==
=== Konzept ===
Trio hatten sich zum Ziel gesetzt, diverse Musikrichtungen auf ein absolut notwendiges Minimum zu reduzieren. Fast alle Lieder des Albums werden nur mit Schlagzeug und E-Gitarre gespielt. Nur auf wenigen Titeln (Energie, Ya Ya) wurde eine einfache Heimorgel des Typs „EKO Micky“ eingesetzt. Der Gesang wurde teilweise durch den Einsatz eines Kehlkopfmikrofons und eines Megafons verfremdet. Auf dem Album sind u. a. Reggae (Energie), Liebesschnulzen (Kummer, Sabine Sabine Sabine), Punk (Ja Ja wo gehts lank Peter Pank schönen Dank), Rock ’n’ Roll (Ya Ya) oder auch Rock (Sunday You Need Love Monday Be Alone) zu hören. Trotz dieser deutlich unterschiedlichen Musikstile klingt das Album durch die sparsame Instrumentierung einheitlich. Bindendes Glied ist die Darbietungsform.
Die Liedtexte des Albums Trio sind teils in deutscher, teils in englischer Sprache verfasst. In einer ganzen Reihe von Liedern werden beide Sprachen verwendet. Annähernd alle Texte und etwa die Hälfte der Musik wurden von Remmler geschrieben, Krawinkel steuerte eine weitere Hälfte der Musik bei. Behrens ist an keiner Komposition beteiligt.
=== Musik und Texte ===
Eröffnet wird das Album mit dem rund 30 Sekunden langen Lied Achtung Achtung, das speziell für das Album aufgenommen wurde und nicht zum Live-Repertoire von Trio gehörte. Zu einem vom Schlagzeug begleiteten Gitarrensolo ruft Remmler folgende Ansage durch ein Megafon:
Das Lied endet abrupt, und Remmler ruft sofort laut „Ja Ja Ja“, was das zweite Lied des Albums Ja Ja Ja einleitet. Bei diesem sehr schnellen Punk-Titel (rund 220 bpm) handelt es sich um eine Live-Aufnahme, die 1981 in Stade entstand. Der Text wird zwei Strophen und zwei Refrains lang auf Deutsch gesungen. Danach setzt die Gitarre aus, und Remmler singt – nun nur noch vom Schlagzeug begleitet – auf Englisch weiter. Zusätzlich wird der Gesang durch Verwendung eines Kehlkopfmikrofons verfremdet. Zum Ende des Liedes ahmt Remmler verbal eine Flugabwehrkanone und Handgranaten nach.
Dem sehr schnellen, aggressiven Ja Ja Ja folgt die langsame (etwa 80 bpm) Ballade Kummer, welche zunächst von Kirchenglocken eingeleitet wird. Nach einigen Sekunden setzen zusätzlich Schlagzeug und E-Gitarre ein, wobei die Tonart E-Dur des Liedes nicht der Tonart G-Dur der Glocken entspricht und somit eine deutliche Dissonanz entsteht. Nach wenigen Takten beginnt Remmler in sehr tiefen Tönen zu singen, während die Kirchenglocken verstummen. Inhaltlich beschreibt das Lied in insgesamt wenigen Zeilen auf Deutsch und Englisch den Trennungsschmerz des Vortragenden nach einer gescheiterten Liebesbeziehung. Das Lied endet im wiederum dissonanten Einsetzen der Kirchenglocken, wobei die Dissonanz durch ein kurzes Solo auf einer Kindergitarre noch verstärkt wird.
Der Rocksong Broken Hearts for You and Me beginnt mit einem zügigen Marsch, der ausschließlich auf dem Schlagzeug mit einer stampfenden Bassdrum und Trommelwirbeln gespielt wird. Remmler fordert auf Deutsch mittels Megafon das Publikum zu einem Formationstanz auf:
Nach etwa einer halben Minute wechselt das Schlagzeug zu einem moderaten 4/4-Takt, die Gitarre setzt ein, und Remmler besingt in mehreren englischen Strophen den Versuch, eine Liebesbeziehung im Guten zu beenden. Hierzu singt der aus Krawinkel und Behrens bestehende Chor fortwährend den Titel des Liedes: „Broken hearts for you and me“.
Im Lied Nasty beschimpft Remmler auf Englisch fortwährend seine Ex-Freundin und bringt zum Ausdruck, dass er es nach der offensichtlichen Trennung nicht mehr nachvollziehen kann, dass er sich je mit ihr eingelassen hat. Das Lied verfügt über keinen Refrain, stattdessen beginnt nach zwei Strophen ein stark dissonantes Gitarrensolo, dem eine weitere Strophe folgt. Zum Ende steigert sich das Lied in einem Crescendo, in welchem Remmler fortwährend und mit zunehmender Tonhöhe „I can’t go on with this feeling ’bout you“ singt. Im Ausklingen des Liedes verfällt Remmler in Gelächter.
Den Calypso-Rhythmus des Liedes Energie steuert anstatt des Schlagzeugs eine Heimorgel bei. Einleitend ist Wellenrauschen und ein stark verhalltes Gitarrensolo zu hören. Zu dieser musikalisch aufgebauten Südsee-Atmosphäre spricht Remmler eine deutsche Introduktion:
Der Text wird – nachdem Gitarrensolo und Wellenrauschen geendet haben – auf Englisch fortgesetzt und beschreibt, wie Remmler seine Freundin darum bittet ihn aufzubauen. Zunächst singt er den Text nur zum Rhythmus der Heimorgel; später setzen Gitarre und Chor ein. Schlagzeug ist während der gesamten Aufnahme nicht zu hören. Beendet wird das Lied mit den von Fingerschnippen begleiteten Zeilen
Den Abschluss der A-Seite des Albums bildet der Punksong Los Paul, der mit der markanten Zeile „Los Paul, du musst ihm voll in die Eier hau’n!“ beginnt. Zu einem schnellen Beat des Schlagzeugs spielt Krawinkel in den Strophen stoisch nur einen einzigen Akkord auf der E-Gitarre. Remmler singt dazu eine Handvoll Phrasen, die einem Kommentar eines Fußballspiels entnommen sind. Nach dem zweiten Refrain setzt der Gesang aus. Im linken Stereo-Kanal sind Ausschnitte eines realen Fußballkommentars zu hören, in denen Bildwiederholungen erläutert werden. Im rechten Stereo-Kanal dagegen erklingen parallel nacheinander mehrere Nachrichtensprecher, die vom Attentat auf Ronald Reagan berichten.
Die B-Seite wird mit dem Lied Sabine Sabine Sabine eröffnet. Da das Lied nicht im Studio, sondern in Eigenproduktion von Trio im Proberaum entstand, fällt dieses Lied klanglich deutlich aus dem Rahmen des restlichen Albums. Insbesondere das Schlagzeug hat eine eher perkussive Klangfarbe. Zu einer seichten musikalischen Untermalung, die dem Easy Listening zuzuordnen ist, telefoniert der Vortragende mit seiner Ex-Freundin Sabine, deren Antworten nicht zu hören sind. Die Verunsicherung, die der Gesprächsverlauf beim Vortragenden hervorruft, drückt sich an keiner Stelle durch Wortwahl, sondern durch Intonation aus. Obwohl sein Vorhaben, ein Treffen mit seiner Ex-Freundin zu vereinbaren, scheitert, täuscht er Langeweile vor, um seinen Misserfolg zu kaschieren.
Der ironische Schlager Da Da Da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha wird in den teils deutsch, teils englisch gesprochenen Strophen von Schlagzeug und einem Keyboard begleitet. Das Lied beschreibt das Ende einer Liebesbeziehung, was durch die ständige Wiederholung der Zeile „Ich lieb dich nicht du liebst mich nicht“ stark betont wird. Zum Refrain, der im Wesentlichen aus den drei Silben „Da Da Da“ besteht, setzen E-Gitarre, ein leiser E-Bass sowie ein weiblicher Chor und Kastagnetten ein.
Der Rocksong Sunday You Need Love Monday Be Alone beschreibt eine Frau, die begehrt wird, wobei von vornherein klar ist, dass die Beziehung das Wochenende nicht überdauern wird. Gegen Ende des Liedes fordert der Vortragende die Frau gar auf, sich nicht mit ihm einzulassen, da er sie nicht respektvoll genug behandeln würde.
Das Lied Nur ein Traum beschreibt zweimal einen Tagtraum – einmal auf Englisch, einmal auf Deutsch. Das Lyrische Ich ist mit seiner Geliebten im Auto unterwegs und schwärmt von ihr. Dann wird ihm klar, dass er eigentlich allein im Auto sitzt, und die Geliebte nur ein Traum ist.
Wie schon Ja ja ja ist das Lied Ja Ja Wo gehts lank Peter Pank schönen Dank dem Punk zuzuordnen. Zu einem sehr schnell gespielten Gitarrenriff und einer Schlagzeugfigur, die nur auf Bassdrum und Snare gespielt wird, singt Remmler auf Deutsch eine Reihe zusammenhangloser Phrasen, darunter auch Trios Telefonnummer. Das Lied endet, indem es ohne Fadeout abgebrochen wird.
Die einzige Coverversion des Albums ist Ya Ya, ein Rhythm-and-Blues-Hit von Lee Dorsey aus dem Jahr 1961. Der kurze Text wird von Remmler – im Gegensatz zum Vortrag des Originalinterpreten – betont monoton dargeboten. Das Solo nach der zweiten Strophe besteht aus vier chromatisch gespielten Tönen einer Heimorgel.
Danger Is beginnt mit einem dissonanten Gitarrenriff, das abrupt mit dem Einsetzen des Gesangs endet. Inhaltlich beschreibt das Lied das Herannahen einer nicht greifbaren Gefahr. Nach jeder Strophenzeile spielt Krawinkel ein kurzes Riff auf der E-Gitarre. Nach zwei Strophen setzt das Riff aus dem Intro erneut ein, es wird jedoch noch dissonanter gespielt. Dazu heult eine Sirene.
Das Album wird mit einem kurzen Ausschnitt aus einem Konzert von Trio beendet, der aus einer textlich veränderten Kurzfassung des jamaikanischen Volksliedes Banana Boat Song besteht, welches vor allem in einer Fassung von Harry Belafonte populär wurde. Anstatt des abschließenden Schlachtruf „Day-O“ des Originals ruft Behrens auf der Aufnahme: „Tri-o“, worauf das Publikum „Tri-i-i-o“ antwortet.
== Rezeption ==
=== Rezensionen ===
Da das Album Trio erst ein halbes Jahr nach Veröffentlichung einem breiteren Publikum bekannt wurde, existieren nur wenige Rezensionen, die nach der Erstveröffentlichung erschienen. Der Journalist Detlef Kinsler vom Musikmagazin Sounds schrieb, es handele sich um ein Album, „das dich schon bei dem Versuch, es innerhalb der deutschen Szene ‚einzuordnen‘, scheitern lässt.“ Von fünf möglichen Punkten vergab er „ratlos“ zwei bis fünf.Der Musikexpress schrieb 1981 zu dem Album: „Mitunter erinnert die Musik in ihrer Kaputtheit an die Cramps, ein Beinah-Garagensound, ein ursprüngliches Rock’n’Roll-Feeling.“ Zusätzlich unterstellte das Musikmagazin Einflüsse der Sex Pistols, Elvis Presley, Otto Waalkes, Torfrock und Status Quo. In einer späteren Ausgabe des Musikexpress hebt Bernd Gockel die Bedeutung der Texte der Band hervor:
Erst Jahre nach Veröffentlichung erhielt das Album wohlwollende Kritiken und Auszeichnungen. 2001 wurde das Album von den Redakteuren des Musikexpress zum drittwichtigsten Album aus Deutschland überhaupt gewählt. Autor Christoph Lindemann resümiert in seinem Artikel über das Album: „Trio erinnerten kurz an Punk, an Schlager und an jedermanns erste Gesangsübungen im Jugendzimmer und konfrontierten ihr Pling-Pling und Bäng-Bäng mit aufreizend redundanten Textpassagen. So war Pop in Deutschland bis dato nicht auf den Punkt gekommen.“
=== Chartplatzierungen ===
Trotz ungewöhnlicher Werbemaßnahmen wie Konzerte in Schallplattenläden konnten zunächst nicht genügend Alben für eine Chartplatzierung abgesetzt werden. Der Norddeutsche Rundfunk strahlte Ende November 1981 ein Radio-Konzert aus, das Trio im Hamburger Club Onkel Pö gab, und der Westdeutsche Rundfunk strahlte Ende Februar 1982 ein 80-minütiges Fernsehkonzert aus, das Trio im Rahmen des Rockpalastes gab. Jedoch erst der Erfolg, den die Single Da Da Da nach sich zog, führte dazu, dass das Album Trio sich in den deutschen Albumcharts auf Platz drei platzieren konnte, während die Single Da Da Da Platz zwei der Single-Charts erreichte. Obwohl von dem Album letztlich über 250.000 Exemplare verkauft wurden, führte dies nicht zu einer Verleihung einer Goldenen Schallplatte, da die Verkaufszahlen der verschiedenen Auflagen nicht zusammengezählt werden durften. Außerhalb des deutschsprachigen Raumes konnte sich das Album nur in Schweden (Platz 40) in den Albumcharts platzieren. Die Single Da Da Da war ein internationaler Hit und verkaufte sich weltweit 13 Millionen Mal, davon allein in Europa 3 Millionen Exemplare.
=== Cover-Versionen ===
Neben zahllosen Cover-Versionen des Welthits Da Da Da wurden auch andere Lieder des Albums von anderen Künstlern interpretiert. Die US-amerikanischen Bands The Jesus Lizard und Oblivians veröffentlichten je eine Version von Sunday You Need Love Monday Be Alone. Letztere Band veröffentlichte davon eine Single, auf dessen B-Seite sich das Lied Ja ja ja befindet und dessen Single-Cover dem US-amerikanischen Cover des Albums Trio nachgeahmt ist. Auch auf Single veröffentlichte 1997 die deutsche Band Samba das Lied Kummer. 1991 erstellten Die Fantastischen Vier aus Samples aus den Liedern Ja ja wo gehts lank Peter Pank schönen Dank und Ja ja ja das Lied Böse, das auf ihrem Debüt-Album Jetzt geht’s ab erschien. Das 2004 erschienene Trio-Tribut-Album Krach Bum Bäng Zack Döner enthält annähernd alle Lieder des Albums Trio – interpretiert von norddeutschen Amateurbands.
== Titellisten ==
=== Deutsche Titellisten ===
Die Titellisten des Albums Trio variieren sehr stark, abhängig vom Tonträger oder der Auflage. Die Erstauflage auf Vinyl-Schallplatte enthielt folgende Titelliste:
A-Seite
Achtung Achtung – 0:30
Ja ja ja – 2:57
Kummer – 2:38
Broken Hearts for You and Me – 3:33
Nasty – 2:38
Energie – 3:30
Los Paul – 2:32B-Seite
Sabine Sabine Sabine – 3:46
Sunday You Need Love Monday Be Alone – 3:48
Nur ein Traum – 3:04
Ja Ja wo gehts lank Peter Pank schönen Dank – 2:50
Ya Ya – 2:15
Danger Is – 2:14
TRIO – 0:31Bonus-Single
Halt mich fest ich werd verrückt – 2:02
Lady-O-Lady – 2:52Schon diese Erstauflage erschien mit unterschiedlichen Titelreihenfolgen: Der Ausgabe des Albums auf Audiokassette waren die beiden Lieder der Bonus-Single vorangestellt. Um die Laufzeiten der A- und B-Seite der Audiokassette anzugleichen wurde das Lied Los Paul auf die B-Seite verschoben. Auf der 1984 erschienenen CD-Fassung des Albums wurde auf die Audiokassetten-Titelliste exklusive der vorangestellten Bonus-Single und inklusive Da Da Da zurückgegriffen, woraus sich folgende Titelliste für die CD-Ausgabe ergibt:
Titelliste CD-Fassung
Achtung Achtung – 0:30
Ja ja ja – 2:57
Kummer – 2:38
Broken Hearts for You and Me – 3:33
Nasty – 2:38
Energie – 3:30
Sabine Sabine Sabine – 3:46
Da Da Da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha – 3:23
Sunday You Need Love Monday Be Alone – 3:48
Nur ein Traum – 3:04
Ja Ja wo gehts lank Peter Pank schönen Dank – 2:50
Ya Ya – 2:15
Los Paul – 2:32
Danger Is – 2:14
TRIO – 0:31
=== Internationale Titellisten ===
International wichen die Titellisten erheblich von den deutschen Titellisten ab. In Spanien wurde beispielsweise die sechseinhalb Minuten lange englische Maxi-Version von Da Da Da dem Album vorangestellt. Aus Platzgründen wurden von der A-Seite hierfür zwei Titel ersatzlos gestrichen. In den Vereinigten Staaten erschien das Album Trio im September 1982 lediglich als EP-Single mit sechs Titeln, darunter auch die in Deutschland nicht erschienene englische Fassung von Anna – Lassmichrein Lassmichraus:
A-Seite
Anna – Letmeinletmeout – 2:40
Da Da Da I Don’t Love You You Don’t Love Me Aha Aha Aha [Long Version] – 6:32
Broken Hearts for You and Me – 3:31B-Seite
Energie – 3:29
Sunday You Need Love Monday be Alone – 3:45
Ja ja ja – 2:56Weitere Veröffentlichungen im europäischen Raum enthielten noch mehr abweichende Titellisten. In Griechenland entsprach zwar die A-Seite des Albums der deutschen Pressung, auf der B-Seite findet sich dagegen anstatt der Lieder Danger Is und Nur ein Traum das Lied Halt mich fest ich werd verrückt, das in Deutschland nur auf der Bonus-Single zu finden war.
=== Wiederveröffentlichung 2003 ===
2003 veröffentlichte Universal Music, in dem die PhonoGram und Mercury Records zwischenzeitlich aufgegangen waren, das Album als Doppel-CD unter dem Namen Trio Deluxe Edition erneut. Alle Titel wurden einem Remastering unterzogen. Als Bonustitel der ersten CD wurden die beiden Lieder der Bonus-Single sowie die so genannte „Lange Version“ und die englische Version von Da Da Da hinzugefügt. Auf der zweiten CD befinden sich annähernd alle Lieder, die Trio in Demofassungen 1981 selbst produziert hatte. Als Klangquelle für das Remastering stand nur eine schlecht erhaltene Compact Cassette zur Verfügung, sodass die Lieder stark verrauscht sind. Des Weiteren findet sich auf der zweiten CD die vollständige 10″-Demo-Schallplatte, die Trio 1981 in geringer Auflage hatte pressen lassen. Auch für diese drei zusätzlichen Lieder standen keine Masterbänder, sondern nur die eigentliche Schallplatte als Klangquelle zur Verfügung.Im Booklet der Doppel-CD wird die Produktionsgeschichte des Albums ausführlich vom „Rolling Stone“-Redakteur Joachim Hentschel erläutert, der hierzu Interviews mit allen Beteiligten geführt hatte.
Titelliste Trio Deluxe Edition
CD 1
Achtung Achtung – 0:30
Ja ja ja – 2:57
Kummer – 2:38
Broken Hearts for You and Me – 3:33
Nasty – 2:38
Energie – 3:30
Sabine Sabine Sabine – 3:46
Da Da Da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha – 3:23
Sunday You Need Love Monday Be Alone – 3:48
Nur ein Traum – 3:04
Ja Ja wo gehts lank Peter Pank schönen Dank – 2:50
Ya Ya – 2:15
Los Paul – 2:32
Danger Is – 2:14
TRIO – 0:31
Lady-O-Lady – 2:52
Halt mich fest ich werd verrückt – 2:02
Da Da Da I Don’t Love You You Don’t Love Me Aha Aha Aha – 3:26
Da Da Da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha (Lange Version) – 6:32CD 2 (Demo Tracks)
Los Paul – 1:56
Ja Ja wo gehts lank Peter Pank schönen Dank – 2:41
Broken Hearts for You and Me – 2:50
Du ich wär so gern bei dir – 3:09
Danger Is – 2:32
Sabine Sabine Sabine – 3:47
Energie – 3:11
Ya Ya – 2:26
Kummer (live) – 5:58
Lady-O-Lady – 4:13
Sunday You Need Love Monday Be Alone – 4:19
Broken Hearts for You and Me (live) – 8:47
== Literatur ==
Joachim Hentschel: Linernotes zum Album „Trio Deluxe Edition“. (deutsch und englisch). Universal Music 2003.
Günter Ehnert, Detlef Kinsler: Rock in Deutschland. Lexikon deutscher Rockgruppen und Interpreten. 3. Auflage. Taurus Press, 1984, ISBN 3-922542-16-6, S. 386 ff.
== Weblinks ==
Trio Homepage
Trio Review bei LAUT.de
Trio bei LAUT.de
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Trio_(Trio-Album)
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Tynset
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= Tynset =
Tynset ist eine Kommune im norwegischen Fylke Innlandet. Die Kommune hat 5628 Einwohner (Stand: 1. Januar 2023). Verwaltungssitz ist die gleichnamige Stadt Tynset. Die Stadt liegt am Ufer der Glåma.
== Geografie ==
Die Kommune Tynset liegt im Norden der Region Østerdalen im Norden des Fylkes Innlandet. Die Gemeinde grenzt im Norden an die Kommunen Rennebu und Midtre Gauldal, im Nordosten an Os, im Osten an Tolga, im Südosten an Rendalen, im Südwesten an Alvdal, im Westen an Folldal sowie im Nordwesten an Oppdal. Die drei nördlichen Nachbarkommunen Oppdal, Rennebu und Midtre Gaudal gehen ins Nachbarfylke Trøndelag ein.Durch die Kommune fließt aus dem Nordosten kommend in Richtung Südwesten die Glåma, die in ihrem unteren Lauf in Südnorwegen den Namen Glomma trägt. Der Fluss ist der längste Norwegens. Am Ufer der Glåma liegt in der Kommune die Stadt Tynset. In der Stadt mündet die Tunna, die aus dem Nordwesten auf die Stadt zufließt, in die Glåma. Auf der Grenze zur Kommune Alvdal im Süden liegt der See Savalen. Die Gesamtfläche der Kommune beträgt 1.880,26 km², wobei Binnengewässer zusammen 57,8 km² ausmachen.Im Norden der Kommune liegt der obere Abschnitt des Tals Orkdalen. Durch das Tal fließt die Orkla Richtung Norden. Sowohl südöstlich als auch nordöstlich der Glåma befinden sich Berge, die Höhen von über 1000 moh. erreichen. Der Gipfel Tydalstoppen der Erhebung Blåtronden auf der Südgrenze zu Alvdal stellt mit einer Höhe von 1653,43 moh. den höchsten Punkt der Kommune Tynset dar. Der Nordosten der Kommune geht in den im Jahr 2001 gegründeten Forollhogna-Nationalpark (norwegisch Forollhogna nasjonalpark) ein. Der Nationalpark erstreckt sich über mehrere Kommunen in den Fylkern Innlandet und Trøndelag und hat eine Fläche von insgesamt rund 1061 km². Das Schutzziel des Nationalparks ist der Erhalt der zusammenhängenden, weitgehend unberührten Gebirgslandschaft in diesem Gebiet.
== Einwohner ==
Am dichtesten besiedelt ist das Areal entlang der Glåma. Auch in den Seitentäler liegen einige kleinere Ansiedlungen. Als eine von nur wenigen Kommunen in der Region hatte Tynset nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs steigende Einwohnerzahlen zu verzeichnen. Die Stadt Tynset ist der einzige sogenannte Tettsted, also die einzige Ansiedlung, die für statistische Zwecke als eine städtische Siedlung gewertet wird. Zum 1. Januar 2022 lebten dort 2859 Einwohner.Die Einwohner der Gemeinde werden Tynseting genannt. Tynset hat wie viele andere Kommunen der Provinz Innlandet weder Nynorsk noch Bokmål als offizielle Sprachform, sondern ist in dieser Frage neutral.
== Geschichte ==
Die Kommune Tynset entstand im Rahmen der Einführung der lokalen Selbstverwaltung im Jahr 1837. Im Jahr 1864 wurde die heutige Kommune Alvdal unter dem Namen Lille-Elvdal von Tynset abgespalten. Lille-Elvdal hatte bei seiner Gründung 3216 Einwohner, während Tynset mit 2975 Einwohnern verblieb. Zum 1. Januar 1966 wurde ein von 664 Personen bewohntes Gebiet von Kvikne an Tynset überführt. Die restliche Kommune Kvikne ging zu diesem Zeitpunkt an Rennebu im damaligen Fylke Sør-Trøndelag über. Im Jahr 1970 wurde ein Areal mit fünf Einwohnern von Tynset an Rennebu überführt. Im Jahr 1984 kam es zu einer Verschiebung der Grenzen zwischen Tynset und Rendalen, wobei jedoch nur unbewohntes Terrain betroffen war. Bis zum 31. Dezember 2019 gehörte Tynset dem damaligen Fylke Hedmark an. Dieses ging im Zuge der Regionalreform in Norwegen in das zum 1. Januar 2020 neu geschaffene Fylke Innlandet über.In der Kommune liegen mehrere Kirchen. Die Tynset kirke steht in der Stadt Tynset und wurde im Jahr 1795 erbaut, nachdem die 1708 fertiggestellte Vorgängerkirche bei einem Brand im Jahr 1792 zerstört worden war. Bei der neuen Kirche handelt sich um eine Holzkirche mit achteckigem Grundriss. Vorbild beim Bau des Gebäudes war die Kirche in der Stadt Røros. Die Kvikne kirke wurde bereits 1654 erbaut. Bei der Kirche im Norden der Kommune handelt es sich um ein Gebäude mit kreuzförmigem Grundriss. Im Jahr 1736 wurde die Tylldalen kirke fertiggestellt. Die Holzkirche wurde vom Architekten Karl Brandvold gemeinsam mit seinem Sohn Arne Brandvold-Sevilhaug errichtet. Die Brydalen kirke wurde 1884 erbaut. Auch bei ihr handelt es sich um eine Holzkirche.Der Ort Tynset erhielt durch einen Beschluss des Kommunalparlaments von Tynset im Jahr 2020 den Stadtstatus.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
=== Verkehr ===
Durch die Kommune verläuft der Riksvei 3. Dieser führt von Süden kommend parallel zur Glåma bis in die Stadt Tynset. Von dort führt der Riksvei in den Nordwesten entlang der Tunna und weiter entlang der Orkla. Etwas nordwestlich der Kommune mündet die Straße in die Europastraße 6 (E6). Von der Stadt Tynset führt der Fylkesvei 30 entlang der Glåma weiter in den Nordosten. Entlang der Glåma führt zudem die Bahnlinie Rørosbanen durch die Kommune. Der Bahnhof in Tynset wurde im Jahr 1877 eröffnet, als auch die Rørosbanen fertiggestellt wurde. Der Bahnhof in Tynset ist rund 350 Schienenkilometer vom Osloer Hauptbahnhof Oslo S entfernt.
=== Wirtschaft ===
Die Landwirtschaft ist für Tynset von größerer wirtschaftlicher Bedeutung. Vor allem entlang der Glåma befinden sich für die Landwirtschaft gut geeignete Böden. Die meisten landwirtschaftlich genutzten Flächen sind aufgrund der Höhenlage Grünland. Dieses bildet die Grundlage für die Milchproduktion von Tynset. Viele Höfe sind zudem in der Forstwirtschaft tätig. Von eher geringer Bedeutung ist die Industrie, die insgesamt kaum Arbeitsplätze hat und von der Lebensmittelindustrie dominiert wird. Der Tourismus spielt aufgrund des Durchgangsverkehrs eine gewisse Rolle. Am See Savalen befindet sich ein Skigebiet.In der Kommune liegen zwei Wasserkraftwerke. Diese sind das Kraftwerk Litjfossen und das Kraftwerk Ulset. Das Kraftwerk Litjfossen wurde 1982 in Betrieb genommen und hatte zwischen 1991 und 2020 eine mittlere Jahresproduktion von rund 136 GWh. Am Kraftwerk liegt eine Fallhöhe von etwa 285 Metern vor. Das zweite Kraftwerk der Kommune hatte in diesem Zeitraum eine mittlere Jahresproduktion von rund 130 GWh und ist seit 1985 in Betrieb. Dort wird eine Fallhöhe von etwa 320 Metern ausgenutzt. Im Jahr 2021 arbeiteten von rund 3000 Arbeitstätigen etwa 2400 in Tynset selbst. Über 100 Personen pendelten in die Nachbarkommune Alvdal, die restlichen Pendler verteilten sich auf Kommunen wie Tolga und Oslo.
== Name und Wappen ==
Das seit 1985 offizielle Wappen der Kommune zeigt den silberfarbenen Kopf eines Elches. Das Wappen soll die in Tynset beheimateten Elche darstellen. Tynset wurde zirka im Jahr 1530 als Tunneseter erwähnt. Der erste Teil des Namens leitet sich vom Flussnamen Tunna ab. Dessen genaue Bedeutung ist nicht gesichert. Der Namensbestandteil -set bedeutet Wohnort oder Siedlung.
== Sonstiges ==
Der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer veröffentlichte 1965 einen Roman mit dem Titel Tynset. Ebenso wie der Ich-Erzähler des Romans kannte Hildesheimer Tynset jedoch nur aus dem Kursbuch der Norges Statsbaner (NSB).
== Persönlichkeiten ==
Bjørnstjerne Bjørnson (1832–1910), Dichter, Literaturnobelpreisträger und Politiker
Karen Grønn-Hagen (1903–1982), Politikerin
Olav Gjærevoll (1916–1994), Politiker (Arbeiderpartiet), Minister, Bürgermeister, Botaniker und Hochschullehrer
Gert Nygårdshaug (* 1946), Schriftsteller
Berit Nordstad (* 1982), Skilangläuferin und Biathletin
Per Martin Sandtrøen (* 1985), Politiker
Nils Kristen Sandtrøen (* 1989), Politiker
Marion Rønning Huber (* 1991), Biathletin
Vegard Gjermundshaug (* 1992), Biathlet
== Weblinks ==
Tynset im Store norske leksikon (norwegisch)
Fakten über Tynset beim Statistisk sentralbyrå (norwegisch)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tynset
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Untere Kochertalbahn
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= Untere Kochertalbahn =
Die Untere Kochertalbahn war eine normalspurige private Nebenbahn der Württembergischen Eisenbahn-Gesellschaft (WEG) im nördlichen Württemberg. Sie führte als Stichbahn von Bad Friedrichshall nach Ohrnberg und folgte dem Unterlauf des Kochers.
Mit einer Länge von 22,6 km war sie die längste Strecke der WEG. Sie wurde in zwei Etappen eröffnet: Am 15. September 1907 erreichte die Bahn Neuenstadt, am 1. August 1913 wurde sie bis Ohrnberg verlängert. Nach der Einstellung des Betriebs zum 27. Dezember 1993 scheiterte die zunächst geplante Integration in das Netz der Heilbronner Stadtbahn. Die Trasse ist nun als Radwanderweg befahrbar.
== Geschichte ==
=== Vorgeschichte, Planung und Bau ===
Neuenstadt lag im Zeitalter vor dem Eisenbahnbau an der Postkutschen-Route von Heilbronn über Mergentheim nach Würzburg und war damit verkehrstechnisch gut erschlossen. Mit der durchgehenden Eröffnung der Linie Stuttgart–Heilbronn–Würzburg (heutige Frankenbahn) 1869, die von Jagstfeld aus in nördliche Richtung entlang der Jagst verlief (Westliche Gabelbahn), geriet Neuenstadt ins Abseits. Abhilfe versprachen die Planungen für den Bau der 1862 eröffneten Kocherbahn Heilbronn–Hall, die über Neckarsulm und den Unterlauf des Kochers ostwärts geführt werden sollte. Allerdings gelang es den Orten im Weinsberger Tal und der Stadt Heilbronn, eine südlichere Streckenführung über Weinsberg unter Umgehung Neckarsulms und Neuenstadts durchzusetzen, für die der aufwändige Bau des Weinsberger Tunnels in Kauf genommen wurde. Beweggrund für Heilbronn waren die Pläne des württembergischen Staats für einen Neckarhafen als Umschlagort zwischen Schiff und Schiene in Neckarsulm, so dass Heilbronn als alleiniger Verkehrsknoten der Region seine Vorrangstellung in Gefahr sah.
Nachdem weder der Anschluss über die Kocherbahn noch über die Westliche Gabelbahn gelang, petitionierten die Städte und Gemeinden 1873 um den Bau einer Bahnstrecke im unteren Kochertal, allerdings ohne Erfolg. 19 Jahre später, anlässlich der Eröffnung der Kochertalbahn Waldenburg–Künzelsau am 1. Oktober 1892, stellte der württembergische Ministerpräsident von Mittnacht eine Verlängerung der Strecke kocherabwärts in Aussicht. Unter Berufung darauf reichten die Anlieger bald danach eine Eingabe für den Weiterbau ein, die von der württembergischen Regierung jedoch mit Verweis auf mangelnde Planungskapazitäten und die starke Belastung durch den Bau von Hauptbahnen abgelehnt wurde. Zu einer Verlängerung der Kochertalbahn kam es erst 1924, allerdings nur bis Forchtenberg.
Während Heilbronn und Neckarsulm durch die Industrialisierung aufblühten und sich Jagstfeld zu einem wichtigen Eisenbahnknoten entwickelte, führte der fehlende Verkehrsanschluss im unteren Kochertal zu einer schleichenden Entvölkerung. In Neuenstadt schrumpften Handel und Gewerbe. Neue Hoffnung brachte die Konzessionierung privater Eisenbahnunternehmen in Württemberg seit den 1890er Jahren. Am 15. April 1898 formierte sich aus Neuenstadt und den Gemeinden Kochertürn, Degmarn und Oedheim ein Eisenbahn-Komitee, das das Unternehmen Arthur Koppel mit Studien für eine Bahn beauftragte. Erste Vorschläge, die Strecke von der Oberamtsstadt Neckarsulm oder von Kochendorf aus ins Kochertal zu führen, fanden nicht die Zustimmung der vier Gemeinden und der königlichen Regierung, da ein Anschluss an den Bahnknoten Jagstfeld (heute Bad Friedrichshall Hauptbahnhof) verkehrsgünstiger und damit wirtschaftlicher erschien. Auch die topografischen Verhältnisse sprachen gegen Neckarsulm aus Ausgangspunkt.
Koppel schlug daraufhin am 18. Dezember 1898 eine Schmalspurbahn mit einer Spurweite von 750 Millimetern von Jagstfeld nach Neuenstadt vor. Am 25. Januar 1899 einigten sich Koppel und die Kommunen auf die genaue Streckenführung, die Lage der Bahnhöfe und die weiteren Formalitäten. Die Kommunen hatten Grund und Boden für die Trasse kostenlos zur Verfügung zu stellen und darüber hinaus einen einmaligen Zuschuss von 50.000 Mark pro Bahn-Kilometer zu leisten. Daraufhin legten die Orte die Planungen der württembergischen Regierung vor, die am 29. Juli 1899 die Konzession für den Bau der Schmalspurbahn erteilte und einen staatlichen Zuschuss von 20.000 Mark pro Bahn-Kilometer bewilligte. Dies motivierte auch die Gemeinden entlang des Kochers zwischen Neuenstadt und Künzelsau, um einen Lückenschluss zur Kochertalbahn Waldenburg–Künzelsau zu ersuchen.
Zwischenzeitlich löste sich am 13. Mai 1899 die WEG mit dem Koppel-Bevollmächtigten Köhler als erstem Direktor aus dem Unternehmen Arthur Koppel heraus. Die WEG übernahm landesweit sieben weitere Bau- und Betriebs-Konzessionen für Nebenbahnen von Koppel. Sie begutachtete die vorliegenden Pläne und schlug aufgrund der günstigen Geländeverhältnisse und der Wirtschaftlichkeit (Güterwagen konnten durchgehend befördert werden) eine Anpassung auf Normalspur vor. Die Kommunen stimmten dem zu und verpflichteten sich mit dem neuen Vertrag vom 2. Januar 1901, die Mehrkosten von 5000 Mark pro Bahnkilometer selbst zu tragen. Der Staat Württemberg genehmigte das Vorhaben mit seiner neuen Konzession vom 25. Juli 1902. Diese sah nun einen staatlichen Zuschuss von 28.000 Mark pro Kilometer, maximal aber 338.000 Mark vor. Der Streckenbau war binnen vier Jahren zu vollenden.
Ende 1904 konnten die Bauarbeiten aus westlicher Richtung mit der Strecke durch Jagstfeld und der Kocherbrücke bei Hagenbach in Angriff genommen werden. Beim Bau des oberen Teilstücks kam es dagegen zu Verzögerungen: Da sich Neuenstadt und Bürg nicht über die Lage des Endbahnhofs einigen konnten – Bürg forderte den Bahnhof direkt auf der gegenüberliegenden Seite des Kochers –, kündigte Bürg seine Unterstützung für das Projekt auf. Erst als die anderen Kommunen den offenen Betrag übernahmen, konnte 1906 der Bau am östlichen Streckenende aufgenommen werden.
Mit einem Jahr Verzögerung gegenüber der staatlichen Vorgabe wurden die Bauarbeiten 1907 abgeschlossen. Der Bau verlief ohne größere Unfälle; die Baukosten beliefen sich auf 1,49 Millionen Mark. Am 14. September 1907 fand schließlich die feierliche Einweihung der Nebenbahn Jagstfeld–Neuenstadt statt. Am darauf folgenden Tag nahm die WEG den regulären Betrieb auf.
=== Verlängerung nach Ohrnberg ===
Noch während des Baus bis Neuenstadt nahm die WEG Planungen für die Verlängerung der Strecke nach Ohrnberg auf, nachdem Anfang 1907 die Gemeinden Gochsen, Kochersteinsfeld, Möglingen und Ohrnberg für die Verlängerung der Strecke petitioniert hatten. Württemberg erteilte der WEG am 17. Mai 1910 die Konzession für Bau und Betrieb der Verlängerung mit einer Laufzeit bis zum 1. November 2000. Pro Bahn-Kilometer betrug der staatliche Zuschuss 30.000 Mark. Die Anlieger-Gemeinden verpflichteten sich, in Summe 80.000 Mark beizutragen und Grund und Boden unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.
Am 1. November 1911 konnten die Bauarbeiten aufgenommen werden, die den Bau zweier weiterer Brücken über den Kocher einschlossen. Die Bauzeit erstrecke sich über anderthalb Jahre bis Juli 1913, die Baukosten betrugen 1,072 Mio. Mark. Am 1. August 1913 konnte der Abschnitt Neuenstadt–Ohrnberg der Unteren Kochertalbahn feierlich eröffnet werden. Die Vervollständigung des Nebenbahnnetzes auf dem Gebiet des heutigen Landkreises Heilbronn fand damit ihren Abschluss.
1924 verlängerte die Deutsche Reichsbahn die Kochertalbahn Waldenburg–Künzelsau noch bis Forchtenberg. Der rund 13 Kilometer lange Lückenschluss zwischen Forchtenberg und Ohrnberg kam – obwohl noch 1953 am 40-jährigen Bestehen der Strecke bis Ohrnberg debattiert – nicht mehr zu Stande. Planungen für eine Fortsetzung von Ohrnberg nach Öhringen oder nach Brettach–Bitzfeld–Bretzfeld erwiesen sich ebenfalls als nicht mehr realisierbar.
=== Weitere Entwicklung (1912–1990) ===
Nach der Eröffnung entwickelte sich das Verkehrsaufkommen vielversprechend. Bis zum Ersten Weltkrieg beförderte die Bahn jährlich rund 120.000 Personen. Dank des wirtschaftlichen Aufschwungs in den späteren 1920er Jahren erhöhte sich das Verkehrsaufkommen bis auf 350.000 Personen pro Jahr. Da wegen des Ersten Weltkriegs und der Krisen in den 1920er Jahren notwendige Instandhaltungsarbeiten an der Strecke unterblieben, konnte erst 1933 eine Sanierung in Angriff genommen werden.
Während der NS-Zeit wurde 1937 für den Militärflugplatz Oedheim auf Höhe des heutigen Hirschfeldparks ein Anschlussgleis eingerichtet, das rund zwei Kilometer in südöstlicher Richtung aus dem Kochertal herausführte. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erlitt die Strecke schwere Schäden, besonders durch Tieffliegerangriffe und Bombenabwürfe im Bereich des Bahnhofs Bad Friedrichshall-Jagstfeld, bei denen auch das Empfangsgebäude zerstört wurde. Am 8. November 1944 traf eine Bombe das Bahngleis nahe der Kocherbrücke bei Bad Friedrichshall-Hagenbach, der Betrieb konnte jedoch vorerst fortgesetzt werden. Erst nachdem die Wehrmacht auf ihrem Rückzug nach Süden am 1. April 1945 zwischen 18:00 und 20:00 Uhr alle drei Kocherbrücken gesprengt hatte, war kein Zugverkehr mehr möglich.
Im Laufe des Jahres 1946 konnte der Betrieb wiederaufgenommen werden: am 15. August bis Neuenstadt, am 23. September bis Möglingen und am 21. Dezember bis Ohrnberg. Von 1944 bis Kriegsende wurden auf dem Flugplatz die Wracks abgeschossener alliierter Flugzeuge gesammelt, die über das Anschlussgleis hierher gelangten. Nachdem der Schrottlagerplatz 1948 aufgelöst worden war, wurde das Gleis überflüssig und bald darauf entfernt.
Von 1951 bis 1952 errichtete die Deutsche Bundesbahn (DB) für das zerstörte Empfangsgebäude des Bahnhofs Bad Friedrichshall-Jagstfeld einen Neubau. Das bis zur Zerstörung in Insellage gelegene Gebäude wurde durch einen Bau auf der östlichen Seite der Bundesbahn-Anlagen ersetzt, an der sich zuvor die Personenzug-Gleise der WEG befunden hatten. Ab diesem Zeitpunkt nutzte die WEG die Anlagen der DB für den Personenverkehr mit.
Die WEG gehörte zu den ersten Privatbahnen in Deutschland, die zur Erhöhung der Wirtschaftlichkeit konsequent von Dampflokomotiven auf Dieseltriebwagen umstellte. So ersetzte der fabrikneue Dieseltriebwagen T 06 1956 alle drei vorhandenen Dampflokomotiven, was eine deutliche Reduzierung der Fahrzeit ermöglichte. Dennoch nahm der Personenverkehr ab den frühen 1950er Jahren kontinuierlich ab, neben dem zunehmenden Individualverkehr auch bedingt durch die 1949 von der WEG eingerichtete Buslinie, die das untere Kochertal mit Doppeldeckerbussen ohne notwendiges Umsteigen und mit kürzerer Fahrzeit an Neckarsulm und Heilbronn anschloss. 1955 übernahm die neu gegründete WEG-Tochter WEG-Kraftverkehrs-GmbH (KVG) den Busbetrieb.
Der per Bahn abgewickelte Schülerverkehr zu den neuen Mittelpunktschulen in Neuenstadt und Bad Friedrichshall sorgte für eine Grundlast im Personenverkehr, war aber wenig profitabel. Der Güterverkehr entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ambivalent: Neue Gleisanschlüsse zu Industriebetrieben in Bad Friedrichshall-Kochendorf und Neuenstadt sorgten für einen zeitweiligen Anstieg. In den 1970er Jahren nahm der Güterverkehr im Herbst durch eine effizientere Abfuhr von Zuckerrüben zu den Werken von Südzucker deutlich zu, so dass die Rübentransporte ab ungefähr 1980 im letzten Quartal des Jahres 85 % des Güterverkehrs ausmachten. Das sonstige Güteraufkommen sank kontinuierlich.
Von 1977 an verkehrten an mehreren Sonntagen im Jahr auf der Unteren Kochertalbahn dampfbespannte Museumszüge der Eisenbahnfreunde Zollernbahn (EfZ). Das 75-jährige Bestehen der Strecke feierten die Anliegergemeinden am 2. Oktober 1982 mit einem Festakt in Neuenstadt, zu dem Dampf-Sonderzüge der Gesellschaft zur Erhaltung von Schienenfahrzeugen (GES) verkehrten. Gelegentlich kamen museale Dampflokomotiven vor Foto-Güterzügen und als Plandampf-Leistung im Rübenverkehr zum Einsatz.
1981 führte die WEG auf der Strecke den Zugbahnfunk ein.
=== Stadtbahn-Planungen und Niedergang ===
Im Dezember 1991 initiierten das Land Baden-Württemberg mit finanzieller Unterstützung aus dem Programm zur Verbesserung der Verkehrssituation in Baden-Württemberg und der Stadt- und Landkreis Heilbronn mit der Neuaufstellung des Gesamtverkehrsplans das ÖPNV-Leitbild 1992/1993. Im Rahmen dieser Studie wurde das Potential einer verbesserten ÖPNV-Infrastruktur im Heilbronner Raum mittels erweiterter Bus- oder Bahnangebote und der Option eines Stadtbahn-Betriebs in Anlehnung an das Karlsruher Modell untersucht. Der im Landkreis Heilbronn gelegene Abschnitt Bad Friedrichshall-Jagstfeld–Kochersteinsfeld fand dabei Berücksichtigung. Ergebnis der am 25. September 1992 vorgestellten Studie war die Empfehlung, dieses Teilstück der Unteren Kochertalbahn in das Netz der durch die Studie geborenen Stadtbahn Heilbronn aufzunehmen. Die geschätzten Investitionen alleine für den Abschnitt Bad Friedrichshall-Jagstfeld–Kochersteinsfeld beliefen sich auf 35,4 Millionen Deutsche Mark (DM).Spätestens gegen Ende der 1980er Jahre entwickelte sich der Betrieb auf der Unteren Kochertalbahn durch das rückläufige Verkehrsaufkommen mit jährlichen Verlusten von 60.000 bis 240.000 DM stark defizitär. Darüber hinaus kündigte die Südzucker AG an, die Rübentransporte zur Zuckerfabrik in Offenau, die den größten Teil des Güterverkehrs ausmachten, zum Ende des Jahres 1993 einzustellen. Die WEG nahm dies zum Anlass, beim baden-württembergischen Verkehrsministerium um die Entbindung von der Betriebspflicht zum 31. Dezember 1992 zu ersuchen. Sie stellte die Planungen den betroffenen Kommunen am 17. Juni 1992 vor. Diese lehnten das Vorhaben ab und forderten zumindest einen Weiterbetrieb bis zur Einstellung des Rübenverkehrs sowie eine anschließende Konservierung der Strecke bis Kochersteinsfeld, um den späteren Stadtbahn-Betrieb zu ermöglichen.
Da ab 1993 ein zusätzliches Güteraufkommen in Höhe von 100.000 Tonnen pro Jahr durch den Transport von Erdaushub in Aussicht schien und Pläne für ein Güterstammgleis in Neuenstadt aufkamen, sah die WEG für 1993 vorerst von der Einstellung ab. Der letzte reguläre Personenzug befuhr die Strecke am 28. Februar 1993, noch bevor das baden-württembergische Verkehrsministerium am 1. April 1993 die Genehmigung zur dauerhaften Einstellung des Personenverkehrs und zur vorübergehenden Entbindung von der Betriebspflicht im Güterverkehr erteilte. Der letzte Museumszug verkehrte am 10. Oktober 1993. Mit dem Ende der Rübenkampagne 1993 befuhr zum letzten Mal ein Güterzug die Bahn zwischen Bad Friedrichshall-Jagstfeld und Ohrnberg. Letzter offizieller Betriebstag war der 27. Dezember 1993. Danach ruhte der Verkehr, und die Strecke verwaiste. Die Bahnübergänge wurden sukzessive asphaltiert. Der Abschnitt Kochersteinsfeld–Ohrnberg wurde anschließend stillgelegt und durch den Hohenlohekreis in einen Radweg umgebaut, der Teil des Kocher-Jagst-Radwegs ist.
Erst sieben Jahre später änderte sich die Situation für die Bahn: Im fortgeschriebenen, 2000 veröffentlichten ÖPNV-Leitbild 1999/2000 wurde im Auftrag von Stadt- und Landkreis Heilbronn erneut die Wirtschaftlichkeit des Stadtbahn-Betriebs untersucht. Da das ursprünglich angenommene Fahrgast-Potential für nicht realistisch befunden wurde, empfahl die Studie, das Vorhaben einer Stadtbahn im unteren Kochertal nicht weiter zu verfolgen. Weitere als ungünstig identifizierte Faktoren waren hohe Investitionen bei gleichzeitigen betrieblichen Nachteilen durch das notwendige Kopfmachen in Bad Friedrichshall-Jagstfeld und die kürzere Fahrzeit von Schnellbussen zwischen Heilbronn und Neuenstadt. Daher beschloss der Kreistag des Landkreises Heilbronn in seiner Sitzung vom 22. Juli 2002, auf die standardisierte Bewertung zu verzichten und die Strecke Bad Friedrichshall-Jagstfeld–Kochersteinsfeld nicht in das Zielkonzept 2010 für die Heilbronner Stadtbahn aufzunehmen. Die Stadt Neuenstadt nahm dies zum Anlass, die günstig gelegene Bahntrasse für eine Ortsumgehung zu nutzen.Die WEG schrieb daraufhin die Strecke entsprechend § 11 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes zur Übernahme aus und beantragte – nachdem sich bis zum 27. Dezember 2002 kein Interessent fand – die Entwidmung, die zum 21. Juni 2003 erteilt wurde. Nach langen Verhandlungen übernahmen die Anliegergemeinden die Trasse, nachdem die WEG Anfang 2006 alle verbliebenen Gleisanlagen demontiert hatte. Ende 2007 war die Neuenstädter Nordumgehung fertig gestellt. Die verbliebene Trasse wurde anschließend ebenfalls als Teil des Kocher-Jagst-Radwegs ausgebaut, die offizielle Eröffnung fand am 13. Juni 2009 statt. Die Kosten für den 19 km langen Abschnitt beliefen sich in Summe auf 3,7 Mio. € und wurden vom Land Baden-Württemberg, dem Landkreis Heilbronn und den Anliegergemeinden getragen. Wesentlicher Kostenfaktor war der Abriss und Neubau der Hagenbacher Kocherbrücke, der mit 1,1 Mio. € zu Buche schlug, nachdem sich eine Sanierung als zu teuer erwiesen hatte.
== Betrieb ==
Der Sitz der Betriebsleitung für die gesamte Strecke befand sich im Bahnhof Neuenstadt. Ohrnberg war seit der Verlängerung der Heimatbahnhof für alle Fahrzeuge, und der zuvor genutzte Lokschuppen in Neuenstadt konnte aufgegeben werden. Eine Werkstatt in Ohrnberg ermöglichte kleinere Reparaturen. Am Ende der langgezogenen Gleisanlagen gab es einen zweiständigen Lokschuppen und einen älteren einständigen Schuppen. Räume im Erdgeschoss des Empfangsgebäudes dienten zuletzt als Diensträume. In Bad Friedrichshall-Jagstfeld standen für die Strecke nach Ohrnberg das Personal und die Warteräume der Staatsbahn zur Verfügung.
=== Fahrzeuge ===
==== Dampflokomotiven ====
Die WEG nahm die Strecke 1907 zunächst mit zwei fabrikneuen Vierkuppler-Tenderlokomotiven in Betrieb. Die Maschinen wurden von der Maschinenbauanstalt Humboldt in Köln als Nassdampf-Verbundtriebwerk beschafft und trugen die WEG-internen Nummern 11 und 12. Lok 12 war bis 1959 durchgängig in Ohrnberg stationiert und wurde nach ihrem Betriebsende vor Ort verschrottet. Lok 11 kam 1933 auf die WEG-Strecke Amstetten–Gerstetten und später zur Vaihinger Stadtbahn.
Die WEG-Loks 14 und 15, beide Vierkuppler mit Nassdampf-Verbundtriebwerk, ersetzten die Lok 11. Sie wurden 1908 von Borsig für die Kleinbahn Bremen–Thedinghausen (BTh) gebaut und 1914 von der WEG erworben, die sie zunächst auf der Bahnstrecke Nürtingen–Neuffen einsetzte. Bis zu ihrer Ausmusterung (1956 beziehungsweise 1960) verblieben die beiden Loks auf der unteren Kochertalbahn und wurden danach in Ohrnberg verschrottet.
Zeitweise setzte die WEG auf dieser Strecke weitere gebraucht beschaffte Einzelmaschinen ein:
Lok 16 war ein Dreikuppler mit Nassdampf-Zwillingstriebwerk und wurde 1911 von der Hohenzollern AG für die Kleinbahn Kaldenkirchen–Brüggen gebaut. 1922 kam sie zur WEG, zunächst auf die Strecke Nürtingen–Neuffen, später auch nach Ohrnberg.
Lok 19 war ein Vierkuppler mit Nassdampf-Verbundtriebwerk. Sie war 1906 von Borsig für die Eberswalde-Schöpfurther Eisenbahn gebaut worden und kam 1926 zur WEG, außer auf der Unteren Kochertalbahn war sie auch zwischen Nürtingen und Neuffen im Einsatz.
1932 war kurzzeitig die Lok 20 im Einsatz: Der Nassdampf-Vierkuppler war 1914 von Hanomag für eine Zuckerfabrik in Kapstadt gebaut, aber wegen des Ersten Weltkriegs nicht mehr ausgeliefert worden. Danach kam sie auf der Flensburger Hafenbahn zum Einsatz, bis sie 1932 von der WEG übernommen wurde. Wegen ihrer zu geringen Dampfproduktion war sie für den Einsatz auf der langen Strecke zwischen Bad Friedrichshall-Jagstfeld und Ohrnberg ungeeignet und kam danach als Ersatzlok auf verschiedene WEG-Strecken.
==== Triebwagen ====
Die dampffreie Ära begann am 14. Februar 1956 mit dem neu von der Waggonfabrik Fuchs beschafften Triebwagen T 06. Er hatte die Achsfolge Bo und bot Sitzplätze für 42 Personen. Er war mit Puffern und Schraubenkupplungen ausgestattet und konnte damit als Schlepptriebwagen auch Güterzüge befördern. Eingebaut waren zwei Motoren vom Typ Büssing U11D mit je 210 PS. Von 1956 bis 1979 wickelte er den gesamten Verkehr ab. Danach gelangte er auf die Strecke Nürtingen–Neuffen und ist heute noch auf der Museumsbahn Amstetten–Gerstetten im Einsatz.
Am 3. Oktober 1979 lösten die beiden Triebwagen T 23 und T 24, die zwischen Nürtingen und Neuffen nicht mehr benötigt wurden, den T 06 ab. Nach der Einstellung des Betriebs zwischen Bad Friedrichshall-Jagstfeld und Ohrnberg wurden sie zunächst nach Neuffen überführt und sind heute bei der Westerwaldbahn GmbH im Einsatz.
==== Wagen ====
Für den Personenverkehr standen anfangs drei Wagen zur Verfügung, darüber hinaus gab es bis zur Einstellung der Postbeförderung 1958 einen kombinierten Post- und Gepäckwagen. Mit der Verlängerung nach Ohrnberg vergrößerte sich der Bestand auf fünf Personenwagen, und es konnten zwei Züge gebildet werden. Mangels Bedarfs durch die Abwicklung des Personenverkehrs mit Dieseltriebwagen sank der Bestand bis Ende der 1960er Jahre sukzessive auf drei und wurde dann ganz abgebaut. 1965 kam der Beiwagen VB 122 von der WEG-Strecke Albstadt-Ebingen–Onstmettingen zur Verstärkung des VT 06 nach Ohrnberg. Der Wagen entstand 1956 bei Auwärter aus dem Fahrgestell eines alten Personenwagens. Mit dem Tausch von T 06 gegen T 23 und 24 kam der VB 122 nach Neuffen und der 1958 aus einem Personenwagen-Fahrgestell von 1908 umgebaute Beiwagen VB 204 von Neuffen nach Ohrnberg. Damit umfasste der Fahrzeugpark der Unteren Kochertalbahn von 1980 bis zur Betriebseinstellung 1993 ständig die Diesel-Triebwagen T 23 und 24 sowie den Beiwagen VB 204.
In der Zeit zwischen den Weltkriegen gab es für den Güterverkehr drei gedeckte und fünf offene Güterwagen. Bis auf eine Ausnahme waren diese Wagen bei der DB eingestellt und konnten daher auch außerhalb der WEG-Strecke eingesetzt werden.
=== Personenverkehr ===
Das Personenzug-Angebot umfasste nach der Eröffnung der Gesamtstrecke werktags vier und sonntags fünf Zugpaare. Mittwochs verkehrte ein zusätzliches Zugpaar zwischen Jagstfeld und Neuenstadt. Die Fahrzeit für die 11,9 Kilometer betrug 62 bis 72 Minuten. Dieses Zugangebot hielt sich konstant bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. 1938 benötigte ein Personenzug für die gesamte Strecke nach Ohrnberg 56 Minuten. Ab 1950 umfasste das Zugangebot nur noch drei Zugpaare mit einer Reisezeit von 60 bis 70 Minuten. Zusätzlich gab es ein Zugpaar zwischen Bad Friedrichshall-Jagstfeld und Kochersteinsfeld. Dieses Zugangebot blieb in den Folgejahren konstant. Mit der Umstellung des Betriebs auf Dieseltriebwagen konnte die Reisezeit auf 42 Minuten gesenkt werden. Ab 1970 bereicherten zusätzliche Schülerzüge das Fahrplanangebot. Erst 1983 hob die WEG den Betrieb an Wochenenden von Samstagmittag bis zum Montagmorgen auf, zu einem Zeitpunkt, an dem dies für die anderen WEG-Strecken bereits umgesetzt war. 1984 umfasste das Zugangebot nur noch ein Zugpaar in beide Richtungen, dazu einen Zug von Ohrnberg nach Bad Friedrichshall-Jagstfeld, ein GmP-Paar und einen GmP von Bad Friedrichshall-Jagstfeld nach Ohrnberg. Für den Schülerverkehr gab es ein Zugpaar und einen einzelnen Zug von Bad Friedrichshall-Jagstfeld nach Neuenstadt sowie ein Zugpaar von Bad Friedrichshall-Jagstfeld nach Kochersteinsfeld. Die Fahrzeit betrug 43 Minuten, mit einem GmP waren es 64 bis 91 Minuten. 1985 bot der Fahrplan noch ein zusätzliches Zugpaar, wurde danach aber kontinuierlich reduziert: 1989 gab es an Werktagen außerhalb des Schülerverkehrs zwei Zugpaare, ab 1990 nur noch eines in Form des GmP.
Die jährliche Zahl der Fahrgäste lag nach der Eröffnung bei rund 120.000. Diese Zahl erhöhte sich durch die Verlängerung der Strecke nach Ohrnberg 1913 kaum und stieg bis 1919 auf rund 350.000. Danach sank die Zahl ständig und erreichte 1935 mit 80.000 ein Minimum. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam es durch die zahlreichen Hamsterfahrten zum Fahrgast-Maximum mit 470.000 Personen. Durch den zunehmenden Individualverkehr und die seit 1949 konkurrierenden Buslinien sank das Fahrgastaufkommen wieder und erreichte 1966 seinen absoluten Tiefpunkt. Die Ausrichtung des Verkehrsangebots auf den Schülerverkehr zu den in den 1950er Jahren eingerichteten Mittelpunktschulen in Bad Friedrichshall, Oedheim und Neuenstadt konnte das Verkehrsaufkommen etwas beleben, wenn auch der Schülerverkehr wenig profitabel war.
=== Güterverkehr ===
Der Güterverkehr entlang des unteren Kochertals entwickelte sich in den Anfangsjahren zufriedenstellend und ohne besonderen Schwerpunkt. Im Güterverkehr wurden unter anderem die Glockengießerei und Feuerwehrgerätefabrik Bachert, die Unterland AG (heute: Hengstenberg) und das Gaswerk in Kochendorf und verschiedene Steinbrüche und Sägewerke beliefert, außerdem machte der Landhandel zuletzt einen Anteil von knapp 10 % aus; es gab Genossenschaftslager an den Bahnhöfen in Oedheim, Neuenstadt, Kochersteinsfeld und Möglingen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten am Bahnhof Kochendorf Nord mit einem Hersteller von Büro- und Lagersystemen und einem Altöl-Verwertungs-Unternehmen zusätzliche Kunden gewonnen werden. 1962 und in den 1970er Jahren gab es Planungen für eine Erdölraffinerie zwischen Oedheim und Kochertürn, die ein Anschlussgleis erhalten hätte. Das Projekt scheiterte jedoch am Widerstand der Bevölkerung.
Im Stückgutverkehr wurde die gesamte Strecke bis Ohrnberg bedient, in den letzten Jahren mit mindestens einem Wagen täglich. In Neuenstadt befand sich für die Lagerung des Stückguts ein großer Schuppen. Die WEG bediente weitere Orte im Kochertal von Neuenstadt aus per Lkw; nach der Einstellung des Stückgutverkehrs im unteren Jagsttal durch die DB zum 31. Dezember 1979 übernahm die WEG per Lkw auch die Stückguttransporte dorthin. Nachdem die DB den Stückgutverkehr zum 31. Dezember 1989 vollständig auf die Straße verlagerte und damit der WEG keine Güterwagen mehr zustellte, bediente eine Spedition den Verkehr von Heilbronn aus per Lkw.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Transport von Zuckerrüben zu den Zuckerfabriken während der Kampagne im Herbst von größter Bedeutung. Ab den 1970er Jahren unterstützten genossenschaftlich beschaffte moderne Verladeanlagen den automatischen Umschlag der Rüben von Anhängern in die offenen Güterwagen. Feste Anlagen befanden sich in Oedheim, Kochertürn, Gochsen und Ohrnberg, eine bewegliche Anlage gab es in Kochersteinsfeld und zeitweise in Neuenstadt. Während der Kampagne wurden beispielsweise 1990 monatlich 600 bis 700 Güterwagen abgefertigt, außerhalb der Saison maximal 20. Diese Transporte machen zuletzt rund 85 % des gesamten Güterverkehrsaufkommens aus, so dass die Verlagerung des Rübenverkehrs auf die Straße Anfang der 1990er Jahre neben dem nicht konkurrenzfähigen Personenverkehrsangebot ausschlaggebend für den Niedergang der Bahnstrecke war.
Bedeutsame Kunden im Güterverkehr gab es 1993 abgesehen vom Rübenverkehr nicht mehr, nachdem die Feuerwehrgerätefabrik Bachert 1987 in Konkurs gegangen, die Altöl-Verwertung umgezogen war und Hengstenberg und die Sägewerke in Gochsen auf die Straße abgewandert waren.
=== Unfälle ===
1964 drehte der Süddeutsche Rundfunk den Film Gefährlich leben mit dem Stuntman Arnim Dahl. Eine Szene entstand auf der Unteren Kochertalbahn zwischen Oedheim und Bad Friedrichshall-Hagenbach auf Höhe der damaligen Merckle-Flugzeugwerke, dem heutigen Flugplatz am Hirschfeldpark. Dahl sollte vom fahrenden Zug aus über eine Strickleiter in einen über ihm fliegenden Hubschrauber klettern. Er bekam dabei die Leiter nicht zu fassen, stürzte die Böschung herab und musste schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden.
== Verlauf ==
Die Untere Kochertalbahn nahm seit dem Neubau des Bahnhofs Bad Friedrichshall-Jagstfeld 1952 ihren Ausgang im Bahnhof der Deutschen Bundesbahn, zuvor hatte die WEG über einfache eigene Gleisanlagen und ein Verbindungsgleis für die Überstellung von Güterwagen verfügt. Ein eigenes Dienstgebäude hatte es damals nicht gegeben.
Hinter Jagstfeld verlief die Bahn durch den Kocherwald und erreichte den nördlich des Kochers liegenden Rand von Kochendorf am Bahnhof Kochendorf Nord, der über Gleisanschlüsse für verschiedene Industriebetriebe verfügte. Einziger mit Schranken gesicherter Bahnübergang war die anschließende Kreuzung der L 1096 Bad Friedrichshall–Züttlingen. Nach 2,5 Kilometern erreichte die Bahn hinter Hagenbach den Kocher, kürzte eine Schleife mittels der ersten von insgesamt drei Fachwerkbrücken über den Kocher ab und kam in Oedheim wieder an den Kocher heran. Um die Trasse zwischen Schloss und Fluss entlangzuführen, mussten der Trasse mehrere Gebäude weichen.
Der nun folgenden Schleife des weiten und nicht tief eingeschnittenen Tals bis Kochertürn folgte die Strecke und erreichte so Degmarn. Das dortige Empfangsgebäude wurde 1971 abgerissen, der Bahnhof wurde 1981 zu einem Haltepunkt herabgestuft. Der Bahnhof von Kochertürn lag gegenüber der Ortschaft und konnte über eine Brücke erreicht werden. Bei Neuenstadt West, an der Mündung der Brettach gelegen, musste die Bahntrasse durch umfangreiche Stützmauern zum Kocher abgesichert werden. Der folgende Bahnhof von Neuenstadt mit seinem großzügigen Empfangsgebäude befand sich unterhalb der Stadt nahe am Kocher.
Im Anschluss an die zweite Kocherbrücke unterfuhr die Bahn die Kochertalbrücke der A 81 und erreichte Gochsen. Die im Anschluss folgenden Bahnhöfe von Kochersteinsfeld und Möglingen lagen eng am Hang des Kochertals. Vor Ohrnberg wechselte die Strecke ein letztes Mal die Flussseite. In Ohrnberg, heute ein Stadtteil von Öhringen, befanden sich die Anlagen zur Wartung der Fahrzeuge. Im großen Empfangsgebäude standen Diensträume zur Verfügung.
Charakteristisch für die Untere Kochertalbahn waren zwischen Bad Friedrichshall-Jagstfeld und Neuenstadt die Bahnhofsgebäude in Fachwerk-Klinker-Bauweise mit Dienst- und Wartesaal sowie Güterschuppen. Die Bauten der Verlängerung bis Ohrnberg waren wesentlich einfacher gehalten. Die Gebäude in Kochendorf Nord und in Degmarn, sowie die Gebäude in Gochsen und in Möglingen waren jeweils baugleich.
== Relikte ==
Die Trasse der Unteren Kochertalbahn blieb größtenteils erhalten und nimmt nun fast auf der gesamten Länge einen Fahrradweg auf. In Neuenstadt nutzt die Nord-Umgehungsstraße seit 2007 die Trasse. Der ehemalige Bahndamm zum Oedheimer Militärflugplatz kann noch an einigen Stellen entlang der Glückshalde ausgemacht werden.
Von den neun Bahnhofsgebäuden sind heute (Stand 2011) noch sieben erhalten. Das Oedheimer Gebäude ist noch bewohnt und befindet sich seit dem Rückbau der Strecke inmitten einer Brache. Über eine zukünftige Nutzung gibt es seitens der Gemeinde noch keine konkreten Pläne. Gleiches gilt für die momentan leer stehenden Bahnhöfe in Kochertürn und in Neuenstadt, wobei das denkmalgeschützte Empfangsgebäude in Neuenstadt noch bis 2007 die Betriebsleitung der WEG-KVG beherbergte. Das Empfangsgebäude in Gochsen ist anhand des Bahnhofsschildes noch als solches zu erkennen und dient heute als Vereinsheim.Bemerkenswert ist das ehemalige Bahnhofsareal in Möglingen, das zu einem Dorfplatz umgestaltet wurde. Verschiedene Eisenbahn-Relikte wie ein Wagen, eine Bahnhofsuhr und das Stationsschild am früheren Bahnhofsgebäude weisen dort auf die ehemalige Bahn hin. Das Empfangsgebäude wird heute unter anderem als Wahllokal genutzt. Im früheren, nun denkmalgeschützte Bahnhofsareal in Ohrnberg befindet sich heute ein Laden- und Messebauunternehmen, wobei alte Eisenbahnwagen als Lagerräume Verwendung finden.
== ÖPNV im Kochertal heute ==
Die Städte und Gemeinden an der ehemaligen Unteren Kochertalbahn besitzen, mit Ausnahme der Stadt Bad Friedrichshall, keine Anbindung mehr an das Schienennetz.
Durch die Zubringerbusse der Linie 625, die in den Heilbronner Nahverkehr integriert sind, erhalten die Stadt Neuenstadt am Kocher, ihre Stadtteile Stein am Kocher und Kochertürn, der Oedheimer Ortsteil Degmarn sowie Oedheim selbst, die Stadtteile Bad Friedrichshall-Ost und Bad Friedrichshall-Nord/Mitte alle 60 Minuten Zugang zum überregionalen Schienennahverkehr am Bad Friedrichshaller Hauptbahnhof. Diese Zubringerbusse wurden im Streckenabschnitt Bad Friedrichshall–Oedheim–Bad Friedrichshall durch die zusätzliche Linie 628 auf einen Halbstundentakt verdichtet.
== Literatur ==
Hermann Bürnheim: Württembergische Eisenbahn-Gesellschaft. Die Geschichte einer bedeutenden Privatbahn. 1. Auflage. Motorbuch Verlag, Stuttgart 1986, ISBN 3-613-01145-X.
Christian Jelen: Bad Friedrichshall-Jagstfeld – Ohrnberg. In: Wolf-Dietger Machel (Hrsg.): Neben- und Schmalspurbahnen in Deutschland einst & jetzt. GeraNova, ISSN 0949-2143 (Loseblattsammlung).
Petra Schön: Nebenbahnen im Raum Heilbronn. In: Die Stadtbahn Heilbronn. Schienenverkehr zwischen Eppingen und Öhringen. Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2005, ISBN 3-89735-416-0, S. 21–36.
100 Jahre Kochertalbahn. In: Thomas Seitz (Hrsg.): Oedheimer Hefte. Nr. 7. Eigenverlag Thomas Seitz, Oedheim 2007.
Gerd Wolff, Hans-Dieter Menges: Deutsche Klein- und Privatbahnen. Band 3: Württemberg. EK-Verlag, Freiburg 1995, ISBN 3-88255-655-2.
== Weblinks ==
Strecke Bad Friedrichshall-Jagstfeld–Ohrnberg bei verkehrsrelikte.de
Fotos aus den 1980er Jahren
Seite des Fahrplans im Kursbuch von 1944
Fotodokumentation einer Streckenbegehung im April 2003
Fotodokumentation einer Streckenbegehung im Mai 2010 bei „Vergessene Bahnen“
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Untere_Kochertalbahn
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Weinhaus Rheingold
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= Weinhaus Rheingold =
Das Weinhaus Rheingold in Berlin war ein Großrestaurant des Aschinger-Konzerns, in dem bis zu 4000 Gäste gleichzeitig bewirtet werden konnten. Das Gebäude in der Nähe des Potsdamer Platzes wurde im Zweiten Weltkrieg bei alliierten Luftangriffen schwer beschädigt und die Ruine zu Beginn der 1950er Jahre abgetragen.
Der nach Plänen des Architekten Bruno Schmitz von 1905 bis 1907 errichtete Stahlskelettbau sollte als Konzerthaus mit angeschlossenen Versammlungsräumen und Weinrestaurant den Einstieg der Firma Aschinger in die gehobene Gastronomie markieren. Um zusätzlichen Verkehr am bereits überlasteten Potsdamer Platz zu vermeiden, wurde die Nutzung allerdings baupolizeilich auf den reinen Gastronomiebetrieb beschränkt. Bereits die schwierigen Bauarbeiten, verbunden mit Grundwasserabsenkungen und aufwendiger Sicherung der Nachbarhäuser, erregten das Interesse der Tagespresse.
Über den fertiggestellten Neubau berichtete 1907 die zeitgenössische Architekturpresse beinahe enthusiastisch. Viel Beachtung fand dabei die monumentale Fassade an der Bellevuestraße mit Reliefs des Bildhauers Franz Metzner – vielfach als gleichbedeutend eingestuft mit Alfred Messels Fassade des nahe gelegenen Warenhauses Wertheim am Leipziger Platz. Die luxuriöse Innenausstattung der vierzehn Säle, teils eher exotisch, teils mittelalterlich inspiriert, erzeugte in jedem Raum eine andere Atmosphäre und sollte die Besucher in verschiedenste Welten eintauchen lassen.
Wirtschaftlich war der Prestigebau für Aschinger ein Misserfolg. Nach Jahrzehnten mangelnder Rentabilität verkaufte der Konzern schließlich 1943 das schon vorher kriegsbedingt geschlossene Weinhaus an die Deutsche Reichspost. Im selben Jahr erlitt der Komplex schwere Schäden bei den Luftangriffen auf Berlin. Die als wiederaufbaufähig klassifizierte Ruine wurde bereits zu Beginn der 1950er Jahre abgetragen. Das Areal des ehemaligen Weinhauses Rheingold teilen sich heute nach der Wiederbebauung des Potsdamer Platzes im Wesentlichen der Bahntower, die umgelegte Potsdamer Straße und der Kollhoff-Tower.
== Die Aschingers – Bauherren mit Visionen ==
Das 1892 von den Brüdern Carl und August Aschinger gegründete Unternehmen Aschinger’s Bierquelle firmierte seit 1900 unter Aschinger’s Bierquelle AG als Aktiengesellschaft in Familienbesitz mit einem Grundkapital von drei Millionen Mark. Groß geworden und erfolgreich mit ihren „Bierquellen“ – Stehbierhallen mit preisgünstigen Mahlzeiten –, suchten die Aschingers ab 1905 den Einstieg in die gehobenere Gastronomie. Auch die Umbenennung der Gesellschaft im Dezember 1906 zu Aschinger’s Aktien-Gesellschaft illustriert das Bemühen, das billige Bierquellen-Image loszuwerden und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Mit dem Erwerb des alten Hotels Fürstenhof am Potsdamer Platz war ein erster Schritt zu dieser Expansion getan. Nach einem Architekturwettbewerb 1905 entstand anstelle des Vorgängerbaues unter Einbeziehung bereits früher erworbener Nachbargrundstücke von 1906 bis November 1907 ein markanter Neubau mit luxuriöser Ausstattung.
Ein Konzerthaus mit angegliederten Versammlungssälen und Restaurant sollte die Expansion ergänzen. Das Unternehmen erwarb 1905 dazu ebenfalls in der Nähe des Potsdamer Platzes mehrere verbundene Grundstücke an der Bellevuestraße und in der Potsdamer Straße. Für die Planungen konnten die Firmeninhaber den Architekten Bruno Schmitz gewinnen, der vor allem für seine Denkmäler wie das Kyffhäuserdenkmal oder das Deutsche Eck bekannt war. Mit dem städtischen Festsaal Rosengarten in Mannheim hatte er bereits 1903 eine verwandte Bauaufgabe gelöst. Seinen Namen erhielt das für Berlin geplante Konzerthaus nach Richard Wagners Oper Das Rheingold, dem ersten Teil des Zyklus Der Ring des Nibelungen. Die ursprünglichen Absichten der Bauherren und des Architekten überlieferte der Architekturkritiker Hans Schliepmann in der Zeitschrift Berliner Architekturwelt: Geplant war „ein Saalbau für vornehmste Konzertaufführungen“, eine „Art ‚Loge‘ für die wahrhaft Höchststehenden der Berliner Gesellschaft“. Die großen Erwartungen der Bauherren schilderte Maximilian Rapsilber in der Zeitschrift Der Profanbau: „[…] in der Erwägung, daß in Berlin der große Erfolg nur durch ein wahrhaft großstilisiertes Unternehmen herbeigezaubert wird“, forderte er, „naiv ausgedrückt, das allerschönste Haus von Berlin als sein Eigen, koste es, was es wolle.“
== Lage ==
Die Gegend um den Potsdamer Platz wechselte in der Entwicklung Berlins von der Residenz- zur Großstadt innerhalb weniger Jahrzehnte mehrmals ihren Charakter. Eine vorstädtische Bebauung verdrängte ab den 1820er Jahren die bisherigen Landhäuser. Diese wich bereits zwischen 1850 und 1870 vornehmen Mietshäusern und Villen, als der Potsdamer Platz mit seinen Nebenstraßen zum bevorzugten Wohngebiet wohlhabender Berliner wurde. Die zentrumsnahe Lage in der Nähe des Regierungsviertels an der Wilhelmstraße und des Potsdamer Bahnhofs steigerte die Attraktivität des Viertels nach der Reichsgründung von 1871, führte aber auch zur Verdrängung von Wohnraum durch Büro- und Verwaltungsbauten sowie Hotels und Restaurants. Viele dieser Bauten entstanden zwischen den 1890er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg.Für den Bau des Weinhauses Rheingold erwarb die Firma Aschinger 1905 die nur wenige Meter vom Potsdamer Platz entfernt gelegenen Grundstücke Bellevuestraße 19, 19a sowie Potsdamer Straße 3. Seit der Umnummerierung der Potsdamer Straße 1938 trägt die Parzelle die Nummer 8 und liegt heute, nach der Umlegung der Potsdamer Straße, an der Alten Potsdamer Straße. Auf den angrenzenden Grundstücken Bellevuestraße 17–18a entstand wenig später mit dem Grand Hôtel Esplanade ein weiteres Großhotel.
Die drei Parzellen ergaben zusammen eine Fläche von 5044,67 Quadratmetern. Als Folge der kleinteiligen Parzellierung war das Grundstück schlecht geschnitten und verwinkelt, nur die 54 Meter breite Front an der Bellevuestraße erlaubte eine repräsentative Fassadengestaltung, die Straßenfront an der Potsdamer Straße war mit 21 Metern hierzu ungeeignet. Trotzdem zahlte Aschinger einen beträchtlichen Kaufpreis von insgesamt vier Millionen Mark. Das Grundstück an der Potsdamer Straße war mit einem fünfgeschossigen Mehrfamilienwohnhaus bebaut, während die Parzellen an der Bellevuestraße mit dem „Wohnhaus Anker“ des Architekten Christian August Hahnemann und mit dem durch den gleichen Architekten umgebauten Wohnhaus Bellevuestraße 19 noch die typische Bebauung der 1850er Jahre zeigte.
== Nutzungsänderung wegen baupolizeilicher Bedenken ==
Das im hohen Kaufpreis des Grundstückes gebundene Kapital sollte schnell Rendite abwerfen und die Bauzeit für den Neubau demzufolge möglichst kurz sein. Um den Bau zu beschleunigen, reichte der Bauherr zwei Vorprojekte ein, die von der Baupolizei innerhalb von drei bis vier Wochen genehmigt wurden. Die Genehmigung des Projektes selber dauerte „trotz des größten und liebenswürdigsten Entgegenkommens von allen zuständigen Behörden“ neun Monate. Ein noch während der Prüfungszeit des Projektes eingereichter Nachtrag erforderte nochmals neun Monate – Zustände, die nach Meinung der Zeitschrift Der Profanbau die Reformbedürftigkeit der Berliner Baupolizei-Ordnung aufzeigten.
Die Genehmigung war für die Firma Aschinger mit einer schweren Auflage verbunden. Die Baupolizei befürchtete durch das geplante Konzerthaus eine weitere Erhöhung des Verkehrs am sowieso bereits überlasteten Potsdamer Platz. Verschärfend kam hinzu, dass sich mit dem Künstlerhaus des Vereins Berliner Künstler in der Bellevuestraße 3 gleich gegenüber dem geplanten Konzerthaus bereits ein Veranstaltungslokal befand. So erlaubte die Baupolizei nur die Nutzung als Restaurant. Die Auflage betraf hauptsächlich den als Konzerthaus vorgesehenen Flügel an der Bellevuestraße. Für größere Änderungen waren die Planungen aber bereits zu weit fortgeschritten und die ursprüngliche Konzeption des Rheingold blieb weitgehend erhalten, auch wenn nun der Konzerthausteil ebenfalls gastronomisch genutzt werden musste. Zudem ließ die seinerzeit geplante Verlängerung der Voßstraße bis zum Tiergarten neben dem Bauherrn auch einige Architekturkritiker hoffen, dass durch die Entlastung des Potsdamer Platzes die Nutzungsbeschränkung hinfällig würde und dass das Haus doch noch ganz seiner ursprünglichen Bestimmung dienen könnte.
== Bauphase ==
Die Bauarbeiten begannen Mitte November 1905 mit den Abbruch- und Aushubarbeiten an der Bellevuestraße, gefolgt von der Herstellung der Fundamente. Bereits im Februar 1906 konnten dort die Maurerarbeiten beginnen. Gleichzeitig erfolgten die Gründungsarbeiten auf dem Grundstück an der Potsdamer Straße 3, wo zusätzlich die Maschinenfundamente für die hauseigene Kraftanlage gelegt werden mussten. Diese Arbeiten waren im Mai 1906 abgeschlossen.Die Fundierung, wie die Erdarbeiten ausgeführt von der Bauunternehmung Wayss & Freytag, waren wegen der erforderlichen Absenkung des Grundwasserspiegels und der eingebauten Lage des Grundstückes schwierig und verschlangen nahezu 500.000 Mark. Zuerst erfolgte der Aushub der Baugrube bis auf die Höhe des Grundwasserspiegels in ungefähr 3,1 Metern Tiefe. 65 im Abstand von fünf Metern nach allen Seiten gebohrte vierzöllige (ca. 10 cm) Saugbrunnen, die 7,5 Meter tief von der Baugrubensohle ins Erdreich reichten, fassten das aufsteigende Grundwasser. Das auf der Ebene des Grundwasserspiegels gelegene Hauptsammelrohr mit 250 Millimetern Durchmesser war über horizontale Rohrstränge einerseits mit den Brunnen und andererseits mit der elektrisch betriebenen Zentrifugalpumpe verbunden. Diese saugte das Grundwasser aus den Brunnen in das Hauptsammelrohr und hob es auf Straßenniveau, wo es in die städtische Kanalisation abfloss. Die Senkung des Grundwasserspiegels erfolgte in zwei Stufen: zuerst um 3,20 Meter für das Anlegen der normalen Kellerfundamente und dann um 4,60 Meter für die Maschinenfundamente. Der abgesenkte Spiegel beinhaltete eine Sicherheitsreserve von etwa 90 Zentimetern, damit bei einem Pumpenausfall die Baustelle nicht sofort geflutet wurde. Trotzdem setzte das Versagen der Pumpe die Baustelle mehrmals unter Wasser, was insgesamt zu einem Ausfall von sieben Arbeitstagen führte. Die Anlage zur Senkung des Grundwasserspiegels blieb sieben Monate in Betrieb, bis die Betonplatte des Fundamentes mit den Umfassungswänden einen dem Grundwasserauftrieb entsprechenden Gegendruck ausübte.
Das umbaute Grundstück erforderte Sicherungen an benachbarten Gebäuden in Form von Absteifungen der Giebel und der Unterfahrung von Fundamenten der Nachbarhäuser. Setzungen und Risse auch als Folge der Grundwasserabsenkung ließen sich aber trotzdem nicht ganz vermeiden. Die Tagespresse berichtete darüber in Sensationsartikeln als „Häusereinsturz am Potsdamer Platz“. Der schwerwiegendste Zwischenfall, bei dem im Seitenflügel des Hauses Potsdamer Straße 4 der Kellerfußboden riss, führte zur polizeilichen Sperrung des Hauses wegen Einsturzgefahr. Erst nach zusätzlichen Sicherungen konnten die Bauarbeiten fortgesetzt werden. Der Hausbesitzer erhielt eine Entschädigung von 30.000 Mark für die Schäden, ließ das Haus aber kurz danach abreißen, um das Grundstück, wie wohl seit längerem bereits geplant, neu zu bebauen.
Spezielle Vorkehrungen auf dem Baugrundstück selber erforderte das Haus an der Potsdamer Straße 3. Die Mieter, darunter eine Filiale der Annoncen-Expedition des Berliner Lokal-Anzeigers, hatten noch lange laufende Mietverträge, wofür sie entsprechend hohe Abstandssummen verlangten. Schließlich gelang es der Firma Aschinger, sich mit den Mietern von Keller, Erdgeschoss und erstem Obergeschoss des Hauses zu einigen, was den Teilabbruch des alten Hauses ermöglichte. Der alte Seitenflügel und der westliche Teil des Hauses bis zum zweiten Obergeschoss wurden schrittweise abgebrochen, während gleichzeitig der Neubau in die Höhe wuchs. Über der komplizierten Baustelle schwebten die oberen Geschosse des alten Hauses, verstärkt durch Zuganker, Fenster- und Türversteifungen und getragen von zahlreichen Abstützungen.Der gedrängte Zeitplan erforderte oft die Arbeit in Nachtschichten. Auch mit Arbeitsniederlegungen hatte die Bauleitung zu kämpfen. Gleich zu Beginn legte ein Streik der Maurer alle Bauarbeiten still, und acht Wochen vor der geplanten Eröffnung legten die Marmorarbeiter die Arbeit nieder. Sie forderten 25 Prozent mehr Lohn und den Verzicht auf Nachtschichten – wohlwissend, dass die rechtzeitige Vollendung des Baus hauptsächlich von ihnen abhing. Die ausführende Firma ließ schließlich Arbeiter aus ihren belgischen Werken kommen, um die Arbeiten abzuschließen.
Trotz aller Widrigkeiten war der Rohbau im Juli 1906 vollendet, und bereits Anfang Februar 1907 war der Bau abgeschlossen. Die Eröffnung sollte ursprünglich am 27. Januar, dem Geburtstag Kaiser Wilhelms II., stattfinden, erfolgte aber verspätet erst am 6. Februar 1907. Die zeitgenössische Architekturpresse würdigte die kurze Bauzeit von 14 1⁄2 Monaten als Rekord angesichts der schwierigen Gründungsarbeiten und der reichen Innenausstattung.
Die aufgelaufenen Baukosten von etwa 4,5 Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund 31 Millionen Euro) überstiegen die anfänglich kalkulierten von 3,5 Millionen Mark erheblich. Ursachen der Kostensteigerung waren Planungsänderungen und der Innenausbau mit „edelsten Baumaterialien“, der teurer war als geplant. Die für einen privaten Bauherrn beträchtlichen Baukosten illustriert der Vergleich mit den Baukosten von vier Millionen Mark für das 1897 fertiggestellte Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal und von sieben Millionen Mark für das 1911 fertiggestellte Alte Stadthaus in Berlin.
Die Deutsche Bauzeitung errechnete Kosten von 560 Mark pro Quadratmeter für Rohbau einschließlich Gründung und 940 Mark für den Innenausbau. Der Kubikmeter umbauten Raumes kostete total 55,60 Mark, wovon 20,80 Mark auf den Rohbau einschließlich Gründung und 34,80 Mark auf den Innenausbau entfielen.
== Baubeschreibung ==
Bruno Schmitz gliederte die Baumassen in drei Flügel. Der Saalbau des geplanten Konzerthauses als größter der drei erstreckte sich entlang der Bellevuestraße und schloss lückenlos an die Bebauung der Nachbargrundstücke an. Der Gastronomietrakt an der Potsdamer Straße durchstieß in den unteren Etagen das bestehende Vorderhaus. Im rechten Winkel zur Potsdamer Straße folgte er zunächst der südwestlichen Grundstücksgrenze und reichte bis zur anstoßenden Parzelle des Grand Hôtels Esplanade. Der Verbindungstrakt, ebenfalls gastronomisch genutzt, verband die beiden anderen Flügel. Rechtwinklig von der Mittelachse des Saalbaues ausgehend traf er schiefwinklig auf den Flügel an der Potsdamer Straße, wobei eine Rotunde geschickt zwischen den verschiedenen Achsen vermittelte. Die Höfe auf den Restflächen des unregelmäßig geschnittenen Grundstückes dienten teils aufwendiger gestaltet im Sommer als Erweiterung der Restaurants, teils als reine Wirtschaftshöfe.
Die Vorschrift der Baupolizei, gemäß der die Höfe über eine Zufahrt verfügen mussten, und der Wunsch des Bauherrn nach möglichst durchgängigen Geschossen von der Bellevuestraße zur Potsdamer Straße bestimmten die horizontale Gliederung des Gebäudekomplexes. Da die repräsentative Fassade an der Bellevuestraße nicht durch eine Durchfahrt gestört werden sollte, mussten alle Höfe von der Potsdamer Straße her erschlossen werden. Die dazu notwendigen Durchfahrten erforderten die zweimalige Querung des Verbindungsbaues und hätten ein durchgängiges Erdgeschoss verhindert. Schmitz fand die Lösung darin, dass er einerseits das Niveau der beiden zu erschließenden Höfe gegenüber dem Straßenniveau um ein halbes Geschoss absenkte und andererseits das Niveau des Erdgeschosses im Verbindungsflügel und im hinteren Teil des Flügels an der Potsdamer Straße ein halbes Geschoss anhob. So ließen sich nicht nur die Durchfahrten problemlos durchführen – unter den angehobenen Sälen des Erdgeschosses fanden zusätzliche Räume Platz. Treppenanlagen im Inneren vermittelten zwischen den verschiedenen Ebenen und ließen interessante Durchgangsräume wie den „Roten Saal“ entstehen. Zusammen mit den eigentlichen Treppenanlagen erlaubten sie den Besuchern, die abwechslungsreich gestalteten Raumfolgen im Erd-, Saal- und Emporengeschoss auf vielfältige Art zu durchlaufen.
Der vier- bis fünfgeschossige Stahlskelettbau versprach mit seiner fortschrittlichen Fassade an der Bellevuestraße eine dementsprechend moderne Innengestaltung. Diese erfolgte jedoch nach eher konservativen, dekorationsbetonten Gesichtspunkten. Ihre Motive fand sie hauptsächlich in der namensgebenden Oper Rheingold und den weiteren Opern aus Wagners Tetralogie, integrierte aber auch mittelalterliche und exotische Dekorationen sowie weitere Sagen zu einer eigenartigen Verschmelzung mythischer und nationaler Symbolik mit Jugendstil-Elementen.
Die teuren und edlen Baumaterialien, seltene Marmorsorten und Edelhölzer, erzeugten die dem „allerschönsten Haus Berlins“ angemessene luxuriöse Atmosphäre. Selbst für die Arbeiten legte die Firma Aschinger viel Wert auf Prestige – unter den ausführenden Firmen finden sich auffallend viele Hoflieferanten, vielfach beteiligt am Umbau des Berliner Stadtschlosses unter Wilhelm II.
=== Der Saalbau an der Bellevuestraße ===
==== Fassade an der Bellevuestraße ====
Zwei risalitartige, gegen die Bauflucht um 3,5 Meter vortretende, 5,3 Meter breite Portalvorbauten fassten die fünfachsige Hauptfassade an der Bellevuestraße ein. Ihr im Wesentlichen halbkreisförmiger Grundriss war an der Schauseite durch konkave Einbuchtungen gebrochen. Im Erdgeschoss führten die mit Dreiecksgiebeln überdeckten Portale von der Terrasse in die Pfeilerhalle des Saalbaues. In den oberen zwei Geschossen erhellten mit steinernen Pfosten unterteilte Fenster die dahinterliegenden Treppenhäuser. Ein glockenförmiges Haubendach aus Kupfer schloss die Risalite unterhalb des Hauptgesims ab.
Kräftige und glatte Wandpfeiler, wie die übrige Werksteinfassade aus fränkischem Muschelkalk, gliederten die 53,21 Meter lange Front vertikal. Die Horizontale betonten ein schmaleres, ein Meter breites Gurtgesims über dem Erdgeschoss und ein mit 1,2 Meter etwas breiteres Gurtgesims über dem Zwischengeschoss. Die in der Mitte des oberen Sims mit vergoldeten Metallbuchstaben angebrachte Inschrift „WEINHAUS RHEINGOLD“ warb dezent für das Lokal. An diesen Simsen ließ sich die innere Teilung des Saalbaus in Erdgeschoss, Garderobengeschoss und Saalgeschoss von außen ablesen.
Die das Hauptgesims segmentförmig durchbrechenden Rundbogen über den durchgehenden, mit Pfosten unterteilten großen Fenstern des Saalgeschosses bezeichnete der Architekturkritiker Hans Schliepmann als „wirkungsvollstes Moment der Fassadengestaltung“. Anstoß zu dieser Lösung gab die baupolizeilich vorgeschriebene Höhe der Gebäudefront an der Bellevuestraße, die Bruno Schmitz zwang, die Deckenwölbung des geplanten Konzertsaales in das Dachgeschoss zu verlegen. So konnte er das Hauptgesims in Übereinstimmung mit den Vorschriften bringen und nur die Rundbogen der Fenster endeten darüber. Darüber folgte das ursprünglich mit Kupfer gedeckte Dach. Vermutlich verschwand das „eigenartig gestaltete und notwendig zum Gesamteindruck gehörige“ Kupferdach bereits wenige Jahre nach Vollendung des Baus als Metallspende während des Ersten Weltkriegs. Aufnahmen aus den 1920er Jahren zeigen das neu mit Ziegeln eingedeckte Dach mit dem aus weißen Ziegeln eingelegten großformatigen Schriftzug „WEINHAUS RHEINGOLD“. Das gleiche Motiv mit den das Hauptgesims durchbrechenden Rundbogenfenstern verwendete Schmitz 1910 ein zweites Mal bei seinem Wettbewerbsentwurf für das Reißmuseum in Mannheim.
Die monumentale Wucht der tektonischen Urformen der Wandpfeiler und Gesimse erforderte passende Bauplastik. Die acht Hochrelieftafeln mit allegorischen Darstellungen wie Eitelkeit, Kunst, Musik oder Schönheit zwischen den 3,0 Meter breiten Fenstern des Saalgeschosses und links und rechts der Portalvorbauten schuf der Bildhauer Franz Metzner, mit dem Bruno Schmitz bereits beim Völkerschlachtdenkmal in Leipzig zusammenarbeitete. Die allegorische Bedeutung scheint aber eher vorgeschoben. Hans Schliepmann sieht in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration in den „atlantenartigen Figuren in den genannten Relieffüllungen lediglich Ausdruck strotzender Kraft des Tragens, Gegenstemmens“, der Künstler wolle „den Konflikt zwischen Stütze und Last durch das Körperliche, durch Muskelspiel zum Ausdruck bringen“. Einige Jahre später, im Sonderheft der Berliner Architekturwelt zum 55. Geburtstag von Bruno Schmitz 1913, betonte er nochmals die Bedeutung der Rheingoldfassade, an der zum ersten Mal ein „neues Schmuckmotiv, die rein dekorative Verwendung menschlicher Formen“ vor das Publikum getreten sei und prägte dafür den Begriff „Muskelornament“.Als Konsequenz der Nutzungseinschränkung zum reinen Gastronomiebetrieb fiel die Terrasse gegenüber den ursprünglichen Entwürfen wesentlich größer aus. Insbesondere die nachträglich angebrachten Zeltdächer – bereits in der Zeichnung der Fassade eingezeichnet – beeinträchtigen die Ansicht der Front in der engen Bellevuestraße.
==== Pfeilersaal ====
Der Pfeilersaal umfasste mit gegen 700 m² Fläche den Großteil des Erdgeschosses. Der erste Raum im Erdgeschoss des Saalbaues nahm die Besuchergarderobe auf und stellte die Erschließung der weiteren Räume des Weinhauses Rheingold sicher. Bei den beiden Haupteingängen an der Bellevuestraße an den Kopfenden des Saales schlossen ihn zwei symmetrische dreiarmige Treppenanlagen ein, die zu den oberen Räumen des Weinhauses führten und den Raum auf ungefähr halber Höhe um zwei Galerien erweiterten. In der Mitte des Saales führten Treppenanlagen zu den Räumen des Verbindungsbaues.
Vier Pfeilerreihen gliederten den mit 5,2 Metern im Vergleich zur Fläche nur mäßig hohen Raum in ein breiteres Mittelschiff und je zwei schmalere Seitenschiffe. Die Pfeiler waren Teil eines den ganzen Bau an der Bellevuestraße durchziehenden Pfeilersystems, das den Boden des Kaisersaales im Saalgeschoss stützte.
Zwischen den äußeren Pfeilerreihen und den Außenwänden trennten 3,2 Meter hohe Holzpaneele kojenartige Bereiche ab. Pfeiler und Wände bekleidete tiefbraunes Palisanderholz, stellenweise mit schmückenden Einlagen anderer exotischer Hölzer. Diese Kunsttischlerarbeiten lieferte die Firma Kimbel & Friederichsen, Hoflieferant des Kaisers. Die „meisterlichen Schnitzereien“ in den Kojenwänden, die „bacchische Motive enthalten“, wie auch die Bronzereliefs an den Pfeilern schuf der Bildhauer Hermann Feuerhahn. Vom tiefen Braun des Holzes hob sich die hellgrau getupfte Putzdecke wirkungsvoll ab. Die großen Fenster gegen die Terrasse erhellten den Raum und ließen sich im Sommer im Boden versenken. Bei Dunkelheit erzeugten Wandleuchter in Kerzenform und Glühlampenreihen an der Decke „eine verschwenderische Lichtflut“.
==== Garderobenvestibül ====
Der darüber liegende Saal im Garderobengeschoss nahm mit Ausnahme der Treppen und der von den Treppenhäusern zugänglichen Toilettenanlagen wiederum das gesamte Stockwerk ein. In den ursprünglichen Planungen sollte der Raum als Foyer die Garderobe für die Konzertbesucher aufnehmen, konnte die gleiche Funktion aber auch für Bankette im auf dem gleichen Geschoss liegenden großen Bankettsaal wahrnehmen. Nach der Planungsänderung richtete Aschinger darin ein Café und eine Americain Bar ein. Der riesige Raum erhielt wegen seines in den ursprünglichen Planungen eher untergeordneten Zweckes lediglich eine Höhe von 2,80 Metern. Wie den Pfeilersaal strukturierten vier Reihen Pfeiler den Raum, die den Boden des Kaisersaales stützten. Griechischer Cipolline-Marmor mit Skyrosmarmor-Einlagen verkleidete die Pfeiler und Marmorfliesen bedeckten den Boden. An den Kopfenden des riesigen Raumes endeten die vom Pfeilersaal kommenden Marmortreppen. Sie fanden ihre Fortsetzung in vier einläufigen Treppen an den Längsseiten, die unter den Seitenemporen des Kaisersaales endeten.
==== Kaisersaal ====
Im Saalgeschoss – 9,45 Meter über dem Niveau der Bellevuestraße – lag der „Kaisersaal“, der „krönender Teil der gesamten Bauanlage“ war. Der mit 17,46 Metern Breite und 35,0 Metern Länge größte Raum des Hauses war ursprünglich für Konzerte und Veranstaltungen geplant. Nach der durch die Baupolizei aufgezwungenen Konzeptänderung diente er als Restaurant mit über 1000 Plätzen.
Ein durch große, flache Kassetten und Gurtungen aus vergoldetem Stuck gegliedertes Tonnengewölbe überspannte in Längsrichtung den ungefähr 11,2 Meter hohen Saal und ragte weit in die Stahlkonstruktion des Dachstuhles. Im Hinblick auf die Nutzung als Konzertsaal hatte Bruno Schmitz eine doppelte Konstruktion gewählt. Hinter der sichtbaren inneren Schale aus Drahtputz verbarg sich eine äußere, feuerfeste gemauerte Schale. Zahlreiche Öffnungen in der inneren Decke ließen den Schall in den Hohlraum zwischen den Decken eintreten, der so als Resonanzkörper dienen sollte. Durch die gleichen Öffnungen trat auch die Abluft aus. Zwei Reihen mit je fünf großen Leuchtern aus Metall und farbigem Kristallglas in mittelalterlichen Formen hingen von der Decke.Die Gewölbe über den Rundbogenfenstern waren nicht wie üblich als Stichkappen in das Hauptgewölbe eingeschnitten. Nur die Gurtungen des Tonnengewölbes setzten sich fort zu den Pfeilern, während die Wandflächen über den eingeschnittenen Gewölben senkrecht hochgeführt und waagrecht eingedeckt wurden. Die Wandflächen gestaltete Schmitz mit ausdrucksvollen Schlusssteinen, flankiert von je zwei Zwickelmedaillons mit Ritterfiguren – beide entworfen von Franz Metzner.
Im Saalgeschoss umgab ein Umgang den „Kaisersaal“ auf allen vier Seiten. An den Längsseiten mündeten darin die Treppen vom Garderobenvestibül sowie die Treppenhäuser an der Front- und Hofseite. Die tieferen Schmalseiten nahmen zusätzlich Nebenräume wie Toilettenanlagen oder die Buffets für das Restaurant auf. Im 3,65 Meter höher gelegenen Emporengeschoss erweiterte sich der Kaisersaal an den Längsseiten um diese Flächen, während die Empore etwa einen Meter in den Saal vorkragte. Die goldfarbene Brüstung der Empore gliederten als Baluster vorgesetzte bronzene Ritterfiguren.An den beiden Schmalseiten schlossen sich zwei von einem Tonnengewölbe überwölbte Nischen an, die auf der Höhe des Dachgeschosses eine Orchesterloge aufnahmen. Die Goldmosaiken in den Orchesternischen mit den vier riesigen Wappenadlern lieferte die Firma Puhl & Wagner aus Berlin-Neukölln. Gegen die Hofseite fanden zwei Nebenräume Platz. Ihre Entsprechungen im Dachgeschoss dienten passend zu den benachbarten Orchesterlogen zur Aufbewahrung der Instrumente.Vier Kaiserfiguren – Karl der Große und Otto der Große sowie Barbarossa und Wilhelm I. – rahmten auf Konsolen die östliche und westliche Nische. Die Figuren, weitere Werke Franz Metzners, ausgeführt von G. Knodt in Frankfurt, markierten für die Zeitschrift Der Profanbau wiederum „die äußerste Grenze eines künstlerischen Wagnisses, ohne sie indessen zu überschreiten“. Und weiter: „Es sieht so aus, als ob die Leichen Karls und Ottos des Großen, Friedrich Barbarossas und Kaiser Wilhelms aus den Sarkophagen hervorgeholt und da oben an die Wand genagelt wären.“Als einer der wenigen Räume des Hauses erhielt der Raum einen Parkettboden. Die unteren Wandflächen bedeckten große Platten aus geflammtem, gelblich-bräunlichem Faune-de-Sienne-Marmor, unterbrochen durch die hochrechteckigen Gitter der Lufteinströmungsöffnungen aus getriebener Bronze. Die oberen Wandflächen bekleideten Platten aus gräulichem Napoleon-Marmor, der seinen Namen nach dem grauen Mantel Napoleons erhielt.Die prägenden Materialien Marmor, vergoldeter Stuck und Bronze führten zu einer „wahrhaft gigantische[n] oder majestätische[n] Raumwirkung“ mit einer „feierliche[n] und mystisch getönte[n] Erhabenheit“. Die Deutsche Bauzeitung sprach von „eine[r] der bedeutendsten Saalschöpfungen der neueren Zeit“ und schloss in den Vergleich ausdrücklich den zwischen 1892 und 1902 mit Unterbrechungen durch den Architekten Ernst von Ihne umgebauten „Weißen Saal“ des Berliner Stadtschlosses mit ein. Aschingers Prestigeobjekt konnte es demnach also durchaus mit der Pracht des Residenzschlosses des Kaisers aufnehmen.
=== Gebäudeflügel an der Potsdamer Straße ===
==== Fassade an der Potsdamer Straße ====
Im Gegensatz zur Bellevuestraße hatte Bruno Schmitz für die Fassade an der Potsdamer Straße nur eingeschränkte Gestaltungsmöglichkeiten, da das alte Haus wegen der Mieter nur teilweise abgebrochen werden konnte. Die Neugestaltung beschränkte sich so auf den Neubaubereich, also den unteren linken Teil der Fassade bis zum zweiten Obergeschoss und den Bereich über der Durchfahrt zum Hof.
Den Fassadenteil des Weinhauses setzte Schmitz durch aufwendige und farbige Materialien wie Bronze, Kupfer und Marmor ab von der eher neutralen bestehenden Fassade mit ihren aufgereihten Fenstern und schlichtem Verputz. Elf Meter hohe, mit grün geflammtem weißen Marmor verkleidete Pfeiler rahmten den Eingang zum Weinhaus Rheingold und die Durchfahrt. Den Marmor für die vom Erdgeschoss bis zum zweiten Obergeschoss durchgehenden Pfeiler lieferte die Aktiengesellschaft für Marmorindustrie Kiefer in Berlin. Darüber warb auf einem ungefähr 1,1 Meter breiten Gesims die über die gesamte Länge der Fassade von 22,5 Meter gehende kupferne Inschrift „RHEINGOLD“ für das Restaurant. Die Fläche zwischen den Pfeilern löste Bruno Schmitz in große Fenster mit Bronzerahmen und engen Sprossen auf, über dem Eingang erkerartig vortretend. Neuartig für Berlin war die Doppelfahrstuhlanlage, die links und rechts vor dem vertieften Eingang die Gäste direkt in das zweite Obergeschoss beförderte.
Die Architekturkritiker und Journalisten betrachteten diese Fassade 1907 als provisorisch und aus der Not geboren. Hans Schliepmann verteidigt den Architekten sogar mit den Worten: „Auch ein Gott hätte aus einem solchen Haus, an dem die abscheulichsten Firmenschilder noch jahrelang zu kreischen ein leider nur zu wohlverbrieftes Recht haben, kein Kunstwerk gestalten können.“ Ein Umbau ist später aber nie erfolgt, sicher auch als Folge des ausbleibenden wirtschaftlichen Erfolgs. Äußerlich unterschied sich diese Fassade jedenfalls wenig von den zahlreichen Umbauten nach der Jahrhundertwende, wo alte Häuser für Geschäfte in den unteren Geschossen moderne Fassaden erhielten, auch wenn sich in diesem Fall hinter der Fassade tatsächlich ein Neubau verbarg. Der Architekturhistoriker Julius Posener sieht denn auch Parallelen zwischen dieser Fassade an der Potsdamer Straße und der 1906 vom österreichischen Architekten Josef Hoffmann und Koloman Moser gestalteten Fassade des Geschäftslokales der Bugholzfirma Jacob & Josef Kohn an der Leipziger Straße 40.
==== Muschelsaal ====
Der Muschelsaal lag 2,20 Meter unter dem Niveau der Potsdamer Straße. Der 7,65 Meter breite und 17,28 Meter lange Saal lag im hinteren Teil des Traktes. Die Besucher erreichten ihn über eine breite, mit Goldmosaiken eingefasste Treppe aus dem Galeriesaal oder über die Durchfahrt, die zum „Steinsaal“ im Verbindungstrakt überleitete. Der Lage in den Fundamenten des Gebäudes entsprechend wählte Bruno Schmitz schwere Bauformen. Ein großes, unmittelbar über dem von der Firma Johann Odorico gelieferten Marmormosaik-Fußboden ansetzendes Tonnengewölbe überspannte den Raum in Längsrichtung und erreichte im Scheitel eine Höhe von ungefähr 3,7 Metern. Die sich seitlich in das Gewölbe einschneidenden Zungenmauern und Fenster entlarvten das schwere Gewölbe aber als Drahtputzkonstruktion. Die Fenster ließen sich vollständig im Boden versenken und erweiterten den Saal bei warmem Wetter auf den künstlerisch gestalteten Hof. Ein schlichter kleiner Wandbrunnen aus poliertem Kalkstein an der abschließenden hinteren Querwand war der einzige bildhauerische Schmuck des Raumes. Dahinter befanden sich noch eine Damen-Toilette und ein Nebentreppenhaus. Seinen Namen erhielt der Saal nach den Muscheln, die zusammen mit grünlich und braunrot schimmernden Glasplättchen Gewölbe und Wände bekleideten. Diese Inkrustationen führte die in München ansässige Firma C. Ule aus, die Treppenstufen und die Marmorsockel der Wände lieferte die Aktiengesellschaft für Marmorindustrie Kiefer in Berlin. Das unmittelbar aus dem Boden aufsteigende Tonnengewölbe mit den Inkrustationen erinnerte die Kritiker an eine Grotte eines Lustschlosses aus dem 17. oder 18. Jahrhundert, aber die Schwere der Architektur auch an eine Krypta oder ein Verlies. Die „kühlgoldige Funkelpracht, herrührend von den farbigen Glasflüssen“ mit ihrem „Märchenzauber“ ließen sich auch mit „Gnomenkönigs Thronsaal“ aus Peer Gynt assoziieren.
==== Vestibül an der Potsdamer Straße ====
Das Vestibül erstreckte sich über alle drei durch das Weinhaus genutzte Geschosse im Vorderhaus an der Potsdamer Straße. Den Besuchern bot es mehrere Möglichkeiten in die Säle des Weinhauses zu gelangen. Neuartig in Berlin war die bereits bei der Beschreibung der Fassade erwähnte Doppel-Fahrstuhlanlage, geliefert von der Maschinenfabrik Carl Flohr in Berlin, die die Gäste direkt von der Straße in die beiden oberen Geschosse beförderte. Betraten die Besucher das Haus durch die Drehtür, erschloss eine elegant geschwungene Treppenanlage die oberen Geschosse. Ein Mosaikboden bedeckte den Fußboden im Erdgeschoss, Wände und Treppe waren mit Nussholz verkleidet und durch helleres Holz in Quadrate gegliedert.
==== Galeriesaal ====
Der erste Restaurationsraum, den die Besucher von der Potsdamer Straße her betraten, war der „Galeriesaal“ im Erdgeschoss. Seiner Bedeutung als Eingangsraum entsprechend reichte der 7,92 Meter breite und 19 Meter lange Saal mit einer Höhe von rund 7,4 Metern durch zwei Geschosse. Die in 4,5 Metern Höhe umlaufende Galerie, nur vom Vestibül und nicht vom Raum selbst erreichbar, gab dem Saal seinen Namen. Den Innenausbau des Saales gestaltete Schmitz mit Holz, ausgeführt von der Kunsttischlerei Otto Salzmann & Sohn in Berlin-Kreuzberg. Das polierte, dunkelbraunrote Palisanderholz der Wände mit eingelegten Intarsien aus vielfarbigen Hölzern und Perlmutt kontrastierte mit dem helleren, geflammten Birkenholz, das die Holzpfeiler und die glatten Brüstungen der Galerie sowie die Decke bekleidete. Eher diskreten bildhauerischen Schmuck erhielten die Pfeiler durch vergoldete Reliefs von Hermann Feuerhahn. Verglaste Wände trennten die Galerie vom Saal und schützten die oben sitzenden Gäste vor Rauch und Zugluft. Den hinteren Raumabschluss bildete eine Treppenanlage aus dunklem Marmor, der wirkungsvoll mit den von der Firma Johann Odorico ausgeführten Goldmosaiken an Wänden und Treppenwangen kontrastierte. Die mittlere Treppe führte hinunter in den „Muschelsaal“, die beiden äußeren Treppenläufe hinauf in den „Mahagonisaal“. Geätzte, mit Blumengirlanden geschmückte gelbe Fenster gaben „dem Saal eine Stimmung, wie sie sympathischer nicht gedacht werden kann“.
==== Mahagonisaal ====
Der anschließende, 1,84 Meter über dem Niveau der Potsdamer Straße liegende „Mahagonisaal“ ließ sich vom Galeriesaal über eine zweiläufige Treppe erreichen. Die Verbindung zur Rotunde des Verbindungsbaues lag auf gleicher Höhe. Seinen Namen erhielt der Saal von der dunklen, bordeauxfarbenen Wand- und Deckentäfelung aus Mahagoni, gefertigt von der Möbelfabrik W. Kümmel in Berlin. Wandpfeiler mit Volutenkapitellen strukturierten den 7,92 Meter breiten und ungefähr 27 Meter langen Raum, indem sie an den Längsseiten 4,8 Meter breite Nischen bei Fenstern abtrennten. Zentrales Schmuckelement war ein lebensgroßes Holzrelief Franz Metzners an der hinteren Schmalwand des Saales, zusätzlich betont durch eine davorliegende Estrade. Es zeigte das „Liebesleben der Geschlechter, derart gekennzeichnet, daß das wollüstige Weib auf Vogelkrallen, und der geile Mann auf Bocksfüßen einherstelzt, davor sitzt, ein Phantom der gemeinen Häßlichkeit, ein Kind der Sünde.“ Auch Hermann Feuerhahn war an der Ausschmückung des Raumes beteiligt mit den „poesivollen Symbolen“ an der Decke und den „exotischen Darstellungen“ an den Längswänden.
==== Ebenholzsaal ====
Der „Ebenholzsaal“ erstreckte sich im Garderobengeschoss beinahe über die ganze Länge des Traktes an der Potsdamer Straße. Die Überhöhe des Galeriesaales mit seiner Galerie im Erdgeschoss führte dazu, dass die darüberliegende Hälfte des Ebenholzsaales rund 1,8 Meter höher lag als seine Entsprechung über dem Mahagonisaal. Die beiden mit 3,6 und 3,9 Meter auch in der Höhe leicht unterschiedlichen Saalhälften verband eine breite Treppe. Der Hauptzugang zum Saal erfolgte über das Vestibül an der Potsdamer Straße sowie durch die untere Rotunde, er ließ sich aber auch von der Galerie des Galeriesaales über zwei Treppen erreichen. In den Raum vortretende Pfeiler, verkleidet mit indonesischem Ebenholz aus Makassar, trennten 4,8 Meter breite Kojen ab und gliederten den langgestreckten Raum. Im „Ebenholzsaal“ verzichtete Schmitz auf eine bildhauerische Gestaltung, die „unsagbare Noblesse“ des Saales prägten die Pfeiler- und Wandverkleidungen aus dem edlen Makassar-Ebenholz „von einer merkwürdig warmen und weichen Tönung“, die Decke in silberner Kammmalerei und die aufwändigen Leuchter der Kristallmanufaktur Baccarat. Die Firma Georg Kuhnert in Berlin führte die Kunsttischlerarbeiten aus.
=== Der Verbindungsflügel ===
Der Verbindungsflügel verband den Saalbau an der Bellevuestraße mit dem Flügel an der Potsdamer Straße. Er führte in der Mittelachse des Saalbaues zum Trakt an der Potsdamer Straße, wobei eine Rotunde zwischen den verschiedenen Achsen vermittelte. Das Erdgeschoss war gegenüber den Trakten an der Straße um ein halbes Geschoss angehoben, um die baupolizeilich erforderlichen Durchfahrten zweimal den Verbindungsflügel queren zu lassen und den Besuchern trotzdem ein durchgängiges Geschoss von der Potsdamer bis zur Bellevuestraße zu ermöglichen. Der Trakt diente ausschließlich gastronomischen Zwecken und verfügte im Dachgeschoss über eine eigene Küche zur Versorgung seiner Restaurants.
Im Inneren des Grundstückes gelegen waren seine Fassaden gegen die drei anstoßenden Innenhöfe schlicht gestaltet und entsprachen den rückwärtigen Fassaden der Straßenflügel. Die Böden aller Höfe bedeckten rutschfeste geriffelte Fliesen und der Hof gegen das Grand Hôtel Esplanade erhielt eine Gestaltung durch Laternen mit aufwendig gestalteten Masten, da er bei warmer Witterung als Erweiterung der anstoßenden Säle ins Freie diente. Kübelpflanzen wie Dattelpalmen und Lorbeerbäume begrünten den Hof.
==== Steinsaal ====
Der Steinsaal, auch Wotansaal oder Odinsaal genannt, lag 2,20 Meter unter dem Niveau der Bellevuestraße. Über eine Treppe ließ er sich vom Pfeilersaal des Hauptbaues an der Bellevuestraße erreichen und besaß über die Durchfahrt der Rotunde eine Verbindung zum auf gleicher Höhe liegenden Muschelsaal des Flügels an der Potsdamer Straße. Die geringere Saalhöhe von ungefähr 3,7 Metern und die dickeren Mauern, die die Last der darüber liegenden Säle aufnehmen mussten, veranlassten Bruno Schmitz zu schweren Gewölbeformen. Das Gewölbe, das unmittelbar aus dem Boden zu wachsen schien, ruhte auf riesigen mythischen Köpfen vor den Gurtungen des Gewölbes. Ähnliche Köpfe schuf Metzner auch für die Krypta des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig. Die schwere, massive Konstruktion war allerdings nur vorgetäuscht, dahinter verbarg sich eine Drahtputzkonstruktion. Die Gewölbe- und Wandflächen bedeckten von der Firma Johann Odorico ausgeführte Inkrustationen mit geometrischen Ornamenten aus grauen, in den Zement eingepressten Donaukieseln und dunkleren Schieferstücken. Diese Gestaltung knüpfte an die Grottenarchitekturen der Renaissance und des Barock an, erinnerte aber auch an maurische Flächendekorationen. Zahlreiche im Gewölbe zwischen den Mustern eingelassene Glühlampen bildeten eine Art Sternenhimmel. Den künstlerisch gestalteten Marmormosaik-Fußboden lieferte ebenfalls die Firma Johann Odorico. Die im Boden versenkbaren großen Bogenfenster ließen sich im Sommer zum künstlerisch gestalteten Hof öffnen.
==== Roter Saal ====
Der Rote Saal im Erdgeschoss, ein weiterer aufwendig gestalteter Übergangsraum, lag 1,85 Meter über dem Straßenniveau der Bellevuestraße. Der ungefähr vier Meter hohe Raum erhielt seinen Namen von den Wandbespannungen aus roter Seide oder rotem Samt zwischen den gliedernden Wandpfeilern aus rötlichem Padoukholz. Eine goldene oder silberne Decke mit Märchenmotiven überspannte den Raum. Gedämpftes Licht erhielt der Raum durch zwei vom Kunstmaler August Unger entworfene Glasfenster, ausgeführt durch das Atelier für Glasmalerei August Wichmann in Berlin. Passend zur ursprünglich geplanten Nutzung als Konzerthaus zeigten sie Allegorien der musikalischen Tempi Adagio und Andante sowie Allegro und Furioso.
Eine zweiläufige Treppenanlage leitete zum tiefer gelegenen Pfeilersaal im Hauptbau über, in den sie prägend in die Mitte der Längsseite hineinragte. Auf dem Podest der Treppenanlage und von beiden Seiten gut sichtbar erhob sich als „Prunkstück der Anlage“, als „Hauptsinnbild des Hauses“, der Rheingoldbrunnen. Der Bildhauer Franz Metzner modellierte die drei auf dem Rand einer grünen Marmorschale stehenden Rheintöchter, die in den erhobenen Händen den Nibelungenhort tragen. Wie andere Arbeiten Metzners bewegten sich seine Nixen fern gängiger akademischer Schönheitsideale nach der Jahrhundertwende. Der Kritiker Maximilian Rapsilber attestierte den „kühlherzigen, herben, eckigen Nixen“ eine „wahrhaft abschreckende Hoheit, also dass kein Sterblicher ein Gelüsten nach ihnen hegen würde“. Der Guss der Bronzestatuen erfolgte durch die Gießerei G. Knodt in Frankfurt am Main.
Der Schatz ließ sich von Innen elektrisch erleuchten und sorgte im Zusammenspiel mit dem aus der Marmorschale aufsteigenden Wasserstrahl für Effekte, „als ob flüssiges Gold ein Flammengaukelspiel betriebe“.
==== Onyxsaal ====
Der Onyxsaal erhielt seinen Namen nach den Wandplatten aus Onyxmarmor, die die Wände und Pfeiler bedeckten. Der 230 Quadratmeter große rechteckige Raum war vier Meter hoch, und die als Zungenmauern ausgebildeten Stützen für den darüber liegenden „Bankettsaal“ bildeten an den Längsseiten je fünf Nischen. Während auf der westlichen Seite alle Nischen große, engsprossige Fenster aufnahmen, schlossen sich an der östlichen Seite an drei Nischen Durchgänge zu einem Nebenraum an. In diesem erreichten in zwölf Speiseaufzügen und einem Lastenaufzug die Speisen aus der Küche im Dachgeschoss das Restaurant. Die Aufnahmen aus dem Eröffnungsjahr zeigen ungefähr 50 Tische, die jeweils für vier Personen eingedeckt waren.
Die großen hell-grünlichgelben Onyxplatten aus den Pyrenäen kontrastierten wirkungsvoll mit ihren dunklen Bronzeeinfassungen. Ein Fries aus Bronze – abwechselnd ausgestanzte Quadrate, in denen der Stein sichtbar war, und mit einfachen Mustern gefüllte Bronze-Quadrate – trennte diesen Bereich von der oberen Wandzone. Die Längsseiten der Stützpfeiler bedeckten Stuckreliefs des Bildhauers Hermann Feuerhahn zu dem Thema „Poesie der Jahreszeiten“ mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter sowie Darstellungen der vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde und dem Emblem des Weinhauses Rheingold. An der Stirnseite sorgten in Bronze gefertigte Beleuchtungskörper zusammen mit zwei von der Decke hängenden, quadratischen Silberleuchtern der lothringischen Kristallmanufaktur Baccarat für stimmungsvolle Beleuchtung. Der obere Teil der Wände und die Decke waren in einem hellgelblichen Steinton gehalten.
Nach den eher dunklen, teils fensterlosen und deshalb nur künstlich beleuchteten Räumen, die die Besucher bis zum „Onyxsaal“ durchschritten hatten, wirkte der Raum wegen der hellen Materialien und der guten Beleuchtung durch die großen Fenster und die zahlreichen Lampen hell und heiter. Die Zeitschrift Der Profanbau sprach von „lichtgleißende[r] Glorie“ und „Champagnerstimmung“.
==== Bankettsaal ====
Der größte Saal im Zwischentrakt war der Bankettsaal im Garderobengeschoss, 6,25 Meter über dem Niveau der Bellevuestraße. Er stand mit dem Pfeilersaal des Hauptgebäudes über einen Vorraum in Verbindung, in dem je eine Treppe links und rechts des Durchganges zu den Emporen des „Bankettsaales“ führten. Am anderen Ende des Saales gelangten die Besucher in die Rotunde.
In Längsrichtung überwölbte eine Decke in Form eines Tonnengewölbes den durch zwei Geschosse gehenden Raum. Seitlich schnitten sich die Stichkappen über den hohen Rundbogenfenstern in das Hauptgewölbe ein, dessen Scheitel 9,2 Meter über dem Boden lag. Eher flach gehaltene Stuckaturen in an Barock erinnernden Formen bedeckten die grauweiße Putzdecke.
Bis zum Gewölbeansatz bedeckte beinahe schwarzes Wassereichenholz in schlichten, einfachen Formen die Wände. Auch für die Balkone der Emporen mit ihren schlichten, kompakten Brüstungen, die sich zwischen die Pfeiler spannten, wählte Bruno Schmitz das gleiche Holz. Die oberen Wandflächen waren in einem hellgelblichen Steinton gehalten.Die Eingangsbereiche an den Schmalwänden fassten portalartige Einbauten aus grauem, lebhaft geflammtem Schweizer Cipollino, „dessen Brüche erst vor zwei Jahren wiedereröffnet wurden“. Über dem Durchgang auf der Empore in Richtung Rotunde war Hermann Feuerhahns Bronzerelief Hagen mit den Rheintöchtern eingelassen. Den Durchgang in Richtung Hauptgebäude zierte der Feuerzauber Brünhildes. Beide Reliefs fertigte die Firma G. Knodt in Frankfurt.
Sein Licht erhielt der Raum am Tag durch die zahlreichen Fenster, die aus verschiedenfarbigen rechteckigen Glasstücken zusammengesetzt waren, teils auch mit figürlichen Darstellungen. Bei Dunkelheit erhellten je zwei Leuchten pro Stichkappe und Wandleuchter an den Pfeilern den Saal.
==== Rotunde ====
Die Rotunde, ein mehrgeschossiger zylindrischer Baukörper mit Radius 6,15 Meter, verband als Gelenk den Zwischentrakt mit dem Trakt an der Potsdamer Straße und vermittelte durch ihren runden Grundriss zwischen den spitzwinklig aufeinandertreffenden Flügeln.
Auf der Ebene des Küchengeschosses, bereits 1,75 Meter unter dem Niveau der Potsdamer Straße, querte eine Durchfahrt die Rotunde. Sie führte vom Wirtschaftshof an der Potsdamer Straße in den Hof im Inneren des Grundstücks, dessen Brandmauer gegen das Grand Hôtel Esplanade künstlerisch gestaltet war. Als Durchfahrt diente der 3,2 Meter hohe Raum jedoch nur in Ausnahmefällen. Hauptsächlich verband er den Muschelsaal im Trakt an der Potsdamer Straße mit dem Wotansaal im Zwischenbau. Den Niveauunterschied zu diesen angrenzenden Sälen glichen je drei Treppenstufen aus. Ein Ausgang führte auch zu einem Treppenhaus, das alle Geschosse des Zwischenbaues erschloss.
Auch die untere Rotunde im Erdgeschoss war als Übergangsraum ausgebildet. Einerseits verband der 4,0 Meter hohe Raum den Onyxsaal im Zwischenbau mit dem Mahagonisaal im Flügel an der Potsdamer Straße. Andererseits führten zwei entlang der Außenmauern geführte, geschwungene Stiegen ins Garderobengeschoss. Die Treppen begannen im „Mahagonisaal“ und waren in der Rotunde nur hinter einem dekorativ behandelten Lattenwerk aus beinahe schwarzer Wassereiche sichtbar. Die Treppenläufe verdeckten auch die beiden Fenster, sodass die untere Rotunde nur durch die Treppen mit ihrem Gitterwerk gedämpftes Licht erhielt. Das Zentralblatt der Bauverwaltung berichtete von „eigenartige[r] geometrische[r] Bemalung der Putzflächen, welche an Stoffbespannung erinnert“ und auch die rot-schwarze Decke passte zum durch den starken Gegensatz der Farben geprägten Raum.
Im Garderobengeschoss, wo die Treppenläufe endeten, nahm die Rotunde ein Restaurant auf. In Anlehnung an die Gestaltung des angrenzenden „Ebenholzsaales“ im Trakt an der Potsdamer Straße erhielt der 3,6 Meter hohe Raum Wände aus Ebenholz. Die silbergraue Decke überzog ein Muster aus leicht mit Farbe gehöhtem Kammputz. In Richtung Bellevuestraße schloss sich der „Bankettsaal“ an. Zwei Fenster beleuchteten den geradezu „ernst, monumental“ wirkenden Raum.
Die Blaue Rotunde im Saalgeschoss erreichten die Besucher entweder von der Galerie des Bankettsaales oder über das an die Rotunde anschließende Treppenhaus. Da sich im Trakt an der Potsdamer Straße keine weiteren Säle, sondern nur noch eine Küche befand, hatte der Raum keine Durchgangsfunktion zu erfüllen. Bruno Schmitz gestaltete einen „zu besonderen kleinen Festlichkeiten bestimmten Raum“.Umlaufende Pfeilerstellungen gliederten den zweigeschossigen, 7,6 Meter hohen Raum, den eine blau ausgemalte Flachkuppel mit großer Goldrosette überdeckte. Die acht Pfeiler aus weißem Marmor endeten in riesigen Menschenköpfen, gekrönt von elektrischen Beleuchtungskörpern. Sie trugen in der Höhe von ungefähr drei Metern eine Galerie. Ihre Brüstung schmückte ein Spruch des Schriftstellers Emil Jacobsen:
Von Jacobsen stammen auch die Sprüche und Verse, die in den anderen Räumen wie zum Beispiel dem „Pfeilersaal“ im Saalbau in dekorativen Schriften die Wände schmückten. Kuppel wie die Wandflächen und Brüstung gestaltete der Maler August Unger. Der Raum „in gedämpfter blaugrüner Beleuchtung“ erinnerte die Zeitschrift für Bauwesen an einen „vorgeschichtlichen Götzentempel“, während er für die Zeitschrift Der Profanbau eher „das geheimnisvolle Gebaren eines Isistempels“ hatte.
=== Neben- und Wirtschaftsräume ===
Das teure Grundstück erforderte eine größtmögliche Ausnutzung, soweit es die baupolizeilichen Vorschriften gestatteten. Die für die Restaurationsräume vorgesehene Fläche entsprach ungefähr der Fläche der Neben- und Wirtschaftsräume zusammen. Die Neben- und Wirtschaftsräume fanden sich mehrheitlich in den für Kundenräume wenig attraktiven Keller- und Dachgeschossen. Um diesen riesigen Flächenbedarf abzudecken, verfügte das Weinhaus Rheingold als einer der ersten Großbauten in der Berliner Innenstadt über zwei voll nutzbare Kellergeschosse.
Die Sohle des unteren Kellergeschosses lag 5,50 Meter unter dem Straßenniveau, der Grundwasserpegel bei 3,15 Meter, womit der Keller 2,35 Meter im Grundwasser stand. Nach unten dichtete eine 90 Zentimeter starke, teils eisenarmierte Betonplatte mit einer 20 Millimeter starken Isolierschicht aus drei Lagen verklebter Bitumenpappe mit Überzug aus heiß aufgebrachter Goudronmasse. Die gleichartige, an den Seitenwänden bis 30 Zentimeter über den Grundwasserstand hochgezogene Bitumenpappe-Isolierung dichtete gegen das seitlich eindringende Grundwasser.Die Kellerräume erstreckten sich bis zu den Grundstücksgrenzen. Das untere Kellergeschoss nahm neben den Kühlräumen vor allem Nebenräume mit technischen Einrichtungen wie den Kesselraum der Heizung, den Pumpenraum oder den Ölraum für die Generatoren auf. Der Maschinenraum gegen die Potsdamer Straße, dessen 28 Meter langes und 4,50 Meter breites Maschinenfundament weitere 1,4 Meter tiefer lag als die Sohle des Kellerbodens, reichte bis in das zweite Kellergeschoss, in den Plänen als Küchengeschoss bezeichnet. In das Küchengeschoss schnitten sich die drei gegenüber dem Straßenniveau vertieft liegenden Höfe ein. Die Fläche unter dem Flügel an der Bellevuestraße teilten sich die Hauptküche des Weinhauses und der Weinkeller, der sieben Millionen Flaschen Wein fasste.
==== Küchen ====
Das Weinhaus Rheingold verfügte über drei Küchenanlagen, je eine für jeden Bauteil. Die Küche für den Bau an der Bellevuestraße befand sich im Küchengeschoss unter den zu versorgenden Restaurants. Die größte Küchenanlage des Hauses, gut ausgerüstet mit elf Kochmaschinen, sechs großen Dampfkochtöpfen, zahlreichen Grills und Wärmeschränken, erstreckte sich über rund zwei Drittel der Geschossfläche unter dem Saalbau. Zudem nahm sie spezielle Einrichtungen auf, wie die Konditorei und die Kupfer- und Silberabwaschräume. 25 Speiseaufzüge, teilweise mit elektrischen Heizspiralen beheizt, um das Auskühlen der Speisen zu verhindern, transportieren die Speisen in die verschiedenen Restaurants des Traktes an der Bellevuestraße wie etwa den „Kaisersaal“. Die Küchen des Weinhauses Rheingold beschäftigten im Eröffnungsjahr 137 Angestellte, 70 davon arbeiteten in der Hauptküche. Die Küchen zur Versorgung der Säle im Verbindungsbau und im Seitenflügel an der Potsdamer Straße befanden sich über den zugehörigen Restaurants im Dachgeschoss und im Saalgeschoss, mit denen sie ebenfalls über Speiseaufzüge verbunden waren. Den kleineren Sälen und der geringeren Anzahl der Gäste entsprechend kleiner dimensioniert, waren sie wie die Hauptküche hygienisch mit weiß gefliesten Wänden, Pfeilern und Decken versehen, während ein glatter, heller Fliesenbelag den Boden bedeckte.
==== Kühlräume ====
Die sieben Hauptkühlräume zur Aufbewahrung der verderblichen Lebensmittel wie Fleisch, Fisch, Geflügel, Butter, Käse und Gemüse bedeckten zusammen eine Fläche von ungefähr 160 m² im Kellergeschoss. Der jeweilige Tagesbedarf der drei Küchen lagerte in zehn weiteren Kühlräumen von je 15 bis 20 Quadratmeter Fläche in den Küchen selber. Imprägnierte Korkplatten isolierten die Kühlräume von der Umgebung. Ihre Wände, Decken und Böden waren mit weißen Fliesen ausgekleidet. Die Kälte produzierte eine von August Borsig in Berlin-Tegel gelieferte Kompressionskältemaschine mit Schwefeldioxid als Kältemittel. Ein Rohrsystem mit Korkummantelung verteilte die auf −12 °C gekühlte Salzsole vom Kellergeschoss in die verschiedenen Kühlräume, deren Temperatur je nach Art der Lebensmittel zwischen +2 und +6 °C eingestellt war. Die Kühlmaschine produzierte zusätzlich täglich zwei Tonnen Eis für den Bedarf in den verschiedenen Restaurants des Weinhauses.
==== Dampfwäscherei ====
In einer eigenen Dampfwäscherei wurde die gesamte im Haus anfallende Wäsche gewaschen und gebügelt. Die gebrauchte Tischwäsche erreichte über Wurfschächte in den Speisesälen die Wäschesammelstelle im Keller. Von dort gelangte sie in die Waschküche und das zugehörige Wäschelager im dritten Geschoss des Seitenflügels an der Potsdamer Straße auf der Höhe des Emporengeschosses. Die technische Einrichtung für die mit weißen Fliesen verkleideten Räume lieferte die Firma H. Timm in Berlin, darunter vier große Waschtrommeln, drei Wäschezentrifugen und zwei Zylindermangeln. Den zum Betrieb erforderlichen Dampf lieferten die Niederdruck-Dampfkessel im Kesselraum des Kellergeschosses.
== Technische Einrichtungen ==
Schon die Größe des Weinhauses stellte besondere Anforderungen an die technischen Anlagen. Dazu kam der tief im Grundwasser gelegene Keller und der Wunsch des Bauherrn, das Haus möglichst unabhängig von äußeren Einflüssen zu betreiben. Aus wirtschaftlichen Überlegungen sollten die Betriebskosten möglichst gering gehalten werden – Überschlagsrechnungen veranschlagten beispielsweise allein die jährlichen Kosten für elektrische Beleuchtung auf ca. 55.000 Mark. Daher verfügte das Weinhaus Rheingold über eigene Brunnen und erzeugte die Elektrizität selber, wobei die Abwärme der Generatoren zugleich der Warmwasseraufbereitung diente.
=== Elektrische Anlagen ===
Den elektrischen Strom für die 5212 Tantallampen, 544 Kohlefaden-Kerzenlampen und die 51 Bogenlampen sowie für den Betrieb der zahlreichen Pumpen, Ventilatoren, Personen- und Warenaufzüge sowie der Eismaschinen produzierten drei Gleichstrom-Nebenschluss-Dynamomaschinen mit je 204 Kilowatt Leistung, die jeweils direkt mit einem Dieselmotor gekoppelt waren. Die Beleuchtungsanlage und die Generatoren wurden von der Firma Siemens-Schuckert-Werke GmbH in Berlin hergestellt. Die Maschinenfabrik Augsburg lieferte die drei vierzylindrigen Dieselmotoren von je 300 PS, die mit 175 Umdrehungen pro Minute liefen. Die Maschinen waren im Maschinenkeller unter dem Trakt an der Potsdamer Straße untergebracht. Der acht Meter breite, 35 Meter lange und fünf Meter hohe Raum lag 5,5 Meter unter dem Straßenniveau, erhielt aber direktes Tageslicht durch einen zwei Meter breiten Lichtschacht an der Längsseite. Der 13 Kubikmeter fassende Brennstofftank fand sich direkt neben dem Maschinenkeller unter der Hofeinfahrt. Zu den elektrischen Anlagen zählten auch die aus 125 Elementen bestehende Akkumulatorenbatterie, untergebracht in zwei übereinander liegenden Kellerräumen von je 60 Quadratmeter Fläche. Während des Betriebs parallel zu den Maschinen geschaltet, glichen sie Spannungsschwankungen der Generatoren und des Leitungsnetzes aus und waren in der Lage, das Haus nach Ausfall der Maschinen noch beinahe drei Stunden mit Strom zu versorgen. Diese Anlage lieferte die Akkumulatoren-Aktien-Gesellschaft in Hagen. Die elektrischen Leitungen, unter 220 Volt Spannung stehend, waren in Nebenräumen wie Küchen, Keller oder auf dem Dachboden sichtbar über dem Putz auf Rollen geführt.
=== Kalt- und Warmwasseranlagen ===
Zwei Tiefbrunnen auf dem Grundstück an der Potsdamer Straße förderten Grundwasser aus 48 Meter Tiefe. Eine elektrisch betriebene Hochdruckzentrifugalpumpe mit einer Förderleistung von 1200 Litern pro Minute pumpte das wie im gesamten Berliner Raum stark eisenhaltige Wasser durch eine Enteisenungsanlage im Dachgeschoss zu den beiden darüber stehenden Kaltwasserbehältern mit je acht Kubikmetern Fassungsvermögen. Von dort erfolgte die Weiterverteilung in das ganze Haus. Eine zweite Pumpe diente als Reserve und eine Schwimmkontaktvorrichtung unterbrach die Förderung der Pumpe, wenn beide Behälter voll waren. Deckte die selbst geförderte Menge die Nachfrage nicht, ergänzte Wasser aus dem städtischen Netz den Bedarf.
Zur Erzeugung von Warmwasser wurde als frühes Beispiel von Kraft-Wärme-Kopplung das Kühlwasser der großen Dieselmotoranlage genutzt. Das Wasser erhitzte sich dabei auf circa 80 °C und floss in zwei verzinkte Warmwasser-Reservoirs von zusammen 60 Kubikmeter im Keller. Von dort pumpte eine Hockdruckzentrifugalpumpe das warme Wasser zu den Warmwasserbehältern im Dachgeschoss. Das Kühlwasser deckte nicht den ganzen Bedarf – den Rest des Warmwassers lieferte ein herkömmlicher Heizkessel im Kesselraum unter dem Hof an der Potsdamer Straße.
=== Entwässerung ===
Die tiefe Lage eines Teils des Kellers unter dem Niveau des städtischen Abwasserkanals erforderte spezielle Vorkehrungen. Einerseits war eine Ableitung über das natürliche Gefälle so nicht möglich, andererseits drohte der bei Regenwetter schnell überlastete Kanal an der Bellevuestraße die große Küche im unterirdischen Küchengeschoss durch Rückstau unter Wasser zu setzen.
Schlossen sich bei Überlastung der städtischen Kanalisation in der Bellevuestraße die selbsttätigen Rückstauklappen, floss das im Haus anfallende Abwasser als Überlauf über Notleitungen, die höher lagen als die Hauptkanalisationsleitungen, in einen Gully. Dieser sammelte gleichzeitig das Wasser aus den tiefer als die Kanalisation liegenden Kellerbereichen, etwa das Überlaufwasser der Warmwasserbehälter oder das über die Kellertreppen eindringende Regenwasser. Eine Zentrifugalpumpe beförderte das Wasser aus dem Gully in den weniger überlasteten Kanal an der Potsdamer Straße. Die Anlagen lieferte die Allgemeine Städte-Reinigungsgesellschaft mbH in Berlin.
=== Heizung und Lüftung ===
Der Kesselraum der Niederdruckdampfheizung befand sich unter dem Wirtschaftshof an der Potsdamer Straße. Die mit Kohle beheizte Anlage aus sechs Dampfkesseln gliederte sich in zwei Gruppen, wovon die größere mit vier Kesseln ausschließlich der Erzeugung des Dampfes für die Heizung diente. Die kleinere Gruppe mit zwei Heizkesseln produzierte den Dampf für die Küchen und die Waschküche, ließ sich aber bei Bedarf der Heizung zuschalten.Die Heizungsanlage war so bemessen, dass sie nur rund 80 Prozent der Wärme erzeugte, die für eine Innentemperatur von 20 °C erforderlich war. Den Rest des Wärmebedarfes ergänzte die Lüftung. Durch diese Kopplung der Heizung mit der Lüftung musste auch die Lüftungsanlage permanent in Betrieb gehalten werden. Dies wiederum sicherte einen ausreichenden Luftaustausch in den Räumen des Weinhauses Rheingold.Die Restaurationsräume verfügten über eine Drucklüftung, wo frische und bei Bedarf vorgewärmte Luft in den Raum hineingedrückt wurde – 20 Kubikmeter pro Gast und Stunde. In den Küchen und Sanitäranlagen, wo die Luft fünffach pro Stunde erneuert wurde, verhinderte eine Sauglüftung die Ausbreitung übler Gerüche. Drei Ventilatoren im Keller unter dem Wirtschaftshof an der Potsdamer Straße saugten die frische Außenluft an. Ein 40 Quadratmeter großer, im Hoffußboden eingebauter Koksfilter befreite die Frischluft von Staub und Ungeziefer. In drei Heizungskammern, je eine pro Ventilator und mit unterschiedlicher Temperatur, ließ sich die Luft durch Rippenheizkörper erwärmen. Durch Mischung der Warmluft verschiedener Temperatur, bei Bedarf auch mit Kaltluft, konnte die Luft auf die gewünschte Temperatur eingestellt werden, bevor sie über die Lüftungskanäle in die Räume strömte. Schmitz integrierte die Öffnungen der Lüftungskanäle geschickt in die Architektur der einzelnen Räume. Die gesamte Heizungs- und Lüftungsanlage, geliefert von der Firma David Grove in Berlin, ließ sich zentral vom Bedienungszentralraum im Keller aus regeln.
== Kritik ==
Die zeitgenössische deutsche Architekturpresse berichtete in den Hauptzügen positiv, teils beinahe enthusiastisch über den Neubau. Die Deutsche Bauzeitung etwa sah im Weinhaus Rheingold eine „der bedeutendsten baukünstlerischen Schöpfungen der Gegenwart, ein Werk von größtem Wurf und von sieghafter Gestaltungskraft“. Die Berliner Architekturwelt zählte den Bau mit Alfred Messels nahegelegenem Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz zu den „besten Bauwerken unserer Zeit“. Auch die Zeitschrift Der Profanbau sah im Weinhaus Rheingold das „vollgewichtige Gegenstück“ zu Messels Warenhausbau, das gleiches für den Begriff „Aschinger“ leisten werde, wie der Messelbau für den „Begriff Wertheim und überhaupt für die Nobilitierung des Warenhauses“. War der Deutschen Bauzeitung „keine neuere Schöpfung des Auslandes bekannt, welche an das Rheingold heranreicht“, fand umgekehrt das Gebäude keine Würdigung in der zeitgenössischen Architekturpresse des Auslands. Die Vossische Zeitung würdigte den Neubau 1907 als „glanzvolles Neujahrsgeschenk, welches die Aschinger-Gesellschaft der Reichshauptstadt darbringt“, das Weinhaus Rheingold stehe „auf dem ganzen Erdenrund einzig und unvergleichlich da.“Anerkennung fand auch das kulturelle Engagement der Aktiengesellschaft Aschinger – teils mit Seitenhieben auf die „Bierquellen“, denen „plötzlich märchenhafte Goldströme für höchste Kunst“ entfließen – und ihre Wahl von Bruno Schmitz als Architekten, der „die Geschmacklosigkeit eines goldmosaik-strotzenden, romanisierend-byzantinisierenden Kaisersaales zur Vertilgung von Münchner Bier- und Bockwürsten, wie wir solchen schon einmal in Berlin haben, […] nimmermehr mitgemacht“ haben würde.Auf Kritik dagegen stieß der Missklang zwischen der ambitiösen künstlerischen Gestaltung des Weinhauses Rheingold und der eher profanen Nutzung als Großrestaurant. Der französische Journalist Jules Huret besuchte auf seiner Deutschlandreise in Berlin das neu eröffnete Haus und fragte in seinem 1909 erschienenen Reisebericht:
Er würdigte die Anstrengungen zur Gestaltung mit den Worten:
Der Kunstkritiker Max Osborn erwähnte bereits 1909 im 43. Band der Reihe Berühmte Kunststätten mit der Gesamtdarstellung der Kunstgeschichte Berlins das Weinhaus Rheingold, „dessen feierliche Front (mit Reliefgestalten von Franz Metzner) und überprächtige, wenn auch durch vorzügliche Behandlung in echten Materialien ausgezeichnete Innenausstattung nur mit dem Beruf des Hauses nicht im Einklang steht“.Ein Teil der Zeitgenossen störte sich am nicht naturalistischen, ornamentalen Umgang Franz Metzners mit dem menschlichen Körper. Die Deutsche Bauzeitung etwa berichtete, dass „seine Kunstauffassung auf den stärksten Widerspruch des überlieferten Geschmacks gestoßen“ sei. Zeigte das Zentralblatt der Bauverwaltung Verständnis für „ein gewisses unbehagliches Gefühl“, das die „vergewaltigten Körper“ erzeugten, distanzierten sich die anderen Fachkritiker davon. So schrieb Theodor Heuss, der spätere erste Bundespräsident und seinerzeit Kritiker der Neudeutschen Bauzeitung: „Ich stoße mich nicht daran, daß die Männer, die da in Holz oder anderem Material an den Pfeilern und Wandverkleidungen gebildet wurden, enthauptet sind und dafür immerhin fragmentarischen und fragwürdigen Ersatz erhalten haben.“ Er lobte die Bemühungen Schmitz’ zur Wiederbelebung der „Plastik in der Baukunst“ in der äußeren Gestaltung des Bauwerks und in den großen Räumen des Weinhauses Rheingold, insbesondere dem „Kaisersaal“. Für die kleineren Kabinette und Säle dagegen wirke „die monumentale Plastik gewaltsam und als eine Last“ und das „zu große Maß der Plastik“ erdrücke den Raum.
Auch der Architekturhistoriker Julius Posener verglich 1977 in seiner Publikation Berlin auf dem Weg zu einer neuen Architektur 1889–1918 das Weinhaus Rheingold mit Messels Warenhaus Wertheim. Er attestierte der Rheingold-Fassade eine überlegene Qualität und größere Modernität – „Nur lag Messels Leipziger Straßenfront auf dem Weg, der weiterführte. Die Rheingoldfront stellt die schönste Ausprägung eines errungenen Standes der Kunst dar, steht also eher am Ende eines Weges.“
== Mangelnde Rentabilität von Aschingers Prestigeobjekt ==
Die Euphorie des Konzerns nach der Eröffnung am 6. Februar 1907 wich schnell Sorgen wegen Problemen in den Betriebsabläufen und der mangelnden Kostendeckung des Weinhauses Rheingold. Bereits im Juli 1907 bat deshalb Carl Aschinger seinen Bruder August wieder in das operative Geschäft einzutreten, obwohl er als Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft Aschinger eigentlich nur noch überwachende und repräsentative Funktionen wahrnehmen sollte. August Aschinger vermerkte in einer Notiz, dass die „finanzielle Seite des Rheingoldes […] wirtschaftlich einfach unmöglich“ war und „in der Tat die anderen Geschäfte aufgefressen“ hätte. „Dieses Haus betriebsfähig zu stellen, war die größte Aufgabe meines Lebens.“ Probleme verursachte zum Beispiel die überdimensionierte Ausdehnung des Weinhauses Rheingold. So erkalteten die Speisen auf ihrem Weg zu den Gästen trotz der elektrisch beheizten Speiseaufzüge. Besuchten mehr als 3000 Gäste das Lokal, kamen die Küchen an ihre Kapazitätsgrenzen. Lange Wartezeiten sowie lauwarme oder gar kalte Speisen waren keine gute Reklame für das Vorzeigeobjekt des Aschinger-Konzerns und keine gute Basis für den Aufbau eines Kundenstamms. Durch den Einbau zusätzlicher Küchen und Wirtschaftsräume noch im Jahr 1907, vermutlich gekoppelt mit Verbesserungen im Service, gelang es August Aschinger, die Probleme in den Betriebsabläufen zu lösen.Die Ertragslage blieb aber weiterhin schlecht, die Umsätze deckten kaum die laufenden Kosten. Bei dieser schlechten Ertragslage rentierten sich zudem die hohen Investitionskosten für das Grundstück und das Gebäude nicht. Die ursprüngliche Kalkulation des Gastronomiebetriebes war bereits bei der Eröffnung des Weinhauses Rheingold als Folge der baupolizeilich verordneten Nutzungsänderung und der Baukostenüberschreitung von einer Million Mark überholt. Dort hatte Aschinger „bei etwas erhöhten Weinpreisen“ mit „billige[n] und gute[n] Speiseportionen zu den Grundpreisen von M. 0,80 und M. 1,30“ und 3800 Sitzplätzen kalkuliert. Die schwache Umsatzrentabilität des Weinhauses Rheingold innerhalb des Aschinger-Konzerns illustrieren beispielhaft die Zahlen von Januar 1911. Die 30 „Bierquellen“ erzielten bei einem Umsatz von 1,1 Millionen Mark einen Gewinn von 160.000 Mark und damit eine Umsatzrentabilität von 14,6 Prozent. Das Weinhaus Rheingold dagegen erreichte bei einem Umsatz von 300.000 Mark einen Gewinn von 15.000 Mark und damit nur fünf Prozent Umsatzrendite, also rund ein Drittel. Besser investiert hatte der Konzern in das nahegelegene Hotel Fürstenhof am Potsdamer Platz, die Rentabilität erreichte dort 22,2 Prozent basierend auf einem Gewinn von 30.000 Mark bei einem Umsatz von 135.000 Mark.Der Nachruf auf Carl Aschinger in der Deutschen Gastwirthe-Zeitung vom 8. Mai 1909 gibt ein Bild des weiterhin ausbleibenden Erfolgs des Weinhauses Rheingold. Gleichmäßig hohe Gästezahlen blieben aus und die Auslastung war nur sonntags einigermaßen befriedigend, sodass unter der Woche die meisten Säle geschlossen blieben. Küche und Keller waren „nicht auf der Höhe“ und standen hinter der Konkurrenz zurück. Das mit so hohen Ansprüchen gebaute Lokal konnte weder die Berliner Mittel- noch Oberschicht dauerhaft als Stammgäste gewinnen und wurde zum Touristenlokal. Griebens Reiseführer Berlin und Umgebung empfahl 1909 das Weinhaus Rheingold als „hochelegantes Wein- und Bier-Restaurant“. Etwas kritischer reihte Baedekers Berlin und Umgebung das Lokal 1910 unter die „nicht so anspruchsvollen“ Weinrestaurants ein, erwähnte aber beim Stadtrundgang am Potsdamer Platz „das prunkvoll ausgestattete Weinhaus Rheingold, von Bruno Schmitz erbaut, mit Skulpturen von F. Metzner“. Als Touristenattraktion mit mangelnder Rentabilität blieb das Weinhaus Rheingold ein wirtschaftlicher Fehlgriff des sonst so erfolgreichen Aschinger-Konzerns.
== Zwischenkriegszeit ==
In den wirtschaftlich schwierigen Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg erwog der Konzern 1919 den Verkauf des Weinhauses Rheingold. Doch die bereits durch den Aufsichtsrat genehmigten Verkaufspläne, die 15 Millionen Mark einbringen sollten, zerschlugen sich. Die im Kaiserreich moderne Ausstattung des Weinhauses Rheingold mit ihren Jugendstilanklängen galt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als veraltet. Zu Beginn der 1920er Jahre vermerkte Griebens Reiseführer abendliche Konzertveranstaltungen, dazu sollten ab 1922 Tanz- und Kabarettveranstaltungen die Attraktivität des Lokals steigern. Der Erfolg ließ weiter auf sich warten und der Konzernvorstand stellte 1928 resigniert fest, dass das Weinhaus Rheingold „nicht annähernd seine Unkosten deckt, geschweige denn von einem Verdienst die Rede sein kann.“ Mit der Weltwirtschaftskrise verschärfte sich die Situation 1930, da wegen der eingebrochenen Erträge die Quersubvention des Weinhauses Rheingold durch andere Aschinger-Betriebe wegfiel und der Konzern 1931 in ernste finanzielle Schwierigkeiten geriet. Das Weinhaus Rheingold blieb in den Jahren 1931/1932 ganz geschlossen und fand auch in Baedekers Berlin und Umgebung 1933 keine Erwähnung mehr. Ab 1935 brachte die Verköstigung der zahlreichen Reisegruppen, die mit der Organisation „Kraft durch Freude“ nach Berlin reisten, und Veranstaltungen vaterländischer Vereinigungen etwas bessere Auslastung. Im Zweiten Weltkrieg diente das Weinhaus Rheingold als Truppenunterkunft, allerdings musste im Winter 1940 der Betrieb wegen Kohlemangel eingestellt werden.
== Verkauf und Zerstörung ==
Im Januar 1943 weckte ein Bericht der Berliner Börsen-Zeitung über die Verkaufsabsichten der Firma Aschinger für das Weinhaus Rheingold das Interesse mehrerer Reichsministerien. Das Grundstück lag nahe der neuen, prestigeträchtigen Nord-Süd-Achse in den Planungen Albert Speers für die Welthauptstadt Germania. In den Akten des ehemaligen Aschinger-Konzerns, verwahrt im Landesarchiv Berlin, findet sich ein Vorvertrag mit dem Finanzministerium, der den Verkaufspreis auf sechs Millionen Mark festlegte. Den Zuschlag erhielt schließlich 1943 die Deutsche Reichspost. Bei einem Bombenangriff im gleichen Jahr erlitt der Bau schwere Schäden, und das beim Verkauf eingelagerte Inventar des Weinhauses im Wert von 250.000 Reichsmark verbrannte bei einem Angriff im Frühling 1944.Die Karte der Gebäudeschäden von 1945 wies das Gebäude als „beschädigt aber wiederaufbaufähig“ aus, trotzdem erfolgte eine schnelle Beseitigung der Ruinen des Weinhauses Rheingold in den ersten Nachkriegsjahren. Fotografien zeigen bereits zu Beginn der 1950er Jahre das enttrümmerte Grundstück. Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 lief die als Umgehung des nicht mehr zugänglichen Potsdamer Platzes zur Bellevuestraße verlängerte Linkstraße über die Baubrache. In diese Verlängerung mündete auch die 1966 für den Neubau der West-Berliner Staatsbibliothek umgelegte Potsdamer Straße, ebenfalls über das Gelände des ehemaligen Weinhauses Rheingold.
Mit der Neubebauung des Potsdamer Platzes nach der deutschen Wiedervereinigung änderte sich die Situation erneut. Während die Verlängerung der Linkstraße wieder aufgehoben wurde, teilt die bis zum Potsdamer Platz durchgezogene Potsdamer Straße das Grundstück. Ungefähr an der Stelle des Saalbaus an der Bellevuestraße steht heute der BahnTower, während der gegenüberliegende Kollhoff-Tower unter anderem die Fläche des ehemaligen Vorderhauses an der Potsdamer Straße einnimmt.
== Literatur ==
Alexander Koch: Professor Bruno Schmitz’ Haus Rheingold Berlin. (Kochs Monographien XIII), Verlagsanstalt Alexander Koch, Darmstadt, ohne Jahr (1907).
Brüstlein: Das Weinhaus Rheingold in Berlin. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, 27. Jahrgang 1907.
Nr. 29, 6. April 1907, S. 198–202 (1. Teil); zlb.de
Nr. 31, 13. April 1907, S. 210–213 (2. Teil); zlb.de
Karl-Heinz Glaser: Aschingers „Bierquellen“ erobern Berlin. Aus dem Weinort Oberderdingen in die aufstrebende Hauptstadt. Verlag Regionalkultur, Heidelberg 2004, ISBN 3-89735-291-5, S. 83–99.
Hermann Hinderer: Weinhaus Rheingold. In: Der Baumeister, 5. Jahrgang, 1907, Heft 7, S. 73–84, S. 87–91.
Karl-Heinz Hüter: Architektur in Berlin. Kohlhammer, Stuttgart 1988, ISBN 3-17-009732-6, S. 46–48.
Theodor Heuss: Rheingold von Bruno Schmitz. In: Neudeutsche Bauzeitung, 3. Jahrgang 1907, S. 145–148.
Leo Nachtlicht: Weinhaus Rheingold in Berlin. In: Berliner Architekturwelt, 10. Jahrgang 1907/1908, Heft 1, April 1907, S. 5–40; zlb.de (13 kB).
Julius Posener: Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur: das Zeitalter Wilhelms II. Prestel, München 1979, ISBN 3-7913-0419-4, S. 85, S. 100–105.
Maximilian Rapsilber: Das Weinhaus Rheingold. In: Der Profanbau, 3. Jahrgang 1907, S. 94–100, S. 105–108, S. 117–119, S. 138–143.
Hans Schliepmann: Bruno Schmitz (= XIII. Sonderheft der Berliner Architekturwelt). Ernst Wasmuth, Berlin 1913, S. VIII.
Hans Schliepmann: „Haus Rheingold“ in Berlin. Eine Meisterschöpfung von Bruno Schmitz. In: Deutsche Kunst und Dekoration. Illustrierte Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst und künstlerische Frauenarbeiten, Jahrgang 1907, S. 1–60.
Der Neubau des Weinhauses „Rheingold“ der Aktien-Gesellschaft Aschinger in der Bellevue- und der Potsdamer Straße zu Berlin. In: Deutsche Bauzeitung, 41. Jahrgang, 1907, S. 85–89, S. 111–112, S. 121–125, S. 257–259, S. 261–265, S. 269–273.
Die Metallarbeiten im Weinrestaurant Rheingold, Bellevue und Potsdamer Straße in Berlin. In: Bautechnische Zeitschrift, 23. Jg., 1908, S. 107, S. 196–200.
== Weblinks ==
Entwurfszeichnungen. Architekturmuseum der TU Berlin
Weinhaus Rheingold. potsdamer-platz.org
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Weinhaus_Rheingold
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Wolfgang Diewerge
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= Wolfgang Diewerge =
Wolfgang Diewerge (* 12. Januar 1906 in Stettin; † 4. Dezember 1977 in Essen) war ein nationalsozialistischer Propagandist in Joseph Goebbels’ Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Sein Spezialgebiet war die antisemitische Öffentlichkeitsarbeit, vor allem im Zusammenhang mit Prozessen im Ausland, die sich propagandistisch verwerten ließen. Er spielte auch eine wesentliche Rolle bei der Vorbereitung eines Schauprozesses gegen Herschel Grynszpan, dessen Attentat auf einen deutschen Botschaftsmitarbeiter in Paris den Nationalsozialisten als Anlass für die Novemberpogrome 1938 gedient hatte. In Millionenauflage erschienen 1941 seine Pamphlete zum so genannten Kaufman-Plan und zur Sowjetunion. Nach dem Krieg gelang Diewerge über die FDP Nordrhein-Westfalen ein erneuter Einstieg in die Politik. Durch das Eingreifen der britischen Besatzungsbehörden sowie einer Kommission des Bundesvorstandes der FDP wurde dieses Intermezzo jedoch abrupt beendet. 1966 wurde Diewerge aufgrund seiner unter Eid getätigten Aussagen über den von den Nationalsozialisten geplanten Grynszpan-Prozess wegen Meineids verurteilt. Schließlich war er als Geschäftsführer zweier Vereine in die Flick-Spendenaffäre verwickelt.
== Herkunft und frühe Jahre ==
Diewerges Vater war Wilhelm Diewerge, ein Stettiner Mittelschullehrer und späterer Schulrektor in Stargard in Pommern; seine Mutter hieß Hedwig, geborene Grell. Wolfgang Diewerge hatte einen drei Jahre jüngeren Bruder, Heinz Diewerge, der während des NS-Regimes als Volkskundler, Lehrerausbilder sowie Mitglied der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums Karriere machte; Heinz Diewerge starb 1939 an einer Kriegsverletzung, die er sich beim Überfall auf Polen zugezogen hatte.Wolfgang Diewerge besuchte das traditionsreiche Gröningsche Gymnasium in Stargard und legte dort 1924 sein Abitur ab. Danach studierte er in Jena und Berlin Jura. Die erste juristische Staatsprüfung absolvierte er 1929. Es folgte das Referendariat am Kammergericht in Berlin, mit einem mehrmonatigen Auslandsaufenthalt als Gerichtsreferendar am deutschen Konsulargericht in Kairo sowie bei dem deutschen Rechtsanwalt Felix Dahm, der dort beim Gemischten Gericht zugelassen war. Im Frühling 1933 stellte Diewerge einen Antrag auf Abkürzung der juristischen Staatsprüfung, im November desselben Jahres legte er schließlich sein Assessorexamen ab.Politisch orientierte Diewerge sich frühzeitig an völkischen und nationalsozialistischen Gruppen. So wurde er nach eigenen Angaben als 17-Jähriger im Oktober 1923, also noch als Schüler, Mitglied des Schlageter-Gedächtnisbundes und schloss sich im August 1924 in Leipzig der Schwarzen Reichswehr an. Seit 1927 schrieb er gelegentlich für nationalsozialistische Zeitungen und Zeitschriften, so für den Angriff, den Völkischen Beobachter, den Westdeutschen Beobachter, die Nationalsozialistischen Monatshefte und die antisemitische Satirezeitschrift Die Brennessel. Zum 1. August 1930 trat er der NSDAP bei (Mitgliedsnummer 278.234); er soll bereits früher unter dem Decknamen Diege NSDAP-Mitglied gewesen sein. Schon vor 1933 übernahm Diewerge diverse Parteiämter in Berlin, vom Bezirkspropagandawart über den Schulungsleiter bis zum stellvertretenden Ortsgruppenleiter. Zudem stellte er verschiedenen nationalsozialistischen Organisationen, etwa der Gaurechtsstelle Berlin der NSDAP und der Gefangenenbetreuung der SA, seine juristischen Kenntnisse zur Verfügung und trat als Gauredner auf.
== Nationalsozialistischer Propagandist ==
1933 wurde Diewerge Reichsgeschäftsführer der Deutschen Turnerschaft und feierte das Ende Juli stattfindende Stuttgarter Turnfest als ein „Volksfest im nationalsozialistischen Sinne“, in dem sich „wahre Volks- und Schicksalsgemeinschaft“ manifestiere. In diesem Jahr brachte er es auch zum Abteilungsleiter der Rechtsabteilung des „Nationalsozialistischen Kampfbundes für den gewerblichen Mittelstand – Gau Groß-Berlin“. Ferner war Diewerge Abteilungsleiter in der NSDAP-Auslandsorganisation. Anfang 1934 trat er zum ersten Mal öffentlich hervor. Anlass war ein hochgradig politisierter Prozess in Kairo – die ägyptische Hauptstadt war ihm ja bereits aus seiner Referendariatszeit vertraut.
=== Profilierung in antisemitischer Öffentlichkeitsarbeit: Der Kairoer Prozess ===
Der Leiter der Kairoer Siemens-Niederlassung und Präsident des Deutschen Vereins in Kairo, Wilhelm van Meeteren, hatte dort Mitte 1933 eine antisemitische Broschüre mit dem Titel „Die Judenfrage in Deutschland“ veröffentlicht. Daraufhin hatte der jüdische Geschäftsmann Umberto Jabès mit Unterstützung der Ligue Internationale Contre l'Antisémitisme (LICA, d. h. der Internationalen Liga gegen den Antisemitismus) van Meeteren auf Schadensersatz wegen Beleidigung verklagt. Die Verhandlung sollte vor einem so genannten Gemischten Gericht stattfinden, einer ägyptischen Instanz zur Regelung von Rechtsstreitigkeiten unter Beteiligung von Ausländern. Am 30. August 1933 fand im Auswärtigen Amt in der Berliner Wilhelmstraße eine Besprechung des bevorstehenden Prozesses statt, zu der auch Vertreter des Propagandaministeriums eingeladen wurden. Von diesem Ministerium erhielt der junge Jurist Diewerge den Auftrag zur „vorbereitenden Unterstützung“ des Rechtsstreits.
Beunruhigt durch die Nachricht, dass Jabès den international bekannten Pariser Rechtsanwalt Henri Torrés als Rechtsvertreter gewonnen habe, verfolgte das deutsche Außenministerium zunächst eine vorsichtige Strategie und versuchte das Thema insbesondere aus der öffentlichen Debatte herauszuhalten. Diewerge hingegen übersandte dem Auswärtigen Amt am 29. September 1933 ein zehnseitiges Gutachten „Die pressemäßige Unterstützung des Kairoer Prozesses“, das im Gegenteil auf möglichst öffentlichkeitswirksame Ausschlachtung des Prozesses abzielte: Dieser sollte als „Kampfmittel des Judentums gegen die nationalsozialistische Erhebung“ gebrandmarkt werden. Diewerge entwarf dazu eine detaillierte Strategie der Öffentlichkeitsarbeit. Er benannte Medien, Zielgruppen und Kosten und schlug ein einheitliches Etikett vor, unter dem der Prozess in der nationalsozialistischen Presse erscheinen sollte: „Kairoer Judenprozess“. Seinen Angaben zufolge war der gesamte Plan mit dem Landesgruppenleiter der NSDAP in Ägypten, Alfred Heß (dem Bruder von Rudolf Heß), bis ins Detail abgestimmt. Die Zielrichtung der projektierten Pressearbeit ging aus einem beiliegenden Beispieltext hervor, der den Titel „Internationale jüdische Verschwörung gegen Deutschland in Ägypten aufgedeckt“ trug. Diewerge verwertete diesen Beispieltext auch umgehend öffentlich: für einen Vortrag am 5. Oktober 1933 im Rundfunk und einen weitgehend textidentischen, am 6. Oktober erscheinenden Artikel im Völkischen Beobachter. Ferner ließ er den Text über den Vertrauensanwalt der deutschen Gesandtschaft in Kairo ausgewählten arabisch- und französischsprachigen Zeitungen in Kairo zukommen, um auch in Ägypten das erwünschte Presseecho zu erzeugen. Unter anderem arrangierte er, dass die dem ägyptischen König Fu'ād I. nahestehende Zeitung La Liberté am Prozesstag ein Interview mit Goebbels veröffentlichte.Es gelang Diewerge, sich mit seinen Vorstellungen durchzusetzen. Anfang 1934 wurde er zum Beauftragten für die Vorbereitung und Durchführung des Prozesses ernannt. Als Sonderberichterstatter des Völkischen Beobachters reiste er nach Kairo. Er schrieb Zeitungsberichte, gab der ägyptischen Zeitung Al-Ahram ein Interview und hielt, nachdem Jabès' Klage abgewiesen worden war, am 31. Januar 1934 von Kairo aus eine Rundfunkrede über alle deutschen Sender, die den „deutschen Sieg über das Weltjudentum“ feierte. 1935, nachdem Jabès auch in der Berufungsinstanz gescheitert war, verfasste Diewerge einen propagandistisch aufgemachten Bericht mit dem Untertitel „Gerichtlich erhärtetes Material zur Judenfrage“ im Parteiverlag der NSDAP.Bei diesem Gerichtsverfahren hatte sich erstmals eine Arbeitsteilung eingespielt, die in weiteren Prozessen fortgeführt wurde: Der international bekannte Völkerrechtler Friedrich Grimm übernahm die juristische Seite des Verfahrens und trat in der Hauptverhandlung auf, Diewerge kümmerte sich um die publizistische und politische Planung im Sinne des Propagandaministeriums.
Im März 1934 wurde Diewerge als Regierungsassessor in Goebbels' Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda angestellt. Mitte 1935 wird er in verschiedenen Aufstellungen für Cuno Horkenbachs Jahrbücher als „Referent“ in der Abteilung VII dieses Ministeriums geführt, die als „Abwehr“ bzw. „Lügen-Abwehr“ betitelt wird. Für Diewerge begann damit ein kontinuierlicher Aufstieg. 1936 wurde er zum Regierungsrat, 1939 zum Oberregierungsrat befördert. 1941 erreichte er die Laufbahnstufe eines Ministerialrats. 1936 heiratete er, bis 1941 hatte das Ehepaar bereits drei Kinder. Eine undatierte Beurteilung des Ministeriums über Diewerge fiel sehr positiv aus, insbesondere wurde seine Einstellung zur nationalsozialistischen Weltanschauung als „bedingungslos“ gewürdigt. Zu seinen Aufgaben gehörten Propagandavorträge im Ausland, unter anderem im Zusammenhang mit einer dreimonatigen Afrikareise 1937. Immer wieder drehten sich seine Aktivitäten um Vorfälle, Prozesse und Veröffentlichungen im Ausland, die Anlass zu antisemitischen Kampagnen gegen das sogenannte Weltjudentum gaben.
=== Der Fall Gustloff: Antisemitische Politisierung eines Mordprozesses ===
1936 erstreckte sich Diewerges Zuständigkeit in der Abteilung VII des Propagandaministeriums, nunmehr „Ausland“ betitelt, auf Frankreich, die französischen Besitzungen in Nordafrika (Algerien, Tunesien), Marokko, Ägypten, Monaco und die Schweiz. Als am 4. Februar 1936 David Frankfurter den NS-Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff in Davos erschoss, erhielt Diewerge eine neue Gelegenheit, seine Fähigkeiten in antisemitischer Propaganda unter Beweis zu stellen. Bereits am 18. Februar verlangte er vom Auswärtigen Amt Material zu dem Attentat und der Situation der NS-Landesgruppe in der Schweiz, um eine Broschüre zum Thema zu erstellen. Im April hatte er diese Broschüre, wiederum in Zusammenarbeit mit der Auslandsorganisation der NSDAP, fertiggestellt. Sie erschien unter dem Titel Der Fall Gustloff: Vorgeschichte und Hintergründe der Bluttat von Davos im Hausverlag der NSDAP, dem Franz-Eher-Verlag. Wie in der Kairoer Angelegenheit kam es daraufhin zu Spannungen zwischen dem Propagandaministerium und dem Auswärtigen Amt, das in diesem Fall vom Reichswirtschaftsministerium unterstützt wurde. Dabei ging es allerdings nicht um den Inhalt der Broschüre, sondern lediglich um den offiziellen Erscheinungszeitpunkt. Mit Verweis auf wichtige Wirtschaftsverhandlungen mit der Schweiz sowie die Rheinlandbesetzung verlangten die Außen- und Wirtschaftspolitiker, dass mit dem Vertrieb des Heftchens bis zum Sommer gewartet werde. Sie konnten sich damit durchsetzen.
Die Broschüre hatte zum Ziel, die Schuld am Attentat einerseits der Schweizer Politik und der kritischen Berichterstattung der Schweizer Presse, andererseits einer jüdisch-bolschewistischen Verschwörung in die Schuhe zu schieben, deren Agent Frankfurter angeblich gewesen sei. Da ein Großteil der Broschüre aus – tendenziös ausgewählten – Pressezitaten bestand, die Diewerge dann jeweils aus nationalsozialistischer Sicht kommentierte, konnte die NS-Propaganda darauf hoffen, dass die Verbreitung des Werks in der Schweiz nicht verboten werden würde. Tatsächlich kam es nie zu einem staatlichen Verbot. Lediglich die Schweizerischen Bundesbahnen untersagten den Vertrieb über Bahnhofskioske, was einen – erfolglosen – offiziellen Protest des deutschen Gesandtschaftsrats Carl Werner Dankwort zur Folge hatte. Besonders aggressiv wandte sich das Diewerge’sche Machwerk gegen 125 Schweizer Parlamentarier, die sich für die Verleihung des Friedensnobelpreises an den in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager eingesperrten Carl von Ossietzky ausgesprochen hatten:
Als im Dezember 1936 der Prozess gegen David Frankfurter in Chur stattfand, teilten sich Diewerge und Friedrich Grimm wieder die Arbeit. Diewerge lenkte und organisierte die Pressearbeit, Grimm schuf sich eine Rolle als Vertreter der Witwe Gustloffs in der begleitenden Zivilklage, was ihm zumindest einen kurzen Auftritt in Chur ermöglichte. Gemeinsam suchten und fanden sie einen Schweizer Anwalt (Werner Ursprung) für den Strafprozess gegen Frankfurter. Diewerge gab Anweisungen für die deutschen Zeitungen und schrieb dort auch selbst, unter anderem erneut als Sonderberichterstatter des Völkischen Beobachters, lancierte Pressemeldungen in der Schweiz und führte die deutsche Pressedelegation in Chur an. Schon im Vorfeld des Prozesses verfiel er unter anderem auf die Idee, ausgewählte Schweizer Journalisten zu einer „Informationsreise“ in ein deutsches Konzentrationslager einzuladen und ihnen zudem ein Interview mit Roland Freisler (damals noch Staatssekretär im Reichsjustizministerium) anzubieten. Dieser Plan ging auf: Am 22. November 1936 brachen vier Journalisten auf Kosten des Propagandaministeriums zum KZ Börgermoor auf, begleitet von Mitarbeitern der Presseabteilung des Ministeriums. Auch das Freisler-Interview kam zustande. Und tatsächlich veröffentlichten die Basler Nachrichten am 29. November einen ganz den deutschen Absichten entsprechenden Artikel über das Lager, in dem unter anderem der „überraschend geringe Prozentsatz von Kranken“ und „schmucke rote Bauernhäuser“ gerühmt wurden.Das Duo Diewerge/Grimm war in Chur, wie in Kairo, in „paradoxer Mission“ unterwegs: Einerseits sollte es verhindern, dass der Prozess sich zum Tribunal über den deutschen Antisemitismus entwickelte; andererseits sollte es den Prozess als Ausgangspunkt für antisemitische Propaganda im In- und Ausland nutzen. Goebbels war ausweislich seines Tagebuchs der Meinung, dass sie dieses Unterfangen „ausgezeichnet“ und „glänzend“ erledigt hätten.1937 veröffentlichte Diewerge eine zweite Propagandabroschüre über den Prozess unter einem von Friedrich Sieburg entlehnten Titel: Ein Jude hat geschossen … Dabei konnte er sich auf die vollständigen Prozessakten stützen, die ihm über Grimm und Ursprung zugänglich waren, und unter anderem seitenlang aus den Briefen zitieren, die Frankfurter im Gefängnis erhalten hatte. Hier vertrat Diewerge nachdrücklich die These von der jüdischen Weltverschwörung, wobei er sich insbesondere auf den deutschen Emigranten und Schweizer Staatsbürger Emil Ludwig einschoss, der ein Buch über die Tat Frankfurters veröffentlicht hatte: Das Buch Ludwigs, den Diewerge durchgängig als „Ludwig-Cohn“ bezeichnete, um sein Judentum herauszustellen, sei „eins der wertvollsten und besten Beweisstücke für die Richtigkeit der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung und die Notwendigkeit der Ausmerzung des Judentums aus dem deutschen Kulturleben.“ Der Verteidiger Frankfurters und der psychiatrische Gutachter erschienen bei Diewerge ebenfalls als Agenten des Judentums mit Davidstern, obwohl sie keinerlei jüdischen Hintergrund aufwiesen.Diewerges beleidigende Angriffe auf Schweizer Staatsbürger, Journalisten, Juristen und Politiker wurden in der Schweiz nicht vergessen; besonders die Neue Zürcher Zeitung verwies nach dem Zweiten Weltkrieg in ausführlichen Berichten über Diewerges Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder auf die Erfahrungen von 1936 und 1937.
=== Der Fall des Herschel Grynszpan: Propaganda und Prozessplanung ===
Am 7. November 1938, dem Tag des Attentats von Herschel Grynszpan auf Ernst Eduard vom Rath, den Legationssekretär der deutschen Botschaft in Paris, verbreitete das Deutsche Nachrichtenbüro die Anweisung, dass dieser Vorfall in allen deutschen Zeitungen „in groesster Form“ herauszustellen sei. Besonderen Wert legte man auf die politische Bewertung: „In eigenen Kommentaren ist darauf hinzuweisen, dass das Attentat die schwersten Folgen fuer die Juden in Deutschland haben muss …“ Als Kontakt für Auskünfte wurde Wolfgang Diewerge angegeben, der Journalisten ab sofort in seinem Büro im Reichspropagandaministerium zur Verfügung stand; auch Hintergrundliteratur wurde den Berichterstattern ans Herz gelegt: die antisemitischen Broschüren Diewerges zum Attentat auf Gustloff.
Noch am selben Tag muss Diewerge ein Vorbild für einen solchen Kommentar verfasst haben, denn am Folgetag, dem 8. November, erschien der Völkische Beobachter mit einem von ihm gezeichneten Leitartikel. Unter der Schlagzeile „Verbrecher am Frieden Europas“ schrieb Diewerge:
Am 8. November trat Diewerge dann selbst in der Reichspressekonferenz auf und gab genauere Anweisungen zur Berichterstattung, insbesondere zu ihrer antisemitischen Tendenz (so sollte Emil Ludwig als einer der geistigen Urheber des Attentats herausgestellt werden; wie bereits 1937 eingeübt, stets mit dem Beinamen „Cohn“). Rückblickend sind Diewerges Aktivitäten als Einstimmung der Bevölkerung auf die Novemberpogrome zu verstehen, die in der so genannten Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 stattfanden.
Als in Frankreich der Prozess gegen Grynszpan vorbereitet wurde, sollte sich daran wiederum Friedrich Grimm als Jurist für das Deutsche Reich beteiligen, während Diewerge die publizistische Begleitung übernahm. Und Diewerges Propagandaschriften liefen wiederum auf den bereits bekannten Tenor hinaus: Der Angeklagte habe die Tat als Werkzeug des Weltjudentums vollbracht, so Diewerge in seiner Schrift über „Grünspan und seine Helfershelfer“, die 1939 erschien.
Zu einer Verhandlung kam es freilich nicht mehr, da die Anklage des französischen Staatsanwalts erst am 8. Juni 1940 erhoben wurde, wenige Tage vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris. Als Grynszpan im unbesetzten Frankreich aufgegriffen worden war, verlangte Grimm vom Vichy-Regime erfolgreich dessen Auslieferung und Grynszpan wurde nach Berlin gebracht. Dort beabsichtigte Joseph Goebbels einen großen Schauprozess zu veranstalten, zu dem unter anderem der ehemalige französische Außenminister Georges Bonnet als Zeuge geladen werden sollte. Diewerge wurde mit der Planung dieses Prozesses beauftragt: „Ministerialrat Diewerge vom Propagandaministerium hat den Sonderauftrag, den Prozeß gegen den Mörder Grünspan unter propagandistischen Gesichtspunkten zu bearbeiten.“ Tatsächlich trieb Diewerge die Planungen weit voran, es gab bereits einen detaillierten Zeit- und Auftrittsplan für die zu inszenierende Gerichtsverhandlung, bei der auch Diewerge selbst eine Rolle zukam, nämlich als Referent „über die Vorbereitung des Weltjudentums zum Kriege gegen das Reich, insbesondere durch die Tat Grünspans“. Doch im Mai 1942 wurde das Vorhaben gestoppt, offenbar aus zwei Gründen: Die NS-Führung befürchtete, Grynszpan werde seine Tat öffentlich als eine Tat im Stricher-Milieu darstellen und damit die propagandistische Absicht des Schauprozesses durchkreuzen; und das Konzept, mit dem Auftritt eines französischen Politikers Glaubwürdigkeit zu suggerieren, wurde als politisch unpassend verworfen.
=== Jüdische Plutokratie, jüdischer Bolschewismus: Antisemitische Propaganda in Millionenauflage ===
Diewerge erhielt im Propagandaministerium weiterhin prestigeträchtige Aufträge, so bereitete er etwa die Rundfunkübertragung zum 50. Geburtstag Hitlers am 20. April 1939 vor. Im August 1939, einen Monat vor dem Überfall auf Polen, wurde er zum Intendanten des Rundfunksenders Danzig ernannt, mit der Begründung, in diesem Spannungsgebiet sei nunmehr ein „Politiker“ an der Spitze der Anstalt erforderlich. Unter seiner Intendanz meldete sich der Sender erstmals als „Reichssender Danzig“, anlässlich der Hitlerrede zum Überfall auf Polen am 1. September. Diewerges Nachfolger als Intendant wurde Carl-Heinz Boese, während er selbst im September 1939 die Leitung des Reichspropagandaamts Danzig übernahm. Dort organisierte Diewerge den Aufbau eines Netzes von Reichs-, Gau- und Kreisrednern der NSDAP. Mit einer kurzen Unterbrechung durch einen Fronteinsatz als Kriegsberichterstatter im Sommer 1940 blieb Diewerge bis zum Februar 1941 in Danzig. Dann holte Goebbels ihn zurück nach Berlin und ernannte ihn zum Leiter des Rundfunkreferats im Propagandaministerium. Damit hatte Diewerge den Gipfel seiner Karriere erklommen: Er war nun zuständig für die gesamte politische Abteilung des Rundfunks, insbesondere für die Nachrichten- und Propagandasendungen. Der Historiker und Goebbels-Biograph Peter Longerich urteilt, dass Diewerge als „einer der profiliertesten Propagandisten im Ministerium“ von Goebbels nicht nur mit der Leitung der Rundfunkabteilung, sondern zugleich mit der „Gesamtverantwortung für die politisch-propagandistischen Sendungen des Großdeutschen Rundfunkes“ betraut wurde.Neben dieser Tätigkeit arbeitete Diewerge mit zwei in hoher Auflage erschienenen Publikationen für das nationalsozialistische Regime an der Konstruktion einer jüdischen Weltgefahr: Er schrieb eine 32-seitige Broschüre Das Kriegsziel der Weltplutokratie, die laut Goebbels’ Tagebuch in nicht weniger als fünf Millionen Exemplaren verbreitet wurde. Darin verwertete er Zitate aus einer in kleiner Auflage im Selbstverlag publizierten, sonst kaum beachteten Broschüre des Amerikaners Theodore Newman Kaufman, die unter anderem für den Fall eines amerikanisch-deutschen Krieges die Sterilisierung aller Deutschen verlangte. Er dramatisierte diese Schrift zum dämonischen Kaufman-Plan, in dem das Judentum den Amerikanern die Vernichtung des Deutschtums vorschreibe, und gab als Kaufmans zweiten Vornamen fälschlich den jüdischen Namen Nathan an. Diewerges Kommentar enthielt unter anderem unter der Überschrift „Wer soll sterben – die Deutschen oder die Juden?“ diese unverhüllte Drohung:
Goebbels äußerte sich sehr zufrieden und meinte, die Broschüre werde „endgültig mit den letzten Rudimenten einer evtl. vorhandenen Nachgiebigkeit aufräumen, denn dieser Broschüre kann auch der Dümmste entnehmen, was uns droht, wenn wir einmal schwach werden“.Im selben Jahr gab Diewerge unter dem Titel Deutsche Soldaten sehen die Sowjetunion eine angebliche Sammlung von Feldpostbriefen deutscher Soldaten heraus, die dazu diente, anhand von sorgfältig ausgewählten und redigierten oder auch erfundenen Zeitzeugenberichten eine jüdisch-bolschewistische Weltgefahr zu beschwören. In den darin enthaltenen Texten wurden Pogrome und Völkermord an den Juden mit begeisterten Worten begrüßt:
Und weiter
Auch diese Broschüre wurde in Millionenauflage verbreitet und über Anweisungen der Reichspressekonferenz allen Journalisten des Deutschen Reichs ans Herz gelegt.In seiner Position als Leiter des Rundfunkreferats hatte Diewerge permanent Kompetenzstreitigkeiten mit Heinrich Glasmeier, dem Reichsintendanten des Deutschen Rundfunks. Die wechselseitigen Intrigen fanden immer wieder ihren Niederschlag in Goebbels’ Tagebuch, der sich eine größere Durchsetzungsfähigkeit seines Referatsleiters wünschte, andererseits aber auch Diewerges Wunsch nicht entsprechen wollte, Glasmeier fallen zu lassen. Letztlich konnte Diewerge sich in dieser Funktion nur bis Oktober 1942 behaupten; zu diesem Zeitpunkt löste ihn Hans Fritzsche als „Goebbels’ Mann beim Radio“ ab. Dies hing offenbar auch damit zusammen, dass im Verlauf des Krieges der Unterhaltungsanteil des Rundfunkprogramms gegenüber der unmittelbar politischen Propaganda deutlich wuchs. Seit September 1936 Mitglied der SS, meldete sich Diewerge dann freiwillig zum Fronteinsatz in den Waffen-SS-Divisionen Leibstandarte SS Adolf Hitler und Wiking. Als Kriegsberichterstatter schrieb und sprach er ca. 30 Radioreportagen aus dem Kaukasus unter Titeln wie „Husarenstreich auf Volkswagen“. Nach einem Lazarettaufenthalt in Krakau ließ Goebbels ihn für unabkömmlich erklären, sein Fronteinsatz war damit beendet. Das Propagandaministerium setzte Diewerge in den Folgejahren für eine Reihe von Aufgaben ein, unter anderem für Vortragsreisen in und Berichte aus dem besetzten und neutralen Ausland. So bereiste er unter anderem mit Propagandareden die Türkei und berichtete danach Goebbels über die dortige Stimmung. Im letzten Kriegsjahr erhielt er erneut den Auftrag, nach Danzig zu gehen.
Im Verlauf seiner propagandistischen Tätigkeit erhielt Diewerge eine Reihe von weiteren Funktionen und Auszeichnungen: Seit 1935 war er Reichsredner, später auch Auslandsredner der NSDAP. Er erhielt am 19. September 1939 das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP ehrenhalber, trug den Ehrendolch und den Ehrenring der SS und hatte seit 1943 den Rang eines SS-Standartenführers inne. Häufig wird er in der Literatur auch als Träger des Blutordens der NSDAP bezeichnet, was jedoch nicht als gesichert anzusehen ist. Diewerge soll zum engen Kreis derer gehört haben, die am 30. April 1945 bei der Verabschiedung von Goebbels im Berliner ‚Führerbunker‘ zugegen waren. Am 1. Mai hat er sich nach eigenen Angaben „nach Westen durchschlagen können“.
== In der Bundesrepublik Deutschland ==
Nach dem Krieg wäre Diewerge aufgrund seiner Staats- und SS-Funktionen unter den automatischen Arrest der Alliierten gefallen. Er tauchte unter und soll zunächst in Hessen als Bürovorsteher bei einem Anwalt gearbeitet haben, bis sich durch Vermittlung seines alten Kollegen Friedrich Grimm eine neue Karrierechance bei der FDP Nordrhein-Westfalen bot.
=== Die Nationale Sammlung der nordrhein-westfälischen FDP und der Naumann-Kreis ===
Grimm stellte Diewerge im Jahr 1951 Ernst Achenbach vor, in der NS-Zeit Leiter der Politischen Abteilung der Botschaft in Paris und nunmehr außenpolitischer Sprecher der FDP. Auf Achenbachs Empfehlung erlangte Diewerge die Stelle eines persönlichen Sekretärs bei dem nordrhein-westfälischen FDP-Landesvorsitzenden Friedrich Middelhauve. Diese Personalentscheidung war kein Einzelfall, sondern Bestandteil von Middelhauves Versuch, eine „Nationale Sammlung“ rechts von der CDU und der SPD zu begründen, die insbesondere auch NS-Funktionäre aufnehmen sollte. Sie wurde nach Middelhauves späteren Angaben im vollen Wissen um die Tätigkeit Diewerges während der Zeit des Nationalsozialismus getroffen; den Ausschlag gab seine „berufliche Qualifikation“. Der Historiker Kristian Buchna kommentiert: „Nicht ausgerechnet, sondern gerade der erfahrene ehemalige Goebbels-Mitarbeiter schien dafür prädestiniert, in mehrtägigen Kursen ‚systematisch neu und zusätzlich Redner‘ auszubilden, die künftig als Multiplikatoren des nationalen Sammlungskurses eingesetzt werden sollten.“In seiner neuen Position gab Diewerge unter anderem zentrale Schulungsmaterialien für Wahlredner heraus („Rednerschnellbrief“); von September bis Dezember 1952 war er auf Middelhauves Vorschlag hin sogar mit der Rednerschulung der Bundes-FDP betraut. Ebenso entwarf er Redemanuskripte für Middelhauve. Zudem schrieb Diewerge Beiträge für die nordrhein-westfälische FDP-Zeitschrift Die Deutsche Zukunft und leistete maßgebliche Redaktionsarbeit an einem „Deutschen Programm“, das die geplante „nationale Sammlung“ für die Bundes-FDP verbindlich machen sollte; laut Lutz Hachmeister war er sogar der Hauptverfasser dieses Programms. Von Diewerge organisierte Rednerseminare dienten etwa der Schulung von Funktionären der FDP-Jugendorganisation, der Jungdemokraten, auf die Inhalte des Deutschen Programms. Zu derartigen Seminaren lud er unter anderem Paul Hausser ein; Middelhauve bot diesem auch an, Diewerges Kompetenzen für die „pressemäßige Vorbereitung“ einer Veranstaltung von Haussers Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS zu nutzen.Zugleich fungierte Diewerge – zumindest teilweise mit Wissen Middelhauves – als Verbindungsmann des Naumann-Kreises. Diese Gruppe ehemaliger nationalsozialistischer Funktionäre um Diewerges früheren Vorgesetzten, den ehemaligen Staatssekretär im Propagandaministerium Werner Naumann, versuchte die FDP im nationalsozialistischen Sinn umzuformen: „Ob man eine liberale Partei am Ende in eine NS-Kampfgruppe umwandeln […] kann, möchte ich bezweifeln, wir müssen es aber auf einen Versuch ankommen lassen“, hieß es in einem Redemanuskript Naumanns vom 18. November 1952. Diewerge hielt Naumann in Telefongesprächen – die vom britischen Geheimdienst abgehört wurden – permanent auf dem Laufenden und machte ihm zahlreiche FDP-Materialien zugänglich (unter anderem den „Rednerschnellbrief“). Als ihm die FDP für die Rednerschulung ein Auto zur Verfügung stellte, erzählte Diewerge Naumann telefonisch, dass er nun sämtliche „Gauhauptstädte“ besuchen könne, um seine Kontakte aus der NS-Zeit aufzufrischen. Diewerge legte zudem Naumann und Hans Fritzsche den Entwurf des „Deutschen Programms“ zur Begutachtung vor.Am 14./15. Januar 1953 wurden mehrere Mitglieder des Naumann-Kreises, damals auch als Gauleiterverschwörung bezeichnet, von der Behörde des britischen Hohen Kommissars gemäß seinen alliierten Vorbehaltsrechten verhaftet. Daraufhin begann eine Kommission des Bundesvorstandes der FDP unter Leitung von Thomas Dehler die Personalpolitik der nordrhein-westfälischen FDP und die Verbindungen zwischen der FDP und dem Naumann-Kreis zu untersuchen. Insbesondere die Personalie Diewerge wurde nun zunehmend parteiintern wie öffentlich diskutiert, in der FDP wurde Diewerge als Opfer ausersehen und es häuften sich die Forderungen, ihn zu entlassen. Dieser bot daraufhin Middelhauve an, von sich aus auf seine Stellung zu verzichten, Middelhauve hielt zunächst aber zäh an seinem Mitarbeiter fest. Erst als sich herausstellte, dass Diewerge in der FDP politisch tatsächlich nicht mehr haltbar war, akzeptierte Middelhauve schließlich dessen Entlassungsgesuch zum 1. April 1953. Diewerge selbst sprach in einem Leserbrief an den Spiegel von „beiderseitigem Einvernehmen“. Der vorläufige Bericht der FDP-Bundesvorstandskommission forderte zudem den Parteiausschluss Diewerges. Erst als dies am 7. Juni 1953 im Vorstand diskutiert wurde, stellte sich heraus, dass Diewerge „bestimmt nicht“ FDP-Mitglied war, was eine Reihe von Vorstandsmitgliedern mit großem Erstaunen zur Kenntnis nahm. Thomas Dehler bekundete, diese Information habe ihm „den Atem genommen“, und verband dies mit bitteren Vorwürfen an die Adresse von Middelhauve: „Will man wirklich sagen, Herr Dr. Middelhauve, daß Sie dafür keine Verantwortung tragen, daß ein solcher Mann, der nicht Mitglied der Partei war, von Ihnen als Schulungsleiter für die Gesamtpartei uns vorgesetzt wurde? Es ist dies doch ungeheuerlich!“Diewerge fühlte sich von der FDP und der Öffentlichkeit ungerecht behandelt, wie er in mehreren Briefen an Thomas Dehler schrieb. Er forderte Verständnis dafür ein, „dass sich vor 20 Jahren ein junger Assessor voller Tatendrang und Ehrgeiz auf seinen ersten großen Auftrag stürzte“, und beklagte, dass durch die Skandalisierung in der Öffentlichkeit sein Verhalten in der FDP nunmehr „negativ“ erscheine, obwohl es doch „bei normaler Weiterentwicklung als unbedenklich, wenn nicht sogar als zweckentsprechend angesehen worden wäre“. Noch 1956 verlangte er von Dehler eine Rehabilitierung, da er durch die Affäre berufliche Nachteile gehabt habe. Er sei genötigt gewesen, sich „in eine völlig fremde Branche ohne Verwertungsmöglichkeiten meiner Ausbildung und meiner Vorkenntnisse einzuarbeiten“. Gemeint war offenbar die Werbebranche, denn in den Folgejahren war Diewerge als Werbeleiter in Essen tätig.
=== Von der Vergangenheit eingeholt: Der Essener Meineidprozess ===
1966 holte ihn seine NS-Vergangenheit erneut ein: Das Landgericht Essen leitete einen Prozess wegen Meineids gegen Diewerge ein. Anlass waren Zeugenaussagen Diewerges im Jahre 1959 in einem Prozess gegen den Autor Michael Graf Soltikow, der in verschiedenen Publikationen behauptet hatte, das Attentat Herschel Grynszpans sei nachweislich auf homosexuelle Beziehungen zwischen Grynszpan und vom Rath zurückzuführen – ein Bruder vom Raths hatte Soltikow deswegen verklagt. Die Anklage gegen Diewerge beruhte im Wesentlichen auf zwei Punkten: Erstens hatte Diewerge im Soltikow-Prozess unter Eid erklärt, von einem angeblichen homosexuellen Tatmotiv habe er erst spät gehört und ihm sei auch nichts darüber bekannt, dass eine solche Aussage zum Abbruch des Grynszpan-Prozesses beigetragen habe. Zweitens hatte er „mit aller Entschiedenheit“ bestritten, 1941 und 1942 irgendetwas über propagandistische „Nebenabsichten“ gewusst zu haben, insbesondere darüber, dass der Prozess zur Rechtfertigung „judenfeindlicher Maßnahmen“ dienen sollte.
Kristian Buchna fasst in der Rückschau zusammen: Diewerge hatte sich in der Vernehmung 1959 als „unwissender, keineswegs judenfeindlicher Befehlsempfänger“ präsentiert.In dem Essener Prozess blieb Diewerge bei seinen Behauptungen und gab an, von der Endlösung habe er zum ersten Mal 1944 in Stockholm aus einer englischen Zeitung gehört. Nach einer Reihe von Zeugenaussagen hochrangiger NS-Funktionäre, unter anderem Ernst Lautz, Leopold Gutterer, Heinrich Hunke, Walter Jagusch, Ewald Krümmer und Franz Schlegelberger, kam das Gericht zu der Überzeugung, in Bezug auf das unterstellte homosexuelle Tatmotiv sei Diewerge keine Falschaussage nachzuweisen. Dagegen habe Diewerge mit seiner Versicherung, er habe keine Ahnung davon gehabt, dass der Schauprozess gegen Grynszpan zur Rechtfertigung von Maßnahmen gegen Juden dienen sollte, bewusst die Unwahrheit gesagt. Mit Urteil vom 17. Februar 1966 wurde Diewerge wegen Meineids zu einer einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die später zur Bewährung ausgesetzt wurde.Im selben Jahr ging bei der Staatsanwaltschaft Wiesbaden eine weitere Strafanzeige gegen Diewerge ein. Sie bezog sich ebenfalls auf den von Diewerge vorbereiteten Schauprozess gegen Grynszpan. Zwar wurden die Ermittlungen schnell eingestellt, der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ordnete jedoch die Übernahme des Verfahrens durch seine Behörde an. Doch die Bearbeitung erfolgte schleppend; erst 1969 zog die Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen endgültig an sich. Sie strebte eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord an: Diewerge habe durch die Planung und propagandistische Nutzung des Schauprozesses den Massenmord an den Juden gefördert. Da der Grynszpan-Prozess nicht zustande gekommen und es daher beim erfolglosen Versuch zur Beihilfe geblieben war, stellte die Behörde am 20. November 1969 das Verfahren ein.
=== Verstrickung in die Flick-Affäre ===
Diewerges Verbindungen zur FDP waren in dieser Zeit nicht abgerissen. Dies zeigte sich, als er 1968 die Geschäftsführung zweier neu gegründeter Vereine übernahm: der Gesellschaft für Europäische Wirtschaftspolitik e.V. (GfEW), der Satzung nach ein steuerbefreiter Berufsverband, und des Internationalen Wirtschaftsclubs e.V. (IWC), der als gemeinnützig anerkannt und daher ebenfalls steuerbefreit war. Otto Graf Lambsdorff war stellvertretender Vorsitzender der GfEW, ein weiterer hochrangiger FDP-Politiker, Wolfram Dorn, stellvertretender Vorsitzender des IWC. Wie das Landgericht Bonn 1987, Jahre nach Diewerges Tod, im Urteil gegen Eberhard von Brauchitsch, Hans Friderichs und Lambsdorff in der so genannten Flick-Affäre festhielt, verfolgten diese Vereine ihre satzungsgemäßen Ziele nur zum Schein: In Wahrheit dienten sie dazu, steuerbefreite Industriespenden entgegenzunehmen und diese auf Umwegen der FDP zuzuleiten, das heißt, sie betrieben Beihilfe zur Steuerhinterziehung.Diewerge behielt die Geschäftsführung beider Vereine fünf Jahre lang bei und war nach den Erkenntnissen des Landgerichts aktiv daran beteiligt, deren wahre Zwecke zu verschleiern. So schrieb er dem Finanzamt Neuwied, das eine Betriebsprüfung plante, am 27. Januar 1971 „der Wahrheit zuwider“, die GfEW habe planmäßig ihre Tätigkeit als Berufsverband aufgenommen, und erstellte eine Liste von entsprechenden Aktivitäten. 1973, mit 67 Jahren, trat er als Geschäftsführer beider Vereine zurück und wurde durch Joachim Friedrich von Stojentin, später durch Friedrich Karl Patterson ersetzt. Er starb 1977, vier Jahre vor Beginn der staatsanwaltlichen Ermittlungen in der Flick-Affäre. Noch in der Woche vor seinem Tod, am 26./27. November 1977, war er als externer Referent für eine Veranstaltung der HIAG vorgesehen gewesen, um die Mitglieder dieser Traditionsorganisation der Waffen-SS in „Öffentlichkeitsarbeit“ zu schulen, hatte jedoch kurzfristig absagen müssen.
== Nachleben ==
Einige Propagandaschriften Diewerges wurden im Internetzeitalter digitalisiert und finden sich auf diversen rechtsradikalen beziehungsweise revisionistischen Websites. Insbesondere die Inhalte der Broschüren zum „Fall Gustloff“ und zum „Kaufman-Plan“ werden in der neonazistischen Szene nach wie vor häufig als Propagandamittel verwendet.
Diese Situation bildet den Ausgangspunkt für die 2002 erschienene Novelle Im Krebsgang von Günter Grass. Der Ich-Erzähler gerät auf der rechten Website „www.blutzeuge.de“ in einen Chatroom, der Wilhelm Gustloff und das Schicksal des gleichnamigen Schiffs zum Thema hat. Dort trifft er auf einen Chatter, der wiederholt den „Parteigenossen und Reichsredner Wolfgang Diewerge“ als Quelle anführt. Andere Chatter streifen im Zusammenhang mit Diewerge kurz dessen Verbindung mit dem Naumann-Kreis sowie mit der Flick-Affäre.
== Forschungs- und Literaturlage ==
Eine umfassende Biografie Diewerges gibt es nicht. Neben den kurzen, nicht ins Detail gehenden Abrissen in Ernst Klees Personenlexikon zum Dritten Reich und Wolfgang Benz’ Handbuch des Antisemitismus findet sich eine relativ umfangreiche Darstellung von Diewerges Lebenslauf in Kristian Buchnas Studie von 2010.
Dagegen existieren zu den politischen Aktivitäten, an denen Diewerge beteiligt war, teilweise bereits detaillierte Forschungsberichte, die zumindest am Rande auch auf Diewerges Handlungen eingehen. Den Kairoer Prozess behandeln aus unterschiedlichen Perspektiven die Studien von Gudrun Krämer, Albrecht Fueß und Mahmoud Kassim, wobei speziell die beiden letzteren Material zu Diewerges Propagandatätigkeit bieten und auch seine Zusammenarbeit mit der NS-Auslandsorganisation und die Differenzen zur Linie des Auswärtigen Amts behandeln. Die Gustloff-Affäre ist aufgearbeitet in Peter O. Chotjewitz’ umfangreichem Aufsatz Mord als Katharsis sowie einer Studie von Mathieu Gillabert. Auch hier spielt das Verhältnis von Propagandaministerium, Auslandsorganisation der NSDAP und Auswärtigem Amt eine wesentliche Rolle. 2012 hat Armin Fuhrer ein Buch vorgelegt, das auf der Basis von Archivrecherchen, insbesondere auch in Schweizer Zeitungsarchiven, neue Aufschlüsse über Diewerges Aktivitäten im Fall Gustloff gibt. Für Diewerges Rolle im geplanten Grynszpan-Prozess ist nach wie vor Helmut Heibers Studie von 1957 wesentlich, Ergänzungen bietet Alan E. Steinweis’ Buch über die Kristallnacht 1938. Wolfgang Benz hat 1981 die Broschüre Diewerges zum Kaufman-Plan in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte analysiert. Kristian Buchna hat in seinem Buch von 2010 zahlreiche Archivquellen zur „Nationalen Sammlung“ der FDP Nordrhein-Westfalen ausgewertet und kann daher Diewerges Aktivitäten in diesem Kontext sehr ausführlich darstellen. Für Diewerges Rolle in der Flick-Affäre bleibt das Buch des Journalisten Hans Leyendecker eine wichtige Quelle.
Zeitgenössische Berichte wie Cuno Horkenbachs Handbuch Das Deutsche Reich von 1918 bis heute von 1935 oder die Presseberichte insbesondere der Neuen Zürcher Zeitung zum Essener Meineidprozess liefern Material für die Lebensphasen, die von diesen wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht oder kaum berührt werden. Es existieren Aktenbestände zu Diewerge beim Institut für Zeitgeschichte. Ein Bestand, der Gesprächsnotizen einer Unterredung von Helmut Heiber mit Diewerge sowie dessen Zeugenaussage im Soltikow-Prozess enthält, ist online zugänglich. Ein weiterer Bestand mit dem Nachlass des Essener Staatsanwalts Hans-Ulrich Behm, des Anklagevertreters im Essener Prozess, konnte bislang noch nicht ausgewertet werden.
== Schriften (Auswahl) ==
Als Sonderberichterstatter zum Kairoer Judenprozeß. Gerichtlich erhärtetes Material zur Judenfrage. München: Eher, 1935.
Der Fall Gustloff. Vorgeschichte und Hintergründe der Bluttat von Davos. München: Eher, 1936.
Ein Jude hat geschossen. Augenzeugenbericht vom Prozeß gegen David Frankfurter. München, Eher, 1937.
Anschlag gegen den Frieden. Ein Gelbbuch über Grünspan und seine Helfershelfer. München, Eher, 1939.
Der neue Reichsgau Danzig-Westpreußen. Ein Arbeitsbericht vom Aufbauwerk im deutschen Osten. Junker und Dünnhaupt, 1940.
Das Kriegsziel der Weltplutokratie. Dokumentarische Veröffentlichung zu dem Buch des Präsidenten der amerikanischen Friedensgesellschaft Theodore Nathan Kaufman „Deutschland muß sterben“ („Germany must perish“). München: Eher, 1941.
Deutsche Soldaten sehen die Sowjetunion. Feldpostbriefe aus dem Osten. Berlin: Limpert, 1941.
Hubert Kogge. Weg eines Unternehmers. Mit Zeichnungen von Josef Arens. Herrn Hubert Kogge zu seinem 25. Geschäftsjubiläum von seinen Mitarbeitern überreicht. Köln: Wirtschaftsverlag Dr. Sinz, 1959.
== Literatur ==
Wolfgang Benz: Judenvernichtung aus Notwehr? Die Legenden um Theodore N. Kaufman. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Jg. 29, Heft 4, 1981, S. 615–630, online (PDF; 8,8 MB).
Wolfgang Benz: Wolfgang Diewerge. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 2: Personen. Teil 1: A–K. de Gruyter Saur, Berlin 2009, ISBN 978-3-598-24072-0, S. 174–176.
Kristian Buchna: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP. 1945–1953. Oldenbourg, München 2010, ISBN 978-3-486-59802-5 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte).
Peter O. Chotjewitz: Mord als Katharsis. In: Emil Ludwig, Peter O. Chotjewitz: Der Mord in Davos. Texte zum Attentatsfall David Frankfurter – Wilhelm Gustloff. März, Herbstein 1986, ISBN 3-88880-065-X, S. 119–209.
Albrecht Fueß: Die deutsche Gemeinde in Ägypten von 1919–1939. Lit, Hamburg 1996, ISBN 3-8258-2734-8 (Hamburger islamwissenschaftliche und turkologische Arbeiten und Texte 8).
Armin Fuhrer: Tod in Davos. David Frankfurter und das Attentat auf Wilhelm Gustloff. Metropol, Berlin 2012, ISBN 978-3-86331-069-1.
Matthieu Gillabert: La propagande nazie en Suisse. L'affaire Gustloff 1936. Presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne 2008, ISBN 978-2-88074-772-5 (Le Savoir Suisse 49).
Helmut Heiber: Der Fall Grünspan. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Jg. 5, Heft 2, 1957, S. 134–172, online (PDF; 4,36; 4,6 MB).
Cuno Horkenbach (Hrsg.): Das Deutsche Reich von 1918 bis heute. Presse- und Wirtschaftsverlag GmbH, Berlin 1935, S. 931. Jahresband 1933.
Mahmoud Kassim: Die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zu Ägypten, 1919–1936. Lit, Berlin u. a. 2000, ISBN 3-8258-5168-0 (Studien zur Zeitgeschichte des Nahen Ostens und Nordafrikas 6), (Zugleich: Hamburg, Univ., Diss., 1999).
Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Aktualisierte Ausgabe, 2. Auflage. Fischer, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-596-16048-8, S. 111 (Fischer 16048 Die Zeit des Nationalsozialismus).
Hans Leyendecker: Der Edelmann und die Miami-Connection. Die international verflochtenen Spenden-Vereine der FDP. In: Hans Leyendecker (Hrsg.): Das Lambsdorff-Urteil. Steidl, Göttingen 1988, ISBN 3-88243-111-3, S. 113–131.
Gerhard Mauz: Was man auch von Dr. Goebbels sagen mag …. In: Der Spiegel. Nr. 4 (17. Januar), 1966, S. 30–32 (Bericht über den Essener Meineidprozess, Online).
Alan E. Steinweis: Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom. Reclam, Stuttgart 2011. ISBN 978-3-15-010774-4.
== Weblinks ==
Literatur von und über Wolfgang Diewerge im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Verbrecher am Frieden Europas (PDF; 6,8 MB) Faksimile der ersten beiden Seiten des Völkischen Beobachters vom 8. November 1938. Diewerges Leitartikel beginnt zweispaltig auf der Titelseite.
Vor dem Grünspan-Prozess Faksimile der Jüdischen Welt-Rundschau vom 21. Juli 1939. Auf S. 2 der angegebene Artikel, der sich relativ ausführlich mit dem „Spezialisten für antisemitische Hetzschriften“ und „jungen Nazi-Journalisten“ Diewerge befasst.
Die Naumann-Affäre (Bericht der Kommission des FDP-Bundesvorstands zum Naumann-Kreis), in: Horst Lummert: Psychologische Kriegsführung. Kokkhakiv Press, 2000–2010, S. 54–72 zugänglich über Google Books.
Institut für Zeitgeschichte: Gespräch Helmut Heiber mit Wolfgang Diewerge am 2. Juni 1955, enthalten in der Mappe „Zeugenschrifttum“ (PDF; 4,7 MB)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Diewerge
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Animal Forensics
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= Animal Forensics =
Unter animal forensics wird ein Zusammenschluss interdisziplinärer Methoden aus Kriminalbiologie, gerichtlicher Veterinärmedizin, Spurenkunde und Forensik verstanden. Obwohl dieser Fachbegriff auf internationaler Ebene bereits seit über einem Jahrzehnt existiert, steht bisher noch keine adäquate deutsche Bezeichnung zur Verfügung.
Im engeren Sinn wird unter animal forensics die Untersuchung tierischen Spurenmaterials verstanden, das im Zusammenhang mit einem Verbrechen als Nachweis einer Verbindung zwischen Täter und Opfer dienen kann. Im weiteren Sinn bezeichnet animal forensics auch die Untersuchung von tierischem Spurenmaterial bei Delikten, in die Tiere direkt als „Tatbeteiligte“ involviert sind.
Abzugrenzen sind jene Bereiche der Kriminalbiologie, die sich mit der Analyse tierischen Spurenmaterials bei Kriminalfällen beschäftigen, in denen Tiere weder „Täter“ oder Opfer sind, noch als direktes Bindeglied zwischen den Tatbeteiligten fungieren (etwa die Untersuchung von Leichenfraßspuren, forensische Entomologie und andere).
Untersuchbare Materialien umfassen Blut, Haare und Federn, Speichel, Kot, Urin, Haut- und Schleimhautproben sowie andere Gewebetypen. Die wichtigste Methode der animal forensics ist die DNA-Analyse („DNA forensics“).
== Geschichtliche Entwicklungen ==
Die Mitberücksichtigung und Auswertung tierischen Spurenmaterials hat in den letzten Jahren bei forensischen Untersuchungen erheblich an Bedeutung gewonnen. Die Entwicklung erfolgversprechender molekulargenetischer Methoden auf dem Gebiet der animal forensics wurde dabei maßgeblich durch bahnbrechende Fortschritte in der Humangenetik beeinflusst. Hierzu gehörte vor allem die Entwicklung der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) im Jahr 1983 durch Kary Mullis.
1984 entwickelte Alec Jeffreys den „genetischen Fingerabdruck“, bei dem einzigartige Merkmale des Erbguts verwendet werden, um einzelne Individuen eindeutig zu identifizieren. Ein Jahr später wurde der genetische Fingerabdruck erstmals vor Gericht zur Klärung eines Kriminalfalls eingesetzt. Im Jahr 1988 wurde er auch von deutschen Gerichten als Beweis anerkannt. Bereits 1987 wurde diese molekulargenetische Technik für die Anwendung bei Tieren adaptiert und zur Klärung umstrittener Abstammungen in der Hundezucht verwendet. Weitere Fortschritte, wie der Einsatz spezifischer DNA-Sonden, führten letztendlich zur Entwicklung der Mikrosatelliten-Analyse.
Der Nutzen forensischer DNA-Untersuchungen ist abhängig von der generellen Bereitschaft der Justiz, Indizien auf DNA-Basis als Beweismittel anzuerkennen. In einem aufsehenerregenden Kriminalfall wurde 1995 erstmals ein Mörder anhand der molekulargenetischen Analyse von Katzenhaaren identifiziert (siehe unten: Der Fall „Snowball“). Die Analyse mitochondrialer Hunde-DNA wurde 1999 im Falle eines versuchten Raubmords in Texas zum ersten Mal bei einer Anhörung zur Beweisaufnahme als Beweismittel zugelassen.
Heute ist die Verwendung von DNA-Analysen in der Forensik aus der polizeilichen Ermittlungsarbeit und den Gerichtssälen nicht mehr wegzudenken. Oft liefert sie den entscheidenden Nachweis einer Verbindung zwischen Täter und Opfer. Mithilfe moderner molekulargenetischer Methoden können mittlerweile auch viele ungeklärte alte Fälle dank asservierter Beweisstücke neu aufgerollt werden. Eine fortschreitende Standardisierung und Automatisierung der Labor- und Auswertungsmethodik bei der Analyse tierischen Materials führt – ähnlich wie in der Humanforensik – zum Aufbau umfangreicher nationaler und internationaler Referenzdatenbanken, die einerseits einen schnellen Abgleich mit bereits untersuchtem genetischen Material ermöglichen und andererseits als Grundlage für statistische Wahrscheinlichkeitsberechnungen dienen können.
== Untersuchungsmethoden ==
Die Aufklärung von Straftaten geht Hand in Hand mit der molekularen Individualisierung der Tatbeteiligten und einer Möglichkeit der individuellen Zuordnung von Spuren. Die primären Ziele, die die animal forensics verfolgen, sind die sichere Bestimmung und Unterscheidung der Art, gegebenenfalls die Klärung der Todesursache und vor allem der Nachweis einer Dreiecksbeziehung („trianguläre Verbindung“) von Täter, Opfer und Tatort.
Obwohl der Einsatz bewährter Methoden wie Histologie, Mikroskopie sowie vergleichender Morphologie und traditioneller forensischer Disziplinen wie der Pathologie, Traumatologie, Odontologie, Ballistik und Spurenkunde weiterhin unverzichtbar bleibt, gewinnen bei der Aufklärung solcher Delikte DNA-gestützte Methoden zunehmend an Bedeutung.Prinzipielle diagnostische Möglichkeiten anhand forensischer Analysen sind die Speziesbestimmung, die Rassebestimmung, Identitätsnachweise und Abstammungskontrollen.
Für molekularbiologische Nachweise kommen dabei verschiedene methodische Ansätze in Betracht: Je nach Fragestellung, Art, Qualität und Quantität der Probe können sowohl das Kerngenom (‚nukleäre‘ Kern-DNA, nDNA) als auch das mitochondriale Genom (Mitogenom, mtDNA) in die Untersuchung miteinbezogen werden.
=== RFLP-Analyse ===
Diese Technik auf der Grundlage des Restriktionsfragmentlängenpolymorphismus (RFLP) beruht auf der enzymatischen Spaltung der DNA durch Restriktionsendonukleasen. Die einzelnen Fragmente werden mittels Gelelektrophorese aufgetrennt und entsprechend ihrer Fragmentlänge auf dem Gel angeordnet. Die entstehenden Linien („Banden“) werden z. B. durch Hybridisierungstechniken (Southern blotting) sichtbar gemacht. Prinzipiell kann der RFLP sowohl für die Analyse der DNA des Zellkerns als auch für die DNA der Mitochondrien genutzt werden. In den animal forensics wird diese Methode zur Speziesbestimmung bei Haus- und Wildtieren verwendet.
Die Nutzung des RFLP ist eine der ursprünglichsten Methoden für die forensische DNA-Analyse. Die Entwicklung moderner, effizienterer Analysemethoden ließ diese Technik jedoch in den Hintergrund treten. Ihr Nachteil besteht in der benötigten hohen Ausgangsmenge an verwertbarer DNA. Durch Umwelteinflüsse negativ veränderte Proben (Schmutz, Schimmel), wie sie im Zusammenhang mit Straftaten oftmals vorliegen, sind für diese Form der Analyse nicht geeignet.
=== Mikrosatelliten-Analyse (Genotypisierung) ===
Mikrosatelliten oder STRs (short tandem repeats) stellen kurze, sich wiederholende Abschnitte der DNA dar. Das Grundmotiv (repeat) ist aus 1–5 DNA-Bausteinen (Nucleotiden) zusammengesetzt und wird im Durchschnitt 10- bis 50-fach wiederholt. Da die STRs im Allgemeinen keine Erbinformation tragen, hochvariabel sind (hoher Polymorphismusgrad), eine dichte Verteilung im Genom aufweisen und durch beide Elternteile (biparental) vererbt werden, sind sie als unabhängige Marker für Anwendungen in vielen molekulargenetischen Bereichen prädestiniert.
Die hohe Variabilität der STR-Regionen wird genutzt, um das individuelle genetische Profil eines Organismus zu erstellen. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als „Genotypisierung“. Die ersten Mikrosatelliten-Marker für Hunde und Katzen wurden Mitte der neunziger Jahre entwickelt. Mittlerweile existieren spezifische Marker für alle Haustiere und zahlreiche Wildtierspezies. Ursprünglich in der Abstammungskontrolle eingesetzt, sind sie zum nützlichen Hilfsmittel für Identitätsnachweise in der Gerichtsmedizin geworden. In den animal forensics dienen sie nicht nur der molekularen Individualisierung, sondern können auch für die Speziesbestimmung sowie zur Identifizierung von Ursprungspopulationen (Rasse, Fischschwarm) verwendet werden.
Die STR-Analyse setzt das Vorhandensein von Kern-DNA voraus, wobei winzige Mengen biologischen Spurenmaterials für eine erfolgreiche Vermehrung der DNA-Abschnitte (Amplifikation) ausreichen. Für Proben mit zersetzter oder fehlender Kern-DNA (altes, autolytisches Gewebe, Haare mit beschädigter oder ohne Haarwurzel) ist diese Methode nicht geeignet.
=== Haplotypisierung ===
Die mtDNA wird nicht aus dem Zellkern, sondern aus den Mitochondrien gewonnen. Die Analyse mitochondrialer DNA kann in Bereichen angewendet werden, wo RFLP und Genotypisierung versagen. An Tatorten sichergestellte Haare sind meist ausgefallen und besitzen keine intakte Wurzel mehr. Stehen nur wenige Haare, mit möglicherweise beschädigter Wurzel zur Verfügung, kann der Haarschaft genutzt werden, um mitochondriale DNA zu isolieren, da die mtDNA – im Gegensatz zur DNA des Zellkerns – in tausendfacher Kopienzahl pro Körperzelle vorliegt.
Für die forensische Identifikation wird ein Bereich der mtDNA untersucht, den man als „D-Loop“ („displacement loop“), „Kontrollregion“ oder „hypervariable Region“ bezeichnet. Die Analyse beinhaltet die Vervielfältigung des Materials mit der Polymerase-Kettenreaktion (PCR-Amplifikation) und die Bestimmung der DNA-Sequenz (Sequenz-Analyse) des amplifizierten Bereiches. Die unterschiedlichen Sequenzvarianten werden als „Haplotypen“ bezeichnet.
Da die mtDNA eines Organismus ausschließlich von der Mutter stammt, teilen sich alle Tiere einer mütterlichen Linie denselben Haplotypen. Dies führt einerseits dazu, dass Referenzproben von Tieren gestellt werden können, die über die mütterliche Linie verwandt sind, bedeutet aber gleichzeitig, dass die Nachkommen einer Linie (z. B. Wurfgeschwister) mit dieser Methode nicht voneinander getrennt werden können. Auch nicht miteinander verwandte Tiere können den gleichen Haplotypen aufweisen. Daher kann die Haplotypisierung oft nur zum Ausschluss verdächtiger Tiere eingesetzt werden.
Für die Aufklärung von Fällen, die seit Jahren als ungelöst gelten, erweist sich die mtDNA als wertvolles Hilfsmittel. Außer zur Individuen-Identifizierung dient die Sequenzierung der d-loop auch zur Speziesbestimmung.
=== Cytochrom b und rRNA ===
Die Genabschnitte für das Cytochrom b und die rRNA liegen ebenfalls im mitochondrialen Genom. Im Gegensatz zur bereits erwähnten Kontrollregion handelt es sich hier um informationstragende Abschnitte des Erbguts („codierende Elemente“), die als nahezu unveränderlich („konserviert“) gelten. Hier werden Variationen in der Abfolge der Erbinformationen (Sequenzvariationen) nur zwischen einzelnen Spezies beobachtet.
Beide Bereiche, sowohl Cytochrom b als auch rRNA, wurden häufig in phylogenetischen Studien, d. h. in Untersuchungen zur Stammesentwicklung von Tierarten, eingesetzt und ermöglichen eine sichere Artbestimmung. Die Analyse besteht aus einer Vermehrung ausgewählter DNA-Abschnitte (PCR-Amplifikation) kombiniert mit der oben erläuterten RFLP-Technik bzw. einer direkten DNA-Sequenzierung. Für beide Methoden sind umfangreiche Referenzdatenbanken nötig. Diese können privat oder international zugänglich sein. Ein Beispiel ist das Basic Local Alignment Search Tool (BLAST) im National Center for Biotechnology Information (NCBI).
=== Methoden zur Geschlechtsbestimmung (sex determination) ===
Anhand anhaftender Gewebeteile bei herausgerissenen Haaren ist eine Bestimmung des Geschlechts – über die Färbung des geschlechtsspezifischen Chromatins in den Follikelzellen – prinzipiell möglich; sie wird jedoch in der Routine nicht eingesetzt.
Gängige Verfahren zur Geschlechtsbestimmung beruhen auf dem Nachweis von Erbinformationsabfolgen (Sequenzen) oder Markern, die nur auf jeweils einem der beiden Geschlechtschromosomen (u. a. SRy-Gen auf dem Y-Chromosom, x-chromosomale Mikrosatelliten) vorhanden sind. Ebenfalls möglich ist der Nachweis von Genen, die auf beiden Geschlechtschromosomen lokalisiert sind und unterschiedliche Ausprägungsformen, wie z. B. Fragmentlängen besitzen (Amelogenin-Gen bei Wiederkäuern). Die Bestimmung des Geschlechts aus Fleisch, Blut oder Haarproben findet in der Forensik Anwendung im Natur- und Artenschutz sowie auf dem Lebensmittelsektor. Sie dient dem Nachweis von Wilderei und Betrugsdelikten.
== Verwendetes Spurenmaterial ==
=== Haare ===
Vergleichende Morphologie, Mikroskopie und Histologie stellen klassische Methoden im Bereich forensischer Haaranalysen dar. Typ, Anzahl und Erhaltungszustand der sichergestellten Haare beeinflussen ihren Wert als Spurenmaterial.
Jede Säugerspezies besitzt Haare mit charakteristischer Länge, Farbe und Wurzelstruktur sowie spezifischen morphologischen Merkmalen. Ein Haar besteht aus der Haarwurzel und dem Haarschaft, der prinzipiell aus Mark, Rinde und Kutikula aufgebaut ist.
Beim Tier kommen Leit-, Stamm-, Deck-, Fell- und Grannenhaare, Flaum- und Wollhaare, Borsten, Langhaare (Schwanz, Mähne), Wimpern und Tasthaare vor. Die Haare verschiedener Körperregionen desselben Individuums können dabei beträchtliche Variabilität aufweisen.
Die Struktur von Mark und Kutikula der Haare ist streng tierartspezifisch. Sie erlaubt daher auch eine sichere Unterscheidung zwischen Mensch und Tier. Als Kriterien zur genauen Speziesbestimmung dienen die Struktur der Markzellen, die Dicke des Marks und seine Kontinuität („Markstrahl“), die Anzahl der Markzellschichten sowie das Dickenverhältnis von Haarmark zu Haarrinde. Außerdem können Gehalt und Verteilung von Pigmenten sowie das Oberflächenprofil der Kutikulazellen analysiert werden.
Aufgrund der Wurzelrückbildung findet natürlicher Haarverlust überwiegend in einer Phase statt, in der das Haarwachstum ruht („telogene Phase“). Da lose Haare leicht auf andere Individuen oder Gegenstände transferiert werden können, bilden sie die Hauptquelle forensischer Haarspuren. Haarverlust kann aber auch in aktiven Wachstumsstadien stattfinden, z. B. durch Hängenbleiben an einem Gegenstand. Eine mikroskopische Analyse der Haarwurzel erlaubt folglich nicht nur die Bestimmung der Wachstumsphase, sondern auch eine Unterscheidung zwischen „ausgerissen“ und „ausgefallen“.
Die konkrete Analyse eines tierischen Haares umfasst zuerst die Zuordnung der Spezies aufgrund seiner artspezifischen Morphologie. Anschließend erlaubt das Verfahren der „Vergleichsmikroskopie“ – die Verwendung zweier Lichtmikroskope, die über eine optische Brücke verbunden sind – eine simultane Beurteilung des fraglichen Haars mit einer Haarprobe bekannten Ursprungs. Letztere entstammt für gewöhnlich einer Referenzprobensammlung bzw. ist die Vergleichsprobe eines verdächtigen Tieres. Weist das untersuchte Haar übereinstimmende mikroskopische Eigenschaften mit der Referenz auf, resultiert daraus ein gemeinsamer Ursprung beider Haare.
Die klassische Mikroskopie ermöglicht damit folglich eine Bestimmung von Spezies, Rasse, Haartyp und Haarstatus; Tierhaare weisen allerdings in der Regel keine ausreichend individuellen morphologischen Eigenschaften auf, um mit absoluter Sicherheit einem bestimmten Individuum zugeordnet werden zu können.
Genauere Anhaltspunkte bezüglich der möglichen Herkunft eines Haares können molekulargenetische Tests basierend auf Analysen sowohl der nukleären als auch der mitochondrialen DNA liefern.
=== Blut ===
Die klassischen Analysemethoden von Blut sind die Blutgruppenserologie, der Bestimmung von Serumproteinen und Isoenzymen sowie die Charakterisierung von MHC-Antigenen. Ursprünglich wurden sie für Abstammungskontrollen angewendet.
Ab Mitte der 1990er-Jahre führte der Einsatz moderner molekulargenetischer Methoden zu einer Verdrängung der konventionellen Verfahren. Gründe dafür waren eine verbesserte Ausschlusswahrscheinlichkeit, eine leichtere Automatisierbarkeit und eine einfachere Standardisierung der Auswertung.
Die gegenwärtigen Analysemöglichkeiten von Blut umfassen das ganze molekulargenetische Methodenspektrum. Die DNA wird aus den kernhaltigen weißen Blutkörperchen gewonnen. Die Wahl der jeweiligen Analyse-Methode ist abhängig von Quantität und Qualität der zur Verfügung stehenden Probe. Die Untersuchung von Blut spielt eine Rolle bei
Abstammungskontrollen (z. B. zur Kontrolle der angegebenen Elterntiere),
Identitätsnachweisen (z. B. zur Identifikation eines gestohlenen Tieres),
Bissattacken zwischen Tieren (zur Identifikation der beteiligten Tiere),
Bissattacken von Tieren am Menschen (zur Identifikation des Tätertieres),
Wilderei (z. B. zur Feststellung, ob eine unter Schutz stehende Tierart getötet wurde),
Unfällen (z. B. bei Wildunfällen durch Spuren am Fahrzeug).
=== Speichel ===
Speichelspuren werden regelmäßig im Zusammenhang mit Bissattacken gegen Menschen oder Tiere sichergestellt. Sie dienen der Identifizierung und Überführung verdächtiger Tätertiere.
Für molekulargenetische Analysen wird die DNA aus den im Speichel enthaltenen Epithelzellen der Maulschleimhaut isoliert. Methode der Wahl für Untersuchungen ist die Short-tandem-repeat-Typisierung.
Problematisch kann eine Kontamination des Speichels mit Blut oder Haaren des Opfers sein. Dennoch wurde in der Forschung eine positive Korrelation zwischen der zunehmenden Schwere der Bissverletzungen und der Erfolgsquote bei der Isolierung der Täter-DNA aus Speichel festgestellt.
=== Knochen und Gewebe ===
Gewebeproben unterschiedlichster Art, auch von tierischen Produkten stammend, werden vor allem in den wildlife forensics und bei der forensischen Untersuchung von Lebensmitteln routinemäßig analysiert. Die Untersuchung von Gewebeproben ist darüber hinaus üblicherweise im Zusammenhang mit tierschutzwidrigen Tötungsdelikten erforderlich.
In Abhängigkeit vom Erhaltungszustand der Probe können alle molekulargenetischen Methoden verwendet werden. Hierbei finden überwiegend Verfahren zur molekulargenetischen Spezies- und Gewebetypbestimmung Anwendung.
=== Sperma, Kot und Urin ===
Im Gegensatz zur Humanforensik spielt die molekulargenetische Analyse von Sperma bei Tieren kaum eine Rolle. Sie wird überwiegend im Bereich der Abstammungskontrollen genutzt. In der Literatur fand sie bis jetzt nur bei einem Verdacht eines sexuellen Übergriffs durch Tiere Anwendung.Während die Untersuchung von Harn, u. a. in umstrittenen Dopingfällen, manchmal vorkommt, ist die Untersuchung von Kot bisher ohne praktische Bedeutung.
== Tiere in der Kriminalbiologie ==
=== Tiere als Opfer ===
Tatbestände, bei denen Tiere zu Opfern werden, umfassen in erster Linie Diebstahl, Tierquälerei und Tötungsdelikte.
Die Aufgabenstellungen in diesem Bereich umfassen
die genetische Charakterisierung tierischen Spurenmaterials,
die Identifizierung einzelner Individuen anhand von Referenzmaterial,
Nachweis der kriminellen Handlungen anhand von Tatortspuren,
Klärung der Täteridentität (Spuren beim Täter, die als vom Opfer stammend nachgewiesen werden können).Zur Klärung dieser Fragen kann etwa die mit Hilfe des DNA-Profils festgestellte Übereinstimmung von DNA-Spuren an Tatwaffen (z. B. Messer, Projektil) mit der Opfer-DNA beitragen. Gleiches gilt für den Vergleich von sonstigen tierischen Überresten (z. B. Blut, Haare, Knochen) mit Referenzproben.
Bei Haustieren lassen sich solche Vergleichsproben oftmals noch nachträglich durch das Sammeln von Haaren aus Bürsten oder Decken gewinnen. Ein völliger Mangel an Vergleichs-DNA des Individuums selbst kann sogar noch durch eine DNA-Analyse der Elterntiere kompensiert werden: Durch den Nachweis einer engen Verwandtschaft kann auch auf diese Weise die Identität des Opfers geklärt werden. So können beispielsweise gestohlene Rinder über eine STR-Analyse der angegebenen Muttertiere eindeutig identifiziert werden.
==== Haus-, Nutz- und Zootiere ====
In einem Fallbericht aus Argentinien wurden Rinder von einer Ranch gestohlen und geschlachtet. Die später gefundenen Kadaver konnten aufgrund ihrer Brandzeichen eindeutig identifiziert werden. Ihre DNA-Profile wurden mit sichergestellten Fleischstücken aus einer Fleischerei verglichen. Beweismaterial und Referenzproben stimmten überein, so dass das Fleisch eindeutig den getöteten Rindern zugeordnet werden konnte.Im Baranya County Zoo in Ungarn wurden 14 durch Abwürgen getötete Wallabys, Pampashasen und seltene Zwergziegen (Capra hircus nanus) offensichtlich Opfer eines Hundekampftrainings. Durch vergleichende mikroskopische Untersuchungen von Tatortspuren gerieten die Wachhunde des Zoos in Verdacht. Die STR-Analyse der Haare und einiger Blutspuren vom Tatort konnte sie jedoch als Täter ausschließen und machte stattdessen ein Einzeltier unbekannter Rasse für die Tat verantwortlich.Die DNA-Analyse wurde auch erfolgreich eingesetzt, um einen Hund zu identifizieren, der ein Miniaturpferd getötet und ein weiteres schwer verletzt hatte. Die Überführung des Tätertieres gelang mit Hilfe von Spuren von Pferdeblut am Rand der Wasserschüssel des Hundes. Diese stimmten mit dem genetischen Profil des getöteten Pferdes überein.Ein Dopingfall aus dem Pferderennsport konnte mit Hilfe einer aufgefundenen Spritze, die offensichtlich für die Verabreichung illegaler leistungsfördernder Substanzen verwendet worden war, aufgeklärt werden. Durch DNA-Analysen von Rückständen an der Spritze konnte nicht nur die Identität des betroffenen Tieres, sondern auch das genetische Profil der Person bestimmt werden, die die verbotene Substanz verabreicht hatte.
==== Wildlife Forensics ====
Der Unterbereich wildlife forensics beschäftigt sich überwiegend mit der Verfolgung, Aufdeckung und Ahndung von Verstößen gegen den Arten- und Naturschutz (sogenannte wildlife crimes). Darunter fallen nicht nur das Washingtoner Artenschutzabkommen (CITES), sondern auch nationale Naturschutzgesetze und lokales Jagdrecht.
Durch Wilderei und illegalen Tierhandel wird das Überleben bereits gefährdeter Arten ernsthaft in Frage gestellt. Grund für die drohende Ausrottung vieler Spezies ist der profitable Handel mit ihren seltenen und begehrten (Luxus-)Produkten. Bekannte Beispiele sind der Elfenbeinschmuck, die Kaviarproduktion und die lederverarbeitende Industrie. Der blühende Markt traditioneller asiatischer Arzneimittel (z. B. in der TCM) führte zu einer starken Nachfrage an Harnblasen, Genitalien, Zähnen und Hörnern bestimmter Arten (Großkatzen, Nashörner) – häufig aufgrund nachgesagter aphrodisierender Wirkungen. Trophäensammler dezimieren die letzten Populationen afrikanischer Caniden-, Katzen- und Antilopenarten. Der boomende Heimtiermarkt reicher Industrienationen hat den hemmungslosen Ausverkauf exotischer Vögel, Reptilien und Fische zur Folge.
Einen Schwerpunkt für die wildlife forensics bildet die Artbestimmung von beschlagnahmten Tieren bzw. deren Produkten. In Fällen, bei denen eine Unterscheidung der Arten mit bloßem Auge in „geschützt“ und „nicht-geschützt“ nicht mehr möglich ist, muss die Frage, ob eine Verletzung des Artenschutzes vorliegt, auf genetischer Ebene geklärt werden. Dies gilt z. B. für eng verwandte Fischarten, die in gemeinsamen Schwärmen leben und auch zur Bastardisierung untereinander neigen.
Unter Wilderei wird das widerrechtliche Erlegen und Aneignen von Wild verstanden. Dabei kann gegen ein absolutes Jagdverbot für bedrohte Tierarten oder das generelle Jagdverbot z. B. in Naturschutzgebieten verstoßen werden. Auch die Nichteinhaltung einer Schonzeit fällt darunter. Der Bruch geschlechtsspezifischer Jagdverbote ist ein häufiges Vergehen: so ist in Florida zwar die Jagd auf wilde Truthähne, nicht aber auf die Truthennen erlaubt. Auch die vergleichsweise kurze Jagdsaison für weibliche Rehe in Florida (nur zwei Tage im Jahr) führt regelmäßig zu Verletzungen des Jagdrechts. Das illegale Töten weiblicher Tiere ist durch die molekulargenetische Geschlechtsspezifikation anhand von verdächtigem Wildbret oder Blutspuren auf Jagdkleidung und -werkzeugen nachweisbar.Zahlreiche aufgeklärte Fälle von Wilderei belegen den Erfolg der angewendeten Methoden:
2005 konnten Jäger, die in einem Naturschutzgebiet in Texas einen Weißwedelhirsch gewildert hatten, durch Spuren von Hirschblut an ihrem registrierten Boot überführt werden. Angesichts der Beweislage gaben die Beschuldigten zu, gewildert zu haben, behaupteten jedoch – in der Hoffnung auf eine niedrigere Strafe und um das Geweih behalten zu können –, nur ein weibliches Tier getötet zu haben. Die Analyse der DNA konnte diese Aussage jedoch widerlegen und das Geschlecht des getöteten Stücks eindeutig als männlich bestimmen.
Der kopflose Kadaver eines Maultierhirsches, der 2002 in New Mexico unter den Überresten eines absichtlich gelegten Waldbrands gefunden wurde, konnte auf DNA-Basis einer von drei Hirschkopftrophäen zugeordnet werden, die später bei einem Verdächtigen beschlagnahmt wurden. Die für das genetische Profil notwendige Referenz-DNA war aus dem Rückenmark des verkohlten Kadavers gewonnen worden.
In Tansania wurde 1998 einem bereits zuvor auffällig gewordenen Verdächtigen die illegale Tötung eines Buschbocks nachgewiesen. Er wurde anhand von Blut- und Gewebespuren auf einem Jagdmesser überführt. Seine Behauptung, mit der Waffe zuvor ein Hausrind ausgeweidet zu haben, konnte durch eine Speziesidentifizierung auf Basis mitochondrialer DNA widerlegt werden.
Die Tötung einer in Simbabwe unter strengem Naturschutz stehenden Hyänenart im Jahr 1998 konnte einem Trophäensammler in seiner Heimat durch vergleichende Schädelmorphologie nachgewiesen werden, obwohl der präparierte Schädel unter falscher Deklaration bereits erfolgreich durch den Zoll geschmuggelt worden war.
In Indien gelang es, die Tötung und den Verzehr einer dort streng geschützten Pfauenart nachzuweisen. Am Tatort beschlagnahmtes gekochtes Fleisch und Vogeleingeweide stammten zwar nur von einem Huhn. Doch konnte vom Hackklotz, der zum Fleischzerteilen benutzt worden war, mittels mitochondrialer Sequenzanalysen die DNA eines Blauen Pfaus nachgewiesen werden.
=== Tiere als Täter ===
Ereignisse, bei denen Tiere zu „Tätern“ werden, umfassen in erster Linie tätliche Angriffe gegen Mensch und Tier, Verkehrsunfälle und Sachbeschädigungen.
==== Bissattacken ====
Bissattacken (z. B. durch Hunde) führen oft zu einem tödlichen Ausgang oder verursachen bleibende Schäden. Opfer sind meist Kleinkinder, alte Menschen oder auch andere Tiere. Mit Hilfe der forensischen Odontologie können anhand charakteristischer Bissmarken Aussagen zu Tierart und Rasse des Angreifers gemacht werden. Zu diesem Zweck werden die Weite des Zahnbogens, die Tiefe der Zahnabdrücke sowie tierart- und rassetypische Zahnanomalien herangezogen.
Das Angriffsverhalten und die Zahnstellung des Haushundes führen im Regelfall zu pathognomonischen Verletzungen, die aus einer Kombination von stichförmigen Einbissen der Canini mit multiplen, klaffenden Reißwunden bestehen (a-hole-and-a-tear-combination). Diese sind oft begleitet von Quetschungen und parallel verlaufenden, rissartigen Abschürfungen (Klauenmarken). Der kombinierte Abdruck beider Zahnbögen führt reproduzierbar zu typischen runden oder mandelförmigen Verletzungen.
Zusätzlich zur konventionellen Aufarbeitung eines Tatorts und dem Vergleich von Zahnabdrücken hat die DNA-Analyse für die Klärung solcher Fälle zunehmend Bedeutung erlangt. Hierbei werden Blutspuren und menschliche Haare auf dem Fell, im Maul oder vom Halsband sowie der Mageninhalt des Tätertieres ebenso berücksichtigt, wie die Untersuchung von Haaren und Speichelspuren des Angreifers auf der Kleidung oder dem Körper des Opfers. Sowohl die STR-Analyse, als auch die mtDNA-Haplotypisierung finden dabei erfolgreich Anwendung. Ergänzend eignet sich der Einsatz mitochondrialer Cytochrom b–Fragmente zur eindeutigen Speziesbestimmung.
Eine Frau wurde 2003 in einem öffentlichen Park im Cook County in Illinois von zwei Hunden angefallen und schwer verletzt. Auf der Suche nach den Hunden fand die Polizei ein zweites Opfer, das innerhalb weniger Stunden starb. Ein aggressiver Hund wurde getötet, in seinem Mageninhalt wurde Gewebe des zweiten Opfers gefunden. Daraufhin wurden zahlreiche streunende Hunde eingefangen, darunter auch der Hund, den die Polizei nach der Beschreibung des überlebenden Angriffsopfers für den zweiten Täter hielt. Für die öffentliche Sicherheit musste bestätigt werden, dass es sich bei dem Tier um den zweiten Angreifer handelte. Die Kleidung der Opfer wurde auf Hunde-DNA überprüft. Zusätzlich zu den mitochondrialen Haplotypen der Hunde, die den Opfern gehörten, konnten auch Haplotypen identifiziert werden, die mit denen der beiden verdächtigen Tiere übereinstimmten.
Im Jahr 2000 wurden in Oklahoma C. Ohman und V. A. Borja beschuldigt, einen bösartigen Hund zu besitzen, nachdem ihr Pit Bull „Trek“ die 74-jährige Nachbarin angefallen und dabei eine bleibende Behinderung verursacht hatte. Die aus Speichelspuren auf der Kleidung des Opfers isolierte Hunde-DNA stimmte mit „Treks“ genetischem Profil überein.
Im März 2000 wurde auf einem Sportgelände die Leiche eines siebenjährigen Jungen entdeckt. Als Todesursache wurden Hundebisse festgestellt. Obwohl die Justiz durch falsche Zeugenaussagen behindert wurde, konnten letztlich durch eine STR-Analyse von Speichelresten, Haaren und winzigen Blutspuren die beiden Wachhunde des Vaters als Täter identifiziert werden.
Ein junges Mädchen wurde Opfer einer schweren Hundebissattacke. Die STR-Analyse von Blutspuren, die vom Fell eines in Frage kommenden Hundes gesammelt wurden, ergab jedoch keinen Zusammenhang mit der Beißerei. Andere forensische Beweise wie Haare, Fasern und odontologische Untersuchungen konnten ebenfalls kein bestimmtes Individuum mit diesem Fall in Verbindung bringen.
Im Fall eines neunjährigen Jungen konnte eine von drei Deutschen Doggen anhand von Speichel auf der Kleidung des Opfers zweifelsfrei als Täter identifiziert werden. Dadurch konnte auf eine Euthanasie der beiden anderen in Frage kommenden Tiere verzichtet werden.
==== Verkehrsunfälle ====
Um bei Verkehrsunfällen den Tierhalter für den entstandenen Schaden haftbar zu machen, ist es nötig, das verursachende Tier auf DNA-Basis eindeutig zu identifizieren. Als Techniken können hier ebenfalls sowohl die STR-Analyse als auch mitochondriale Sequenzierung eingesetzt werden.
Ein Hund stand im Verdacht, einen Verkehrsunfall verursacht zu haben. Haarfragmente vom beschädigten Fahrzeug wurden einer Sequenz-Analyse der mitochondrialen DNA unterzogen. Die Ergebnisse wurden mit Referenzproben des beschuldigten Hundes sowie mit vier unabhängigen Kontrolltieren verglichen. Da das Beweismaterial nicht mit dem verdächtigen Hund übereinstimmte, konnte dieser als Quelle der Haare ausgeschlossen werden.
=== Tiere als Bindeglied ===
==== Grundsätzliches ====
Das zentrale Kerngebiet der animal forensics sind Tierspuren, die ein entscheidendes Bindeglied zwischen Täter und Opfer bei Kapitalverbrechen darstellen. Hierbei spielen besonders Haustiere eine Rolle.
Die Analyse von Tierhaaren, -speichel und verschiedenen Gewebespuren an Tatorten erlaubt es den Kriminologen manchmal, anhand dieses tierischen Spurenmaterials einen Verdächtigen mit der Tat in Verbindung zu bringen. Der Wert des Beweismaterials für das Knüpfen einer solchen Verbindung wird dabei von der Wahrscheinlichkeit beeinflusst, dass
die Zuordnung einer Spur zu einem Tier oder umgekehrt der Ausschluss eines Tieres auf einen Zufall zurückzuführen ist,
die Zuordnung durch einen Fehler der Spurensicherung zustande kam,
es alternative Erklärungen für das Vorhandensein dieser Spuren gibt (sekundärer Transfer, Kontamination, absichtliche Irreführung).
==== Haustierhaare ====
Millionen von Haushalten beherbergen Haustiere wie Hunde oder Katzen. Ebenso allgegenwärtig wie die Vierbeiner selbst sind auch ihre Haare, die überall in der näheren Umgebung ihrer Besitzer zu finden sind und an Kleidung und Gegenständen haften. Da diese Haare durch physischen Kontakt weitergegeben werden können (Transfer) kann ihr Vorkommen einen Verdächtigen folglich mit einem Opfer bzw. Opfer wie Täter mit einem bestimmten Tatort in Verbindung bringen.
Wird z. B. ein Opfer in einem Fahrzeug deponiert oder an einem Ort festgehalten, zu dem Tiere regelmäßig Zugang haben, resultiert daraus meist ein Transfer von Tierhaaren auf die Kleidung des Opfers („primärer Transfer“). Ebenso ist eine Übertragung von Tierhaaren auf das Opfer oder an den Tatort möglich, wenn der Verdächtige ein Haustier besitzt, dessen Haare sich während der Tat noch an seiner Kleidung befanden. Dies wird als „sekundärer Transfer“ von Spurenmaterial bezeichnet. Verräterische Katzen- oder Hundehaare sind ebenfalls sehr häufig auf klebenden oder anhaftenden Flächen zu finden, z. B. an Papier, Klebeband, Klettverschlüssen und Briefumschlägen (Lösegeld- oder Erpresserschreiben).
Haare tierischen Ursprungs an Tatorten oder an der Kleidung von Verdächtigen oder Opfern können darüber hinaus auch von einem Pelzmantel oder von Tierfell stammen. Sie sind oft künstlich gefärbt oder getrimmt und weisen meist keine Wurzel mehr auf. Auch diese Spuren können – ähnlich der forensischen Analyse von Fasern – helfen, den Täter mit Hilfe von Indizien zu überführen.
==== Wichtige Kriminalfälle ====
===== Der Fall „Snowball“ =====
Dieser berühmte Kriminalfall gilt als Präzedenz für die Möglichkeit, Tatverdächtige anhand des genetischen Profils von Tierhaaren mit Kapitalverbrechen in Verbindung zu bringen.
Bei der Suche nach der verschwundenen Shirley Duguay 1994 auf Prince Edward Island wurde in einem Waldstück eine blutbefleckte Männerlederjacke gefunden. Das menschliche Blut stimmte mit dem Profil der Vermissten überein. Ihr tatverdächtiger Ex-Mann konnte jedoch zunächst nicht mit dem Kleidungsstück in Verbindung gebracht werden. Im Futter der Jacke entdeckte man einige weiße Haare, die als Katzenhaare identifiziert werden konnten.
Die DNA, die man aus einer der Haarwurzeln isoliert hatte, diente als Grundlage zur Genotypisierung. Das resultierende genetische Profil wurde mit einem Referenzprofil aus dem Blut von „Snowball“ verglichen, einer weißen Katze, die im Elternhaus des Ehemanns lebte. Es lag 100 % Übereinstimmung vor. Die Wahrscheinlichkeit der Existenz einer weiteren Katze mit demselben Profil (probability of match identity) in Kanada oder den USA betrug 1:6,9 × 107. Auf der Basis dieser Beweislage wurde der Ehemann 1997 des Mordes für schuldig befunden.
===== Der Fall „Chief“ =====
In Seattle, Washington, verurteilte eine Jury Kenneth Leuluaialii und George Tuilefano wegen besonders schweren Mordes und Verletzung des Tierschutzrechts im Zusammenhang mit den 1996 erschossenen Jay Johnson, Raquel Rivera und dem Mischlingshund „Chief“. Die Blutspritzer auf Hose und Jacke der beiden Verdächtigen, die durch die Tötung des Hundes während der Ermordung der beiden Opfer auf die Kleidungsstücke der Täter gelangten, waren mit „Chiefs“ genetischem Profil identisch. Die Irrtumswahrscheinlichkeit (p-Wert) betrug 1:350 Millionen.
===== Der Fall „van Dam“ =====
Als einer der aufsehenerregendsten auf tierischem Beweismaterial beruhenden Kriminalfälle gilt der Mord an der siebenjährigen Danielle van Dam in San Diego im Jahr 2002. Die Hundehaare, die im Haus des Tatverdächtigen David Westerfield gefunden wurden, konnten dem Weimaraner der van Dams zugeordnet werden und erwiesen sich als wichtigstes Bindeglied zwischen Westerfield und dem Tod des Mädchens. Zum ersten Mal wurde hier aufgrund der Analyse mitochondrialer Hunde-DNA ein Mordfall aufgeklärt.
===== Weitere bekannte Fälle =====
Daniel Schraeder aus Vernon, Britisch-Kolumbien, wurde zusammen mit seinem kleinen Hund durch stumpfe Gewalteinwirkung getötet. Die Blutflecken auf der Hose des Verdächtigen bestanden aus einer Mischung von Menschen- und Tierblut, die mit den damals zur Verfügung stehenden RFLP-Methoden nicht untersucht werden konnte. 1996 wurde der Fall wieder aufgenommen. Die STR-Typisierung des nichtmenschlichen Blutes konnte den Hund des Opfers als Quelle nachweisen. Die kanadische Justiz erhob daraufhin Anklage wegen Mordes; ein Jahr später wurde der Verdächtige schuldig gesprochen.
Im Jahr 2003 wurde April Misty Morse in Florida entführt und ermordet. Ihre mit Klebeband gefesselte Leiche wurde in einem Fluss gefunden. Vom Klebeband konnten einige Hundehaare sichergestellt werden. Die Polizei vermutete, dass ihr Ex-Freund Brent Huck sie auf ihrem Boot ermordet hatte. Der mitochondriale Haplotyp der Hundehaare stimmte mit dem von Hucks eigenem Hund überein. Er wurde wegen Entführung und Mordes verurteilt.
Während eines sexuellen Übergriffs in Iowa beobachtete das Opfer den Urinabsatz ihres Hundes an den Reifen des Täterfahrzeugs. Obwohl der Verdächtige bestritt, jemals in der Nähe des Hauses gewesen zu sein, in dem das Opfer wohnte, stimmte das genetische Profil des Hundes perfekt mit den sichergestellten Spuren auf dem Reifen überein.
Einige der Blutspuren, die in der Gasse neben einem erstochenen Londoner Barkeeper gefunden wurden, stammten weder vom Opfer noch waren sie menschlicher Herkunft. Ein Institut der University of California wurde im Jahr 2000 von Scotland Yard mit der Untersuchung beauftragt. Die Blutspuren wurden als Hundeblut identifiziert und konnten dem Haustier des Hauptverdächtigen zugeordnet werden.
== Weiteres ==
=== Food forensics ===
Auf dem Lebensmittelsektor können sich die animal forensics mit dem Bereich der Lebensmittelüberwachung überschneiden, wenn Gesetzesverstöße eine erhebliche Straftat darstellen oder kriminelle Manipulationen im großen Maßstab begangen werden. In Fällen, wo gefährdete Arten kommerziell genutzt werden, ist der Übergang zwischen food forensics und wildlife forensics fließend. Der Verkauf falsch deklarierter Produkte mit Verstoß gegen das Artenschutzgesetz erweist sich dabei als Hauptproblem.
Methoden aus dem Bereich der animal forensics werden hier im Dienst des Schutzes des Verbrauchers vor Täuschung eingesetzt. Ein praxisnahes Beispiel stellt die Aufdeckung falsch deklarierter Kaviardosen dar, in denen Rogen von völlig anderen, geschützten Fischspezies (z. B. Paddelfisch) verarbeitet wurde. Auch die sichere Identifizierung illegal als Süßwasserschildkröten-Eier angebotener Eier von gefährdeten Meeresschildkröten ist nunmehr möglich. Molekulargenetische Tests erlauben auch Aussagen über den Strand, an der die Eier gesammelt wurden, da Schildkröten zur Eiablage immer an den Ort ihres eigenen Schlupfes zurückkehren.Die betrügerische Fehldeklaration von Lebensmittelinhaltsstoffen auf der Produktkennzeichnung ist weit verbreitete Praxis, vor allem bei geschätzten, teuren Lebensmitteln. Gängige Straftaten zur Täuschung des Verbrauchers durch Fehldeklaration sind:
Der Verkauf von Produkten, die Beimengungen an minderwertigem (z. B. Innereien) oder potentiell risikobehaftetem Gewebe aufweisen (Separatorenfleisch, Konfiskate, Nerven- und Hirngewebe).
Der Verkauf von gefälschten Produkten, die anteilig oder vollständig aus unerwünschten Bestandteilen fremder Tierarten bestehen (Döner, angerichtetes Wild).
Die Nichteinhaltung der im Lebensmittelrecht vorgeschriebenen Mindestmengen in Bezug auf Gewebe oder Tierart (Fleisch- und Milcherzeugnisse).
Der Betrug bei der Deklaration von Fischen mit den Prädikaten „wild gefangen“ und „gezüchtet“.
Der eindeutige Beweis, dass eine Täuschung stattgefunden hat, erfordert die genaue qualitative und quantitative Bestimmung der Inhaltsstoffe. Die molekulargenetischen Methoden zur Bestimmung von Spezies in Lebensmitteln tierischer Herkunft sind weitgehend identisch mit den oben angeführten. Methodische Probleme verursachen dabei Lebensmittel, die stark erhitzt oder industriell verarbeitet wurden, d. h. Produkte, bei denen das DNA-haltige Material nur schwer extrahiert oder von anderen Substanzen getrennt werden kann.
RFLP-Analysen des mitochondrialen Cytochroms b (s. o.) erlauben eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Wildfleischarten und die Abgrenzung zu Haustieren. STR-Marker werden in der Lebensmittelforensik nicht nur erfolgreich eingesetzt, um die Verfälschung von Lebensmitteln nachzuweisen, sondern erlauben u. a. auch die Unterscheidung beim Rotfisch zwischen „wild gefangen“ und „kultiviert“.Fleischrechtliche Vorschriften sowie die allgemeine Verkehrsauffassung regeln, welche Gewebe und Organe in Fleischerzeugnissen nicht verarbeitet werden dürfen. Dazu gehören z. B. Hirn und Rückenmark, Schleimhäute, Harnblasen, und Rinderhaut.
Eine klassische Methode, Fremdgewebe – z. B. Separatorenfleisch – in Fleischerzeugnissen nachzuweisen, ist die Histologie. Dabei werden sämtliche Gewebskomponenten anhand ihrer anatomisch-morphologischen Struktur und ihrer Affinität zu bestimmten Farbstoffen identifiziert. Der dadurch entstehende qualitativ-morphologische Befund liefert eine schlüssige Aussage über die gewerbliche Zusammensetzung des Produkts.
Die klassische Genetik stößt bei der Identifikation von Gewebskomponenten in tierischen Produkten an ihre Grenzen, da verschiedene Gewebe eines Individuums völlig identische DNA-Sequenzen aufweisen. Gewebe unterscheiden sich jedoch durch spezifische Muster ihrer Genaktivität: in der Muskulatur sind völlig andere Gene aktiv als im Gehirn. Diese Unterschiede werden durch subtile chemische Veränderungen in bestimmten DNA-Abschnitten ausgelöst (Epigenetik).
Aus gesundheitlicher Sicht (BSE/Creutzfeldt-Jakob-Krankheit) ist vor allem der Nachweis von Rinderhirn und -nervengewebe in Fleischprodukten relevant. Dessen Gewinnung und Verarbeitung ist bei Rind, Schaf und Ziege verboten. Neuartige Verfahren wie die Kombination der Real-Time-PCR mit der Reverse Transkriptase-PCR dienen nicht nur dem qualitativen Nachweis von nervengewebstypischen Proteinen, sondern ermöglichen auch das Ausmaß einer Verunreinigung mit ZNS-Gewebe in Lebensmitteln tierischer Herkunft.
=== Ein Fallbeispiel: Speziesidentifizierung aus Blut ===
Bevor sie als Jagd- und Gebrauchshunde eingesetzt werden, müssen sich Schweißhunde in verschiedenen Prüfungen beweisen. Eine davon dient der Kontrolle ihrer Fähigkeit, eine Spur aus Wildblut zu finden, aufzunehmen und zu halten. Dafür werden Blätter mit winzigen Mengen von Wildtierblut präpariert und als künstliche Spur im Trainingsgelände verteilt. Ein geübter Schweißhund muss die Spur problemlos finden und verfolgen können.
In einem belegten Fall versagten alle Hunde bei einer solchen Prüfung. Mit Hilfe einer molekulargenetischen Speziesbestimmung konnte nachgewiesen werden, dass die künstliche Spur nicht aus Blut eines Wildtiers gelegt worden war, sondern aus einer Mischung von Schaf- und Rinderblut bestand.
== Literatur ==
K. De Munnynck, W. Van de Voorde: Forensic approach of fatal dog attacks: a case report and literature review. In: International journal of legal medicine. 116, 5, 2002, ISSN 0937-9827, S. 295–300.
P. Savolainen, J. Lundeberg: Dog Genetic Data and Forensic Evidence. In: A. Ruvinsky, J. Sampson (Hrsg.): The Genetics of the Dog. CABI Publishing, Wallingford u. a. 2001, S. 521–536, ISBN 0-85199-520-9.
Egbert Lechtenböhmer: Praxisnahe Methoden für die Untersuchung von Haaren zur Tierartbestimmung in forensischer Sicht. Hannover 1982 (Hannover, Tierärztl. Hochsch., Diss.).
== Weblinks ==
Molekulare Forensik („DNA-Analyse überführt Wilddiebe“, „Kaviarhandel“) am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung Berlin
„Food-Forensik: Lebensmittelbetrügern auf der Gen-Spur“ beim ORF
J. Holmes: Feline Forensics. (engl.) in Syracus University Magazine
„U.S. "Animal Detectives" Fight Crime in Forensics Lab“ bei National Geographic
Dunn, T.: „Caught, After the Act: How Crime Solvers Use Scientific Sleuthing to Stay Hot on the Trail of Wildlife Criminals“ in ZoeGoer 6/2003 (Smithsonian National Zoological Park)
== Quellen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Animal_Forensics
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Tumorkachexie
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= Tumorkachexie =
Tumorkachexie, seltener kanzeröse Kachexie genannt, ist die Bezeichnung für eine als Folge einer Krebserkrankung bei Patienten auftretende Stoffwechselstörung, die zu Auszehrung (Kachexie) und Abmagerung bei den Betroffenen führt. Eine Tumorkachexie ist eine häufige Komplikation bei Krebserkrankungen, insbesondere bei bösartigen Tumoren des Verdauungstraktes, die sich ungünstig auf Krankheitsverlauf, Lebensqualität und Prognose auswirkt und selbst unmittelbar lebensbedrohlich werden kann. Die Tumorkachexie ist ein wesentlicher Faktor für die hohe Sterberate bei Krebserkrankungen.Die molekularen und biochemischen Ursachen, die zu einer Tumorkachexie führen, sind hochkomplex und noch nicht vollständig aufgeklärt. Eine wichtige Rolle bei der Ausbildung dieses Syndroms spielen Stoffwechselprodukte des Tumors und Botenstoffe, die – als Folge der Krebserkrankung – vom Körper der Betroffenen gebildet werden. Hinzu kommen noch psychologische Faktoren sowie Nebenwirkungen krebstherapeutischer Maßnahmen, die zu einem Appetitverlust der Patienten führen können. Im Gegensatz zu dem Gewichtsverlust bei einer Unterernährung werden bei der Tumorkachexie nicht nur Fettreserven abgebaut, sondern auch die Skelettmuskulatur.
Eine wirksame kurative Behandlung gibt es derzeit nicht. Alle therapeutischen Ansätze sind bisher palliativ, das heißt lediglich krankheitslindernd.
== Einordnung und Definition ==
Die meisten Autoren bevorzugen für die Tumorkachexie den Begriff Syndrom. Diese Bezeichnung wird dem komplexen Sachverhalt gerechter als die Einordnung als eigenständige Erkrankung.
In der angelsächsischen Fachliteratur wird meist vom cancer cachexia syndrome (CCS) oder auch cancer anorexia-cachexia syndrome (CACS) gesprochen. Kachexie ist ein Kofferwort aus dem griechischen κακὸς = kakos = „schlecht“ und ἕξiς = hexis = „Zustand“.Die Kachexie wird im Allgemeinen als multifaktorielles Syndrom, das jeden Bereich des Körpers erfasst und am einfachsten in seiner fortgeschrittenen Form durch den massiven Verlust von subkutanem Fett und Skelettmuskulatur festgestellt werden kann beschrieben.
Es gibt derzeit weder für die Kachexie noch für die Tumorkachexie eine verbindliche oder standardisierte Definition, was bei der hohen Prävalenz und Schwere dieses Syndroms wiederholt als unzulänglich angemahnt wurde.
Das Gleiche gilt bezüglich einer Klassifikation. Einer der Gründe hierfür ist das Fehlen von zuverlässigen Biomarkern, mit denen die Tumorkachexie diagnostisch mit Messwerten erfasst und klassifiziert werden könnte. Durch die fehlende Klassifikation gibt es derzeit keine dem Grad des Syndroms angepasste Behandlungsschemata.Für klinische Studien wurden bisher sehr unterschiedliche Definitionen für die Tumorkachexie herangezogen, die sich beispielsweise am prozentualen Verlust an Körpermasse oder dem Unterschreiten eines bestimmten Wertes beim Body-Mass-Index orientierten. Das Fehlen einer verbindlichen Definition erschwert den Vergleich klinischer Studien erheblich.Je nach gewählter Definition ergeben sich unterschiedliche Prozentsätze an Krebspatienten, die auch an einer Tumorkachexie leiden. Beispielsweise wurde eine Gruppe von 8541 Krebspatienten mit soliden Tumoren nach vier unterschiedlichen Kriterien analysiert. Nach der ICD-9-Diagnose Kachexie als Kriterium hätten 2,4 Prozent dieser Patienten eine Tumorkachexie. Bei einer erweiterten ICD-9-Klassifikation mit Kachexie, Anorexie, abnormalem Gewichtsverlust oder Problemen bei der Ernährung wären es 5,5 Prozent gewesen. Wird die Verschreibung von Arzneimitteln, wie Megestrol, Oxandrolon, Somatotropin oder Dronabinol, die auf eine Medikation einer Tumorkachexie hinweisen, als Kriterium herangezogen, so fielen 6,4 Prozent der Patienten unter dieses Kriterium. Wenn ein Verlust an Körpermasse von über 5 Prozent die Definition für die Tumorkachexie wäre, so hätten 14,7 Prozent dieser Krebspatienten dieses Kriterium erfüllt.Das Fehlen einer Definition der Kachexie hat negative Auswirkungen auf die Diagnose und Behandlung betroffener Patienten. Ebenso ist die Entwicklung und Zulassung von potenziellen Wirkstoffen dadurch erschwert. Am 13. und 14. Dezember 2006 wurde daher im Rahmen der Cachexia Consensus Conference in Washington, D.C. eine neue Definition der Kachexie vorgeschlagen. Danach ist die Kachexie „ein komplexes Stoffwechsel-Syndrom, das durch eine chronische Erkrankung bedingt ist und durch den Verlust an Muskelmasse, mit oder ohne Verlust an Körperfett, charakterisiert ist. Anorexie (Appetitlosigkeit), Entzündungen, Insulinresistenz und ein erhöhter Abbau von Muskelproteinen sind häufige Begleiterscheinungen einer Kachexie. Von der Kachexie, die mit einer erhöhten Morbidität verbunden ist, sind zu unterscheiden: Unterernährung, altersbedingter Verlust von Muskelmasse, primäre Depressionen, Malassimilation (verminderte Nährstoffausnutzung) und Hyperthyreose (Schilddrüsenüberfunktion)“.Eine aktuelle Empfehlung definiert eine Kachexie, wenn der
Verlust an Körpermasse über 5 Prozent innerhalb von zwölf oder weniger Monaten beträgt und wenn
gleichzeitig mindestens drei der fünf folgenden Kriterien erfüllt sind:
Abnahme der Muskelkraft
Fatigue
Anorexie
niedriger Fettfreie-Masse-Index (FFMI, fat-free mass index)
abnormale biochemische Werte:
erhöhte Markerwerte für Entzündungen
Anämie (Hb <12 g/dl)
niedriger Wert an Serumalbumin <3,2 g/dlDieser Definitionsvorschlag wurde allerdings bisher weder in epidemiologischen noch in klinischen Studien angewendet.
== Epidemiologie und gesundheitspolitische Bedeutung ==
Etwa 50 Prozent aller Krebspatienten sind im Laufe ihrer Erkrankung von einer Tumorkachexie betroffen. Die Wahrscheinlichkeit einer Tumorkachexie ist dabei sehr stark von der Art der Krebserkrankung abhängig. Nach der Sepsis (Blutvergiftung) ist die Tumorkachexie die häufigste Todesursache bei Krebserkrankungen. Je nach Autor liegt der Anteil der Tumorkachexie bei den Todesursachen von Krebserkrankungen bei 20 bis 50 Prozent. Die Schwankungsbreite bei den Prävalenzdaten (Krankheitshäufigkeit) ist ursächlich auf die bereits verwiesene fehlende Definition der Tumorkachexie zurückzuführen.
Für die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung einer Tumorkachexie spielt die Art der Krebserkrankung eine große Rolle. So versterben beispielsweise etwa 80 Prozent der Patienten mit Pankreastumor und 30 bis 50 Prozent der Patienten mit einer Krebserkrankung im Bereich des Magen-Darm-Traktes an einer Tumorkachexie. Bei bis zu 85 Prozent aller Patienten mit einer gastrointestinalen (Magen/Darm) Krebserkrankung kommt es im Krankheitsverlauf zu einer Tumorkachexie. Bei soliden Tumoren ist die Wahrscheinlichkeit einer Tumorkachexie deutlich höher als bei Krebserkrankungen des blutbildenden Systems (Leukämien, Myelodysplastische Syndrome und andere hämatologische Neoplasien). Eine Ausnahme bei den soliden Tumoren bildet das Mammakarzinom. Hier ist die Wahrscheinlichkeit für eine Tumorkachexie signifikant niedriger. Die Ausbildung der Tumorkachexie verläuft auch bei der gleichen Tumorart je nach Patient sehr individuell. Die Tumorkachexie kann bei betroffenen Patienten in allen Stadien der Krebserkrankung beobachtet werden, ist aber vor allem im terminalen Stadium der Erkrankung besonders häufig vorzufinden.Kinder und ältere Menschen sind von einer Tumorkachexie signifikant häufiger betroffen.Auch absolut gesehen ist die Tumorkachexie eine der häufigsten Todesursachen. In Deutschland sterben grob geschätzt etwa 50.000 Menschen pro Jahr an einer Tumorkachexie. Exakte Daten sind wegen der fehlenden Definition der Tumorkachexie und der üblichen Totenscheinpraxis nicht verfügbar.
== Klinisches Bild ==
Eine Tumorkachexie ist im Wesentlichen durch einen Gewichtsverlust des Patienten, häufig verbunden mit einer Anorexie (Appetitlosigkeit), Entzündungserscheinungen, Insulinresistenz und den Abbau der Skelettmuskulatur gekennzeichnet. In vielen Fällen ist die Anorexie ein Symptom der Tumorkachexie, allerdings kann sich eine Tumorkachexie auch ohne Anorexie entwickeln. Das Auftreten der Anorexie beschleunigt die Progression der Tumorkachexie.Während bei Gesunden ein Gewichtsverlust durch einen gesteigerten Appetit und damit verbunden durch eine höhere Nahrungsaufnahme kompensiert wird, ist dies bei kachektischen Patienten nicht der Fall.
Die Tumorkachexie führt bei den betroffenen Patienten zu einer allgemeinen Schwäche, Kraftabnahme und Immobilität sowie zu Müdigkeit, Antriebslosigkeit und Depressionen, was wiederum zu einer Beeinträchtigung der Lebensqualität führt. Die von den Betroffenen selbst eingeschätzte Lebensqualität wird durch eine Tumorkachexie in erheblicher Weise beeinträchtigt.
Einige Begleiterscheinungen der Tumorkachexie führen zu einem weiteren Voranschreiten dieses Syndroms durch einen selbstverstärkenden Prozess. So ist der Abbau an Muskelproteinen mit einem erhöhten Energieverbrauch verbunden, was wiederum zu einer Progression der Erkrankung führt. Appetitlosigkeit und Übelkeit führen zu einer verminderten Nahrungsaufnahme und verstärken ebenfalls den katabolischen Zustand. Der Proteinabbau ist im Wesentlichen auf die Skelettmuskulatur beschränkt. Die inneren Organe sind dagegen vom Proteinabbau kaum betroffen. Auch hier unterscheidet sich das Bild der Tumorkachexie von dem einer Unterernährung, bei der – nach Aufbrauch der Fettreserven – sowohl skelettale als auch viszerale Proteine abgebaut werden. Die Masse der Leber kann bei kachektischen Patienten durch erhöhte Stoffwechselaktivitäten und die Produktion von Akute-Phase-Proteine sogar deutlich zunehmen.
== Diagnose ==
Eine sicher diagnostizierte Krebserkrankung ist die erste Voraussetzung für die Diagnose einer Tumorkachexie.
Die Diagnose der Tumorkachexie selbst ist in den meisten Fällen sehr schwierig. Ein Gewichtsverlust bei einem Krebspatienten muss nicht zwangsläufig eine Kachexie sein. Eine Reihe von psychologischen Faktoren spielen dabei ebenso eine Rolle wie beispielsweise Obstruktionen oder Stenosen im Magen-Darm-Trakt, die eine Folge des Tumorwachstums sein können. Entzündungen der Mundschleimhäute (Stomatitis), Mundtrockenheit oder Pilzinfektionen (Mykosen) des Mundraumes (Mundsoor) sind mögliche Begleiterscheinungen einer Krebserkrankung, die die Nahrungsaufnahme negativ beeinflussen. Auch diagnostische und vor allem therapeutische Maßnahmen, insbesondere Chemo- und Strahlentherapie, können durch Appetitabnahme zu Gewichtsverlusten führen. Selbst wenn diese Einflussgrößen ausgeschlossen werden können, ist eine eindeutige Diagnose oft schwierig.
Die zurzeit wichtigsten Kriterien für die Diagnosestellung sind die Vorgeschichte (Anamnese) und die körperliche Untersuchung des Patienten. Das Körpergewicht vor Beginn der Krebserkrankung dient dabei als Referenz. Auch anthropometrische Untersuchungen können zur Diagnose der Tumorkachexie herangezogen werden. Dies sind – neben der bereits erwähnten elementaren Bestimmung des Körpergewichtes – beispielsweise die Messung des Umfangs am Oberarm oder die Dicke einer Hautfalte.
Mit der bioelektrischen Impedanzanalyse (BIA) kann die fettfreie Masse des Patienten bestimmt werden. Diese Methode ist allerdings in vielen Kliniken nicht verfügbar und als diagnostischer Standard der Tumorkachexie noch nicht etabliert.Einige Laborparameter können unterstützend zur Diagnosestellung herangezogen werden. Die Aussagekraft ist jedoch durch physiologische Veränderungen – bedingt durch die maligne Grunderkrankung und etwaige therapeutische Maßnahmen – oft sehr eingeschränkt. Als die Diagnose stützender Laborparameter kann der Gehalt an Humanalbumin im Serum herangezogen werden, der im Fall einer Tumorkachexie meist erniedrigt ist, aber bei Leber- und Nierenfunktionsstörungen – beispielsweise durch die Krebserkrankung bedingt – verfälscht sein kann. Die Konzentration an C-reaktivem Protein (CRP) im Serum kann als Folge einer bei der Tumorkachexie häufig zu beobachtenden Akute-Phase-Reaktion (APR) erhöht sein. Typische Marker für eine Akute-Phase-Reaktion sind Transferrin, Transthyretin und Caeruloplasmin. Andererseits kann eine Akute-Phase-Reaktion auch ohne Kachexie bei Krebserkrankungen auftreten, so dass diese Marker kein sicheres Maß für die Diagnosestellung „Kachexie“ darstellen.
Im Blut der Patienten sind häufig erhöhte Werte an Glycerin und Katecholaminen nachweisbar. Der erhöhte Glycerin-Gehalt ist auf den verstärkten Abbau von Körperfetten zurückzuführen. Ein Begleitsymptom der Tumorkachexie ist häufig eine Anämie.Zum Zeitpunkt der Diagnose der Krebserkrankung ist bei etwa 80 Prozent der Patienten mit Tumoren des oberen Magen-Darm-Traktes und bei 60 Prozent der Patienten mit einem Bronchialkarzinom ein bedeutender Gewichtsverlust (über 10 Prozent in sechs Monaten) festzustellen. In vielen Fällen ist der von den Patienten festgestellte Gewichtsverlust das erste Symptom der Krebserkrankung, die dann – im Rahmen der ärztlichen Untersuchung – als Ursache des Gewichtsverlustes diagnostiziert wird.Zum Zeitpunkt der Diagnose „Krebs“ beklagen bereits bis zu 50 Prozent der Krebspatienten eine Anorexie, in Form von Appetitverlust und vorzeitigem Sättigungsgefühl.
== Pathogenese (Entstehungsweise) ==
Eine Tumorkachexie entsteht durch ein komplexes, in den Details noch nicht vollständig aufgeklärtes, Wechselspiel von Stoffwechselprodukten des Tumors und Botenstoffen, die als Folge der Krebserkrankung im Körper des Betroffenen gebildet werden. Diese Verbindungen bewirken einen katabolischen Stoffwechsel, eine erhöhte Mobilisierung von Fetten aus dem Fettgewebe, einen verstärkten Abbau und einen reduzierten Aufbau von Proteinen in der Skelettmuskulatur sowie einen erhöhten Energieverbrauch der Körperzellen (Hypermetabolismus).
Bei einer Tumorkachexie liegt ein chronisch entzündlicher Zustand – ähnlich wie bei einer Infektion oder Entzündung oder Gewebeverletzung – vor. Dabei werden verschiedene pro-inflammatorische (entzündungsfördernde) Zytokine, Prostaglandine und vom Tumor selbst produzierte Faktoren überexprimiert. Diese Substanzen greifen unmittelbar in periphere und zentrale Regelkreise der Nahrungsaufnahme und des Stoffwechsels ein und sind darüber hinaus in der Lage, eine Muskelatrophie auszulösen.
Hinzu kommen weitere Faktoren, wie beispielsweise eine verminderte Nahrungsaufnahme, eine schlechte Verdauung (Maldigestion) beziehungsweise Absorption (Malabsorption), unter anderem als Folge von depressiven Stimmungen des Patienten. Auch Störungen bei der Geschmacksempfindung oder des Hungerzentrums können zur Tumorkachexie beitragen. Wiederkehrende Blutungen, beispielsweise bei ulzerierenden oder polypösen Magen-Darm-Karzinomen, können ebenfalls zu einem erhöhten Verlust an Eiweißen im Körper führen.
=== Zytokine ===
Ab einer bestimmten kritischen Größe eines Tumors setzt die Tumornekrose ein. Das heißt, dass im Zentrum des Tumors – infolge einer Unterversorgung mit Blut – Tumorzellen absterben. Bei dem Zerfall dieser Tumorzellen wird unter anderem der Tumornekrosefaktor TNF-α (früher, mit Bezug auf die Kachexie, Kachektin genannt) und eine Reihe weiterer Zytokine ausgeschüttet. Diese Substanzen bewirken vor allem in Hepatozyten (Leberzellen) Funktionsstörungen und führen zu einer negativen Stickstoffbilanz. Der Stoffwechsel wird auf Katabolismus umgestellt. Die Zytokine TNF-α, Interleukin-1, Interleukin-6 und Interferon-γ wurden in verschiedenen Experimenten als Mediatoren für den Verlust an Muskelmasse bei einer Tumorkachexie identifiziert. Tatsächlich sind diese Verbindungen prinzipiell in der Lage, eine Kachexie zu bewirken. So lässt sich im Tiermodell experimentell der Zustand einer Kachexie durch die Injektion von TNF-α herstellen. Dabei bewirkt TNF-α sowohl einen Abbau des Körperfetts als auch der Skelettmuskulatur. TNF-α beeinflusst dabei unmittelbar das Ubiquitin-Proteasom-System, den wichtigsten intrazellulären Proteinabbaumechanismus. Die Bildung von reaktiver Sauerstoffspezies (ROS) führt zu einer verstärkten Expression des Transkriptionsfaktors NF-κB. TNF-α senkt die Proteinsynthese durch eine verminderte Phosphorylierung des eukaryotischen Translations-Initiationsfaktors-4E eIF4E, der dadurch verstärkt an EIF4EBP1 (eukaryotischer Translation-Initiation-Faktor-4E-Bindungsprotein-1) binden kann und den aktiven eukaryotischen Initiationsfaktor 4F (eIF4F) reduziert. Lange Zeit nahm man deshalb an, dass die genannten Zytokine – und allen voran TNF-α – die Hauptursache für die Ausbildung einer Tumorkachexie sind.Bei Untersuchungen an Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen und Krebserkrankungen im Endstadium wurde allerdings festgestellt, dass bei den Betroffenen keinerlei Korrelation zwischen der Konzentration dieser Zytokine und dem Gewichtsverlust und einer Anorexie besteht. Auch konnte bei Krebspatienten – im Vergleich zu Gesunden – keine höheren Serumkonzentrationen von TNF-α nachgewiesen werden.
Bei Patienten mit einer durch AIDS oder einer durch Septikämie hervorgerufenen Kachexie sind dagegen die Plasmaspiegel dieser Zytokine signifikant erhöht. Für Zytokine als ein Auslöser der Tumorkachexie spricht zwar auch die Tatsache, dass Zytokine das Enzym Lipoproteinlipase inhibieren können. Durch die Inhibierung können die Adipozyten aus den Lipoproteinen im Plasma keine Triglyceride (Fette) aufbauen und folglich nicht speichern. Interessanterweise ist aber die Gesamtaktivität der Lipoproteinlipase und auch die Konzentration der entsprechenden mRNA im adipösen Gewebe bei Krebspatienten im Vergleich zu Gesunden unverändert, während die der hormonsensitiven Lipase (HSL) etwa doppelt so hoch ist. Auch führt die Inhibierung der TNF-α-Produktion – als möglicher Therapieansatz – zu keiner Verbesserung des Gesundheitszustandes.
Aufgrund dieser Daten geht man derzeit davon aus, dass die TNF-α, Interleukin-1, Interleukin-6 und Interferon-γ zwar prinzipiell in der Lage sind, eine Kachexie – wie beispielsweise bei AIDS oder einer Sepsis – zu bewirken, aber im Fall der Pathogenese einer Tumorkachexie offensichtlich nicht der Hauptfaktor sind.
=== Stoffwechselprodukte des Tumors ===
Tumoren produzieren katabolische Botenstoffe. Von den bisher identifizierten Botenstoffen sind der Proteolyse-induzierende Faktor (PIF) und der Lipid-mobilisierende Faktor (LMF) die wichtigsten Faktoren in der Pathogenese der Tumorkachexie.
Diese Faktoren bewirken komplexe, noch nicht vollständig aufgeklärte, neurohormonelle und metabolische Veränderungen, die zu einem katabolischen Stoffwechsel und Mangel an Nährstoffen führen können.
==== Lipid-mobilisierender Faktor ====
Aus dem Urin von Patienten mit einer Tumorkachexie wurde Mitte der 1990er Jahre erstmals ein Peptid isoliert, das bei Krebspatienten ohne Gewichtsverlust nicht nachweisbar ist und im Tiermodell in der Lage ist, eine Lipolyse hervorzurufen. Das lipid-mobilisierender Faktor genannte Peptid wirkt direkt auf die Adipozyten ein und stimuliert dort die Lipolyse über einen cAMP-abhängigen Prozess, der mechanistisch ähnlich wie bei lipolytischen Hormonen abläuft.
LMF ist ein 43 kDa schweres Homolog zum Zink-bindenden Plasmaprotein α-2-Glycoprotein (AZGP1, auch ZAG genannt). Wird LMF Mäusen injiziert, verlieren die so behandelten Tiere Körperfett, ohne dass dadurch die Nahrungsaufnahme der Tiere verändert wird. ZAG wird von den univakuolären Adipozyten des weißen Fettgewebes bei kachektischen Mäusen überexprimiert. Aufgrund der Datenlage geht man derzeit davon aus, dass LMF bei der Tumorkachexie beim Abbau von Körperfett einen wesentlichen Beitrag leistet.
==== Proteolyse-induzierender Faktor ====
Mitte der 1990er Jahre wurde bei Mäusen mit einem MAC16-Adenokarzinom ein sulfatiertes Glykoprotein mit 24 kDa molarer Masse isoliert, das zu einer Tumorkachexie führt, indem es einen Katabolismus in der Skelettmuskulatur induziert. Dieses, später Proteolyse-induzierender Faktor (PIF) genannte, Peptid, wurde auch im Urin von Patienten mit einer Tumorkachexie gefunden. Dagegen konnte es nicht bei Krebspatienten ohne Gewichtsverlust oder Patienten mit einem nicht durch Krebs initiierten Gewichtsverlust nachgewiesen werden.
Diese Ergebnisse wurden in einer Reihe weiterer Versuche und Studien bestätigt. Der Nachweis von PIF ist indikativ für einen Gewichtsverlust bei einer Tumorkachexie. NF-κB mediiert die durch PIF induzierte Proteinsynthese in der Skelettmuskulatur durch eine erhöhte Phosphorylierung von eIF2 an dessen α-Untereinheit. Das Blockieren des PIF-Rezeptors oder der Signalkaskade in der Skelettmuskulatur wird als ein potenzieller Ansatzpunkt für künftige Arzneimittel zur Behandlung der Tumorkachexie gesehen.Im Tierversuch wurde neben dem Abbau der Skelettmuskulatur eine verstärkte Produktion von Prostaglandin E2 nachgewiesen. PIF bindet in vitro mit einer sehr hohen Affinität im nanomolaren Bereich an das Sarkolemm von Skelettmuskelzellen bei Maus, Schwein und Mensch und an murine Myoblasten.
PIF ist ein potenzieller Marker für die Diagnose einer Tumorkachexie.
Die Funktion von PIF bei der Tumorkachexie des Menschen wird nicht von allen Arbeitsgruppen gleich stark eingeschätzt und ist Gegenstand kontroverser Diskussionen. Bei einigen Studien wurden Ergebnisse erhalten, die im Widerspruch zu den bisherigen Daten stehen. Auch konnte keine Korrelation zwischen dem Vorhandensein/Nichtvorhandensein von PIF und der Prognose eines Patienten gefunden werden.
=== Anorexie ===
→ siehe auch Hauptartikel AnorexieLange Zeit ging man davon aus, dass Unterernährung und Gewichtsverlust bei vielen Krebspatienten die alleinige Folge einer Appetitlosigkeit (Anorexie) sind. Durch den Tumor verursachte Obstruktionen (Einengungen, Verschlüsse) im Magen-Darm-Trakt, Schmerzen, Nebenwirkungen der Krebstherapie, Übelkeit oder Veränderungen in der gustatorischen Wahrnehmung (Geschmackssinn), können die Appetitlosigkeit hervorrufen. Da die Anorexie auch bei Abwesenheit oder Behandlung dieser Symptome bei Krebspatienten auftreten kann, vermutet man, dass durch den Tumor hervorgerufene Veränderungen die Appetitlosigkeit bewirken.
Der Body-Mass-Index (BMI) von Krebspatienten korreliert ebenso wie bei gesunden Vergleichspersonen mit der Konzentration von Leptin. Das heißt, dass bei einem großen BMI-Wert im Serum hohe Leptinkonzentrationen gemessen werden. Leptin ist ein wichtiger, von Adipozyten produzierter, Botenstoff, der das Auftreten des Hungergefühls hemmt. Bestimmte Zytokine können die Produktion an Leptin in Adipozyten beeinflussen. Bei Krebspatienten im fortgeschrittenen Stadium ist die Serumkonzentration des Zytokins Interleukin-6 (IL-6) signifikant erhöht, was bei den Betroffenen zu einer Senkung des Leptinspiegels im Blut führt. Die Überlebensrate bei Patienten mit hohen IL-6 Konzentrationen, und daraus folgenden besonders niedrigen Leptin-Werten, ist signifikant verkürzt. Neben der veränderten Leptin-Produktion spielt auch die Aktivität des Enzyms Fettsäure-Synthase (FAS) und des Melanozyten-stimulierenden Hormons (MSH) offensichtlich eine wichtige Rolle bei der Anorexie.Wird die Appetitlosigkeit bei einer Krebserkrankung medikamentös, beispielsweise durch Substanzen, die den Appetit anregen, oder durch künstliche Ernährung (enteral oder parenteral) behandelt, so wird keine Verbesserung des Stoffwechsels hin zum Anabolismus (Aufbau von Körpermasse) und weg vom Katabolismus (Abbau von Körpermasse) erreicht. Messbare Gewichtszunahmen, die durch die Gabe von appetitstimulierenden Substanzen erreicht werden, beschränken sich auf die Zunahme an Fettgewebe und die Einlagerung von Wasser im Interstitium der behandelten kachektischen Patienten. Muskelmasse wird dabei kaum aufgebaut.Im Gegensatz zu einer Anorexie, bei der die fettfreie Körpermasse (Magermasse) weitgehend erhalten bleibt, wird bei der Tumorkachexie auch die Skelettmuskulatur abgebaut. Bis zu 80 Prozent des Fettgewebes und der Skelettmuskulatur können dabei verloren gehen. Beispielsweise resultiert bei Patienten mit Lungenkrebs, die 30 Prozent ihrer ursprünglichen Körpermasse durch die Erkrankung eingebüßt haben, der Gewichtsverlust aus einer Reduzierung des Fettgewebes um 85 und der des skelettalen Muskeleiweißes um 75 Prozent.Anorexie ist ein zusätzliches – die Tumorkachexie sehr häufig begleitendes – Symptom, das das Ergebnis eines gestörten Appetit-Signalweges ist und für den massiven Verlust an Muskeleiweiß bei einer Krebserkrankung nicht verantwortlich ist.
Im angelsächsischen Sprachraum hat sich der Begriff Cancer Anorexia-Cachexia Syndrome (CACS) an Stelle des Begriffes Cancer Cachexie etabliert.
=== Direkte Einflüsse des Tumors ===
Nach dem veralteten Entstehungsmodell der Tumorkachexie ging man davon aus, dass der erhöhte Energiebedarf des Tumors im Wesentlichen für dieses Syndrom verantwortlich ist. Diese These war bis in die 1980er Jahre hinein allgemein anerkannt und ist heute noch in der Bevölkerung weit verbreitet – aber in dieser Form nicht mehr haltbar. Größere Tumoren können einen erhöhten Nährstoffbedarf bei den betroffenen Patienten verursachen. Dieser erhöhte Nährstoffbedarf ist aber nicht die Ursache der Tumorkachexie.
Eine Tumorkachexie kann unabhängig von Größe und Ausdehnung des Tumors und unabhängig von einer Metastasierung auftreten. Das Risiko der Ausbildung einer Tumorkachexie ist deutlich stärker von der Art der Krebserkrankung abhängig, als beispielsweise von der Tumorgröße, dem Tumorort und dem Metastasierungsgrad. Kachexie kann bei bestimmten Tumortypen schon bei 5 cm³ Tumorvolumen beobachtet werden, während bei anderen Karzinomen große Tumoren keine Kachexie auslösen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass kachektische Tumoren eine veränderte Genexpression aufweisen, die es den Tumorzellen erlaubt, lipolytische (fettabbauende) und proteolytische (eiweißabbauende) Proteine zu produzieren, die die Kachexie ermöglichen.In einer Reihe von verschiedenen Studien wurde untersucht, ob der Ruheenergieverbrauch (resting energy expenditure, REE) von kachektischen Krebspatienten erhöht ist. Die Daten sind teilweise widersprüchlich beziehungsweise ohne signifikante Ursache-Wirkungs-Beziehung. Teilweise zeigen die Studien einen erhöhten Energiebedarf, teilweise das genaue Gegenteil oder einen unveränderten Energiebedarf, so dass derzeit keine gesicherten Erkenntnisse dazu vorhanden sind.Bei größeren Tumoren kann ein zusätzlicher Energiebedarf von bis zu 300 kcal pro Tag auftreten. Tumoren verbrauchen große Mengen an Glucose, die, bedingt durch die anaeroben Bedingungen im Tumor, zu Lactat abgebaut wird. Das Lactat wird in der Leber im sogenannten Cori-Zyklus wieder in Glucose umgewandelt. Dieser Vorgang ist sehr energieintensiv. Bei Gesunden liegt der Anteil der über den Cori-Zyklus umgesetzten Glucose bei etwa 20 Prozent, bei kachektischen Patienten bei etwa 50 Prozent. Dies entspricht dann einem Anteil von 60 Prozent an der gesamten Lactat-Produktion. Dieser zusätzliche Energiebedarf ist zwar nicht die Ursache der Tumorkachexie, aber ein für die Ernährung des Patienten wichtiger Aspekt.
== Therapie und zukünftige Therapieansätze ==
Derzeit gibt es keinen von der FDA oder der Europäischen Kommission zugelassenen Arzneistoff für die Therapie der Tumorkachexie. Einige Nahrungsergänzungsmittel, sowie Fertigarzneimittel, die für andere Indikationen zugelassen sind (Off-label use), werden teilweise zur Behandlung eingesetzt. Ihr Einsatz ist rein palliativ. Eine unmittelbare kurative Behandlung der Tumorkachexie ist derzeit nicht bekannt. Eine Heilung ist nur möglich, wenn die der Tumorkachexie zugrunde liegende Krebserkrankung beseitigt wird (mittelbare Behandlung). Dies wäre die wirksamste Therapie der Tumorkachexie. Da die Tumorkachexie häufig erst in einem späten Stadium einer Krebserkrankung auftritt, sind die Chancen auf eine Heilung der Krebserkrankung und damit der Tumorkachexie in der Regel sehr gering. In vielen Fällen ist eine Heilung der Grunderkrankung „Krebs“ durch therapeutische Maßnahmen nicht mehr möglich. Die betroffenen Patienten sind therapieresistent – „austherapiert“.
Das wesentliche Therapieziel bei der Tumorkachexie ist es, die Lebensqualität der betroffenen Patienten signifikant zu verbessern. Daneben soll die Gesamtüberlebenszeit erhöht und der Körper für tumortherapeutische Maßnahmen (Operation, Chemotherapie, Strahlentherapie) gestärkt werden.
Die derzeit etablierten Maßnahmen zur Behandlung der Tumorkachexie sind in ihrer Wirksamkeit unzureichend, so dass die Behandlungserfolge sehr bescheiden sind. Die Ursachen hierfür liegen zum einen in dem lückenhaften Wissen über die Pathogenese der Tumorkachexie und zum anderen an der Vielzahl von Einflussfaktoren auf die Pathogenese selbst. Bedingt durch den letztgenannten Aspekt wird derzeit davon ausgegangen, dass eine einzelne Therapie alleine – auch zukünftig – nicht der universelle Lösungsansatz sein wird. Vielmehr ergibt sich die Notwendigkeit, mehrere Behandlungsarten miteinander zu kombinieren. Einige Onkologen sehen zukünftige Krebstherapien kombiniert mit einer Therapie gegen Anorexie und Tumorkachexie, gleich zu Beginn der Diagnosestellung „Krebs“. Man verspricht sich dadurch synergistische Effekte, die sich zum einen in einer besseren Ansprechrate bei der Tumortherapie und zum anderen in einer deutlich verbesserten Lebensqualität niederschlagen.
=== Erhöhung der Nahrungsaufnahme und Appetitanreger ===
Die naheliegendste therapeutische Maßnahme ist die Erhöhung der Nahrungsaufnahme beim Patienten. Auch wenn die Appetitlosigkeit des Patienten überwunden werden kann und der Nährstoffbedarf mehr als nur gedeckt wird – gegebenenfalls durch künstliche Ernährung mit hohem physiologischem Brennwert – so führen diese Maßnahmen alleine nicht zu einer Zunahme der fett- und wasserfreien Körpermasse. Der katabolische Proteinabbau in der Skelettmuskulatur lässt sich dadurch nicht aufhalten oder gar rückgängig machen. Auch die Gabe von lediglich den Appetit anregenden Substanzen kann daher den katabolischen Abbau nicht verhindern.
==== Ghrelin ====
→ siehe Hauptartikel Ghrelin
Ghrelin (engl. Growth Hormone Release Inducing) ist ein aus 28 Aminosäuren bestehendes appetitanregendes Peptidhormon. Es wird aus dem Präkursor-Protein Preproghrelin – das aus 117 Aminosäuren besteht – durch posttranslationale Modifikation in der Magenschleimhaut gebildet. Es ist das derzeit einzige identifizierte Hormon, das im menschlichen Körper zirkuliert und den Appetit anregt. Ghrelin stimuliert die Ausschüttung von Neuropeptid Y (NPY), das unter anderem den Hunger und die Motilität des Magen-Darm-Traktes beeinflusst.
In präklinischen Versuchen mit Modellorganismen wurden vielversprechende Ergebnisse bei der Behandlung kachektischer Mäuse mit Ghrelin erhalten. Die Anregung des Appetits und eine erhöhte Nahrungsaufnahme konnten nachgewiesen werden; ebenso der Aufbau von Muskelmasse. Überraschend waren zudem die positiven Auswirkungen gegen Verdauungsstörungen und Erbrechen bei gleichzeitig durchgeführter Chemotherapie.Ghrelin kann subkutan oder intravenös verabreicht werden. Es ist im Allgemeinen gut verträglich. Unerwünschte Nebenwirkungen sind weitgehend unbekannt. Das Tumorwachstum wird durch die Einnahme von Ghrelin nicht stimuliert. Im Tiermodell sowie bei ersten Tests am Menschen wurden jedoch nach wiederholter Gabe Ghrelin-Resistenzen festgestellt, die durch höhere Dosen kompensiert werden konnten. Der Mechanismus der Resistenzbildung ist ähnlich dem einer Insulinresistenz. Die Gefahren eines Diabetes mellitus bei der Einnahme von Ghrelin über längere Zeiträume werden ebenfalls diskutiert.Ghrelin befindet sich noch in der klinischen Erprobung. Der Nachweis der Wirksamkeit beim Menschen mit der Indikation Tumorkachexie (erfolgreiche Phase III) steht noch aus. Erst danach können Arzneimittelzulassung und Markteinführung erfolgen.
==== Megestrol ====
Megestrol ist ein Sexualhormon aus der Gruppe der Progesterone. Die Substanz hat nachweislich eine orexigene (appetitanregende) Wirkung. 1993 wurde Megestrol von der FDA für die Behandlung von Anorexie, Kachexie oder nicht erklärbarem Gewichtsverlust bei AIDS-Patienten zugelassen. Für Krebspatienten mit einer Tumorkachexie liegt keine Zulassung vor. Dieses Arzneimittel ist gut verträglich und weist nur geringe Nebenwirkungen auf. Der Wirkungsmechanismus zur Appetitanregung ist noch unklar. Megestrol erhöht bei Patienten mit Tumorkachexie nachweislich den Appetit. Auch lässt sich eine Gewichtszunahme nachweisen. Eine signifikante Steigerung der Lebensqualität konnte bei den bisher durchgeführten Studien allerdings nicht nachgewiesen werden. Auch die Überlebenszeit konnte im Vergleich zu Patienten, die ein Placebo erhielten, nicht erhöht werden.Beim Vorliegen einer Anorexie ohne Kachexie ist Megestrol wirksam. Dagegen ist die Gewichtszunahme bei kachektischen Patienten im Wesentlichen auf die Zunahme von Fettgewebe und die Einlagerung von Wasser im Interstitium zurückzuführen. Der gewünschte Effekt der Zunahme an Skelettmuskelmasse bleibt jedoch aus.
==== Cannabinoide ====
Endocannabinoide haben beim Menschen eine appetitanregende Wirkung. Die gleiche Wirkung ist von pflanzlichen Cannabinoiden, beispielsweise aus Hanf (Cannabis sativa), seit dem Altertum bekannt. Für Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC), dem Hauptwirkstoff von Cannabis sativa, und dem teil-synthetisch hergestellten THC Dronabinol ist die appetitanregende Wirkung nachgewiesen. Die Substanz ist als Arzneimittel zur Therapie der Anorexie und Kachexie bei AIDS und als Antiemetikum bei Krebserkrankungen in den USA zugelassen.In einer groß angelegten, multizentrischen randomisierten placebokontrollierten Doppelblind-Phase-III-Studie mit 289 Patienten konnte über einen Zeitraum von sechs Wochen allerdings kein Unterschied zwischen dem THC-Arm und dem Placebo-Arm bezüglich Appetit, Übelkeit, Stimmungslage und Lebensqualität festgestellt werden. Andere vergleichende Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen.Auch andere Appetitanreger oder Serotonin-Antagonisten zeigten in klinischen Studien, dass sie den progressiven Gewichtsverlust bei einer Tumorkachexie nicht aufhalten können.
=== Inhibierung von Akute-Phase-Proteinen bzw. deren Botenstoffe ===
Akute-Phase-Proteine (APP) werden bei akuten oder chronischen Entzündungsreaktionen vor allem in der Leber produziert und in die Blutbahn abgegeben. Die Produktion der Akute-Phase-Proteine wird dabei im Wesentlichen durch die Botenstoffe Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) und Interleukin-6 (IL-6) angeregt. Als Akute-Phase-Proteine werden unter anderem C-reaktives Protein sowie verschiedene Transport- und Komplementproteine produziert. Die APPs wirken unter anderem auf das Zentralnervensystem und beeinflussen dort den Appetit, die Essgewohnheiten und den Metabolismus. Welches APP wie und wo genau wirkt ist noch nicht vollständig bekannt und Gegenstand aktueller Forschungsarbeiten. Speziell bei Tumoren in den Organen Bauchspeicheldrüse, Lunge, Speiseröhre, Nieren ist die Produktion von APPs signifikant erhöht. Ein therapeutischer Ansatz zur Behandlung der Tumorkachexie besteht in der Inhibierung der Akute-Phase-Proteine beziehungsweise der Botenstoffe, die in der Leber die Produktion der APPs anregen.
==== Nichtsteroidale Antirheumatika ====
Verbindungen mit entzündungshemmender Wirkung, wie die nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) Ibuprofen oder Indometacin, hemmen die Akute-Phase-Proteine unspezifisch. Sowohl im Tiermodell als auch bei Patienten mit einem Pankreastumor oder kolorektalem Karzinom konnte der Proteinmetabolismus positiv beeinflusst werden. Mit Indometacin wurde die Überlebenszeit signifikant erhöht. Außer diesen unspezifischen Ansätzen zur Inhibierung von Akute-Phase-Proteinen wird auch an der spezifischen Hemmung einzelner APPs – beziehungsweise von Botenstoffen, die die Produktion der APPs anregen – geforscht. Ein Beispiel hierfür ist die Inhibierung von Interleukin-6. Die bisherigen Versuche waren jedoch erfolglos.
==== Steroidale Entzündungshemmer ====
Auch steroidale Entzündungshemmer wie das Glucocorticoid Prednisolon zeigen in klinischen Studien positive Resultate. Glucocorticoide werden oft zur Behandlung einer Tumorkachexie verabreicht. Die sonst meist unerwünschte Nebenwirkung Gewichtszunahme bei Glucocorticoiden ist in diesem Anwendungsfall erwünscht. Prednisolon und Dexamethason erhöhen signifikant den Appetit der Patienten und verbessern so deren Lebensqualität. Außerdem werden über die entzündungshemmende Wirkung Zytokine inhibiert. Die Wirkung der Glucocorticoide ist aber nur von kurzer Dauer und der Zustand der Skelettmuskulatur wird durch die Glucocorticoid-Gabe nicht verbessert. Die Gesamtüberlebenszeit wird in einigen Studien gegenüber der Placebo-Gabe signifikant erhöht. Die unerwünschten Nebenwirkungen der Glucocorticoide, wie beispielsweise Übelkeit, Schmerzen, Wasserretention, Schwäche und Insulinresistenz oder gar Osteoporose und Immunsuppression sind allerdings so erheblich, dass der therapeutische Nutzen sehr fragwürdig ist und kontrovers diskutiert wird. In der Behandlung der Tumorkachexie sind die Glucocorticoide nicht etabliert.
==== TNF-α-Inhibitoren (Thalidomid) ====
Erfolgversprechender sind die Ansätze zur Inhibierung von TNF-α. Thalidomid – wesentlich bekannter unter dem Markennamen Contergan – ist ein selektiver Antagonist von TNF-α und TGF-β. Im Tiermodell als auch bei ersten klinischen Studien wurden positive Ergebnisse erhalten. Beispielsweise führte die Gabe von Thalidomid bei acht von zehn Patienten mit inoperablem Speiseröhrenkrebs zu einer Zunahme der fett- und wasserfreien Körpermasse.
Auch bei Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs konnte der Abbau der Skelettmuskulatur signifikant verzögert werden. Allerdings konnte die Überlebenszeit der mit Thalidomid behandelten Patienten – im Vergleich zur Placebo-Gruppe – nicht erhöht werden, obwohl bei sehr vielen Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs die Tumorkachexie die unmittelbare Todesursache ist.
Thalidomid und weitere Inhibitoren werden in einer Reihe von kontrollierten klinischen Studien zur Therapie der Tumorkachexie getestet und müssen ihre therapeutische Wirksamkeit noch beweisen.
=== Inhibierung der Proteasom-Aktivität ===
Der Abbau der Proteine der Skelettmuskulatur erfolgt – unabhängig vom auslösenden Botenstoff – über das Ubiquitin-Proteasom-System. Ein therapeutischer Ansatzpunkt ist es daher, die Aktivität des Proteasoms zu reduzieren. Mehrere Proteasominhibitoren befinden sich in der klinischen Erprobung. Der erste in den USA und der EU zugelassene Proteasominhibitor, Bortezomib, ist wirksam gegen das Multiple Myelom.
==== 3-Hydroxy-3-methylbuttersäure ====
3-Hydroxy-3-methylbuttersäure (HMB), meist als β-Hydroxy-β-methylbuttersäure oder β-Hydroxy-β-methylbutyrat bezeichnet, ist ein Stoffwechselprodukt der essentiellen Aminosäure Leucin. Etwa 5 Prozent des aufgenommenen Leucins wird zu HMB metabolisiert. HMB wird als Nahrungsergänzungsmittel angeboten und zeigt im menschlichen Körper unter anderem anabole, anti-katabole, und lipolytische Effekte. HMB wird daher von vielen Bodybuildern und Kraft- oder Ausdauerathleten eingenommen, um die Muskelmasse beziehungsweise Leistungsfähigkeit legal zu steigern. Bei austrainierten Athleten ist allerdings weder bei der aeroben, als auch bei der anaeroben Leistung, eine Leistungssteigerung durch die Einnahme von HMB messbar.Im Tiermodell kachektischer Mäuse konnte gezeigt werden, dass sowohl der Abbau von Protein reduziert, als auch der Aufbau von Muskelmasse stimuliert wird. Wird HMB zusammen mit PIF, das das Ubiquitin-Proteasom-System hochreguliert, den Versuchstieren verabreicht, so kann die Wirkung von PIF durch HMB vollständig kompensiert werden. HMB wirkt dabei offenbar regulierend auf die Expression von NF-κB ein, das weniger stark von den Zellen produziert wird. Der Mechanismus zum Aufbau von Proteinmasse erfolgt über den mTOR-Rezeptor, dessen Phosphorylierung offensichtlich durch HMB stimuliert wird.Eine Reihe von klinischen Studien mit gesunden Probanden, trainiert und untrainiert, wurden mit HMB durchgeführt. Die Ergebnisse sind teilweise widersprüchlich. Es gibt aber schlüssige Anhaltspunkte dafür, dass die Gabe von HMB für die Tumorkachexie eine wirksame zukünftige Therapieform sein könnte. In einer Studie mit kachektischen Patienten wurde eine Zunahme der fettfreien Körpermasse durch die Gabe von HMB in Kombination mit den Aminosäuren Arginin und Glutamin nachgewiesen. In einer randomisierten placebokontrollierten Phase-III-Doppelblindstudie mit 472 Patienten nahm die fettfreie Körpermasse der Patienten, die HMB zusammen mit Arginin und Glutamin erhielten, zu. Allerdings beendeten nur 37 Prozent aller Patienten die Studie, wodurch der primäre und sekundäre Endpunkt nicht erreicht werden konnten und auch deshalb kein Nachweis für die Wirksamkeit von HMB zur Behandlung der Tumorkachexie erbracht werden. Weitere, breit angelegte Studien sind notwendig, um den Nachweis der Wirksamkeit zu erbringen.
==== Bortezomib ====
→ siehe Hauptartikel Bortezomib
Bortezomib ist ein zur Therapie des Multiplen Myeloms zugelassener Proteasom-Inhibitor. Die Verbindung zeigte in klinischen Studien, die das Ziel hatten den bei der Tumorkachexie stattfindenden proteolytischen Muskelabbau zu verzögern beziehungsweise zu verhindern, keine ausreichende Wirkung.
==== Eicosapentaensäure ====
→ siehe Hauptartikel Eicosapentaensäure
Eicosapentaensäure, meist als EPA (engl. Eicosapentaenoic acid) abgekürzt, ist eine mehrfach ungesättigte Fettsäure aus der Klasse der Omega-3-Fettsäuren. Es ist eines der Hauptbestandteile bestimmter Fischöle, speziell von Fettfischen. EPA hat entzündungshemmende Eigenschaften und ist das einzige Nahrungsergänzungsmittel, das über verschiedene Mechanismen in der Lage ist, Einfluss auf das Proteasom zu nehmen. Die Aktivität des Proteasoms, das im Inneren der Körperzellen Proteine in Fragmente zerlegt, wird durch EPA vermindert. Der Abbau von Muskelproteinen sollte – so das Wirkungsmodell – reduziert werden können.
In ersten Studien an Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkarzinomen konnte der kachektische Gewichtsverlust reduziert werden. Das EPA wurde dabei von den Patienten ohne signifikante Nebenwirkungen gut toleriert.
Dieser Erfolg konnte in drei nachfolgenden, groß angelegten und placebokontrollierten randomisierten Doppelblindstudien nicht wiederholt werden.
Im Tiermodell „Maus“ konnte kein Einfluss von EPA auf die Proteinsynthese festgestellt werden.
=== Andere Therapiekonzepte ===
==== Insulin ====
→ siehe Hauptartikel InsulinDas Hormon Insulin ist ein potenter Regulator des Proteinumsatzes im Körper. Durch die Gabe von Insulin lässt sich die Aufnahme von Kohlenhydraten bei kachektischen Patienten stimulieren. In einer klinischen Studie nahmen die Patienten mit unterschiedlichen Tumorerkrankungen an Körpergewicht zu, allerdings im Wesentlichen durch einen erhöhten Anteil an Körperfett. Die fettfreie Körpermasse blieb unverändert. Durch die Insulingabe wurde das Tumorwachstum nicht beeinflusst und die Überlebenszeit im Vergleich zur Kontrollgruppe leicht erhöht.
==== Hydraziniumsulfat ====
Hydraziniumsulfat war einer der ersten Wirkstoffe, der gezielt gegen die Tumorkachexie eingesetzt wurde. Die Verbindung ist ein Inhibitor der Gluconeogenese, das heißt der Bildung von Glucose im Körper aus Nicht-Kohlenhydraten. Hydraziniumsulfat deaktiviert dabei das Enzym Phosphoenolpyruvat-Carboxykinase. In ersten klinischen Studien konnte bei der Behandlung von Krebspatienten in einem späten Krankheitsstadium eine verbesserte Glucosetoleranz, ein verminderter Glucoseumsatz, eine erhöhte Aufnahme an Nährstoffen und eine Stabilisierung oder gar Zunahme des Körpergewichtes festgestellt werden. Die unerwünschten Nebenwirkungen waren dabei gering.
Die damalige Intention der Gabe von Hydraziniumsulfat war, dass man von der Hypothese ausging, dass eine unkontrollierte Glucogenese in engem Zusammenhang zur Tumorkachexie steht.In späteren Studien wurde festgestellt, dass die Verabreichung von Hydraziniumsulfat zur Therapie der Tumorkachexie wirkungslos ist, wodurch dieser Therapieansatz mittlerweile obsolet ist.
==== Gentherapie ====
Follistatin und Myostatin sind zwei körpereigene Proteine, die das Muskelwachstum kontrollieren. Während Follistatin das Muskelwachstum anregt, bewirkt Myostatin das genaue Gegenteil. Beide Verbindungen bilden einen Regelkreis, der das Muskelwachstum bei Säugetieren kontrolliert. Die Gabe oder zelluläre Überexprimierung von Follistatin, beziehungsweise die Inhibierung von Myostatin oder das Abschalten des für Myostatin codierenden Gens, sind potenzielle Therapieansätze der Tumorkachexie. Mit diesen Ansätzen ist es gegebenenfalls möglich, dem Abbau an Muskelmasse durch die Tumorkachexie entgegenzuwirken. Im Tiermodell konnten damit erste Erfolge erzielt werden. Dieser Therapieansatz befindet sich noch in der präklinischen Phase und ist – selbst bei einem Nachweis der Wirksamkeit – noch viele Jahre von einer Zulassung als Arzneimittel entfernt.
== Prognose ==
Der Schweregrad einer Tumorkachexie korreliert umgekehrt proportional mit der mittleren Überlebenszeit eines Krebspatienten. Das heißt, je ausgeprägter die Tumorkachexie ist, umso kürzer ist die Überlebenszeit des Betroffenen. Grundsätzlich ist eine Tumorkachexie mit einer schlechten Prognose für den Patienten verbunden. Ein Gewichtsverlust bei einer Krebserkrankung ist ein eigenständiger Prognosefaktor.
Eine Tumorkachexie erhöht die Wahrscheinlichkeit für postoperative Komplikationen und hat auch einen negativen Einfluss auf den Erfolg einer Chemotherapie. Patientinnen mit Brustkrebs ohne Tumorkachexie sprechen durchschnittlich 2,5-mal besser auf die Chemotherapie an als Patientinnen mit Tumorkachexie.
Selbst ein relativ geringer Verlust an Körpermasse von beispielsweise unter fünf Prozent kann die Prognose erheblich verschlechtern.Die Chance auf eine Heilung besteht nur dann, wenn die der Tumorkachexie zugrundeliegende Krebserkrankung geheilt wird.
== Literatur ==
Fachbücher
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== Weblinks ==
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Ernährung für Krebspatienten: Was tun bei Gewichtsverlust oder Mangelernährung?, Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Heidelberg. 20. Dezember 2006; abgerufen am 4. September 2014.
med. Eva M. Kalbheim: Krebs: Starker Gewichtsverlust verhindert Heilung. Deutsche Krebshilfe e. V., Pressemitteilung vom 6. August 2009 beim Informationsdienst Wissenschaft (idw-online.de), abgerufen am 15. September 2015.
tumorkachexie.com
Abbildung eines Kachexie-Patienten
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tumorkachexie
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Canine Demodikose
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= Canine Demodikose =
Die canine Demodikose ist eine häufige, durch die übermäßige Vermehrung der Haarbalgmilbe Demodex canis hervorgerufene, parasitäre Hauterkrankung der Hunde (Canidae). Sie kann örtlich begrenzt oder am ganzen Körper auftreten. Die Demodikose entsteht bei älteren Tieren nur im Zusammenhang mit Störungen des Immunsystems, bei Jungtieren ist die Entstehung der Krankheit nicht vollständig aufgeklärt. Die Demodikose beginnt zumeist mit Haarausfall und ohne Juckreiz. Im weiteren Verlauf können sich durch eine bakterielle Sekundärinfektion stärkere Hautveränderungen bis zu einer eitrigen Hautentzündung (Pyodermie) entwickeln. Die Krankheit wird durch den mikroskopischen Nachweis der Milben festgestellt. Die Behandlung erfolgt mit milbenwirksamen Medikamenten.
== Krankheitsursache ==
Auslöser einer Demodikose ist vor allem Demodex canis. Demodex canis ist eine schlanke, etwa 250 bis 300 µm lange und 40 µm dicke Milbe, die in den Haarbälgen (Haarfollikeln) und Talgdrüsen parasitiert. Dort ernährt sie sich von Talg, Gewebsflüssigkeit und den natürlich abgestoßenen Zellen. In geringer Zahl kommen diese Milben als Kommensale auch bei vielen klinisch gesunden Tieren vor (die für Menschen spezifischen Schwesterarten d. brevis und d. folliculorum sind sehr häufig und fast immer Kommensalen). Die weiblichen Milben legen Eier, die sich über ein Larven- und Nymphenstadium zu den erwachsenen Milben entwickeln. Der gesamte Entwicklungszyklus findet in den Haarbälgen statt und dauert 20 bis 35 Tage. Außerhalb des Wirtes sind Haarbalgmilben nicht überlebensfähig und sterben infolge Austrocknung schnell ab. Haarbalgmilben produzieren keinen Kot, sondern lagern Stoffwechselabbauprodukte in Zellen des Darmtrakts ein, so dass sie kaum eine Immunantwort provozieren.
In jüngerer Zeit wurden weitere Demodex-canis-ähnliche Milben beschrieben, die größer bzw. kleiner sind. Die kürzere Milbe wurde Demodex cornei, die längere Demodex injai genannt. Demodex cornei lebt vor allem auf der Hautoberfläche und kann in Kombination mit Demodex canis auftreten. Demodex injai scheint sich vor allem in den Talgdrüsen aufzuhalten. Eventuell sind D. injay und D. cornei aber nur morphologische Varianten von Demodex canis und keine eigenständigen Arten.
== Krankheitsentstehung und Verbreitung ==
Die Übertragung der Demodex-Milben erfolgt zumeist schon im Alter von wenigen Lebenstagen von der Hündin auf die Welpen beim Säugen. Diese Infektion bleibt aber in der Regel symptomlos. Eine Übertragung von Hund zu Hund nach dem dritten Lebenstag gilt als unwahrscheinlich. Zum Ausbruch einer Demodikose kommt es erst viel später, wenn sich diese Milben stark vermehren. Betroffene Jungtiere scheinen keine Störungen des Immunsystems zu haben, da sie nicht vermehrt anderen Erkrankungen gegenüber empfindlich sind, man geht daher von einer verminderten milbenspezifischen Immunkompetenz aus. Lediglich eine vorübergehende Verminderung der T-Zell-Immunität wird beobachtet, die unter Umständen aber nur Folge der Erkrankung ist. Bei älteren Tieren kommt es meist durch Störungen des Immunsystems (Tumoren, Nebennierenüberfunktion, Schilddrüsenunterfunktion, Leishmaniose, Mangelernährung sowie Behandlung mit Glukokortikoiden, anderen Immunsuppressiva, Progesteron oder Chemotherapeutika) zu einer Demodikose.Der Erreger verursacht bei Krankheitsausbruch eine Schädigung der beim Hund zusammengesetzten Haarfollikel (bis zu 20 Haare pro Follikel) und eine Störung der Haarbildung.
Die Demodikose tritt weltweit auf. Eine erhöhte Krankheitsneigung bestimmter Hunderassen (Rasseprädisposition) wird in Europa, im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, nicht beobachtet. In Amerika sind vor allem Englische Bulldogge, Französische Bulldogge, Mops, Dobermann, Deutscher Schäferhund, Zwergschnauzer und einige Terrier (Pit Bull, West Highland White, Jack Russel, Staffordshire Bullterrier) betroffen. Dies wird dadurch erklärt, dass in Europa immungeschwächte Tiere („Kümmerer“) nicht zur Zucht verwendet werden. Darüber hinaus scheint es eine individuelle genetische Prädisposition zu geben.
Eine Übertragung auf andere Spezies findet normalerweise nicht statt, da Haarbalgmilben streng wirtsspezifisch sind. Es gibt zwar sehr wenige Fallberichte, dass eng mit erkrankten Hunden zusammenlebende Menschen ebenfalls Krankheitserscheinungen zeigten, von einer Zoonose wird aber dennoch nicht gesprochen.
== Klinisches Bild ==
=== Demodex-canis-Infektionen ===
Das erste Zeichen einer Demodikose durch Demodex canis ist zumeist Haarausfall (Alopezie), der nur an umschriebenen Stellen oder auch am ganzen Körper (generalisiert) auftreten kann. Häufig tritt an den haarlosen Stellen eine vermehrte Talg- (Seborrhö) oder Schuppenbildung auf. In einigen Fällen können letztere Symptome auch ohne Haarverlust auftreten. Später kann es zu einer grauen Verfärbung der geschädigten Areale kommen. Bis zu diesem Stadium ist zumeist kein Juckreiz vorhanden.
Bei Jungtieren (jünger als 18 Monate) beginnen die Veränderungen zumeist im Gesichtsbereich („Brillenbildung“, Lefzen, Kinn) und/oder an den Gliedmaßen. Zumeist heilt diese Erkrankung auch ohne Behandlung nach wenigen Wochen ab, sie kann sich aber auch weiter ausdehnen und in eine generalisierte Demodikose übergehen.
Im weiteren Verlauf ist das klinische Bild durch eine bakterielle Sekundärinfektion, vor allem mit Staphylokokken, seltener auch mit Proteus, Klebsiellen oder Escherichia coli gekennzeichnet. Es kommt zu einer Follikulitis, Furunkulose und übermäßigen Verhornung (Hyperkeratose). Gelegentlich kann sich dieses Stadium der Erkrankung auch durch Pusteln manifestieren. Bei tiefem Eindringen der Bakterien in die Haut entwickelt sich eine eitrige Hautentzündung (Pyodermie) mit Bildung von Krusten und Schwellungen der Lymphknoten. Hier ist bei jungen Hunden differentialdiagnostisch eine Canine juvenile Zellulitis auszuschließen.
Sonderformen sind der Befall der Haut der Füße und des Ohrs. Der Befall der Füße (Pododemodikose) äußert sich in Rötung und Schwellung (Ödem) im Zwischenzehenbereich; in ausgeprägten Fällen entwickeln sich Granulome und Fisteln, so dass das Bild einer chronischen Pododermatitis entsteht. Der Befall des äußeren Gehörgangs (Otodemodikose) wird vor allem bei generalisierter Demodikose beobachtet und ist durch ein bräunliches Sekret gekennzeichnet.
=== Infektionen mit anderen Demodex-Milben ===
Demodex-injai-Infektionen äußern sich zumeist mit erhöhter Talgproduktion („fettige Haut“), schlechter Haarqualität mit schütterem Haar und vor allem am Rücken auftretendem Juckreiz. Auch Papeln, Pusteln oder „Mitesser“ können auftreten. Diese Form der Demodikose wird vor allem bei Terriern beobachtet. Demodex-cornei-Infektionen zeigen sich in Rötungen der Haut, Schuppenbildung und ausgeprägtem Juckreiz.
== Untersuchungsmethoden ==
Die Diagnose erfolgt durch Nachweis lebender Milben in den Haarfollikeln. Dazu muss in der Regel ein tiefes Hautgeschabsel entnommen werden. Auch mit Herausziehen eines Haarbüschels („hair pluck“), dem Ausquetschen der Haarfollikel bzw. Talgdrüsen mit einer Klemme oder einer Hautbiopsie kann Probenmaterial für die anschließende mikroskopische Untersuchung gewonnen werden. Hautbiopsien sind vor allem bei Pododemodikose mit Granulombildung sowie Rassen mit sehr dicker Haut (Englische Bulldogge, Shar-Pei) sinnvoll, da ein Hautgeschabsel von ausreichender Tiefe hier selten gelingt. Insgesamt ist die Zahl nachgewiesener Milben im Hautgeschabsel größer als mit den anderen Methoden.Vor allem bei Therapiekontrollen (siehe unten) dürfen keine Aufhellungspräparate mit Kaliumhydroxid angefertigt werden, da dann die Einschätzung der Vitalität der Milben nicht möglich ist. Die Proben sollten daher nur in einen auf einen Objektträger aufgebrachten Tropfen Paraffinöl eingebettet werden. Empfehlenswert ist es, das Präparat vor der Untersuchung etwa 10 Minuten liegen zu lassen, weil die Haarbalgmilben dann aus den Wurzelscheiden der Haare auswandern und somit besser sichtbar sind. Zu beachten ist, dass einzelne Haarbalgmilben einen physiologischen Befund darstellen können, also nur eine deutliche Ansammlung mit Vorhandensein von Eiern, Larven und Nymphen in Zusammenhang mit dem klinischen Bild als eindeutige Diagnose gilt.Bei stärkerem Befall können Milben auch über die Lymphgefäße in regionäre Lymphknoten gelangen oder durch orale Aufnahme beim Belecken auch im Kot nachgewiesen werden.
Bei bakterieller Sekundärinfektion wird der Erregernachweis durch bakteriologische Untersuchung und die Anfertigung eines Antibiogramms empfohlen.
== Behandlung ==
Eine lokale Demodikose bei Jungtieren bildet sich in 90 % der Fälle wieder spontan zurück. Ob eine Behandlung sinnvoll ist oder nicht, ist in der Literatur umstritten. Zum einen wird sie empfohlen, um eine Generalisierung zu vermeiden, zum anderen wird empfohlen, gerade die mögliche Generalisierung abzuwarten, um sie als Zuchtausschlusskriterium (siehe unten) nutzen zu können. Eine lokale äußerliche (topische) Behandlung zum Beispiel durch Auftragen eines Gels mit Benzoylperoxid, Chlorhexidin oder Rotenon ist dabei zumeist ausreichend. Benzoylperoxid dringt zwar gut in die Haarfollikel ein, wirkt allerdings stark austrocknend und zum Teil hautreizend. Eine ausgeprägte Demodikose ist generell mit einer Ganzkörperbehandlung zu therapieren.
Sowohl bei lokaler als auch systemischer Demodikose hatte sich in der Vergangenheit die regelmäßige Waschbehandlung mit Amitraz bewährt. Einige Zwerghunderassen (Chihuahua, Malteser) reagieren allerdings sehr empfindlich auf diesen Wirkstoff, so dass der Einsatz bei diesen nicht empfohlen wird. Bei starkem Befall wird bei langhaarigen Hunden eine vollständige Schur empfohlen, da der Wirkstoff die Haut gut benetzen muss, um tief genug in die Haarbälge eindringen zu können. Bei starker bakterieller Sekundärinfektion ist zunächst diese zu behandeln, z. B. durch Scheren der betroffenen Partien, Reinigen mit desinfizierend wirkenden Waschlösungen und systemischer Verabreichung von Antibiotika, da Amitraz nicht auf größere Wunden aufgebracht werden sollte. Von Juni 2009 war auch ein Spot-on-Präparat mit Amitraz zur Behandlung der Demodikose zugelassen, das nur 14-täglich aufgetragen werden muss. Insbesondere bei lokaler Demodikose ist eine 14-tägliche Therapiekontrolle sinnvoll, um einem zu frühen Abbruch der Behandlung und damit der Gefahr der Entstehung einer generalisierten Demodikose vorzubeugen. Ein sich abzeichnender Behandlungserfolg ist anhand der Abnahme der Zahl lebender Milben, der Zunahme verkrüppelter Milben und der Abnahme der Larven sichtbar. Eine vollständige Ausheilung wird durch nachgewachsene Haare und fehlenden Nachweis lebender Milben angezeigt und gelingt mit Amitraz etwa in 80 % der Fälle. In etwa 40 % der Fälle treten Nebenwirkungen wie Abgeschlagenheit und Juckreiz auf, die durch stärkere Verdünnung oder Verminderung der Behandlungsfrequenz reduziert werden können. Gelegentlich können auch schwerere Nebenwirkungen wie Fressunlust, Ataxie sowie vermehrter Durst und Harnabsatz auftreten. Da Amitraz auch zu einem Anstieg des Blutzuckerspiegels führt, ist der Einsatz bei zuckerkranken Hunden kontraindiziert. Mittlerweile (Stand August 2020) sind für Hunde aber keine Präparate mit Amitraz mehr zugelassen.
Die systemische Behandlung mit Ivermectin, Moxidectin oder Milbemycinoxim ist ebenfalls gut wirksam. Diese Wirkstoffe werden täglich peroral bis zur erfolgreichen Therapiekontrolle (s. u.) verabreicht. Zu beachten ist, dass einige Hunderassen und Welpen unter 12 Wochen aufgrund der insuffizienten Blut-Hirn-Schranke sehr empfindlich auf einige Avermectine reagieren (→ MDR1-Defekt) und es in Deutschland mit Moxidectin nur ein einziges für Hunde zugelassenes Avermectin-Präparat gibt. Die Behandlung mit Milbemycinoxim ist auch bei Avermectin-empfindlichen Hunden möglich. Sie muss aber im Regelfall über etwa 70 Tage durchgeführt werden und ist daher sehr kostenintensiv. Aktuelle Studien zeigen bei generalisierter Demodikose eine gute Wirksamkeit von Isoxazolinen wie Fluralaner, Sarolaner oder Afoxolaner. Seit 2018 bzw. 2019 sind Präparate dieser drei Isoxazoline zur Behandlung der Demodikose zugelassen.Aufgrund deutlicher Nebenwirkungen und der Gefahr von Vergiftungen werden Akarizide auf der Basis organischer Phosphorsäureester heute kaum noch angewendet.
Unterstützend kann Vitamin E verabreicht werden. Tritt eine Demodikose bei Hündinnen im Zusammenhang mit der Läufigkeit zyklisch auf, ist eine Kastration zu erwägen. Eine Behandlung mit Glukokortikoiden oder Progesteron ist bei Demodikose kontraindiziert.
Bei bakterieller Sekundärinfektion ist zusätzlich zur Milbenbekämpfung eine lokale Behandlung mit desinfizierenden Lösungen (Benzoylperoxid, Chlorhexidin, Povidon-Iod) oder Antibiotika, bei schweren Pyodermien auch die systemische Verabreichung von Antibiotika vor der eigentlichen Milbenbekämpfung angezeigt.
== Behandlungsaussicht ==
Die Behandlung ist bei lokalisierter Demodikose zumeist erfolgreich. Von einer erfolgreichen Therapie wird ausgegangen, wenn sich in zwei, im Abstand von zwei Wochen aufeinanderfolgenden Hautuntersuchungen von vier bis fünf verschiedenen Stellen keine lebenden Milben mehr nachweisen lassen. Schwere, generalisierte Formen und die Pododemodikose können sich als therapieresistent erweisen, insbesondere wenn nicht behebbare Störungen des Immunsystems oder fördernde Primärleiden vorliegen. Die Gefahr von Rezidiven sinkt deutlich, wenn das betroffene Tier ein Jahr symptomfrei bleibt. Bei einigen Tieren kann eine Symptomfreiheit nur durch lebenslange Gabe von Amitraz oder Ivermectin erreicht werden.
Die American Academy of Veterinary Dermatology empfiehlt bei einer generalisierten Demodikose eines Jungtieres oder rezidivierenden Demodikosen den Ausschluss des betroffenen Tieres sowie seiner Eltern und Geschwister von der Zucht.
== Literatur und Quellen ==
Beat Bigler: Demodikose. In: Peter F. Suter, Hans G. Niemand (Hrsg.): Praktikum der Hundeklinik. 10. Auflage. Paul-Parey-Verlag, 2006, ISBN 3-8304-4141-X, S. 368–369.
Ch. Noli, F. Scarampella: Demodikose des Hundes. In: Praktische Dermatologie bei Hund und Katze. 2. Auflage. Schlütersche Verlagsanstalt, 2005, ISBN 3-87706-713-1, S. 238–244.
St. Peters: Demodikose. Zwei neue Milben-Varianten. In: Kleintier konkret. 2/2002, S. 4–9.
D. Meyer, R. S. Mueller: Die Demodikose des Hundes. In: Tierärztl Praxis. 2008;36 (K), S. 91–98.
== Siehe auch ==
Demodikose der Katze
== Weblinks ==
Informationen der Tierklinik Birkenfeld
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Canine_Demodikose
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Acetabuloplastik
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= Acetabuloplastik =
Der Begriff Acetabuloplastik fasst verschiedene Operationstechniken zusammen, die – unter dem Oberbegriff der Beckenosteotomien – zur operativen Behandlung der Hüftdysplasie (HD) im Kindesalter Anwendung finden. Hierzu zählen einige technisch sehr ähnliche Operationen, wie zum Beispiel die Osteotomie nach Lance, nach Pemberton oder nach Dega.
Die Salter-Osteotomie zählt – im weiteren Sinne – zwar auch zur Gruppe der Acetabuloplastiken, unterscheidet sich aber in der Vorgehensweise sehr von allen anderen Verfahren.
== Grundlagen ==
Das Becken, besser gesagt, das Hüftbein setzt sich aus drei Knochen zusammen, dem Darmbein, dem Schambein und dem Sitzbein. Während des Wachstums bleiben die Verbindungsstellen (Wachstumsfugen) zwischen den drei Knochen offen. Sie sind nur bindegewebig, später durch Knorpelgewebe flexibel miteinander verbunden und verknöchern erst zum Ende des knöchernen Wachstums. Die drei Wachstumsfugen treffen sich im späteren Zentrum der Hüftgelenkspfanne und bilden dort die Y-Fuge.
Bei der Hüftdysplasie fehlt dem Hüftkopf die seitliche (laterale) und vordere (ventrale) Überdachung (auch Pfannenerker genannt). Der „zukünftige“ Hüftkopf wird nicht korrekt überdacht und droht – je nach Schweregrad der Dysplasie – nach oben abzurutschen und zu luxieren (auszurenken).Das Prinzip der Acetabuloplastik macht sich die noch offene Y-Fuge zu Nutzen. Das Darmbein wird oberhalb der Pfanne so durchtrennt (Osteotomie), dass der seitliche Pfannenerker heruntergeschwenkt werden kann. Dreh- und Knickpunkt ist die Y-Fuge. Dieses Prinzip ist die Grundlage aller Techniken der Acetabuloplastik, lediglich die Vorgehensweise ist unterschiedlich.
== Ziel der Acetabuloplastik ==
Ziel dieser Operation ist es, den lateralen und ventralen Pfannenerker so wiederherzustellen, dass der Hüftkopf eine physiologische Überdachung findet. Je früher die Operation (bei gegebener Indikation) durchgeführt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Hüftgelenk und Schenkelhals normal heranwachsen.Bemessen wird die laterale Überdachung am sogenannten Acetabulumwinkel (AC-Winkel) im Beckenübersichtsröntgenbild: Ein Winkel zwischen einer Horizontalen durch die Y-Fugen und einer Linie entlang des Pfannenerkers. Beim gesunden Neugeborenen beträgt der AC-Winkel etwa 25°, mit 6 Jahren etwa 15° und ab dem 12. Lebensjahr 11–12°. Entsprechend dieser physiologischen Werte sollte der AC-Winkel auch bei der Acetabuloplastik korrigiert werden. Man spricht von anatomischer Rekonstruktion.
== Indikationen und Kontraindikationen ==
Indikationen für eine Acetabuloplastik ist in erster Linie die Hüftdysplasie. Ein operatives Eingreifen wird notwendig, wenn die HD konservativ – also mit Spreizhose/-schiene, Spreizgips oder Repositionsgips – nicht mehr behandelbar ist oder diese Behandlungsmethoden fehlschlugen. Eine absolute Indikation zur Acetabuloplastik ist die nichtreponierbare (nicht wieder einzurichtende) Hüftluxation. Wenn die Indikation zur Acetabuloplastik gestellt ist, sollte die Operation so schnell wie möglich erfolgen.Die Operation kann beim Säugling schon ab dem ersten Lebensmonat durchgeführt werden, wenn keine anderen medizinischen Gründe dagegen sprechen. Empfohlen wird ein gelenkverbessernder operativer Eingriff ab einem Alter von rund eineinhalb Jahren, da erst dann die Ausbildung und Festigkeit des Knochens eine exakte und saubere Durchführung erlauben. Durch die in den meisten Fällen vorangehenden konservativen Maßnahmen kommt es ohnehin frühestens im zweiten Lebensjahr zur Operation. Milde Verlaufsformen der Hüftdysplasie weisen oft eine günstige Verlaufsform auf, weshalb in solchen Fällen meist mit einem operativen Behandlungsplan bis zum 3. Lebensjahr gewartet wird.Es gibt verschiedene Meinungen dazu, bis zu welchem Alter eine Acetabuloplastik durchgeführt werden kann. Entscheidend ist, dass die Y-Fuge noch offen sein muss, was die Operation noch in einem Alter von 12 oder 13 Jahren – also bis zum Verschluss der Y-Fuge – möglich macht. Bei später Erstdiagnose (6. Lebensmonat und älter) ist die Indikation zur direkten OP zwar gegeben, konservative Maßnahmen sollten jedoch, in Abhängigkeit von Befund und Schweregrad, dennoch erwogen werden.Als weitere Indikation ist der Morbus Perthes (frühkindliche Hüftkopfnekrose) zu erwähnen, wobei häufig die Methode nach Salter in Verbindung mit einer intertrochanteren Varisationsosteotomie (Einwärtskippung / Korrektur des Schenkelhalses mit dem Ziel der besseren Zentrierung des Hüftkopfes in der Hüftpfanne) zur Anwendung kommt. Bei seltenen, neurologischen Störungen (z. B. Infantile Zerebralparese), die zu einer Hüftdysplasie oder Hüftluxation führen, kommt die Acetabuloplastik ebenfalls zum Einsatz.Kontraindikationen sind fieberhafte Infektionen, entzündliche Prozesse im Bereich des Hüftgelenks oder des Beckenknochens und andere, bis dahin noch nicht abgeklärte Allgemeinbefunde. Bei geschlossener Y-Fuge, abgeschlossenem knöchernen Wachstum und stark verformtem Hüftkopf kann die Operation nicht mehr durchgeführt werden.
== Diagnostik und Diagnosestellung ==
Die Einzelheiten zur klinischen und bildgebenden Diagnostik der Hüftdysplasie beziehungsweise der Hüftluxation werden im Artikel Hüftdysplasie erläutert.
Präoperativ werden sowohl zur genauen Beurteilung der Gelenkfehlstellung und des Schweregrades als auch zur Planung der Operation selbst konventionelle Röntgenbilder des Beckens, sogenannte Beckenübersichtsaufnahmen und Rippstein-Aufnahmen, angefertigt. Die Rippstein-Aufnahmen dienen der genaueren Beurteilung der Schenkelhälse in einer seitlichen Projektion.
== Anästhesie ==
Die Operation wird in Vollnarkose mit Intubation oder Larynxmaske durchgeführt. Zur Schmerztherapie bekommen die Kinder schon vor der Operation ein Schmerzmittel – in Form eines Zäpfchens oder als Injektion – verabreicht.
== Operationsablauf ==
Im Falle der dysplastischen Hüftluxation kann als erstes eine Funktionsarthrographie des/der Hüftgelenke/s vorgenommen werden. Hier lässt sich das Luxationsverhalten und der Grad der Kapselüberdehnung/-verletzung im Röntgenbild genau bestimmen. Spätestens jetzt kann noch die Entscheidung getroffen werden, ob operiert werden muss oder nicht, und wenn ja, welches Verfahren zum Einsatz kommt.
=== Technik der Acetabuloplastik ===
Bei allen Osteotomietechniken wird lediglich ein kleiner Zugang zwischen Leistenfalte und Beckenkamm benötigt. Die Muskulatur wird hier stumpf auseinandergedrängt und darunter das Darmbein dargestellt. Kurz oberhalb der Pfanne wird das Periost abgelöst und der Darmbeinknochen freigelegt.
==== Osteotomie nach Pemberton ====
Bei Pemberton wird unter ständiger Röntgenkontrolle mit einem flachen Meißel das Darmbein etwa 5 mm oberhalb des Pfannenerkers angekerbt und die Osteotomie in Richtung Y-Fuge vervollständigt. Nun wird das Pfannenfragment, ebenfalls unter Röntgenkontrolle, nach unten und gleichzeitig nach vorne geklappt. So wird eine möglichst anatomische Rekonstruktion der Pfanne erreicht.
==== Osteotomie nach Dega ====
Dega führt die Osteotomie ebenfalls in Richtung Y-Fuge aus, benutzt dabei jedoch spezielle, gebogene Meißel, um eine möglichst sphärische – der Pfannenrundung angepasste – Ablösung des Fragmentes zu erzielen. Ursprünglich senkte Dega das Pfannenfragment nur seitlich ab, heute wird dies jedoch meistens mit einer zusätzlichen Ventral-Schwenkung (nach vorne) ähnlich der Pemberton-Methode modifiziert.Entsprechend dem so entstandenen Spalt wird bei beiden Vorgehensweisen ein passender Knochenkeil (Spenderknochen/Knochenbank, siehe unten) zurechtgesägt und unter Röntgenkontrolle in den Spalt eingestößelt. Der Keil kann wenn nötig mit einem Osteosynthese-Draht (auch Kirschner-Draht genannt) fixiert werden. Bei einem geübten Operateur dauert diese Operation in etwa fünfundvierzig bis sechzig Minuten.Im Anschluss an die Operation wird ein entsprechender Beckenbeingips (modifizierter Fettweiss-Gips) oder eine Abduktions-Orthese angelegt, damit der Hüftkopf während der postoperativen Heilung zentral in der Pfanne steht. Die Narkose wird erst im Anschluss daran beendet.
=== Der Knochenkeil ===
Bei Kindern ist es nur schwer möglich, Eigenknochen im Sinne der Autologen (Knochen-)Transplantation zu verwenden. Bei gleichzeitiger intertrochantärer (zwischen den Knochenvorsprüngen am Oberschenkelknochen) Umstellung kann versucht werden, den abfallenden Korrekturkeil zu verwenden. In den meisten Fällen ist dieser jedoch zu klein.
Heute werden vorwiegend Spenderknochen aus hauseigenen Knochenbanken oder von verschiedenen Herstellern benutzt. Es handelt sich hierbei meistens um Oberschenkelköpfe, die bei Endoprothesenoperationen entnommen und bei sonst gesunden Patienten und vorliegender Einverständniserklärung gespendet werden. Die Spenderknochen werden in zertifizierten Thermodesinfektionsgeräten desinfiziert und entproteinisiert. Anschließend werden sie in sterilen Gefäßen – bei mind. minus 20 °C – kryokonserviert. Alternativ dazu ist es möglich, Spenderknochen im Autoklaven unter Einwirkung von gespanntem Wasserdampf zu sterilisieren. Auch andere Sterilisationsverfahren, zum Beispiel die Gammastrahlen-Sterilisation, werden bei der industriellen Knochenaufbereitung angewendet.
Alle Aufbereitungs- und Desinfektions-/Sterilisationsverfahren sowie die Lagerung der Spenderknochen (Tiefkühlung) sind aufwändig und unterliegen strengen Auflagen der Bundesärztekammer, des Medizinproduktegesetzes (MPG) und des Robert Koch-Instituts.
=== Sonderfälle ===
In seltenen sehr schweren Fällen lässt sich der Hüftkopf nicht mehr manuell (Overhead-Technik) reponieren (in die Normalstellung bringen). Der Hüftkopf ist so weit abgerutscht und die Gelenkkapsel so überdehnt und hypertrophiert, dass der Kopf sich nicht zurück in die Pfanne reponieren lässt. Häufig lagert sich überschießendes Kapselmaterial in die Pfanne ab und behindert die Reposition zusätzlich. In solchen Fällen muss der Hüftkopf offen, also unter Eröffnung des Gelenkes selbst, reponiert werden. Man spricht von „Offener Hüfteinstellung“. Dabei wird die Kapsel zirkulär eröffnet, überflüssiges Kapsel- und Gelenkschleimhautgewebe aus der Pfanne entfernt, der Hüftkopf reponiert und die Kapsel gegebenenfalls über dem Hüftkopf gerafft.
== Komplikationen ==
=== Allgemeine Komplikationen ===
Wie bei jeder Operation kann es zu Gefäß- und Nervenverletzungen kommen. Der einfache und sichere Zugang sowie die kurze OP-Dauer halten den Blutverlust gering. Bei Operationen am Knochen kann es zu unerwarteten Knochenbrüchen kommen, die intraoperativ direkt versorgt werden müssen.
Postoperativ kann es zu weiteren Komplikationen wie Wundinfektionen und anderen Wundheilungsstörungen, Arthritis des Hüftgelenks oder im schlimmsten Fall zu einer Sepsis kommen.
=== Spezifische Komplikationen ===
Intraoperative Verletzungen von Organen oder größeren Blutgefäßen werden in der Literatur nicht beschrieben. Verletzungen oder Reizungen des Nervus cutaneus femoris lateralis (sensibler Leisten-Oberschenkelnerv) können vorkommen, sind jedoch zumeist reversibel.Ein postoperatives Versagen oder Einbrechen (Sintern) des Knochenkeils kann eine erneute Operation notwendig machen. Ebenso kann es passieren, dass der Knochenkeil nicht fest genug verankert wurde und er sich postoperativ aus dem Osteotomiespalt löst, was meistens zur Auflösung (Lyse) des Keils führt. Durch den Beckenbeingips kann es zu Druckschäden oder Nervenreizungen kommen.
== Nachbehandlung und Rehabilitation ==
Der ruhigstellende Gips (Retentionsgips), der im Anschluss an die Operation angelegt wird, wird in der Regel für sechs Wochen belassen. Es kann nach einer und nach weiteren zwei Wochen jeweils eine Kontroll-Röntgenaufnahme gemacht werden. Nach den sechs Wochen sollte ein Gipswechsel erfolgen, was zumeist eine weitere Narkose erfordert. Insgesamt wird der Gips drei Monate lang getragen und dann von einer Schienenbehandlung abgelöst. Kontinuierliche Nachuntersuchungen und Kontrollen sind zwingend notwendig. Je älter das Kind ist, desto länger dauert die Nachbehandlung.
== Erfolgsquoten ==
Es gibt vereinzelt Studien, die die Resultate und Erfolgsquoten der Acetabuloplastik mit klinischen und radiologischen Nachuntersuchungen beschreiben. Eine Studie beschreibt sogar die Ergebnisse im mittelfristigen Verlaufsbereich. Sie untersucht dreiundachtzig Kinder (insgesamt 125 operierte Gelenke) zehn Jahre nach der Acetabuloplastik in der Technik nach Pemberton. Es werden nicht nur die Ergebnisse der Pfannenkorrektur, sondern auch die Erfolge der Verwendung von sterilisiertem Fremdknochen untersucht. Die Nachuntersuchungen beziehen sich dabei auf den – bereits erwähnten – AC-Winkel, auf die knöcherne Durchbauung des Fremdknochenkeils, auf die Gang- und Bewegungsentwicklung und auf die postoperative Beschwerdesituation. Das Gesamtergebnis dieser Nachuntersuchung fällt äußerst positiv aus: Über 96 Prozent der nachuntersuchten Patienten (und deren Eltern) beurteilen das Ergebnis der Operation als gut oder sehr gut. Lediglich ein Patient beurteilt das Verfahren als schlecht.Je früher eine HD erkannt wird, desto einfacher und wirkungsvoller ist die Therapie. Da heute die Hüftsonographie bei Neugeborenen (U3) zum Standard gehört, können die meisten Dysplasien sehr früh erkannt und entsprechend behandelt werden.
== Geschichte ==
Die Geschichte der operativen Therapie bei Pfannenfehlstellungen beginnt Ende des 19. Jahrhunderts. 1891 versuchte F. König in Berlin erstmals, eine Periost-Knochenschuppe des seitlichen Hüftpfannenerkers herunterzuklappen. Albee (1915) und Jones (1920) verwendeten dieses Konzept und entwickelten daraus die Grundform der heutigen Acetabuloplastik. Sie lagerten Knochenspäne aus dem Schienbein in den Osteotomiespalt ein. Eine Methode, die sich nicht halten konnte, erprobte Spitzy 1924. Er fixierte Knochenspäne (ebenfalls aus dem Schienbein) am dysplastischen Pfannenrand. Sie sollten im Laufe des Wachstums einen neuen Pfannenerker bilden. Mehr als 50 Jahre später wurde diese Methode wieder aufgegriffen. Die daraus entstandene Operation wird heute noch als „Shelf-Plastik“ angewendet. 1925 griff der Kinderchirurg P. M. Lance in Frankreich die Modifikationen von Albee und Jones wieder auf: Er fixierte einen Knochenkeil im Osteotomiespalt. Bis heute wurde diese Technik vielfach modifiziert, weiterentwickelt und verbessert. Pemberton und Dega sind nicht die Letzten in dieser Reihe. Verschiedene Chirurgen und Kliniken entwickeln diese Technik auch heute noch weiter. Sie erproben beispielsweise den Einsatz von Kunstknochen und minimalinvasive Techniken für den Zugang.
== Literatur und Quellen ==
A.B. Imhoff, R. Baumgartner: Checkliste Orthopädie. Thieme 2006. ISBN 3-13-142281-5
Breusch, Mau, Sabo: Klinikleitfaden Orthopädie. Elsevier 2006. ISBN 978-3-437-22471-3
Klaus Buckup, L.C. Linke, W. Cordier: Kinderorthopädie. Thieme 2001. ISBN 3-13-697602-9
J. Duparc: Chirurgische Techniken in Orthopädie und Traumatologie. Band Beckenring und Hüfte. Elsevier 2005, ISBN 3-437-22556-1
F. Hefti, R. Brunner: Kinderorthopädie in der Praxis. Springer, 2006, ISBN 978-3-540-61480-7
R.-P. Meyer, A. Gächter: Hüftchirurgie in der Praxis. Springer, 2005, ISBN 978-3-540-22718-2
Roland Bonmann: Ergebnisse der Azetabuloplastik in der modifizierten Dortmunder Technik mit allogenen autoklavierten Knochenkeilen in einem postoperativen Zeitraum von acht bzw. neun Jahren. Dissertation, 2003, urn:nbn:de:hebis:26-opus-17273 (Volltext)
C.J. Wirth: Orthopädie und orthopädische Chirurgie. Band Becken/Hüfte. Thieme, 2004, ISBN 978-3-13-126221-9
== Weblinks ==
Präsentation zu Hüftdysplasie
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Acetabuloplastik
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Albtalbahn
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= Albtalbahn =
Die Albtalbahn, manchmal auch mit ATB abgekürzt, bei Eröffnung noch Albthalbahn geschrieben, ist eine Eisenbahnstrecke von Karlsruhe über Ettlingen nach Bad Herrenalb. Seit ihrer Umspurung von Meter- auf Normalspur und ihrer Verknüpfung mit der Karlsruher Straßenbahn bildet sie die Grundlage für das Karlsruher Stadtbahnnetz und war Vorbild für die Verknüpfung regionaler Eisenbahnstrecken mit städtischen Straßenbahnen in anderen europäischen Städten. Benannt ist die Strecke nach dem Fluss Alb, der sie auf ganzer Länge begleitet. Die Albtalbahn ist betrieblich und historisch eng mit der Zweigstrecke Busenbach–Ittersbach verbunden, die wiederum ursprünglich mit der Pforzheimer Kleinbahn von Ittersbach nach Pforzheim eine betriebliche Einheit bildete.
== Geschichte ==
=== Bau ===
Keimzelle der Albtalbahn war die von Beginn an normalspurige Ettlinger Seitenbahn, die schon ab 1885 den Bahnhof Ettlingen West an der Badischen Hauptbahn mit Ettlingen Erbprinz verband und zwei Jahre später bis zum heutigen Bahnhof Ettlingen Stadt verlängert wurde. Doch konnte diese den zunehmenden Verkehr zwischen Ettlingen und Karlsruhe nicht allein bewältigen, so dass bald der Bau einer direkten Verbindung über Rüppurr diskutiert wurde. Pläne für einen Eisenbahnbau von Karlsruhe über Ettlingen bis in den nördlichen Schwarzwald nach Herrenalb gab es bereits ab 1870. Zum einen galt das Albtal schon damals als beliebtes Ausflugsziel der Karlsruher Bevölkerung, zum anderen entwickelten sich die Industriebetriebe in Ettlingen und Karlsruhe zu wichtigen Erwerbsquellen für die Bevölkerung der umliegenden Orte. Die einmal täglich verkehrende Postkutschen-Verbindung genügte den Bedürfnissen nicht mehr.
Ettlingen leistete zunächst Widerstand, da es befürchtete, dass der Bau einer direkten Eisenbahnverbindung nach Karlsruhe eine Eingemeindung der Stadt nach sich ziehen könnte. Mit dem Vorschlag, die Bahnstrecke als meterspurige Schmalspurbahn auszuführen, konnten die Einwände entkräftet werden. Im Gegensatz zur benachbarten Murgtalbahn konnte die Albtalbahn sofort als von Baden nach Württemberg (Herrenalb) durchgehende Strecke in Angriff genommen werden. Die badische Konzession wurde 1896 und die württembergische 1897 erteilt.
Der erste Streckenabschnitt zwischen Karlsruhe und Ettlingen konnte am 1. Dezember 1897 eröffnet werden, ihm folgten die Teilstrecken Ettlingen–Frauenalb am 14. Mai 1898 und Frauenalb–Herrenalb am 2. Juli 1898. Die Zweigstrecke von Busenbach nach Ittersbach folgte am 10. April 1899.
Die Seitenbahn nach Ettlingen West wurde mit einem Dreischienengleis ausgestattet, zur Vereinfachung des Güterverkehrs wurde dieses 1899 bis nach Busenbach und 1906 bis Etzenrot verlängert. Gebaut wurde die Albtalbahn von der Westdeutschen Eisenbahn-Gesellschaft (W.E.G.), die sie 1898 in ihre neu gegründete Tochtergesellschaft Badische Lokal-Eisenbahnen Aktien-Gesellschaft (B.L.E.A.G.) einbrachte.
=== Entwicklung der meterspurigen Albtalbahn ===
Aufgrund der Rußbelästigung durch die Dampflokomotiven der Albtalbahn in den Karlsruher Stadtstraßen wurde bereits 1898 der Abschnitt Karlsruhe–Ettlingen mit 550 Volt Gleichstrom elektrifiziert und ein elektrischer Vorortverkehr mit Triebwagen aufgenommen. Die Züge nach Herrenalb verkehrten fortan bis Ettlingen elektrisch und südlich davon mit Dampflokomotiven. Für den elektrischen Betrieb wurde ein Kohlekraftwerk am Seehof zwischen Rüppurr und Ettlingen errichtet.
Da sich der elektrische Betrieb gut bewährte, wurde eine Ausdehnung auf die gesamte Albtalbahn erwogen, wegen der größeren Entfernungen aber einer Elektrifizierung mit Wechselstrom höherer Spannung der Vorzug gegeben. Daher wurde 1910 der Gleichstrombetrieb aufgegeben und die gesamte Strecke bis 1911 auf Wechselstrombetrieb umgestellt. Als Stromsystem kam Einphasen-Wechselstrom 25 Hz 8000 Volt zum Einsatz (später auf 8800 Volt erhöht), wobei im Karlsruher Stadtgebiet bis 1936 nur mit 650 Volt gefahren werden durfte. Das Kraftwerk am Seehof wurde umgerüstet und weitergenutzt.
Im Zuge des Neubaus des Karlsruher Hauptbahnhofs musste der nördliche Endpunkt der Albtalbahn zwischen 1910 und 1915 insgesamt dreimal innerhalb Karlsruhes verlegt werden. Lag der Bahnhof ursprünglich in der Ettlinger Straße auf Höhe des Festplatzes, wurde er am 26. Februar 1910 in die heutige Beiertheimer Allee in Höhe der heutigen Hermann-Billing-Straße verlegt und damit die Ettlinger Straße für den Bau einer neuen Straßenbahnstrecke freigemacht. Zuvor hatten sich am neuen Standort an der damaligen „alten“ Klosestraße bereits einige Abstellgleise der Albtalbahn befunden, deren Anbindung an den alten Endbahnhof kurzzeitig als Zufahrt benutzt wurde. Ab 7. April 1910 verlief die Zufahrt zum verlegten Endbahnhof nicht mehr östlich des Stadtgartens, sondern westlich zwischen Beiertheimer Allee und (neuer) Bahnhofstraße auf der vorherigen Staatsbahntrasse südlich des alten Karlsruher Bahnhofs, heute etwa der „neuen“ Klosestraße entsprechend. Der verlegte Bahnhof wurde vom anderen Ende her angefahren. Eine zweite Verlegung erfolgte nach Süden in ein Provisorium am nördlichen Ende der (neuen) Bahnhofstraße (in Betrieb vom 19. Januar 1914 bis 22. März 1915), bevor der nochmals südlicher gelegene, noch heute benutzte Endbahnhof an der Ebertstraße nahe dem neuen Karlsruher Hauptbahnhof entstand.
Technische Probleme sowie Mangel an Kraftwerkskohle zwangen die B.L.E.A.G. 1917, den elektrischen Betrieb stark einzuschränken und zeitweise sogar ganz einzustellen. Erst nach Umbau des Kraftwerks in eine Umformerstation und dessen Anschluss an das neu gebaute Murgwerk gelang es, den elektrischen Betrieb wieder zu stabilisieren. So verkehrten ab 1922 wieder elektrische Züge.
Entwickelte sich der Verkehr auf der Albtalbahn in den ersten Betriebsjahren sehr positiv, geriet die Bahn nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Der Betrieb konnte nur mit finanzieller Unterstützung des Landkreises Karlsruhe aufrechterhalten werden, eine Reduzierung des Fahrplanangebotes war die Folge. Der von der Stadt Karlsruhe Mitte der 1920er Jahre eingeführte, parallele Omnibusverkehr zwischen Karlsruhe und Rüppurr verschlechterte die wirtschaftliche Lage der Bahn zusätzlich.
Im Zuge der Weltwirtschaftskrise geriet die B.L.E.A.G. zunehmend unter Druck und ging in Insolvenz. Aus der Konkursmasse der B.L.E.A.G. übernahm die Deutsche Eisenbahn-Betriebsgesellschaft (DEBG) schließlich 1932 die Albtalbahn. Durch Modernisierungsmaßnahmen wie der Aufnahme des Rollwagenverkehrs gelang es der DEBG, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Bahn wieder zu verbessern.
Der Autobahnbau Mitte der 1930er Jahre brachte einige Veränderungen für die Albtalbahn mit sich. So musste die Trasse zwischen Rüppurr und Ettlingen nach Osten verschwenkt werden, wo die Bahn eine gemeinsame Brücke mit der Landstraße über die Autobahn erhielt. Der zeitgleiche Ausbau der Herrenalber Straße in Rüppurr zum Autobahnzubringer erforderte zudem einen Umbau der Gleise zwischen Dammerstock und Schloss Rüppurr.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Albtalbahn mehrfach von Jagdflugzeugen angegriffen, die Schäden blieben jedoch vergleichsweise gering. Lediglich die Sprengung der Brücke über den Karlsruher Rangierbahnhof am Ende des Krieges führte bis zum Wiederaufbau zu einer mehrmonatigen Verkürzung der Albtalbahn zum südlichen Brückenkopf beim Dammerstock.
=== Umspurung und Verknüpfung mit dem Straßenbahnnetz ===
Nach dem Zweiten Weltkrieg befanden sich sowohl Strecke als auch Fahrzeuge in einem maroden Zustand, so dass eine umfassende Modernisierung notwendig war. Die DEBG hatte jedoch nur noch ein geringes Interesse am Weiterbetrieb der Bahn. In der politischen Diskussion um die Zukunft der Albtalbahn ergriff die Stadt Karlsruhe die Initiative. Ihr war in erster Linie daran gelegen, den starken Vorortverkehr zwischen Karlsruhe, Rüppurr und Ettlingen neu organisieren zu können und den Umsteigezwang für die Fahrgäste am Karlsruher Albtalbahnhof von der Albtalbahn zur Straßenbahn zu beseitigen. Daher schlug sie die Umspurung der Strecke auf Normalspur und Verknüpfung mit dem städtischen Straßenbahnnetz vor.
Mit Hilfe des Landes Baden-Württemberg gründete sie 1957 die Albtal-Verkehrs-Gesellschaft mbH (AVG), die am 1. April 1957 die Albtalbahn von der DEBG übernahm und unverzüglich mit den Umbauarbeiten begann. Mit den Umspurarbeiten einher ging die Umstellung des elektrischen Betriebes auf Gleichspannung mit 750 Volt. Bereits am 18. April 1958 konnte der erste umgespurte Abschnitt vom Albtalbahnhof bis Rüppurr in Betrieb genommen werden. Von nun an verkehrten die Triebwagen der Albtalbahn vom Albtalbahnhof aus weiter bis in die Karlsruher Innenstadt, so dass die meisten Fahrgäste nicht mehr umsteigen mussten. Dort bedienten sie eine langgezogene Häuserblockschleife im Uhrzeigersinn, sie führte vom Albtalbahnhof über die Karlstraße, die Kaiserstraße, den Marktplatz, die Ettlinger Straße und über den Hauptbahnhofvorplatz zurück zum Albtalbahnhof.
Die nächsten umgespurten Abschnitte wurden wie folgt in Betrieb genommen: am 15. Mai 1959 bis Ettlingen, am 15. April 1960 bis Busenbach, am 12. Mai 1960 bis Etzenrot, am 12. Dezember 1960 bis Marxzell und am 1. September 1961 bis Herrenalb.
Auch nach der Umspurung der Strecke in den Jahren 1957 bis 1975 wurden die Anlagen weiter modernisiert, unter anderem durch den Bau eines Zentralstellwerkes in Ettlingen (1967), die Neutrassierung der Abschnitte Albtalbahnhof–Dammerstock (1977) und Rüppurr–Ettlingen Neuwiesenreben (1988), die Ertüchtigung der Strecke für eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h (bis 1983) sowie den zweigleisigen Ausbau zwischen Ettlingen und Busenbach (1989–1990).
Das für die Trassenverbesserung beim Weiler Steinhäusle, der teilweise zu Marxzell und teilweise zu Bad Herrenalb gehört, nötige Gelände musste 1981 mit einem inoffiziellen Bedarfshalt für die Anlieger dort „erkauft“ werden. Dieser wird, abgesehen vom örtlichen Aushangfahrplan, nicht im Fahrplan kommuniziert und war viele Jahre lang auch nicht auf den Liniennetzplänen verzeichnet. Ein Stationsschild ist ebenfalls nicht vorhanden. Da dort kein Bahnsteig zur Verfügung steht, erfolgt der Fahrgastwechsel auf dem asphaltierten Bahnübergang mit der innerbetrieblichen Bezeichnung Steinhäusle 2. Der Ein- und Ausstieg kann aufgrund der schmalen Straße dort nur über die erste Tür erfolgen. Der Ausstiegswunsch muss dabei dem Triebfahrzeugführer mündlich mitgeteilt werden, einsteigenden Fahrgästen steht örtlich eine richtungsunabhängige Haltewunscheinrichtung zur Verfügung, die ein entsprechendes Lichtsignal für den herannahenden Zug aktiviert. Die Fahrzeit zu den beiden benachbarten Stationen Kullenmühle und Frauenalb-Schielberg beträgt jeweils zwei Minuten.
Durch die Ausbaumaßnahmen konnte das Angebot für die Fahrgäste laufend verbessert werden. Benötigten die Züge der Albtalbahn zur Meterspurzeit für die Strecke zwischen Karlsruhe und Herrenalb noch circa 70 Minuten, waren es 1979 noch 46 Minuten und heute nur noch 35. Zusätzlich wurde der Fahrplan verdichtet.
== Betrieb ==
=== Strecke ===
Vom Karlsruher Albtalbahnhof bis Busenbach ist die Strecke durchgehend zweigleisig, südlich davon eingleisig. Kreuzungsmöglichkeiten bestehen in Etzenrot, Fischweier, Marxzell und Frauenalb.Die Strecke ist seit ihrer Umspurung auf Normalspur mit Gleichstrom 750 Volt elektrifiziert. Die Stromversorgung erfolgt dezentral über mehrere Gleichrichterwerke. Die Bahnsteighöhe beträgt an fast allen Stationen 38 Zentimeter. Wendeschleifen erlauben an den Haltestellen Rüppurr Battstraße, Ettlingen Albgaubad und Bad Herrenalb Bahnhof ein Wenden von Einrichtungswagen. Bis Oktober 1984 bestand eine weitere Wendeschleife in Busenbach, die jedoch für die 2,65 Meter breiten Stadtbahnwagen einen zu geringen Radius aufwies. Da diese damals nur von drei Zügen täglich benutzt wurde, rechnete sich der Umbau nicht und sie entfiel ersatzlos.Die ganze Strecke wird nach der Fahrdienstvorschrift für den Betrieb nichtbundeseigener Eisenbahnen (FV-NE) betrieben. Die Strecke ist mit Lichtsignalen des H/V-Signalsystems ausgestattet. Die im Albtalbahnhof wurden 2009 durch Signale des Ks-Signalsystems ersetzt, die sonstigen nördlich von Busenbach Ende 2015. Diese werden vom ESTW Albtalbahnhof bzw. von der ESTW-Unterzentrale Ettlingen Albgaubad mit den ESTW-A Rüppurr-Battstraße und Rohrackerweg gestellt. Letzteres ESTW vom Typ EBI Lock 500 steuert bereits seit 28. November 2011 das ESTW Spielberg (Strecke nach Ittersbach; ebenfalls EBI Lock 500) und inzwischen auch das ESTW Albtalbahnhof. Die Strecke Busenbach – Bad Herrenalb wird schon länger durch ein MCDS-ESTW in Ettlingen gesteuert. Seit Februar 2017 wird das ESTW Ettlingen aus der Zentralen Leitstelle Karlsruhe (ZeLeiKa) gesteuert. Zwischen Dammerstock und Rüppurr Battstraße gilt Fahren im Sichtabstand. Obwohl eine Eisenbahnstrecke, können im Abschnitt Karlsruhe Albtalbahnhof–Rüppurr aufgrund des Lichtraumprofils keine Fahrzeuge nach EBO-Regelbauart verkehren. In Ettlingen befinden sich die Werkstätten der Bahn. Fahrzeug-Abstellhallen sind in Ettlingen und Bad Herrenalb zu finden.
=== Personenverkehr ===
Zwischen Karlsruhe und Bad Herrenalb verkehren tagsüber zwei Zugpaare pro Stunde als Linie S1. Das Zugangebot wird zwischen Karlsruhe und Ettlingen Albgaubad zu einem Zehnminutentakt verdichtet. Im Berufsverkehr verstärkten bis Dezember 2021 zusätzliche Eilzüge das Angebot, die ursprünglich mit einem rot gestrichenen Liniensignal gekennzeichnet waren. Seit 1978 gehen die Züge der Albtalbahn im Norden Karlsruhes auf die Hardtbahn über.
Zum Einsatz kamen bis zum Jahr 2018 ausschließlich die zwischen 1983 und 1992 gebauten Stadtbahnwagen der Typen GT8-80C und GT6-80C der AVG und der Verkehrsbetriebe Karlsruhe. Diese werden seit dem Jahr 2018 sukzessive durch NET2012 abgelöst. In Zeiten starker Nachfrage verkehren die Stadtbahnwagen in Doppeltraktion. Die Liniennummer S1 wird seit dem 29. Mai 1994 verwendet. Davor verkehrten die Züge als Linie A für Albtalbahn, auch die heute als Linie S11 bezeichneten Züge nach Ittersbach verkehrten mit dem Liniensignal A.
Der planmäßige Betrieb mit Stadtbahnwagen wird an einigen Sonn- und Feiertagen im Sommer durch historische Dampfzüge der Ulmer Eisenbahnfreunde (UEF) ergänzt, die zwischen Ettlingen Stadt und Bad Herrenalb verkehren. Zum Einsatz kommen Lokomotiven der Baureihen 50 und 58 vor Eilzugwagen der 1930er Jahre. In der Vergangenheit wurde die Albtalbahn auch schon als Teststrecke für neue Stadtbahnfahrzeuge genutzt. So verkehrten 1982 die Prototypen der Stuttgarter Stadtbahnwagen DT8 auf der Strecke, 1997 die neuen Fahrzeuge der Saarbahn.
Die Albtalbahn ist seit 1994 in den damals neu gegründeten Karlsruher Verkehrsverbund (KVV) integriert. Bereits zuvor bestand jedoch schon ein Tarifverbund mit den Verkehrsbetrieben Karlsruhe.
=== Güterverkehr ===
Der Güterverkehr auf der Albtalbahn spielt nur noch eine untergeordnete Rolle und beschränkt sich auf die Speditionshalle in Busenbach und gelegentliche Holzverladung in Busenbach. Die Bedienung erfolgt durch Diesellokomotiven der AVG, die die Güterwagen im Karlsruher Güterbahnhof von der DB Cargo und den SBB Cargo übernehmen.
== Besondere Bahnhöfe ==
=== Karlsruhe Albtalbahnhof ===
Der 1915 errichtete Albtalbahnhof an der Ebertstraße wurde im Zuge der Umspurung zu einer viergleisigen Anlage umgebaut und über ein Gleisdreieck an das Karlsruher Straßenbahnnetz angeschlossen. Ein Verbindungsgleis zur Karlstraße ermöglicht das Wenden von Fahrzeugen. Das Empfangsgebäude wurde 1959 abgerissen und durch einen Flachbau mit Fahrkartenschalter ersetzt. 1988 ergänzte die AVG den Bahnhof um eine zweischiffige Bahnhofshalle, die alle vier Gleise überspannt. Obwohl nicht zum Unternehmen gehörend, zählt DB Netz AG ihn zu den Metropolbahnhöfen.
1996 erfolgte im Zuge des Ausbaus des Karlsruher Stadtbahnnetzes ein vollständiger Umbau der Gleisanlagen. Dabei wurde eine Gleisverbindung mit dem Karlsruher Hauptbahnhof errichtet, die es erlaubt, aus dem Albtalbahnhof auf die Eisenbahnstrecken nach Durmersheim und Karlsruhe West auszufahren. Seitdem benutzen die Züge der Albtalbahn (S 1 und S 11) die Gleise 3 und 4, während die Stadtbahnlinien S 4, S 51, S 52, S 7 und S 8 die Gleise 1 und 2 befahren. Ein 1996 errichteter und 2006 erweiterter Abstellbahnhof mit insgesamt acht Gleisen ergänzt die Anlage.
=== Ettlingen Stadt ===
Der Betriebsmittelpunkt der Albtalbahn am Bahnhof Ettlingen Stadt reicht vom Haltepunkt Erbprinz/Schloss bis zur Haltestelle Albgaubad. Die viergleisige Gleisanlage wird seit 1986 von einer Bahnhofshalle überspannt. Im Bahnhofsgebäude befinden sich das Zentralstellwerk der AVG sowie ein Fahrkartenschalter. Zum Bahnhof gehören überdies hinaus zwei Werkstatthallen, eine Fahrzeugabstellhalle sowie eine Güterhalle. Mehrere Abstellgleise sowie die Wendeschleife am Albgaubad ergänzen die Anlage. Zum 1. Juli 1995 wurde am Bahnhof Ettlingen Stadt die Abfertigung von Stückgut und Expressgut eingestellt.
=== Busenbach ===
Der Bahnhof Busenbach besitzt zwei Bahnsteiggleise, südlich derer sich die Strecken nach Bad Herrenalb und Ittersbach trennen. Eine 1990 errichtete Bahnsteighalle in Holz-Fachwerkbauweise überspannt beide Gleise. Die Gleisanlagen wurden 2006 umgebaut und durch eine Brücke ergänzt, die die Ittersbacher Strecke über die benachbarte Landesstraße hinwegführt, wodurch ein vielbefahrener Bahnübergang beseitigt werden konnte. Westlich der Herrenalber Strecke befand sich bis 1971 die aus der Anfangszeit der Albtalbahn stammende Hauptwerkstatt der AVG. Nach einem Werkstattneubau in Ettlingen war die alte Hauptwerkstatt entbehrlich und wurde durch eine Güterhalle ersetzt.
=== Bad Herrenalb ===
Passend zu den historischen Dampfzugfahrten auf der Albtalbahn wurde dem Bahnhof Bad Herrenalb Ende der 1970er Jahre ein historisches Erscheinungsbild gegeben. Neben der 1978 errichteten Bahnhofshalle, die alle drei Gleise überspannt, wurden ein Wasserkran, ein historischer, mechanischer Zugzielanzeiger, ein Läutewerk sowie ein Form-Hauptsignal aufgestellt. Teile der Bahnhofshalle stammen vom 1977 stillgelegten Baden-Badener Stadtbahnhof. Das Empfangsgebäude ist restauriert und beherbergt einen Gastronomiebetrieb. Eine moderne Triebwagen-Abstellhalle ergänzt die Anlage. Mit Wirkung vom 1. Juli 1995 wird am Bahnhof kein Expressgut mehr abgefertigt. Der Bahnhof Bad Herrenalb war bis 2012 auch die Talstation der Falkenburgbahn, die den Bahnhof mit der Falkenburg-Klinik verbindet.
== Fahrzeugpark ==
=== Fahrzeuge zur B.L.E.A.G.- und DEBG-Zeit ===
Der Anfangsbestand an schmalspurigen Dampflokomotiven betrug 13 Maschinen, vier Kastendampflokomotiven für den Einsatz in den Stadtgebieten von Karlsruhe und Pforzheim 1–4, vier Mallet-Lokomotiven 5–8, zwei zweifach gekuppelte und zwei dreifach gekuppelte Tenderlokomotiven. Nach der Elektrifizierung reduzierte sich der Bestand. Als in der Zeit zwischen 1917 und 1922 der elektrische Betrieb nur eingeschränkt möglich war, wurden zwei zusätzliche Dampflokomotiven beschafft. Nach Normalisierung des elektrischen Betriebs sank der Bestand jedoch durch Ausmusterung, Umspurung und Verkauf bis 1938 auf fünf Lokomotiven, die bis zum Ende der Schmalspurzeit im Einsatz blieben.
1898 wurden für die Albtalbahn sechs zweiachsige meterspurige elektrische Triebwagen mit einer Leistung von zweimal 27 kW und sechs dazu passende Beiwagen für den Gleichstrombetrieb beschafft. Die Fahrzeuge blieben bis 1910 im Einsatz und wurden anschließend an die Wermelskirchen-Burger Eisenbahn abgegeben. Zusätzlich beschaffte die B.L.E.A.G. 1901 zwei vierachsige Elektrolokomotiven mit einer Leistung von viermal 50 kW für die Bespannung der Züge im Abschnitt Karlsruhe–Ettlingen. Die beiden Elektrolokomotiven wurden 1911 an die Straßenbahn Pforzheim abgegeben, wo sie bis 1916 im Einsatz standen.
Für den Wechselstrombetrieb wurden acht vierachsige Triebwagen mit zweimal 60 kW Leistung sowie vier vierachsige Elektrolokomotiven mit viermal 59 kW Leistung beschafft. Die Lokomotiven waren mit Mittelführerstand und symmetrischen Vorbauten ausgeführt, was ihnen im Volksmund den Spitznamen Bügeleisen einbrachte. Alle zwölf Fahrzeuge waren bis zum Ende des Meterspurbetriebs im Einsatz.
Eine technische Rarität war die von 1924 bis 1954 im Bestand befindliche Motorlok mit Benzolmotorantrieb, gebaut von der Firma Windhoff. Der Motor leistete nur 38 kW, so dass die Lokomotive nicht vor Regelzügen eingesetzt werden konnte. Sie diente in erster Linie der Oberleitungsinstandhaltung.
Für den Personenverkehr besaß die Albtalbahn bis zu 77 zwei- und vierachsige Personenwagen, die zusammen mit den Elektro- und Dampflokomotiven, aber auch in Kombination mit den vierachsigen Triebwagen eingesetzt wurden. Eine Zuggarnitur wurde Anfang der 1950er Jahre sogar für den Einsatz als Wendezug hergerichtet. Für den Güterverkehr stand eine Vielzahl offener und geschlossener Güterwagen in zumeist zweiachsiger Ausführung zur Verfügung. Der Bestand erreichte mehr als 170 Wagen. Mit der Aufnahme des Rollwagenverkehrs sank die Anzahl Güterwagen auf circa 40 Exemplare, zuzüglich zehn Rollwagen.
Für den Güterverkehr im Raum Ettlingen waren stets zwei normalspurige Dampflokomotiven auf der Albtalbahn im Einsatz, wobei die Lokomotiven zuweilen mit anderen B.L.E.A.G.- beziehungsweise DEBG-Bahnen getauscht wurden. Es handelte sich bis auf eine Ausnahme um zwei- oder dreifach gekuppelte Tenderlokomotiven unterschiedlicher Typen.
=== Fahrzeuge zur AVG-Zeit ===
Für den Betrieb auf der umgespurten Albtalbahn beschaffte die AVG zwischen 1958 und 1969 insgesamt 21 sechs- und achtachsige Duewag-Gelenkwagen. Die Sechsachser wurden zwischen 1961 und 1967 ebenfalls zu Achtachsern verlängert. Die Wagen blieben bis 1984 auf der Albtalbahn im Einsatz, anschließend verkehrten sie noch weitere 15 bis 20 Jahre im Karlsruher Straßenbahnnetz. Später wurden acht von ihnen an die Straßenbahn Timișoara in Rumänien abgegeben wo sie noch einige Jahre in Betrieb waren, mittlerweile aber alle ausgemustert wurden.
1975 wurde der Fahrzeugpark um die vier achtachsigen Wagen 22 bis 25 ergänzt. Diese bei der Waggon-Union beschafften Wagen hatten ein moderneres, kantigeres Aussehen, waren jedoch mit den vorhandenen Fahrzeugen technisch kompatibel. Sie blieben bis circa 1987 auf der Albtalbahn im Einsatz und verkehrten danach im Karlsruher Straßenbahnnetz, mittlerweile sind sie ebenfalls ausgemustert.
In den Jahren 1983–1992 wurde der Fahrzeugpark der Albtalbahn komplett durch insgesamt 60 sechs- und achtachsige Stadtbahnwagen der Typen GT6-80C und GT8-80C ersetzt, von denen circa 40 für den Einsatz auf den Linien S1 und S11 benötigt wurden. Die Wagen stellten eine Variante des Stadtbahnwagens Typ B in Einrichtungsbauart dar und boten insgesamt 93 Sitzplätze in der sechsachsigen und 117 in der achtachsigen Ausführung.
In den Jahren 2018 bis 2021 wurden die Stadtbahnwagen der Baureihen GT6-80C und GT8-80C sukzessive durch neu beschaffte NET 2012 ersetzt. Diese Niederflurwagen bieten an vielen Bahnsteigen barrierefreien Zugang und sind vollständig klimatisiert.
Im Güterverkehr setzt die AVG seit 1959 Diesellokomotiven ein. Zunächst stand nur eine Lokomotive zur Verfügung, seit 1974 zwei. Durch die Ausweitung des Güterverkehrs auf andere Strecken hat sich der Bestand an Diesellokomotiven seit 1990 weiter erhöht.
=== Mehrsystem-Versuchsfahrzeuge ===
Auf der Albtalbahn wurden mehrfach Versuche mit elektrischen Fahrzeugen für verschiedene Stromsysteme unternommen, von denen einige richtungsweisend für die Entwicklung von Mehrsystemfahrzeugen im Eisenbahnbereich wurden:
1954 wurde die elektrische Lokomotive 4 der Albtalbahn in Zusammenarbeit der DEBG, Badenwerk und BBC zu einer Zweifrequenzlokomotive umgebaut, die sowohl mit der auf der Albtalbahn üblichen Einphasenwechselspannung von 8,8 kV bei 25 Hz als auch mit 10 kV und 50 Hz verkehren konnte. Zu Versuchszwecken konnte die Strecke Busenbach–Herrenalb wahlweise mit beiden Stromsystemen versorgt werden, spätere Versuchsfahrten fanden auf der Strecke Busenbach–Ittersbach statt. Die umgebaute Elektrolokomotive bewährte sich gut, so dass sie bis 1962 im Einsatz blieb.
Ab 1957 kam auf der Albtalbahn ein Dreisystemtriebwagen zum Einsatz. Das Fahrzeug war von der Kleinbahn Müllheim-Badenweiler übernommen worden und wurde von Badenwerk und AEG elektrisch umgerüstet. Der Triebwagen besaß Gleichstrommotoren, die wahlweise direkt mit Gleichspannung oder mit Hilfe eines Transformators und nachgeschalteter Gleichrichter mit Wechselspannung gespeist werden konnten. Der Triebwagen konnte mit Wechselspannung von 8,8 kV und 25 Hz, 10 kV und 50 Hz sowie Gleichspannung von 1200 V verkehren. Fahrten unter Gleichspannung wurden auf der benachbarten Kleinbahn Pforzheim-Ittersbach durchgeführt. Nach Beendigung der Versuchsfahrten blieb der Dreisystemtriebwagen bis zum Ende des Meterspurbetriebs auf der Albtalbahn im Einsatz.
Im Jahre 1986 wurde ein Stadtbahnwagen der Albtalbahn zum Zweisystemtriebwagen für 750 V Gleich- und die bei der DB übliche Einphasenwechselspannung von 15 kV bei 16,7 Hz umgerüstet, um die Machbarkeit eines Mischbetriebs zwischen Eisenbahn- und Stadtbahnstrecken zu untersuchen. Die erfolgreichen Versuchsfahrten führten schließlich zur Entwicklung der Zweisystemstadtbahnwagens Karlsruher Bauart, die ab 1991 in über 100 Exemplaren geliefert wurden und in Einzelfällen auch auf der Albtalbahn verkehren. Der Zweisystemstadtbahnbetrieb ist auch als Karlsruher Modell bekannt geworden.
=== Historische Fahrzeuge ===
Insgesamt drei Lokomotiven aus der Schmalspurzeit der Albtalbahn blieben erhalten:
die Wechselstrom-E-Lok Nummer 2 wurde als nicht-fahrfähige Denkmalslok aufbewahrt und zunächst in Ettlingen, später am Karlsruher Albtalbahnhof aufgestellt. Zum 50-jährigen AVG-Jubiläum wurde sie optisch aufgearbeitet und ist derzeit in einer Halle abgestellt.
die Mallet-Dampflokomotive Nummer 7s (Bauart B'Bn4vt), 1966 ausgemustert und dreißig Jahre auf einem Spielplatz aufgestellt, wird zurzeit vom Deutschen Eisenbahn-Verein (DEV) zur betriebsfähigen Museumslok für die Strecke Bruchhausen-Vilsen–Asendorf aufgearbeitet. Die 1898 von der Maschinenfabrik Karlsruhe gelieferte Lokomotive stammt aus der Erstausstattung der Albtalbahn.
die Dampflokomotive 99 7203 wird von den Ulmer Eisenbahnfreunden (UEF) auf der Museumsbahn Amstetten–Oppingen eingesetzt. Diese 1904 von Borsig gebaute Dampflok stammt ursprünglich von der Nebenbahn Mosbach–Mudau und wurde auf der Albtalbahn 1964 nur für den Abbau des Meterspurgleises zwischen Busenbach und Ittersbach eingesetzt.Von den AVG-Gelenktriebwagen werden die Wagen Nummer 4 und 12 betriebsfähig in Karlsruhe aufbewahrt. Wagen 4 hat inzwischen den gelben Anstrich mit dunkelgrüner Zierlinie zurückerhalten, den er bereits in den 1960er Jahren trug, während Wagen 12 die grün-gelbe Lackierung der späten 1970er Jahre trägt.
== Film ==
SWR: Eisenbahn-Romantik – 100 Jahre Albtalbahn (Folge 310)
== Literatur ==
Manfred Koch (Herausgeber): Unter Strom: Geschichte des öffentlichen Nahverkehrs in Karlsruhe. Badenia Verlag, Karlsruhe 2000, ISBN 3-7617-0324-4.
Klaus Bindewald: Die Albtalbahn: Geschichte mit Zukunft: von der Schmalspurbahn zur modernen Stadtbahn. verlag regionalkultur, Ubstadt-Weiher 1998, ISBN 3-929366-79-7.
Kurt Schwab: Straßen- und Kleinbahn in Pforzheim. Verlag Kenning, Nordhorn 1997, ISBN 3-927587-64-8.
Gerd Wolff, Hans-Dieter Menges: Deutsche Klein- und Privatbahnen. Band 2: Baden. EK-Verlag, Freiburg 1992, ISBN 3-88255-653-6, S. 9–62.
Günter König: Der elektrische Betrieb der Albtalbahn in Schmalspur. In: Die Museums-Eisenbahn: Zeitschrift für Kleinbahn-Geschichte. Nr. 3/1992, S. 21–47. Deutscher Eisenbahn-Verein
Helmut Iffländer: Die Albtalbahn: von der Bimmelbahn zum modernen Nahverkehrsbetrieb. Andreas-Braun-Verlag, München 1987, ISBN 3-925120-03-3.
Dieter Höltge: Albtalbahn und Kleinbahn Pforzheim-Ittersbach. Verlag Wolfgang Zeunert, Gifhorn 1976, ISBN 3-921237-27-0.
Peter-Michael Mihailescu, Matthias Michalke: Vergessene Bahnen in Baden-Württemberg. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1985, ISBN 3-8062-0413-6, S. 52–60.
== Weblinks ==
Offizielle Streckendaten auf avg.info
Historische Bilder vom Meterspur- und frühen Regelspurbetrieb auf der Albtalbahn
Historische Dampfzüge auf der Albtalbahn
Blick in das Stellwerk der Albtalbahn in Ettlingen
Albtalbahn im Karlsruher Stadtwiki
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Albtalbahn
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Aubing
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= Aubing =
Aubing ist der westlichste Stadtteil von München. Zusammen mit den nördlich gelegenen Stadtteilen Lochhausen und Langwied bildet es seit 1992 den Münchner Stadtbezirk 22 Aubing-Lochhausen-Langwied. Zu Aubing gehören auch Neuaubing und die Siedlung Am Westkreuz.
Der ursprüngliche Ortskern liegt auf dem nördlichen Ende der Münchner Schotterebene, am Übergang zum Dachauer Moos. Die urkundlich belegte Geschichte Aubings beginnt am 16. April 1010. Alt-Aubing, dessen Zentrum als Ensemble unter Denkmalschutz steht, spiegelt den dörflichen Ursprung mit noch vorhandenen bäuerlichen Anwesen wider. Hier steht auch die 1489 geweihte Pfarrkirche St. Quirin mit einem Turm aus dem 13. Jahrhundert.
Mit dem Eisenbahnanschluss im 19. Jahrhundert begann ein starkes Bevölkerungswachstum auf heute über 30.000 Einwohner, so dass die Bebauung im Norden, Osten und Westen mit den Nachbarstadtteilen und -gemeinden zusammengewachsen oder von diesen nur durch Eisenbahnstrecken getrennt ist. Westlich der heutigen Bebauung liegen der Wald der Aubinger Lohe und viele landwirtschaftlich genutzte Felder. Auf einem Teil dieser Fläche entsteht seit 2006 am Südrand Aubings in der Nähe des Gutes Freiham der neue Stadtteil Freiham, der im Westen durch den Autobahnring der A 99 mit dem Aubinger Autobahntunnel begrenzt ist.
== Geografie ==
=== Lage ===
Der alte Ortskern von Aubing liegt nördlich der heutigen S-Bahn-Station Aubing und weitgehend nördlich der Kirche St. Quirin auf einer leichten Erhebung, die den letzten Ausläufer der von Süden kommenden Münchner Schotterebene darstellt. Im Norden des Ortes schloss sich vor den Trockenlegungen des 19. Jahrhunderts direkt das Dachauer Moos an. In den Moorwiesen weidete das Gemeindevieh. Hausbau wäre dort unmöglich gewesen, da die Mooswiesen nach starkem Regen unter Wasser standen. Weiter südlich war eine Ansiedlung ebenfalls kaum möglich, da die zunehmende Dicke des Schotters, in dem Wasser gut abläuft, ein Bohren von Brunnen stark erschwert hätte. Die Humusschicht auf dem Schotter war dünn, mit Heidebewuchs. Ackerbau war dort vor den Zeiten der Landmaschinen ebenso wenig möglich wie in den Moorwiesen. Eine Ausnahme stellte lediglich eine Lehmzunge südlich des Kirchhügels dar, die den Getreideanbau im heutigen Bereich Bahnhof/Pretzfelder Straße erlaubte und in Dreifelderwirtschaft betrieben wurde.
Als Wasserquelle diente der später verrohrte Langwieder Bach, der im Bereich der heutigen Altostraße entsprang und nach Norden verlief.Das Aubinger Gebiet ist, abgesehen von der Aubinger Lohe im Nordwesten, flach und nach Norden leicht abfallend, mit etwas über 540 Meter über Null im Südwesten bei Freiham und etwa 520 Meter gut vier Kilometer entfernt im Norden nahe dem Autobahntunnel. Der Höhenunterschied innerhalb des Dorfs Aubing wurde bei der ersten Grundvermessung 1809/10 mit nur sieben Metern ermittelt, der höchste Punkt in Alt-Aubing ist der Baugrund der Dorfkirche St. Quirin mit etwa 525 Meter. Der Hügel der Aubinger Lohe erreicht 541 Meter.
=== Nachbarstadtteile und Nachbargemeinden ===
Nördlich von Aubing liegen Lochhausen und Langwied, die wie Aubing seit 1992 zum Stadtbezirk 22 Aubing-Lochhausen-Langwied gehören. Die beiden um 1270 beziehungsweise um 950 erstmals urkundlich erwähnten Nachbarorte bildeten zusammen mit dem heute selbstständigen Gröbenzell von 1808 bis 1942 die Gemeinde Langwied. Nach der Eingemeindung bildeten sie bis zur Zusammenlegung mit Aubing 1992 gemeinsam den Stadtbezirk 40 Lochhausen-Langwied.
Nachbarstadtteil im Nordosten ist Obermenzing. Wegen der Bahnstrecke München–Augsburg ist es von Aubing nur über die Bergsonstraße zu erreichen. Südlich von Obermenzing und somit südöstlich von Aubing liegt der Stadtteil Pasing. Aufgrund seines Bahnhofs mit haltenden Fernzügen und ICEs sowie seiner Infrastruktur mit weiterführenden Schulen, Fachärzten und Ämtern kann die ehemalige Stadt Pasing heute als Zentrum des Münchner Westens angesehen werden. Aufgrund von Bahnstrecken kann man Pasing im Straßenverkehr von Aubing aus nur über die Aubinger Straße (am S-Bahn-Haltepunkt Westkreuz) und über die Bodenseestraße (Bundesstraße 2) erreichen.
Nachbarort im Süden ist Lochham, ein Ortsteil von Gräfelfing, das zum Landkreis München gehört. Die Bebauung im Süden Neuaubings geht mittlerweile nahtlos in den Ort Lochham über.
Im Westen reichen die Aubinger Felder bis an die Bebauungsgrenze der Stadt Germering. Nördlich davon liegt Puchheim, beide gehören zum Landkreis Fürstenfeldbruck.
=== Stadtteilgliederung ===
Während im Westen noch große unbebaute Flächen vorhanden sind, ist die Bebauung im Osten weitgehend durchgängig und mit den Nachbarorten im Norden, Osten und Süden zusammengewachsen oder von ihnen nur durch Bahnanlagen getrennt.
Nördlich der Bahnstrecke München–Buchloe liegt unweit des Bahnhofs Aubing der historische Ortskern Aubings. In dessen Osten liegt die Siedlung Aubing-Ost, die im Nordosten wie auch nördlichere Wohngebiete von der Bahnstrecke München–Augsburg und ihr vorgelagerte Bahnanlagen begrenzt ist. Das sind südlich der Bergsonstraße der Abstellbahnhof Pasing West und nördlich davon der DB-Betriebshof München 2. Nördlich des alten Ortskerns befindet sich die wallartige Erhebung des Autobahntunnels Aubing, dahinter liegen einige neuere Wohngebiete. Die Bebauung zwischen dem Naherholungsgebiet der Aubinger Lohe und der Bahnstrecke München–Augsburg gehört bereits zum benachbarten Lochhausen.
Die amtliche Festlegung des Gebiets von Neuaubing von 1914 umfasste die Bebauung südlich der Bahnstrecke Pasing–Herrsching bis an die Lochhamer Grenze sowie nördlich dieser Bahnstrecke beiderseits der heutigen Limesstraße, im Norden etwa bis zur heutigen Altenburgstraße, also etwa die halbe Strecke bis zur Bahnstrecke nach Buchloe. Die Fläche östlich der Brunhamstraße und ein Streifen beiderseits der Bodenseestraße gehörte damals noch zu Pasing.
Heute wird auch ein Bereich nördlich der Altenburgstraße, bis zur Bahnstrecke nach Buchloe als Neuaubing bezeichnet, eine genaue Grenzfestlegung gibt es nicht mehr. Ein Straßenschild an der Bodenseestraße verortet den Beginn Neuaubings westlich der Limesstraße. Die Bushaltestelle Neuaubing West liegt im Norden Neuaubings, nahe der S-Bahn-Station Aubing.
Die Siedlung Am Westkreuz liegt östlich von Neuaubing, im Dreieck zwischen den Bahnstrecken München–Buchloe und München–Herrsching. An letzterer befindet sich der S-Bahn-Haltepunkt Westkreuz.
Die Gleise der Bahnstrecke München–Buchloe, die Alt-Aubing und Aubing-Ost im Norden von Neuaubing und Am Westkreuz im Süden trennen, können vom Straßenverkehr nur an drei Stellen überquert werden: am westlichen Bebauungsrand, über die Limesstraße unweit des Bahnhofs Aubing und über eine weitere Straße, die Aubing-Ost mit dem Westkreuz verbindet. Fußgänger können zusätzlich an den beiden S-Bahn-Stationen Aubing und Leienfelsstraße die Bahngleise unterqueren. Um den südlichen Teil Neuaubings zu erreichen, muss die Bahnstrecke Herrsching–München in der Verlängerung der Limesstraße, der Brunhamstraße, überquert werden.
Das Gut Freiham, in Richtung Germering gelegen, ist von Neuaubing aus über die Centa-Hafenbrädl-Straße zu erreichen. Es hatte bis November 2013 einen eigenen Bahnübergang der Freihamer Allee über die Strecke München–Herrsching mit Anschluss an die Bundesstraße 2, Bodenseestraße. Zwischen dem Gut Freiham und dem südlichen Teil Neuaubings wurde der südliche Teil des geplanten Neubaugebiets Freiham begonnen. In Freiham-Süd gibt es vorwiegend Gewerbebetriebe, zum Beispiel ein Möbelhaus (Höffner) und einen Baumarkt (Hornbach).
Die Moosschwaige, ein Schwaighof im Moor, gehört historisch zum Gut Freiham. Sie ist die einzige Bebauung westlich der Autobahn.
Für statistische Zwecke unterteilt die Münchner Verwaltung die Stadtbezirke in Bezirksteile und weiter in Stadtbezirksviertel.
Im Stadtbezirk 22 umfasst Aubing zwei der drei Bezirksteile, die durch die Bahnstrecke München–Buchloe voneinander getrennt sind. Der nördliche dieser beiden Bezirksteile wird hierbei als ‚Altaubing‘ der südliche als ‚Neuaubing‘ oder ‚Aubing-Süd‘ bezeichnet. Der dritte Bezirksteil, ‚Lochhausen‘, umfasst auch Langwied.
== Geschichte ==
=== Archäologische Funde und erste urkundliche Erwähnung ===
Eine durchgehende Besiedelung seit vorrömischer Zeit wird vermutet
und lässt sich seit dem 5. Jahrhundert nachweisen. Richtung Obermenzing, etwa am Rand der heutigen Wohnbebauung befand sich ein Reihengräberfeld aus dem 5. bis 7. Jahrhundert mit 862 Gräbern, das 1938 und 1961–63 ausgegraben wurde. Zahlreiche gefundene Grabbeigaben geben recht genaue Einblicke in die damalige Lebensweise. Zwei Ringe mit christlichen Symbolen sind der älteste Nachweis des Christentums auf dem Gebiet der Diözese München-Freising. Es besteht die bisher nicht belegte wissenschaftliche Vermutung, "Aubing" sei über dem Umweg von "Ubingas" (bei Ubo und seinen Leuten) über Ubingun vom bajuwarischen Männernamen Ubo abgeleitet.Die älteste erhaltene urkundliche Erwähnung ist von 1010: König Heinrich II. spricht darin dem Kloster Polling Grundrechte in Ubingun und einigen weiteren Orten zu.
=== Ettaler Herrschaft, 1330–1803 ===
Es scheint, dass der Ort trotz der genannten Beurkundung im bayerischen Herzogsgut verblieb, denn der Wittelsbacher Herzog Ludwig der Bayer vergab das Aubinger Herzogsgut nach 1330 an das von ihm 1330 gegründete Kloster Ettal als Teil der Gründungsausstattung. Ettal blieb bis zur Säkularisation in Bayern 1803 wichtigster Grundherr. Seine Herrschaft war im Vergleich zu Adelsherrschaften eher mild. Es ist beispielsweise nicht bekannt, dass Ettal seine Bauern bei Zahlungsschwierigkeiten aus dem Haus vertrieben hätte. Für 1770 ist nach einer großen Missernte die Unterstützung Aubings durch Ettal dokumentiert.Nach etlichen Streitereien zwischen Ettal und dem Landgericht Dachau, das die Interessen des Herzogs vertrat, wurden die Zuständigkeiten 1476 klar geregelt: Ettal wurde die niedere Gerichtsbarkeit für alle Aubinger zugesprochen, auch für die Untertanen anderer Grundherren, die nicht Leibeigene sein mussten, wie etwa der Ortskirche. Das Landgericht behielt die hohe Gerichtsbarkeit, also alle Verfahren, die mit der Todesstrafe enden konnten, sowie weitere hoheitliche Aufgaben wie die Musterung der Aubinger für die herzogliche Armee. In religiösen Dingen war die Diözese Freising maßgebend, zu der die Aubinger Pfarrei gehörte.Im Bayerischen Krieg (1420–1422) wurde Aubing niedergebrannt. Als einziges Gebäude überstand der noch erhaltene Turm der Kirche St. Quirin die Brandschatzung, nicht aber das vermutlich hölzerne Kirchenschiff. Der erhaltene steinerne Neubau des Kirchenschiffs wurde 1489 geweiht.
Im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) brannte Aubing erneut weitgehend ab. Auf Grund der Kriegsschäden und des kriegsbedingten Bevölkerungsverlusts gelang es mehrere Jahrzehnte nicht, die Landwirtschaft wieder im Vorkriegsumfang zu betreiben. Bis ins 19. Jahrhundert gab es unbebaute Flächen, die vermutlich durch Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg entstanden waren.
=== Selbstständige Gemeinde, 1818–1942 ===
Mit der Säkularisation in Bayern endete 1803 die Ettaler Grundherrschaft in Aubing. Durch das bayerische Gemeindeedikt vom 17. Mai 1818 entstand die selbstverwaltete Gemeinde Aubing. Der Gemeindeausschuss wurde von allen steuerzahlenden Bürgern gewählt, also im Wesentlichen von Grundbesitzern. An der Spitze stand ein gewählter Gemeindevorsteher, ab 1870 ein Bürgermeister. Das Gut Freiham kam aus dem Landgericht Starnberg mit Aubing zum Landgericht München und über den sog. Steuerdistrikt einschließlich der Moosschwaige zu Aubing.
Über Jahrhunderte war Aubing der einwohnerstärkste Ort westlich von München. Die Aubinger Pfarrei umfasste auch die östlichen Nachbardörfer bis Laim. Im Jahr 1810 wurden in Aubing selbst 758 Einwohner verzeichnet und damit beispielsweise über dreimal mehr als im benachbarten Obermenzing. Dies machte sich auch bei den Schülerzahlen bemerkbar. Als am 23. Dezember 1802 für Bayern die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde, musste auch die Gemeinde Aubing für einen geregelten Schulbetrieb sorgen. Diese neu hinzugekommene Belastung wog umso schwerer, weil 1803 die Grundherrschaft des Klosters Ettal durch die Säkularisation endete und damit die Möglichkeit der finanziellen Unterstützung durch das Kloster wegfiel. In ihrer Verzweiflung baten 1820 die Gemeindevorsteher Königin Karoline um finanzielle Unterstützung zum Bau eines neuen Schulhauses. Letztlich trugen aber dann doch die Gemeinden Aubing und Langwied und die Pfarrei Aubing die Baukosten (dafür wurde eine Mesnerwohnung im Hause zugesagt). Auch verschiedene staatliche Stellen und Spender, wie Freiherr von Yrsch auf Freiham, unterstützten das Bauvorhaben finanziell. Das nahe der Kirche St. Quirin nach Plänen von Gustav Vorherr errichtete Gebäude (Altostr.16) nahm schließlich 1822 den Schulbetrieb für 80 Kinder auf. Das weitere Anwachsen der Bevölkerungszahl war der Grund für den Bau des 1893 an der Ubostraße errichteten neuen Schulhauses (Architekt: Johann Hieronymus). Das frei gewordene ehemalige Schulgebäude wurde zur Gendarmeriestation umfunktioniert.
1839 wurde das erste Teilstück der Bahnstrecke München–Augsburg von München über Pasing nach Lochhausen eröffnet. In der Folge wuchs das benachbarte Pasing besonders stark und wurde schließlich 1905 zur Stadt erhoben. 1873 bekam auch Aubing einen Bahnanschluss, die heutige S-Bahn-Station Aubing an der Bahnstrecke München–Buchloe, so dass auch dort die Einwohnerzahl auf 1.431 im Jahr 1900 stieg.Um die Wende zum 20. Jahrhundert setzte die Industrialisierung ein, die Chemische Fabrik Aubing und die Aubinger Ziegelei entstanden. 1903 wurde die südliche Bahnstrecke von Pasing nach Herrsching am Ammersee eröffnet, und an dieser 1906 die V. Centralwerkstätte der königlich bayerischen Staatsbahn unmittelbar südlich der heutigen S-Bahn-Station Neuaubing. 1913 hatte das Werk bereits über 500 Mitarbeiter, für die in der Nähe, in der Papinstraße, Wohnungen entstanden. Diese waren die erste Wohnbebauung in Aubing-Süd, das ab 1915 auch amtlich Neuaubing genannt wurde. Als letzter großer Industriebetrieb wurde in den 1930er-Jahren ebenfalls südlich der Bahnstrecke Pasing–Herrsching, aber unmittelbar östlich der Brunhamstraße, die Zweigstelle Dornier-Werke Neuaubing gebaut. Damals gehörte dieses Grundstück zwar zu Pasing, auf Grund der unmittelbaren Nähe wurde der Betrieb jedoch als Werk Neuaubing bezeichnet. Nördlich der Bahnstrecke entstand 1937/38 die heutige Siedlung am Gößweinsteinplatz für die Mitarbeiter.Im Ersten Weltkrieg (1914–1918) verloren 88 Aubinger Kriegsteilnehmer ihr Leben, knapp ein Zehntel der erwachsenen männlichen Bevölkerung. In der Landwirtschaft wurden im Krieg 54 russische Kriegsgefangene aus einem Lager im benachbarten Puchheim eingesetzt. Nach Ausrufung der Münchner Räterepublik am 7. April 1919 wurde der Gemeindeausschuss unter Gewaltandrohung zum Rücktritt aufgefordert. Vier Kommissionen aus Gemeindeausschussmitgliedern und Räten sollten sich um verschiedene Aufgaben der Gemeinde kümmern. Nach einem Protokoll vom 28. April wurde der Gemeindeausschuss jedoch wieder eingesetzt. Wenig später, am 1. Mai, rückten gegenrevolutionäre Truppen in Aubing ein. Am 15. Juni 1919 kam es zur ersten Gemeinderatswahl, bei der auch grundbesitzlose Aubinger und Frauen wählen durften.1933 hatte Aubing 5789 Einwohner.
Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 gaben 3331 Wahlberechtigte 2940 gültige Stimmen ab. Die NSDAP wurde stärkste Partei, erreichte aber nur ein Drittel der Stimmen, etwa 10 % weniger als im deutschen Durchschnitt. Fünf Tage nach der Reichstagswahl kam es zu ersten Verhaftungen und Hausdurchsuchungen. Die Aubinger-Neuaubinger Zeitung vom 15. März 1933 berichtete, dass in Aubing und Lochhausen „8 Kommunisten in Schutzhaft genommen“ wurden.
Elf Aubinger, die zwischen 1933 und 1944 im Konzentrationslager Dachau inhaftiert waren, sind namentlich bekannt. Soweit bekannt, lag ihre Haftdauer zwischen elf Monaten und drei Jahren und neun Monaten. Einer verstarb in Dachau.
=== Seit 1942: Münchner Stadtteil ===
Im April 1937 wurden erste Gespräche zwischen der Stadt München und der Gemeinde Aubing über eine Eingemeindung nach München geführt. Die Vertreter Aubings waren einer Eingemeindung gegenüber zunächst aufgeschlossen, man konnte sich jedoch nicht auf einen Eingemeindungsvertrag einigen. Auch die Mehrheit der Aubinger Bevölkerung war wohl dagegen. Schließlich entschied der zuständige Reichsstatthalter in Bayern, Ritter von Epp, per Verfügung die Eingemeindung zum 1. April 1942 ohne Vertrag. Die Bekanntgabe in der Zeitung wurde jedoch verboten.Zwischen 1941 und 1945 arbeiteten etwa 700 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in Aubing und dem benachbarten Lochhausen in den Industriebetrieben, in der Landwirtschaft oder als Gemeindearbeiter. Von sieben Lagern ist heute nur noch das Kriegsgefangenenlager Neuaubing erhalten.
1943/44 richteten Bombenabwürfe auf das Reichsbahn-Ausbesserungswerk, die Dornier-Werke, eine Flak-Stellung im Bereich der heutigen Siedlung Neuaubing-West und ein Umspannwerk in der Aubinger Lohe große Schäden an. Mindestens 53 Personen starben dabei. Am Morgen des 30. April 1945 kamen die ersten Soldaten der 7. US-Armee nach Aubing. Etwa 400 Soldaten aus Aubing ließen im Krieg ihr Leben.Von 1950 bis 1961 stieg die Bevölkerung nur von 11.305 auf 13.049. In den folgenden neun Jahren bis 1970 kam es jedoch zu mehr als einer Verdopplung auf 27.403. Dies war bedingt durch den Baubeginn der beiden Siedlungen Am Westkreuz und Neuaubing-West.
1987 lag die Einwohnerzahl bei 30.181.Im Rahmen einer Neuordnung der Münchner Stadtbezirke wurde Aubing mit dem vormaligen Bezirk Lochhausen-Langwied 1992 zum Stadtbezirk 22, Aubing-Lochhausen-Langwied zusammengefasst.
== Einwohner ==
Siehe auch den Abschnitt Entwicklung der Einwohnerzahl im Artikel Geschichte Aubings
Die Einwohnerzahl wird von der Stadt München nur noch für den gemeinsamen Stadtbezirk Aubing-Lochhausen-Langwied ausgewiesen, 2008 lag diese bei 38.327, Ende 2019 bei 49.072 in 22.795 Haushalten. Weitere etwa 20.000 Einwohner sind bis 2040 im Neubaugebiet Freiham westlich von Neuaubing geplant. 1987, bei der letzten getrennten Erfassung der ehemals selbstständigen Stadtbezirke Aubing und Lochhausen-Langwied, entfielen 30.181 (85 %) der zusammen 35.550 Einwohner auf Aubing.Der Bezirk hat den dritthöchsten Anteil aller Münchner Bezirke an Mehrpersonen-Haushalten. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen ist überdurchschnittlich hoch. 2018 und 2019 zogen jeweils etwa 1100 Menschen mehr in den Bezirk als weg.Für die Zukunft ist im bisher unbebauten Bereich westlich von Neuaubing und nördlich der Bodenseestraße im Baugebiet Freiham der Bau von 9.000 bis 10.000 neuen Wohnungen vorgesehen, so dass auch ab 2020 mit einem entsprechenden weiteren Anstieg der Bevölkerungszahlen gerechnet wird.
== Religion ==
Die ursprüngliche Aubinger Dorfkirche St. Quirin ist auch heute noch die katholische Pfarrkirche für die Aubinger Gebiete nördlich der Bahnstrecke München–Buchloe. Georg Böhmer, Aubinger Pfarrer von 1912 bis 1922 hielt 1913 fest, dass sich die sozialen Strukturen von Alt-Aubing und Neuaubing so stark unterschieden, dass eine pfarrliche Trennung anzuraten sei. Zur Pfarrei Aubing gehörten 2300 Mitglieder, die Kirche bot aber nur Platz für etwa 300 Besucher. Ein nördliches Seitenschiff wurde 1913 erwogen, aber zu Gunsten des Kirchenbaus in Neuaubing fallen gelassen. Pfarrer Böhmer bat die Königlich Bayerische Staatsbahn um Unterstützung, die der Kirche, am Tag bevor sie in der Reichsbahn aufging (24. April 1920), das Grundstück übertrug, auf dem heute St. Konrad steht.Der erste Kirchenbau im 20. Jahrhundert war in der Folge die katholische hölzerne Behelfskirche St. Joachim und Anna in Neuaubing, auf dem Gelände der heutigen Turnhalle der Limesschule, von 1921 bis 1956.
Im Jahr 1939 zählte die Gemeinde bereits 4.000 Mitglieder, neben Neuaubingern auch die Bewohner des Guts Freiham. Eine größere Kirche war daher notwendig geworden, aufgrund des Zweiten Weltkriegs konnte jedoch erst 1955 mit dem Bau begonnen werden. Kardinal Joseph Wendel weihte die erste steinerne Neuaubinger Kirche im November 1956 ein. Aubing war zwischenzeitlich nach München eingemeindet worden, und da es in München eine weitere Pfarrei St. Joachim gab, wurde die Pfarrei bei der Weihe nach St. Konrad von Parzham umbenannt. Das Einzugsgebiet der Gemeinde findet sich heute beiderseits der Limesstraße.St. Markus betreut Neuaubing-West und die dortigen Wohnsiedlungen aus den 1960er-Jahren. Am Westkreuz ist als vierte katholische Kirche St. Lukas zu finden. Die Kirche auf dem Gut Freiham heißt Heilig Kreuz.
Unter den Neuaubinger Neubürgern fanden sich auch viele Protestanten. Die evangelisch-lutherische Adventskirche, an der südlichen Limesstraße Ecke Hohensteinstraße gelegen, wurde 1940 fertiggestellt.
Eine Neuapostolische Kirche befand sich in der Limesstraße 45, schräg gegenüber der Limesschule. Sie wurde jedoch abgerissen und 2018 durch Wohnbebauung ersetzt.
Am 12. September 2011 wurde an der Kastelburgstraße der Grundstein für ein Kirchenzentrum der Rumänisch Orthodoxen Metropolie für Deutschland, Zentral- und Nordeuropa gelegt. Beim feierlichen Gottesdienst war auch der Patriarch der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, Daniel Ciobotea, anwesend. Es handelte sich dabei laut Weihbischof Sofian allerdings um eine symbolische Aktion, da ein Termin für den Baubeginn aus finanziellen Gründen noch nicht fest stand. Der Kaufbetrag von 1,1 Millionen Euro für das 2600 Quadratmeter große Grundstück aus dem Besitz der Stadt München war erst zur Hälfte aufgebracht.
== Politik ==
Seit der Fusion der Stadtbezirke Aubing und Lochausen - Langwied im Jahr 1992 zum Stadtbezirk 22 Aubing-Lochhausen-Langwied ist Aubing keine eigenständige Gebietskörperschaft mehr und hat dementsprechend auch keine eigenständige politische Vertretung mehr. Die örtlichen Angelegenheiten nimmt jetzt der Bezirksausschuss 22 wahr.
== Wappen ==
Anfang der 1930er-Jahre entstand in der Gemeinde Aubing der Wunsch nach einem eigenen Wappen. Zuvor enthielten Gemeindesiegel das bayerische Rautenwappen beziehungsweise vor dem Ersten Weltkrieg keine Abbildungen. Der letzte frei gewählte Bürgermeister der Gemeinde, Josef Schmid (BVP, Amtszeit von 1925 bis 1933), veranlasste in Absprache mit dem Gemeinderat eine Suche nach geeigneten Wappenvorlagen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Dort fand sich eine Urkunde von 1334, an der ein Siegel von „Hartmann von Aubingen“ hing, das drei herzförmige Blätter, sogenannte Seeblätter zeigt, deren Stiele sich in der Mitte treffen. Da es sich um einen Abdruck handelt, hat er keine Farben. Der Heraldiker Otto Hupp entwickelte anhand dieser Vorlage mehrere Vorschläge mit grünen, blauen und weißen Blättern. Der Gemeinderat entschied sich für „Drei grüne Blätter auf Silbergrund“ (so die heraldische Bezeichnung) und bat Otto Hupp um eine entsprechende Ausführung, welche dieser im November 1932 fertigstellte. Nach Antrag im Januar genehmigte das Staatsministerium des Inneren die Führung des Wappens am 23. Februar 1933. Durch Rückgabe der bisherigen Siegel mit dem Rautenwappen trat es am 9. Mai 1933 offiziell in Kraft. Schmid selbst konnte es nicht mehr einsetzen, er war im April von den Nationalsozialisten aus dem Amt gedrängt worden.Es sollte nicht lange in offizieller Benutzung bleiben, denn schon kurz danach wurde auf Grund der Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten auch in Aubing ein Siegel mit Reichsadler und Hakenkreuz verwendet. Durch die Eingemeindung nach München 1942 wurde das Wappen auch nach dem Ende des Dritten Reichs nicht mehr verwendet, da Aubing nun wie alle Münchner Stadtteile das Wappen der Landeshauptstadt München trug. Trotzdem hat sich das Aubinger Wappen im Ortsbild erhalten, es wird auch von verschiedenen Vereinen geführt. Die Rechte für die Verwendung liegen bei der Stadt München als Rechtsnachfolger der Gemeinde Aubing.
== Kultur und Vereinsleben ==
Aubing hat keine Museen, Kinos oder professionell bespielten Bühnen. In einem ehemaligen Kino in der Limesstraße 21 befand sich zuletzt ein Supermarkt, bevor das Gebäude 2018 abgerissen wurde. Aufführungsmöglichkeiten, die von Theatergruppen oder für Konzerte genutzt werden, gibt es im Saal einer Gastwirtschaft in der Limesstraße, Ecke Altenburgstraße, sowie in den Kirchengemeinden.
Eine Aufzählung der Arbeitsgemeinschaft Aubinger-Neuaubinger-Vereine von 2005 listet 36 Mitglieder.
Bereits in den 1850er-Jahren gab es eine Aubinger Feuerwehr. Heute wird diese von den Freunden der Freiwilligen Feuerwehr Aubing e. V. unterstützt.Im Jahr 1909 wurde der Katholische Arbeiterverein Aubing mit 60 Mitgliedern gegründet, dem nicht nur Arbeiter aus den Eisenbahnwerkstätten, sondern auch Tagelöhner aus dem Gut Freiham angehörten. Im Jahr 1916 hatte er 132 Mitglieder, davon 37 „im Felde“ (also im Krieg). Bis 1927 sank die Zahl auf nur noch 54 Mitglieder. Im Dritten Reich wurde er 1937 aufgelöst, nach dem Krieg jedoch wiedergegründet: 1947 kam es zu einer gemeinsamen Versammlung der katholischen Arbeitervereine Aubing, Neuaubing sowie des 1918 gegründeten Arbeiterinnenvereins Aubing.Im Jahr 1921 wurde der Eisenbahnersportverein Neuaubing (heute: ESV Sportfreunde München-Neuaubing e. V.) gegründet, der 26 Abteilungen für verschiedene Sportarten und 4000 Mitglieder hat (Stand 2009). Im Jahr 1929 erfolgte die Gründung des SV Aubing, der sich besonders im Fußball engagiert und seit 1962 in der Bezirkssportanlage an der Kronwinklerstraße spielt. Im Jahr 2004 hatte er etwa 650 Mitglieder.Am 6. Dezember 1981 wurde der Freiflächenverein Aubing gegründet, dessen Zweck es ist, sich um die vereinseigene Belandwiese zu kümmern. Dieses 4800 Quadratmeter große Grundstück liegt am Germeringer Weg nahe der Ortsmitte. Es wurde dem Verein vom kinderlosen Aubinger Ehepaar Maria und Josef Beland gestiftet um die seit den 1960er Jahren bestehende Tradition der dort stattfindenden Vereinsfeierlichkeiten langfristig erhalten zu können. Hier findet unter anderem seit 1990 das jährliche Aubinger Herbstfest statt. Mitglieder des Vereins sind satzungsgemäß Vertreter einiger Aubinger Vereine.Der Burschenverein Aubing stellt alle drei Jahre in der Ortsmitte an der Kreuzung Alto-/Bergsonstraße den Maibaum mit dreidimensionalen Figuren aus Holz auf. Er veranstaltet das Aubinger Weinfest und ist Mitinitiator und -organisator des Aubinger Herbstfestes.
Das Aubinger Archiv ist ein gemeinnütziger Verein und Stadtteilarchiv für München-Aubing und Umgebung. Es beherbergt eine Sammlung historischer und zeitgenössischer Dokumente.Der 2008 gegründete gemeinnützige Förderverein 1000 Jahre Urkunde Aubing e. V. widmet sich der Kultur- und Heimatpflege im Stadtbezirk Aubing-Lochhausen-Langwied. Er organisierte 2010 Feiern anlässlich der 1000-jährigen Wiederkehr der erstmaligen urkundlichen Erwähnung Aubings.Im ehemaligen Aubinger Heizkraftwerk ist unter dem Namen "Bergson Kunstkraftwerk" ein neues Kulturzentrum geplant.
== Bauwerke ==
=== Älteste Bauwerke ===
Die ältesten baulichen Überreste finden sich in der Aubinger Lohe, etwa 1,7 Kilometer entfernt vom Ortsmittelpunkt St. Quirin. Eine Art Turmburg oder Motte, deren Fundamente teilweise erhalten sind, wurde vermutlich im 10./11. Jahrhundert erbaut und im 14. Jahrhundert wieder aufgegeben. Der künstlich aufgeschüttete Lehmhügel hat eine ovale Fläche von etwa 20 × 30 Metern und wird an drei Seiten von einem bis zu 3,50 Meter tiefen Graben umgeben. Die Fundamente, möglicherweise auch das Erdgeschoss, waren aus Stein, darüber befindliche Aufbauten vermutlich aus Holz oder Fachwerk. Die Tuffstein-Fundamente des heutigen Bodendenkmals wurden im 19. Jahrhundert einem Aubinger Maurermeister gegen 45 Kreuzer jährliche Gebühr zur „Ausbeutung der Steine“ überlassen.
Möglicherweise hat sie als Fluchtburg für die Aubinger und zur Sicherung der vorbeilaufenden Straße nach Augsburg gedient. Schriftliche Überlieferungen über die Aubinger Burg gibt es keine, der heutige Name „Teufelsburg“ ist für die Nutzungszeit also nicht belegt, sein Ursprung unklar. Neben der offensichtlichen Möglichkeit Teufel kommt auch eine Ableitung von „Tuifel“ (Vertiefung, Tümpel) in Frage, als Bezug auf das unterhalb liegende feuchte Gebiet des Dachauer Mooses.Das älteste erhaltene Bauwerk ist die Kirche St. Quirin. Ihr romanischer Turm wird auf das Ende des 13. Jahrhunderts datiert, denn dendrochronologische Untersuchungen ergaben, dass die Balken für die Glockenstube im Turm im Winter 1283/84 geschlagen wurden.
Das Kirchenschiff im gotischen Stil ist 200 Jahre jünger, es wurde 1489 geweiht, nachdem der Vorgängerbau 1422 im Bayerischen Krieg niedergebrannt wurde. Der barocke Hochaltar ist von 1668.
Durch das starke Bevölkerungswachstum in Aubing war der Kirchenraum mit vier Jochen Anfang des 20. Jahrhunderts zu klein geworden, daher wurde er 1936/37 Richtung Westen um ein fünftes Joch erweitert. Dieses fügt sich von innen gesehen stilistisch nahtlos an die älteren Abschnitte an. Die Decke des fünften Jochs ist jedoch an Drahtseilen aufgehängt, welche am Dachstuhl befestigt sind.
=== Ensembles unter Denkmalschutz ===
Der die Kirche umgebende Aubinger Dorfkern ist ein denkmalgeschütztes Ensemble. Ebenfalls unter Ensembleschutz stehen die Siedlung am Gößweinsteinplatz, das Zwangsarbeiterlager Neuaubing, sowie das Gut Freiham und die historisch zum Gut gehörige Moosschwaige. Darüber hinaus sind etwa 40 Einzelbauwerke in Aubing denkmalgeschützt, darunter etliche Wegkreuze, Bauernhäuser oder Stallgebäude.
Die Wohnsiedlung am Gößweinsteinplatz wurde ab 1938 für die Angehörigen der Dornier-Werke gebaut und wird daher auch als Dornier-Siedlung bezeichnet. Bei der Erbauung grenzte sie nur an der Ostseite, Richtung Limesstraße, an andere Bebauung und war ansonsten freistehend. Zentrum ist ein Platz mit Uhrtürmchen, Wirtshaus und Laden.
Das Zwangsarbeiterlager aus dem Zweiten Weltkrieg ist das einzige von 400 solcher Lager im Stadtgebiet München, das erhalten ist. Es wurde Anfang der 1940er Jahre unmittelbar westlich der Siedlung am Gößweinsteinplatz an der heutigen Ehrenbürgstraße gebaut. Von 1943 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 waren mindestens 300 Zwangsarbeiter aus verschiedenen Ländern untergebracht. Ein Teil der Gebäude wird Stand 2010 von Künstler und Handwerkern genutzt.Die älteste erhaltene urkundliche Erwähnung des Guts Freiham als „Villa Frihaim“ geht auf das 12. Jahrhundert zurück. Noch 1514 wurde es ausdrücklich als Schwaige, also als Viehhof erwähnt. Das Schloss wurde 1680 errichtet und 1865/1866 von Carl Theodor von Yrsch (1832–1899) im Stil der Münchner Maximilians-Neugotik umgebaut. Nach einer Renovierung ist Schloss Freiham seit 2010 Deutschlandsitz von Forever Living Products, einer Firma, die Kosmetikprodukte auf Aloe-Vera-Basis vertreibt. Die Kirche Heilig Kreuz gehört ebenfalls zum Gut Freiham.
=== Einzelbauwerke unter Denkmalschutz ===
Das Anwesen „Beim Neumaier“, auch „Schergenhof“ genannt, in der heutigen Ubostraße 21, der ehemaligen Bauerngasse, war von 1700 bis 1803 das Amtshaus des Kastners des Klosters Ettal. Da das Kloster als Grundherr die niedere Gerichtsbarkeit in seiner Hofmark ausübte, befand sich in dem Gebäude ein Karzer, der bis heute erhalten ist.Der 37 Meter hohe Aubinger Wasserturm wurde 1910 zusammen mit einem Wasserwerk auf 12.000 Quadratmetern von der Gemeinde errichtet, um die Wasserversorgung der wachsenden Bevölkerung in der ganzen Gemeinde sicherzustellen. Der denkmalgeschützte Bau im Heimatstil ist heute ein Wahrzeichen Neuaubings. Im Jahr 1954 wurde das Werk außer Betrieb genommen, nachdem die Stadtwerke München den Anschluss an ihr Wasserleitungsnetz hergestellt hatten. Heute stehen der Turm und das Nebengebäude leer.
Auch das Kriegerdenkmal, die Mariensäule von 1870, das ehemalige Schulhaus von 1893 in der Ubostraße 23 und das Gebäude der Grundschule an der Limesstraße von 1907 stehen unter Denkmalschutz. Der Bau des letzteren war ein Politikum, da der Bedarf für diesen Bau durch den Zuzug von Arbeitern des Bahnausbesserungswerkes entstand. Weder Bahnwerk noch Arbeiter zahlten Steuern in Aubing, die finanziell schlecht ausgestattete Gemeinde war jedoch zum Bau verpflichtet (siehe Streit um den Neuaubinger Schulbau im Artikel Geschichte Aubings).
Südlich des S-Bahnhofs Neuaubing stehen zehn Gebäude des ehemaligen Bahnausbesserungswerks selbst, erbaut zwischen 1902 und 1926, sowie Eisenbahner-Wohnungen in der Papinstraße von 1905 unter Denkmalschutz.
Das ehemalige Aubinger Heizkraftwerk im Nordosten Aubings nahe der Bergsonstraße wurde 1940 von der Bahn erbaut. Es steht seit 2007 unter Denkmalschutz.
=== Neuere Bauwerke ===
Das größte Aubinger Gebäude ist der Ramses, ein Wohnhaus in der Siedlung Am Westkreuz. Architekten waren Helmut von Werz und Johann-Christoph Ottow, die zuvor einen städtebaulichen Wettbewerb für die Planung des gesamten Gebiets Am Westkreuz gewonnen hatten. Der Grundstein des Ramses wurde am 12. Juni 1969 von Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel gelegt, ab Sommer 1971 konnten etwa 1000 Bewohner in die 343 Wohnungen mit Größen zwischen 33,5 und 170 m² einziehen, die Gesamtwohnfläche liegt bei 22.500 m². 1970 lag der Wohnungspreis bei durchschnittlich 1100 Mark pro Quadratmeter. Das Gebäude ist 64,5 Meter hoch, 138 Meter lang und 23 Meter breit. Im höchsten, 19. Stockwerk befindet sich ein überdachtes beheizbares Schwimmbad mit Sonnenterrasse und Sauna für die Bewohner.Direkt südlich des Aubinger Bahnhofs wurde 1992 für die Deutschen Telekom (Fernmeldezeugamt) ein Hochregallager gebaut, vorgesehen für Materialien für den Eigenbedarf der Telekom im südlichen Bayern wie Leitungen, Werkzeuge und Messgeräte. Allein die Betriebstechnik des Lagers kostete zur Bauzeit 30 Millionen Mark. Die Halle war 20 Meter hoch, 80 Meter lang, 38 Meter breit und bot Platz für 38.000 Paletten. Es handelte sich um ein „architektonisch reizvolles“ Gebäude, das von außen einen ähnlichen Eindruck erweckt, als seien mehrere aufrechte Zylinder nebeneinander gestellt. Ab 2015 wurde das ganze Gelände abgerissen und mit Wohngebäuden bebaut.
Der Aubinger Tunnel ist mit 1935 Metern der längste Autobahntunnel Bayerns. Er verläuft als Teil des Münchner Autobahnrings (A 99) nordwestlich des alten Ortskerns, einige Aubinger Wohngebiete liegen noch nördlich davon. Es handelt sich um einen reinen Lärmschutztunnel.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
=== Wirtschaft ===
Die Industriebetriebe, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gegründet wurden (siehe Industrialisierung im Artikel Geschichte Aubings), existieren nicht mehr. Die Gelände der Aubinger Ziegelei und der Chemischen Fabrik Aubing sind heute mit Wohngebäuden bebaut. Auf dem Gelände des ehemaligen Dornier-Werkes befindet sich ein „Business-Park“, der Gewerbeflächen vermietet. Das Bahnausbesserungswerk ist nach der Stilllegung teilweise abgerissen, danach mit Gewerbe- und Wohngebäuden bebaut worden. Ein weiteres Bahngelände zwischen Alt-Aubing und der Siedlung Aubing-Ost (S-Bahn-Station Leihenfelsstraße) wurde bis auf Ausbildungszentrum, (noch in Betrieb Stand 2018) ebenfalls abgerissen und mit Wohngebäuden bebaut.
Erhalten geblieben sind dagegen einige landwirtschaftliche Betriebe in der Ubostraße in Alt-Aubing. 48 % der Fläche des Stadtbezirks Aubing-Lochhausen-Langwied wurde zum 1. Januar 2009 als Landwirtschaftsfläche verzeichnet. Vorhanden sind außerdem zahlreiche Handwerksbetriebe und Einzelhändler für die Stadtteilversorgung. Letztere konzentrieren sich auf die Altostraße für Alt-Aubing, die Limesstraße für Neuaubing sowie Ladenzentren an der Wiesentfelser Straße und am Westkreuz. Daneben gibt es im Bereich der Bodenseestraße einige Auto- und Autoteilehändler, Baumärkte (Toom Baumarkt, Obi), Tankstellen und Supermärkte. Im neuen Gewerbegebiet Freiham Süd haben sich bisher ein Möbelhaus (Höffner), ein Baumarkt (Hornbach) und weitere Betriebe niedergelassen. Hier sollen nach Planungen der Stadt München insgesamt 8000 Arbeitsplätze entstehen.Durch die gute Anbindung vieler Aubinger Wohngebiete an das Bahnnetz, heute S-Bahn-Netz, ist der Stadtteil schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts für Pendler in die inneren Stadtbezirke interessant. Gleiches gilt für Touristen. Im Jahr 2008 gab es acht Hotels oder Herbergen mit zusammen 496 Betten und 124.952 Übernachtungen, die Auslastungsquote lag bei 69 %.
=== Öffentliche Verkehrsmittel ===
Aubing ist mit sechs Stationen an vier Linien der S-Bahn München angebunden, die jeweils im 20-Minuten-Takt (Stand 2017 S8 in der Hauptverkehrszeit im 10-Minuten-Takt) angefahren werden. Die Nummerierung der Linien ändert sich gelegentlich, wenn bei einem Fahrplanwechsel westliche und östliche Äste des S-Bahn-Netzes neu kombiniert werden. Alle Linien fahren stadteinwärts über Pasing und München Hauptbahnhof zum Karlsplatz (Stachus) und zum Marienplatz.
Die Stationen Leienfelsstraße und Aubing liegen an der Linie nach Geltendorf (S4) auf der Bahnstrecke München–Buchloe.
Das Westkreuz wird von zwei Linien angefahren, der Linie nach Starnberg und weiter nach Tutzing (S6) über die Bahnstrecke München–Gauting sowie der Linie nach Herrsching am Ammersee (S8) über die Bahnstrecke München-Pasing–Herrsching.
Die Station Neuaubing liegt ebenfalls an der Linie nach Herrsching, wie auch die 2013 eröffnete Station Freiham für den gleichnamigen neuen Stadtteil. Die Station Langwied an der Grenze zum benachbarten Obermenzing liegt an der Linie nach Mammendorf (S3).
Mehrere Buslinien erschließen ferner den Stadtteil, darunter der Metrobus Linie 57, der vom U-Bahnhof Laimer Platz über Pasing nach Neuaubing West fährt. U-Bahnen oder Straßenbahnen gibt es nicht.
=== Straßenverkehr ===
Im Februar 2006 wurde das Teilstück der A 99 (Münchner Autobahnring) zwischen der Anschlussstelle München-Lochhausen und der A 96 München-Lindau mit dem Aubinger Tunnel eröffnet. Seitdem ist Aubing über die Anschlussstelle München-Freiham-Mitte direkt an das Autobahnnetz angebunden. Die nördlich davon gelegene Anschlussstelle Germering-Nord liegt zwar ebenfalls auf Aubinger Gebiet, hat jedoch keine Straßenverbindung nach Aubing.
Das neue Gewerbegebiet Freiham Süd wurde mit einer Halbauffahrt an die A96 angeschlossen, so dass diese von und nach München, nicht aber Richtung Lindau erreicht werden kann.
Die Anschlussstelle Freiham-Mitte führt auf die Bundesstraße 2, die bis Pasing als Bodenseestraße und weiter Richtung Münchner Innenstadt als Landsberger Straße eine der großen Münchner Ein- und Ausfallstraßen ist.
=== Medien ===
Neben den Münchner Tageszeitungen und kostenlosen Anzeigenblättern hält sich die am 4. Oktober 1926 vom Aubinger Buchdrucker Joseph Heinrich Jeup (1862–1947) gegründete und wöchentlich erscheinende Aubing-Neuaubinger Zeitung. Noch 1926 wurde die Zeitung das offizielle Amtsblatt der Gemeinde Aubing und blieb dies bis zur Eingemeindung. Im Jahr 1939 unterlag sie der nationalsozialistischen Gleichschaltung, sie wurde 1948 neu gründet.
=== Öffentliche Einrichtungen ===
Städtische Einrichtungen im Stadtteil beschränken sich abgesehen von den Schulen auf eine Zweigstelle der Münchner Stadtbibliothek am Westkreuz. Das nächstgelegene Bürgerbüro sowie ein Standesamt befinden sich im Pasinger Rathaus.
=== Schulen ===
Zur Geschichte der Schulen siehe auch Geschichte Aubings
In Aubing gibt es vier Grund- und zwei Mittelschulen, die jeweils nach der angrenzenden Straße benannt sind. Die Zahl der Schüler und Klassen im Schuljahr 2008/09 ist in Klammern angegeben. Die Grundschule an der Gotzmannstraße (295/12) befindet sich in Alt-Aubing. Sie wurde 1960 als Nachfolgerin der Volksschule in der Ubostraße 23 eröffnet, die mit fünf Klassenräumen ab 1893 auf die erste Schule der Gemeinde Aubing in der Altostraße 16 folgte.
Die Grundschule an der Limesstraße (270/12) steht in der Mitte Neuaubings. Bei einer zweiten Erweiterung 1955/56 (Neubau) entstand das Hauptgebäude im heutigen Umfang. Im Jahr 1960 kamen eine zweite Turnhalle und ein Schwimmbad hinzu. Heute werden die Jahrgangsstufen 1–4 in je drei Klassen unterrichtet.Die Grundschule am Ravensburger Ring (352/15) befindet sich am Westkreuz und die Grundschule an der Wiesentfelser Straße (243/10) in Neuaubing-West. Dort steht auch die Mittelschule an der Wiesentfelser Straße (268/12). Diese wurde mit mehreren nationalen Schulpreisen ausgezeichnet und kam 2010 unter die besten 15 Schulen aller Schularten beim Deutschen Schulpreis. Die Mittelschule an der Reichenaustraße (292/13) befindet sich in der Siedlung Am Westkreuz und eine Filiale der Staatlichen Fachoberschule, Ausbildungsrichtung Technik, in der Kronwinkler Straße, östlich des alten Ortskerns. Neben den Aubinger Schulen gibt es im Stadtbezirk 22 (Aubing-Lochhausen-Langwied) noch eine Grundschule in Lochhausen.
Im Neubaugebiet Freiham ist eine weitere Grundschule geplant. Ob dort für die nach Vollendung des Neubaugebiets dann über 50.000 Einwohner des Stadtbezirks auch ein Gymnasium und/oder eine Realschule entstehen werden, ist noch unsicher. Derzeit müssen Realschüler und Gymnasiasten in benachbarte Gemeinden und Stadtteile, zum Beispiel Pasing, Laim, Germering, Gröbenzell und Unterpfaffenhofen ausweichen, eine Situation, die von Vertretern benachbarter Gemeinden kritisch gesehen wird.
=== Aubing als Projektgebiet für „Smarter Together München“ ===
Neuaubing-Westkreuz und Freiham sind seit dem 1. Februar 2016 das Projektgebiet des Projektes „Smarter Together München“.Das Projekt der Europäischen Union zielt darauf ab, Konzepte der Stadtentwicklung im Bereich Mobilität, Energie, Bürgerbeteiligung und Datenmanagement im Sinne einer lebenswerteren und nachhaltigeren Stadt zu erproben. Innerhalb der Projektlaufzeit von Februar 2016 bis Januar 2021, welcher auf Grund der Corona-Pandemie bis Juli 2021 verlängert wurde, wurden in Freiham und Neuaubing-Westkreuz verschiedene Smart-City Konzepte implementiert. Die Ziele des „Smarter Together München“ Projektes sind, die Lebensqualität der Anwohner zu verbessern, CO2-Emissionen zu senken, die Nutzung Erneuerbarer Energien zu steigern, die Energieeffizienz im Wohnraum zu steigern und neue Mobilitätsangebote zu schaffen. Insgesamt wurden rund 20 Millionen Euro in das Projekt investiert, wovon 6,85 Millionen Euro seitens der Europäischen Union investiert wurden. Für die Vorbereitung und Organisation des Projektes war das Referat für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München zuständig. Die Evaluierung des Projektes obliegt dem Referat für Stadtplanung und Bauordnung der Stadt München. Im Rahmen des Projektes wurden in Aubing acht Mobilitätsstationen als Ergänzung zur bestehenden öffentlichen Infrastruktur eingerichtet. Diese Mobilitätsstationen umfassen laut einem Bericht des Referats für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München folgende Angebote:
10 E-Carsharing-Fahrzeuge
40 Mieträder „MVG Rad“
24 Pedelecs
20 E-Trikes (lastenfähige E-Dreiräder)
16 Ladestationen für E-MobileIm Bereich der energetischen Sanierung wurden laut einem Bericht des Referats für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München über 42.000 Quadratmeter Wohnfläche im Projektgebiet energetisch saniert. Ebenso wurde 2017 in Freiham eine Geothermieanlage errichtet, sowie mehrere Photovoltaikanlagen. Laut einem Bericht des Referats für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München konnten dadurch mehr als 20 % Endenergie im Projektgebiet eingespart werden. Ebenso wurde 2018 in Freiham ein Batteriespeicher eingerichtet, wodurch überschüssiger Strom kurzfristig in den Batteriespeicher geladen und nach Bedarf an anderer Stelle wieder entladen werden kann.
== Personen ==
=== Gebürtige Aubinger ===
Georg Gotzman (auch Gotsmann, Gottsmann; genannt Theander; * um 1508 in Aubing; † 19. Januar 1570 in Ingolstadt), Philosoph und Professor der Theologie in Ingolstadt
Johann Eichhorn (1906–1939), Vergewaltiger und Mörder
Philipp Müller (1931–1952), Arbeiter und Kommunist. Er war der erste Demonstrant in der Bundesrepublik, der durch die Polizei getötet wurde.
Manfred Berger (* 1944 in München), ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler und Freizeithistoriker.
=== Nach Aubing gezogene Personen ===
Franz Tausend (1884–1942), der „Goldmacher“, ein Alchemist und Betrüger.
Walter Rinke (1895–1983), Volkswirt, Verwaltungsbeamter und Politiker (CSU).
Alois Brem (1930–2016), von 1964 bis 2001 Pfarrer von St. Quirin.
== Literatur ==
Steinbacher Josef: Aubing, Pfarrdorf bei München. Diessen 1914.
Aubinger Archiv e.V. (Hrsg.): Chronica Aubingensis – Die Tagebücher des Josef Steinbacher (1911–1922). Edition Josef Feneberg, München-Aubing 2002.
Stangl Hans: Aubing Anno Dazumal. München-Aubing 1975.
Pfarrei St. Quirin Aubing: 500 Jahre Aubinger Kirchweih. München-Aubing 1980.
Pfarrei St. Quirin Aubing: Wanderungen zwischen Tag und Jahr, Aubing und seine Menschen. München-Aubing 1984.
Siegfried Bschorer, Barbara Sajons: Dokumentation zur Ausstellung 1000 Jahre Aubing. München-Aubing 2010.
Aubinger Archiv e.V.: Dokumentation zur Ausstellung „1000 Jahre Aubing“. München-Aubing 2010.
Verein „1000 Jahre Urkunde Aubing“ (Hrsg.): Festschrift 1000 Jahre Aubing. München-Aubing 2010.
== Weblinks ==
Stadtbezirk 22: Aubing-Lochhausen-Langwied. In: KulturGeschichtsPfad. Landeshauptstadt München, 2012, abgerufen am 14. Juni 2012.
Aubing. In: Offizielles Stadtportal www.muenchen.de. Landeshauptstadt München, abgerufen am 22. Oktober 2010.
Chronik. Aubing-Neuaubinger Zeitung, abgerufen am 22. Oktober 2010.
Aubinger Archiv e.V. Sammlung zeitgenössischer und historischer Dokumente. Abgerufen am 25. Mai 2013.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aubing
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Pecherei
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= Pecherei =
Pecherei ist der im südlichen Niederösterreich gebräuchliche Ausdruck für die Harzgewinnung aus Schwarzkiefern. Die Pecherei dient der Gewinnung von Baumharz, auch „Pech“ genannt, das in weiterer Folge zu einer Reihe chemischer Produkte verarbeitet wird. Denjenigen, der die Pecherei ausübt, bezeichnet man als Pecher. Im Jahr 2011 wurde die Pecherei in Niederösterreich in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Österreich aufgenommen, welches im Rahmen der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes erstellt worden ist.Der wichtigste Nutzungsbaum für die Pecherei ist die Schwarzkiefer (Pinus nigra), die von allen europäischen Nadelhölzern der harzreichste Baum ist und schon von den Römern zur Harzgewinnung verwendet wurde. Mit 90 bis 120 Jahren befindet sich eine Föhre im günstigsten Alter zur Harzgewinnung. In Niederösterreich ist die österreichische Schwarzföhre der vorherrschende Baum, dessen Harz besonders hochwertig ist und das österreichische Pech zu einem der besten der Welt macht.
== Geschichte ==
Im südlichen Niederösterreich, vor allem im Industrieviertel und im Wienerwald, wurde die Pecherei vermutlich seit dem 17. Jahrhundert betrieben. Eine Urkunde aus dem Jahr 1830 beschreibt dies so:
Ab Beginn des 18. Jahrhunderts begannen Grundherrschaften die Pechgewinnung zu fördern, was zur Entstehung von Pechhütten zur Harzverarbeitung führte. In dieser Zeit wurde die Pecherei und der Handel mit dem Harz zu einer wichtigen Einnahmequelle für Teile der Bevölkerung.
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erlebte die Harzgewinnung und Pechsiederei ihre erste Blütezeit, Preise und Erträge stiegen aufgrund der steigenden Nachfrage ebenfalls stark an.
Ein literarisches Denkmal für dieses Handwerk setzte Adalbert Stifter mit seiner Erzählung Granit. Für die bäuerlichen Familien in diesem Landstrich bildete die Harzgewinnung eine wichtige Einnahmequelle. Ab den 1960ern kam dieses Gewerbe jedoch langsam zum Erliegen. Grund dafür waren vor allem Billigimporte aus den Ostblockländern sowie aus der Türkei, aus Griechenland und aus Portugal. Hinzu kamen noch Fortschritte in der technischen Chemie, die das Harz als Rohstoff in vielen Bereichen überflüssig machten.
Das österreichische Sozialversicherungsrecht kennt bis heute den Beruf des „selbstständigen Pechers“, der wie folgt definiert wird:
== Rohstoffe und Verarbeitung ==
Das Rohharz ist hellgelb. Es ist reich an organischen Kohlenwasserstoffen, arm an Sauerstoff und stickstofffrei. Rohharz besteht aus einem Gemisch von vorwiegend aromatischen Stoffen mit Säureeigenschaften. Seinen aromatisch-würzigen Geruch verdankt das Pech den in ihm reichlich enthaltenen ätherischen Ölen.
Der Harzfluss ist je nach Jahreszeit und Witterung unterschiedlich, Wärme und Feuchtigkeit wirken sich günstig aus. Pro Stamm und Jahr konnten drei bis vier Kilogramm Pech gewonnen werden. Damit ein Pecher mit seiner Familie bescheiden leben konnte, musste er 2500 bis 3000 Bäume harzen. Sein Arbeitstag begann meist schon vor Sonnenaufgang mit dem Marsch zum Arbeitsplatz in den Föhrenwald und dauerte oft zehn bis zwölf Stunden.
Aus dem „Harzbalsam“ wurde in „Pechhütten“ im Destillationsverfahren das Baumharz geschmolzen, sogenanntes „Siedepech“, die Verunreinigungen abgeschöpft oder durchgesiebt, dabei verflüchtigten sich das Terpentinöl und das Wasser, welche kondensierten und in einem Gefäß aufgefangen wurden. Das leichtere Terpentin schwamm auf der oberen Schicht und wurde abgeschüttet. Das vom Terpentin und Wasser befreite „Siedepech“ war nach dem Erkalten eine dunkelgelbe, harte und spröde Masse, das sogenannte „Kolophonium“.
Das gewonnene Terpentinöl und Kolophonium wurden vorwiegend in der Papier-, Lack-, Seifen-, Kabel- und Schuhcremeindustrie verwendet.
== Die Jahresarbeit des Pechers ==
Das Arbeitsjahr des Pechers mit unterschiedlichen Schwerpunkttätigkeiten gliedert sich in Anlehnung an die Jahreszeiten. Wichtigste Arbeiten im Winter waren das Vorbereiten der Geräte und das Anfertigen der Pechscharten mit dem Schartenhobel.
Besonders aufwendig waren die Arbeiten im Frühjahr. Je nach verwendeter Methode unterschieden sich dabei die einzelnen Arbeitsschritte:
=== Grandl- oder Schrottmethode ===
Zu Beginn der Pecherei sammelte man das Harz am unteren Stammende in einfachen, mit Lehm ausgeschmierten Erdgruben. Wegen der dadurch verursachten Verschmutzung des Harzes entwickelte man die Grandl- oder Schrottmethode. Dazu arbeitete der Pecher für die Harzaufnahme in Bodennähe mit der Hacke eine „Grandl“ oder „Schrott“ genannte Ausnehmung aus dem Holz heraus. Da der neue Harzbehälter glatt und sauber sein musste, wurde das Grandl mit einer schmaleren Hacke mit abgerundeter Schneide, dem Mond- oder Schrotthackl (3), geglättet. Mit einem zugespitzten Holzstück, dem Rowisch (1), wurden die Holzspäne aus dem Inneren entfernt. Gleichzeitig diente der Rowisch als Zählstab: Nach jedem neu angefertigten Schrott schnitt der Pecher eine Kerbe in den Rowisch. So kannte er immer die Anzahl der fertigen Bäume.
Mit dem Dexel, der später auch das Zunftzeichen der Pecherei wurde, und der Hacke (7) entfernte der Pecher anschließend die Rinde vom Baumstamm. Um nun den Harzfluss in den Sammelbehälter leiten zu können, mussten Pechscharten quer über den Stamm angelegt werden.
Etwa dreimal in zwei Wochen folgte vom Frühjahr bis zum Frühherbst das Plätzen als älteste Arbeitsmethode. Dabei schlug der Pecher mit dem Plätzdexel (11) stückweise die Rinde bis zum Stamm herunter, sodass die Lachte immer größer wurde und der Harzfluss aufrechtblieb.
Ein Grandl oder Schrott nahm je nach Größe zwischen 0,25 und 0,35 kg Pech auf. Ein auf diese Weise bearbeiteter Baum konnte 12 bis 18 Jahre lang Pech liefern.
=== Zeschen und Plätzen ===
In der Zwischenkriegszeit begann die Umstellung von der Grandl- auf die Zapfbechermethode, bei der Pechhäferl verwendet wurden. Dazu mussten neue Pechbäume, die „Heurigen“ vom Boden weg mit der Hacke abgerichtet werden. Bei diesem Vorgang, dem Zeschen, wurde zuerst mit der Anzeschhacke (4) und dann mit dem Rintler (5) die Rinde von etwa einem Drittel des Stammumfanges entfernt, sodass eine V-förmige Abgrenzung entstand.
Anschließend musste der Pecher mit dem Fürhackdexel (6) oder mit der Anzeschhacke jeweils an der rechten Seite des Baumstamms eine Nut zur Aufnahme der Pechscharten, die Laß, hacken und die Pechscharten einziehen. Knapp unterhalb der engsten Stelle wurde mit dem Fürhackdexel ein Schnabel zur Aufnahme des Pechhäferls herausgehackt, eine Pechnagellänge darunter ein Pechnagel (9) eingeschlagen und zum Schluss das Pechhäferl mit dem Deckel aufgesetzt. Damit war der Baum zur Harzgewinnung fertig vorbereitet und musste, wie oben beschrieben, in regelmäßigen Abständen geplätzt werden.
Die bereits mehrere Jahre gepechten Bäume wurden auf ähnliche Weise bearbeitet. Beim „Fürhacken“ nahm der Pecher seine Arbeitsgeräte, die Pechscharten, den Pechnagel und die Pechhäferl beim Hinaufklettern auf die Leiter mit. Nach dem Entfernen der Rinde mit dem Rintler (5), dem Aufhacken, also dem Entfernen des verkernten Teils an den Lachterändern, dem Laßhacken und dem Einsetzen der Pechscharten folgte statt des Schlagens des Schnabels mit dem Fürhackdexel das Anschlagen mit dem Anschlageisen (10) und -hammer (11).
=== Ritzen ===
Wie bei allen Bearbeitungsmethoden musste beim Rillenschnitt, dem Ritzen, vorher mit dem Rintler (5) der obere Teil der Baumrinde entfernt werden. Anschließend nahm der Pecher mit dem Ritzer eine mehrere Millimeter dicke Rindenschicht ab. Wichtig war dabei eine genaue Schnittführung. Bei diesem Hobelverfahren entstanden keine zusammenhängende Flächen, sondern v-förmige Rillen im Stamm. Dadurch ersparte sich der Pecher das Einsetzen der Pechscharten, da das Harz durch die Rillen ins Pechhäferl fließen konnte.
Obwohl bei der Ritzmethode durch den Wegfall des Fürhackens eine Arbeits- und Zeitersparnis entstand, wurde sie im südlichen Niederösterreich nur vereinzelt angewendet, da der Ertrag bis zu 50 % geringer war als bei den beiden anderen Harzgewinnungsverfahren, dem Plätzen und Hobeln. Das Hauptproblem beim Ritzverfahren lag aber in der Verstopfung der Rillen mit Harz. Deshalb kehrten die meisten Pecher wieder zum Hobelschnitt zurück. Der Rillenschnitt wurde vorwiegend bei der Harznutzung der Waldkiefer angewendet.
=== Zeschen und Hobeln ===
Da das Plätzen sehr anstrengend war, entwickelten die Pecher die neue Arbeitsmethode des Hobelns. Das war nicht nur weniger anstrengend, sondern erforderte auch einen geringeren Zeitaufwand.
Das Arbeitsverfahren für neue und bereits mehrere Jahre bearbeitete Pechbäume blieb wie bereits oben beschrieben gleich, nur wurde anstelle des Plätzens eben das Hobeln angewendet. Mit dem Hobel (12) schnitt der Pecher mit einem einzigen Schnitt einen breiten, flachen Span vom Stamm. Beim Plätzen konnte dies erst mit vielen Schlägen des Dexels erreicht werden. Auf diese Weise brauchte er nur etwa ein Sechstel der Zeit, die er für das Dexeln benötigt hatte.
Nicht nur bei neu angelegten Pechbäumen, den sogenannten „Heurigen“, sondern auch bei bereits seit mehreren Jahren bearbeiteten Föhren wurde das Hobeln praktiziert und zwar wie beim Plätzen insgesamt dreimal innerhalb von zwei Wochen, wobei der Pecher meist in der ersten Woche ein Mal und in der zweiten Woche zweimal aufhobelte. Das wiederholte sich etwa sechs bis acht Mal, bis das Häferl voll war und begann anschließend wieder von vorn.
=== Die Harzernte ===
Bei der je nach Witterung drei- bis viermal jährlich von Frühjahr bis Herbst stattfindenden Harzernte, dem „Ausfassen“, helfen meist die Familie und Verwandte mit. Dabei wurden die rund 0,75 bis 1 kg des Pechhäferls mit dem Pechlöffel in das zwischen 25 und 30 Pechhäferl fassende Pechpittel geleert und dieses wiederum in das Pechfass gegeben. Das so genannte „Pechscherrn“ bildete im Herbst die letzte Arbeit des Pechers. Dabei musste mit dem Pechscherreisen (15) das festgewordene Harz von der Lachte entfernt werden. Mit dem Pechkrickel kratzte der Pecher das starre Harz am Schartenrand und an der Laß ab und nahm die Pechscharten heraus. Das in einem Schurz, dem Scherrpechpfiata, aufgefangene Harz leerte er in das nach oben offene Scherrpechfass und trat es mit den Füßen fest. Dieses Scherrpech war von schlechterer Qualität als das Häferlpech und erzielte deshalb auch nur einen geringeren Preis.
== Weitere Werkzeuge und Einrichtungen ==
Ein unentbehrliches Hilfsmittel für die Bearbeitung von bereits mehrere Jahre gepechten Bäumen war die Leiter. Sie wurde aus zwei dünnen, langen Föhrenbäumchen, die als Holme dienten, und zähem Hartriegelholz für die Sprossen angefertigt. Bis zu 22 Leitersprossen, das entspricht einer Höhe von 6 m, ist ein Berufspecher mehrere hundert Male am Tag hinauf gestiegen, hat den Stamm bearbeitet und ist dann mit den an den Oberschenkeln und Knien befestigten Rutschflecken aus Leder hinuntergerutscht.
Nach alter Gepflogenheit wurde mitten im Wald eine Pecherhütte aus Holz errichtet. Sie ähnelte einer Holzhackerhütte und diente vor allem als Schutz und Zuflucht bei Schlechtwetter. Innen stand meist ein grob gezimmerter Tisch und eine Bank. Hier nahm der Pecher auch gelegentlich sein Essen ein. Ab und zu war auch ein Ofen aufgestellt. Fast immer ging der Pecher täglich nach Hause, nur in Ausnahmefällen nächtigte er in der Hütte. Damit die zur Bearbeitung der verschieden hohen Bäume benötigten Leitern nicht immer nach Hause mitgenommen werden mussten, wurde ein Leiterplatz errichtet.
Für die Harzernte, das Ausfassen, wurden anfangs (Rinn-)Pechfässer aus Hartholz, später Eisen- und zuletzt Kunststofffässer im Waldboden bis zur Hälfte eingegraben und blieben bis zum Abtransport in den Pechverarbeitungsbetrieb im Wald. Ein volles Holzfass wog zwischen 130 und 160 kg, ein Eisenfass zwischen 180 und 200 kg.
Um die mitgebrachte Jause besonders im Sommer kühl zu halten, baute der Pecher an einem schattigen Platz eine Wassergrube. Dazu hob er das Erdreich ab, stellte Seitenwände mit Steinen auf, setzte ebenfalls aus einem Stein einen Deckel auf und bestreute zum Abschluss die kleine Grube mit Reisig.
== Auswirkungen auf den Baum ==
Im Gegensatz zum in den Anfängen praktizierten Pechen durch Abbrennen der Rinde über den gesamten Stammumfang der Föhre, bei dem der Baum abstarb, beeinträchtigt die modernere Form, bei der die Rinde nur von rund einem Drittel des Stammumfanges entfernt wird, die Lebensfähigkeit des Baumes nicht. Zwar ist der Stamm im Bereich des freigelegten Holzes anfälliger für Witterungseinflüsse und Schädlinge, doch wird die Baumwunde durch das austretende Harz auch konserviert und geschützt. Es ist daher möglich, eine Föhre ein zweites Mal – auf der gegenüberliegenden Seite – zu pechen. Die Versorgung der Krone mit Wasser und Nährstoffen wird dann durch zwei schmale, einander gegenüberliegende Rindenstreifen, dem „Leben“, gewährleistet, sodass der Baum auch in diesem Fall noch weiter wachsen kann. Derartige Bäume wurden „Lebenszuleiter“ genannt.
Das Holz von gepechten Bäumen ist allerdings von geringerer Qualität als das ungepechter und wird daher lediglich als Brennholz verwendet.
== Weblinks ==
Harzung auf forstwirtin.bplaced.net, abgerufen am 4. Januar 2017.
Pecherlehrpfad Hölles (Österreich)
Pecher in Voeslau (Memento vom 24. Juni 2010 im Internet Archive)
Ursula Schnabl; Vom Glück mit dem Pech (die traditionelle Nutzung und Gewinnung pflanzlicher Rohstoffe und Arbeitsmaterialien am Beispiel der österreichischen Harzgewinnung). Diplomarbeit am Institut für Botanik der Universität für Bodenkultur Wien, 2001 (PDF-Datei; 1,46 MB).
Ast, H. und Winner G.; Pecherei-Geräte - Historische Holzverwendung. Publikation, 2011 (PDF-Datei; 984 KB), abgerufen am 25. Januar 2023.
== Literatur ==
Herbert Kohlross (Hrsg.): Die Schwarzföhre in Österreich. Ihre außergewöhnliche Bedeutung für Natur, Wirtschaft und Kultur. Eigenverlag, Gutenstein 2006. ISBN 3-200-00720-6
Erwin Greiner: Pecher, Pech und Piesting. Eine lokalhistorische Dokumentation über die Schwarzföhre, das Pech, den Pecher und das Harzwerk sowie über die Frühgeschichte von Markt Piesting und Umgebung. Fremdenverkehrsverein, Markt Piesting. Niederösterreichische Verlags Gesmbh, Wiener Neustadt 1988.
Heinz Cibulka, Wieland Schmied: Im Pechwald. Edition Hentrich, Wien-Berlin 1986. ISBN 3-926175-13-3
Helene Grünn: Die Pecher. Volkskunde aus dem Lebenskreis des Waldes. Manutiuspresse, Wien-München 1960.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pecherei
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BSt Bauart 1924
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= BSt Bauart 1924 =
Die Straßenbahnwagen der Bauart 1924 und Bauart 1925 kamen von 1925 bis 1966 im Fahrgastverkehr der Berliner Straßenbahn zum Einsatz. Mit insgesamt 501 Trieb- und 803 Beiwagen war sie die größte einheitliche an einen Betrieb gelieferte Straßenbahnfahrzeugserie in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg. Mehr als ein Dutzend Waggonfabriken waren am Bau der Wagen beteiligt. Die Auslieferung erfolgte innerhalb von zwei Jahren.
Bedingt durch die wirtschaftlichen Zwänge der vorausgegangenen Hyperinflation war die technische Konstruktion einfach gehalten worden, nämlich in fahrgestellloser Bauweise mit Tatzlagerantrieb. Einzelne Triebwagen wurden zwischen 1927 und 1932 auch mit den leistungsfähigeren Kardan- und Schneckenantrieben ausgerüstet, kamen aber über eine Testphase nicht hinaus. Mit der Einführung des BVG-Typenschlüssels im Jahr 1934 wurden die Triebwagen in T 24 (500 Wagen) beziehungsweise T 25 (1 Wagen), die Beiwagen in B 24 (500 Wagen) und B 25 (303 Wagen) umbenannt. Während des Zweiten Weltkrieges begannen die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), die Motorleistung der Triebwagen zu erhöhen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg musste etwa ein Fünftel aller Wagen verschrottet werden, geringer beschädigte Wagen wurden als Güterloren oder Arbeitswagen weitergenutzt. Nach der Verwaltungstrennung der BVG am 1. August 1949 verblieben je 164 Wagen der Typen T 24 und B 24, der einzige T 25 und 90 Beiwagen des Typs B 25 bei der BVG (Ost), 244 Triebwagen, 256 B 24 und 137 B 25 bei der BVG (West). Beide Verwaltungen begannen daraufhin unabhängig voneinander, die Triebwagen in unterschiedlichem Maße zu modernisieren und mit stärkeren Motoren auszustatten. Bei der BVG (Ost) mündete diese Entwicklung 1959 in die „Rekonstruktion“ aller Fahrzeuge als Rekowagentypen TE 59 und BE 59. Die BVG (West) musterte ihre Fahrzeuge bis 1966 aus. Von den Trieb- und Beiwagen der Bauart 1924 blieben nur wenige Wagen museal erhalten.
== Vorgeschichte ==
In den Jahren 1919 bis 1921 wurden einhergehend mit dem Groß-Berlin-Gesetz, die meisten auf Berliner Gebiet verkehrenden Straßenbahnbetriebe in der Berliner Straßenbahn (BSt), einem Eigenbetrieb der Stadt Berlin, vereinigt. Beim rund 4000 Wagen umfassenden Fahrzeugpark lag der Fokus zunächst auf der Vereinheitlichung der Ausrüstung wie Stromabnehmer (Umstellung von Bügel- auf Rollenstromabnehmer), Kupplung (Umrüstung auf Albertkupplung) und Bremse (Umrüstung von Druckluftbremse auf elektrische Bremse). Zudem konnte die BSt 100 Triebwagen und 132 Beiwagen aus einer älteren Bestellung der Großen Berliner Straßenbahn sowie weitere zehn Triebwagen, die für die vormalige BESTAG gedacht waren, ordern. Unter Beteiligung der NAG in Oberschöneweide ließ die BSt 1921/1922 insgesamt 160 Berolina-Wagen umbauen, die fortan als Bauart U3l geführt wurden. Zu weiteren Umbaumaßnahmen kam es wegen der voranschreitenden Hyperinflation nicht mehr. Die Tariferhöhungen konnten mit der Geldentwertung nicht standhalten; hinzu kam, dass ein Großteil der Fahrgäste auf die Hoch- und Untergrundbahn sowie die Stadt-, Ring- und Vorortbahnen abwanderte, die ihre Fahrpreise jeweils später anpassten als die BSt und dadurch effektiv einen niedrigeren Tarif boten. Von größeren Preiserhöhungen nahm der Betrieb aus Sorge vor einer weiteren Fahrgastabwanderung Abstand. Um die laufenden Kosten zu decken, musste die BSt das Angebot stetig einschränken. Wartungsarbeiten an den Wagen und der Infrastruktur waren auf diese Weise nicht möglich, von Neuanschaffungen ganz zu schweigen. Damit ein wirtschaftlicher Betrieb ermöglicht würde, musste die BSt aus ihren kommunalen Bindungen gelöst und in ein privatrechtliches Unternehmen überführt werden. Der Betriebsvertrag zwischen der Stadt und der künftigen Betriebsgesellschaft sah unter anderem vor, dass die Gesellschaft die Unterhaltung und Erneuerung der Betriebsmittel und Anlagen zu bewirken hatte. Am 8. September 1923 meldete die Berliner Straßenbahn Konkurs an. Den folgenden Sonntag nutzte man für die Umstrukturierung des Betriebes, der Straßenbahnverkehr ruhte an diesem Tag. Am 10. September nahm die privatrechtlich organisierte Berliner Straßenbahn-Betriebsgesellschaft (BSBG) ihre Arbeit auf einem Rumpfnetz mit 32 Linien auf. Die Einführung der Rentenmark im November 1923 schuf kurz darauf eine solide Währungsbasis, was wiederum stabile Fahrpreise zur Folge hatte, sodass an eine weitere Modernisierung des Fuhrparks gedacht werden konnte. Neben der Neubeschaffung von Straßenbahnwagen in größerer Stückzahl konnten in den folgenden Jahren auch die veralteten und zu kleinen Straßenbahnbetriebshöfe modernisiert oder durch zeitgemäße Neubauten ersetzt werden. 1928/29 schlossen sich die Berliner Straßenbahn, die Hochbahngesellschaft (U-Bahn) und die ABOAG (Omnibus) zur Berliner Verkehrs-AG (BVG; ab 1938: Berliner Verkehrs-Betriebe) zusammen.Als Ersatz für rund 1000 ältere Trieb- und Beiwagen bestellte die Berliner Straßenbahn-Betriebsgesellschaft im Sommer 1924 bei 13 Waggonfabriken zusammen 500 Trieb- (Nr. 5701–6200) und 500 Beiwagen (Nr. 1–500) der Bauart 1924. Da die vorhandenen 1000 Wagen nicht vollumfänglich genügten, bestellte die BSBG weitere 300 Beiwagen (tatsächlich 301, Nr. 501–801) bei verschiedenen Herstellern. Die Lieferung wurde nachträglich um einen Triebwagen (Nr. 5700) und zwei Beiwagen in Leichtmetallbauweise (Nr. 802 und 803) ergänzt. Nach anderen Angaben war der Beiwagen 801 ebenfalls in Leichtbauweise ausgeführt. Die Fahrzeuge stellten daraufhin mit 1304 Wagen den größten einheitlichen Straßenbahnbestand in Deutschland dar.
== Konstruktion ==
=== Bauart 1924 (T 24/B 24) ===
==== Wagenbaulicher Teil ====
Mit der Konstruktion der Wagen wurde Oberingenieur Eberhard Kindler von der Berliner Straßenbahn-Betriebsgesellschaft beauftragt. Die Wagen waren als zweiachsige Zweirichtungsfahrzeuge ausgeführt. Um den Stromverbrauch dauerhaft zu senken, wurde das Hauptaugenmerk auf eine leichte Bauweise der Fahrzeuge gerichtet, die sich an mehreren Stellen widerspiegelt. Die Wagen verfügen über kein separates Fahrgestell, sondern sind in selbsttragender Bauweise ausgeführt. Der Wagenkasten ruht auf zwei Langträgern in Z-Profil ohne Zwischenfederung. Der Z-Rahmen ist mittels Schrauben- und Blattfedern gegen die Wagenachsen abgefedert, wobei die Schraubenfedern zuerst und die Blattfedern bei etwa halber Beladung ansprechen. Am unteren, nach außen gerichteten Flansch der Z-Träger sind die Achshalter aus Stahlguss und die eisernen Ecksäulen (U-Profil) und drei Fenstersäulen (T-Profil) befestigt. Am oberen, nach innen gerichteten Flansch ist der Wagenboden befestigt. In den Achsbuchsen waren Rollenlager vorgesehen, die Achsen selbst waren aus Nickelstahl gefertigt. Der Wagenboden ist gegenüber den älteren Fahrzeugen durchgehend und ohne Stufen im Innenraum ausgeführt, wodurch bei den Beiwagen ein durchgehender, ungekröpfter Träger verwendet werden konnte. Die Triebwagen wiesen keinen durchgehenden Träger auf, da sie erfahrungsgemäß öfter Zusammenstößen ausgesetzt waren und es häufiger zum Verbiegen der Träger gekommen wäre. Der Z-Rahmen ist daher nur bis zu den Trittstufen ausgeführt, die Einstiegsplattformen wurden über einen gesonderten Rahmen gestützt, der sinngemäß auf dem Hauptrahmen gelagert war. Zur Verstärkung des Z-Rahmens waren beidseitig doppelte Hängewerke vorgesehen, die die Wagensäulen ausnutzten und deren Streben dicht bei den Trittstufen verankert waren. Durch den weitgehenden Verzicht auf Schiebefenster ließ sich das Hängewerk leichter unterbringen. Die alternativ mögliche Ausbildung der Seitenwände als Flächentragwerk zog Kindler nicht in Betracht, da ansonsten der Austausch der zu vernietenden Seitenwände erschwert würde.
Für die Gestaltung der Wagen konnte der Direktor der Berliner Kunstgewerbeschule Bruno Paul gewonnen werden, der junge Sergius Ruegenberg unterstützte ihn dabei. Paul gab nicht nur die Material- und Farbauswahl des Innenraums vor, sondern auch einen neuen Außenanstrich. Er lehnte den bisherigen beigefarbenen Anstrich ab und ersetzte ihn durch ein kräftiges Post- beziehungsweise Chromgelb für den Wagenkasten unter den Fenstern und weiße Fensterbänder, um im Straßenverkehr aufzufallen. Durch die gleichmäßige Fensteraufteilung und die schwarzen Zierlinien der Stoßleisten und der Fensterbrüstung sollten die Wagen ein gefälliges Äußeres erhalten.Der Aufbau entstand in gemischter Holz- und Stahlbauweise. Anstelle des bis dahin üblichen Laternendachs erhielten die Wagen ein 600 kg leichteres Tonnendach, welches gleichzeitig die Stabilität des Wagenkastens erhöhte. Die Belüftung erfolgte daher über zwei (Triebwagen) beziehungsweise vier (Beiwagen) Lüftungsaufsätze und vier Klappfenster von 1400 mm × 140 mm pro Seite oberhalb der Seitenfenster. Die jeweils mittigen der acht Seitenfenster im Innenraum ließen sich seitlich öffnen. Schiebefenster und Fensterrahmen bestanden aus Profilmessing, in welchem die gummigelagerten 4 mm starken Glasscheiben saßen. Die 25 W starken Leuchtkörper waren oben seitlich an den Fensterholmen angebracht. Zuvor hingen die meist zylindrischen Leuchtkörper vom Wagendach herab. Der Wagenkasten misst 10,00 m in der Länge und 2,20 m in der Breite. Die Plattformen der Bauart 1924 sind jeweils 2,14 m lang. Bei der Bestuhlung wurde eine gemischte Anordnung von Längs- und Quersitzen gewählt, wie sie bereits bei der Bauart 1913 (ab 1934: TF 13/25 und BF 13/25) gewählt wurde. Zwölf Sitze wurden als Querbänke in 2+1-Anordnung ausgeführt und je drei Sitze auf den beidseitig angebrachten Längsbänken. Hinzu kamen 40 Stehplätze, davon jeweils zwölf auf den Plattformen. Die Sitze waren mit rotem Leder bezogen. Sämtliche Eisenteile waren im Innenraum mit Eichenholz verkleidet. Paul legte Wert darauf, dass die Form der Sitzbänke sich der Anatomie des menschlichen Rückens anpasste. Ebenso sollten sich die messingenen Haltegriffe organisch der Hand des Fahrgasts anpassen. Der Wagenboden bestand aus einer Rostlattenabdeckung.Die Triebwagenplattformen erhielten die später für Berlin typischen Stirnschildkästen und Ecklaternen, die das Erkennen der Liniennummer von allen Seiten ermöglichten. Die auswechselbaren Linienschilder wurden von oben durch drei Glühlampen beleuchtet, die in einem besonderen Kasten angebracht waren. Die aus Blech ausgeschnittenen Liniennummern befanden sich zur besseren Erkennbarkeit vor von innen beleuchteten Milchglasscheiben. Eine der Glühlampen der Ecklaternen ließ sich durch einen Wechselschalter zum Scheinwerfer umschalten, wovon aber nur auf den Außenstrecken Gebrauch gemacht wurde. Im Gegensatz zu den älteren Fahrzeugen waren die Stirnaufbauten bis zum Dachrand vorgezogen. Die Beiwagen hatten in Stirnseitenmitte Steckrahmen zur Aufnahme der Liniennummernschilder. Der Aufbau der Plattform entsprach im Wesentlichen dem der U3l-Wagen mit beidseitigen Ein- und Ausstiegen an den Enden. Die jeweils nicht benötigten Zugänge konnten mit Umsetztüren (unterer Bereich) und Klappfenstern (oberer Bereich) verschlossen werden.
==== Elektrische Ausrüstung und Bremse ====
Die Triebwagen waren mit zwei Gleichstrom-Reihenschluss-Fahrmotoren ausgerüstet, die je zur Hälfte von AEG (Tw 5701–5955, Motor USL 253a) und SSW (Tw 5956–6200, Motor Dy 492) kamen. Den Einbau übernahm die Hauptwerkstatt Straßenbahn. Die selbstlüftenden Fahrmotoren waren mit Tatzlagerantrieben versehen und wogen 790 kg ohne und 830 kg mit Zubehör. Die Stundenleistung betrug 35 kW bei 500 V Gleichspannung, 70 A Stromstärke und einer Drehzahl von 700 min−1. Die Dauerleistung betrug 24,7 kW bei 900 min−1. Die geringeren Abmessungen der Motoren erlaubten es bei einer Bodenfreiheit von 123 mm den Raddurchmesser auf 720 mm zu verringern, wodurch auf Trittstufen zwischen dem Wageninnenraum und den Plattformen verzichtet werden konnte. Die Wagen 5701–5955 erhielten Tatzlagermotoren der AEG (USL 253a), Wagen 5956–6200 solche der SSW (Dy 492). Zum Anlassen und Bremsen dienten Schleifringfahrschalter des Typs FB 3 der AEG für Reihen- und Parallelschaltung sowie für die Kurzschlussbremse mit verkreuzter Bremsschaltung. Die Fahrschalter besaßen sechs Serienfahrstufen, fünf Parallelfahrstufen und sieben Bremsstufen.Die Triebwagen waren neben der elektrischen Kurzschlussbremse mit einer mechanischen Backenbremse mit Asbest-Bremssohlen ausgestattet, die an die verlängerte Ankerwelle angriff und deren Stützpunkte an das Motorengehäuse angegossen waren. Die Beiwagen verfügten über eine Kniehebelbremse, die mechanisch durch die Bremsspindel und elektrisch durch die Solenoidbremse betätigt wurde. Im Gegensatz zu den bis dahin üblichen auf die Räder wirkenden Klotzbremsen wirkte sich die Durchfederung der Wagen nicht auf das Bremsvermögen aus.Als Heizung dienten in den Triebwagen vier unter den Doppelbänken befestigte Widerstandsrahmen, durch die der Fahr- und Bremsstrom während der Heizperiode floss. Die Heizleistung betrug 10 °C. Die Beiwagen verfügten über zwei Frischstromheizungen mit 1500 W Leistung.
=== Bauart 1925 (T 25/B 25) ===
Die Wagen der Bauart 1925 bauten auf den Erfahrungen auf, die mit der Bauart 1924 gemacht wurden. Das Kastengerippe bestand ebenfalls aus Walzeisen in Z-, T- und U-Profilform, die an den Knotenblechen miteinander vernietet waren. Zur besseren Raumaufteilung waren die Plattformen bei gleichbleibender Gesamtlänge um 20 cm verkürzt, damit die Längssitze größer ausfallen konnten. Äußerlich machte sich dies durch eine geänderte Fensteraufteilung an den Plattformen bemerkbar. Der Wagenboden konnte auf 790 mm (Tw) beziehungsweise 775 mm (Bw) über Schienenoberkante abgesenkt werden, gleichzeitig wiesen die Wagen eine Trittstufe mehr auf. Den Radstand vergrößerte man unter Verwendung von Peckhampendeln von 2,80 m auf 3,20 m. Bei diesen sind die Wagen seitlich pendelnd auf der Achsbuchse aufgehängt, wodurch seitliche Stöße etwa beim Einlaufen in Gleisbögen abgemildert werden. Je sieben Trieb- und Beiwagen der Bauart 1924 wiesen ebenfalls den vergrößerten Radstand auf. Die bei den Beiwagen verwendete Kniehebelbremse konnte angesichts der langen Nutzungsdauer der Bremsbeläge zur Zangenbremse vereinfacht werden. Bei der Fahrgastraumbeleuchtung kamen 40-W-Glühlampen zum Einsatz. Der Wagenboden war mit stark geriffeltem Triolin belegt. Weitere Unterschiede ergaben sich unter anderem in der Ausführung der Lackierung und der Verwendung von Leichtmetall für verschiedene Einzelteile. Im Übrigen entsprachen die Wagen weitgehend der Bauart 1924.
== Einsatzgeschichte ==
=== Auslieferung und Entwicklung bis 1949 ===
Vermutlich noch im Dezember 1924 begann die Auslieferung der ersten Beiwagen. Nach einer mehrmonatigen Erprobungsphase kamen diese ab dem 1. März 1925 zuerst auf den Kurfürstendamm-Linien 76 und 176 zum Einsatz, ab Ende März wurde unter anderem die durch die Siemensstadt verkehrende Linie 55 mit den neuen Beiwagen gefahren. Die ersten Triebwagen setzte die Berliner Straßenbahn ab August 1925 planmäßig ein, als erstes Fahrzeug ging Tw 5956 in Betrieb. Die ersten Beiwagen der Bauart 1925 gelangten ebenfalls noch 1925 zum Einsatz. Insgesamt zogen sich die Auslieferung und Inbetriebnahme der Wagen bis 1927 hin. Etwa ab dieser Zeit rüstete die Berliner Straßenbahn einzelne Fahrzeuge versuchsweise mit abweichenden Motortypen und Antriebsformen aus.
BBC-Ausrüstung mit Doppel-VorgelegemotorDie Triebwagen 5901, 5904, 6001, 6002, 6003, 6007 und 6008 erhielten einen hochtourigen Reihenschlussmotor (GDTM 100 a 4) von BBC mit doppelter Übersetzung. Die Motoren hatten eine Stundenleistung von 32 kW bei 1200 Umdrehungen pro Minute. Anstelle der Innenbacken-Getriebebremse waren die Wagen mit einer Außenbacken-Getriebebremse ausgerüstet. Die Triebwagen erhielten Nockenfahrschalter der Bauart PN mit Hammerkontakten. Die Fahrzeuge fielen im Betrieb durch ein starkes Pfeifen auf, insbesondere wenn die Wagen stark abbremsen mussten. Die Unterhaltungskosten hielten sich in normalen Grenzen.KardanantriebBereits vor der Beschaffung der Bauart 1924 rüstete die Berliner Straßenbahn die U3l-Wagen 3102II und 3212II mit Kardanantrieb der NAG aus. Sie weitete den Versuch aus, indem sie die Triebwagen 5907, 5946–5953 und 5955 ebenfalls mit einseitigem Kardanantrieb ausrüstete. Die bei der NAG umgerüsteten Wagen erhielten AEG-Motoren des Typs USC 253a, die elektrisch dem Typ USL 253a der Serie entsprachen. Im Unterhalt waren die Wagen sehr aufwendig. Zudem hatte das Fehlen eines separaten Fahrgestells zur Folge, dass sich die Schwingungen des Antriebs direkt auf den Wagenkasten übertrugen. Die Triebwagen 5948, 5954 und 5955 waren ursprünglich mit einseitigem Kardanantrieb und hochtourigen AEG-Motoren des Typs USC 253f mit 43 kW Stundenleistung ausgerüstet. Die mechanische Bremse saß hier auf der verlängerten Kegelradwelle. Die Triebwagen 5948 und 5955 wurden nach kurzer Zeit umgebaut, bei Triebwagen 5954 dauerte der Versuch länger an. Triebwagen 5936 erhielt als einziger einen doppelseitigen Kardanantrieb mit doppelter Übersetzung, als Fahrmotor diente ein USC 335a der AEG mit 76 kW Stundenleistung. Je zwei Kardanwellen wurden hierbei über ein Stirnradvorgelege angetrieben und das Drehmoment auf je eine Achse über Kegelräder übertragen. Der Wagen musste hierfür mit einem gesonderten Fahrschalter ausgerüstet werden, bei dem die Richtungswalze über eine besondere Hohlwelle betätigt wurde. Die Bremsscheiben saßen bei dem Versuchsfahrzeug auf der Achse.SchneckenantriebDie Triebwagen 6024 und 6025 waren während dieser Phase mit einem Schneckenantrieb ausgerüstet worden. Wagen 6024 behielt hierbei seinen Fahrmotor, Triebwagen 6025 erhielt einen hochtourig laufenden USC 253f mit entsprechend geänderter Übersetzung.Die aus den Versuchen gewonnenen Erkenntnisse erwiesen sich als wertvoll, wobei das Fehlen eines separaten Fahrgestells die Erprobung negativ beeinflusste. Zwecks einer einheitlichen Wartung und Lagerhaltung baute die BVG die Fahrzeuge bis 1932 wieder auf Tatzlagerantrieb um. Da die vorhandenen Reservemotoren USL 253a nicht ausreichten, erhielten 20 Triebwagen (5881–5900) Motoren des Typs USL 271a, wie er unter anderem bei den Wagen der Bauart 1927 zum Einsatz kam. Die Motoren hatten anstelle der Innenbacken-Getriebe-Bremse eine Zangen-Getriebe-Bremse. Sie durften ab 1934 mit nur einem zweiachsigen Beiwagen behängt werden, äußerlich war dies durch einen roten Strich unterhalb der Wagennummer gekennzeichnet (Rotstrichwagen). Infolge der am 1. April 1938 in Kraft getretenen Verordnung über den Bau und Betrieb von Straßenbahnen (BOStrab) wurden ab diesem Zeitpunkt die mit Siemens-Motoren des Typs Dy 492 ausgerüsteten Wagen (ab 5956) ebenfalls als Rotstrichwagen gekennzeichnet. Ebenfalls 1934 führte die BVG einen Typenschlüssel zur besseren Kennzeichnung ihrer Fahrzeuge ein. Gemäß dem Schlüssel wurden die Fahrzeuge der Bauart 1924 als T 24 (Triebwagen) beziehungsweise B 24 (Beiwagen) bezeichnet. Die Wagen der Bauart 1925 erhielten die Bezeichnung T 25 beziehungsweise B 25. Ab dem Winter 1934/1935 wurde auf elfenbeinfarbenen Anstrich umgestellt. Ab 1939 ersetzte die BVG die bisherigen Kontaktrollen der Stangenstromabnehmer durch Gleitschuhe. Im gleichen Jahr rüstete sie einen Versuchszug aus Tw 5834, Bw 83 und Bw 106 mit Schienenbremsen aus.
Die Wagen bestimmten in den folgenden Jahren das Bild der Berliner Straßenbahn. Sie waren auf fast allen Betriebshöfen beheimatet. Für das Jahr 1937 ergab eine Aufstellung den Einsatz von 399 Zügen auf 38 Taglinien.
Da die BVG seit 1930 keine Neufahrzeuge mehr in Betrieb nahm, war die Wagenparksituation ab Kriegsbeginn zunehmend unbefriedigend. Der Kauf von 60 Trieb- und 18 Beiwagen, die ursprünglich für die Warschauer Straßenbahn vorgesehen waren, konnte die Situation kaum entschärfen. Um die Anzahl der einzelnen Kurse zu verringern, wurde bereits vor Kriegsbeginn die Reisegeschwindigkeit an Sonntagen und im Spätverkehr, ab 1941 auch im Tagesverkehr gesteigert. Dies erreichte man, indem weniger frequentierte Haltestellen aufgelassen und die Höchstgeschwindigkeit von 25–30 km/h auf 40 km/h angehoben wurde. Das Fahrpersonal war angehalten, „spitz“ zu fahren, das heißt von der höchsten Fahrstufe leiteten sie übergangslos den Bremsvorgang ein. Da die Fahrmotoren unter dieser Belastung thermisch überbeansprucht wurden, durften sie tagsüber nur noch für vier Stunden doppelt behängt werden, die Kennzeichnung erfolgte durch einen blauen Strich unter der Wagennummer (Blaustrichwagen). Um die Zahl der Triebwagen, die ganztägig doppelt behängt werden durften, zu erhöhen, ertüchtigte die BVG nach und nach die Fahrmotoren. Durch Verbesserung der Ankerwicklung und Austausch der Baumwollisolation (Isolationsklasse A) durch Asbestisolation (Isolationsklasse B) konnte die Stundenleistung der Fahrmotoren auf 40 kW gesteigert werden. Die verbesserten Motoren erhielten in der Typenbezeichnung den Buchstaben „v“ nachgestellt. Der Umbau kam nur langsam voran, daher wurden nicht alle Fahrzeuge bis Kriegsende umgebaut. Nach Kriegsende entfielen die Bestimmungen zum stundenweise Behängen der Triebwagen wieder, womit der blaue Strich entfallen konnte.Infolge der Luftangriffe der Alliierten auf Berlin entstand ab November 1943 erheblicher Schaden an den Fahrzeugen. In der Spätphase des Krieges ging die BVG dazu über, die Wagen nachts auf den Straßen abzustellen, was keinen größeren Schutz versprach. Weiterer Schaden entstand durch die Verwendung beschädigter Wagen als Panzersperren. Vermutlich ab November 1944 entfielen zudem die Hauptuntersuchungen in der Hauptwerkstatt Straßenbahn (HwS). Während des Zweiten Weltkrieges wurde etwa ein Fünftel der T 24 (92 Tw), ein Sechstel der B 24 (80 Bw) und ein Viertel der B 25 (76 Bw) zerstört oder so stark beschädigt, dass sich ein Wiederaufbau nicht lohnte. Auf den Resten einzelner Trieb- und Beiwagen baute die BVG Güterloren für den Arbeitswagenpark auf, wobei sich die Nummern oft nicht eindeutig zuordnen lassen. Bekannt sind die Güterloren G160II, G165II, G360–G364, G366–G369, G371–G374 und G 388. Bei dem gedeckten Güterwagen G155II soll es sich ebenfalls um einen Beiwagen einer der beiden Typen handeln.Ab der zweiten Jahreshälfte 1945 führte die BVG wieder Hauptuntersuchungen durch. Neben der HwS fanden diese sowie eine Reihe weiterer Reparaturen und Aufarbeitungen auch in der Hauptwerkstatt U-Bahn in der Seestraße (HwU See) sowie bei mehreren Privatfirmen statt. Bekannt sind BVG-Aufträge an WUMAG, Gaubschat, SSW, MBA, TRO und LOWA. Die Arbeiten fanden teilweise auch nach der Verwaltungstrennung der BVG im August 1949 statt. Einzelne Wagen erhielten einen Anstrich in Tarnfarben aus US-amerikanischen Beständen, unter ihnen Tw 6183, der auf der nichtöffentlichen Pendellinie Grazer Platz – Eisenacher Straße (C. C. D. Shuttle) im Einsatz war, die in der Nachkriegszeit dem internen Verkehr der Besatzungsmacht diente.Angesichts der seit 1948 faktischen administrativen Teilung Berlins unterstand die BVG zwei Magistratsverwaltungen für Verkehr. Es kam daher am 28. April 1949 zu Gesprächen über die Verwaltungstrennung der BVG, in deren Folge ab dem 1. Mai 1949 die verwaltungsinternen Bezirke an die Sektorengrenzen angeglichen wurden. Mit der offiziellen Verwaltungstrennung am 1. August 1949 wurden dann die Wagen je nach Heimatbetriebshof dem jeweiligen Verkehrsbetrieb zugeteilt. Die BVG im Westteil der Stadt (BVG [West]) behielt danach 244 T 24, 256 B 24 und 137 B 25, die BVG im Osten (BVG [Ost]) jeweils 164 T 24 und B 24, 90 B 25 und den einzigen T 25. Bis zur Netztrennung im Januar 1953 konnten die Wagen weiterhin in beiden Stadthälften angetroffen werden. Der freizügige Wageneinsatz hatte zur Folge, dass sich zum Zeitpunkt der Netztrennung am 15. Januar 1953 mehrere Wagen in der jeweils „falschen“ Stadthälfte befanden. Für den 23. Januar 1953 vereinbarten beide Verwaltungen einen Wagenaustausch. Um 10:00 Uhr wechselten an der Sonnenallee die Bw 415, 478 und 480 in den Westen und Bw 611, 626 und 713 sowie Tw 6121 in den Osten. In der Kopenhagener Straße in Wilhelmsruh wechselten um 13:00 Uhr Tw 5846 und Bw 82 von Ost nach West. Gleichzeitig kamen an der Wollankstraße die Tw 6042, 6109 und 6165 in den Bezirk Reinickendorf und die Bw 181 und 307 in den Bezirk Pankow. Drei weitere Triebwagen der BVG (Ost) befanden sich zum Zeitpunkt der Netztrennung in West-Berlin zur Aufarbeitung, Tw 5830 bei MBA, 5857 bei SSW und 5860 in der Hauptwerkstatt Seestraße. Die BVG (West) vermerkte am 1. Februar 1953, dass die Wagen dauerhaft in West-Berlin verblieben. Ob die BVG (Ost) ebenfalls Wagen zurückhielt, ist nicht bekannt.
=== BVG (Ost) ===
==== Umbautypen T 24 E und T 24 U ====
Die BVG ließ zunächst ihre Fahrzeuge in eigener Werkstätte sowie bei Privatfirmen herrichten. Ab 1950 begann man mit dem Wiederaufbau von Wagenkästen auf vorhandene Untergestelle. Beim LOWA-Werk in Werdau erhielten je vier B 24 (Typ B 24/50, Nr. 123, 269, 287, 371) und B 25 (Typ B 25/50, Nr. 565, 679, 706, 758) neue Wagenkästen des Aufbautyps. 1952 baute das LOWA-Werk Berlin-Johannisthal vier Beiwagen aus den Güterloren G165II, G160II, G360 und G363 auf, die ihrerseits aus Wagen der Typen T 24, B 24 und B 25 entstanden waren (Typ B 24/52, Nr. 1741–1744). Weitere aufgearbeitete Beiwagen erhielten ein stark von der Ursprungsform abweichendes Aussehen. Dies zeigte sich etwa in der Anzahl der Seitenfenster (vier große statt acht kleine), dem Einbau von Schiebetüren, der Verwendung von metallenen Zierleisten oder dem Herunterziehen der Seitenwände an den Plattformen. Auch bei der Lackierung wich die BVG (Ost) stellenweise von der Norm ab. So wurden die Zwischenstreben der Fenster wie der übrige Wagenkasten hellbeige gestrichen, die Wagennummer seitlich und nicht mittig angeschrieben und einige Triebwagen wiesen eine dunklere Lackierung im Bereich der Scheinwerfer auf.
Ab 1952 begann die BVG (Ost) ähnlich der westlichen Verwaltung mit der Modernisierung der ersten T 24. Insgesamt 90 Triebwagen erhielten eine neue Verkabelung, Schienenbremsen und Schleifringfahrschalter der Bauart StFNB 1 mit 18 Fahr- und 13 Bremsstufen. Für die Ermöglichung einer Bespannung mit zwei Beiwagen versah man die Triebwagen mit stärkeren Fahrmotoren des Einheitstyps EM 60/600 mit 60 kW Stundenleistung. Die technische Ausrüstung war ähnlich zu denen der T 24/49 in der anderen Stadthälfte. Im Gegensatz zu diesen erhielten die ertüchtigten Triebwagen der BVG (Ost) Scheibenräder anstelle der sonst üblichen Speichenräder, hingegen verzichtete man auf den Einbau von Fahrersitzen. Der Raddurchmesser betrug auch hier 760 mm bei entsprechend angehobenem Wagenboden. Auffallend war die teilweise Verwendung von Blechwiderständen (sog. „Saalfelder Widerstände“) mit hohen Abdeckkästen auf den Dächern. Die Lüftungsklappen oberhalb der Seitenfenster wurden verglast und ließen die Wagen etwas transparenter wirken. Die Sitze wurden mit braunem Kunstleder bezogen, die Sitzgestelle aus Winkeleisen gefertigt. Den wagenbaulichen Teil der Umbauten übernahmen unter anderem die VEB Waggonbau Görlitz (vormals: WUMAG), VEB Waggonbau Bautzen (vormals Busch) und VEB Waggonbau Niesky (vormals C&U), die elektrische Ausrüstung kam vom VEB Lokomotivbau Elektrotechnische Werke „Hans Beimler“ in Hennigsdorf (LEW, vormals AEG). Die BVG bezeichnete die Wagen als T 24 E, wobei das „E“ vermutlich für Einheitsausrüstung steht. Das Ertüchtigungsprogramm umfasste auch den T 25 5700, der 1953 zu LEW kam und dort neben der elektrischen Ausrüstung auch wagenbaulich den T 24 angeglichen wurde. Dazu mussten der Wagenkasten verlängert und die Plattformen im gleichen Maße verkürzt werden, der Radstand wurde auf die üblichen 2800 mm angepasst. Der Umbau war bis 1954 abgeschlossen.Im gleichen Baulos wie der Tw 5700 befand sich auch Tw 6144, der als Musterwagen für einen umfangreichen Umbau herhalten sollte. Der Wagen erhielt neben der elektrischen Ausrüstung wie beim T 24 E neue Plattformen mit einteiligen Schiebetüren und heruntergezogenen Schürzen an den Wagenenden. Die charakteristischen Ecklaternen tauschte man durch einen mittig über dem Zielschild angebrachten Nummernkasten aus. Kleinere Fenster fasste man zu größeren zusammen. Die Probefahrten fanden ab dem 22. September 1953 auf dem LEW-Prüfgleis statt, ab dem 16. Oktober 1953 stand Tw 6144 zur Auslieferung bereit. Die Berliner Verkehrsbetriebe bemängelten am 5. November, dass von den 49 aufgeführten Mängeln bis zu diesem Zeitpunkt lediglich 25 abgearbeitet worden seien. Der Triebwagen wurde daher am 7. Dezember 1953 mittels Culemeyer-Transporter nach Hennigsdorf zurückgebracht. Unter anderem sollten neue Polstersitze und Fensterrahmen eingebaut werden. Am 12. April 1954 konnte Tw 6144 zusammen mit einem „Ammendorfer Beiwagen“ einem größeren Mitarbeiterkreis vorgestellt werden. Bei den „Ammendorfern“ (Bw 1751–1800) handelte es sich um optisch dazu passende Beiwagen des VEB Waggonbau Ammendorf, die intern als B 53 bezeichnet wurden. LEW baute noch weitere 34 Triebwagen entsprechend um, 40 Triebwagen übernahm LOWA Berlin-Johannisthal. Aufgrund ihres kantigen Aussehens erhielten die intern als T 24 U bezeichneten Triebwagen den abfälligen Beinamen „Schweinebuchte“. Die ersten Umbauwagen waren noch mit Stangenstromabnehmern ausgerüstet, deren Umstellung auf Scherenstromabnehmer bis 1955 abgeschlossen war. Während die T 24 E oft mit Vorkriegsbeiwagen verkehrten, kamen die äußerlich auffälligeren T 24 U mit den Neubaubeiwagen B 50/B 51 (Bw 1701–1740) und B 53 zum Einsatz.In der Betriebswerkstatt Treptow fand 1956 ein umfangreicher Umbau des T 24 E Tw 6096 statt mit dem Ziel, die Attraktivität des Wagens sichtbar zu steigern. Das Fahrzeug erhielt neue Plattformaufbauten mit abgerundeten Blechen, handbediente Falttüren, gummigefasste Fenster, ein neues Tonnendach und einen mittels Handrad betätigten Fahrschalter. Der – auch „Ochsenkopf“ genannte – als T 24/56 bezeichnete Umbauwagen erhielt zahlreiche Elemente, die später beim Rekoprogramm Verwendung fanden. Die ersten Probefahrten fanden im Oktober 1958 statt, zum Einsatz kam er vorwiegend auf der Linie 91 (Treptow, Rathaus – Johannisthal) oder den Nachtwagen der Linie 87 (Wiener Brücke – Rahnsdorf). Das Fahrzeug verkehrte als Solowagen, gelegentlich diente es als Zugfahrzeug zur Überführung des internen Büchereiwagens B1.
==== Rekoprogramm ====
Seit Mitte der 1950er Jahre gab es mit dem VEB Waggonbau Gotha nur noch einen Hersteller für Straßenbahnfahrzeuge in der Deutschen Demokratischen Republik. Obwohl für Berlin Neuentwicklungen von Großraum- und Gelenkwagen ursprünglich vorgesehen waren, stockte deren Entwicklung, zumal die Waggonfabrik mit Aufträgen ausgelastet war. Die BVG griff daher auf den weiteren Umbau („Rekonstruktion“) der vorhandenen Fahrzeuge zurück, um äußerlich den Eindruck von Neufahrzeugen zu erwecken. Erste Vorarbeiten fanden ab 1957 bei LOWA Johannisthal statt, die kurz darauf vom Reichsbahnausbesserungswerk Berlin-Schöneweide (Raw Sw) auf Grundlage eines Neuerervorschlags übernommen wurden. Die Tw 5791 und 5919 vom Typ T 24 U erhielten bei unverändertem Wagenkasten Scharfenbergkupplungen, eine Türschließanlage, eine Fahrerkabine mit verbessertem Fahrersitz und eine Kleinspannungsanlage. Zur optischen Aufwertung brachte man Alu-Zierleisten an. Bw 536 wurde den Triebwagen entsprechend angepasst. Die beiden Triebwagen liefen auch im Verband mit den 1959 nach Berlin gelieferten Gothawagen BF 59.Im weiteren Vorgehen sollten nun auch alle übrigen T 24, B 24 und B 25 rekonstruiert werden. Neben der hohen Anzahl an Wagen waren auch die vergleichsweise einfache Konstruktion sowie die Verwendung von Rollenlagern – anstelle von Gleitlagern wie bei den älteren Fahrzeugen – ausschlaggebend. Vermutlich zwecks einer einheitlichen Lagerhaltung umfasste der Umbau auch die T 24 U, deren Umbau zu diesem Zeitpunkt noch keine fünf Jahre zurücklag. Äußerlich und ausstattungstechnisch sollten sich die Rekowagen an den TF 59 des Waggonbaus Gotha anlehnen, was sich auch an der fortlaufenden Nummerierung zeigte. Während die Gothawagen unter 3901–3910 (Triebwagen) beziehungsweise 1801–1820 eingereiht wurden, erhielten die Rekowagen die Nummern ab 3911 beziehungsweise 1821. Für den Umbau wurden der Bodenrahmen einschließlich der Achshalter und des seitlichen Hängewerks weiterverwendet, wogegen die Plattformen abgetrennt und durch solche in Form der Gothawagen ersetzt wurden. Die Beiwagen behielten ihre Speichenräder bei. Auch die Wagenkastenaufbauten, die Dächer und die Inneneinrichtungen waren Neubauten. Die auf zwei Bremsscheiben je Achswelle wirkende Kniehebelbremse der T 24 und B 24 ersetzte man gegen eine beidseitig auf eine Bremsscheibe wirkende Zangenbremse. Bei den B 25 war die Zangenbremse bereits von Beginn an verbaut worden. Der Achsstand wurde von 2800 mm auf 3200 mm vergrößert; die mit Peckhampendeln ausgerüsteten Beiwagen behielten den Achsstand bei, erhielten aber einfache Achshalter in geschweißter Ausführung. Da die B 25 einen längeren Grundrahmen aufwiesen, vergrößerte sich deren Gesamtlänge aufgrund der Verwendung einheitlicher Plattformen auf 10,70 m über Blech gegenüber 10,50 m bei den rekonstruierten B 24. Die bisherige Sitzanordnung aus Längs- und Querbänken wurde zugunsten einer 2+1-Bestuhlung in Abteilform aufgegeben. Die Doppelsitzer in den Beiwagen waren hierbei leicht versetzt angeordnet, um den am Fenster sitzenden Fahrgästen den Ausstieg zu erleichtern ohne ihren Sitznachbarn zum Aufstehen zu bewegen. Zusätzlich erhielten die Beiwagen einen Schaffnersitz, während die Triebwagen für den Z-Betrieb keinen benötigten. Er durfte daher in den ersten Jahren bis zur Einführung des schaffnerlosen Betriebs (OS-Betrieb, „ohne Schaffner“) nur von Zeitkarteninhabern genutzt werden, die ihre Fahrkarten beim Einstieg sichtbar hochhalten sollten. Die neue Typenbezeichnung lautete TE 59 für die Triebwagen und BE 59/1 (ex B 24) beziehungsweise BE 59/2 (ex B 25) für die Beiwagen. Für den Umbau zeichnete in erster Linie das Raw Schöneweide verantwortlich, ab Januar 1960 fand der Umbau auch beim Waggonbau Gotha statt. Die ersten Rekowagen fuhren ab Januar 1960 auf der Linie 49 (Buchholz – Hackescher Markt). Der Umbau der Standardwagen zog sich bis 1964 hin, die letzten originalen Triebwagen waren daher bis spätestens Ende 1962, die Beiwagen gegebenenfalls Frühjahr 1963 im Einsatz. Vom Umbau ausgenommen waren die mit LOWA-Aufbauten versehenen Beiwagen der Typen B 24/50 und B 25/50, die die BVG nach ihrer Ausmusterung 1963/64 verschrottete. Von den aus Güterloren zurückgebauten B 24/52 fanden die Bw 1742–1744 als neuer Typ BE 59/3 den Weg in die Rekonstruktion, Bw 1741 wurde ebenfalls verschrottet. Insgesamt wurden somit 165 Trieb- und 249 Beiwagen der Typen T 24 und T 25 in das Rekoprogramm einbezogen.
Nach den Standardwagen T 24, B 24 und B 25 ließ die BVG in den 1960er Jahren weitere Typenreihen „rekonstruieren“, wobei es sich bei diesen Rekowagen de facto um Neubaufahrzeuge handeln dürfte, da kaum mehr Teile der Altbaufahrzeuge Verwendung fanden. Lediglich beim Tw 5001 (Typ TE 63/1), original Tw 3716 (Typ T 33 U) von 1933, wurde genauso verfahren wie bei den TE 59. Als die letzten Rekowagen 1996 aus dem Plandienst verabschiedet wurden, waren mit den Tw 3050 (Spenderfahrzeug 5755) und Tw 3056 (Spenderfahrzeug 5700) zwei Triebwagen der Bauart 1924/1925 vertreten, die auch darüber hinaus für die Nachwelt erhalten blieben.
=== BVG (West) ===
==== Umbautypen T 24/49 und T 24/55 ====
Noch im Jahr 1949 ging die BVG (West) dazu über, einen Teil der T 24 mit stärkeren Motoren auszurüsten. Tw 6089 erhielt als Vorversuch zwei Tatzlagermotoren des Einheitstyps EM 60/600 (GBM 430) mit 60 kW Stundenleistung und Nockenfahrschalter der Bauart EF 43. Zusätzlich erhielt der Triebwagen zwei Nutzstrom-Schienenbremsen, Fahrersitze und eine komplett neue Verkabelung. Die Fahrmotoren bedingten einen Raddurchmesser von 760 mm, wodurch sich die Einstiegshöhe entsprechend erhöhte. Nach erfolgreicher Erprobung wurden 55 weitere Triebwagen in die Unterserie T 24/49 umgebaut, wobei die Serienfahrzeuge Fahrmotoren des Typs GBM 431 erhielten. 1952 wurde Tw 6089 als letzter Wagen der Serie angeglichen. Im gleichen Zeitraum beendete die BVG die Umstellung von Stangen- auf Scherenstromabnehmer, die 1948 begonnen hatte. Die Triebwagen gehörten zu den leistungsstärksten der Berliner Straßenbahn. Anders als die T 24 E der BVG (Ost) behielten die T 24/49 ihre Speichenradsätze. Bis 1952 rüstete die BVG zudem sämtliche Triebwagen auf Scherenstromabnehmer um.Ab 1955 war die BVG imstande, weitere T 24 mit stärkeren Motoren auszustatten. Möglich wurde dies durch die Ausmusterung der Maximumtriebwagen der Typen TD und TDS, die aufgrund ihrer Holzaufbauten nicht mehr den Bestimmungen der BOStrab entsprachen. Insgesamt 92 Triebwagen rüstete man mit Fahrmotoren des Typs USL 323v aus, die eine Stundenleistung von 50 kW aufwiesen. Wie auch bei den T 24/49 bedingte die Motorbauart die Verwendung von Treibrädern mit 760 mm Durchmesser. Offiziell führte die BVG die Fahrzeuge als T 24 mit Motor USL 323v, in der Literatur findet sich dagegen auch die Bezeichnung T 24/55. Bei fast allen übrigen 96 nicht umgebauten Triebwagen ertüchtigte die BVG die Fahrmotoren durch Verwendung von Silikon- anstelle von Asbestisolation (Motor USL 253avi), die noch vorhandenen Dy 492 wurden wegen der fehlenden Ankerkernlüftung ebenfalls durch Siemens-Motoren ausgetauscht. Sowohl die T 24/55 als auch die T 24 mit Motor USL 253avi waren in der Lage, zwei Beiwagen zu ziehen.
==== Ausmusterung in West-Berlin ====
Ab 1958 rüstete die BVG die Trieb- und Beiwagen mit Zugschlussleuchten aus. Die Forderungen der BOStrab sahen ab dem 1. Januar 1960 eine erhöhte Mindestbremsverzögerung und den Einbau einer Frischstrom-Schienenbremse vor. Letztere wurde bei den im Personenverkehr eingesetzten Triebwagen nachgerüstet, bei den T 24/49 erfolgte ein Umbau der vorhandenen Schienenbremsen auf Frischstromspeisung. Bereits 1956 wurde ein Zug bestehend aus Tw 6091, Bw 61 und Bw 704 mit Schienenbremsen ausgerüstet. Weitere Beiwagen rüstete die BVG mit Rahmen zur Aufnahme der Schienenbremsen aus, da die Bremsverzögerung der Triebwagen als ausreichend erachtet wurde, verzichtete man auf ihren Einbau.Die geänderten Bremsverzögerungswerte von 1960 hatten zur Folge, dass die Zugbildungsvorschriften erneut angepasst werden mussten, Doppelbehängungen mit Mitteleinstiegswagen waren künftig generell unzulässig. Während die T 24/49 und T 24/55 im Personenverkehr weiterhin zwei zweiachsige Beiwagen anhängen konnten, durften die mit USL 253avi ausgerüsteten T 24 im Personenverkehr einen Beiwagen, bei Schleppfahrten ohne Fahrgäste aber zwei Beiwagen anhängen. Dies wurde durch Wiedereinführung des blauen Strichs unter der Wagennummer kenntlich gemacht. Die übrigen T 24 mit USL 253v oder USL 271v durften generell nur mit einem Beiwagen behängt werden.
Da die Vorgaben der BOStrab auch Auswirkungen auf den Arbeitswagenbestand hatten, musterte die BVG die älteren, mit Holzaufbauten versehenen Triebwagen aus und setzte dafür gegen Ende 1960 20 Triebwagen mit USL 253 als Schlepptriebwagen A451–A470 ein. Mit Ausnahme der Arbeitswagenlackierung nahm die BVG keine Umbauten an den Fahrzeugen vor. Aus wirtschaftlichen Gründen sah man gleichfalls von der Durchführung einer Hauptuntersuchung ab, da ein Einsatzende absehbar war. Die Arbeitswagen wurden im Laufe des Jahres 1963 abgestellt. An ihre Stelle traten 20 freigewordene T 24/55 als A471–A490. Die Fahrzeuge wurden ebenfalls mit Erreichen der Laufzeit bis 1966 ausgemustert. Ab Anfang 1965 setzte die BVG nunmehr zwölf T 24/49 als Schlepptriebwagen A491–A502 ein, wobei A500 und A501 ausschließlich für die Großraumbeiwagen 2000II und 2001II vom Typ BED 52 vorgesehen waren und entsprechend ausgerüstet waren. Mitte 1965 erhielt die Gleisbauabteilung vier weitere T 24/49, die als A511–514 eingereiht wurden. Gemäß den UVV mussten die Wagen mit einem orangen Warnanstrich (RAL 2000) versehen und wegen behördlicher Auflagen mit Geschwindigkeitsmessern ausgerüstet werden. Im Herbst 1965 wurden vier weitere T 24/49 dem Bestand entnommen und als A521–A524 eingereiht, sie waren nach Umbau als Schneeräumwagen eingesetzt.Im Jahr 1960 begann die BVG mit der Ausmusterung von überzähligen Beiwagen des Typs B 24. Die letzten B 24 musterte die BVG zum Fahrplanwechsel am 1. Mai 1964 aus, die Wagen wurden meistens im ehemaligen Betriebshof Spandau (Spa) oder im Hauptlager Wittenau zerlegt. Von den B 25 war lediglich der Leichtbauwagen 803 wegen Verrottung 1960 vorzeitig ausgemustert worden. Der Großteil der Wagen wurde zunächst in Spandau, nach der Schließung der Betriebshöfe Schöneberg und Moabit am 1. Oktober 1964 dann dort zerlegt. Als letztes Einsatzgebiet waren die Beiwagen bis April 1966 auf den Linien 15 und 96 sowie vereinzelt der Linie 47 anzutreffen. Von den im Personenverkehr verbliebenen T 24 wurden 1962 zunächst die verbliebenen Wagen mit USL 271v (Tw 5883–5885, 5887), die aufgrund ihrer Motoren nur mit einem Beiwagen behängt fahren durften, sowie drei T 24/55 (Tw 5729, 5923, 5955) ausgemustert. Es folgten die nicht umgebauten Triebwagen mit USL 253v, USL 253av und USL 253avi bis 1964, im Jahr darauf die T 24/55. Das endgültige Einsatzende kam am 2. Mai 1966 und betraf die zuletzt noch eingesetzten T 24/49 und B 25 gleichermaßen. Aufgrund einer aufsichtsbehördlichen Anordnung durften Wagen mit nichtverschließbaren Türen nicht mehr im Fahrgastverkehr eingesetzt werden. Die noch vorhandenen Wagen kamen zur Verschrottung nach Moabit.
Zu Arbeitswagen umgebaute T 24
== Nach 1967 erhaltene Fahrzeuge ==
Nach der Einstellung des Straßenbahnbetriebs in West-Berlin blieben zunächst zwölf Wagen – acht Triebwagen und vier Beiwagen – der Nachwelt erhalten. Da die Fahrzeuge der BVG (Ost) ausnahmslos in das Rekoprogramm aufgenommen wurden, handelt es sich hierbei ausschließlich um Fahrzeuge, die bei der BVG (West) verblieben. Im Januar 2020 waren in Berlin noch zwei Züge mit je einem Triebwagen T 24 und je einem Beiwagen B 24 museal erhalten, ein Zug davon betriebsfähig. Zwei weitere Triebwagen T 24 stehen in anderen Museen.
Der Denkmalpflege-Verein Nahverkehr Berlin (DVN) betreut Tw 5984 und Bw 339, die sich im betriebsfähigen Zustand befinden. Tw 5984 wurde 1949 zum T 24/49 umgebaut und war ab 1965 nur noch für Sonderfahrten im Einsatz. Im Mai 1968 kam er in die historische Fahrzeugsammlung der BVG im Betriebshof Britz. Nach deren Auflösung im Jahre 1993 kam es im Dezember 1994 zu einer Kooperationsvereinbarung zwischen der BVG und dem DVN bezüglich der Aufarbeitung und Hauptuntersuchung des Fahrzeugs. Die BVG übernahm die Überholung der Motoren, Radsätze und Schienenbremsen, der DVN besorgte die Aufarbeitung der Fahrschalter und Widerstände, Neubeblechung und Neulackierung, Neuverchromung der Griffe sowie den Einbau einer Kleinspannungs-Warnblinkanlage und einer induktiven Weichensteuerung. Im September 1997 konnte der Triebwagen wieder in Betrieb genommen werden. Bw 339 war bis Mai 1964 im Einsatz und kam im November 1964 nach Roermond. 1967 wechselte der Wagen in ein privates Straßenbahnmuseum nach Weert, wo er im Freien stand. 1989 übernahm die Electrische Museumtramlijn Amsterdam den Wagen, zwei Jahre darauf kehrte er nach Berlin zurück. Der DVN arbeitete den Wagen während der nächsten 15 Jahre auf und präsentierte ihn im August 2006 erstmals im Freien. Im Mai 2007 fand die technische Abnahme des in den Zustand um 1950 zurück versetzten Fahrzeuges statt. Zusammen mit Tw 5984 ergab sich so ein betriebsfähiger Zug der Bauart 1924.Tw 5725 und Bw 1 waren ab Juni 1964 als Museumswagen deklariert und wurden von der BVG optisch in den Auslieferungszustand zurückversetzt, dem Triebwagen entfernte man den Scherenstromabnehmer und ersetzte ihn durch den damals üblichen Rollenstromabnehmer. Eine technische Aufarbeitung unterblieb vermutlich. Das Fahrzeuggespann befand sich zunächst im Betriebshof Charlottenburg und gelangte im Mai 1968 in die historische Fahrzeugsammlung der BVG im Betriebshof Britz. Nach der Auflösung der Sammlung 1993 wurden beide Wagen leihweise dem Deutschen Technikmuseum Berlin überlassen, die sie im Depot Kommunalverkehr in der Monumentenhalle aufbewahrt und dort zeitweise der Öffentlichkeit präsentiert.Die beiden Tw 5954 und 5964 waren im Mai 1967 im Betriebshof Charlottenburg abgestellt, als die Verkehrsbetriebe Karlsruhe (VBK) Interesse an den beiden Triebwagen bekundeten. Sie gingen im selben Monat nach Karlsruhe und erhielten dort eine neue Lackierung unterhalb der Fenster. Tw 5954 erhielt eine hellblaue Bauchbinde mit roten Eckmarkierungen, Tw 5964 eine grüne Bauchbinde mit grünen Eckmarkierungen. Zusammen mit anderen Altbaufahrzeugen aus der Bundesrepublik fuhren beide Wagen auf einer anlässlich der Bundesgartenschau 1967 verkehrenden Sonderlinie. Die VBK setzte die Wagen bis etwa 1969 noch zu weiteren Sonderfahrten auf dem Karlsruher Straßenbahnnetz ein. Der Tw 5954 kam daraufhin in das National Capital Trolley Museum in Colesville im US-Bundesstaat Maryland. Tw 5964 gelangte in den Bestand des Deutschen Straßenbahnmuseums in Sehnde-Wehmingen und ist seit 1987 im Besitz des Hannoverschen Straßenbahn-Museums an gleicher Stelle. Der Wagen präsentiert sich optisch im Zustand der 1960er Jahre. Im September 2008 war der Wagen anlässlich des 700-jährigen Jubiläums Heiligensees auf dem ehemaligen Betriebshofgelände der vormaligen Gemeindestraßenbahn ausgestellt.Der zuletzt als A500 eingesetzte Tw 6181 war ab Dezember 1967 zunächst auf dem Onkel-Tom-Markt in Zehlendorf und von 1969 an in einem Verkehrsgarten in der Brettnacher Straße abgestellt. Später wurde der Wagen neu lackiert und mit der falschen Nummer 5860 versehen. 1979 kaufte das Deutsche Straßenbahnmuseum den Wagen und überführte ihn im folgenden Jahr nach Sehnde-Wehmingen. Dort war das Fahrzeug – auch nach der Übernahme durch das Hannoversche Straßenbahn-Museum – abgestellt. Angesichts des desolaten Zustandes wurde der Wagen 2005 verschrottet.Nach der Einstellung des Personenverkehrs in West-Berlin am 2. Oktober 1967 führte die BVG (West) noch einzelne Überführungsfahrten zwischen den Betriebshöfen Charlottenburg und Moabit durch, um die verbliebenen Fahrzeuge dort zu verschrotten. Am 21. Dezember 1967 fanden die letzten Fahrten statt, an denen auch die Triebwagen 5988 und 6158 beteiligt waren. Tw 5988 verkaufte die BVG an die Berliner Morgenpost, die ihn zum Jahreswechsel 1968/69 auf dem Breitscheidplatz als Marktbude aufstellte. Anschließend verschenkte die Tageszeitung den Wagen an das Bezirksamt Wedding, das ihn auf dem Hof einer Kindertagesstätte beziehungsweise Bibliothek an der Schönwalder Straße ausstellte. Da er schnell als Schlafplatz für Obdachlose diente, wurde er im April 1971 abtransportiert und zerlegt. Tw 6158, zuletzt A512, blieb bis 1985 im Betriebshof Moabit abgestellt. Es gab Gerüchte, wonach das Fahrzeug gegen einen Ost-Berliner Maximumtriebwagen getauscht werden sollte. 1983 veräußerte die BVG ihn an einen Geschäftsmann, der ihn ein Jahr darauf wieder der BVG überließ. Im August 1985 wurde der Triebwagen verschrottet. Die Fahrzeugfront blieb erhalten und wurde der BVG-Tochter VVR übergeben, die sie in ihrer Geschäftsstelle in der Alboinstraße in Schöneberg unter der falschen Nummer 3566 – ein TM 36 – ausstellte.Triebwagen 6027, zuletzt als Schlepptriebwagen A493 eingesetzt, verkaufte die BVG 1966 an eine Diskothek am Kurfürstendamm, nachdem zuvor Motoren, Stromabnehmer und das Untergestell entfernt worden waren. Der Torso war bis in die 1980er Jahre vorhanden, sein Verbleib ist unklar. Ein ähnliches Schicksal ereilte den Beiwagen 556, der 1965 an eine Kneipe in der Laubacher Straße in Wilmersdorf veräußert wurde. Der Wagenkasten ist dort nach wie vor als Tresenraum vorhanden, passenderweise führt diese Studentenkneipe seit 1977 den Namen Straßenbahn.
Erhaltene T 24 und B 24
== Fahrzeugliste ==
Die nachfolgende Liste bietet eine Übersicht über die Trieb- und Beiwagen der Bauarten 1924 und 1925. Die Tabelle ist aufsteigend nach der Fahrzeugnummer sortiert. Die Beiwagen des Typs B 24/52 sind aufgrund ihrer unklaren Herkunft ebenfalls in der Tabelle aufgeführt, sodass bei 1304 gebauten Fahrzeugen insgesamt 1308 Einträge zu verzeichnen sind.
LegendeNr. – Wagennummer bei Auslieferung. Eine hochgestellte römische Zahl verweist auf die zweite, dritte etc. Belegung einer Wagennummer innerhalb des Nummernschemas der Berliner Straßenbahn bzw. der BVG.
Typ – Ursprünglicher Fahrzeugtyp gemäß dem BVG-Typenschlüssel von 1934.
Hersteller – Hersteller des wagenbaulichen Teils.
Motor (bis 1932) – Bis 1932 eingebauter Motor. Bei den bis 1932 versuchsweise umgerüsteten Triebwagen wird auf eine separate Nennung des ersten (vor 1927) eingebauten Motors verzichtet
Motor (ab 1932) – Ab 1932 eingebauter Motor. Auf die gesonderte Nennung der jeweiligen Indizes, die durch die Änderung der Isolationsklasse entstanden, wird verzichtet.
Motor (ab 195x) – Ab den 1950er Jahren im Rahmen von Umbauten eingebauter Motor. Auf die gesonderte Nennung der jeweiligen Indizes, die durch die Änderung der Isolationsklasse entstanden, wird verzichtet. Eine Ausnahme sind die USL 323v, da nur diese Bauart der USL 323-Motoren verwendet wurde. Es wird vereinfacht angenommen, dass der Austausch der Siemens-Motoren (Dy 462) erst im Rahmen eines größeren Fahrzeugumbaus erfolgte.
Achsstand (in mm) – Die Spalte dient vorrangig zur Hervorhebung der T 24 und B 24 mit verlängertem Achsstand.
Verbleib – Verbleib der Fahrzeuge nach 1945/49. Es stehen die Abkürzungen KV für Kriegsverlust (Ausmusterung bis 1945), O für BVG (Ost) und W für BVG (West).
Umbautyp – Fahrzeugtyp nach Umbau gemäß dem BVG-Typenschlüssel.
Ausmusterung – Ausmusterungsjahr des Wagens. Bei den Wagen der BVG (West) bezieht sich die Angabe auf das Jahr der Verschrottung, es wird vereinfacht angenommen, dass die Ausmusterung im selben Jahr stattfand.
Reko-Nr. – Wagennummer nach dem Umbau zum Rekowagen, betrifft nur Wagen der BVG (Ost).
Bemerkungen – Anmerkungen wie Verwendung als Arbeitswagen etc.
Quelle – Einzelnachweis des Eintrags.
== Literatur ==
Standardwagen der Berliner Straßenbahn (T 24/B 24). In: Berliner Verkehrsblätter.
Teil 1. 5. Jg., Nr. 4, April 1958.
Teil 2. 5. Jg., Nr. 5, Mai 1958.
Reinhard Arf: Neue Bahnen vor 75 Jahren. Über die Inbetriebnahme und Einsätze der legendären Berliner Straßenbahnwagenserie der Bauart 1924. In: Verkehrsgeschichtliche Blätter.
Teil 1. 27. Jg., Nr. 3, 2000.
Teil 2. 27. Jg., Nr. 5, 2000.
Teil 3. 27. Jg., Nr. 6, 2000.
Teil 4. 28. Jg., Nr. 1, 2001.
Teil 5. 28. Jg., Nr. 2, 2001.
Teil 6. 28. Jg., Nr. 3, 2001.
Reinhard Arf: Bauart 1924 – was blieb? Schlußbetrachtung zu einem legendären Fahrzeugtyp. In: Verkehrsgeschichtliche Blätter. 29. Jg., Nr. 4, 2002.
Reinhard Arf: Vom T 25 zum Reko-Wagen. 70 Jahre Fahrzeuggeschichte des Triebwagens 5700 der BVG. In: Verkehrsgeschichtliche Blätter. 33. Jg., Nr. 3, 2006.
Karl-Heinz Gewandt: Berliner Klassiker. Die Fahrzeuge T/B 24 und T/B 25. In: Straßenbahn in Berlin 1865–2015. Strassenbahn Magazin Special Nr. 29. GeraMond, München 2015, ISBN 978-3-86245-260-6.
Arne Hengsbach: Vor 50 Jahren. In: Berliner Verkehrsblätter. 32. Jg., Nr. 3, März 1975.
Eberhard Kindler: Die neuen Trieb- und Anhängewagen der Berliner Straßenbahn. In: Verkehrstechnik. 6. Jg., 39a, September 1925.
Eberhard Kindler: Neue Anhängewagen für die Berliner Straßenbahn. In: Verkehrstechnik. 7. Jg., Nr. 39, 24. September 1926.
Wolfgang von Linstow: Die technische Entwicklung der Triebwagen Bauart T 24 der Berliner Straßenbahn. In: Strassenbahn Magazin. 1. Jg., Nr. 1, 1970.
Wilhelm Pforr: Die Erneuerung des Wagenparks der Berliner Straßenbahn. In: Verkehrstechnik. 5. Jg., Sonderheft, September 1924.
Lothar Schwarz: Der Berliner Straßenbahntriebwagen vom Typ T 24. Die größte Straßenbahntriebwagen-Serie. In: Verkehrsgeschichtliche Blätter. 4. Jg., Nr. 4, 1977.
== Weblinks ==
Triebwagen 5984 vom Typ T24/49. In: dvn-berlin.de. Denkmalpflege-Verein Nahverkehr Berlin, 28. September 2009; abgerufen am 5. Juni 2019.
Bw 339 (Typ B 24). In: dvn-berlin.de. Denkmalpflege-Verein Nahverkehr Berlin, 28. September 2009; abgerufen am 5. Juni 2019.
Marcel Götze: Altbautriebwagen. In: berlin-straba.de.
T 24 (5701–5750, 5751–5800, 5801–5850, 5851–5900, 5901–5950, 5951–6000, 6001–6050, 6051–6100, 6101–6150, 6151–6200)
T 25 (5700)
T 24/49 (5871…6171, 6176…6200)
T 24/55 (5701…5886, 5889…6194)
T 24 E (5700…5940, 5950…6193)
T 24 U (5710…6031, 6055…6195)
T 24/56 (6096)
T 24/58 (5791, 5919)
Marcel Götze: Altbaubeiwagen. In: berlin-straba.de.
B 24 (1–50, 51–100, 101–150, 151–200, 201–250, 251–300, 301–350, 351–400, 401–450, 451–500)
B 25 (501–550, 551–600, 601–650, 651–700, 701–750, 751–803)
B 24/50 (123, 269, 287, 371)
B 25/50 (565, 679, 706, 758)
B 24/52 (1741–1744)
B 25/58 (536)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/BSt_Bauart_1924
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Bebop head
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= Bebop head =
Ein bebop head oder schlicht bop head (aus engl. (be)bop und head, (hier) ‚Kopf[thema]‘, ‚Leit-[thema]‘), seltener auch bebop line bzw. bop line, ist in der Fachsprache des Jazz die allgemeine Bezeichnung für einen Typus von Themen, wie sie insbesondere von Bebop-Musikern seit den 1940er Jahren komponiert bzw. arrangiert wurden. Charakteristisch für diese Art von Melodien sind vor allem ihre auf Achtelnoten aufgebaute, offbeatorientierte und fragmentierte Rhythmik sowie eine Art der Melodieführung, die weniger auf Sanglichkeit, als vielmehr auf die Darstellung einer relativ komplexen Harmonik zielt.Bebop heads beruhen in ihrer typischsten Form auf den (zum Teil erweiterten) Akkordfolgen populärer Songs, den sogenannten show tunes, wie sie vor allem für Musicals geschrieben wurden.
== Der Begriff ==
Die meisten ausschließlich oder hauptsächlich innerhalb der Jazzszene verwendeten musikalischen Fachbegriffe werden von Musikern nicht im Sinne eines akademisch streng definierten Bedeutungsgehalts gebraucht. Die als korrekt empfundene Anwendung solcher Termini dient dagegen oft dazu, die Zugehörigkeit zu einer in group zu manifestieren; innerhalb dieses sozialen Kontextes verliert sich die genaue Bedeutung häufig im Vagen, da – orientiert an Rollenklischees wie beispielsweise dem des „Hipsters“ – Jazzmusiker zu einem unscharfen, „emotionalen“ Sprachgebrauch neigen.
=== Bebop ===
Bebop, kurz Bop, heißt der früheste Stil des modernen Jazz, der seit etwa 1940 von Musikern wie Charlie Parker und Dizzy Gillespie entwickelt wurde. Der Begriff Bebop ist allerdings unscharf definiert: Während er im engeren Sinne die Musik ebendieser Pioniere des modernen Jazz (zu denen man noch eine kleine Gruppe weiterer Musiker zählt, etwa den Pianisten Bud Powell oder die Schlagzeuger Kenny Clarke und Max Roach) bezeichnet, schließt eine weiter gefasste Definition einen großen Teil des tonal und metrisch gebundenen Jazz bis zur Gegenwart mit ein.
=== Head ===
Die Bezeichnung „Kopf“ (engl. head) für den Beginn eines Musikstücks ist in ähnlicher Weise auch in der europäischen Musik – und auch hier in unterschiedlichen Anwendungen – üblich. Davon zeugen etwa Termini wie Kopfsatz oder die Spielanweisung da capo (ital. „vom Kopf“, also von vorne).
Im Rahmen eines Jazzstücks bezeichnet head das zu Anfang und in der Regel auch zum Schluss gespielte eigentliche Thema, auf das die Improvisationen sich strukturell beziehen. Dabei spielt allerdings auch die Implikation des auswendig, „aus dem Kopf“, Vorgetragenen eine Rolle: Dies zeigt der gänzlich doppeldeutige Begriff des head arrangement, der sowohl ein ausgearbeitetes Arrangement des Themenvortrags als auch ein auswendig vorgetragenes komplettes Big-Band-Arrangement meinen kann (in dieser Form zum Beispiel häufig im Orchester von Count Basie der 1930er Jahre).
=== Line ===
Im Jazz ersetzt der Begriff line (engl. für „Linie“) häufig das ältere und bis heute gebräuchlichere Wort tune (engl. für „Melodie“, „Weise“). Diese Wortwahl bringt einerseits den linearen Charakter von Melodien, die vorwiegend aus Achteln aufgebaut sind, zum Ausdruck; darüber hinaus wird tune auch angesichts des erwähnten, häufig sehr unsanglichen Charakters von Bebop-Themen als unpassend empfunden.
== Vorläufer ==
Hauptsächlich in Achtelnoten geführte Melodien sind für Jazzsolisten spätestens seit Louis Armstrongs bahnbrechenden Aufnahmen der späten 20er Jahre die Norm. Viele der in solchen Solos gespielten melodisch-rhythmischen Figuren (so genannte licks) setzten die Big-Band-Arrangeure der 30er Jahre als Begleitfiguren oder in Tutti-Passagen für den Bläsersatz aus: Sie notierten also die ursprünglich solistisch improvisierte Melodie und bearbeiteten sie mehrstimmig, beispielsweise für fünf Saxophone. Während ihrer „Lehrjahre“ in den Big Bands der Swing-Ära erwarben die späteren Bebop-Musiker ein großes Repertoire dieser Figuren. Solche Riffs stellen die hauptsächlichen Vorläufer der späteren, allerdings in aller Regel wesentlich komplizierter aufgebauten bebop heads dar.
== Die musikalische Ästhetik und ihre Rezeption ==
Die bebop heads werden in der typischen Quintettbesetzung normalerweise von den beiden Bläsern (meist Trompete und Saxophon) im Unisono vorgetragen. Die meisten Themen, die oft in außergewöhnlich schnellen Tempi gesetzt sind, können in dieser Weise nur von ausgesprochen virtuosen, gut eingespielten Bands sauber gespielt werden. Die Überforderung eines großen Teils des Publikums wurde dabei zumindest billigend in Kauf genommen, da die jungen Bebopper sich prononciert gegen die showmanship (mit Banduniformen, einheitlichen Notenpulten, Choreografien und dergleichen) der etablierten Bands wendeten, die sie als Kapitulation vor dem in den damaligen USA allgegenwärtigen Rassismus ablehnten.
Viele bebop heads tragen sarkastisch-selbstbewusste Titel. Häufig finden sich auch verschlüsselte, betont intellektuelle Wortspiele wie in Thelonious Monks Evidence: Das Wort bedeutet in der amerikanischen Rechtsprechung zunächst einmal „Beweismaterial“. Monk wählte den Titel aber, weil das Thema auf den Harmonien des Songs Just You, Just Me (= just us, was wiederum ähnlich klingt wie justice, also „Justiz“) beruht.
Bei älteren Musikern und dem breiten Publikum stieß der frühe Bebop auf teils heftige Ablehnung. Zeitzeugen berichten von ihrer verwirrten Ratlosigkeit gegenüber diesem neuen Stil, der zunächst vielfach gar nicht als Jazz akzeptiert wurde. Die chromatische Harmonik und Melodik der Musik, zusammen mit ihren „schwierigen“ Rhythmen und den bevorzugten schnellen Tempi verlangten dem Gehör der meisten Jazzfans zu viel ab. Mit dem Bebop erhob der Jazz – im Kontext der Zeit ganz unerwartet – Anspruch auf Anerkennung als Kunstmusik und verzichtete dafür auf den eben erst erreichten Breitenerfolg, den der Swing als ausgesprochene Tanzmusik angestrebt hatte.
== Das Kompositionsprinzip ==
=== Fixierte Improvisationen ===
Bebop heads sind in ihrer „reinsten“ Form angelegt wie eine idealtypische, fixierte Improvisation über ein vertrautes Harmonieschema: In den frühen Jahren des Jazz, aber auch in den Big Bands war es gang und gäbe, dass die Musiker ihre Solos nicht wirklich improvisierten, sondern sich ihre „Features“ vorher erarbeiteten und dann auswendig über längere Zeit immer wieder in derselben Weise vortrugen. Diese Art vorgefertigter, von den Unwägbarkeiten der Live-Konzertsituation losgelösten Improvisationen wurden nunmehr selbst als Themen verwendet. Die Akkordfolgen wurden dabei mit Vorliebe aus populären Songs der Broadway-Shows und Filmen der Mitte des 20. Jahrhunderts entlehnt, die auch in ihrer originalen Form häufig zu Jazzstandards geworden sind.
Als Beispiel sei hier der seinerzeit beliebte Song Whispering (im Original geschrieben vom Tin-Pan-Alley-Autorenteam Schonberger/Coburn/Rose) angeführt. Das Stück wurde auch in seiner deutschen Version unter dem Titel Lass' mich Dein Badewasser schlürfen bekannt.
Selbst in dieser einfachen Form bietet das Stück eine reizvolle Harmonik: Der Tonika-Akkord kontrastiert mit unerwarteten Zwischendominanten, der eigentlich ständig erwartete Dominantakkord Bb7 erscheint erst später im Stück. Dem steht nun die betont simple, Gassenhauer-artige Melodik gegenüber, die von den Komponisten zwar beabsichtigt war, für die rebellischen jungen Musiker der frühen 40er Jahre aber abgeschmackt wirkte.
Der Trompeter Dizzy Gillespie bearbeitete Whispering zu dem bis heute populären Bebop-Thema Groovin’ High:
=== Erweiterung des Ausgangsmaterials ===
Am Beispiel von Groovin' High lässt sich aufzeigen, wie bebop heads in jeder denkbaren Hinsicht das Material der zugrunde liegenden populären Songs ausbauen und erweitern:
Rhythmus: Der rhythmische Grundpuls der Melodie liegt auf der Achtelnote, während die Begleitung wie im Original die Viertelnoten markiert. Die resultierende rhythmische Spannung signalisiert von vornherein einen „jazzmäßigen“ Charakter.Fragmentierung: Im Gegensatz zu den symmetrischen Phrasen der Melodie von Whispering benutzt Gillespies neues Thema Phrasen sehr unterschiedlicher Länge, wobei gerade die Hauptakzente der kurzen „Melodiefetzen“ auf unerwartete Offbeat-Zählzeiten fallen. Die fragmentierten melodischen „Kürzel“ und die ihnen folgenden Pausen erlauben ein intensives Zusammenspiel innerhalb der Band: Die Klavierbegleitung reagiert sofort mit einer echoartigen „Antwort“ auf das Motiv der Melodie.Harmonik: Die Akkordgerüste der Pop-Songs werden in aller Regel ausgebaut und in jazzmäßiger Weise umstrukturiert. Dreiklänge werden zu Vierklängen erweitert und mehr oder weniger tiefgreifende Reharmonisierungen durch verschiedenste Ersatz-, Erweiterungs- und Umdeutungsakkorde eingeführt. Gillespie ersetzt den Tonika-Dreiklang im ersten Takt von Whispering (Eb-Dur) durch den entsprechenden, mehrdeutiger klingenden Septakkord (Ebmaj7). Die Dominantseptakkorde in Takt 3 und 7 werden durch die zugehörigen Mollseptakkorde vorbereitet.Instrumentaltechnik: Während die Songs der Broadway-Musicals, ihrer Funktion entsprechend, melodisch möglichst einfach, eingängig und anspruchslos konzipiert sind, zielen die aus ihnen entstandenen Bebop-Themen auf das exakte Gegenteil: Die übergroße Mehrzahl der Stücke verlangt musiktheoretische Kenntnisse und eine technische Beherrschung des eigenen Instruments, wie sie zur Zeit der Entstehung des Bebop nur wenige Musiker der älteren Generation vorweisen konnten.
=== Bearbeitung oder eigenständige Komposition? ===
Die Bebop-Musiker legten in gewissem Maße Wert darauf, dass der Bezug ihrer neuen lines zum ursprünglich „banalen“ Pop-Song für den eingeweihten Hörer erkennbar blieb. Die Ästhetik dieser Art von Stücken drückt neben dem Stolz auf die eigene, überlegene Virtuosität auf dem Instrument auch eine herablassende, ironische Pose gegenüber einer Umwelt aus, die man als musikalisch und intellektuell rückständig empfand.
Ganz in diesem Sinne kündigten die Musiker ihre neuen Stücke – zum Beispiel auf der Bühne oder auf Plattencovers – nicht selten noch mit den Titeln der zugrundeliegenden Songs an, womit sie selbstverständlich einen „Schockeffekt“ beabsichtigten und in aller Regel auch erzielten.
Dieses Vorgehen hat jedoch dazu geführt, dass bebop lines gelegentlich nur als sekundäre Ableger eines Originals betrachtet werden, woraus sich die Unterstellung ergibt, die eigentliche kreative Leistung liege beim Schlagerkomponisten. Einer musikalischen Analyse hält diese Ansicht jedoch nicht stand. Auch und gerade die Songs der Tin Pan Alley verwenden harmonische Abläufe komplett oder versatzstückartig immer und immer wieder. Dagegen bedarf es noch eines erheblichen Aufwandes an melodischer, harmonischer und rhythmischer Detailarbeit, um beispielsweise von Whispering zu Groovin' High zu gelangen.
Die „Collagetechnik“ mit harmonischen Versatzstücken übernahmen die Jazzmusiker wiederum in noch etwas komplizierterer Weise, indem sie nicht selten die Akkorde verschiedener Formteile aus unterschiedlichen Songs miteinander zu neuem Material kombinierten. Die #Bebop heads und die zugrundeliegenden show tunes bietet hierfür einige Beispiele.
Weiterhin ist die Vorgehensweise, ein neues Stück aus Elementen eines bereits vorhandenen zu entwickeln, in den meisten Musikstilen mehr oder weniger gängige Praxis (vgl. hierzu etwa den Cantus firmus der Alten Musik, Formen wie die Passacaglia oder die letztlich klischeehaften harmonischen Abläufe in vielen Werken der Wiener Klassik, die die Sonatensatzform benutzen).
=== Das Copyright ===
==== Die These vom „musikalischen Strohmann“ ====
Die in älteren Publikationen (so zum Beispiel mehrfach bei Gitler, 1966) häufig kolportierte Vermutung, die bebop heads seien hauptsächlich geschrieben worden, damit die Musiker keine Tantiemen für die urheberrechtlich geschützten Songs der Broadway-Shows zahlen mussten, gehört in dieser Form ins Reich der Legende. Die musikalische Praxis und die Formalitäten bei der Abwicklung solcher Tantiemenzahlungen über die US-Verwertungsgesellschaften (ASCAP und BMI) – in welche die Musiker weder bei Live-Auftritten noch bei Platteneinspielungen direkt involviert waren – sprechen für sich genommen schon gegen die Plausibilität dieser These.
Richtig daran ist, dass Akkordfolgen im Gegensatz zu Melodien keinen Copyright-Schutz genießen. Jedoch ist der Aufwand, der in Zusammenhang mit Komposition, Arrangement und nicht zuletzt dem Proben eines auch nur durchschnittlich schwierigen Bebop-Stücks getrieben werden muss, so unverhältnismäßig hoch, dass er den vergleichsweise geringen finanziellen Vorteil bei weitem überwiegt.
Hingegen konnten die Musiker die einmal geschriebenen Stücke ihrerseits urheberrechtlich schützen lassen, sodass ihnen aus Plattenverkäufen und Live-Aufführungen ein gewisser Zusatzverdienst über diese Tantiemen garantiert war.
==== Die Bebop-Subkultur und das Copyright ====
Bebop heads sind ein kompositionstechnischer Ausdruck der anti-bürgerlichen Haltung ihrer Schöpfer. Eine Subkultur stellt hier in bewusst ironischer Absicht den überlieferten Werkbegriff mit ihren Mitteln geschickt in Frage. Jedoch erwies sich binnen kurzer Zeit, dass die Musiker mit ihrer demonstrativen Vernachlässigung dieses Aspekts der künstlerischen Arbeit weniger dem „Establishment“, sondern vor allem sich selbst (und zwar auf einer sehr materiellen Ebene) schadeten.
So sind viele Fälle überliefert, in denen Musiker die Abwicklung aller rechtlichen Fragen Managern, Agenten oder Produzenten vollständig überließen. Diese eigneten sich die Rechte an den Stücken dann nicht selten selber an: Oft geschah dies zunächst nicht einmal in unmittelbar betrügerischer Absicht, sondern um den vielfach etwas weltfremden Musikern finanzielle Schwierigkeiten zu ersparen. Dennoch war auf diesem Weg dem Missbrauch selbstverständlich Tür und Tor geöffnet. In Charlie Parkers Karriere kam diese problematische Rolle dem Agenten Billy Shaw und dem Produzenten Ross Russell – seinem späteren Biografen – zu.
Nachdem ein großer Teil der Bebopper, bedingt durch prekäre Arbeitsbedingungen und die in der Szene massiv verbreitete Heroinsucht, in permanenten Geldnöten steckte, eigneten sich gewieftere Musiker ihrerseits nicht selten die Rechte an den Kompositionen ihrer Kollegen an. Viele dieser „Betrugsfälle“ wurden erst im Laufe der letzten Jahrzehnte bekannt. Auf diese Weise stellte sich zum Beispiel heraus, dass viele Kompositionen, die lange Zeit Miles Davis zugeschrieben wurden, in Wirklichkeit von Mitgliedern seiner verschiedenen Bands verfasst worden waren. Allerdings blickte Davis seinerseits auf denkbar schlechte Erfahrungen zurück, da ihn sein notorisch unzuverlässiger Bandleader Charlie Parker um die Rechte an den meisten seiner frühen Stücke geprellt hatte.
Parker bietet schließlich auch ein besonders extremes Beispiel für das geschilderte, äußerst ambivalente Verhältnis der Bebop-Szene zum Konzept des „geistigen Eigentums“. Um sich die Dosis Heroin leisten zu können, die er brauchte, um für eine anstehende Aufnahmesession fit zu sein, verkaufte er seinem Dealer alle Rechte an der bei dieser Gelegenheit einzuspielenden Eigenkomposition. Das Stück trägt bis heute im Titel den Decknamen von Parkers Drogenlieferanten, nämlich Moose The Mooche.
== Broadway-Songs, Blues und kubanische Rhythmen ==
Die bereits eingangs erwähnte unscharfe Definition des Begriffs bebop head bewirkt zusammen mit der ebenfalls geschilderten Neigung von Jazzmusikern zu Privatsprachen, dass bestimmte Themen in der Nomenklatur vieler Musiker nicht primär in diese Kategorie eingeordnet werden. Unter harmonischen, rhythmischen oder stilistischen Gesichtspunkten werden Kompositionen, die ansonsten recht ähnlich klingen können, auch verschiedenen anderen Subgenres zugerechnet. Es sei noch einmal betont, dass die Unterscheidungen teils willkürlich gesetzt und die Grenzen fließend sind.
Rhythm ChangesEine bei den Bebop-Musikern überproportional beliebte Akkordfolge war diejenige von George Gershwins Komposition I Got Rhythm. Stücke, die auf deren Harmonien (oder Abwandlungen davon) beruhen, nehmen im Repertoire eine so wichtige Rolle ein, dass sie gesondert mit der Bezeichnung Rhythm Changes belegt werden. Das ist die „chiffrierte“ Kurzform der korrekten Formulierung the chord changes of „I Got Rhythm“, also eben das Akkordgerüst dieses Gershwin-Titels. Tatsächliche rhythmische oder metrische Wechsel, die man aufgrund des Kürzels vermuten könnte, kommen in solchen Stücken so gut wie nie vor, sie stehen fast immer in einem moderaten bis schnellen 4/4-Takt und darüber hinaus fast ausnahmslos in Bb-Dur.
Eine Komposition wie Duke Ellingtons Cotton Tail von 1940, die bereits alle Charakteristika des entstehenden Bebop aufweist, würde zwar als Rhythm Changes, nicht aber als bebop head bezeichnet werden, da man Ellington für gewöhnlich nicht dieser Stilrichtung zurechnet.
Aufgrund seiner typisch „boppigen“ Gestaltungsweise sollen die ersten vier Takte von Ellingtons Thema hier dennoch zum Vergleich mit der Parallelstelle in Gershwins originaler Melodie dienen. Im Hörbeispiel erklingen beide Melodien simultan, sodass deutlich wird, wie sich beide mit Akkordbegleitung und Basslinie verzahnen.
Für eine verwandte Akkordfolge in Moll ist teilweise noch der irreführende Terminus Minor Rhythm Changes gängig. Diese Bezeichnung kommt jedoch außer Gebrauch: Folglich würde zum Beispiel eine bekannte Komposition Charlie Parkers über diese Harmonien (Segment, auch unter dem Titel Diverse) heutzutage allgemein eher als bebop head bezeichnet.
BluesNeben den Rhythm Changes war der Blues das zweite ausgedehnte harmonische Experimentierfeld der Bebopper. Die traditionelle Ästhetik und Klanglichkeit des Blues wurde in diesem Prozess so stark mit den musikalischen Neuerungen der Zeit überformt, dass in Stücken wie Sippin' At Bell's (von Miles Davis), Dance Of The Infidels (von Bud Powell) oder Blues For Alice (wiederum von Charlie Parker) den Themen ein unmittelbar wiedererkennbarer Blues-Charakter so gut wie vollkommen abgeht. Trotz dieser Dominanz des Bebop-Sounds werden Kompositionen dieses Genres zunächst einmal immer als Blues bezeichnet.
Jazz OriginalsSeit dem Aufkommen des Bebop komponierten Jazzmusiker stärker als zuvor Stücke, die die Harmonik der Pop-Songs nur noch in verfremdeter, abstrahierter Form widerspiegeln, ohne dass die zugrunde liegenden Elemente völlig aufgegeben werden. In jedem Fall sind Stücke dieses Genres, wie sie beispielsweise von Thelonious Monk oder Tadd Dameron in großer Zahl komponiert wurden, unmittelbar als Jazz-Kompositionen geschrieben und als solche sofort erkennbar. Ganz ähnlich wie bei den Broadway-Songs wurden aber auch hier über besonders dankbare Harmonieschemata neue Linien gelegt: So ist beispielsweise Miles Davis' Half Nelson eine Weiterentwicklung von Damerons Ladybird.
CubopNicht weniger kurios ist die Tatsache, dass gerade solche Stücke, bei denen die Bebop-Musiker vollkommen neue Wege gingen, so gut wie gar nicht unter der Bezeichnung bebop head subsumiert werden. So entwickelten sich beispielsweise Kompositionen wie Dizzy Gillespies A Night in Tunisia und Manteca oder Bud Powells Un Poco Loco durch ihre damals unerhörte Verquickung afrokubanischer Rhythmen, neuartiger Harmoniegerüste und komplexer melodischer Gesten zu Klassikern, die junge Jazzmusiker auch heute noch als Herausforderung betrachten. Dieses Genre wurde seinerzeit schnell mit dem Label Cubop (aus cuban bebop) versehen. Heutzutage ist die Bezeichnung Latin Jazz verbreiteter, und viele traditionell orientierte Bebop-Musiker beschäftigen sich nur sehr am Rande mit den Rhythmen, die auf die Gründergeneration dieser Musik so inspirierend wirkte.
Die übrigen show tunesDie noch verbliebenen Bebop-Kompositionen sind es nun, die im engeren Sinne als bebop heads bezeichnet werden. In der ungefähr ein Jahrzehnt langen Zeitspanne, die die Blütezeit des Bop ausmacht (Mitte der 1940er bis Mitte der 1950er Jahre) entstanden Hunderte lines zu Songs der Tin Pan Alley, von denen einige Dutzend noch heute zum Repertoire gehören. Eine Übersicht bietet der nächste Abschnitt.
== Bebop heads und die zugrundeliegenden show tunes ==
Angesichts der großen Fülle von Kompositionen kann die folgende Übersicht bei weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie führt vor allem Werke bekannter Komponisten und/oder Interpreten auf, deren Aufnahmen auch heute noch unschwer erhältlich sind. Auch der relativen Präsenz im heutigen Repertoire trägt sie Rechnung.
== Spätere Entwicklungen ==
=== Vokaler Bebop ===
Bebop heads wurden von Instrumentalisten für die übliche Quintettbesetzung geschrieben. Selbst unter dieser Maßgabe sind sie technisch meist schwierig auszuführen, sie dienen bis heute angehenden Jazzmusikern auch als Etüden. Die Frage, ob solche Melodien singbar sind, wurde von den Komponisten überhaupt nicht erwogen, vielmehr ging es ihnen ja um den Reiz des „Schrägen“: Ohne Akkordbegleitung ist der harmonische Bezug manch einer chromatischen Linie gehörsmäßig kaum einzuordnen, und die ebenso beliebten dissonanten Intervallsprünge sind von einer unausgebildeten Stimme schwerlich zu bewältigen.
==== Scat-Gesang ====
Der Scat-Gesang auf Nonsens-Silben gehört allgemein zur Tradition fast aller afroamerikanischen Musikstile. Die Bebop-Musiker sangen sich beim Proben ihrer jeweils neuen Stücke die Phrasierung bestimmter rhythmischer Figuren in dieser Weise gegenseitig vor. Das Wort „Bebop“ selbst ist aller Wahrscheinlichkeit nach als klangmalerische Beschreibung typischer Achtelfiguren (wie am Beginn von Groovin' High) entstanden. Gerade Dizzy Gillespie, der als einziges Mitglied der „Gründergeneration“ ein gewisses Showtalent mitbrachte, verfügte über genügend Humor und Selbstbewusstsein, um seinen Gesang auch live und auf Platten zu präsentieren. Die Titel und „Texte“ solcher Stücke lauteten dann zum Beispiel: Oo-Bop-Sh'Bam – a-klook-a-mop!.
Mit solchen Darbietungen unterstrich Gillespie aber – mit der für ihn typischen Ironie und Doppeldeutigkeit – zunächst einmal seine eigentliche Überzeugung, nämlich dass Bebop keine Musik für Sänger sei. Trotzdem fanden sich bereits zu Ende der 40er Jahre die ersten Vokalisten, die sich mittlerweile die musikalischen Kenntnisse und Techniken angeeignet hatten, um Scat-Improvisationen in der Art von Bebop-Instrumentalsolos vortragen zu können (darunter Sarah Vaughan, Babs Gonzales und Ella Fitzgerald).
==== Vocalese ====
In den 1950er Jahren kam die vocalese-Technik auf: Sänger begannen, die bebop heads mit (zumeist selbstverfassten) Texten zu unterlegen. Ein erster Star dieser neuen Sängergeneration wurde King Pleasure mit seinen Versionen von Bebop-Themen (Parker's Mood) und sogar Improvisationen (Moody's Mood For Love). Eine technische Beherrschung des Genres, die oft als „Vokal-Akrobatik“ bezeichnet wurde, konnten die drei Mitglieder des Gesangsensembles Lambert, Hendricks & Ross (Dave Lambert, Jon Hendricks und Annie Ross) vorweisen.
Die Texte dieser vocalese-Interpretationen sind normalerweise extrem wortreich, da die bebop heads aufgrund ihrer Kompositionstechnik besonders viele Noten enthalten. Stilistisch greifen sie stark auf den Slang der Jazz-Szene (jive talk) und den damit eng verwandten Tonfall der Beat-Generation-Dichter zurück. Die Inhalte der vocalese reichen vom herkömmlichen Liebeslied (Skeeter Spights Version von Parkers Confirmation) über die lyrische Reflexion der Musik (Jon Hendricks' Text zu Gillespies Night In Tunisia, auch unter dem Titel And The Melody Still Lingers On) bis zu absurd-humoristischer Kommentierung aktueller Zeitthemen (wie in Annie Ross' Text zu Wardell Grays Twisted, der die Psychoanalyse karikiert). Der schiere Wortreichtum und die aus Akzentverschiebungen resultierende komplexe Rhythmik dieser „Songs“ – in Kombination mit der abstrakten Melodik – führen die vocalese in Extreme der Gesangstechnik:
Tatsächlich sind die Techniken des Bebop-Gesangs bis heute gerade aufgrund dieses Beigeschmacks des „Akrobatischen“ bei Musikern und Publikum gleichermaßen umstritten. Nur eine relativ kleine Gruppe von Sängern konnte mit Ergebnissen aufwarten, die allgemeine künstlerische Anerkennung fanden. Heutzutage wird dieses Genre unter anderem von Dee Dee Bridgewater, Mark Murphy und Kurt Elling gepflegt.
=== Cool Jazz ===
Die Musiker des Cool Jazz schrieben Kompositionen über Standard-Harmonien, die „auf dem Papier“, das heißt in notierter Form, von den ursprünglichen bebop heads kaum zu unterscheiden sind. Vor allem die „Schule“ des Pianisten Lennie Tristano (darunter die Saxophonisten Warne Marsh und insbesondere Lee Konitz) hat einige technisch äußerst anspruchsvolle Stücke hervorgebracht, die bis heute gerne gespielt werden. Für den Interpreten der komponierten Melodie liegt der Unterschied zu den Vorbildern, hauptsächlich Charlie Parker, in einer grundsätzlich anderen (aber nicht im Notenbild fixierbaren) Auffassung vom Instrumentalklang, sowie in einer ausgesprochen geraden, „europäisch-klassischen“ Phrasierung. Im Folgenden ein kurzer Ausschnitt aus Lee Konitz' Sub-Conscious-Lee, das er über die Harmonien von Cole Porters What Is This Thing Called Love entworfen hat:
Darüber hinaus werden die Themen nicht mehr ausschließlich im Unisono gespielt, vielmehr spielt der zweite Bläser gelegentlich eine kontrapunktische Linie zur Hauptmelodie, die manchmal auskomponiert ist, genauso häufig aber auch improvisiert sein kann.
Der eigentliche Grund, warum Cool Jazz-Kompositionen deutlich anders klingen und auf den Hörer wirken als der Bebop, auf den sie sich eigentlich berufen, liegt in der Rolle der Rhythmusgruppe. Obwohl deren Stimmen für gewöhnlich nicht ausgeschrieben sind, besteht doch ein stillschweigendes Einverständnis über die Aufgabenteilung, die Musik ist also in vielen Einzelheiten durchkonzipiert, ohne dass dies schriftlich notiert wird. Der Vergleich zeigt in aller Regel, dass „originale“ bebop heads eine wesentlich intensivere, für den Hörer unberechenbarere Begleitung ermutigen und benötigen, während Cool Jazz-Themen mit einer defensiveren, verhaltenen Spielweise der Begleiter rechnen. Besonders deutlich wirkt sich dieser gedanklich mitkomponierte Anteil eines Stückes auf das Schlagzeug aus, das im Bebop große Freiheiten genießt, während der charakteristische Cool Jazz-Sound durch dezentes timekeeping (Markieren des Grundrhythmus) entsteht.
=== Hard Bop ===
Der Hard Bop der 1950er und 1960er Jahre setzt in vieler Hinsicht die Tradition des Bebop fort, findet aber im Allgemeinen zu einer erdigeren, im ursprünglichen Blues verwurzelten Ästhetik zurück. Insofern ist der Stil, verallgemeinernd gesprochen, wieder einem sanglicheren, zugänglicheren Musizierideal verpflichtet, das nicht mehr so besessen wie der Bebop nach schnellen Tempi und komplizierten Harmonien sucht. Der Hauptteil der zu Standards gewordenen Jazz Originals entstand im stilistischen Rahmen des Hard Bop. Einige seiner besten Komponisten (Horace Silver, Sonny Rollins) haben jedoch auch typische bebop lines geschrieben, die bis heute auf Jamsessions in aller Welt gerne gespielt werden.
=== Post-Bop ===
Im Laufe der 60er Jahre entfernt sich der Jazz immer mehr vom Repertoire der show tunes und letztlich auch den aus ihnen entstandenen bebop heads. Die bilderstürmerische Musikauffassung, die dem Bebop zugrunde liegt, wird in einer Spielweise weitergeführt, für die gelegentlich die Bezeichnung free bop zu finden ist. Sie nimmt ihren Anfang bei den ersten Aufnahmen von Ornette Coleman und Don Cherry (1958/59). Selbst viele Musiker, die der Gründergeneration des Bebop sowohl persönlich als auch stilistisch sehr nahestanden (zum Beispiel Jackie McLean und Charles Mingus), nahmen die Ideen des Free Jazz auf. Eine allgemeine Bezeichnung für diese „gemäßigte Avantgarde“ der 60er und 70er Jahre hat sich bis jetzt nicht durchgesetzt, der ursprünglichen Herkunft ihrer Musik trägt das Wort Post-Bop Rechnung. In unterschiedlicher Weise beziehen viele moderne Musiker die stilbildenden Elemente des Bop in ihre Kompositionen ein; der Tonfall der bop heads wird dabei immer wieder zitiert, die altvertraute Kompositionstechnik aber nur noch selten eingesetzt. Bedeutende Komponisten dieser Schule sind unter anderem Joe Henderson, Wayne Shorter und Woody Shaw.
=== Jazzrock ===
Der Jazzrock der 1970er Jahre wurde dominiert von elektrischen und elektronischen Instrumenten. Während in den früheren Jazzstilen die Bläser die im Wortsinne „tonangebenden“ Musiker gewesen waren, hatten sie in diesem neuen, von den Errungenschaften der Musiktechnologie faszinierten Kontext keinen leichten Stand. Am ehesten war es noch der von den Beboppern gesetzte, enorm hohe Standard ihrer instrumentaltechnischen Fähigkeiten, der Trompetern und Saxophonisten eine Nische in diesem Stil zu sichern vermochte. Auf einer Platte mit dem bezeichnenden Titel Heavy Metal Bebop (1975) präsentieren die Brüder Randy (Trompete) und Michael Brecker (Tenorsaxophon) eine Spielweise, welche den Achtelpuls des Bebop in die Sechzehntelnoten des Funk „übersetzt“.
Der Bezugspunkt solcher Melodien in der Popmusik sind selbstverständlich nicht mehr die Broadway-Komponisten, sondern die Größen des Soul und R&B wie James Brown und Sly Stone.
== Siehe auch ==
Bebop
Jazzstandard
== Quellen ==
== Literatur ==
Dizzy Gillespie (mit Al Frazer): To be or not to bop. Hannibal, Wien 1983, ISBN 3-85445-018-4
Ira Gitler: Jazz Masters of the Forties. Macmillan, New York 1966.
Ekkehard Jost: Sozialgeschichte des Jazz. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-86150-472-3
Christian Kowollik: Das Verhältnis von Improvisation und Komposition am Beispiel von Bebop Heads. Grin Verlag, München 2006, ISBN 978-3-638-84561-8
Arrigo Polillo: Jazz – Geschichte und Persönlichkeiten. Goldmann-Schott, Berlin/München 1987, ISBN 3-442-33041-6
David H. Rosenthal: Hard Bop. Jazz and Black Music 1955-1965. Oxford University Press, New York 1992, ISBN 0-19-508556-6
Ross Russell: Bird Lives: The High Life and Hard Times of Charlie „Yardbird“ Parker. Da Capo Press, New York 1996, ISBN 0-306-80679-7
Hans-Jürgen Schaal (Hrsg.): Jazz-Standards. Das Lexikon. 3., revidierte Auflage. Bärenreiter, Kassel u. a. 2004, ISBN 3-7618-1414-3.
A. B. Spellman: Four Lives in the Bebop Business. Limelight, New York 1985, ISBN 0-87910-042-7
Iron Werther: Bebop. Fischer TB, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-596-22997-9
== Weblinks ==
Übersicht über die gebräuchlichsten Jazz-Standards
Play-Alongs im Midi-Format
Text über den Bebop von www.jazzinstitut.de
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bebop_head
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Berlin-Charlottenburger Straßenbahn
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= Berlin-Charlottenburger Straßenbahn =
Die Berlin-Charlottenburger Straßenbahn (BCS) war ein privates Straßenbahnunternehmen im Großraum Berlin. Sie wurde 1865 als Berliner Pferde-Eisenbahn (BPfE) gegründet und 1894 anlässlich der bevorstehenden Elektrifizierung umbenannt. Die von ihr am 22. Juni 1865 eröffnete Linie zwischen dem Brandenburger Tor in Berlin und der bis 1920 selbstständigen Stadt Charlottenburg war die erste Straßenbahnlinie Deutschlands. Bis 1914 weitete die Gesellschaft ihr Netz vor allem innerhalb Charlottenburgs aus. Die Linien führten darüber hinaus bis in die Berliner Innenstadt, nach Spandau, Weißensee und Neukölln. Im Jahr 1900 erwarb die konkurrierende Große Berliner Straßenbahn drei Viertel der Anteile an der BCS und übernahm ab 1907 deren Verwaltung. Die vollständige Übernahme fand 1919 statt. Während der zentrale Abschnitt der ersten Strecke der Gesellschaft durch den Großen Tiergarten in den 1930er-Jahren dem Ausbau der Ost-West-Achse zum Opfer fiel, wurde der westliche Ast bis zur Stilllegung des West-Berliner Straßenbahnnetzes am 2. Oktober 1967 befahren. Ein ebenfalls 1865 eröffnetes Teilstück in der Dorotheenstraße ist als der älteste noch vorhandene Streckenabschnitt im Netz der Berliner Straßenbahn in Betrieb.
== Geschichte ==
=== Vorgeschichte und Eröffnung ===
Am 26. November 1832 ging mit der New York and Harlem Railroad die weltweit erste Straßenbahn in Betrieb. In Europa verbreitete sich das neue Verkehrsmittel ab 1854 zuerst in Paris. Den öffentlichen Nahverkehr in Berlin bewerkstelligten zu dieser Zeit eine Vielzahl an Fuhrunternehmern mit Droschken und Pferdeomnibussen. Das Berliner Polizeipräsidium wünschte daher eine „Centralisation des sämtlichen öffentlichen Fuhrwesens“, indem es die erforderlichen Konzessionen an einen einzelnen Unternehmer vergab. 1858 trat der französische Staatsrat Carteret mit dem Präsidium in Verbindung. Er schlug ein flächendeckendes Netz aus Pferdeomnibussen und -bahnen vor. Das Vorhaben scheiterte, da Carteret die erforderlichen Mittel nicht aufbringen konnte. Die ihm erteilten Konzessionen erloschen zum 1. Dezember 1859.
1863 traten der württembergische Ingenieur von Binger und der dänische Ingenieur Møller auf den Plan. Møller hatte 1862 die königliche Bewilligung für die Einrichtung einer Pferdebahnlinie in Kopenhagen erhalten, musste sein Vorhaben aber wieder fallen lassen. Zeitgleich stand er mit dem Hamburger Senat und dem Berliner Polizeipräsidium für zwei ähnliche Projekte in Verbindung. Der preußische Handelsminister von Itzenplitz stand Møllers Plänen einer Bahn von Berlin nach Charlottenburg nicht abgeneigt gegenüber. Auf Anraten der Behörden musste dieser jedoch die geplante Streckenführung durch das Brandenburger Tor und den Boulevard Unter den Linden aufgeben und stattdessen eine Streckenführung durch die Sommerstraße und Dorotheenstraße wählen. Hierfür war ein zusätzlicher Durchbruch durch die Berliner Zollmauer vonnöten. Der Endpunkt sollte sich Am Kupfergraben befinden. Am 23. März 1864 erteilte der Minister Møller die Konzession. Die Konzessionsdauer war auf Wunsch Møllers von fünf auf zehn Jahre ausgedehnt worden. Neben der Linie Kupfergraben – Charlottenburg war Møller die Einrichtung einer Zweiglinie vom Brandenburger Tor über das Kroll’sche Etablissement und die Ausflugsgaststätte In den Zelten zum Kleinen Stern und einer weiteren Linie vom Dönhoffplatz durch die Leipziger Straße und Potsdamer Straße nach Schöneberg gestattet worden.Zur Finanzierung der Bahn wurde die Übertragung der Konzession auf eine Gesellschaft zugelassen. Am 11. Mai 1864 gründete sich die Kommanditgesellschaft auf Aktien in Firma Berliner Pferdeeisenbahn-Gesellschaft E. Besckow, die sämtliche Rechte und Pflichten übernahm. Die Gebrüder Ernst und Wilhelm Besckow waren Fuhrunternehmer aus Berlin. Das Grundkapital sollte für beide Linien 510.000 Taler (1.530.000 Mark) betragen. Die Gesellschaft brachte jedoch nur das für die Charlottenburger Linie erforderliche Kapital von 280.000 Talern (840.000 Mark) zusammen, sodass der Bau der Schöneberger Linie zunächst unterblieb. Møller soll die Konzession dieser Linie zunächst behalten und sie 1872 an die Große Internationale Pferde-Eisenbahn-Gesellschaft übertragen haben.Neben der vom Polizeipräsidenten ausgestellten Konzessionsurkunde musste die Gesellschaft die straßenbaupolizeiliche Genehmigung zur Anlage von Pferdebahnen beantragen und die Zustimmung des Straßeneigentümers zur Benutzung einholen. Bis zum 31. Dezember 1875 oblag die erste Maßnahme ebenfalls dem Berliner Polizeipräsidium, für die Zustimmung war bis zum gleichen Zeitpunkt die Königliche Ministerial-Bau-Commission zuständig. Durch Kabinettsorder vom 28. Dezember 1875 unterstand die Straßenbaupolizei mit Jahresbeginn 1876 den Städten, ebenso gingen die meisten Straßen in das Eigentum der Städte über. Unberührt hiervon blieben diverse Landstraßen und die Straße Unter den Linden.Der Bau der Strecke begann im Januar 1865. Knapp einen Monat vor der Inbetriebnahme gab der Berliner Polizeipräsident eine Verordnung über den Betrieb der Pferdeeisenbahn heraus. Die 42 Paragraphen umfassende Vorschrift regelte unter anderem die Beschriftung der Wagen, Dienstkleidung und die Beförderungsbedingungen. Die Kutscher waren dazu angehalten, nicht schneller als im Trab zu fahren, vor Straßenkreuzungen war Schritt vorgeschrieben. Frauen war darüber hinaus das Betreten des Oberdecks untersagt, diese Regelung wurde erst im Vorfeld der Berliner Gewerbeausstellung 1896 aufgehoben. Gegenüber den Torwagen („Kremser“), die häufig nur bei voller Besetzung abfuhren, war den Kutschern das Auffordern von Passanten zur Mitfahrt untersagt. War die Weiterfahrt durch Hindernisse, die nicht augenblicklich beseitigt werden konnten, unterbrochen, sollten die Wagen aus den Schienen herausgehoben und die Stelle umfahren werden. Bei Fahrten in Kolonne sollten mindestens 60 Schritte, bei stehenden Wagen mindestens zehn Schritte Abstand gehalten werden, damit die Zugpferde die Wagen nicht anknabberten.Am 22. Juni 1865 ging der erste Abschnitt zwischen Brandenburger Tor und dem Straßenbahnhof in Charlottenburg in Betrieb. Zwei Monate darauf folgte am 28. August die Verlängerung der Bahn vom Brandenburger Tor zum Kupfergraben. Die Strecke war zunächst eingleisig mit acht Ausweichen angelegt. Der Streckenverlauf führte von der Dorotheenstraße über Sommerstraße, Charlottenburger Chaussee, Berliner Straße und Spandauer Berg zur Ecke Sophie-Charlotte-Straße. Ausweichmöglichkeiten gab es an den Endstellen sowie an der Kreuzung Dorotheenstraße Ecke Neue Wilhelmstraße, in der Sommerstraße, am Großen Stern, an der Grenze zu Charlottenburg, am Knie, am Wilhelmplatz und am Luisenplatz.Die 1865 ebenfalls genehmigte Zweigstrecke Zu den Zelten konnte 1866 oder 1872 eröffnet werden. Sie blieb wegen mangelnder Rentabilität nur bis 1874 oder 1875 in Betrieb.
=== Ausbau des Streckennetzes ===
Trotz des anfangs hohen Fahrpreises von zweieinhalb Silbergroschen (25 [Reichs-]Pfennig; 1901 kostete die gleiche Fahrt 10 Pfennig) erwies sich die Bahn als Erfolg. Im ersten vollen Betriebsjahr 1866 transportierte sie rund 960.000 Fahrgäste; wobei eine außerordentliche Belastung im Ausflugsverkehr in die damals noch als Sommerfrische geltende Stadt Charlottenburg zu beobachten war. Während im Januar 1866 46.560 Fahrgäste die Pferdebahn nutzten, waren es im August desselben Jahres 165.230. Der Schriftsteller Hans Wachenhusen schilderte eine solche Ausflugsfahrt während der ersten Betriebsjahre. Am Kupfergraben waren an solchen Tagen mehrere Hundert Menschen an der Haltestelle zu beobachten, ein Zustieg entlang der Strecke war nahezu unmöglich. Zeitungen berichteten, dass die für 45–50 Personen zugelassenen Wagen teilweise bis zu 93 Fahrgäste aufnehmen mussten. Da dadurch wiederum der Fahrplan nur bedingt einzuhalten war, ergab sich kaum eine Zeitersparnis gegenüber den Fußgängern auf gleicher Strecke. Die Satireschrift Kladderadatsch nahm diese Umstände zum Anlass ein „Reglement zur Benutzung der Berliner Pferdebahn“ herauszugeben, in dem beispielsweise für Fußgänger, die Pferdebahnwagen überholten, eine Übereilungsstrafe von fünf Silbergroschen vorgesehen war.Im Jahr 1871 ließ die Terrain-Gesellschaft Westend H. Quistorp & Co. auf eigene Kosten eine eingleisige Strecke vom Pferdebahnhof in die Villenkolonie Westend anlegen. Die Betriebsführung übertrug sie der BPfE. Die Strecke war 1,4 Kilometer lang und wies auf einer Länge von 620 Metern eine Steigung von 33,3 Promille auf. Die Bedienung erfolgte mit einer Pendellinie ab dem Pferdebahnhof, da die auf der Hauptlinie eingesetzten zweispännigen Decksitzwagen außerstande waren, die Steigung zu bewältigen. Im gleichen Jahr gründete sich die Große Berliner Pferde-Eisenbahn-Aktien-Gesellschaft (GBPfE), die beginnend ab 1873 mehrere Strecken von Berlin in die Vororte eröffnete.Nach Ablauf der ersten Konzession firmierte das Unternehmen ab 1875 unter dem Namen Berliner Pferde-Eisenbahn-Gesellschaft, Kommandit-Gesellschaft auf Aktien J. Lestmann & Co. Im gleichen Jahr ging eine Zweigstrecke vom Großen Stern über Fasanerieallee und Corneliusbrücke zum Haupteingang des Zoologischen Gartens in Betrieb. Die Hauptstrecke erhielt durchgehend ein zweites Streckengleis. Es folgten weitere Strecken von Westend zum Spandauer Bock (1879), vom Knie über die Hardenbergstraße zum Zoologischen Garten (1880), über die Rankestraße zum Joachimsthalschen Gymnasium (1881), vom Kurfürstendamm zum Lützowplatz (1885), vom Wilhelmplatz über die Wilmersdorfer Straße zum Stadtbahnhof (1887) sowie vom Knie über Marchstraße, Gotzkowskybrücke und Alt-Moabit nach Moabit, Paulstraße (1890). Mit der Stadt Berlin schloss das Unternehmen am 7. Mai 1881 einen neuen Zustimmungsvertrag bis zum 31. Dezember 1909 ab, der unter anderem die Genehmigung zur Anlage neuer Linien enthielt.
=== Häufiger Traktionswechsel ===
Der Betrieb als Pferdebahn zeigte schnell die Grenzen dieser Traktionsart auf. Um die Leistungsfähigkeit zu erhöhen, experimentierte die BPfE mehrfach mit unterschiedlichen Antriebsmöglichkeiten. Ab dem 20. April 1878 setzte die BPfE auf der Strecke Brandenburger Tor – Pferdebahnhof zwei Kastendampflokomotiven von Wöhlert und Krauss ein. Als Beiwagen dienten Pferdebahnwagen. Der Versuch mit Dampfstraßenbahnen lief parallel zu den Pferdebahnen bis zur Einstellung am 11. August 1878. Neben der Rauchbelästigung stellte sich heraus, dass der Ober- und Unterbau zu schwach für die Lokomotiven ausgelegt waren. 1881/82 startete die Bahn einen zweiten erfolglosen Versuch mit Rowan’schen Dampftriebwagen.Nach der Eröffnung der ersten elektrischen Straßenbahn der Welt im Mai 1881 suchte Siemens & Halske nach einer geeigneten Strecke, um den elektrischen Antrieb weiter erproben zu können. Die zweieinhalb Kilometer lange Strecke vom Pferdebahnhof über Westend zum Spandauer Bock bot mit ihrer für Berliner Verhältnisse starken Steigung ein optimales Versuchsfeld. Am 1. Mai 1882 begann der Versuchsbetrieb mit den umgerüsteten Wagen 36 und 38. Parallel zur Strecke waren in einer Höhe von vier bis fünf Metern zwei voneinander isolierte Kupferdrähte gespannt. Auf diesen lief ein mit Motor versehener zwei- beziehungsweise vierrädriger Kontaktwagen. Über ein biegsames Kabel war der Kontaktwagen mit den Triebwagen und den Fahrmotoren verbunden. Da die Fahrleitung nur einspurig verlegt war, mussten die Triebwagen an den Begegnungspunkten vom Kontaktwagen getrennt und mit dem jeweils anderen Kontaktwagen wieder verbunden werden. Das System bewährte sich nicht, sodass Siemens & Halske ab Ende 1882 die Fahrleitung durch eine Schlitzrohrfahrleitung ersetzte. Als Stromabnehmer dienten nun in die Fahrleitung eingelassene Schlitten, die die Triebwagen während der Fahrt hinter sich her zogen. Die Betriebsspannung lag bei 180 Volt Gleichstrom, die Triebwagen erreichten in der Ebene eine Geschwindigkeit von 20 km/h, in der Steigung 10–12 km/h. Im Mai 1883 wurde der Versuchsbetrieb wieder eingestellt. Im August 1886 führte die BPfE probeweise Fahrten mit einem Akkumulatortriebwagen auf der Linie Pferdebahnhof – Lützowplatz durch. Nach mehreren Entgleisungen war der Triebwagen derart beschädigt, dass der Versuch eingestellt werden musste.
=== Umbenennung und Elektrifizierung ===
1892 schlug Siemens & Halske dem Charlottenburger Magistrat die Einrichtung einer elektrischen Straßenbahnlinie im Verlauf der ersten Linie von 1865 vor. Hintergrund war die zum 30. Juni 1895 auslaufende Konzession. Da der Magistrat dem Vorhaben wohlwollend gegenüberstand, sah sich die BPfE dazu veranlasst, Siemens & Halske mit der Elektrifizierung des Streckennetzes zu beauftragen, um die Konzessionen weiterhin zu erhalten. Am 6. Januar 1893 unterzeichneten beide Seiten den entsprechenden Vertrag. Im Hinblick auf die bevorstehende Elektrifizierung änderte das Unternehmen am 26. September 1894 seinen Firmennamen in Berlin-Charlottenburger Straßenbahn AG.Ab 1896 begannen erneut Testfahrten mit Akkumulatortriebwagen. Da mehrere Institute und Behörden Bedenken äußerten, entschied sich das Unternehmen zur vollständigen Einführung des Akkumulatorbetriebes. Die Behörden wollten eine Verunzierung des Straßenbildes durch die Fahrdrähte verhindern, außerdem fürchtete die Physikalisch-Technische Reichsanstalt eine Verfälschung ihrer Messergebnisse durch „vagabundierende Ströme“. Parallel dazu fanden Fahrten mit einem Gasmotortriebwagen der Deutschen Gasbahngesellschaft statt; das Fahrzeug war später bei der Hirschberger Thalbahn im Einsatz.Die offizielle Umstellung auf elektrischen Akkumulatorbetrieb begann am 3. August 1897 auf dem Streckenabschnitt Brandenburger Tor – Pferdebahnhof. Einen Monat später war die komplette Linie bis Kupfergraben umgestellt. Ende November schloss die BCS mit der Stadt Charlottenburg einen neuen Zustimmungsvertrag mit Gültigkeit bis zum 30. September 1937 ab, in dem die Stadt die Einrichtung weiterer Linien zusagte. Die BCS verpflichtete sich gleichzeitig zur Einführung eines 10-Pfennig-Einheitstarifes innerhalb der Gemeinde. Mit der Gemeinde Deutsch-Wilmersdorf kam ein ähnlicher Vertrag zustande. Noch während der Umstellungsphase zeigten sich die Nachteile des Akkumulatorbetriebs auf. Neben der geringen Reichweite und der hohen Störanfälligkeit fühlten sich die Fahrgäste durch die Säuredämpfe belästigt. Daher beantragte das Unternehmen 1898 die Umrüstung auf Oberleitungsbetrieb mit Schleifbügel. Die ersten Linien konnten am 1. Januar 1899 umgestellt werden. Auf einigen Streckenabschnitten, so in einem Radius von einem Kilometer um die Physikalisch-Technische Reichsanstalt und am Brandenburger Tor, war hingegen weiterhin keine Oberleitung gestattet.Einhergehend mit der Elektrifizierung eröffnete die BCS weitere Streckenabschnitte und baute die bestehenden Strecken zweigleisig aus. Die 1880 in der Hardenbergstraße angelegte Strecke erhielt 1898 das zweite Gleis. Im August 1899 ging die Strecke von der Spandauer Straße über Schloßstraße, Suarezstraße, Amtsgerichtsplatz und Leonhardstraße zum Stadtbahnhof in Betrieb, im gleichen Monat war die Strecke durch die Wilmersdorfer Straße elektrifiziert. Ab dem 28. Oktober 1899 fuhr die Straßenbahn durch die Bismarckstraße, Grolmannstraße und Knesebeckstraße bis zum Kurfürstendamm. Ab dem 30. Mai 1900 war die Bismarckstraße zwischen Knie und der Schloßstraße am Sophie-Charlotte-Platz durchgängig befahrbar.
=== Übernahme durch die Große Berliner Straßenbahn ===
Am 9. März 1900 kam zwischen der BCS und der Stadt Berlin ein neuer Zustimmungsvertrag mit Gültigkeit bis zum 31. Dezember 1919 zustande. Im gleichen Jahr erwarb die Große Berliner Straßenbahn (GBS, ehemals GBPfE) drei Viertel des Aktien- und Obligationskapitals, womit die formelle Selbstständigkeit der Bahn aufhörte. Die Verwaltung übernahm die GBS. Im Gegenzug ergab sich für die BCS die Möglichkeit, ihre Linien über die Strecken der GBS und deren Tochtergesellschaften Westliche Berliner Vorortbahn (WBV) und Südliche Berliner Vorortbahn (SBV) auszudehnen. Hierzu war die Umrüstung der Oberleitung und Triebwagen von Schleifbügel auf Rollenstromabnehmer vonnöten. Am 16. Juni 1900 erhielt die Bahn vom Berliner Polizeipräsidium eine neue Konzession bis zum 31. Dezember 1949. Der Inhalt deckte sich weitestgehend mit der Konzession für die GBS. Da Konzession und Zustimmungsvertrag unterschiedliche Laufzeiten aufwiesen, kam es in der Folge zu Differenzen und Rechtsstreitigkeiten zwischen der GBS und ihren Tochtergesellschaften auf der einen und dem Berliner Magistrat auf der anderen Seite. Der Magistrat beschloss daraufhin die Einrichtung eines städtischen Straßenbahnbetriebes.Die Aufsichtsbehörde erließ am 26. September 1900 eine Anordnung, die die Umstellung der verbliebenen, mit Akkumulatortriebwagen betriebenen, Strecken auf Oberleitungsbetrieb vorschrieb. Auf der Charlottenburger Chaussee westlich der Ecke Siegesallee bis zum Brandenburger Tor und weiter durch die Sommerstraße sowie vor dem Schloss Charlottenburg war aus ästhetischen Gründen eine Unterleitung vorgeschrieben. In Höhe der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt wurde hingegen eine zweipolige Oberleitung gespannt, um einen Rückstrom durch die Fahrschienen zu vermeiden. Im Februar 1901 verkehrte die letzte Pferdebahnlinie, der Akkumulatorbetrieb endete im Folgejahr. Der Unterleitungsbetrieb stellte sich ebenfalls als störanfällig heraus, da die Kabelkanäle in der kalten Jahreszeit oft mit Laub und Schneematsch verstopft waren. Die letzten Unterleitungsabschnitte wurden daher 1906/07 auf Oberleitung umgerüstet. 1902 verpflichtete sich die Straßenbahngesellschaft, für die vollständige oder teilweise Verlegung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt 100.000 Mark aufzubringen. Zwischen 1911 und 1913 wurde auf dem Telegrafenberg bei Potsdam ein Gebäude für magnetische Messungen errichtet, zu dem die Straßenbahngesellschaft den versprochenen Beitrag leistete.Am 6. Mai 1902 führten die GBS und ihre Tochtergesellschaften zur Kennzeichnung ihrer Linien-Nummern und Buchstaben ein. Diese ersetzten die zuvor an den Wagen angebrachten farbigen Signallaternen; bei der BCS waren diese spätestens mit dem Übergang zur GBS eingeführt worden. Für die Linien der GBS waren ein- bis dreistellige Zahlen vorgesehen, die Linien der WBV erhielten die Buchstaben A bis M zugeordnet, die Linien der BCS die Buchstaben N bis Z. Die Umstellung zog sich bis Dezember 1902 hin.
Im September 1905 legte die GBS zwei Projekte für Straßenbahntunnel vor, die den Ost-West-Verkehr bündeln und die viel befahrene Leipziger Straße entlasten sollten. Ein Nordtunnel sollte vom Kleinen Stern entlang der Straße Unter den Linden bis zum Opernplatz führen und die entlang der Dorotheenstraße fahrenden Linien aufnehmen. Am Brandenburger Tor und am Opernplatz waren Gleisschleifen vorgesehen, um auch den Nord-Süd-Verkehr aufzunehmen. Da die Pläne vielfach ob ihrer mangelhaften Ausführung kritisiert wurden, kam es zu keiner Realisierung. Lediglich eine Nord-Süd-Verbindung in Höhe des Opernplatzes, den Lindentunnel, errichtete die Stadt Berlin 1914 bis 1916 in Eigenregie.Die BCS erweiterte ihr Streckennetz in Charlottenburg und Deutsch-Wilmersdorf zwischen 1901 und 1914 um weitere Verbindungen. 1901 ging die Verbindung vom Stadtbahnhof zum Kurfürstendamm in Betrieb. Es folgten Strecken durch die Wilmersdorfer Straße und Brandenburgische Straße zum Fehrbelliner Platz und in Deutsch-Wilmersdorf von der Wilhelmsaue zur Prinzregentenstraße (1902), in der Leibnizstraße und Alt-Moabit westlich der Gotzkowskybrücke (1905), in der Ringbahnstraße in Halensee sowie in der Kaiser-Friedrich-Straße (1912). Außerhalb des Kernnetzes befuhren die Züge ab 1902 durch die Prinz-Albrecht-Straße und Zimmerstraße in der Berliner Friedrichstadt. Zwischen 1911 und 1914 ging zudem eine Verbindung in Weißensee von der Weißenseer Spitze zur Rennbahnstraße in Betrieb. Den Abschluss bildete die Strecke durch den Kaiserdamm vom Sophie-Charlotte-Platz zum Bahnhof Heerstraße am 30. Juni 1914.
Westlich von Charlottenburg entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Nonnenwiesen die Siemensstadt. Da diese noch unzureichend erschlossen war, traten die Unternehmen Siemens & Halske und Siemens-Schuckertwerke in Verhandlungen mit der BCS und der Stadt Charlottenburg ein. Die Stadt erklärte sich bereit, eine Straße zur Grenze nach Siemensstadt anzulegen, die BCS errichtete parallel dazu eine 1,9 Kilometer lange Straßenbahnstrecke vom Landgericht am Gustav-Adolf-Platz über Bahnhof Jungfernheide zur Gemarkungsgrenze. Auf dieser verkehrte ab dem 1. Dezember 1913 eine Pendellinie V. Nach drei Monaten wurde die Linie am 1. Februar 1914 zugunsten der verlängerten Linie 164 der GBS eingestellt. Diese verkehrte ab dem 9. Juni 1914 über die Gemarkungsgrenze hinaus in die Siemensstadt.Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es ab dem 3. August 1914 zu Einschränkungen im Linienverkehr. Die 1875 angelegte Strecke vom Großen Stern zum Kurfürstendamm wurde ab dem 15. November 1916 nicht mehr bedient. Der Endpunkt in der Dorotheenstraße wurde am 24. Dezember 1915 direkt in die Straße Am Kupfergraben verlegt. Der Zeitraum dazwischen markiert den größten Ausbauzustand, die Streckennetzlänge betrug 39,62 Kilometer zweigleisige Strecken bei einer Gesamtgleislänge von 87,72 Kilometer.Da sich im westlich benachbarten Spandau mehrere kriegswichtige Betriebe befanden (u. a. die Siemenswerke und die Armee-Konservenfabrik), veranlasste das Militär die Verknüpfung des Charlottenburger mit dem Spandauer Straßenbahnnetz. Die Spandauer Linien fuhren seit 1906 zum Spandauer Bock und seit 1908 in die Siemensstadt, eine Gleisverbindung zwischen beiden Netzen bestand trotz gleicher Spurweite und Oberleitungsbauart nicht. Am Spandauer Bock verhinderte zudem eine Anhöhe die Gleisverbindung. Nach Abtragung dieser konnten ab dem 13. Mai 1917 die Linien über den Spandauer Bock hinaus zur Triftstraße in Spandau verkehren. Ab dem 21. Januar 1918 waren beide Netze in Siemensstadt miteinander verbunden.Am 28. Mai 1918 kam es zwischen der GBS und ihren Tochtergesellschaften und dem Verband Groß-Berlin zum Abschluss eines neuen Zustimmungsvertrages bis Ende 1949. Der Vertrag enthielt die Option zur Verschmelzung der GBS mit ihren Tochtergesellschaften, welche der Zweckverband am 3. März 1919 genehmigte. Die Übernahme der Berlin-Charlottenburger Straßenbahn und ferner der Westlichen, Südlichen und Nordöstlichen Berliner Vorortbahn durch die Große Berliner Straßenbahn wurde am 15. Mai 1919 vollzogen. Die BCS hörte damit auf zu bestehen. Zwei Monate später erwarb der Verband Groß-Berlin die Große Berliner Straßenbahn und wandelte diese am 20. September 1919 in ein kommunales Unternehmen um. Durch den Zusammenschluss der GBS mit der Berliner Elektrischen Straßenbahn und den Straßenbahnen der Stadt Berlin entstand am 13. Dezember 1920 die Berliner Straßenbahn (BSt), aus der 1923 die Berliner Straßenbahn-Betriebs-Gesellschaft und 1928/29 die Berliner Verkehrs-Gesellschaft (BVG) hervorgingen.
=== Weitere Entwicklung nach 1919 ===
Nach dem Zusammenschluss strukturierte die Berliner Straßenbahn das Liniennetz neu und vergab einheitliche Liniennummern. Da es durch die Hyperinflation Anfang der 1920er-Jahre zu mehrfachen Linienänderungen und -einstellungen kam, ist ein Vergleich zwischen den einzelnen Linien für diese Zeit nicht möglich. In dieser Zeit kommt es zu Streckeneinstellungen im nördlichen Kurfürstendamm und der Wichmannstraße sowie in der Rankestraße. Am 1. November 1934 wurde die Straßenbahnstrecke durch die Charlottenburger Chaussee und Berliner Straße zwischen Brandenburger Tor und Knie für den Ausbau des Straßenzuges zur Ost-West-Achse stillgelegt. Die daran anschließende Strecke durch die Bismarckstraße und den Kaiserdamm bis zum Adolf-Hitler-Platz folgte drei Jahre darauf am 1. November 1937.Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mehrere Streckenabschnitte nicht wieder in Betrieb genommen, unter anderem in Moabit, zwischen Amtsgerichtsplatz und Halensee sowie in Weißensee. Die nach 1948 in West-Berlin gelegenen Strecken legte die BVG ab 1954 kontinuierlich still. Der letzte Abschnitt vom Bahnhof Zoo über Ernst-Reuter-Platz und Luisenplatz und die daran anschließende Strecke entlang des Spandauer Damms bis zur Königin-Elisabeth-Straße wurden am 2. Oktober 1967 eingestellt. Das Datum markiert gleichzeitig das Ende der Straßenbahn in den Westsektoren der Stadt. Den im Ostsektor gelegene Abschnitt in der Ebertstraße und Clara-Zetkin-Straße westlich der Planckstraße nutzten die Straßenbahnzüge bis zum Bau der Berliner Mauer als Wendedreieck. Der verbliebene Rest bis zum Kupfergraben ist nach wie vor in Betrieb.
== Unternehmen ==
=== Betriebsergebnisse ===
Die Berliner Pferde-Eisenbahn erzielte bis 1882 befriedigende, teilweise sogar überragende Ergebnisse; 1872 betrug die Dividende beispielsweise 24 Prozent. Diese Entwicklung verschlechterte sich durch die Inbetriebnahme der Stadtbahn vom Schlesischen Bahnhof zum Bahnhof Charlottenburg schlagartig. Die Eröffnung der Haltestelle Tiergarten in Höhe der Charlottenburger Chaussee verschärfte die Situation zusätzlich. Für Fahrten zwischen der Berliner Innenstadt und dem Kurfürstendamm nutzten die Fahrgäste vorzugsweise die Linien der GBPfE über Potsdamer Platz und Lützowplatz. Durch die bis 1890 eröffneten Linien ließen sich zwar die Fahrgastzahlen steigern, diese standen jedoch in keinem Verhältnis zu den Betriebsausgaben. Die Linien dienten überwiegend dem Charlottenburger Binnenverkehr, der im Verhältnis zu den Verkehrsströmen von und nach Berlin sehr gering ausgeprägt war. Eine Ausdehnung des Netzes nach Berlin war durch die Konkurrenz der GBPfE nicht möglich, da diese alle wichtigen Einfallstraßen mit ihren Gleisen belegte.Im Rahmen der Netzelektrifizierung schloss die Berlin-Charlottenburger Straßenbahn nach Erteilung der Konzession neue Zustimmungsverträge mit den Städten Berlin, Charlottenburg und Wilmersdorf. Der darin vereinbarte Einheitstarif für Charlottenburg, später auch für Berlin, ließ die Bilanz weiter schrumpfen. Die Übernahme durch die GBS änderte zunächst nur wenig an der Bilanz. Durch die Übernahme der Verwaltung, ab 1907 auch des Personals, und die Ausweitung der Linien auf das Verkehrsgebiet der GBS konnte das Ergebnis bis 1911 langsam verbessert werden. Die Fahrgastzahlen stiegen von 1902 bis 1911 auf mehr als das Doppelte an. 1911 schüttete das Unternehmen eine erstmals nach 1906 wieder eine Dividende von 2,5 Prozent aus.Im Jahr 1911 betrug das Aktienkapital der Gesellschaft 6.048.000 Mark, das Obligationskapital betrug 5.496.500 Mark mit Tilgung bis 1949. Die Verlustrücklagen lagen bei 14.889,44 Mark. Der Amortisationsfonds, also der Abschreibungswert von Bahnkörper, Gebäude und Wagen, betrug im gleichen Jahr 724.446,91 Mark. Die beiden Instandhaltungsrücklagen beliefen sich auf zusammen 308.432,09 Mark.
=== Tarif ===
Über die Tarife und Fahrpreise der Gesellschaft in der Anfangszeit liegen nur wenige Informationen vor. Auf der Linie vom Kupfergraben nach Charlottenburg galt zunächst ein entfernungsbasierter Tarif. Als Grundlage diente der Fahrpreis einer Eisenbahnfahrt 3. Klasse. Eine einmalige Fahrt über die gesamte Distanz kostete zweieinhalb Silbergroschen (25 [Reichs-]Pfennig), die Teilstrecke Kupfergraben – Brandenburger Tor kostete einen Silbergroschen (10 [Reichs-]Pfennig). Eine Jahreskarte kostete 50 Taler (150 Mark).Durch den mit der Stadt Charlottenburg abgeschlossenen Zustimmungsvertrag verpflichtete sich das Unternehmen zur Einführung eines 10-Pfennig-Einheitstarifs auf Charlottenburger Gebiet zum 1. Dezember 1897. Am 1. Januar 1901 wurde der 10-Pfennig-Einheitstarif auf den Linien der GBS und ihrer Tochtergesellschaften eingeführt. Er galt für Fahrten innerhalb des jeweiligen städtischen Weichbildes und darüber hinaus bis zum Endpunkt der zu benutzenden Linie. Innerhalb der Stadtgemeinden Charlottenburg und Deutsch-Wilmersdorf galt für die Linien der BCS zudem ein Umsteigetarif zu 10 und 15 Pfennig. Für Fahrten zwischen den Verkehrsgebieten, also den Streckennetzen der einzelnen Gesellschaften, erhoben diese bei Bedarf einen gestaffelten Fahrpreis von bis zu 20 Pfennig mit Teilstreckentarifen zu 15 und 10 Pfennig. Er fand auf den Linien O, P, Q, R, S und W Anwendung, während auf den Linien N, T und U der Binnentarif von 10 Pfennig galt.Mit der Einführung des Einheitstarifs gaben die GBS und ihre Tochtergesellschaften linienbezogene Zeitkarten aus. Diese waren auf eine oder mehrere Linien ausgestellt, berechtigten aber zur Benutzung aller in der betroffenen Relation verkehrenden Linien. Der Fahrpreis betrug für eine Linie sechs Mark, für jede weitere Linie zwei Mark zusätzlich, höchstens jedoch insgesamt 15 Mark. Nach einer ersten Preiserhöhung im Jahr 1904 betrug der Preis für eine Linie sieben Mark, für zwei Linien zehn Mark, für drei Linien 13 Mark und für das gesamte Liniennetz 15 Mark. Eine Monatskarte für das Verkehrsgebiet aller Gesellschaften kostete 30 Mark. Durch die Einführung der Fahrkartensteuer erhöhten sich die Tarife 1906 nochmals geringfügig. Für den Binnenverkehr in Charlottenburg gab die Gesellschaft bis Ende 1910 zusätzliche Monatskarten zu drei Mark für eine und je eine Mark zusätzlich für jede weitere Linie aus. Zum Vergleich: 1909 betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Angestellten der GBS (Fahrer oder Schaffner) 1400 Mark (≈ 9333 Euro).Schülerzeitkarten für Schüler unter 16 Jahren kosteten drei Mark pro Monat und berechtigten zur Benutzung von zwei Linien für Fahrten zwischen Wohnung und Schule, Sportverein oder Nachhilfeunterricht. Für jede weitere zu benutzende Linie war ein Aufschlag von je einer Mark fällig. Arbeiterwochenkarten gab die Gesellschaft nicht aus. Kinder unter sechs Jahren fuhren umsonst mit, sofern diese keinen separaten Platz für sich beanspruchten Für zwei Kinder unter sechs Jahren war der Fahrpreis für eine Person zu entrichten. Die Mitnahme von Schoß- oder Jagdhunden – letztere waren nur auf besonderen Strecken gestattet – kostete zehn Pfennig.
Fahrscheinmuster der Berlin-Charlottenburger Straßenbahn
== Fahrbetrieb ==
=== Fahrzeuge ===
Die BPfE verzeichnete im Eröffnungsjahr 18 Pferdebahnwagen und 130 Pferde in ihrem Bestand. Die Wagen 1–6 und 17 waren zweispännige Decksitzwagen, Wagen 7–10 waren normale Zweispänner, die übrigen Wagen waren Einspänner. Wagen 11–13 waren zudem mit einem Salon ausgestattet. 1886/87 folgte der Umbau aller Wagen zu Decksitzwagen. Mit dem weiteren Ausbau des Netzes beschaffte die BPfE weitere Wagen bei verschiedenen Herstellern. Ab 1892 setzte die BPfE speziell für den Ausflugsverkehr Sommerwagen mit offenen Seitenwänden ein. Bis 1895 stieg der Bestand auf 101 Wagen an, davon zehn offene Einspänner (Sommerwagen), zehn geschlossene Zweispänner, 47 geschlossene Einspänner und 34 Decksitzwagen. Einen Teil der Wagen verwendete die Gesellschaft nach dem Beschluss zur Elektrifizierung als Beiwagen weiter. Die Decksitzwagen ließ sie zu Eindeckern umbauen. Die Sommerwagen wurden während des Ersten Weltkrieges verschlossen, sodass ein ganzjähriger Einsatz erfolgen konnte. Die letzten Pferdebahnwagen musterte die Berliner Straßenbahn in den 1920er-Jahren aus.Für den elektrischen Versuchsbetrieb der Jahre 1882/83 wurden die Einspänner 36 und 38 herangezogen. Die Verbindungskabel zwischen den Stromabnehmern und den Wagen waren an einem Wagenende angebracht. Die Wagen wurden nach dem Ende des Versuchsbetriebs wieder zurückgebaut. Nach der flächendeckenden Elektrifizierung mit Oberleitung waren die beiden Fahrzeuge wieder als Triebwagen im Einsatz bis zu ihrer Ausmusterung 1920.Der Akkumulatorbetrieb umfasste 34 Triebwagen, die die Gesellschaft in den Jahren 1895 bis 1897 beschaffte. Vier Triebwagen (Tw 24II, 32II, 133, 134) entstanden aus ehemaligen Pferdebahnwagen. Bei zwei weiteren Triebwagen (Tw 290 und 150) handelte es sich um Einzelexemplare. Triebwagen 150 erhielt später die Nummer 291. Nach der Umstellung auf Oberleitungsbetrieb wurden die Triebwagen umgerüstet und die ehemaligen Pferdebahnwagen zu Beiwagen umgebaut oder ausgemustert.
Die verbliebenen Triebwagen waren in einer 29 Fahrzeuge umfassenden Serie zusammengefasst. Sie hatten zwei zweiachsige Drehgestelle und sieben Seitenfenster in der Anordnung breit–schmal–breit–schmal–breit–schmal–breit. Die Verwendung von Drehgestellen begründete sich in dem hohen Eigengewicht der Akkumulatoren. 1899 wurden die Fahrzeuge mit jeweils zwei Bügelstromabnehmern ausgestattet, 1901 folgte die Umstellung auf Rollenstromabnehmer, im darauffolgenden Jahr der Ausbau der Akkumulatoren. Stattdessen waren die Wagen nun mit einem Kontaktschuh für den Unterleitungsbetrieb ausgestattet. Zwischen 1905 und 1907 erhielten elf Triebwagen nach einem Umbau Maximum-Drehgestelle und vergrößerte Einstiegsplattformen. Die übrigen 18 Triebwagen baute die BCS 1913 um. Sie erhielten zusätzlich neue Wagenkästen mit zehn Seitenfenstern. Triebwagen 221 musste nach einem Unfall ausgemustert werden, die übrigen Fahrzeuge gingen 1920 in den Bestand der BSt über. Die 1905/07 umgebauten Triebwagen musterte die Berliner Straßenbahn bis 1929 aus. Von den 1913 umgebauten Triebwagen wurden 1925 wiederum fünf Triebwagen mit geschlossenen Plattformen der Berliner Einheitsbauform ausgestattet. Während die offenen Wagen bis 1936 verkehrten, waren von den fünf Umbauwagen (ab 1934 als Typ TD beziehungsweise TD 07/25) drei nach dem Zweiten Weltkrieg noch vorhanden. Die BVG-West musterte ihre zwei Triebwagen 1955 aus, den in Ost-Berlin verbliebenen Triebwagen bezog die BVG-Ost 1969 in das Reko-Programm ein.Der elektrische Mischbetrieb mit Oberleitung und Akkumulatoren erforderte die Bestellung weiterer Fahrzeuge. Die BCS bestellte 1898 bei der Dessauer Waggonfabrik 60 zweiachsige Triebwagen. Die Stromentnahme sollte nach dem Siemens’schen System über Schleifbügel erfolgen. Die Auslieferung zog sich vom 1. August 1899 bis zum 1. Oktober 1901 hin. Für den elektrischen Teil der Ausrüstung waren vermutlich die Akkumulatorenfabrik Berlin-Hagen sowie Siemens & Halske verantwortlich. Die Wagenkästen ruhten zunächst auf Pressblechfahrgestellen. 1902 wurden die Akkumulatoren ausgebaut. Da die Physikalisch-Technische Reichsanstalt eine Beeinflussung durch Kriechströme befürchtete, wurde in der Marchstraße eine zweite Oberleitung als Rückleiter gespannt. Zunächst erhielten 15 Triebwagen hierzu zwei weitere Rollenstromabnehmer, die im Gegensatz zum ersten nicht drehbar waren. Mit der Ausweitung des Verkehrs rüstete die BCS weitere Fahrzeuge um. Die doppelte Fahrleitung war auf einer Länge von 1,19 Kilometern bis in den Ersten Weltkrieg hinein gespannt. Neben dieser Maßnahme erfuhren die Triebwagen weitere umfangreiche Umbauten. 1902 folgte zusätzlich die Umrüstung auf Rollenstromabnehmer und der Austausch der Fahrschalter durch Modelle der Union-Elektricitäts-Gesellschaft. Die alten 12-PS-Fahrmotoren ersetzte man durch 15-PS-Motoren. Weitere Maßnahmen betrafen die Umstellung der Kupplung von Trompeten- auf Trichterkupplung oder die Anpassung der Lackierung an das Farbschema der GBS mit tannengrünen Seitenwänden. 1903 erhielten die Wagen zudem neue Fahrgestelle der Bauart Neu-Berolina. Die Wagen waren nach dem Zusammenschluss zur Berliner Straßenbahn bis in die 1920er-Jahre im Fahrgasteinsatz anzutreffen. Ein Teil der Wagen diente danach als Arbeitswagen.Ebenfalls 1902 beschaffte die BCS noch 15 Berolina-Triebwagen. Die Fahrzeuge glichen den Berolina-Triebwagen der GBS. Die Fahrzeuge wurden 1920 von der Berliner Straßenbahn übernommen bis 1929 ausgemustert. Ein Triebwagen diente nach der Ausmusterung noch als Hilfsgerätewagen H11.
Der Pferdebahnwagen 1 aus dem Eröffnungsjahr 1865 ist als historisches Fahrzeug erhalten. Der Wagen wurde seit 1993 in der Monumentenhalle des Deutschen Technikmuseums Berlin aufbewahrt und ist das älteste vorhandene Straßenbahnfahrzeug Europas. Im Juni 2023 wurde der Wagen in die historischen Lokschuppen des Museums gebracht. Er soll dort Teil der neuen Dauerausstellung Schienenverkehr werden. Der Beiwagen 147 wurde zuletzt unter der Nummer 1688 im Zustand der 1930er-Jahre präsentiert. Das Fahrzeug wurde 2016 verschrottet.Die nachfolgende Tabelle bietet eine Übersicht über die bei der Berliner Pferde-Eisenbahn und Berlin-Charlottenburger Straßenbahn eingesetzten Fahrzeuge. Die Sortierung erfolgt numerisch nach der Wagennummer. Da das Unternehmen einen Großteil der Pferdebahnwagen nach der Elektrifizierung um die Jahrhundertwende ausmusterte, sind in der zweiten Spalte nur die Wagennummern berücksichtigt, die für den elektrischen Betrieb umgerüstet wurden. Geklammerte Nummern verweisen darauf, dass ein Pferdebahnwagen oder Beiwagen als Triebwagen genutzt wurde oder umgekehrt. Umnummerierungen, die nach 1920 stattgefunden haben, sind nicht berücksichtigt, Ausnahme sind die Nummern der bekannten Arbeitswagen. Fahrzeuge, die nur vorübergehend auf dem Netz verkehrten, etwa während der ersten Versuche mit Dampf- oder Akkumulatortriebwagen, sind nicht aufgeführt.
=== Betriebshöfe ===
==== Betriebshof Charlottenburg ====
Der erste Betriebshof der BPfE befand sich am westlichen Streckenende an der Spandauer Straße 13/14, Ecke Sophie-Charlotten-Straße. Der Hof ging zeitgleich mit der Strecke 1865 in Betrieb. Die hölzerne, von einem Satteldach gedeckte Wagenhalle, maß 95 Meter in der Länge, der Stall fasste 128 Pferde. Hinzu kamen ein in Holzfachwerk errichtetes Wohnhaus, eine Wartehalle und eine Fahrkartenausgabe. 1871 wurde der Hof um einen zweigeschossigen Verwaltungsbau ergänzt. Vier Jahre darauf kamen eine zweite Wagenhalle sowie ein zweigeschossiger Stall hinzu. Für das Jahr 1876 werden ferner zwei weitere Ställe, Kontor, Waage und Treibhaus erwähnt. Bis zum Traktionswandel waren im Hof bis zu 100 Wagen und 300 Pferde beheimatet, die Wagenaufstellfläche war für bis zu 124 Wagen ausgelegt. Im Jahr 1900 erfolgte der Umbau des Hofes für den elektrischen Betrieb und die Erweiterung der Stellfläche für 187 Wagen, die Werkstatt wurde in den neu errichteten Hof Spreestraße verlegt. Nach dem Übergang zur GBS und ihren Nachfolgern erhielt der Hof die Nummer XVI beziehungsweise 16 zugeteilt. Mit der Inbetriebnahme des neuen Betriebshofes Charlottenburg in der Königin-Elisabeth-Straße wurde der alte Hof von 1865 geschlossen. Bis 1932 nutzte die BVG die Fläche zum Abstellen ausgemusterter Wagen, bis 1935 diente sie zudem einer Spedition zur Abstellung ihrer Fahrzeuge. Der Abriss erfolgte 1935, auf dem Gelände befinden sich seitdem Wohnungen.
==== Betriebshof Spreestraße ====
Im Rahmen der anstehenden Umstellung auf elektrischen Akkumulatorbetrieb ließ die BCS 1896/97 nach Plänen der S&H-Bauabteilung einen neuen Betriebshof errichten. Er umfasste das 8442 Quadratmeter große Grundstück Spreestraße 59, Charlottenburger Ufer 20–24 und Havelstraße 10–12. Die Zufahrten befanden sich in der Spree- und Havelstraße. Der Betriebshof verfügte über zwei jeweils zweigeschossige Wagenhallen, Verwaltungsbauten und ein Kraftwerk zur Stromerzeugung und Ladung der Akkumulatoren. Die Fassaden der Bauten waren mit Blendziegeln verkleidet. Die Hallen wurden von Satteldächern gedeckt, die Zwischendecken waren als Kappendecke angelegt. Die größere Wagenhalle an der Havelstraße verfügte im Untergeschoss über elf Aufstellgleise für 40 Wagen. Die kleinere Halle an der Spreestraße hatte je Geschoss fünf Gleise für insgesamt zehn Trieb- und fünf Beiwagen. Zwischen beiden Hallen befand sich eine Schiebebühne, die mit einem Wagenaufzug kombiniert war. In den Wagenhallen waren außerdem die Werkstätten untergebracht. Am 1. Juli 1906 gab die BCS die eigene Werkstatt auf. Sie ließ ihre Fahrzeuge fortan gegen Erstattung der Selbstkosten in den Werkstätten der GBS warten. Bereits 1921 wurde das nun nicht mehr benötigte Kraftwerk stillgelegt. Die schrittweise Stilllegung der Hallen erfolgte ab 1926 in Anbetracht des geplanten neuen Betriebshofs Charlottenburg in der Königin-Elisabeth-Straße. Die Hallen dienten danach verschiedenen Zwecken. Unter anderem nutzte das Bezirksamt Charlottenburg sie als „Haus des Sports“. Das Grundstück wurde in den 1950er-Jahren aufgeteilt. In den 1970er Jahren beschädigte ein Brand die größere Wagenhalle, die daraufhin wiederaufgebaut wurde. Im Frühjahr 2019 wurden die große Halle an der Arcostraße abgerissen und die nicht vorhandenen Gleisreste an der Hofeinfahrt entfernt, um Platz für eine seit 2014 auf dem Grundstück vorgesehene Wohnbebauung zu schaffen. Die kleinere Halle an der Wintersteinstraße ist weiterhin vorhanden.
==== Wagenhallen ====
Neben den beiden Betriebshöfen verfügte die BPfE beziehungsweise BCS über zwei Wagenhallen.
Die Wagenhalle Zoologischer Garten befand sich auf einem vom Zoo gepachteten Gelände an der Lichtensteinbrücke, die genaue Lage ist nicht bekannt. Sie war für etwa zehn bis zwölf Wagen und 50 Pferde ausgelegt. Sie wurde mit Inbetriebnahme der Strecke am 3. Juli 1875 eröffnet und war bis zur Einstellung des Pferdebahnbetriebs im Februar 1901 in Nutzung.Am Spandauer Bock mietete die BCS um die Jahrhundertwende auf dem Grundstück des namensgebenden Lokals einen Schuppen zur Abstellung ausgemusterter Pferdebahnwagen an. Das Grundstück lag südlich der Spandauer Chaussee. Nach dem Verkauf der Wagen wurde der Schuppen wieder dem Eigentümer überlassen.
== Anmerkungen ==
== Literatur ==
Berlin-Charlottenburg Straßeneisenbahn. In: Polytechnisches Centralblatt. 1865. Neue Folge Bd. 19, Spalten 158–161; Google-Books
Arbeitskreis Berliner Nahverkehr e. V. (Hrsg.): Berliner Verkehrsblätter. ISSN 0722-9399 (verschiedene Jahrgänge).
Verkehrsgeschichtliche Blätter e. V. (Hrsg.): Verkehrsgeschichtliche Blätter. ISSN 0232-9042 (verschiedene Jahrgänge).
Autorenkollektiv: Straßenbahn-Archiv 5. Berlin und Umgebung. transpress VEB Verlag für Verkehrswesen, Berlin 1987, ISBN 3-344-00172-8.
Michael Kochems: Straßen- und Stadtbahnen in Deutschland. Band 14: Berlin – Teil 2. Straßenbahn, O-Bus. EK-Verlag, Freiburg im Breisgau 2013, ISBN 978-3-88255-395-6.
Christian Winck: Die Straßenbahn im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. VBN Verlag B. Neddermeyer, Berlin 2015, ISBN 978-3-933254-30-6.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Charlottenburger_Stra%C3%9Fenbahn
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Berliner Elektrische Straßenbahnen
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= Berliner Elektrische Straßenbahnen =
Die Berliner Elektrische Straßenbahnen Aktien-Gesellschaft (kurz: BESTAG) war ein zwischen 1899 und 1920 bestehender Betreiber von elektrischen Straßenbahnen, der aus den von Siemens & Halske betriebenen Elektrischen Straßenbahnen in Berlin hervorging. Im Volksmund wurde sie daher als Siemensbahn bezeichnet. Die 1895 von Siemens & Halske eröffnete Straßenbahnstrecke zwischen Gesundbrunnen und Pankow war die erste elektrische Straßenbahn auf dem damaligen Gebiet Berlins. 1896 wurde eine zweite Strecke von der Friedrichstadt zum Gelände der Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park eröffnet. Bis 1916 kamen weitere Strecken nach Französisch-Buchholz und Rosenthal sowie die Verbindung von Pankower und Treptower Teilnetz durch den Lindentunnel hinzu. 1919 wandelte die Stadt Berlin, in deren mehrheitlichem Besitz sich die Aktien der Gesellschaft befanden, das Unternehmen in einen Kommunalbetrieb um; im Dezember 1920 folgte die Fusion mit der Großen Berliner Straßenbahn (GBS) und den Städtischen Straßenbahnen (SSB) zur Berliner Straßenbahn (BSt). Die von Pankow ausgehenden Strecken nach Buchholz und Rosenthal sind nach wie vor Bestandteil des Berliner Straßenbahnnetzes, die übrigen von der BESTAG erbauten und betriebenen Strecken hingegen stillgelegt.
== Geschichte ==
=== Anfänge ===
Anfang der 1890er Jahre bekundete die Landgemeinde Pankow, die seit 1874 über eine Pferdebahn der Großen Berliner Pferde-Eisenbahn (ab 1898: Große Berliner Straßenbahn [GBS]) mit Berlin verbunden war, ihr Interesse an einer Pferdebahnverbindung nach Gesundbrunnen. Ein Angebot des Unternehmens Siemens & Halske sah eine elektrische Bahn vor. Es kam daraufhin im April 1893 zum Vertragsabschluss zwischen beiden Seiten. Die Stadt Berlin stimmte dem Bau nach erstem Zögern im Mai 1894 zu. Während zu dieser Zeit bereits der Bau auf Pankower Seite begann, bestanden auf Berliner Seite immer noch Widerstände gegen die Errichtung der Oberleitungen; die erforderliche Zustimmung des Polizeipräsidenten wurde hierfür erst am 19. März 1895 erteilt und galt für 50 Jahre. Die Eröffnung dieser ersten elektrischen Berliner Straßenbahnlinie von der Kreuzung Prinzenallee Ecke Badstraße nach Pankow war am 10. September 1895. Die 3,35 Kilometer lange Strecke, von der 900 Meter in Berlin lagen, war weitgehend zweigleisig und führte von Gesundbrunnen aus über die Prinzenallee, Wollankstraße, Breite Straße und Damerowstraße zur Ecke Mendelstraße. Die Rückfahrt erfolgte wegen der engen Straßen von der Breiten Straße aus über die Spandauer Straße (heute Wilhelm-Kuhr-Straße) und Kreuzstraße zur Wollankstraße. Die Wagenfolge lag bei zehn Minuten. Zum Einsatz kamen an Werktagen Zahlkästen, sonntags wurde das Fahrgeld von Schaffnern erhoben. Den Fahrstrom bezogen die Fahrzeuge über einen Bügelstromabnehmer aus der Oberleitung – eine Technik, die der Siemens-Ingenieur Walter Reichel 1887 entwickelt hatte. Die GBS verwendete bei der Elektrifizierung ihres Streckennetzes hingegen Rollenstromabnehmer.Die zweite Strecke entstand unabhängig zur Pankower Linie anlässlich der Gewerbeausstellung im Treptower Park, die Konzession wurde hierfür am 23. April 1896 erteilt. Bereits eine Woche zuvor ging der erste Abschnitt vom Görlitzer Bahnhof über Wiener Straße, Wiener Brücke, Lohmühlenstraße, Am Schlesischen Busch, Köpenicker Landstraße (heute Am Treptower Park) und Bulgarische Straße bis zur Ecke Neue Krugallee in Treptow in Betrieb. Die ursprünglich anvisierte Streckenführung über die Ritterstraße und Reichenberger Straße konnte nicht verwirklicht werden, da die GBS dort ebenfalls die Anlage einer elektrischen Bahn verwirklichte. Einen Monat später folgte die Verlängerung über Grünauer Straße (heute Ohlauer Straße), Kottbusser Ufer (heute Paul-Lincke-Ufer), Britzer Straße (heute Kohlfurter Straße), Wassertorplatz, Wassertorstraße, Alexandrinenstraße zur Hollmannstraße (heute nicht mehr vorhanden). Der darauf folgende Abschnitt bis zur geplanten Endstelle in der Behrenstraße musste aus ästhetischen Gründen mit einer Unterleitung versehen werden. Er wurde in zwei Etappen eröffnet. Zunächst ging es ab dem 13. Juli 1896 von der Hollmannstraße über die Lindenstraße, Markgrafenstraße, Schützenstraße zur Mauerstraße Ecke Leipziger Straße. Die weitere Strecke entlang der Mauerstraße und Behrenstraße vor bis zur Ecke Wilhelmstraße folgte mit Einführung des Winterfahrplans am 3. Oktober 1896. Die Wagen fuhren zunächst im Abstand von sechs Minuten, sonntags alle drei Minuten. Im Oktober 1896 wurde der Abstand von der Behrenstraße zum Görlitzer Bahnhof auf fünf Minuten geändert, zwischen Görlitzer Bahnhof und Treptow auf 15 Minuten.
Zur Erhöhung der Wirtschaftlichkeit der Pankower Linie bemühte sich Siemens & Halske um eine Verlängerung in die Berliner Innenstadt. Die Konzession für die Verlängerung der Strecke bis zur Kreuzung Mittelstraße Ecke Friedrichstraße wurde am 12. April 1898 erteilt. Da die größeren Ausfallstraßen bereits von den Linien der Großen Berliner Straßenbahn bedient wurden, schlängelte sich die neue Strecke durch mehrere Nebenstraßen bis zum Endpunkt in der Dorotheenstadt. Von der Prinzenallee ging es über die Bellermannstraße, Grüntaler Straße, Badstraße, Hochstraße, Wiesenstraße, Hussitenstraße, Feldstraße, Gartenstraße, Elsässer Straße (heute Torstraße), Artilleriestraße (heute Tucholskystraße), Ebertbrücke, Prinz-Friedrich-Karl-Straße (heute Geschwister-Scholl-Straße), Georgenstraße, Prinz-Louis-Ferdinand-Straße (heute Planckstraße) und Charlottenstraße zur Mittelstraße. Die Inbetriebnahme erfolgte in drei Etappen. Am 20. Mai 1899 ging es bis zur Gartenstraße Ecke Elsässer Straße, am 21. Oktober 1899 bis zur Georgenstraße Ecke Prinz-Louis-Ferdinand-Straße und am 16. Dezember 1899 schließlich bis zur Mittelstraße Ecke Friedrichstraße. Der kurze Abschnitt zur Prinzenallee wurde bis zum 22. März 1902 von einer zweiten Linie und danach durch einen Pendelwagen bedient.
=== Gründung der BESTAG und Netzausbau ===
Die Berliner Elektrische Straßenbahnen AG wurde am 1. Juli 1899 gegründet, die beiden Linien gingen am 31. Juli 1899 in ihren Besitz über. Die Konzessionsübertragung erfolgte zum 20. Juni 1900. Die Übernahme der bereits betriebenen Strecken wurde rückwirkend zum 1. Juli 1899 festgelegt; die noch zu eröffnenden Strecken sollten zum Zeitpunkt der Betriebseröffnung in das Eigentum der BESTAG übergehen. Siemens & Halske selbst blieb noch bis 1911 Betriebsführer der beiden Linien.
Im April 1900 wurde die Wagenfolge zwischen Behrenstraße und Wiener Brücke sowie zwischen Mittelstraße und Pankow, Kirche auf fünf Minuten verdichtet. Die darüber hinaus nach Treptow, Rathaus beziehungsweise Damerowstraße fahrenden Wagen verkehrten im Abstand von zehn Minuten. Zwischen 1902 und 1905 wurde die Wagenfolge zwischen Görlitzer Bahnhof und Treptow zeitweise auf 20 Minuten ausgedehnt.
1901 erwarb die Stadt Berlin den größten Teil des Aktienkapitals von sechs Millionen Mark und war ab 1903 schließlich alleiniger Eigentümer der Gesellschaft. Die BESTAG war damit de facto zu einem kommunalen Straßenbahnbetrieb geworden. Mit dem Ankauf wollte die Stadt einer Übernahme durch die GBS zuvorkommen, die dadurch ihre Vorrangstellung hätte weiter ausbauen können. Im gleichen Jahr stellte sie den Streckenabschnitt zwischen Behrenstraße und Hollmannstraße auf Oberleitungsbetrieb um.Ab 1905 ging der Ausbau in beiden Teilnetzen weiter. Den Anfang bildet die Inbetriebnahme einer Strecke von Pankow aus über die Schönholzer Straße und Lindenstraße (heute Grabbeallee) zum Bismarckplatz (heute Pastor-Niemöller-Platz) in Niederschönhausen am 8. Mai 1905. Die bisher an der Pankower Kirche endenden Wagen fuhren nun über die Neubaustrecke. Zwei Tage später ging eine Anschlussstrecke vom Bismarckplatz zur Kreuzung Kaiserweg (heute Friedrich-Engels-Straße) Ecke Platanenweg in Betrieb, die von jedem zweiten Wagen der Linie, also im 20-Minuten-Takt angefahren wurde.Die Endstelle in der Behrenstraße wurde am 15. März 1906 aufgegeben und in die Mauerstraße zurückversetzt. Die Wagen wendeten nun über eine Blockumfahrung, die von der Mauerstraße durch die Kanonierstraße (heute Glinkastraße) und Behrenstraße zurück zur Mauerstraße führte.
Am 22. Juli 1907 schloss die Gesellschaft einen Vertrag mit der Gemeinde Französisch-Buchholz zur Übernahme der gemeindeeigenen Pferdebahn ab. Der Vertrag beinhaltet neben der Übernahme der Strecke und der Betriebsrechte die Zusage zur Elektrifizierung der 3,3 Kilometer langen Bahn sowie zum Bau einer Verbindungsstrecke entlang der Damerowstraße zum Streckenanfang am Bahnhof Pankow-Heinersdorf. Die Fertigstellung erfolgte am 19. Dezember 1907. Die neu eingerichtete Linie verkehrte im Abstand von 35 Minuten zwischen Badstraße Ecke Prinzenallee nach Französisch-Buchholz, Kirche bei einer Fahrzeit von 29 Minuten. Der Pendelwagen in der Prinzenallee wurde dafür eingestellt. Am 15. Februar 1911 wurde sie wie die anderen Pankower Linien zur Mittelstraße verlängert und der Wagenabstand auf 20 Minuten verdichtet. Der Abschnitt in der Bellermannstraße wurde gleichzeitig stillgelegt.Die Treptower Strecke wurde ab dem 1. September 1911 zwischen Wiener Brücke und Köpenicker Landstraße verlegt. Die Neubaustrecke führte entlang der Graetzstraße (heute Karl-Kunger-Straße) und Bouchéstraße, der Abschnitt in der Lohmühlenstraße sowie Am Schlesischen Busch wurde dafür aufgegeben. Für die bisher am Görlitzer Bahnhof endenden Wagen richtete die BESTAG in der Graetzstraße eine Kehranlage ein.Der Niederschönhauser Zweig wurde am 23. Juni 1914 abermals verlängert. Die eingleisige Strecke führte ab der Endhaltestelle Platanenweg über die Wittenauer Straße (heute Friedrich-Engels-Straße) und dem Lübarser Weg (heute Quickborner Straße) zum Bahnhof Rosenthal an der Heidekrautbahn. Die bisher am Platanenweg endenden Wagen fuhren im Abstand von 20 Minuten nach Rosenthal, die Linie zum Bismarckplatz behielt ihre Linienführung bei und verkehrte lediglich zur Hauptverkehrszeit bis zum Platanenweg. 1915 entstand an der Endhaltestelle ein Gleisanschluss zum Gutshof Rosenthal, der bis 1917 existierte und dem Transport von Kartoffeln nach Berlin diente.Bereits im ersten, nur fünfeinhalb Monate umfassenden Betriebsjahr betrug der Gewinn 97.001 Mark (entspricht heute etwa 762.000 EUR.). Sogar im Kriegsjahr 1918 konnte ein Überschuss in Höhe von 474.384 Mark erzielt werden (heute ca. 939.000 EUR).
=== Verbindung der Teilnetze und Auflösung ===
Obwohl die innerstädtischen Endhaltestellen beider Teilnetze nur wenige hundert Meter voneinander entfernt lagen, war eine Verbindung nicht ohne weiteres möglich. Der Boulevard Unter den Linden, der dem Deutschen Kaiser und preußischen König unterstand, musste an einer geeigneten Stelle gequert werden. 1894 ging bereits eine Querung an der Oberfläche beim Städtischen Opernhaus in Betrieb, bei der kurz darauf anstehenden Elektrifizierung untersagte der Kaiser die Errichtung einer Oberleitung. Da sich die Querung mit Akkumulator- und später mit Unterleitungsfahrzeugen als unzureichend herausstellte, durfte die GBS den Abschnitt 1907 mit einer Einfachfahrleitung versehen. Weitere Querungen der Straße Unter den Linden sowohl an der Oberfläche als auch durch Tunnel-Projekte wiesen sowohl der Kaiser als auch der Berliner Polizeipräsident zurück. Stattdessen war nun die Unterquerung des Boulevards in Höhe der bestehenden Gleisanlagen vorgesehen. Die Stadt Berlin, die gleichermaßen eine Verbindung ihrer Straßenbahnlinien wünschte, übernahm daraufhin die Planungen für den neuen viergleisigen Tunnel. Dieser sollte gleichermaßen von den Linien der SSB und BESTAG sowie der GBS und ihren Nebenbahnen genutzt werden.
Der Bau des Lindentunnels dauerte von Mitte 1914 bis Dezember 1916 und wurde kurzzeitig durch die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges unterbrochen. Am 17. Dezember 1916 erfolgte die Eröffnung des westlichen Tunnelteils, der die Verbindung beider Teilnetze der BESTAG bedeutete. Die aus Buchholz bzw. von der Damerowstraße kommenden Linien wurden ab Prinz-Friedrich-Karl-Straße über die Universitätsstraße und Dorotheenstraße durch den westlichen Tunnelteil zur Behrenstraße geführt, wo es weiter über die Markgrafenstraße in Richtung Graetzstraße ging. Die Linie Behrenstraße–Graetzstraße wurde daraufhin eingestellt.
Weitere Planungen sahen Neubaustrecken von Treptow und Neukölln nach Johannisthal vor. In der Plesser Straße sowie auf der Neuköllnischen Brücke hatte die BESTAG bereits die Gleise verlegen lassen, eine Umsetzung kam infolge des Ersten Weltkrieges nicht zustande.Am 20. September 1919 erfolgte die Löschung der Aktiengesellschaft im Handelsregister und die Umwandlung in einen kommunalen Betrieb. Die Große Berliner Straßenbahn erfuhr an diesem Tag den gleichen Vorgang. Damit war die Voraussetzung für eine Verschmelzung von BESTAG, GBS und SSB zur Berliner Straßenbahn (BSt) geschaffen. Dieser Schritt wurde am 13. Dezember 1920 vollzogen.
=== Weitere Entwicklung nach 1920 ===
Im Frühjahr 1921 erhielten die Linien der vormaligen BESTAG Nummern, wobei die in Buchholz und an der Damerowstraße endenden Linien zu einer zusammengefasst wurden:
Linie 16: 0Behrenstraße – Treptow, Rathaus
Linie 116: Buchholz, Kirche – Pankow, Damerowstraße – Treptow, Graetzstraße
Linie 30: 0Mittelstraße – Niederschönhausen, Bismarckplatz
Linie 130: Mittelstraße – RosenthalIm gleichen sowie im darauf folgenden Jahr wurden die Strecken und Fahrzeuge für den Betrieb mit Rollenstromabnehmern umgerüstet. Die steigende Inflation erschwerte jedoch zunehmend den Betrieb der BSt, so dass diese im Laufe des Jahres 1923 mehrere Linien verkürzte oder einstellte. Spätestens mit dem 9. September 1923, dem „straßenbahnlosen Tag“, entfiel ein Großteil der ehemaligen BESTAG-Strecken für den regulären Verkehr. Betroffen waren hiervon vor allem die aus Konzessionsgründen in Nebenstraßen angelegten Strecken. Im Einzelnen betraf dies den Abschnitt von der Bellermannstraße bis zur Prinz-Louis-Ferdinand-Straße mit Ausnahme der Hussitenstraße, den westlichen Tunnelteil des Lindentunnels einschließlich der Anschlussstrecke in der Behrenstraße und Markgrafenstraße, die Schleife Mauerstraße, den Abschnitt von der Hollmannstraße zur Kottbusser Brücke, einen kurzen Abschnitt in der Grünauer Straße sowie den übrigen Abschnitt von der Wiener Brücke bis Treptow. Ein Abschnitt in der Wassertorstraße, die Schleife Mauerstraße und die Verbindung von der Gartenstraße bis zur Prinz-Louis-Ferdinand-Straße gingen bald darauf wieder in Betrieb, die übrigen Streckenteile blieben ohne Verkehr und wurden spätestens zu Beginn der 1930er Jahre abgebaut. In Treptow wurde die Strecke in der Bouchéstraße aufgegeben und ein Rest als Kehranlage genutzt, die Bahnen nahmen stattdessen den Weg über die bereits gelegten Gleise in der Plesser Straße sowie eine von der ehemaligen Südlichen Berliner Vorortbahn gebaute Strecke in der Elsenstraße zur Köpenicker Landstraße.
Die übrigen von der BESTAG errichteten Innenstadtstrecken gab die BVG nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf; der Verkehr über den Landwehrkanal war infolge der Zerstörung der Wiener Brücke ebenso nicht mehr möglich. Der Kanal bildete hier nun ferner die Grenze zwischen dem Amerikanischen und Sowjetischen Sektor. Am S-Bahnhof Wollankstraße grenzten der Sowjetische und der Französische Sektor aneinander. Der grenzüberschreitende Verkehr wurde an dieser Stelle am 15. Januar 1953 eingestellt und der Straßenbahnverkehr in der östlichen Wollankstraße aufgegeben, ein kurzes Stück diente seitdem noch für längere Zeit als Wendedreieck. Die Anbindung von Rosenthal und Buchholz an das Stadtzentrum erfolgt seitdem über die Berliner Straße und Schönhauser Allee.
Die Straßenbahnstrecke in der westlichen Wollankstraße und der Prinzenallee wurde am 2. Mai 1960 stillgelegt, die Anbindung der Wiener Brücke über die Wiener Straße folgte am 1. März 1961, der kurze Abschnitt in der Grünauer Straße am 29. September 1963. Auf der östlichen Seite verkehrten bis zum 13. Dezember 1959 noch Straßenbahnwagen in der Bulgarischen Straße. Die verbliebenen Streckenabschnitte in Treptow gaben die Berliner Verkehrs-Betriebe schließlich am 14. Juli 1973 auf.
== Betrieb ==
=== Signaltafeln ===
In den Anfangsjahren bis etwa 1904/05 verwendeten die Linien farbige Signaltafeln zur Kennzeichnung. Die Linie Behrenstraße–Treptow hatte grüne Signaltafeln, die Linien Behrenstraße–Görlitzer Bahnhof und Mittelstraße–Pankow hatten weiße Tafeln. Danach wurden lediglich die einzelnen Endhaltestellen mit jeweils unterschiedlichen Zielschildern gekennzeichnet, nicht jedoch die Linien. Es gab ein- und zweifarbige Schilder, wobei letztere in der Regel diagonal von links unten nach rechts oben unterteilt waren.
Liniennummern wurden teilweise in den Fahrplanheften angegeben, jedoch war ihre Verwendung häufigen Änderungen unterworfen.Die Berliner Straßenbahn führte im Frühjahr 1921 Liniennummern auf den vormaligen Linien der BESTAG ein.
=== Tarife ===
Die BESTAG erhob für die beiden Betriebsteile zunächst unterschiedliche Tarife, die bei der Verbindung 1916 zusammengeführt wurden.
Auf den Pankower Linien galt ab Eröffnung der 10-Pfennig-Einheitstarif. Dieser wurde auch nach der Übernahme der Buchholzer Straßenbahn beibehalten. Mit der Verlängerung der Buchholzer Linie zur Mittelstraße wurde für die gesamte Strecke dieser Linie ein Fahrtpreis von 15 Pfennig erhoben, die Teilstrecken von der Mittelstraße zur Damerowstraße sowie von der Badstraße nach Buchholz kosteten 10 Pfennig. Das gleiche Schema kam bei der Verlängerung nach Rosenthal zur Anwendung: Die Gesamtstrecke kostete 15 Pfennig, die Teilstrecken Mittelstraße-Platanenstraße und Badstraße-Rosenthal 10 Pfennig.Auf den Treptower Linien galt, bedingt durch die Länge, ein gestaffelter Tarif, der zur Eröffnung zunächst einen Fahrtpreis von 30 Pfennig für die gesamte Strecke vorsah. Der Winterfahrplan desselben Jahres, der mit der Verlängerung zur Behrenstraße herauskam, sah dann einen Gesamtpreis von 25 Pfennig vor mit Teilstrecken zu 20, 15 und 10 Pfennig. Dieser Tarif wurde im Mai 1898 ebenfalls durch einen 10-Pfennig-Einheitstarif abgelöst.Über das Tarifsystem ab Dezember 1916 bis 1919 liegen keine Angaben vor. Nach Einführung der Beförderungssteuer schloss der Zweckverband Groß-Berlin Mitte 1919 mit den meisten Straßenbahnbetrieben neue Tarifverträge ab, die in der Regel einen Einheitstarif von 12,5 Pfennig vorsahen, so auch mit der BESTAG. Der Einzelfahrschein kostete nunmehr 15 Pfennig, Doppelfahrscheinen hingegen 25 Pfennig, Sammelkarten zu acht Fahrten kosteten 1,00 Mark. Inflationsbedingt wurde der Einheitstarif noch im selben Jahr auf 20 Pfennig erhöht (Doppelfahrscheine zu 35 Pfennig, Sammelkarten zu 1,40 Mark). Nach 1920 galt dieser bereits vereinheitlichte Tarif auf den meisten Linien der Berliner Straßenbahn.
=== Strecken ===
Die Strecken der BESTAG waren mit Ausnahme der Abschnitte Bismarckplatz–Rosenthal und Bahnhof Pankow-Heinersdorf–Buchholz sowie dem beschriebenen Abschnitt in der Wollankstraße durchgehend zweigleisig ausgebaut. Im Jahr 1916 betrug die Länge der eingleisigen Strecken 7,22 Kilometer, die der zweigleisigen Strecken 19,60 Kilometer, zusammen also 26,82 Kilometer. Die Gleislänge wird für diesen Zeitpunkt mit 48,98 Kilometern angegeben. Die Stromabnahme von der Oberleitung erfolgte mittels Bügelstromabnehmer, wie sie auch die Städtischen Straßenbahnen verwendeten. Im Gegensatz dazu verwendeten die GBS und ihre Tochtergesellschaften Rollenstromabnehmer. Die Betriebsspannung lag bei 500 bis 550 Volt.An mehreren Stellen des Netzes kam es zu Berührungspunkten zwischen den Strecken der BESTAG und der GBS sowie der SSB, vereinzelt auch zur Mitnutzung der Strecken des jeweils anderen Betreibers. Während die betroffenen Stellen mit der SSB betrieblich keine Probleme mit sich brachten, sah dies beim Aufeinandertreffen von BESTAG und GBS anders aus. Auf kürzeren Abschnitten wurden die Gleise gemeinsam genutzt, in der Lindenstraße und der Markgrafenstraße bestanden hingegen bis etwa 1905 viergleisige Anlagen zur getrennten Betriebsführung. Die Oberleitung auf diesen Abschnitten war überwiegend so eingerichtet, dass ein Mischbetrieb zwischen beiden Stromabnehmertypen erfolgen konnte. Vereinzelt, wie etwa in der Charlottenstraße, wurden aber auch zwei Fahrleitungen gespannt, eine etwas höher gespannte für Rollenstromabnehmer sowie eine tiefer verlaufende für Bügelstromabnehmer.Die Stromversorgung oblag an den Kreuzungen jeweils einem der beiden Betreiber, wobei die Fahrleitungen vor und hinter der jeweiligen Kreuzungen mit Streckentrennern unterbrochen wurden. Die Wagen der Gesellschaft, die nicht den Strom der betroffenen Kreuzung lieferte, befuhren diese mit ausgeschaltetem Fahrschalter.Die nachfolgenden Tabellen geben eine Übersicht über die von der BESTAG befahrenen Strecken anderer Gesellschaften (links) sowie die Strecken der BESTAG, auf denen zeitweise Linien fremder Betreiber verkehrten. Vor allem die GBS musste ab 1914 mehrere Linien umleiten, um den Bau der Nordsüd-Bahn (heutige U6) nicht zu behindern.
=== Fahrzeuge ===
==== Entwicklung des Wagenparks ====
Bis zur Vereinigung im Dezember 1916 kamen auf beiden Betriebsteilen unterschiedliche Fahrzeugtypen zum Einsatz, die auch nicht untereinander getauscht wurden. Die Wagennummern 1 bis 9 wurden zudem vorübergehend bei beiden Teilnetzen vergeben.
Die acht Triebwagen, mit denen 1895 der elektrische Straßenbahnverkehr aufgenommen wurde, hatten eine Leistung von 15 Kilowatt. Der Wagenkasten ruhte auf einem relativ kleinen Fahrgestell und hatte je Seite vier annähernd quadratische Fenster. Abgeschlossen wurde der Kasten von einem Laternendach. Wagen 1 oder Wagen 8 wurde 1897/98 ausgemustert, die übrigen erhielten zwischen 1911 und 1916 die neuen Wagennummern zwischen 141 und 148. Bis 1920 wurden alle Fahrzeuge mit Ausnahme der Wagen 142 und 143 ausgemustert, letztere waren ab 1921 als Arbeitswagen A22 und A23 bis 1923 im Einsatz.Der Pankower Triebwagen 9 war ein Einzelgänger. Der Wagen ähnelte im Aufbau den Triebwagen der Treptower Serie 1–30, war aber für den gemischten Einsatz mit Akkumulatoren und Oberleitung vorgesehen. Bedingt durch die Masse der Akkumulatoren war er mit zwei sehr kurzen, zweiachsigen Drehgestellen ausgerüstet. Das Fahrzeug war zu Versuchszwecken auf dem Pankower Zweig im Einsatz und wurde 1899 nach Budapest abgegeben. Anderen Angaben zufolge umfasste der Pankower Zweig ab Beginn neun baugleiche Triebwagen. Hiernach sollte der Pankower Triebwagen 9 bis 1916 die Nummer 149 erhalten haben und von 1920 bis 1923 als Arbeitswagen A35 eingesetzt worden sein. Es gibt Berichte, wonach dieser Arbeitswagen vierachsig war, so dass die Annahme besteht, dass das Fahrzeug nach einiger Zeit aus Budapest zurückkehrte oder nie dort verkehrte.1899 vergrößerte sich der Pankower Wagenpark um 32 Triebwagen sowie jeweils 20 baugleiche Beiwagen und Sommerbeiwagen mit Mittelgang. Die Fahrzeuge verfügten wiederum über offene Plattformen. Die Triebwagen wurden 1924 zu Beiwagen umgebaut und waren zusammen mit den baugleichen Beiwagen noch bis 1929 im Einsatz. Die Sommerwagen wurden bereits 1925 ausgemustert.Der Treptower Betriebsteil verfügte anfangs über einen größeren und vielfältigeren Wagenpark. Um den Besucherandrang zur Gewerbeausstellung zu bewältigen wurden von Beginn an Beiwagen eingesetzt. Neben 30 geschlossenen Triebwagen waren zehn baugleiche Beiwagen, sieben Sommertriebwagen, 19 Sommerbeiwagen und 16 gebrauchte Pferdebahnwagen anzutreffen. Die Plattformen dieser Fahrzeuge waren offen. Die Triebwagen waren anfangs für den gemischten Betrieb mit Ober- und Unterleitung ausgelegt. Zwei Sommertriebwagen wurden 1899 in die Vereinigten Staaten verkauft. Die übrigen Sommertriebwagen erhielten zwischen 1901 und 1903 geschlossene Seitenwände. Die Sommerbeiwagen wurden zeitgleich mit einem Mittelgang ausgestattet. Die Pferdebahnwagen waren bis 1908 im Einsatz und wurden anschließend ausgemustert. Die umgebauten Triebwagen waren ab 1916 als Arbeitswagen unterwegs, ihr weiterer Verbleib ist unklar. Die übrigen Wagen wurden von der Berliner Straßenbahn übernommen und zwischen 1925 und 1927 ausgemustert.1907 übernahm die BESTAG drei bei der Pferdebahn der Gemeinde Französisch-Buchholz eingesetzte Pferdebahnwagen als elektrische Beiwagen. Die Fahrzeuge kamen gebraucht aus Hamburg und wurden 1911 ausgemustert.Der Betrieb beschaffte 1911 für den Pankower Betriebsteil bei den Fahrzeugwerkstätten Falkenried acht Maximum-Triebwagen und für den Treptower Betriebsteil zehn passende Beiwagen. Die Straßenbahnen der Stadt Berlin setzten baugleiche Fahrzeuge seit 1908 ein. Die auffälligsten Unterschiede bestanden im Aufbau der Drehgestelle der Triebwagen. Die Maximum-Triebwagen erhielten 1924 die Berliner Einheitsplattformen und wurden ab 1934 als TDS 08/24 geführt. Die letzten Fahrzeuge der Serie wurden 1969 ausgemustert und teilweise in das Reko-Programm mit einbezogen. Die Beiwagen wurden 1924 zu Triebwagen umgebaut und erhielten 1934 die Typenbezeichnung T 08/24. Die nach 1949 in West-Berlin verbliebenen Fahrzeuge wurden 1951 aus dem Linienverkehr abgezogen, drei Triebwagen dienten bis 1962 als Arbeitswagen. Die BVG-Ost gab ihre beiden Triebwagen 1959 nach Cottbus und Dessau ab.Mit der Eröffnung des Lindentunnels und der Verbindung beider Betriebsteile beschaffte die BESTAG im Jahr 1916 zehn siebenfenstrige Triebwagen. Die Wagen verfügten über vollständig geschlossene Plattformen. Eine Lieferung von weiteren zehn Triebwagen kam infolge des Krieges erst 1921 unter der Regie der Berliner Straßenbahn zustande. Sie erhielten 1934 die Typenbezeichnung TF 21 S. Die BVG-West baute ihre neun Triebwagen in den Jahren 1955/56 zu Arbeitswagen um, die letzten wurden 1967 ausgemustert. Die BVG-Ost gab von ihren elf Triebwagen sieben Fahrzeuge nach Plauen, Strausberg, Karl-Marx-Stadt und Magdeburg ab, die übrigen vier wurden bis 1959 ausgemustert. Triebwagen 4304 war gleichzeitig das erste normalspurige Fahrzeug in Karl-Marx-Stadt, er fuhr dort als Arbeitstriebwagen mit der Nummer 1076. Ein Triebwagen befindet sich Deutschen Technikmuseum Berlin. Ein weiteres Fahrzeug steht in der Wagenhalle Schmöckwitz, es wurde bei einem Brand 2008 stark beschädigt.
==== Tabellarische Übersicht ====
Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht über die bei der BESTAG eingesetzten Trieb- und Beiwagen. Die Fahrzeuge sind nach ihrer ersten Wagennummer und nicht nach Baujahr sortiert. Zusätzlich werden der Hersteller und Informationen zum Werdegang nach 1920 angegeben. In der Spalte Betriebsteil wird nach den Betriebsteilen Pankow und Treptow unterschieden. Bei den 1916 ausgelieferten Triebwagen wird auf diesen Eintrag verzichtet, da sie von Beginn an durchgehend verkehrten.
=== Betriebshöfe ===
Die Straßenbahnen wurden auf insgesamt fünf Betriebshöfen unterhalten, drei befanden sich im Pankower, zwei im Treptower Betriebsteil. Mit Ausnahme des Betriebshofes in der Brehmestraße bestanden alle Anlagen bei der Übernahme durch die BSt 1920.
==== Betriebshof Brehmestraße ====
Der älteste Betriebshof der Siemensbahn befand sich an der Brehmestraße und war über eine Stichstrecke von der Wollankstraße aus zu erreichen. Er verfügte über eine viergleisige Wagenhalle, wobei die Gleise 2 und 4 direkt angeschlossen waren, die anderen beiden Gleise jedoch nur über eine Schiebebühne. Der Wagenboden der Halle lag anderthalb Meter unter den Gleisen, die auf eisernen Stützen ruhten. Hinter der Halle lagen einerseits eine Werkstatt und andererseits eine zweigleisige Freiluft-Abstellanlage. Seitlich angeschlossen an die Halle waren die Betriebsräume.
Auf dem Gelände befand sich ferner ein Kraftwerk zur Stromversorgung der Bahn. Dampf- und Dynamomaschinen waren als Reserve in zweifacher Ausführung vorhanden. Die Verbunddampfmaschinen gaben die erbrachte Leistung direkt an die Dynamomaschinen weiter, welche dann den benötigten Fahrstrom erzeugten. Die Speisung der Kessel erfolgte über eine auf dem Hof befindliche Brunnenanlage.
Der Betriebshof wurde von 1895 bis 1901 genutzt und 1903 verkauft.
==== Betriebshof Damerowstraße ====
Der Betriebshof Damerowstraße wurde 1901 errichtet, da nach der Beschaffung weiterer Fahrzeuge kein Platz mehr an der Brehmestraße bestand. Der Hof hatte Platz für insgesamt 93 Wagen. Er wurde 1920 von der Berliner Straßenbahn als Hof XVIII übernommen und kurz darauf geschlossen. 1936 wurde an der Straßenfront ein Wohnblock errichtet.
==== Wagenhalle Französisch-Buchholz ====
Für die Buchholzer Linie entstand nach der Übernahme durch die BESTAG ein kleines Depot in der Gravensteinstraße, das auf einer Fläche von 620 Quadratmetern Platz für drei Wagen bot. Es wurde nach dem Übergang zur Berliner Straßenbahn geschlossen und wird heute von der Freiwilligen Feuerwehr Buchholz genutzt.
==== Betriebshof Köpenicker Landstraße ====
Der Betriebshof Köpenicker Landstraße in Treptow wurde mit Inbetriebnahme der Treptower Linie am 15. April 1896 eröffnet. Er verfügte über zwei Hallenbauten mit Platz für 75 Wagen, von denen die vordere als Wagenhalle und die hintere als Werkstatt diente; zwischen beiden Halle war eine Schiebebühne installiert, wodurch die Wagen die Gleise wechseln konnten. Seitlich der Hallen befanden sich auf der Südseite zwei Gleise auf der nördlichen Seite ein Gleis. Die Hallen selbst hatten je acht Gleise mit Platz für je fünf bis sechs Wagen. Das Gelände wurden von Kleingartenanlagen eingefasst. Nach 1920 wurde er zunächst als Hof XXI weitergeführt und diente als Abstellplatz für nicht mehr benötigte Wagen.Ab 1925 diente das Gelände zur Überholung und Überarbeitung diverser Straßenbahntypen. Neben Umbauten durch die Nationale Automobil-Gesellschaft wurden hier unter anderem die HAWA-Wagen und die Triebwagen der Flachbahn überholt.1931 fiel die Werkstatthalle einem Großbrand zum Opfer. Zwei Jahre später wurden die Gleisanschlüsse zur Wagenhalle beim Ausbau der Köpenicker Landstraße entfernt, lediglich die südlichen Außengleise blieben zur Entleerung von Saugwagen bestehen. Die Halle selbst diente danach vermutlich der Aufarbeitung von Omnibussen.Im Zweiten Weltkrieg wurde die Halle von Bombentreffern zerstört und anschließend abgetragen. Das Gelände wurde seitdem ebenfalls für kleingärtnerische Zwecke genutzt.
==== Wagenhalle Kottbusser Ufer ====
Am Kottbusser Ufer 20–22 nutzte die BESTAG ab Mai 1903 eine Wagenhalle mit Bahnmeisterei zum Abstellen von Beiwagen und Loren. Die Halle befand sich unweit der Grünauer Straße und war in hölzerner Bauweise errichtet. Sie maß etwa 28 × 18,5 Meter und hatte Platz für zwölf Wagen auf vier Gleisen. Die Beiwagen wurden in der verkehrsschwachen Zeit an der Kreuzung Kottbusser Ufer, Ecke Grünauer Straße abgehängt und in die Halle geschleppt. Als Schlepper diente ein Triebwagen der Pankower Serie 1–8. Die BESTAG nutzte das Gelände bis etwa 1920, danach diente das Grundstück 19–20 den Berliner Entwässerungswerken für eine Pumpstation sowie das Grundstück 21–22 der BEWAG für den Neubau eines Abspannwerkes.
== Literatur ==
Reinhard Demps et al.: 100 Jahre Elektrische im Bezirk Pankow von Berlin. Hrsg.: Freundeskreis der Chronik Pankow e. V. Verlag GVE, Berlin 1995.
Reinhard Demps et al.: Tram Geschichte(n). Straßenbahnen nach Buchholz. Hrsg.: Buchholzer Bürgerverein e. V. Verlag GVE, Berlin 1999, ISBN 3-89218-064-4.
Berliner Verkehrsblätter, verschiedene Jahrgänge
Verkehrsgeschichtliche Blätter, verschiedene Jahrgänge
== Weblinks ==
Streckennetz der BESTAG 1916
Jens Dudczak, Uwe Dudczak: Bahnen im Berliner Raum: Siemensbahn Pankow, Siemensbahn Treptow, Berliner Elektrische Straßenbahnen
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Elektrische_Stra%C3%9Fenbahnen
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Bertha Lou
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= Bertha Lou =
Bertha Lou ist ein Rockabilly-Song, der 1957 erstmals in der Aufnahme von Johnny Faire veröffentlicht wurde. Eine zuerst eingespielte Version von Dorsey Burnette musste aus vertragsrechtlichen Gründen zurückgehalten werden. Das Stück wurde von Johnny Burnette gemeinsam mit dem Songwriter und Verleger John Marascalco geschrieben. Der inhaltlich sowohl anzügliche als auch parodistische Song basiert auf einem schnell und hart gespielten Blues und ist aufgrund seines markanten Gitarren-Riffs leicht wiederzuerkennen. Nach einigen zeitnahen Coverversionen, von denen jene Clint Millers 1958 die amerikanischen Billboard-Charts erreichte, sowie Umarbeitungen zu Twinkie Lee, Snacky Poo und schließlich Bob Dylans Adaption Rita May wurde der Titel ab etwa 1980 ein viel gespielter Standard der Neo-Rockabilly- und Psychobilly-Szene.
== Entstehung ==
Die Brüder Johnny und Dorsey Burnette waren nach der Auflösung ihrer Band „The Rock ’n’ Roll Trio“ Mitte des Jahres 1957 nach Kalifornien gezogen, wo sie sich zum einen als Songwriter einen Namen zu machen erhofften und zum anderen als Solointerpreten und gemeinsam als „Burnette Brothers“ aktiv wurden. Aus Memphis kannten sie den Mississippi-stämmigen Songwriter John Marascalco, der seit März 1956 mit Kompositionen für Little Richard bei Specialty Records gut im Geschäft war. Die Burnettes besuchten mit ihrem Gitarristen Odell Huff den Songwriter in dessen Wohnung und Johnny stellte ihm die erste Strophe einer neuen Songidee vor, die sie gemeinsam zu Bertha Lou ausarbeiteten. Da Johnny Geld für seine Miete brauchte, verkaufte er Marascalco seinen Anteil an den Autorenrechten. Johnnys Sohn Rocky Burnette bezifferte die Verkaufssumme Jahre später auf 50 Dollar. Solche Cut Ins waren zu dieser Zeit eine übliche Geschäftspraxis in der Musikbranche. Am 27. Oktober 1957 ließ sich Marascalco das volle Copyright an Bertha Lou durch den Eintrag in der Library of Congress sichern und übernahm den Song auf seinen eigenen kürzlich gegründeten Musikverlag Robin Hood Music.
Marascalco arrangierte im November 1957 eine Aufnahmesession im Studio Master Recorders für das kleine Label Surf Records von Kenny Babcock, dessen Sohn Keith sich allerdings an die Goldstar Recording Studios als Aufnahmeort erinnert. Als Band wurden Odell Huff an der Gitarre, Danny Flores am Klavier und H. B. Barnum am Schlagzeug engagiert. Den Bass übernahm wahrscheinlich Dorsey Burnette selbst. Johnny Burnette unterstützte die Percussions durch Handclaps. Der Song wurde unter Marascalcos und Babcocks Leitung in mehreren Takes aufgenommen. Nach der Erinnerung Keith Babcocks stimmte sein Vater während der Aufnahme die Gitarre um, so dass sich deren Tonumfang vergrößerte und Odell Huff seinen Part auf einer einzigen Basssaite spielen konnte. Bereits bei der Vorbereitung der Session war aufgefallen, dass Johnny Burnette noch bei Coral Records unter Vertrag stand und somit keine Aufnahmen als Hauptinterpret für eine andere Plattenfirma einsingen durfte. Von einer ersten Demoaufnahme wurde seine Stimme daher wieder entfernt und Dorsey Burnette sang den Titel erneut ein. Johnny Burnettes Vokalbeitrag blieb aber dennoch erhalten: Zum einen ist seine Gesangsspur noch leise im Hintergrund zu hören, besonders eingangs der zweiten Strophe, als Dorsey Burnette aus dem Takt gerät, zum anderen feuert er Odell Huff lautstark mit den Rufen „Rock! Rock! Rock!“ zum Gitarrensolo an. Zusammen mit dem von Marascalco geschriebenen Rockabilly-Titel Til the Law Says Stop als B-Seite wurde Dorsey Burnettes Version für die Veröffentlichung auf Surf Records unter der Plattennummer SR5019-45 gemastert und in einer ersten Auflage in der hauseigenen Pressmaschine gefertigt.Kurz darauf räumte Dorsey Burnette zu Marascalcos Unmut ein, dass auch er einen laufenden Vertrag hätte, der ihm Aufnahmen für andere Plattenlabels verbiete. Da eine Veröffentlichung der Platte somit hinfällig war, entschieden sich Marascalco und Babcock dafür, den Song erneut von einem anderen Interpreten übersingen zu lassen. Die Wahl fiel auf den jungen Johnny Faircloth, der die Songs für die am nächsten Tag angesetzte Session über Nacht erlernen musste. Faircloth orientierte sich stark an Dorsey Burnettes Gesang und konnte die Neueinspielung von Bertha Lou unter Anwesenheit der Burnettes nach wenigen Takes abschließen. Für Til The Law Says Stop lagen keine getrennten Tonspuren für die Instrumental- und Vokalarbeit vor, weshalb Faircloth so exakt wie möglich über Dorsey Burnettes Stimme singen musste, was die Session langwierig und mühsam machte. Insbesondere Dorsey Burnettes Südstaaten-Akzent und dessen metrische Freiheit machten dem Mann von der Westküste zu schaffen. Die doppelte Melodiestimme ist daher auf der Aufnahme deutlich zu hören.
== Musikalischer Aufbau ==
Während die Notenausgabe von 1957 als Grundtonart G-Dur vorschlägt, bauten die Musiker der Originalversion Bertha Lou auf einem 12-taktigen Blues im 4/4-Takt in E-Dur auf: Auf vier Takte Tonika folgen zwei Takte Subdominante und wieder zwei Takte Tonika. Über einen Takt Dominante und einen Takt Subdominante führen zwei Takte Tonika das Bluesschema zu Ende. Die achttaktige Bridge variiert ebenfalls nur diese drei funktionalen Harmonien: Auf zwei Takte Subdominante folgen zwei Takte Tonika, sodann wieder zwei Takte Subdominante und schließlich zwei Takte Dominante. Jeder Strophe ist ein 2/4-Takt auf der Tonika vorgeschoben, der den erweiterten Auftakt „Bertha Lou, Bertha Lou“ oder „Hey! Hey! Bertha Lou!“ aufnimmt. Das Gitarrensolo besteht wie die Strophen aus einem 12-Takt-Schema, kommt aber ohne diesen Zwischentakt aus. Intro und Outro eröffnen und beenden den Song auf der Tonika. Der gesamte Ablauf des Songs mit A-A-B-Struktur sieht in den beiden originalen Versionen von Dorsey Burnette und Johnny Faire wie folgt aus:
Intro (4 Takte)
1. Strophe (2/4 Takt + 12 Takte)
2. Strophe (2/4 Takt + 12 Takte)
Bridge (8 Takte)
3. Strophe (2/4 Takt + 12 Takte)
Gitarrensolo (12 Takte)
Bridge (8 Takte)
3. Strophe (2/4 Takt + 1/2 Takte)
Outro (8 Takte) und Fade-OutAuf allen drei akkordischen Stufen der Strophe wird ein markantes Riff auf den Basssaiten der Gitarre gespielt, welches in aufsteigenden Achteln jeweils doppelt den Grundton, darüber die Moll-Terz und die Quarte anschlägt und schließlich in einzelnen Achteln über die verminderte Quinte auf der Quinte ankommt. Im überschaubaren Tonvorrat der gesungenen Melodie dominieren ebenfalls der Grundton E und die zugehörige kleine Terz G. Durch die Verwendung dieser den Blue Notes nachempfundenen Terzen erhält der Song seinen bluesigen Mollcharakter, insbesondere da die dem Song zugrundeliegende Dur-Tonart nur als Septakkorde vom Piano sehr versteckt im Hintergrund gespielt wird. Auf dem jeweils zehnten Takt einer Strophe – der Subdominante – schweigt die Rhythmusgruppe und die elektrische Gitarre spielt ein absteigendes Fill-In.
Die Strophen bestehen aus je sechs Versen mit dem Reimschema [aabbaa]. Der dominierende, stumpfe Endreim (a) ist die Assonanz auf -[u] der mehrfach verwendeten Silben „Lou“, „you“, „do“ und „ooh“, der jeweils in zwei Paaren die Assonanz beziehungsweise die Reime „sand“-„man“, „moan“-„phone“ und „wild“-„child“ in der Mitte der drei Strophen (b) umarmt. Die sechs Endsilben fallen dabei stets auf den ersten Schlag des ersten, dritten, fünften, siebten, neunten und elften Taktes des Bluesschemas. Der eigentliche Liedtext wird also in einer für den Blues typischen rhythmischen Variante etwa in der Funktion mehrsilbiger Auftakte vor dem jeweils ersten Schlag gesungen. Zwischen Vers und Gitarrenriff, welches auf diesem ersten Schlag des Taktes startet, entwickelt sich so ein Dialog, zumal das dem Vers folgende Riff ohne überlagernden Gesang vollständig zu hören ist. Der jeweils nächste Vers beginnt frühestens auf dem zweiten Schlag des folgenden Takts und folgt metrisch den schnellen Achtel des bereits neu begonnenen Gitarrenriffs – zuweilen entzerrt durch Viertelnoten. Nur der fünfte Vers der Strophen endet nicht auf dem ersten Schlag des neunten Taktes, sondern zieht in melismatisch verbundenen Noten einen absteigenden Dur-Dreiklang bis in die Subdominante des zehnten Takts. Diesem stimmlichen Höhepunkt der Melodie antwortet wiederum das absteigende Fill-In der elektrischen Gitarre. Dieses Call and Response ist ein grundlegendes Prinzip afroamerikanisch beeinflusster Popularmusik, wird hier zwischen Stimme und Gitarre dargeboten und findet seine inhaltliche Entsprechung im sexuell aufgeladenen Text und der Aggressivität des verstärkten Gitarrensounds. Die vier-versige Bridge kommt mit den zwei Paarreimen „cut“-„truck“ und „sweet“-„feet“ aus und nutzt die vollen acht Takte ohne wesentliche Pausen.Einige Coverversionen und Adaptionen ändern Stimmung und Aufbau in Details: So arrangierte Don Costa den Song für Clint Miller ohne den 2/4-Takt, den er nur vor der dritten Strophe einsetzte. In Bertha Lou der Fendermen und in Twinkie Lee wurde das erste Intervall des Gitarrenriffs zur großen Terz E–Gis, was einer Dur-Stimmung entspricht. In verschiedenen Aufnahmen wird das Gitarrenriff auch vom elektrischen Bass übernommen.
== Inhalt ==
Bertha Lou reiht sich in eine Folge von bekannten Songs aus dem Rock ’n’ Roll und Rockabilly ein, deren Titel einem Frauennamen entspricht oder einen solchen enthält. Dabei hat angeblich Dorsey Burnettes Frau Alberta als Namenspatronin der besungenen Bertha Lou herhalten müssen. Viele dieser „Songs about Girls’ Names“ haben eine deutliche sexuelle Konnotation. In der dritten Strophe von Bertha Lou heißt es:
Das ungewöhnlich biologistische Verb to conjugate (deutsch: sich paaren) in der Erstversion des Liedes veranlasste den Promoter Dick Clark zu einem weitgehenden Boykott des Titels in von ihm organisierten Rundfunkprogrammen und Live-Shows. Stuart Colman liest aus diesem Text einen Ausdruck besonderer Manneskraft, die dem Elefanten im Porzellanladen ähnele. John Marascalco wählte für den Druck der Notenausgabe den weniger anzüglichen Begriff to congregate (deutsch: zusammenkommen). Dieser bedachtsamen Entschärfung folgten auch die meisten der nachfolgenden Interpreten.Richard Aquila erkennt bezugnehmend auf Clint Millers Chartversion das humoristische Potenzial im überspitzten Text des erzählenden Rockabilly-Protagonisten: „Man wusste bereits bei der Veröffentlichung nicht, ob es sich um eine Parodie auf einen Frauennamen-Rockabilly-Song handelt oder ob er als ernstgemeinter Beitrag zum Repertoire des Genres gedacht ist.“ So lautet der Text der Bridge:
Craig Morrison sieht im letzten Vers der Bridge einen „heftigen“ Humor, der vom „Kontrast zwischen skurrilen und unangebrachten Texten und dem ernsthaften Vortrag“ profitiere, und ein genretypisches Merkmal darstelle, da im Rockabilly „beinahe alles heftig“ sei.
== Veröffentlichungen ==
Für die Veröffentlichung der neu eingespielten Version am 9. Dezember 1957 wählte Kenny Babcock Faircloths prägnanteren Künstlernamen „Johnny Faire“ und die gleiche Plattennummer SR5019-45. Am selben Tag wurde die Platte im Billboard Magazin besprochen. Eine Besonderheit war die zugehörige Papierhülle, auf der die Platte durch die Angabe weiterer Kompositionen John Marascalcos beworben wurde. Seiner Zeit voraus war auch der Label-Hinweis auf Marascalco als Produzent, der später bedauerte, dass er sich für diesen Job keinen Anteil an den Verkäufen hat sichern lassen. Die erste Auflage von Surf SR5019-45 von Dorsey Burnette wurde zurückgehalten und vernichtet. Ledigliche eine Kiste soll übriggeblieben sein, so dass vereinzelt Exemplare den Weg in Plattensammlungen fanden. Johnny Faires Surf SR5019-45 erzielte immerhin soviel Aufmerksamkeit, dass sie 1958 als Quality K-1696 für den kanadischen und als London HLU 8569 für den britischen Markt neu aufgelegt werden konnte. In den 1970ern erschien in der ursprünglichen Aufmachung Surf 5019 von Johnny Faire in einer nicht autorisierten Neuauflage, zu erkennen am eingeritzten „Re“-Kürzel im Bereich der Auslaufrille. Die Notenausgabe von Bertha Lou erschien bei Marascalcos Verlag Robin Hood Music in Zusammenarbeit mit Rio Grande Music aus Texas. Den Verkauf der Noten übernahm als alleiniger Handelsvertreter der Verlag Hill & Range.
Mitte der 1960er Jahre entschied sich Marascalco in Absprache mit Dorsey Burnette, dessen ursprünglich zurückgehaltene Version auf seinem eigenen kleinen Label Cee-Jam Records zu veröffentlichen. Dazu nahm Dorsey den Blues-Klassiker Keep A-Knockin’ auf, der als B-Seite von Cee-Jam #6 unter dem Bandnamen „The Brothers“ erschien. Um 1970 wurde mit Cee-Jam #16 die originale Zusammenstellung von Bertha Lou mit Til the Law Says Stop auf Vorschlag Ronny Weisers, des Betreibers des Rockabilly-Labels Rollin’ Rock, in einer kleinen Auflage von 2.000 Stück wiederveröffentlicht. Der Titel erschien nie auf einem der offiziellen Alben Dorsey Burnettes. Erst durch die Aufbereitung des Gesamtwerks der Burnette Brothers mittels Werkausgaben in CD- und CD-Box-Format ab den 1990er Jahren konnte der Titel wieder einer breiteren Käuferschaft zur Verfügung gestellt werden.
1957 – Johnny Burnette (unveröffentlichte Demoaufnahme)
1957 – Dorsey Burnette auf Surf SR5019-45 (unveröffentlicht), sodann 1965 auf Cee-Jam #6 und 1970 auf Cee-Jam #16
1957 – Johnny Faire auf Surf SR5019-45 sowie 1958 auf Quality K-1696 und auf London HLU-8569, letztere auch als 10-Zoll-Schellacksingle sowie als Promo-Ausgabe auf London MSC 2285
== Coverversionen ==
Noch vor der offiziellen Veröffentlichung wurde die Plattenfirma ABC-Paramount auf den Song aufmerksam und machte Babcock ein Angebot für die Masterbänder. Da dieser ablehnte, spielte deren junge Neuverpflichtung Clint Miller am 20. November 1957 unter der Leitung von Don Costa eine erste Coverversion für ABC ein, für deren Einstudierung er auf eine Demoversion zurückgegriffen haben muss. Dadurch ergaben sich einige Abweichungen im Text. Millers Coverversion wurde in derselben Billboard-Ausgabe wie das Original vorgestellt. Zeitnah wurde Bertha Lou außerdem von der Rockabilly-Band The Fendermen auf deren LP Mule Skinner Blues, von Alan Knight und von Bob Harris and the Kings Four aus Michigan gecovert. Mit Los Salvajes aus Mexiko und Los Zodiac aus Peru griffen auch Bands aus dem lateinamerikanischen Raum den Song auf und legten spanischsprachige Versionen mit einem Text von Manuel Callegos vor. Der britische Rock-’n’-Roll-Musiker Marty Wilde legte 1970 ein retrospektives Album über die Zeit seiner größten Erfolge auf und spielte dazu Bertha Lou ebenfalls ein.
1957 – Clint Miller auf ABC-Paramount 78- und 45-9878, in Kanada auf Sparton für 78 Umdrehungen auf 528-R und für 45 Umdrehungen auf 4-528R, in Schweden auf Karusell KFF 223, in den Niederlanden auf Artone AP 22.014
1960 – The Fendermen auf dem Album Mule Skinner Blues, Soma MG-1240, in Kanada 1961 auf Point Records P-213
1960 – Alan Knight auf Tide Records T-0011
1961 – Los Salvajes auf Columbia 5043
1962 – Bob Harris and the Kings Four auf EAI PS-101
1963 – Los Zodiac auf Odeon del Peru 8825
1970 – Marty Wilde auf dem Album Born to Rock ’n’ Roll, Philips 6308 010
1979 nahm sich Johnny Burnettes Sohn Rocky erstmals des Titels seines Vaters und seines Onkels an und startete eine Reihe von Coverversionen im Stile der stärker werdende Neo-Rockabilly- und Psychobilly-Szene, die so auf den Song mit dem treibenden Riff aufmerksam wurde. Seitdem wurde der Titel in mindestens 40 Versionen aufgenommen und veröffentlicht, darunter 2004 von der Rockabilly-Band Los Gatos aus Mexiko und 2009 von Las Ondas Marteles erneut in spanischen Versionen. Von Robert Gordon, Rocky Burnette, Tav Falco’s Panther Burns, den Astro Zombies und den Meteors liegen jeweils mehrere Versionen, darunter von Live-Auftritten vor. Letztere führen Bertha Lou seit ihrer frühen Karriere in ihrem Live-Repertoire, so dass verschiedene Bootlegs kursieren, die aber in folgender Liste nicht aufgeführt sind.
1979 – Rocky Burnette auf dem Album Son of Rock ’n’ Roll, EMI EMC3323
1979 – The Customs auf dem Album Long Gone
1981 – The Urbations auf einer EP von Wild Child Records
1983 – Tav Falco’s Panther Burns auf der EP Blow Your Top, Rough Trade RT-114T
1983 – The Memphis Rockabilly Band mit Jeff Spencer auf dem privaten Label MRB und auf dem Album Bertha Lou
1986 – Die Freie Garage auf dem Album Speedmeat, White Noise 15061
1989 – Tav Falco’s Panther Burns auf dem Live-Album Midnight in Memphis, New Rose Records 185
1991 – The Meteors auf dem Album Madman Roll, Sonovabitch ROTT 90022
1992 – Johnny and the Headhunters auf dem Album Real Rock N Roll
1992 – The Meteors auf dem Live-Album Live 4 … International Wreckers, Sonovabitch ROTT 90062
1993 – Colin Winski auf dem Album Helldorado, Fury FCD-3027
1995 – Los Marauders auf dem Album Every Song We Fuckin’ Know, Teenbeat 122
1996 – Hot Stuff auf dem Album Only For Hep Cats, Tail T-10-1
1997 – Robert Gordon auf dem Album Robert Gordon, Llist LLT 00792
1997 – The Astro Zombies auf dem Album The Astro Zombies Are Coming, Banana Juice Records (erste Version)
1999 – The Meteors auf dem Album John Peel Session, Raucous RAUC 044 (bereits 1985 für die BBC aufgenommen)
1999 – The Bottletones auf dem Album Corn Rampin’, Relay Records
2000 – Junior Marvel auf dem Album Early and Unreleased, Rundell CD/LP 023
2001 – The Rockin’ 8 Balls auf dem Album Eight Balls O’Fire, Goofin’ 6108
2001 – Rudy LaCrioux & The Allstars auf dem Album Let’s Have a Ball, Nervous
2001 – Rocky Burnette, Darrel Higham & The Enforcers auf dem Album Hip Shakin’ Baby, Rockstar Records RSRCD-021
2002 – Robin Sylar unter der Schreibweise Bertha Lu auf dem Album Bust Out, Race Records und TopCat Records
2003 – The Meteors auf dem Live-Album From Beyond, Raucous RAUCLP 124 (bereits in den 1980ern aufgenommen)
2003 – Bell Hops auf dem Album Wild, Wet and Juicy, ROCKCD-9416
2003 – Ratso & Switchblade auf dem Album Playing with Rats, Sphincter 312
2003 – The Astro Zombies auf dem Album Mutilate, Torture and Kill, Nova Express (zweite Version)
2003 – Bloodshot Bill auf dem Album Trash Addict, Fake Records
2004 – Los Plantronics auf dem Album La Orchestra Diabolica, Mariachi Productions 004
2004 – The Hicksville Bombers auf dem Album The Devil Made Us Do It, Raucous CD RAU 153
2004 – Alan Leatherwood auf dem Album Rock, Bop, Folk and Pop Vol. 1 Featuring Remember the Alamo, Ohio Moon
2004 – Los Gatos auf dem Album Lo Que Mata, No Es el Auto, Grabaciones Alicia GACD-018
2004 – Jeff Simmons auf dem Album Blue Universum, Blue Fox Records
2005 – Robert Gordon & Chris Spedding auf dem Live-Album Rockin’ the Paradiso, Last Call CD/DVD 3113142
2005 – Atomic Hi-Tones auf der EP Wolfcat, Twaino Records
2006 – The Astro Zombies auf dem Live-Album Burgundy Livers, Raucous
2007 – R. J. and the Phantoms auf dem Album What’s the Rumor, Red Shoot Records CD RS 100
2007 – Hellcats auf dem Album I’ve Got a Devil Inside, Tedly Serious TED CD-102
2007 – Blue Rockin’ auf dem Album Rockin Boogie Trash, Part CD 660002
2007 – Robert Gordon mit Link Wray und Danny Gatton auf dem Live-Album Lotta Lovin’, Climate Change CD 004 (aufgenommen 1983)
2008 – Mike Mok and the Em-Tones auf der Compilation Worldwide Rockabilly Vol. 1 – Let’s Kill Someone, Louisiana Records LR 5001
2009 – Las Ondas Marteles auf dem Album On Da Rocks, Because
2010 – Homer Henderson auf dem Album Used Without Permission, Lulie 105
2010 – Gru-V-Tones featuring Boppin’ Bettie auf dem Sampler Finnish Rock’ n ’Roll 2010, Talsti EDCD1008
2011 – Bird Doggin’ Daddies auf dem Album Hopped Up, Rhythm Bomb
2011 – Carlos Mejuto auf dem Album Carlos Mejuto, Wild
2011 – The Boothill Stompers auf dem Album Goin’ Our Own Way
2014 – Mike Sanchez auf dem Album So Many Routes
2014 – Junior Marvel auf CAB 7003
2015 – The Dyna Jets auf der limitierten Maxi-Single The Calling, Mandinga Records MNDG 004
2017 – Lucky 13 auf dem Album Trouble & Love, Part Records
2022 – Mark Lee Allen auf dem Album Locked Down!, Bear Family BAF14025
== Adaptionen ==
=== Twinkie Lee ===
Im Jahr 1960 war der kalifornische Sänger Julian „Larry“ Bright mit Mojo Workout in den Charts und benötigte für eine Fernsehshow bei Gastgeber Dick Clark einen neuen Anzug und einen Song. Da ihm sein Label Tide Records kurzfristig weder eine Geldzusage noch einen Liedvorschlag machen konnte, unterschrieb Bright einen zweiten Vertrag bei Rendezvous Records. Dorsey Burnette zeigte Bright den Song seines Bruders und arbeitete ihn zu Twinkie Lee um, als er in der folgenden Aufnahmesession im Studio am sechssaitigen Bass der Marke Danelectro aushalf. Verschiedentlich auch Twinkee Lee oder mit Bindestrich Twinkie-Lee geschrieben, war der Songtitel dem Namen einer Katze nachempfunden, die der Tochter des örtlichen DJs Cluck Blore gehörte, damit dieser dem Lied mehr Airplay gebe. Die Veröffentlichung von Twinkie Lee auf Rendezvous R-124 mit Bright als Interpret und angeblich alleinigem Autor verursachte zweifachen Ärger: Zum einen klagte Marascalco seine Autorenrechte am Stück ein, zum anderen ließ sich das Label Tide Records, das auf seinen Vertrag mit Bright pochte, die Masterbänder aushändigen. Während Tide die Aufnahme an Highland Records weiterreichte, veröffentlichte Rendezvous den Song in einer zweiten Auflage, bei der als Interpret anstelle von Larry Bright dessen Pseudonym „Pete Roberts“ angegeben wurde. Zwar wurde auf der Neuausgabe der mit Rendezvous assoziierte Musikverlag Mardon Music durch Marascalcos Robin Hood Music ersetzt, die Autorencredits verblieben auf den Tonträgern aber weiterhin bei Bright, ebenso bei späteren Coverversionen von den Fairviews, von Wayne Stevenson sowie von Alan Clark. 1966 spielte der Schlagzeuger Gary Walker auf dem Höhepunkt der Karriere seiner Band The Walker Brothers zwei Singles als Solo-Künstler ein und wählte dafür unter anderem Twinkie-Lee. Erneut wurde als Autor Larry Bright genannt, der von sich behauptet, er habe den Song den Walker Brothers persönlich vorgestellt. Im Folgejahr wurde Twinkie-Lee auch bei einer Reunion-Tour der Walker Brothers durch Japan für das zugehörige Live-Album berücksichtigt, als die Band Anfang Januar in der Osaka Festival Hall gastierte. Spätere Einspielungen erfolgten durch Gary Walkers japanische Begleitband The Carnabeats und 2004 durch die Band The Young sowie durch die japanische Sängerin Miko, deren Aufnahme nur auf Tonband herauskam. Eine Notenausgabe der Gary-Walker-Version von Twinkie Lee erschien beim Londoner Musikverlag Campbell Connelly & Co. Ltd.
1960 – Larry Bright auf Rendezvous R-124 (Titelschreibweise: Twinkie-Lee), in der zweiten Auflage unter dem Pseudonym „Pete Roberts“ und erneut 1964 auf Highland 1052
1963 – Alan Clark & The Starfires (lange unveröffentlicht), erstmals auf CD CAR 003
1964 – The Fairviews auf SpinIt 120 (Titelschreibweise: Twinkee Lee)
1966 – Gary Walker auf CBS 202081 (Titelschreibweise: Twinkie-Lee)
1968 – Wayne Stevenson auf Tide 2700
1968 – The Walker Brothers auf dem Live-Album The Walker Brothers in Japan, Phonogram SFL 9046/7, 1987 neu aufgelegt von Bam-Caruso Records
1968 – The Carnabeats auf der Compilation Group Sounds World Top Hits
1968 – Miko auf dem Tonband Ah! Soul… Introducing Miko on Stage, Superscope A010-N
2004 – The Young auf dem Album The New World of Youngsoul, P-Vine Records 25008
=== Snacky Poo ===
Auch John Marascalco versuchte, das Potential des Songs voll auszuschöpfen, indem er das Lied neu arrangierte und mit anderem Text am 16. Januar 1962 als Snacky Poo registrieren ließ. Chester Pipkin, sein Cousin Gary „Hart“ Pipkin, Billy Mann und Warren Joyner sangen seit 1961 zusammen in der Doo-Wop-Gruppe The Electras, die für die Veröffentlichung von Snacky Poo auf Infinity Records in „The Ring A Dings“ umbenannt wurden. Als Koautoren werden Gary Pipkin und Chesters ehemaliger Gesangspartner John Carson von den Valiants genannt. Als Instrumentalspur verwendete Marascalco die Originalaufnahme aus dem Studio Master Recorders von 1957. Das erweiterte Gesangsarrangement führte aber zu einer Aufteilung des Titels auf beide Seiten der Single, so dass die Rückseite als Snacky Poo Part Two getitelt wurde. Marascalco, der A&R-Manager von Infinity war, lizenzierte die Aufnahme zwei Jahre später an Mercury Records weiter, welche die Interpreten erneut umbenannten zu „The Del-Mars“. Mercury 72244 erschien mit schwarzem und in einer zweiten Auflage mit rotem Aufkleber. 1989 verwendete Angel Records aus Kalifornien Snacky Poo als B-Seite hinter All My Love Belongs to You der Teenqueens. Im Februar 2012 kam eine unautorisierte Neuauflage von Infinity INX-014 aus Großbritannien auf den Markt, die den weiß-roten Aufkleber der Audition-Copy trägt.
1962 – The Ring A Dings auf Infinity INX-014, 1964 als The Del-Mars auf Mercury 72244, erneut 1989 auf Angel #2.
=== Rita May ===
Während der Aufnahmen zum Album Desire im Jahr 1975 spielte Bob Dylan den Song Rita May ein, der stark an Bertha Lou angelehnt ist. Die Bob Dylan und dem Koautor Jacques Levy zugeschriebene Hommage an die Feministin Rita Mae Brown kam als B-Seite einer Live-Version von Stuck Inside of Mobile with the Memphis Blues Again auf Columbia Records heraus. Als Komponist wird ausschließlich Dylan geführt, ein Hinweis auf die prominente Vorlage ist nicht zu finden. Der Rockabilly-Kenner Dylan bestätigte auf Nachfrage des Plattensammlers und seines damaligen Bassisten Rob Stoner, dass er Bertha Lou und deren Urheberschaft kenne, kommentierte die deutliche melodiöse Übereinstimmung mit seiner Rita May aber nicht. Jerry Lee Lewis coverte Rita Mae drei Jahre nach Entstehung. Der deutsche Universalkünstler Michel Montecrossa spielte im Zuge seiner umfassenden, über mehrere Jahre andauernden Dylan-Neuinterpretation 2003 auch Rita May ein.
1976 – Bob Dylan auf Columbia 3-10454
1979 – Jerry Lee Lewis auf Elektra 46067
2003 – Michel Montecrossa auf dem Album Michel Montecrossa’s Michel & Bob Dylan Fest 2003, Mira Sound 803007
=== Das Gitarrenriff als Musikzitat ===
Das einfache, über Achtelnoten aufsteigende Bertha-Lou-Riff ähnelte einigen Gitarren- und Pianointros aus der Zeit seiner Entstehung: Vince Taylors Brand New Cadillac und Barrett Strongs Money (That’s What I Want) waren von 1959, Henry Mancinis Peter Gunn Theme bereits aus dem Vorjahr 1958. Note für Note zitiert wurde das Riff, als Jack Bedient und Bill Britt 1965 für eine Aufnahmesession ihrer Mersey-Band Jack Bedient and the Chessmen den Song Double Whammy schrieben und nach einem passenden energiereichen Gitarrenintro suchten. Der Gitarrist Kevin Woods schlug das markante Bertha-Lou-Riff vor. Double Whammy wurde mit einem 19. Platz der Charts von KCBN 1230 AM in Reno, Nevada ein regionaler Erfolg. Auf einer 2007 erschienenen Extended Play des britischen Voodoo Trombone Quartets befindet sich das Titelstück The Phantom, welchem das Mollriff von Bertha Lou zugrunde liegt.
== Bedeutung, Kritik und Erfolg ==
Bertha Lou ist einer der meistgecoverten Songs aus dem gemeinsamen Werk und Soloschaffen der Burnette Brothers. Nach Angaben Rocky Burnettes einigten sich die Familien von Johnny und Dorsey Burnette Jahre nach dem Tod der beiden Brüder mit dem Verleger Marascalco über die Rückgabe von Johnnys Anteil an den Autorenrechten. Zwar schlug sich diese Änderung nicht in der Datenbank der amerikanischen Verwertungsgesellschaft BMI nieder, bei der deutschen GEMA wird aber seitdem Johnny Burnette als Co-Autor angeführt. Auf den Tonträgern wurde Johnny Burnette allerdings nie als Autor genannt. Die „Bertha-Lou-Kontroverse“ wird immer wieder in Musiklexika und -zeitschriften aufgegriffen und über Entstehung und Aufnahme des Songs in Blogs und Foren diskutiert. Für Lee Cotten stellt „die Saga von Bertha Lou“ „eine der verworrensten Geschichten des frühen Rock-’n’-Roll“ dar. In Marascalcos Überarbeitung des „Roh-Diamanten“ erkannte Stuart Colman Johns „Talent, eine Grundidee zur Blüte zu führen.“Durch die vielen Coverversionen und Adaptionen kann der Song als „Standard“ des Rockabilly-Genres gelten. In nationale Charts gelangte der Titel allerdings nur zweimal: Die Version von Clint Miller erreichte 1958 den 79. Platz der amerikanischen Billboard-Charts und den 49. Platz der amerikanischen Chessbox-Charts, Gary Walkers Cover von Twinkie Lee konnte 1966 in den britischen Charts bis auf Platz 26 vordringen. Auch in der Hochphase des Rockabilly zwischen 1956 und 1959 waren in diesem Genre Chartplatzierungen abgesehen von Hits Elvis Presleys, Jerry Lee Lewis’ und Carl Perkins’ selten.Klaus Kettner vom Münchner Re-Issue-Label Hydra Records stellte zwischen 2007 und 2010 viele der frühen Coverversionen und Adaptionen in der dreiteiligen CD-Reihe Like What We Wrote. The Songs of Johnny and Dorsey Burnette zusammen und hält Bertha Lou im zugehörigen Booklet „immer noch für einen großartigen, rockenden Song“. Billy Poore macht in ihm „explosiven Rockabilly“ aus, alles in allem „Dorseys beste Rockabilly-Platte“, insbesondere dessen „reiche, tiefe Stimme“ in der Enzyklopedia of Rock gelobt wird. Bereits die mit Veröffentlichung des Liedes 1957 erschienenen Besprechungen der Versionen von Johnny Faire und Clint Miller im Billboard-Magazin bescheinigten dem Song ein großes Potenzial. Der „atemlose, hysterische Sound“ mit dem „heruntergehämmerten, starken Rhythmus“ der Begleitband von Faires „aufregender“ Performance passe sehr gut zum Geschmack der Teenager. Clint Miller zeige in seiner soliden Coverversion einen „Rockablues“ im „Presley-Sound“, mit dem er auch im Country-&-Western-Markt punkten könne. Zur zeitgenössischen Rezeption des Titels gehört auch Don Covays Song Believe It or Not von 1959 über eine DJ-Convention, dessen Text aus den Titeln von bekannten Rock-’n’-Roll-Nummern aufgebaut ist. In diesen Reigen ist auch Bertha Lou aufgenommen.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bertha_Lou
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Besteigung aller Achttausender
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= Besteigung aller Achttausender =
Die Besteigung aller Achttausender, also der weltweit vierzehn Berge mit einer Höhe von über 8000 Metern, gilt als besondere Herausforderung im Höhenbergsteigen. Erst 44 Menschen ist dies gelungen (Stand: 2021). Siebzehn davon schafften es ohne die Zuhilfenahme von Flaschensauerstoff, was als noch außergewöhnlichere Leistung gilt.
Der Erste, der alle Achttausender bestiegen hat, ist Reinhold Messner aus Südtirol. Er begann 1970 und schloss die Serie am 16. Oktober 1986 ab. Im Frühjahr 2010 reihten sich mit Oh Eun-sun aus Südkorea und Edurne Pasaban erstmals zwei Frauen in die Liste ein, gefolgt von Gerlinde Kaltenbrunner im August 2011. Die Leistung der Südkoreanerin ist allerdings umstritten; u. a. wird einer ihrer Gipfelerfolge in der Fachwelt in Frage gestellt.
Mehrere weitere Bergsteiger haben behauptet, alle Achttausender bestiegen zu haben, jedoch werden nicht alle ihrer Besteigungen anerkannt. Wegen des teilweise massiven Einsatzes von Helfern und Hilfsmitteln wird eine Debatte über die Vergleichbarkeit bergsteigerischer Leistungen geführt.
== Die Achttausender ==
Auf der Erde gibt es 14 Achttausender. Im Einzelnen sind das Mount Everest (8848 m), K2 (8611 m), Kangchendzönga (8586 m), Lhotse (8516 m), Makalu (8485 m), Cho Oyu (8188 m), Dhaulagiri (8167 m), Manaslu (8163 m), Nanga Parbat (8125 m), Annapurna (8091 m), Hidden Peak (auch Gasherbrum I genannt, 8080 m), Broad Peak (8051 m), Gasherbrum II (8034 m) und Shishapangma (8027 m). Zehn dieser Berge befinden sich im Himalaya, die übrigen vier im angrenzenden Karakorum. Sie verteilen sich auf die Länder Indien, Nepal, Pakistan und die Volksrepublik China mit dessen autonomen Provinzen Tibet (Himalaya) und Xinjiang (Karakorum).
Eine Reihe von Nebengipfeln liegt ebenfalls in einer Höhe von 8000 Metern oder mehr. Für die Besteigungsserie werden jedoch nur die Hauptgipfel gewertet, zumal kein allgemein verbindliches Kriterium existiert, wann eine Erhebung als Nebengipfel zu klassifizieren ist (vgl. hierzu den Artikel Berggipfel).
Für die Besteigung aller Achttausender wird auch die Kurzschreibweise 14×8000 oder 14×8000er verwendet.
== Geschichte ==
=== 1950er und 1960er Jahre – Erstbesteigungen der Achttausender ===
Als erster Achttausender wurde am 3. Juni 1950 die Annapurna durch Maurice Herzog und Louis Lachenal im Rahmen einer französischen Expedition bestiegen. Drei Jahre später, am 29. Mai 1953, standen mit Sir Edmund Hillary und dem Sherpa Tenzing Norgay zum ersten Mal Menschen auf dem höchstgelegenen Punkt der Erde, dem Hauptgipfel des Mount Everest. Als letzter Achttausender wurde der niedrigste der vierzehn bestiegen, der Shishapangma: Am 2. Mai 1964 erreichten zehn Bergsteiger einer chinesischen Expedition seinen Gipfel.
Zwei Bergsteiger, beide Österreicher, haben jeweils zwei Achttausender erstbestiegen: Hermann Buhl und Kurt Diemberger. Buhl hatte am 3. Juli 1953 als Erster auf dem Nanga Parbat gestanden. Gemeinsam mit Diemberger und zwei weiteren gelang ihm vier Jahre später, am 9. Juni 1957, die Erstbesteigung des Broad Peak. Diemberger war außerdem Teilnehmer der sechsköpfigen Gruppe, die am 13. Mai 1960 erstmals den Gipfel des Dhaulagiri erreichte.
=== 1970er Jahre – erste Achttausender-Sammler ===
Nachdem alle Achttausender erstbestiegen waren, strebten Höhenbergsteiger ab den 1970er-Jahren gezielt die Besteigung mehrerer Achttausender an. Oft setzten sie sich dabei zusätzlich das Ziel, nicht den Routen der Erstbesteiger zu folgen, sondern andere, schwierigere Anstiegswege zu wählen.Nach der Erstbegehung der Rupalwand des Nanga Parbat 1970 und den Gipfelerfolgen auf dem Manaslu 1972 und dem Hidden Peak 1975 war Reinhold Messner der erste Mensch, der drei dieser Berge bestiegen hatte, den letztgenannten in einer Zweierseilschaft mit dem Österreicher Peter Habeler. Diese letzte Besteigung war ein Novum, denn bis dahin waren die Achttausender nur im Expeditionsstil bestiegen worden, also mit Lagerkette, Trägern und Fixseilen. Das Team Messner-Habeler erregte noch größeres Aufsehen, als die beiden 1978 gemeinsam den Mount Everest bestiegen – als Erste ohne zusätzlichen Sauerstoff, was von vielen lange Zeit für unmöglich gehalten worden war. Im gleichen Jahr war Diemberger am Mount Everest und am Makalu erfolgreich. Damit konnten Messner und Diemberger jeweils vier der höchsten Gipfel in ihrem Tourenbuch verzeichnen; Messner fügte im Jahr darauf noch den K2 hinzu. Vom Ziel, alle vierzehn Achttausender zu besteigen, wurde – zumindest öffentlich – noch nicht gesprochen. Gleichzeitig wurden die Schwierigkeiten geringer, in Nepal, Pakistan und China die für eine Höhenexpedition notwendigen behördlichen Erlaubnisse zu erhalten. Infolgedessen wurden Expeditionen zu den Achttausendern nun auch kommerziell organisiert. Zu den ersten zählte eine von Max Eiselin öffentlich ausgeschriebene Dhaulagiri-Expedition 1980, innerhalb derer unter anderem der Schweizer Marcel Rüedi seinen ersten Achttausender bestieg.
=== 1980er Jahre – Wettlauf der Männer ===
1981 bestieg Messner seinen sechsten Achttausender und 1982 gleich drei weitere, was bis dahin binnen eines Jahres noch niemand geschafft hatte. Beim Aufstieg zum letzten, dem Broad Peak, begegnete er den beiden Polen Jerzy Kukuczka und Wojciech Kurtyka. Für Kukuczka war der Berg bereits der vierte Achttausender.
Im Juni 1983 unterboten Rüedi und sein Schweizer Landsmann Erhard Loretan Messners Geschwindigkeitsrekord aus dem Vorjahr, indem sie gemeinsam drei Achttausender innerhalb von nur fünfzehn Tagen bewältigten: Gasherbrum II, Hidden Peak und Broad Peak. Einen Monat später erstieg Kukuczka ebenfalls Gasherbrum II und Hidden Peak. Noch im selben Jahr machte Messner seine Absicht öffentlich, alle Achttausender zu besteigen. Er hatte im Mai mit dem Cho Oyu bereits den zehnten erklommen. Sein dichtester Verfolger war Kukuczka mit nun sechs Achttausendern; Rüedi und Loretan hatten je vier vorzuweisen.
Während Messner und Kukuczka 1984 keinen Gipfelerfolg auf einem der fehlenden Achttausender verzeichnen konnten, bestiegen die beiden Schweizer in diesem Jahr jeweils zwei und zogen so mit Kukuczka gleich.
Im Januar 1985 kletterte Kukuczka auf den Dhaulagiri und weniger als einen Monat später auf den Cho Oyu. Zwei Winterbesteigungen binnen so kurzer Zeit waren nicht nur eine viel beachtete Leistung, der Pole verkürzte Messners Vorsprung damit auch auf nur noch zwei Gipfel. Die Frage, wer zuerst alle vierzehn Achttausender bestiegen haben würde, erregte inzwischen auch die Aufmerksamkeit der internationalen Presse. Vor Ende der Saison 1985 schaffte Kukuczka seinen neunten Achttausender, Rüedi und Loretan jeweils die Nummern 7 und 8, Messner erhöhte auf zwölf.
1986 bestieg Kukuczka seinen zehnten und elften Achttausender, während Rüedi und Loretan jeweils ihren neunten erreichten, bevor Messner im September zu seinem vorletzten, dem Makalu, aufbrach. Am Berg war zur gleichen Zeit Rüedi, zusammen mit dem Polen Krzysztof Wielicki. Wielicki gelangte zuerst zum Gipfel, für ihn war es der fünfte Achttausender. Auch Rüedi stand auf dem Gipfel, starb aber beim Abstieg von seinem zehnten Achttausender und wurde später von Messner tot aufgefunden.Am 16. Oktober 1986 erreichte Messner den Gipfel des Lhotse und hatte damit die Achttausender-Reihe als Erster komplettiert. Kukuczka stand zu diesem Zeitpunkt bei elf Gipfeln und sollte bis zum Ende des Jahres mit dem Manaslu noch den zwölften schaffen; Loretan erlitt derweil den ersten Fehlschlag seiner Bergsteigerkarriere, als er an seinem zehnten Achttausender scheiterte. Im Jahr darauf bestieg Kukuczka seine letzten beiden und sicherte sich damit Platz 2. Erst acht Jahre später (1995) vervollständigte Erhard Loretan als Dritter seine Liste.
2007 waren weitere Achttausender-Sammler unterwegs: Der Italiener Silvio Mondinelli reihte sich an diesem Tag als 13. in die Liste der Bergsteiger ein, die alle Achttausender bestiegen haben. Für den Ecuadorianer Ivan Vallejo und für Ralf Dujmovits änderte sich dagegen vorerst nichts, da beide schon zuvor auf dem Broad Peak gestanden hatten. Vallejo hatte noch einen, Dujmovits noch zwei Gipfel vor sich. Beide schlossen die Besteigungsserie ab, Dujmovits am 20. Mai 2009 als erster Deutscher.
=== 2006 bis 2010 – Die ersten Frauen ===
Als aussichtsreichste Anwärterinnen galten Ende der Saison 2006 die Österreicherin Gerlinde Kaltenbrunner, die Italienerin Nives Meroi und die Spanierin Edurne Pasaban. Anders als bei den Männern gab es keine klare Favoritin mit einem deutlichen Vorsprung: Meroi und Kaltenbrunner hatten beide 1998 erstmals auf einem Achttausender gestanden und inzwischen jeweils neun Achttausender bestiegen. Pasaban, die 2001 debütiert hatte, hatte nur einen Gipfel Rückstand. Im Mai 2007 stand Meroi auf den Gipfel des Mount Everest. Knapp zwei Monate später gingen Kaltenbrunner und Pasaban gemeinsam zum Gipfel des Broad Peak.
In der Presse wurde dies als der große Wettlauf der Frauen inszeniert, allerdings haben alle 3 Anwärterinnen widersprochen. Meroi war der Ansicht, dass dies von der Presse hochstilisiert wurde zu einem irrwitzigen Kräftemessen, das die Männer schon veranstaltet hätten. „Sie haben ein männliches Prinzip auf die Frauen umgelegt und das ist wirklich schade“.Die drei waren nicht die ersten weiblichen Achttausender-Anwärterinnen: Wanda Rutkiewicz hatte von 1975 bis 1990 sechs Achttausender bestiegen und wollte 1991/1992 binnen Jahresfrist alle verbleibenden acht in großer Höhe durchsteigen, ohne dazwischen ins Flachland abzusteigen. Sie schaffte 1991 im Alleingang zwei; im Mai 1992 wurde sie beim Aufstieg zum Kangchendzönga zuletzt gesehen und gilt seither als verschollen.2008 hatten zwei weitere Frauen so viele Achttausender bestiegen, dass sie nun auch zu den möglichen Kandidatinnen für den Titel der ersten 14×8000er-Frau gezählt wurden: die Südkoreanerinnen Oh Eun-sun und Go Mi-sun. Erstere hatte schon 1997, also vor den drei Europäerinnen, auf einem Achttausender gestanden. Dann war sie am Makalu, am Broad Peak und am K2 gescheitert, und es hatte sieben Jahre gedauert, bis sie mit dem Mount Everest einen zweiten Achttausender bewältigte. 2006 hatte sie ihren dritten geschafft, 2007 zwei weitere. Fortan setzte sie in großem Umfang Hilfsmittel ein, um möglichst viele Achttausender pro Saison besteigen zu können, flog beispielsweise mit Hubschraubern ins Basislager und nutzte große Teams, um sich Ausrüstung tragen und Wege vorspuren zu lassen. So „sammelte“ sie allein im Jahr 2008 vier Achttausender und verkürzte damit den Vorsprung von Kaltenbrunner, Meroi und Pasaban, die Ende der Saison mit jeweils elf Achttausendern gleichauf lagen. Sie sprach offen davon, alle Achttausender besteigen zu wollen, und nannte das Vorhaben „Projekt 14“.Go Mi-sun hatte 2006 am Cho Oyu debütiert, 2007 und 2008 gelangen ihr jeweils drei Achttausender; ihre Methoden entsprachen denen Ohs. 2009 schaffte sie allein im Frühjahr drei Achttausender, im Sommer wollte sie drei weitere folgen lassen. Beim Abstieg vom Nanga Parbat, ihrem elften Achttausender, stürzte sie zu Tode. Meroi bestieg ab 2009 vorerst keine Achttausender mehr, weil ihr Ehemann und Seilpartner schwer erkrankte.
Oh Eun-sun setzte 2009 ihre Besteigungen in schnellem Rhythmus fort und verzeichnete abermals vier Achttausender in einem Jahr in ihrem Tourenbuch. Im Spätjahr unternahm sie sogar noch zwei Versuche am einzigen verbleibenden Gipfel, der Annapurna, brach aber beide ab. Dennoch lag sie mittlerweile mit dreizehn der vierzehn Berge in Führung vor Kaltenbrunner und Pasaban mit je 12. Ihre außergewöhnlichen Leistungen hatten allerdings Skepsis ausgelöst. So wurde insbesondere ihre Besteigung des Kangchendzönga am 6. Mai 2009 in Frage gestellt. Verschiedene Chronisten und Organisationen verweigern die Anerkennung dieses Gipfelerfolgs (für weitere Details siehe Streit um die Besteigung des Kangchendzönga). Die Himalaya-Chronistin Elizabeth Hawley, maßgebliche Instanz für die Anerkennung von Besteigungen in Nepal, listet die Besteigung in ihrer Himalayan Database als „umstritten“.Am 17. April 2010 bestieg Pasaban ihren vorletzten Achttausender, die Annapurna, und holte dadurch ihre Konkurrentin Oh Eun-sun nochmals ein. Aber bereits zehn Tage später war Oh Eun-sun auf dem gleichen Gipfel und gilt damit als erste Frau, der die Besteigung aller Achttausender gelang. Pasaban wurde knapp drei Wochen später mit der Besteigung des Shishapangma zweite.
Kaltenbrunner vervollständigte die Serie am 23. August 2011 als erste Frau ohne Verwendung von Flaschensauerstoff. Meroi erreichte 2017 den Gipfel der Annapurna, ihr 14. Achttausender; sie hatte alle Gipfel im Alpinstil ohne Verwendung von Sauerstoffflaschen und ohne große Expedition bestiegen.
== Bewertung und Würdigung ==
=== Anerkennung der Gipfelerfolge ===
Es gibt keine offizielle Stelle, die für die Anerkennung eines Gipfelerfolges auf einem Achttausender zuständig wäre. Wer für sich reklamiert, einen dieser Berge bestiegen zu haben, muss die Fachwelt davon überzeugen. Heute werden die Besteigungen häufig durch Foto- oder Videomaterial dokumentiert, aber auch Zeugenaussagen und detaillierte Besteigungsberichte werden nach wie vor als Nachweis verwendet.So löste die vage Anstiegsbeschreibung im Fall der vermeintlichen Besteigung des Lhotse 1997 durch die Italiener Sergio Martini und Fausto de Stefani Zweifel aus. Ein nachfolgender Bergsteiger, Park Young-seok, konnte klären, dass die Fußspuren der beiden mindestens 150 Höhenmeter unterhalb des Gipfels endeten. Die Besteigung wurde letztlich nicht anerkannt. De Stefani wird daher mit nur dreizehn Achttausendern in den Statistiken geführt; Martini wiederholte den Lhotse drei Jahre später und vervollständigte damit seine Achttausender-Liste.Für die Besteigung eines Achttausenders in Nepal wurde die Einschätzung der US-amerikanischen Journalistin und Chronistin Elizabeth Hawley allgemein anerkannt. Hawley erfasste seit Beginn der 1960er-Jahre jede Expedition zu den Sieben- und Achttausendern Nepals. Diese Datensammlung bildet die Grundlage der Himalayan Database. Sie traf sich mit den Teilnehmern vor und nach einer Besteigung und befragte sie zu den gewählten Aufstiegsrouten, zur Lage der Höhencamps, zum Zeitrahmen und Ähnlichem. Sollte Hawley danach zu dem Urteil kommen, dass ein Bergsteiger den Gipfel nicht erreicht hat, hätte die Besteigung international keine Anerkennung gefunden. Für Achttausender-Besteigungen außerhalb Nepals gibt es keine mit Hawley vergleichbare Instanz.2022 legte der Achttausender-Chronist Eberhard Jurgalski eine alternative Liste zu den Gipfelerfolgen vor. Auf Basis der Auswertung von Gipfelfotos kommt er zu dem Schluss, dass bisher viel weniger Bergsteiger die genauen Gipfel der 14 Achttausender erreicht haben könnten. Erst
Edmund Viesturs hätte von 1989 bis 2005 alle 14 Gipfel bestiegen.
=== Bewertung der Konkurrenzsituationen ===
Ob die Besteigungsserie einen sportlichen Wettbewerb darstellt, wird von den Medien und den Beteiligten unterschiedlich bewertet. Die grundsätzliche Frage, ob Bergsteigen ein Sport ist, der sich zu Rivalitäten, Wettkämpfen und Leistungsvergleichen eignet, wird bereits seit dem 19. Jahrhundert diskutiert. Vor dem Ersten Weltkrieg wetteiferten deutsche und österreichische Bergsteiger darum, wer als Erster auf alle Viertausender-Gipfel der Alpen steigen würde. Sie bekannten sich – nicht ohne dafür kritisiert zu werden – offen dazu, einen Wettstreit auszutragen. Im Unterschied dazu wird die Frage, ob es einen Wettlauf um die Position des bzw. der Ersten auf allen Achttausendern gegeben hat, von den Beteiligten uneinheitlich beantwortet.
Obwohl Reinhold Messner 1983 angekündigt hatte, alle Achttausender besteigen zu wollen, hat er nach eigenen Angaben darin nie einen Wettbewerb gesehen. In späteren Interviews sagte er mehrfach, es sei ihm nicht darum gegangen, einen Rekord aufzustellen, indem er als Erster alle Achttausender bestieg. Nach seiner Darstellung waren es die Besteigungen selbst, die ihn interessierten. Von einem Wettrennen mit Kukuczka, Rüedi oder Loretan sei er schon deswegen nicht ausgegangen, weil er gegenüber den anderen einen so großen Vorsprung gehabt habe, dass er de facto uneinholbar gewesen sei. Darüber hinaus sei Bergsteigen kein Wettkampfsport und dürfe nicht zur Rekordjagd missbraucht werden. Ein Wettlauf sei „von den Medien aufgebauscht“ worden.Tatsächlich hatte Messner Ende 1983 nur noch vier Gipfel vor sich und genauso viele Vorsprung auf Kukuczka und noch zwei mehr auf Rüedi und Loretan. In der Saison nach Messners Ankündigung bestiegen er und Kukuczka jeweils Achttausender, auf denen sie bereits gestanden hatten. Wäre es ihnen darum gegangen, so schnell wie möglich die Achttausenderliste zu vervollständigen, hätten sie sich stattdessen an die verbleibenden Gipfel machen müssen. Ein Wendepunkt kann in Kukuczkas Doppelerfolg auf Dhaulagiri und Cho Oyu Anfang 1985 gesehen werden. Der Pole halbierte innerhalb von knapp vier Wochen Messners Vorsprung auf nur noch zwei Gipfel, die Aufmerksamkeit der internationalen Presse wuchs und mit ihr der Druck auf die Bergsteiger. Der Startschuss für das „Pferderennen“, wie Kurt Diemberger die inoffizielle Konkurrenz zwischen Messner und Kukuczka bezeichnete, war gefallen. Die Medien konzentrierten sich auf die magische Zahl 14 und lancierten so das „Rennen der Bergkönige“. Elizabeth Hawley verglich die Dramatik der Schlussphase dieses Rennens mit der eines Weltcup-Finales. Nach ihrer Einschätzung sah Messner die Situation nicht als ein Wettrennen an, sondern als eine persönliche Herausforderung. Für andere, etwa Kukuczka, soll es ein Wettkampf gewesen sein. Dieser hat selbst nie gesagt, dass er einen Rekord angestrebt hatte. Auch bezüglich Messner kann man zu einem anderen Urteil kommen. So stellen mehrere deutsche Tageszeitungen darauf ab, dass sich Messner 1986 mit dem Hubschrauber vom Makalu- zum Lhotse-Basislager fliegen ließ. Sie sehen den Grund darin, dass er Zeit sparen wollte, um das Rennen gegen seinen Widersacher Kukuczka zu gewinnen. Offener bekannte sich Erhard Loretan zur Lage: „Ich würde lügen, wenn ich behauptete, der Wettlauf auf die vierzehn Achttausender habe mich nie interessiert,“ schreibt er in seinem autobiografischen Werk Den Bergen verfallen und fügt hinzu: „Mein Gehirn widerstand dem Countdown nicht, der mir überall vorgeleiert wurde.“ Im Anschluss beschreibt er, dass er eine Rivalität zum Franzosen Benoît Chamoux empfand; die beiden kämpften um Position Drei in der Liste der 14×8000-Besteiger.Bei den Olympischen Winterspielen 1988 in Calgary wollte das IOC Messner und Kukuczka jeweils Olympische Orden in Silber verleihen. Messner lehnte die Auszeichnung jedoch mit der Begründung ab, dass er so eine Neuauflage eines Wettbewerbs verhindern wolle. Kukuczka, der einen entscheidenden Unterschied zwischen der Ehrenmedaille des Olympischen Ordens und einer Olympiamedaille sah, nahm die Auszeichnung dagegen an.Als sich die ersten Frauen zweieinhalb Jahrzehnte nach den Männern anschickten, alle vierzehn höchsten Berge der Erde zu besteigen, wurde abermals ein Wettlauf von den Medien heraufbeschworen: Die Welt und Die Zeit titelten in ihren Online-Ausgaben jeweils vom „Wettlauf der Gipfelstürmerinnen“, die Frankfurter Allgemeine Zeitung von der „Achttausender-Jagd im Himalaja“, vom „Kampf um die Achttausender“ und vom „Duell über den Wolken“. Im Spiegel waren Schlagzeilen wie „Wettlauf in der Todeszone“ oder „Showdown im Himalaja“ zu lesen.
Die beteiligten Bergsteigerinnen reagierten unterschiedlich auf die sich entwickelnde Wettkampfsituation. Oh Eun-sun hat nie bestritten, dass es sich um einen Wettlauf handelte, noch dass sie den Titel der ersten 14×8000er-Frau wollte. Sie wird in diesem Zusammenhang mit dem Satz zitiert: „Ich habe eben einen Job zu erledigen.“ Noch klarer formulierte sie ihr Ziel 2009: „Ich habe die Motivation, die erste Frau zu sein, die alle 14 Achttausender besteigt.“ Auch Edurne Pasaban bekannte sich offen zu diesem Ziel. Sie sah sich jedoch von den spanischen Medien wegen der Konkurrenzsituation stark unter Druck gesetzt und begab sich zwischenzeitlich in psychologische Behandlung. Ganz anders positionierte sich Gerlinde Kaltenbrunner. Sie hat in Interviews immer wieder betont, dass sie keinen Wert darauf lege, die Erste zu sein. Hätte sie Ambitionen auf diesen Titel tatsächlich gehabt, hätte sie sich für die einfacheren Normalwege entschieden, so Kaltenbrunner; Konkurrenzdruck würde sie blockieren. Außerdem warnte sie vor den Risiken einer Rekordjagd: „Das Höhenbergsteigen ist viel zu gefährlich, um darin einen Wettstreit sehen zu wollen.“ Nives Meroi sagte bezüglich der Titeljagd: „Es gab eine Zeit, da habe ich diesen verrückten Zirkus tatsächlich mitgemacht,“ und zeigte sich froh darüber, ab einem gewissen Punkt aus dem Rennen gewesen zu sein.
=== Umstrittene Methoden ===
Der Einsatz verschiedener Hilfsmittel zur Besteigung der Achttausender ist umstritten. Dazu zählt vor allem der Gebrauch von Flaschensauerstoff als Aufstiegshilfe, aber auch die Unterstützung durch Hochträger und das besonders umfassende Sichern der Route mit vielen hundert Metern Fixseil. Die individuellen bergsteigerischen Leistungen treffen je nach Ausmaß der Verwendung dieser Hilfsmittel auf verschiedenartige Anerkennung.Eine besonders puristische Form des Bergsteigens ist der sogenannte Alpinstil. Hierbei werden die Gipfel solo oder in kleinen Seilschaften bestiegen, die Bergsteiger verzichten auf vorpräparierte Routen und tragen Ausrüstung und Verpflegung selbst. Als klassische Vertreter dieses Stils werden Messner, Kukuczka und Loretan aus der ersten Generation der Achttausender-Stürmer genannt. Sie waren auf schweren oder gar neuen Routen unterwegs, oft im Alleingang oder in Kleinstgruppen, häufig im Winter; Zusatzsauerstoff nutzte nur Kukuczka einmal, und zwar zeitweise bei der Erstbegehung des Südpfeilers des Everest. Wegen der hohen Anforderungen und Gefahren dieses Stils haben aber auch sie nur einzelne Besteigungen in reinem Alpinstil durchgeführt. Meist kam eine abgewandelte Form zum Einsatz, weil beispielsweise der Tiefschnee auf den Normalrouten schon durch andere Bergsteiger vorgespurt war. Da sie jedoch nach Möglichkeit auf Fremdhilfe und Flaschensauerstoff verzichteten, werden ihre Leistungen als sportlich vorbildlich gelobt.Demgegenüber erleichtert der Expeditionsstil durch einen hohen Aufwand an Personal und Material den Aufstieg. Als Beispiel für Bergsteigen im Expeditionsstil werden die Touren von Oh Eun-sun angeführt. Sie wurde mit dem Hubschrauber ins Basislager geflogen, ließ sich Wege vorspuren, war mit großen Gruppen von Trägern unterwegs und nutzte an mindestens zwei Gipfeln zusätzlichen Sauerstoff.Wird Höhenbergsteigen als Leistungssport begriffen, werden der Expeditionsstil und der massive Einsatz von Hilfsmitteln oft heftig kritisiert; dementsprechend wird auch die Leistung, alle Achttausender bestiegen zu haben, unterschiedlich bewertet. Gerlinde Kaltenbrunner lehnt Zusatzsauerstoff kategorisch ab. Messners Seilpartner Hans Kammerlander sprach Oh Eun-sun jegliche sportliche Leistung ab und verglich ihre Methoden mit dem Einsatz eines Mopeds für ein Radrennen. Wolfgang Wabel, Ressortleiter für Spitzensport beim Deutschen Alpenverein, klassifizierte den Sauerstoff-Einsatz gar als Doping. Das Magazin des Vereins urteilte dementsprechend, Oh Eun-sun habe sich „eher auf dem Niveau kommerziell geführter Bergreisen [bewegt], als sportliche Exzellenz zu beweisen.“Verschiedene Bergsteiger treten diesen Vorwürfen entgegen. In einem Interview mit der Zeitschrift profil im September 2010 wunderte sich Reinhold Messner über die Kritik am Sauerstoff-Einsatz. Nachdem er und Peter Habeler erstmals ohne zusätzlichen Sauerstoff auf den Mount Everest gestiegen seien, seien sie „von den Medien in Grund und Boden verdammt“ und „als ehrgeizig und verantwortungslos beschimpft“ worden. Dass sich das heute umdrehe und Sauerstoff sogar als Doping bezeichnet werde, finde er lustig, so Messner. Außerdem wies er darauf hin, dass auch Kaltenbrunner und Pasaban Hubschrauber verwendet hatten. Die deutsche Höhenbergsteigerin Gaby Hupfauer bewundert zwar Gerlinde Kaltenbrunners puristischen Stil, drückt sich aber gegen eine kategorische Ablehnung von Hilfsmitteln aus: „[…] es muss jeder selber entscheiden, wie er am Berg unterwegs ist.“ Eine vermittelnde Haltung nimmt die Schweizerin Evelyne Binsack ein: Sie sprach sich in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger dafür aus, beide Stile anzuerkennen. Um unterschiedliche Leistungen berücksichtigen zu können, schlägt sie vor, „zwei verschiedene Kategorien [zu] schaffen, ‚mit künstlichem Sauerstoff‘ auf der einen und ‚ohne künstlichen Sauerstoff‘ auf der anderen Seite.“
== Bergsteiger ==
=== Bergsteiger, die alle Achttausender bestiegen haben ===
Bislang haben 41 Bergsteiger alle Achttausender bestiegen. Erläuterung der Tabellenspalten:
Nr. insg.: Reihenfolge, in der die Achttausender-Besteigungen abgeschlossen wurden.
Nr. ohne O2: Separate Rangfolge für Bergsteiger, die alle Besteigungen ohne Zusatzsauerstoff durchgeführt haben
Besteigungsserie: Datum der ersten und der letzten Besteigung und der Zeitraum zwischen diesen Daten, gemessen in Jahren (a), Monaten (M) und Tagen (d). Wurden einzelne Berge mehrfach bestiegen, ist die erste Besteigung maßgeblich.
Alter: Lebensalter des Bergsteigers am Tag des letzten Gipfelerfolgs (in Jahren, aber die Sortierung der Spalte ist taggenau).
In den nächsten Spalten werden die Besteigungsumstände angegeben: Wie oft wurde Zusatzsauerstoff verwendet (O2), wie oft Erstbegehungen (neue Route) und wie oft Besteigungen im Winter durchgeführt wurden.
Wh. (Wiederholung): Summe der Wiederholungen von Besteigungen eines oder mehrerer der Achttausender.
Chronologie: Ausklappbare Felder mit Angaben zu den einzelnen Besteigungen. Besteigungen mit Zusatzsauerstoff sind mit (O2) gekennzeichnet, Erstbegehungen neuer Routen mit (R), Besteigungen im kalendarischen Winter mit (W) und Besteigungen im meteorologischen Winter (1. Dezember bis 28./29. Februar) mit (w). Wiederholungen sind mit (×2), (×3) usw. gekennzeichnet. Besondere Leistungen wie der Verzicht auf Flaschensauerstoff, Erstbegehungen, Winterbesteigungen und Wiederholungen werden hier nur bis zur Vollendung der Besteigungsserie berücksichtigt.
=== Statistik ===
Bis Juli 2008 gab es insgesamt 10.229 erfolgreiche Besteigungen der 14 Achttausender des Himalaya und Karakorum. Die ersten dokumentierten Todesfälle bei einem 8000er-Besteigungsversuch waren das Verschwinden Albert Mummerys und seiner beiden Träger am Nanga Parbat 1895. Bis Juli 2008 kamen bei Versuchen und Besteigungen insgesamt 711 Menschen ums Leben, 151 davon nach gelungener Besteigung.Der Südkoreaner Kim Chang Ho bestieg alle Achttausender als einer der Schnellsten. Er benötigte für die gesamte Besteigungsserie weniger als acht Jahre. 2019 hat Nirmal Purja mit 6 Monaten und 6 Tagen eine – vielfach – kürzere Zeit erreicht.
Jerzy Kukuczka leistete während seiner Besteigungen die meisten Erstbegehungen und die meisten Winteraufstiege.
Am längsten brauchte Oscar Cadiach mit knapp 32 Jahren, am zweitlängsten der Italiener Mario Panzeri mit über 23 Jahren. Oscar Cadiach war mit 64 weiters der älteste, Piotr Pustelnik war 58 der zweitälteste der 14-Achttausender-Absolventen. Der Jüngste war Chhang Dawa im Alter von 30 Jahren und neun Monaten.In einer „Nationenwertung“ liegt Italien mit sieben Bergsteigern auf allen Achttausendern vor Südkorea mit sechs. Danach folgt Spanien mit 5 Bergsteigern. Jeweils drei kamen aus Polen und Kasachstan.
Bis zur Vollendung der Besteigungsserie hat der US-Amerikaner Ed Viesturs die meisten Gipfel wiederholt: Er absolvierte sechs zusätzliche Achttausender, bevor er die Serie komplettierte. Berücksichtigt man auch Besteigungen nach Abschluss der 14er-Reihe, hat von den hier gelisteten Bergsteigern der Spanier Juanito Oiarzabal die meisten Wiederholungen vorzuweisen: Er stand bereits insgesamt 26 Mal auf dem Gipfel eines Achttausenders. Oiarzabal hat sich zum Ziel gesetzt, alle Achttausender zweimal zu besteigen. Lediglich der Nepalese Phurba Tashi hat gleich viele Achttausender-Besteigungen absolviert – allerdings hat er nur vier verschiedene Achttausender bestiegen. (Stand: Mai 2011)Nives Meroi und Romano Benet sind das einzige Ehepaar, das zusammen auf allen 14 8000ern gestanden ist – überdies ohne Hilfe durch Sherpas oder Flaschensauerstoff. Sie waren bei der Vollendung jeweils 55 Jahre alt und 28 Jahre verheiratet. Nives lernte mit 19 Romano kennen und sie wurden vorerst Seilpartner.
=== Bergsteiger, die 13 Achttausender bestiegen haben ===
Einige Bergsteiger haben bisher 13 der 14 Achttausender bestiegen. Darunter behaupten mehrere, den jeweils fehlenden Gipfel schon bestiegen zu haben. Aus unterschiedlichen Gründen wird dies jedoch nicht anerkannt.
=== Bergsteiger, die 12 Achttausender bestiegen haben ===
== Siehe auch ==
Seven Summits
Seven Second Summits
Explorers Grand Slam
== Literatur ==
Allgemein
American Alpine Club (Hrsg.): The American Alpine Journal. ISSN 0065-6925 (americanalpineclub.org American Alpine Club – Mehrere Jahrgänge).
Bernadette McDonald: Wir sehen uns in Kathmandu: Elizabeth Hawley – die Chronistin des Himalaya-Bergsteigens. Mit einem Vorwort von Sir Edmund Hillary. Bergverlag Rother, München 2006, ISBN 3-7633-7048-X, Kapitel Das Wettrennen, S. 159 ff. (amerikanisches Englisch: I’ll Call You in Kathmandu: The Elizabeth Hawley Story. Übersetzt von Monika Eingrieber, Anja Rauchatz).
Peter Grupp: Faszination Berg: Die Geschichte des Alpinismus. Böhlau Verlag, Köln, Weimar 2008, ISBN 978-3-412-20086-2, Sport, Leistung, Wettkampf, Reglementierung, Kapitel Zwei Jahrhunderte Alpinismus und Bergsteigen, S. 93 ff. Autobiografien von Bergsteigern
Erhard Loretan, Jean Ammann: Den Bergen verfallen. Paulusverlag, Freiburg im Üechtland 1996, ISBN 978-3-7228-0396-8, Kapitel Der dritte Mann, S. 189 ff. (französisch: Erhard Loretan. Les 8000 rugissants. Übersetzt von Christine Kopp).
Reinhold Messner: Überlebt – Alle 14 Achttausender. mit Chronik. BLV, München 2002, ISBN 978-3-405-15788-3.
Ed Viesturs, David Roberts: No Shortcuts to the Top: Climbing the World’s 14 Highest Peaks. Broadway, 2007, ISBN 978-0-7679-2471-9. Artikel (Auswahl)
Oswald Oelz: Zu schnell zu hoch gestiegen. In: Neue Zürcher Zeitung. 27. November 2009 (Artikel online bei NZZ Online [abgerufen am 8. August 2010]).
Walter Aeschimann: Eine Frage des Stils. In: Neue Zürcher Zeitung. 2. Januar 2010 (nzz.ch [abgerufen am 10. August 2010]).
Michael Wulzinger: Wettlauf in der Todeszone. In: Der Spiegel. Nr. 2, 2010, S. 133 (online).
Michael Wulzinger: Showdown im Himalaja. In: Der Spiegel. Nr. 16, 2010, S. 144 (online).
Andi Dick: Bestiegen oder bezwungen? Die 14-Achttausender-Frauen. In: Deutscher Alpenverein (Hrsg.): Panorama. Magazin des Deutschen Alpenvereins. Nr. 4/2010, August 2010 (Panorama Nummer 4/2010 [abgerufen am 12. September 2012]).
== Weblinks ==
8000ers.com – Umfangreiche Website des deutschen Chronisten Eberhard Jurgalski mit Informationen und Statistiken zu den Besteigungen der Achttausender (englisch)
ExplorersWeb – Website mit Nachrichten zu Achttausender-Besteigungen (englisch)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Besteigung_aller_Achttausender
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Bienertmühle
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= Bienertmühle =
Die Bienertmühle (oft auch als ehemalige Hofmühle bezeichnet) ist ein früherer Mühlenstandort im Dresdner Stadtteil Plauen an der Weißeritz. Die umgangssprachliche Bezeichnung der dort 1568 anstelle einer früheren Mühle errichteten Hofmühle erinnert an die Familie Bienert, deren Angehöriger Gottlieb Traugott Bienert die Anlage 1852 pachtete und 1872 erwarb. Drei Generationen lang blieb die Mühle im Besitz der Familie und wurde von ihr zum modernsten Mühlenstandort in Sachsen ausgebaut. Nach der Enteignung der Besitzer und Verstaatlichung des Betriebes im Jahr 1972 endete nach einem Brand 1990 der Mühlenbetrieb endgültig. 1991 wurde auch die sich dort befindende Brotfabrik geschlossen.
In einem Teil des Komplexes wurden 2006 das Museum Hofmühle Dresden und ein kleiner Mühlenladen mit einem Café eröffnet. Weitere Gebäude werden von verschiedenen Firmen genutzt. Große Teile der früheren Bienertmühle werden seit 2014 zu Loftwohnungen ausgebaut, eine (endgültige) Fertigstellung war für 2021 vorgesehen. Von 2015 bis 2018 wurde die zwischenzeitlich zu einer Ruine verfallene Villa der Familie Bienert saniert und in ihr wurden Eigentumswohnungen geschaffen.
== Vorgeschichte ==
Dass es im Dorf Plauen bei Dresden eine Mahlmühle für Getreide gab, ist seit 1366 belegt. Am 17. Mai dieses Jahres wurde im Zinsregister der Kreuzkapelle Dresden erstmals eine „mól … so zum Dorfe Plawen gehört und oberhalb Dorfs an der Wistericz gestanden“, also eine Mühle am heutigen Standort, verzeichnet. Etwa bis 1480 scheint diese Mühle mit einem, später zwei und vier Mahlgängen mit einer Brettschneide verbunden gewesen zu sein. Sie wurde etwa in dieser Zeit vom Dresdner Tuchmacherhandwerk gekauft und zur Walkmühle umgebaut. Hartnäckig geführte Grenzstreitigkeiten zwischen der Dresdner Tuchmacherinnung und der Gemeinde Plauen beschäftigten zwischen 1487 und 1528 mehrfach die herzoglichen Regierungen, so dass die Mühle historisch durchgängig belegbar ist. Im Jahr 1541 erscheint sie in einer Quelle als „Raths-Walkmühle, so am Mühlgraben ober dem Dorfe Plawen gelegen“.
== Kurfürstliche Hofmühle ==
=== 1568–1643 ===
Der sächsische Kurfürst August kaufte 1568 die Walkmühle, um sie zu einer Getreidemühle umbauen zu lassen. Eine (neue) Walkmühle der Innung entstand mit dem seit etwa diesem Zeitpunkt nachweisbaren und in den 1970er Jahren endgültig beseitigten Walkmühlenwehr an der heutigen Hofmühlenstraße, südlich der Einmündung der heutigen Biedermannstraße. Im Folgejahr ließ der Kurfürst die gekaufte Mühle abreißen, verschiedene Parzellen zukaufen und mit einem Aufwand von 8336 Gulden bis 1571 eine Hofmühle „in fürstlicher Pracht“, das heißt mit 16 Mahlgängen, errichten. Es handelte sich dabei nicht um die einzige Hofmühle des Landes. 1521 war unter Herzog Georg dem Bärtigen am Weißeritzmühlgraben eine erste Hofmühle entstanden, unweit der Annenkirche gelegen und bis zu ihrer Schließung 1927 auch so bezeichnet.Der erste Mühlmeister, Zacharias Zimmermann, ist für 1570 belegt. Um die Rentabilität der Mühle sicherzustellen, wurde mit Reskript am 6. April 1569 für 33 Dresdner Amtsdörfer (und 210 Mahlgäste) der Mahlzwang an dieser Mühle eingeführt, der 1661 auf 66 Gemeinden ausgedehnt wurde. Die beiden Mühlen der Brüder Matthes und Andreas Moyses, die nahe der nunmehrigen Hofmühle lagen, heute etwa längs der Agnes-Smedley-Straße, wurden abgerissen und die Brüder 1573 mit den beiden Amtsmühlen in Tharandt entschädigt. Der noch teilweise existierende Mühlgraben brachte für die Mühle ein nutzbares Gefälle von 7,6 Metern bei einer Wasserführung von im Mittel 2,5 Kubikmetern Wasser pro Sekunde.
An diese alte Hofmühle erinnert noch das kurfürstliche Wappen im Hof. Der Reliefstein, der zu den ältesten Einzeldenkmalen Dresdens gehört, zeigt links die Kurschwerter mit der sächsischen Raute, rechts drei Löwen unter einer Krone. Letztere entstammen dem dänischen Reichswappen und verweisen auf Kurfürstin Anna, die Ehefrau Augusts, die als Förderin der Landwirtschaft maßgeblich an der wirtschaftlichen Entwicklung Sachsens beteiligt war. Zwischen den Wappen sind zwei verschlungene Monogramme mit dem Buchstaben A dargestellt, die an beide an den Schirmherren der Mühle erinnern. Seit der Sanierung der Bienertmühle nach 2011 sind sie allerdings fast nicht mehr zu erkennen.
Für die Bauern hatte der Mahlzwang durchaus auch Vorteile, denn einerseits führte der Mühlgraben der Hofmühle fast immer genügend Wasser, andererseits war der Müller verpflichtet, angefahrenes Getreide zu vermahlen und er erhielt dafür einen festgesetzten Preis (Lohnmüllerei): Dieser war zunächst eine Metze von jedem Scheffel Mehl (16 Metzen ergaben einen Scheffel) und wurde 1640 für die Hofmühle auf den vierten Teil erhöht. Aus etwa anhaltender Notlage in den Dörfern konnte er keinen zusätzlichen Gewinn herausschlagen.
Da die Bauern weite Anfahrwege in Kauf nehmen mussten, erhielt der Hofmühlen-Pächter zusätzlich das Ausschank-Privileg, musste dafür jedoch jährlich eine Anzahl von Schweinen an den Hof liefern. Im Jahr 1578 wurde eine Schmiede direkt neben der Mühle errichtet (1878 abgebrochen). Der mangelhafte Zustand der Zufahrtswege, insbesondere für die „Gebürgischen Bauern“, führte zu regelmäßigen Klagen und Beschwerden. Häufige Besitzerwechsel und Hochwasserschäden ab 1593 sind ebenfalls verzeichnet. Zahlreiche Hofmühlenpächter sind allerdings auch als Förderer des Dorfes Plauen aufgeführt; so stiftete etwa der „hofmuller“ Peter Junghans 1617 den noch heute in der Auferstehungskirche befindlichen Taufstein, um 1700 der Hofmühlen-Pächter Gottlob Gäbler den Altar (mit Ausnahme des Altarbildes, das von 1859 ist). Auch der Pächter Johann Friedrich Wahl (gestorben 1769) ist als Förderer der Gemeinde bekannt geworden.
=== 1643–1852 ===
Von kriegerischen Einwirkungen blieb die Hofmühle nicht verschont. Im Dreißigjährigen Krieg hatte General Piccolomini 1643 die Stadt Freiberg entsetzt, sammelte seine 16.000 Mann starke Truppen um Dresden und wählte als Hauptquartier das Dorf Plauen und seine Umgebung. Er selbst wohnte von Ende Februar bis 10. März 1643 in der Hofmühle.Während des Großen Nordischen Krieges zogen die Schweden Mitte September 1706 vor Dresden und setzten sich in Plauen fest, wobei die Hofmühle ihr Hauptquartier wurde. Sie beschlagnahmten das dort lagernde und für die Dresdner Bürger bestimmte Mehl, requirierten das dort lagernde Korn und ließen es für sich ausmahlen. Die dafür nicht benötigten Räder der Mühle wurden zerstört. Nur durch den Ende September in Kraft getretenen Waffenstillstand, der zum Frieden von Altranstädt führte, wurde noch größerer Schaden abgewendet.1809 sowie 1813 (Schlacht um Dresden) litt der damalige Pächter unter den napoleonischen Kämpfen um Dresden.
Die Hofmühle war besonders durch die 1747 errichtete Königsmühle sowie durch die 1726 bis 1728 erbaute Neumühle oberhalb der Hofmühle (beides ebenfalls kurfürstliche Mühlen, die Neumühle wie die Hofmühle mit 16 Mahlgängen) trotz des Mahlzwanges verstärkter Konkurrenz ausgesetzt. Sie wurde 1776 umgebaut, erhielt zur Weißeritz zu eine Frontlänge von 92 Ellen (rund 50 Meter) und durchgängig zwei „Gestocke“ (Geschosse). Die Gebäude links und rechts des Mühlgrabens wurden durch Brandgiebel feuersicher gemacht. Anstelle der Brettschneide folgte 1818 eine Ölmühle mit 16 Paar Stampfen als Anbau an die Bienertmühle, um die Rentabilität sicherzustellen. Der Antrieb der Ölmühle zweigte innerhalb der Hofmühle ab und reduzierte die verfügbaren Wasserräder von 16 auf 14.Die Aufhebung bzw. Ablösung des Mahlzwangs zwischen 1840 und 1850 (in diesem Jahr für die letzten Grundstücksbesitzer in Plauen selbst) bildete eine tiefgreifende Zäsur. Der damalige Pächter Raetzsch war dadurch und durch feinere Mehle, mit denen österreichische Mühlen den sächsischen Markt zu erobern suchten, so wenig leistungsfähig geworden, dass er Mühe hatte, statt der geforderten 7000 Taler Jahrespacht wenigstens 3000 Taler aufzubringen. Deshalb stand 1851 eine neue Pachtvergabe an, die Gottlieb Traugott Bienert nach Trennung von anderen, zum Teil selbst aufgebauten, Unternehmungen (darunter der Brettmühle in Radeberg, der Pacht der Obermühle (Grundmühle Jessen) im Liebethaler Grund sowie einer Bäckerei in der Radeberger Vorstadt) für sich entschied. Ab dem 1. Mai 1852 übernahm er pachtweise die inzwischen verwahrloste, teils verfallene Mühle, die nurmehr acht Leute beschäftigte und von deren ursprünglich 16 Mühlrädern nur noch vier in Betrieb waren.
== Bienertmühle ==
=== 1852–1900 ===
Bienerts Tatendrang verwandelte die Hofmühle von Grund auf. Dies erweiterte sich noch einmal ab 1872, als er nach 20 Jahren „in verbissener Arbeit“ (Zitat von Bienert) die Hofmühle dem sächsischen Fiskus abkaufte und sie nunmehr endgültig von einem veralteten Handwerksbetrieb in einen modernen (für seine Zeit mustergültigen) Industriebetrieb umwandelte. Dazu unternahm Bienert mehrere Fortbildungsreisen nach Frankreich, Belgien, Österreich und Ungarn sowie in die Schweiz, um die für die damalige Zeit fortschrittlichsten Technologien und die damit gemachten Erfahrungen kennenzulernen. Neben Bienerts Mut zu gesundem Risiko ist als Schlüssel zum Erfolg sein betriebswirtschaftlicher Grundsatz zu nennen: „Die Höhe der Produktion wird nur durch die Nachfrage, nicht durch die Leistungsfähigkeit der Maschinenanlage bestimmt; Herstellung tadelloser Qualitäten, nicht billige Massenerzeugung wird erstrebt“.Bienert errichtete 1853 die erste Bäckerei mit zunächst drei Öfen mit Steinkohlenfeuerung und rotierenden Herden in der Bienertmühle. Dies war ein erster und erheblicher Schritt weg von der bisherigen hier betriebenen Lohnmüllerei (die dem Müller lediglich Mehlanteile beließ) hin zum Brottausch, den Bienert bereits 1847 in seiner Mühle und Bäckerei in Eschdorf eingeführt hatte: Die Bauern, die ihr Korn abgaben, erhielten sofort eine der Abgabe entsprechende Menge Brot. Das hatte für die Bauern den Vorteil, von der eigenen Arbeit des Backens entlastet zu werden, sie konnten überdies zeitnah die Mühle wieder verlassen (mussten also nicht warten, bis ihr Getreide vermahlen war) und Bienert wiederum ersparte sich die Verpflichtung zur Beköstigung der Wartenden. Für diese Innovation hatte er 1849 die „Silberne Verdienstmedaille für Landwirtschaft“ erhalten und setzte dies auch an der Hofmühle sofort um. Die Bäckerei allerdings befand sich jedoch zunächst, anders als nach 1866, nördlich der Straße Altplauen (diese Häuser wurden 1938 beim Bau des Getreidesilos abgerissen).Bereits 1853 ersetzte er die Wasserräder durch einen Wasserturbinenantrieb mit Hilfe zunächst einer Girard-Turbine, die zu einem späteren Zeitpunkt durch eine weitere ergänzt wurde. Beider Leistung gaben die Bienerts 1897 mit 70 und 110 e. P. S., das heißt „an der Welle“ an. Gleichfalls führte er in diesem Jahr die österreichische Hochmüllerei mit ihrem permanenten Sichten (das heißt Absieben) ein und sammelte ebenfalls neue Erfahrungen. Im Jahr 1854 wurde die erste Bolandsche Knetmaschine für die Bäckerei eingeführt. Ebenfalls baute Bienert im östlichen Teil des Grundstücks Silos, die nach dem Bau der Albertsbahn nach 1855 mit einem Gleisanschluss versehen wurden. Auf diese Weise konnte angekauftes Getreide neben dem der Anfuhr der Bauern kontinuierlich vermahlen und anschließend verbacken werden: Aus der Bienertmühle wurde auf diese Weise eine Handelsmühle.
Um von der jahres- und zum Teil tageszeitlich schwankenden Wasserführung der Weißeritz unabhängig zu werden, baute Bienert 1858 das erste Dampfmaschinenhaus nördlich der Ölmühle und führte damit den Dampfbetrieb für die Mühle ein, der allerdings zunächst nur als Ergänzung für den Wasserkraftantrieb gedacht war. Im Jahr 1861 folgte die Einführung des hydraulischen Ölpressenbetriebes für die Ölmühle. Die Leistungsfähigkeit der Ölmühle, die vor allem Raps- (Rüb-) und Leinöl erzeugte, wurde auch dadurch von täglich 1,25 Tonnen Saat 1852 auf 15 Tonnen gesteigert. Allerdings brauchte Bienert als Pächter dafür immer wieder die Genehmigung des Fiskus.Traugott Bienert errichtete 1863 auf dem benachbarten Grundstück eine Villa für sich und seine Familie, deren markantester Punkt eine große Uhr im zur Hofmühle zeigenden Giebel war. Der weitere Teil des Grundstücks, das sich längs des Mühlgrabens bis zum Hegereiterhaus nahe der Hegereiterbrücke ausdehnte, wurde als Garten angelegt.Im Jahr 1866 kaufte Bienert das östlich angrenzende Hegersche Gut. Während die Gutsgebäude zunächst (bis 1912) noch erhalten blieben und nunmehr als Bäckerei genutzt wurden, wurde im Hof ein Mehlspeicher angelegt, der als Boden- und Silospeicher weiter ausgebaut wurde und mit einer Transportbrücke mit der Bäckerei auf dem Hofmühlengrundstück verbunden war. Nach Hochlegung der Bahnstrecke Dresden–Werdau in diesem Bereich (1923–1927) wurde an seiner Stelle ein Tunnel als Verbindung zwischen beiden Grundstücken angelegt.
Nach 20-jähriger Arbeit sah sich Bienert am 1. Mai 1872 im Stande, die Hofmühle für 150.000 Taler zu kaufen. Für ihn war damit der Weg zu weiteren Investitionen frei. Im Jahr darauf baute er südlich neben der Ölmühle ein zweites Dampfkraftwerk (dessen Schornstein steht unter Denkmalschutz und ist noch erhalten), in einem der Hofmühle gehörenden Gebäude richtete die Reichspost ebenfalls 1873 eine Ortspostanstalt ein, im Folgejahr eine Telegraphenstation. Im Jahr 1874 errichtete Bienert die erste Gasanstalt für die bessere Beleuchtung der Mühle in den Nachtstunden (Paschky-/Ecke Tharandter Straße, heute Standort einer Tankstelle), die ebenfalls Gas für die Straßenbeleuchtung der Dorfgemeinde Plauen lieferte (erstmals angeschaltet am 19. Oktober 1874). Im Jahr 1875 folgte eine Telegraphenstation, die auch öffentlich zugänglich war, 1875/1876 baute er ein eigenes Wasserwerk und ließ Trinkwasserleitungen für die Mühle und die Gemeinde Plauen legen. Der dafür erforderliche Hochbehälter ist heute oberhalb einer Kleingartenanlage an der Schleiermacherstraße in Richtung des Hohen Steins, wenngleich ruinös, noch vorhanden.Im Jahr 1877 gelang der Gemeinde Plauen, die Beschleusung neu zu regeln und mit der Stadt Dresden die Einleitung sämtlicher Abwässer (also auch die der Bienertmühle) über die Hauptschleuse Falkenstraße (im Folgejahr in Zwickauer Straße umbenannt) vertraglich zu vereinbaren. Bienert beteiligte sich an den Verhandlungen und übernahm auch finanzielle Verpflichtungen der Gemeinde, damit diese ihren vertraglichen Pflichten gegenüber der Stadt Dresden nachkommen konnte (sogenannter „Falkenstraßen-Unterstützungsfonds“).Bienert führte 1878 die Walzenmüllerei ein. Im gleichen Jahr ließ er einen nördlichen Kopfbau an der Hofmühle als „Verkaufs-, Wohn- und Betriebsgebäude“ errichten, der nur einmal, im Jahre 1901, nennenswerte Veränderungen erfuhr. Hier befand sich auch die Küche für die Arbeiter der Mühle, die täglich 160 Essensportionen bereitstellte. Seitdem wurde das Gebäude bis 1991 nahezu unverändert betrieben und auch in den Jahren danach sind Zerstörungen weitgehend ausgeblieben. In ihm hat das Museum Hofmühle Dresden heute seinen Sitz. Im Jahr 1880 folgten der Abriss der alten Ölmühle und der Bau eines vierstöckigen Gebäudes vom erwähnten Kopfbau an westlich des Mühlgrabens als Weizenmühle. Der Mühlgraben seinerseits wurde überwölbt und nahm die neue Ölmühle und die Getreidewäscherei auf, der alte Bauwerksteil wurde zur Roggenmühle. Traugott Bienert machte 1881 schließlich seine beiden Söhne Theodor (1857–1935) und Erwin Bienert (1859–1930) zu Teilhabern, übergab ihnen 1885 endgültig die Geschäftsführung und zog in seine Villa in der Radeberger Vorstadt.Im Jahr 1895 folgte als technische Neuerung die Einführung des rotierenden Backherdes mit Steinkohlenfeuerung. Zum 25-jährigen Erwerb der Mühle und drei Jahre nach dem Tod des Gründers gaben Theodor und Erwin Bienert 1897 eine Festschrift heraus, die u. a. die Leistungsfähigkeit der Mühle und der Bäckerei belegte. Zur Mühle gehörten nunmehr eine Weizen- und eine Roggenmühle, eine Ölfabrik mit Ölraffinerie und eine Bäckerei mit zehn Backöfen, weiterhin ein Magazin für 1000 Tonnen und ein Silospeicher für 500 Tonnen Getreide. Die Bienerts bezifferten die Jahresmahlleistung der Mühle für 1896 auf rund 24.850 Tonnen Weizen, 9.150 Tonnen Roggen, 375 Tonnen Mais, 1.885 Tonnen Raps und 1.440 Tonnen Lein, die in ihr verarbeitet wurden. Im Jahr 1897 gehörten 269 Arbeiter und Angestellte zur Mühle.„Bienerts soziales und kommunales Engagement war für die damalige Zeit geradezu avantgardistisch.“ (C. Müller) So gab er seinen Arbeitern und Angestellten die Chance, einen gewissen Wohlstand aufzubauen. Er richtete für sie bereits 1855 eine Sparkasse mit günstigen Zinssätzen ein, später folgten eine Witwenkasse, eine Krankenkasse (mehr als zehn Jahre vor der Bismarckschen Sozialgesetzgebung), 1883 eine noch heute existierende und damals so genannte „Kinderbewahranstalt“ (Kindergarten, Nöthnitzer Str. 4) und 1887 eine Pensions- und Unterstützungskasse, die auch nach der Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung (1891) als Betriebliche Altersversorgung weiter bestehen blieb. Eine unternehmenseigene Küche bereitete täglich 160 Essensportionen zu, im genannten Kopfbau waren einfache Backwaren (hauptsächlich den Qualitäts-Standards nicht genügende Produkte der Bienert-Brotfabrik) zu ermäßigten Preisen und Getränke für die Arbeiter erhältlich, etwaige Defizite aus deren Betrieb wiederum übernahm das Bienertsche Unternehmen. Selbst um die Geselligkeit im Unternehmen kümmerte er sich – so gab es einen Bienertschen Männergesangsverein und jährlich ein kulturell umrahmtes Betriebsfest zusammen mit der Leitung. Dennoch betrug die tägliche Arbeitszeit für die Müller wie in anderen Mühlen der damaligen Zeit (mindestens) 12 Stunden.Sein kommunales Engagement – u. a. Trinkwasserversorgung, öffentliche Gasbeleuchtung, Regelung der Abwasserprobleme, erster Kindergarten – wurde ergänzt durch mehrere Stiftungen z. B. für Schulbücher und Lehrmittel, die kostenfreie Bereitstellung von Bauplätzen für neue Schulen und den Neubau des Rathauses, die Finanzierung von Glocken und teilweise oder gänzliche Übernahme der Kosten von Orgelreparaturen oder Orgelneubauten in der Auferstehungskirche. Waisenkinder aus Plauen und seinem Geburtsort Eschdorf erhielten zur Konfirmation jeweils ein Sparbuch mit fünfhundert Mark geschenkt, das wurde bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges beibehalten.
=== 1900–1945 ===
Auf dem Abschnitt Dresden–Freital der Bahnstrecke Dresden–Werdau verursachten um 1900 durch den anwachsenden Straßen- und Schienenverkehr die zahlreichen niveaugleichen Kreuzungen immer mehr Probleme. Daher wurde ab 1901 geplant, die Bahnstrecke höher zu legen und viergleisig auszubauen, um die Bahnübergänge zu beseitigen und die Leistungsfähigkeit zu steigern. Um 1910 wurde der Abschnitt Dresden Hbf–Dresden-Plauen viergleisig ausgebaut. Für den Standort der Bienertmühle bedeuteten diese Planungen aber, dass die Erweiterungsmöglichkeiten nunmehr eingeschränkt waren. Die Bienert-Brüder planten ab diesem Zeitpunkt einen Mühlenneubau im Bereich des Hafens, da sehr viel Getreide (insbesondere Hartweizen) auf dem Wasserweg angeliefert wurde.Im Jahr 1902 wurde der Straßenbahnbetrieb auf der Plauenschen Grundbahn aufgenommen, die zwischen Altplauen und dem damaligen Bahnhof Plauen auf der Potschappler Straße (später als „Alte Dresdner Straße“ bezeichnet) rechts der Weißeritz, entlang der Bienertmühle und nach einem scharfen Bogen über die Hegereiterbrücke verlief (bis 1921, danach Verlegung links der Weißeritz). Das war Anlass für Theodor Bienert, der die Bienertsche Villa bewohnte – Erwin Bienert wohnte in der Bienertvilla südwestlich der Kreuzung Würzburger-/ Kaitzer Straße (heute zur Technischen Universität Dresden gehörend) –, den Bienertgarten grundlegend umzugestalten. Dafür gewann er den Gartenbauarchitekten Max Bertram, der diesen mit Grotten, Brunnen und einer Laube, die an das Hochplauensche Wasserhaus angebaut wurde, ausstattete und umgestaltete. Die Höherlegung der Potschappler Straße im Bereich des Mühlgrabeneinlaufs nutzten die Bienerts, um das noch heute vorhandene Hofmühlenwehr von 1569 unterhalb der Hegereiterbrücke zu erneuern und den Wassereinlauf in den Mühlgraben neu zu gestalten (der Schlussstein T. B. 1902 ist am ursprünglichen Ort zu sehen). Der Garten erhielt eine schmiedeeiserne Einfriedung, nach Verlegung der Straße auf das linke Weißeritzufer wurde sie teilweise bis zum Fluss verlängert (teilweise noch vorhanden) und die Durchgänge wurden für die Öffentlichkeit geschlossen.
Am 1. Januar 1903 wurde Plauen nach Dresden eingemeindet. In diesem Zusammenhang verkauften die Bienerts das Gaswerk für 900.000 Reichsmark und das Wasserwerk für 450.000 Reichsmark an die Stadt Dresden. Nach der Eingemeindung von Plauen nach Dresden war für das Löschwesen nunmehr die Feuerwehr Dresden zuständig. Im Zuge der Verbesserung des Brandschutzes und auf Grund der Tatsache, dass der nunmehrige Stadtteil keine eigene Feuerwache mehr hatte, musste in die Mühle eine Sprinkleranlage eingebaut werden. Um die nötige Wassermenge und den benötigten Druck vorzuhalten, wurde am Hohen Stein ein Löschwasserteich angelegt.
Um diesen und das umliegende Areal jedoch entsprechend auszugestalten, auch als Ersatz für den für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglichen Bienertgarten, stiftete Erwin Bienert 80.000 Quadratmeter Land sowie 30.000 Reichsmark zur Anlage eines Parks („Oberer Bienertpark“) mit einer Bastion („Forsthausbastion“) als Aussichtspunkt. Im Jahr 1906 wurde dieser für die Öffentlichkeit freigegeben. Nach Schließung der Mühle wurde in den 2000er Jahren der Löschwasserteich, der sich zu einer Gefahr entwickelt hatte, entfernt und das Areal renaturiert.Nach der Schließung des Ratssteinbruches in diesem Bereich und nach Abbau der Gasanstalt wurde wiederum auf diesem Areal ab 1905 ein weiterer Bienertpark angelegt („Dölzschener Bienertpark“), für den ebenfalls der Gartenarchitekt Max Bertram die Planungen verantwortete. Für diese Anlage stiftete Theodor Bienert 40.000 Reichsmark. Beide Bienertparks wurden 2006 aus EFRE-Mitteln saniert und der Dölzschner Bienertpark nach den ursprünglichen Plänen von Bertram erweitert. Ein Gebäudeteil längs der Weißeritz wurde 1907 erneut erweitert und um vier Geschosse aufgestockt. Er nahm nunmehr das Maschinenhaus der Bienertmühle auf.
Im Jahr 1913 wurde mit der Hafenmühle in der Dresdner Friedrichstadt der zweite Betriebsteil eröffnet. Danach errichteten die Bienerts in Plauen eine moderne Großbäckerei auf dem Gelände des ehemaligen „Hegerschen Gutes“ östlich der Eisenbahnstrecke. Für deren Bau mussten ein Teil der alten Mühlengebäude sowie die Wohnhäuser Altplauen Nr. 11–15, die ebenfalls zum ehemaligen Hegerschen Gut gehörten, abgerissen werden. Das markante Gebäude mit dem in der Achse der Zwickauer Straße stehenden Uhrturm entstand von 1913 bis 1918 am Aufgang zur Schleiermacherstraße in Stahlbetonbauweise. Es erhielt mehrere Backofenräume, Brotsäle sowie Lager und Remisen für den Fuhrpark des Betriebes. Architekt war Carl Schümichen, die Bauausführung übernahmen die im Stadtteil Plauen ansässige Firma Gebrüder Fichtner und das Betonbauunternehmen Dyckerhoff & Widmann.Der Erste Weltkrieg stoppte zunächst den Erfolgskurs der Mühle. Der Import von Getreide war fast zum Erliegen gekommen, viele Arbeiter wurden eingezogen. Sie „mussten durch betriebsfremde, zum Teil wenig geeignete Personen ersetzt werden“, wie es in den Aufzeichnungen des späteren Chefingenieurs der Bienert-Mühlen, W. Arndt, heißt.1915 wurde das Nachtbackverbot eingeführt, durch das zwischen sieben Uhr abends und sieben Uhr morgens nicht gebacken werden durfte. Für den nunmehrigen Zwei-Schicht-Betrieb der Brotfabrik wurde das bis dahin geltende Zwölf-Stunden-Schicht-System ersetzt durch eines mit jeweils acht Stunden Arbeitszeit.
Nach dem Ersten Weltkrieg gingen die politischen Veränderungen auch an den Bienert-Mühlen nicht spurlos vorüber, obwohl der Name Bienert von Anfang an auch für soziales Engagement stand. Die Bienerts hätten, wie es in einem Bericht heißt, „von jeher das wärmste Mitgefühl für ihre Arbeitnehmer gehabt und sind immer bestrebt gewesen, ihnen in allen Notlagen beizustehen.“ Trotzdem legten auch die Arbeiter der Bienertschen Mühlen in der Novemberrevolution 1918 die Arbeit nieder, als überall gestreikt wurde. In den Mühlen hatte man dabei ein Feindbild: Hofrat Johannes Alfred Pleißner (1854–1945), Prokurist und Oberingenieur, der einerseits einen groben Umgangston pflegte, anderseits auf größte Genauigkeit Wert legte. Allerdings war Pleißner auch der Mann, der als Bahnbrecher in Sachen moderne Technik gelobt wurde. Dennoch war generell die Streiklust in den Bienertschen Mühlen nie so ausgeprägt wie es beispielsweise in der Dresdner Metallbranche der Fall war.
Im Jahr 1923 begannen die Arbeiten zur Höherlegung der Bahntrasse im Bereich des Dorfes Plauen, die 1927 abgeschlossen waren. Dies führte die Bienerts dazu, die Transporte zwischen den beiden Mühlen, die bis dahin den Transport mit Pferdefuhrwerken und zeitraubende Überführungsfahrten mit der Eisenbahn bedeuteten, neu zu organisieren. Im gleichen Jahr wurden daher Straßenbahngleise in die Höfe sowohl der Bienertmühle als auch der Brotfabrik eingelegt (wie auch ein Anschluss von der Magdeburger Straße in die Hafenmühle) und die Transporte wurden ab diesem Zeitpunkt auch mit Straßenbahngüterbeiwagen abgewickelt. Die Dresdner Straßenbahn nahm 1926 einen umgebauten Gütertrieb- und drei umgebaute Güterbeiwagen in Dienst, die ausschließlich den Getreide- und Mehltransporten zwischen den beiden Mühlen bzw. auch der Brotfabrik dienten und jeweils für 15 Tonnen Ladung zugelassen waren. Diese Transporte mit Straßenbahnfahrzeugen mit ihrer markanten weißen Lackierung und dem Bienertschen Schriftzug wurden bis Anfang der 1960er Jahre beibehalten. Von der Straße Altplauen aus befand sich unmittelbar hinter der Brücke über die Weißeritz die Einfahrt in den Hof der Bienertmühle, die noch heute mit Gleisresten sichtbar ist, unmittelbar nach der Eisenbahnbrücke zweigte jenes in die Brotfabrik ab. Hier wurden die Gleisreste im Wesentlichen in den 1990er Jahren entfernt, sind jedoch im Hof noch mit kurzen Gleisstücken vorhanden.Der Wagenkasten eines der drei Beiwagen, der des 1921 gebauten und für diese Transporte 1926 umgebauten Bienert-Beiwagens 3301 (Nummer nach dem Nummernplan von 1947), blieb ab 1965 im Gelände des Betriebshofes Coswig als Fahrradschuppen erhalten. Mitglieder des Straßenbahnmuseums Dresden bargen ihn 1996 bei der Auflösung des Betriebshofes und arbeiteten ihn bis 2007 auf. Er ist rollfähig und gehört zum Bestand der Museumsfahrzeuge des Straßenbahnmuseums Dresden.Nach Abschluss der Höherlegung der Eisenbahntrasse wurde 1928 ein Bahnsilo an den nun hochliegenden Anschlussgleisen angebaut. Die Weizenmühle wurde 1936 erweitert („Neue Weizenmühle“). Im Zeitraum 1938/1939 entstand der Silobau mit einer Lagerkapazität von 5000 Tonnen nördlich der Straße Altplauen (2012 abgerissen). Das waren, mit Ausnahme des Abrisses des Bahnsilos nach 1945, die letzten äußeren Veränderungen bis 1990. Im Jahr 1925 wurde in der Brotfabrik eine „Versuchsbacklinie“ eingerichtet, die bis zum Ende der Brotfabrik existierte und die der Qualitätssicherung bzw. -verbesserung diente.Im Dezember 1927 übernahm die nächste Familiengeneration das Unternehmen: Die Brüder Erwin und Theodor Bienert übergaben die Geschäftsführung an Friedrich Bienert (1891–1969), einen Enkel des Gründers und Sohn von Erwin Bienert und dessen Frau Ida, sowie an Dr. Franz Herschel, einen Schwiegersohn von Theodor Bienert. Beide waren schon vorher im Unternehmen tätig gewesen. Während allerdings Friedrich Bienert, der zu diesem Zeitpunkt noch (bis 1930) mit Gret Palucca verheiratet war, der Deutschen Demokratischen Partei angehörte und sowohl die der KPD nahestehende Rote Hilfe Deutschlands als auch die „Gesellschaft der Freunde des neuen Russland“ unterstützte, war sein Cousin Franz Herschel bereits zu diesem Zeitpunkt ein aktives Mitglied der NSDAP und wurde auf Grund seines Auftretens hinter vorgehaltener Hand von den Arbeitern als „Herrenreiter“ tituliert. 1934 wurden beide Betriebsführer des Bienertschen Unternehmens.In den Luftangriffen auf Dresden hielten sich die Zerstörungen an der Mühle und der Brotfabrik in Grenzen. Dokumentiert sind von den Angriffen des 13. – 15. Februar 1945 der Treffer einer Luftmine im sogenannten „Hochhaus“ (so wurde das Bahnsilo von 1928 bezeichnet), der die zwei obersten Geschosse erheblich beschädigte, ein Bombentreffer in der Brotfabrik, der den achten Backofen und Deckenfelder zerstörte, sowie Luftdruckschäden im Bereich von Kesselanlagen, Generatoren und Mahlwerken. Der Bericht von W. Arndt kommt zum Schluss: „Die wichtigsten Betriebsteile … blieben im wesentlichen unverletzt.“ Ein Arbeiter kam ums Leben. Nach den Angaben von W. Arndt arbeitete zumindest die Brotfabrik bis annähernd zum Ende des Krieges weiter.
=== 1945–1990 ===
Am 8. Mai 1945 zog die Rote Armee in Dresden ein und übernahm den Schutz der Hofmühle, der erwähnte Ingenieur W. Arndt wurde als Betriebsleiter eingesetzt und organisierte die Wiederaufnahme des Betriebes. Allerdings dienten Mühle und Bäckerei ab diesem Zeitpunkt zunächst vornehmlich der Versorgung der sowjetischen Besatzungsmacht. Hierfür wurde Getreide aus der Sowjetunion angeliefert. Für die normale Bevölkerung wurde – auch mit provisorischen Einrichtungen – zunächst vor allem Schälmüllerei betrieben, das heißt die Verarbeitung von Gerste zu Graupen und Grütze sowie die von Gerste und Hafer zu Flocken. Dies änderte sich ab 1948, als erstmals Weizen aus der Sowjetunion zur Verarbeitung für die Bevölkerung angeliefert wurde.Trotz seiner bekannten antinazistischen Haltung war Friedrich Bienert im April 1945 mit seiner Frau über die Tschechoslowakei nach Regensburg hinter die amerikanischen Linien geflohen. Anders Franz Herschel: Er blieb in Dresden und wurde am 15. Juli 1945 als NS-Wirtschaftsführer verhaftet. Er starb auf einem Häftlingstransport nach Moskau an einem unbekannten Ort. Im Jahr 1946 wurde Friedrich Bienert wegen „nachweislich antifaschistischer Grundhaltung … sowie fördernder Mitgliedschaft in der ‚Roten Hilfe‘“ als Opponent des NS-Regimes eingestuft und kehrte auf mehrere Bitten hin im November 1946 nach Dresden zurück. Er wohnte in einem Teil der Bienertvilla in der Hofmühle, in der auch ein Proben- und Konzertraum für seine zweite Frau, die Konzertpianistin Branka Musulin, eingerichtet wurde. Die Zwangsverwaltung der Mühlen wurde allerdings erst im November 1948 aufgehoben und die beiden Mühlen sowie die Brotfabrik wurden an ihn bzw. die Familie zurückgegeben. Allerdings dürfte ihm relativ bald nach Gründung der DDR klar geworden sein, dass unter deren wirtschaftspolitischem Kurs auf Dauer eine private Führung der Mühlen unmöglich sein würde. Im Jahr 1952 floh Friedrich Bienert endgültig nach Westberlin, wo er bis zu seinem Tod 1969 in bescheidenen Verhältnissen lebte.Nach Bienerts Flucht wurden die Mühlen zunächst treuhänderisch übernommen, aber am 1. Mai 1958 der Bienert-Betrieb in einen Betrieb mit staatlicher Beteiligung, die „BSB T. Bienert Mühlen und Brotfabrik“ umgewandelt. Die Vermögensverteilung stellte sich 1963 wie folgt dar:
Staatlicher Gesellschafter: 13,4 %,
privat und treuhänderisch: 86,6 %, davon:
Ve-Anteil, früher Theodor Bienert: 1/6 („Ve“ ist hier „volkseigener“),
Ida Bienert: 1/4,
Ve-Anteil, früher Friedrich Bienert: 1/12,
M. L. Seidler: 1/12,
Dr. W. Ruppé: 1/24,
Margret Ruppé: 1/24,
Dr. G. Schreiner: 1/6,
Esther Herschel: 1/6.Bis zur Verstaatlichung erhöhte sich durch Investitionen der staatliche Anteil an den Bienertschen Mühlen über 58,3 % (1967) auf 72,3 % (Schlussbilanz zum 23. April 1972). Die Gewinne der privaten Eigentümer, die in der Bundesrepublik lebten, wurden auf Sperrkonten eingezahlt, blieben also in der DDR. Auf den Tag genau 100 Jahre nach dem Kauf der Hofmühle durch Traugott Bienert enteignete die DDR zum 1. Mai 1972 die Familie Bienert und überführte den gesamten Betrieb in Volkseigentum. Dieser firmierte nunmehr als „VEB Dresdner Mühlen- und Brotwerke“.
Im Jahr 1975 strukturierte der Staat die Betriebsorganisationen neu. Der „VEB Dresdner Mühlen- und Brotwerke“ (also der gesamte Bienertsche Betrieb einschließlich der Hafenmühle) wurde aufgespalten: Die Bienertsche Brotfabrik in Plauen kam zum „VE Backwarenkombinat Dresden“, die Bienertmühle wurde nunmehr als „VEB Dresdner Mühlenwerke, Betriebsteil I“ geführt, die Bienertsche Hafenmühle als „VEB Dresdner Mühlenwerke, Betriebsteil II“. Der bisherige „VEB Dresdner Mühlenwerke“, der 1951 durch Verstaatlichung der „König-Friedrich-August-Mühlenwerke AG“ (1946 umbenannt in „Dölzschner Mühlenwerke AG“) entstanden war, firmierte neu unter Angliederung von Mühlen in Freital, Heidenau, Niesky und Meißen als „VEB Dresdner Mühlenwerke, Betriebsteil III“.Nach Übernahme in Volkseigentum wurde die erste der vier Brotbacklinien in der Brotfabrik ausgebaut und ersetzt, später kam eine fünfte hinzu, wie im Verlauf der Jahre die gesamten Produktionseinrichtungen erneuert wurden. Bei einem Drei-Schicht-Betrieb wurde 24 Stunden täglich gebacken, also wie vor Einführung des Nachtbackverbotes 1915. Im Jahr 1989 betrug die Produktion etwa 80 bis 85 Tonnen pro Tag (gegenüber etwa 45 Tonnen pro Tag 1918).Anhand von Fotos ist dokumentiert, dass das Bahnsilo der Bienertmühle von 1928 nach 1945 ersatzlos abgerissen wurde.
1988 kam es zu einer Staubverpuffung in der Mühle, die zu einem relativ schnell gelöschten Brand an der aus den 1930er Jahren stammenden Mühlentechnik führte. Die Mühle wurde anschließend außer Betrieb genommen. Ob sie bis 1990, dem Eigentumsübergang an die Treuhand, überhaupt wieder in Betrieb ging, oder ob auf diese Weise der Jahrhunderte alte Mühlenbetrieb bereits zu DDR-Zeiten beendet wurde, kann derzeit nicht belegt werden.
== Abwicklung und Neuentwicklung seit 1990 ==
=== 1990–2002 ===
Nach der Wende erfolgte 1990 die Umwandlung der beiden Bienertschen Mühlen, gemeinsam mit der Freitaler Egermühle, durch die Treuhand in die „Dresdener Mühlen GmbH“. Bei den letztlich erfolgreichen Verhandlungen mit den Plange-Mühlen und der Wilh. Werhahn KG als deren Besitzer stellte sich heraus, dass lediglich die Bienertsche Hafenmühle als Mühlenstandort erhalten werden kann. Die 1988 durch einen Brand geschädigte, und inzwischen marode Bienertmühle schloss die Treuhand 1990 endgültig und beendete damit die Mühlengeschichte an diesem Standort nach über 600 Jahren.
Das „Backwarenkombinat“ wurde 1990 ebenfalls in Einzelbetriebe zerlegt: Die Betriebe des Kombinates in Dresden, die Bienertsche Brotfabrik und den Betrieb in Pirna wandelte die Treuhand in die „Dresdner Brot- und Konditoreiwaren GmbH“ um. Im Jahr 1992 firmierte sie das Unternehmen in „Dresdner Brot- und Konditoreiwaren GmbH & Co. Betriebs KG“ um, welches Lieken Urkorn aus Achim als „frisch Back Dresden GmbH“ mit Sitz in Altplauen kaufte. Jedoch wurden kurz nach dieser Übernahme durch die Firma Lieken alle Betriebsteile geschlossen, so auch die Bienertsche Brotfabrik (und damit auch den Firmensitz von „frisch back“), zum Teil abgerissen und die Beschäftigten entlassen.Dem markanten Mühlenkomplex drohte in den 1990er-Jahren ein umfassender Abriss. Ein Münchner Investor hatte das Ensemble erworben und plante großzügige Neubauten. Die heute denkmalgeschützte Mühle sowie die Bienert-Villa sollten beräumt werden. Auch wegen der Restitutionsforderungen der Bienert-Erben kam es dazu aber nicht.
=== Gegenwart ===
Über verschiedene Zwischenwege gelang es, eine Stiftung als Eigentümer einzutragen. Nach der Weißeritzflut 2002 begann dann die Rettung für das heute denkmalgeschützte Gesamtensemble, dessen Ende der Sanierung für 2018 mit den letzten Arbeiten avisiert wurde, Restarbeiten zogen sich dann noch bis 2020 hin.
Im 1878 errichteten Kopfbau des Mühlenkomplexes an der Straße Altplauen eröffnete 2006 das Museum Hofmühle eine Schau zur Geschichte der Bienertmühle und des Ortes Plauen sowie einen kleinen Mühlenladen im ehemaligen Werksverkauf mit einem Café. Außerdem ist seitdem hier eine Ausstellung historischer Schokoladenformen der Plauener Firma Anton Reiche sowie zum Leben der Tanzpädagogin Gret Palucca, von 1924 bis 1930 Ehefrau Friedrich Bienerts, zu sehen. Ebenfalls befindet sich hier noch die erhaltene Mühlentechnik aus den 1930er Jahren. In den weiteren Räumen finden regelmäßig Wechselausstellungen und Veranstaltungen statt.
Von Ende 2010 bis Frühjahr 2012 erfolgte der Abriss des 1938/1939 erbauten früheren Getreidespeichers nördlich der Straße Altplauen, eine Nutzung als Trainingsobjekt für eine Kletterschule konnte nach Vorarbeiten nicht umgesetzt werden. Auch andere Nutzungsideen scheiterten, letztlich auch am hohen Sanierungsbedarf des Gebäudes.
Im genannten Kopfbau von 1878, dem alten Hofspeicher (dessen Obergeschosse teilweise abgerissen und durch einen neuen Aufbau ersetzt wurden), der ehemaligen Roggenmühle und dem ehemaligen Mühlenmagazin wurden ab 2006 bis 2018 etwa 30 Unternehmen ansässig, darunter ein Bioladen, Dienstleister, Ingenieurbüros, Architekten, Kreativgewerbe, aber auch eine Modellwerkstatt, eine Tanzschule und ein Yogastudio.Ursprünglich war geplant, nur die Gebäudeteile der Mühle mit Fenstern zur Weißeritz als Wohnungen auszubauen, auf Grund der Nachfrage wurde dieses Vorhaben aber geändert: Knapp 60 Wohnungen in unterschiedlichen Lagen sind seit 2012 am Standort entstanden: Die ersten neuen Bewohner zogen in das alte Maschinenhaus ein. Anschließend wurden die angrenzende Neue Weizenmühle und das Heizhaus ausgebaut. Zudem sollen im Werkstatthaus zum Hof hin (ehemalige „Sackreinigung“) zwei Etagen zu Wohnungen werden, die 2020 bezugsfertig waren. Die Bienertvilla wurde seit 2015 ebenfalls aufwendig saniert und Ende 2017 als Gebäude fertiggestellt. In dem denkmalgeschützten Haus entstanden durch eine Dresdner Immobilienfirma zehn Wohnungen, anstelle der Uhr im Giebel befindet sich allerdings jetzt ein Rundfenster. Während allerdings die historische Bienert-Villa trotz ihrer repräsentativen Ausgestaltung sich architektonisch seit ihrer Errichtung als Teil des Industriestandortes begriff, ist die Neuentwicklung ab 2015 als schlossähnlich überhöht zu bezeichnen.Der Mühlgraben wurde nach der Weißeritzflut von 2002 endgültig stillgelegt und dessen Mundloch unterhalb der Brücke Altplauen, die inzwischen neu errichtet wurde, verschlossen, gleiches gilt für den Einlauf am Bienertmühlenwehr unterhalb der Hegereiterbrücke. Im Bereich des Bienertgartens ist er trocken gefallen erhalten geblieben.Der Bienertgarten wiederum ging an den Naturschutzbund Deutschland und ist im Rahmen eines Bienertweges wieder teilweise öffentlich zugänglich. Verschiedene Fledermausarten besiedeln die sogenannte „Lusthöhle“ (eine künstliche Grotte), unter anderem die auf der Roten Liste gefährdeter Arten stehende Mopsfledermaus. Auch Wasseramsel und Eisvogel haben in diesem Bereich inzwischen Reviere.In einem Zeitungsartikel vom 17./18. Februar 2018 bilanziert die Autorin Annechristin Bonß in ihrem Artikel Das dritte Leben der Bienertmühle beginnt zum Stand der Sanierung und zur Bekanntheit des Standortes:
„Wer zur Bienertmühle will, der braucht im Taxi keine Adresse nennen.“
== Weblinks ==
Website der Bienertmühle. Abgerufen am 7. Februar 2018.
Die Bienertmühle auf dresdner-stadtteile.de. Abgerufen am 7. Februar 2018.
Die Bienertmühle im Stadtwiki Dresden. Abgerufen am 7. Februar 2018.
== Literatur ==
Adolf Jädicke: Die Hofmühle zu Plauen-Dr. Zum 1. Mai 1897. Selbstverlag, Plauen-Dresden 1897. (Digitalisat).
T. Bienert Dampfmühle u. Oelfabrik, Hofmühle Dresden-Plauen. Gründung des Geschäfts: 1. Mai 1852. Dresden 1897 (Digitalisat). Die handschriftlichen Anmerkungen in dem Werk stammen von Adolf Jädicke (gest. 1909), dem Privatsekretär der Bienerts.
Paul Dittrich: Zwischen Hofmühle und Heidenschanze. Geschichte der Dresdner Vororte Plauen und Coschütz. 2., durchgesehene Auflage. Adolf Urban, Dresden 1941.
Annette Dubbers: Plauen – Aus der Geschichte eines Dresdner Stadtteils. Verlag Annette Dubbers, Dresden 2006, ISBN 3-937199-34-9.
Jürgen Riess: Der Bienertweg im Plauenschen Grund – Ein Wander- und Naturführer durch eine einmalige Natur- und Industrielandschaft. Verein für Wissenschaftler und ingenieurtechnische Mitarbeiter Dresden e. V. (WIMAD) (Hrsg.) (= Dresdner Impressionen, Bd. 2). 2., überarbeitete Auflage. Dresden 2013, ohne ISBN.
Dresdner Geschichtsverein e. V. (Hrsg.): Die Geschichte der Familie Bienert (= 00Dresdner Hefte – Beiträge zur Kulturgeschichte,00 Nr. 116, 4/2013). Dresden 2013, ISBN 978-3-944019-05-5. Hieraus insbesondere:
Dirk Schaal: Gottlieb Traugott Bienert – Ein Gründerzeitunternehmer in Dresden. S. 11–19.
Jürgen Riess: Vom alten Handwerk zur modernen Brotfabrik. S. 29–36.
Hans-Peter Lühr: Friedrich Bienert und der Geist von Weimar – Eine biographische Studie. S. 55–64.
Jürgen Riess: Was aus dem Brotimperium wurde – Die Firmengeschichte nach 1900. S. 65–75.
Carsten Hoffmann: Die Stiftung Hofmühle Dresden. S. 76–81.
Annechristin Bonß: Neue Heimat in Bienerts Mühle. In: 00Sächsische Zeitung,00 Ausgabe 20./21. August 2016, S. 18. Auch online (zuletzt aufgerufen am 9. Oktober 2020).
Annechristin Bonß: Das dritte Leben der Bienertmühle beginnt. In: Sächsische Zeitung, Ausgabe 17./18. Februar 2018, S. 18. Auch online (zuletzt aufgerufen am 9. Oktober 2020).
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bienertm%C3%BChle
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Bristol Blenheim
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= Bristol Blenheim =
Die Bristol Blenheim ist ein zweimotoriger britischer Bomber, der im Zweiten Weltkrieg vor allem von der Royal Air Force für Tiefangriffe gegen feindliche Schiffe eingesetzt wurde. Es gab auch eine Jagdflugzeug-Version der Blenheim.
== Entwicklung ==
Die Blenheim geht zurück auf den Auftrag von Lord Rothermere zum Bau eines achtsitzigen Ganzmetall-Passagierflugzeuges mit einziehbarem Fahrwerk, der Bristol 142 Britain First, welche am 12. April 1935 erstmals flog. Lord Rothermere stellte das Flugzeug umgehend der RAF für Erprobungsflüge zur Verfügung, nachdem sich gezeigt hatte, dass das Flugzeug schneller fliegen konnte, als alle damals verfügbaren britischen Jäger. Die Blenheim wurde aus diesem Flugzeug gemäß der Spezifikation B.28/35 entwickelt, wobei die zivile ursprüngliche Tiefdecker-Konfiguration in eine Mitteldecker-Konfiguration geändert wurde, um Raum für einen Bombenschacht zu gewinnen. Der Erstflug des Prototyps (RAF-Seriennr. K7033) erfolgte am 25. Juni 1936. Dieses Flugzeug wurde vorerst als Blenheim Mk I (mit kurzer, vollverglaster Nase) als erstes Ganzmetallflugzeug der britischen Luftwaffe in Serie hergestellt. Die fortschrittliche Konstruktion machte den Bomber allen damaligen Jagdflugzeugen an Geschwindigkeit überlegen. Bereits damals bestand ein erster Liefervertrag und im März 1937 erhielt die No. 114 Squadron die ersten Blenheim I. Es wurden 1280 Mk I gebaut; beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges befanden sich 1007 davon in der RAF. Unter diesen Maschinen waren auch 147 als Mk IF hergestellte Jäger mit vier Browning-MG Kal. .303 (7,7 mm) in einer Wanne unter dem Rumpf.
== Einsatz ==
Die Bomber wurden meistens im Mittleren und Fernen Osten eingesetzt, da die Staffeln der RAF bereits auf die fortschrittlichere Version Mk IV umgerüstet waren. Am 3. September 1939, zu Kriegsbeginn, waren von diesen Flugzeugen 197 Stück in den Einheiten verfügbar. Zehn Blenheim-Bomber der Nos 110 und 107 Squadron führten mit einem Einsatz am 4. September 1939 gegen das Panzerschiff Admiral Scheer, das in der Jademündung bei Wilhelmshaven vor Anker lag, den ersten britischen Luftangriff auf das Deutsche Reich aus. Dabei gingen fünf Blenheim verloren.Ab dem 10. Mai 1940 flogen Blenheims Einsätze über den Niederlanden und am 13. Mai errichteten sie eine Deckung für die Evakuierung von Königin Wilhelmina. Am gleichen Tag wurde die Blenheim IVF mit dem Kennzeichen P4854 von der Radarstation Bawdsey an eine He 111 herangeführt, möglicherweise der erste Abschuss eines Flugzeuges unter Radarführung.Mit der 81. Maschine erhielt die Bezeichnung Blenheim IVL Gültigkeit, wobei der Buchstabe L für Long Range stand. Dies wurde durch den Einbau von zusätzlichen Flügeltanks erreicht. Die Mk IV verfügte durch Einsatz des Mercury XV auch über ein stärkeres Triebwerk als die mit dem 840-PS-Mercury-VIII ausgerüstete Blenheim I. Außerdem war die Bewaffnung verbessert worden. Von dieser Variante wurden 1930 Flugzeuge hergestellt.
Im Gegensatz zur Mk IV waren die Leistungen der Mk V – der letzten britischen Version – enttäuschend. Diese Variante wurde zur Erfüllung der Spezifikation B. 6/40 abgeändert, so dass 1941 bei Bristol je ein Prototyp des Mk-VA-Tagbombers und des Mk-VB-Erdkampfflugzeuges gebaut wurde. Rootes Securities Ltd bauten 942 Flugzeuge, die Mehrzahl in der Version Mk VD (eine Tropenversion der VA), zum Teil aber auch in der Version VC mit Doppelsteuer als Trainingsflugzeug. Die Kriegsverluste an Mk VD waren jedoch sehr hoch, so dass sie so schnell wie möglich durch amerikanische Baltimore und Ventura ersetzt wurden.
Blenheim wurden bei jedem Dienstzweig der RAF und auf jedem Kriegsschauplatz eingesetzt. Noch vor dem Kriegsausbruch wurden Blenheim I nach Finnland, Rumänien, Jugoslawien und der Türkei exportiert. Mk I wurden in Jugoslawien, Mk I und Mk IV in Finnland in Lizenz hergestellt. In Kanada baute Fairchild 676 Blenheim für die Royal Canadian Air Force, welche diese Flugzeuge Bolingbroke Mk I bis IV nannte.
Der Name Blenheim wurde wieder verwendet für den Bristol Blenheim, ein exklusives Fahrzeug des britischen Automobilherstellers Bristol Cars Ltd., das von 1993 bis 2008 in sehr geringen Stückzahlen hergestellt wurde.
== Produktionszahlen ==
Die Blenheim wurde in Großbritannien bei Rootes in Speke, Stoke und Shawbury, bei A. V. Roe und bei Bristol gebaut.
== Militärische Nutzung ==
Australien AustralienRoyal Australian Air ForceFinnland FinnlandLuftstreitkräfte FinnlandsFreies Frankreich Freies FrankreichFreie französische LuftstreitkräfteErste Hellenische Republik GriechenlandGriechische LuftstreitkräfteBritisch-Indien Britisch-IndienIndische LuftstreitkräfteItalien 1861 Königreich ItalienRegia Aeronautica 4 erbeutete MaschinenJugoslawien Konigreich 1918 Jugoslawien
24 Exemplar wurden geliefert und 36 in Lizenz gebaut
Kanada 1921 KanadaRoyal Canadian Air ForceKroatien 1941 Unabhängiger Staat KroatienZrakoplovstvo Nezavisne Države Hrvatske: 8 von der Kgl. Jugoslawischen Luftwaffe übernommene MaschinenNeuseeland NeuseelandRoyal New Zealand Air ForcePortugal PortugalForça Aérea Portuguesa
Marinha PortuguesaRumänien Konigreich RumänienRumänische Luftwaffe: zu den 12 vor dem Krieg von Großbritannien gekauften Mk.I kamen noch 6 der ehemaligen Kgl. Jugoslawischen LuftwaffeSudafrika 1928 Südafrikanische UnionSouth African Air ForceTurkei TürkeiTürkische LuftwaffeVereinigtes Konigreich Vereinigtes KönigreichRoyal Air Force
== Technische Daten (Blenheim IV) ==
== Siehe auch ==
Liste von Flugzeugtypen
== Literatur ==
C. Bowyer: Bristol Blenheim. Ian Allen, London 1984, ISBN 0-7110-1351-9.
Olaf Groehler: Geschichte des Luftkriegs 1910 bis 1980. Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1981, S. 179.
Francis K. Mason: The British Bomber Since 1914. Putnam Aeronautical Books, London 1994, ISBN 0-85177-861-5.
David Mondey: The Hamlyn Concise Guide to American Aircraft of World War II. Aerospace Publishing Ltd, London 1996, ISBN 0-7858-1361-6.
== Weblinks ==
Bristol 142 Viele technischen Daten auf FliegerWeb.com
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bristol_Blenheim
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Bullengraben
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= Bullengraben =
Der Bullengraben ist ein bereits im 7. Jahrhundert kultivierter Wassergraben im Berliner Urstromtal. Er liegt im Berliner Bezirk Spandau und führt vom alten Dorfkern Staakens über rund fünf Kilometer nach Osten zur Havel, in die er, im letzten Stück unterirdisch verrohrt, nördlich des Burgwalls Spandau mündet. Über Jahrhunderte zur Melioration der feuchten Niederung genutzt, dient der Graben seit den 1960er-Jahren als Entwässerungsgraben zur Aufnahme des Regenwassers aus den umliegenden Spandauer Stadtquartieren. Die Bebauung der Gebiete um den Bullengraben spiegelt einen Teil der Spandauer Siedlungsgeschichte wider.
Zwischen 2004 und 2007 wurde der in den 1960er und 1970er Jahren kanalisierte und anschließend vernachlässigte Graben im Rahmen einer Ersatzmaßnahme durch die DB ProjektBau saniert. Parallel zum Graben legte die Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn den bis zu 200 Meter breiten Grünzug Bullengraben/Lindenufer mit Spiel- und Sportplätzen, Erholungsflächen, Brücken, Stegen und einem Weg an, der bis zum Elsflehter Weg geht. Der rund vier Meter breite und mit glattem Asphalt belegte Bullengrabenweg (Nr. 20 der 20 grünen Hauptwege Berlins) steht Fußgängern, Radfahrern und Skatern zur Verfügung. Im letzten Teilstück bezieht der Grünzug den Burgwallgraben und eine rund 100 Meter lange Promenade an der Havel ein. Zudem wurden im Grünzug liegende Biotope wie das Stieglakebecken und Wiesenbecken sowie zuführende Gräben wie der Egelpfuhlgraben renaturiert. Für die Schaffung der Gesamtanlage erhielt die Deutsche Bahn 2008 den Gustav-Meyer-Preis, der seit 1995 alle zwei Jahre für hervorragend geplante öffentliche Grün- und Parkanlagen vergeben wird. Der Preis trägt den Namen Johann Heinrich Gustav Meyers, des ersten Städtischen Gartenbaudirektors Berlins.
== Überblick über den Verlauf des Grabens und des Grünzugs ==
Der Bullengraben verläuft zwischen den Straßenzügen Heerstraße und Brunsbütteler Damm. Er beginnt nordwestlich der Altstaakener Dorfkirche am ehemaligen Krankenhaus Staaken-West, ist aber auf den ersten Metern verwildert und kaum noch wahrnehmbar. Der neu angelegte Bullengrabengrünzug beginnt rund einhundert Meter östlich am Nennhauser Damm, von dem ein Metallsteg hinunter in die Niederung zu einem kleinen Absetzbecken führt, das als „Symbol für die ‚Quelle‘ des Bullengrabens“ gilt. Von dem Becken ziehen sich der Graben und der Grünzug über rund 4,5 Kilometer in leichten Schleifen nach Osten. In Staaken passiert er die Staakener Felder und die Louise-Schroeder-Siedlung. Am Grabenkreuz mit dem Egelpfuhlgraben und Neustaakener Graben verlässt der Grünzug Staaken und bildet bis zur Havel die Grenze der Ortsteile Spandau (Norden) und Wilhelmstadt (Süden), dabei verläuft die Ortsteilgrenze streckenweise auf der südlichen und streckenweise auf der nördlichen Grabenseite. Vorbei an der Spandauer Ortslage Klosterfelde, an Neubaugebieten und an Kleingartenkolonien erreicht der Graben den Elsflether Weg und die Altbaugebiete um die Klosterstraße. Insgesamt queren den Bullengraben 17 Brücken, die zum Teil als kleinere Holz- oder Metallbrücken zur Fußverbindung zu den Kleingärten oder angrenzenden Siedlungen ausgeführt sind.
Jenseits des Elsflether Weges führen der Graben und der Grünzug noch rund 50 Meter weiter nach Osten und brechen an der rückseitigen Bebauung der breit angelegten Klosterstraße ab. Der Graben verläuft ab hier unterirdisch verrohrt zur Havel. Östlich der Klosterstraße liegen die Rohre unter der „Grünanlage am Ziegelhof“, die in gerader Strecke zur Havel führt. Ein „Blumenbach“ deutet den unterirdischen Röhrenverlauf an. Der unterbrochene Grünzug setzt sich an der Straße Ziegelhof entlang des hier beginnenden Burgwallgrabens nach Südosten fort und erreicht nach der Beschreibung eines Halbkreises nach rund 300 Metern gleichfalls die Havel. Die Lücke im Grünzug muss über die Elsflether, Seeburger und Klosterstraße bis zum Ziegelhof umgangen werden (Stand: 2009), soll aber nach Planungen des Bezirksamtes geschlossen werden.
== Geologie und naturräumliche Lage ==
Die Bullengrabenniederung ist aus einer ehemaligen Fließrinne innerhalb des weichselglazialen Berliner Urstromtals entstanden. Der Bullengraben fließt heute entgegen der ursprünglichen Strömungsrichtung des Urstromtals von Westen nach Osten in die Havelrinne, einer Glazialen Rinne, die das Urstromtal quert, ohne es über eine längere Strecke zu benutzen. Er mündet rund 800 Meter südlich der Spree in die Havel. Das Urstromtal ist aus mächtigen Sanden aufgebaut, die mehr als 20 Meter Mächtigkeit erreichen können. Nach der Eiszeit hat sich westlich der Havelrinne im Zuge alluvialer Verlandungsprozesse Niedermoorboden mit Torf- und Wiesenkalklagern ausgebildet. Während der östliche Teil des Urstromtals von der Spree in der natürlichen Fließrichtung durchflossen und entwässert wird, fehlen im westlich der Havel gelegenen Teil größere Flüsse. Das ausgedehnte und ehemals sehr feuchte und oft überschwemmte Niederungsgebiet wurde lediglich von Gräben wie dem Bullengraben und der Spekte, die rund einen Kilometer nördlich parallel zum Bullengraben floss, zur Havel entwässert. Der Nordhang der Nauener Platte, die das Urstromtal hier nach Süden begrenzt, liegt im Mittel rund einen Kilometer vom Bullengraben entfernt.
== Geschichte des Bullengrabens und Siedlungsgeschichte ==
=== Früher Meliorationsgraben und Etymologie ===
Der sehr wahrscheinlich in der glazialen Fließrinne künstlich angelegte Bullengraben diente spätestens seit der slawischen Besiedlung, die im Havelland im 7. Jahrhundert einsetzte, der gezielten Melioration der feuchten Niederungen westlich der Havel und ermöglichte Weide- und Heuwirtschaft. Der Name wird daher auf das slawische Wort für Heuballen zurückgeführt. Nach anderer Darstellung beruht der Name darauf, dass der Graben als Tränke für Bullen diente. Angeblich waren der Bullengraben und die Spekte Teil eines nahezu lückenlosen überregionalen Kanalnetzes, das über Nauen und das Havelländische Luch mit der Elbe in Verbindung stand. Bestätigungen für diese Überlegungen gibt es nach Winfried Schich nicht:
=== Ehemalige Mündung am slawischen Siedlungszentrum ===
Der Bullengraben mündete bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in den nördlichen Teil des Burgwallgrabens, der die Burgwallinsel im Halbkreis umfloss. Mit dem Bau der Berlin-Hamburger Bahn wurde dieser Teil des Burgwallgrabens um 1870 zugeschüttet. Eine Verbindung zwischen dem Bullengraben und dem südlichen Rest des Burgwallgrabens besteht nicht mehr. Die Burgwallinsel, Ende des 20. Jahrhunderts eine der größten archäologischen Grabungsstätten Berlin/Brandenburgs, bildete das Zentrum der slawischen Siedlungskammer des Spandauer Raums. Neben dieser zentralen Burg bestand am Bullengraben zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert eine weitere altslawische Siedlung am heutigen Cosmarweg.
=== Klosterfeld und Ziegelhof ===
Im Zuge der deutschen Ostsiedlung entstand im Quellbereich des Bullengrabens das 1273 erstmals urkundlich erwähnte Dorf Stakene (Staaken). Im Mündungsbereich stifteten die askanischen Markgrafen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts das Benediktinerinnenkloster St. Marien mit Klosterkirche, Klausur und umfangreichem Wirtschaftshof. Auf den Grundstücken vor dem Klostertor zwischen Bullengraben, Burgwallgraben und Havel befanden sich bis zur Klosterauflösung 1590 die Ackergärten der Benediktinerinnen, die mit 60 Ackerhufen 11,5 Hufen mehr besaßen als die Stadt Spandau in ihrer Feldmark. Dazu gehörten die auf alten Karten verzeichneten Krummen Gärten, die direkt am Bullengraben lagen. Bei den Krummen Gärten wurden im 15. Jahrhundert neun kleine Häuser angelegt – wahrscheinlich die ersten Wohngebäude außerhalb Staakens, des Klosters und der Spandauer Stadtmauer. Um 1580 erwarb Rochus zu Lynar, der Baumeister der Zitadelle, die Ackerflächen der Nonnen und baute hier Wein an.Nachdem Kurfürst Georg Wilhelm den alten Ziegelofen auf dem Stresow hatte abreißen lassen, errichtete 1676 der Rat der Stadt Spandau auf den alten Klosterflächen die neue Ratsziegelei mit einem Ofen, einer Ziegelscheune und vier Kalkscheunen. Überflügelt von den aufstrebenden Ziegeleizentren von Glindow und Werder, ließ die Stadt den Ziegelofen 1755 abbrechen und durch eine Obstbaumplantage ersetzen. Pächter der Flächen, die häufig von der Havel und vom Bullengraben überschwemmt wurden, waren nunmehr Ackerbürger und Gärtner. Das Gebiet war Teil des Klosterfeldes und der Potsdamer Vorstadt, die ab 1872 den 8. Spandauer Stadtbezirk bildete. Mit der Anlage der Wilhelmstadt setzte 1867 die Bebauung der Flächen am ehemaligen Ziegelhof ein.
=== Vorflutgesetz 1811 und Verrohrung ===
Zur Freihaltung der Wiesengräben hatte Preußen 1811 ein Vorflutgesetz erlassen, das die Anlieger verpflichtete, die Gräben im Frühjahr und Herbst jedes Jahres zu räumen. In öffentlichen Bekanntmachungen wurde dem Gesetz noch 1863 Nachdruck verliehen:
Trotz der Maßnahmen konnten großflächige Überschwemmungen nicht verhindert werden, die um 1870 von der Havel über die Klosterstraße (damals: Potsdamer Chaussee) bis zu den Egelpfuhlwiesen reichten. Verantwortlich war vor allem die mangelnde Vorflut des Burgwallgrabens nach den Aufschüttungen für den Bahnbau, sodass der Nordteil des Burgwallgrabens zugeschüttet und der Bullengraben verrohrt zur Havel geführt wurde.
=== Kanalisierung und Funktionswandel im 20. Jahrhundert ===
Die Bebauung der Wiesen um den Graben begann zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach der Anlage des Flugplatzes Staaken ab 1915 verlor er seine Funktion als Vorflut der Staakener Felder. Bis in die 1960er-Jahre blieb der Uferbereich in seiner Entwicklung und Nutzung als Wiesenland ansonsten noch weitgehend ungestört. Mit großflächigen Aufschüttungen zur Bebauung der Klosterfelder Wiesen und des angrenzenden Geländes veränderte sich die Bullengrabenniederung nachhaltig. Der Graben wurde zum Entwässerungsgraben um- und ausgebaut und zur Aufnahme des oberflächlich ablaufenden Regenwassers in den 1960er- und 1970er-Jahren kanalisiert. Mit dem Stieglake-, Wiesen- und Ulrikenbecken wurden drei Rückhaltebecken angelegt. Durch die Errichtung von Großsiedlungen und die verstärkte Trinkwasserförderung des Wasserwerks Spandau sank der Grundwasserstand der Bullengrabenniederung, sodass sich die Vegetation der Niederung erheblich veränderte.Im Bereich der Staakener Felder verlief der Bullengraben neben der innerdeutschen Grenze des zwischen 1951 und 1990 geteilten Staaken auf West-Berliner Gebiet. Der Graben wurde streckenweise völlig überwuchert und in den 1980er/1990er Jahren auch in seinem Unterlauf vernachlässigt. Nach der deutschen Wiedervereinigung schloss die Stadt weitere Stadtquartiere an das Regenwassersystem Bullengraben an.
== Hydrologie und Ökologie vor der Sanierung und Renaturierung ==
Sämtliche Daten zur Hydrologie und Ökologie beziehen sich auf Untersuchungen, die vor der 2007 abgeschlossenen Sanierung und Renaturierung des Grünzugs erfolgten. Angaben über die Auswirkung der Maßnahmen auf den Wasserhaushalt und die Biotopqualität und konkrete Daten über die vorgenommene „ökologische Aufwertung“ (siehe unten) liegen nicht vor.
=== Einzugsgebiet und Regenwasserableitung ===
Der Grundwasserstand der Bullengrabenniederung lag 1977 im Bereich der Grundwasser-Höhenlinien 28,0 und 29,0 Meter über NN. Nach der Kanalisierung sank der Grundwasserspiegel kontinuierlich und erreichte 1978 einen Tiefstand mit 3,4 bis 4,3 Meter unter Flur. 1989 stand der Grundwasserspiegel rund 1,5 bis 1,8 Meter tiefer als 20 bis 30 Jahre zuvor. Die Regenwasserableitungen in die Kanalisation, ermittelt aus den Daten des ISU (Informationssystem Stadt und Umwelt Berlin). mit dem Programm ABIMO (Wasserhaushaltsmodell) der Bundesanstalt für Gewässerkunde, und die Einzugsgebiete der erstaufnehmenden Gewässer betrugen im Bereich des Grünzugs 2004:
Damit ergibt sich für den Bullengraben ein Einzugsgebiet von 1,4 km² und für den gesamten Grünzug inklusive Nebengewässern von 2,3 km² (Stand der Datengrundlagen: Dezember 2001, Stand der Daten: 30. August 2004).
=== Gewässerstrukturgüte des Bullengrabens 2003 ===
Eine Gewässerstrukturgütekartierung nach dem Vor-Ort-Verfahren ergab 2003 eine starke anthropogene Schädigung des Bullengrabens mit der durchschnittlichen Gesamtbewertung „übermäßig geschädigt“ (Güteklasse 7 auf einer Skala von eins bis sieben). Die Sohle des zum Erhebungszeitraum in 40 von 45 Abschnitten trockengefallenen Grabens war in allen Abschnitten „übermäßig geschädigt“ (7). Für das Ufer ergab sich eine „übermäßige Schädigung“ (7) in 93,3 % der Abschnitte. Das Land erwies sich in 11,1 % der Abschnitte als „bedingt naturnah“ (2) und im Durchschnitt als „stark geschädigt“ (6). Der Parameter Gewässerumfeld wurde mit „merklich geschädigt“ bewertet (5). Die Hauptparameter Laufentwicklung, Längsprofil und Sohlenstrukturen waren in allen Abschnitten „übermäßig geschädigt“ (7). „Naturnah“ (1) zeigte sich der Bullengraben in keinem Abschnitt und in keinem Parameter. Neben dem Hellersdorfer Graben wies der Bullengraben damit unter zehn kartierten kleineren Berliner Fließgewässern die höchste Schädigungsstufe auf.
=== Geschützte Biotope und Geschützte Grünanlage ===
Das Berliner Landschafts- und Artenschutzprogramm führt den Bullengraben als Verbindungsbiotop für Arten feuchter und nasser Standorte (Feucht- und Naßwiesen, Bruchwälder, Gräben, Landseen). Als Schutzstatus gibt das Programm die Kennziffer 30a in Klammern an. Nach dieser Kennzeichnung unterliegen Teile des Gebietes den Bestimmungen der nach § 30a Naturschutzgesetz Berlin (NatSchGBln, § 30a alte Fassung; neue Fassung: § 26a) besonders geschützten Biotope als Reservoir von Arten feuchter und nasser Standorte.Im Einzelnen listet die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung im Bereich des Bullen- und Egelpfuhlgrabens mit Stand Juli 1995 folgende nach dem § 30a (beziehungsweise neu nach § 26a) gesetzlich geschützte Biotope:
Wiese am Bullengraben (Biotop-Nr. 08035), angegebener Schutzgrund: Frischwiese, Feuchtwiese
Grünzug Bullengraben, Teilstücke (Nr. 08036 und 08039), Schutzgrund: Feuchtwiese
Wiesenbecken am Magistratsweg (Nr. 08037), Schutzgrund: Röhricht
Weidenbruch am Bullengraben (Nr. 08038), Schutzgrund: Feuchtwiese, Röhricht
Weiden der Egelpfuhlwiesen (Nr. 08042), Schutzgrund: Bruchwald
Staakener Felder (Nr. 08040), Schutzgrund: MagerrasenDer 2007 eröffnete Grünzug Bullengraben ist mit allen Abzweigungen als „Geschützte Grünanlage“ nach dem Berliner Grünanlagengesetz gelistet. Der im Verhältnis zum Naturschutzgebiet, Biotopschutz oder Landschaftsschutzgebiet geringe Schutzumfang überlässt es nach § 4 den Berliner Bezirken, „für Schutz-, Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen öffentlicher Grün- und Erholungsanlagen […] der Größe und der Bedeutung der [jeweiligen] Anlage angemessene Parkpflegewerke oder Pflegerichtlinien auf[zu]stellen.“ Zahlreiche Hinweisschilder mit einem Tulpenzeichen weisen den Schutzstatus aus.
=== Limnologische Aspekte am Beispiel Wiesenbecken ===
Am bis zu drei Meter tiefen Wiesenbecken ließ die Senatsverwaltung 1989 limnologische Untersuchungen durchführen. Das geschützte Biotop hat eine Fläche von 1,5 Hektar, davon entfallen auf die Wasseroberfläche des Regenwasserrückhaltebeckens 0,3 Hektar. Der Wasserstand war auch in regenarmen Monaten weitgehend konstant. Das von Grünalgen dominierte mittlere Biovolumen des Phytoplanktons, Basis der autochthonen Nahrungspyramide eines Sees, betrug 1989 im Hauptbecken 10,6 mm³/l und lag damit unter dem Mittelwert Berliner Kleingewässer (11,2 mm³/l). Die mittlere Chlorophyll-Konzentration lag bei 64 µg/l und damit gleichfalls unter dem Berliner Mittelwert in Höhe von 89 µg/l. Das Zooplankton war im März von Wimpertierchen, dann ganzjährig von Rädertierchen bestimmt. Die Sauerstoffkonzentration schwankte stark zwischen 48 und 136 % und wies auf ein im Mittel untersättigtes Gewässer hin. Für die Gesamtphosphorkonzentration ergab sich ein Mittelwert von 0,09 µg/l und für die Gesamtstickstoffkonzentration von 4,1 mg/l. Die Schwermetallkonzentration im Sediment und Wasser erwies sich als sehr hoch. Insgesamt weisen die Daten die Charakteristik stark eutropher Kleingewässer auf. Der hohe Schwermetalleintrag lag zum einen am aufgeschütteten Grund aus Ziegelschutt und Schlacke, zum anderen am Regenwasser, das von den umliegenden Verkehrsflächen einfloss.
=== Böden, Flora und Fauna ===
Die Angaben zu Böden, Flora und Fauna beruhen auf Untersuchungen im Rahmen verschiedener Schutz-, Pflege- und Entwicklungskonzepte, die 1988/1989 im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz in Teilen der Grabenniederung und in den Biotopen durchgeführt wurden.
==== Korrelation Böden – dominierende Pflanzengesellschaften ====
Die Substrate der Böden bilden Schmelzwassersande, Torfe und sandige Aufschüttungen. In den Oberhanglagen finden sich reliktische Gleye, die zum Teil mit Sekundärkalk angereichert sind. In den Mittelhanglagen folgen vergleyte Kolluvien. Den Unterhang und Hangfuß bestimmen Kolluvien, Hortisole, Kalkregosole und Pararendzina über Moorgleyen und Niedermooren. Im Weidenbruch sind die Niedermoorböden im Aufbau weitgehend ungestört. Die Böden sind tiefgründig gut durchlüftet.
Mit einem pH-Wert von 4,2 und 6,2 (im Weidenbruch und der Egelpfuhlwiese bis 7) ergaben sich im Untersuchungszeitraum in den oberen Zentimetern für Flachwurzler Nährstoffangebote zwischen gering und mittel. Mit Werten um und über 6 in einem Meter Tiefe waren die Nährstoffmengen im Tiefwurzelraum mäßig bis erhöht, im südlichen Niederungsteil mittel bis hoch.Auf den Kalkregosolen, Regosolen und Pararendzina dominierte das Süßgras Gewöhnlicher Rot-Schwingel. Auf vergleyten Kalkregosolen gesellten sich Arrhenatheretalia-Gesellschaften (Gedüngte Frischwiesen und Weiden) hinzu. Die Regosole in den Niedermoorbereichen bestimmte gleichfalls Gewöhnlicher Rot-Schwingel, der hier an den Böschungs- und Uferrändern zunehmend von Hochstauden wie der Kanadischen Goldrute und der Großen Brennnessel, zum Teil vom Gewöhnlichen Knäuelgras, von der Kriech-Quecke und von der Riesen-Goldrute verdrängt wurde. Die Naßgleygley und Moorgleye prägten Röhricht- und Seggenriedgesellschaften (Phragmitetea) mit Schilfrohr, Rohrglanzgras, Sumpf-Segge, Gilbweiderich und Blutweiderich sowie Flutrasen (Agrostietalia stoloniferae), auf dem Weißes Straußgras dominierte, die Kennart dieser Pflanzengesellschaft.
==== Weitere Pflanzengesellschaften und gefährdete Pflanzen ====
An sehr feuchten Standorten wie der Wiese am Bullengraben oder dem Wiesenbecken kamen Weidengewächse mit Bruch-Weiden und Asch-Weiden sowie Eschen-Ahorn-Bestände hinzu, in der Strauchschicht gelegentlich auch Schwarzer Holunder. Einige Standorte bildeten Molinietalia-Fragmentgesellschaften („Nasse Staudenfluren, Nass- und Riedwiesen“) mit den Arten Gelbe Wiesenraute, Echtem Mädesüß und Kohldistel sowie Arrhenatherion-elatioris-Fragmentgesellschaften (Tal-Fettwiesen, planare und submontane Glatthaferwiesen) mit Wiesenkerbel und Wiesen-Bärenklau. Auf der Egelpfuhlwiese bestand eine Pfeifengrasreliktgesellschaft. Auf Feuchtwiesen fanden sich zudem: Gelbe Wiesenraute, Echter Arznei-Baldrian, Scharfer Hahnenfuß, Pfennigkraut und Wolliges Honiggras.
Im Frühjahr bildete das Gewöhnliche Rispengras (Poa trivialis) an sickerfeuchten, nährstoffreichen Standorten einen weitgehend geschlossenen Rasen. In Magnocaricion-Gesellschaften (Niedermoor-Großseggenrieder) herrschten Schlank- und Zweizeilige Seggen vor. Auf Aufschüttungsflächen wuchsen zahlreiche Nachtkerzen-Arten. In Randbereichen wurden Ziergewächse wie Gemeiner Flieder, Gold-Johannisbeere, Schlehdorn oder Purgier-Kreuzdorn angepflanzt. Die Moosflora war eher artenarm und lediglich in den aufgeschütteten Randbereichen zahlreicher vertreten. Ein dichter Wasserlinsenteppich bedeckte Gewässer wie das Wiesenbecken oder in den Überstauungsphasen des Frühjahrs den Weidenbruch am Grabenkreuz. Auf dem bis zu drei Meter tiefen Wiesenbecken bedeckten am Nordwestufer Gelbe Teichrosen – wie alle Seerosengewächse in Deutschland geschützt – die Wasserfläche. Im Jahr 2009 begleiten den Grünzug streckenweise Baumbestände mit Eichen, Birnen und Zierkirschen.
Von den 1989 über 220 insgesamt nachgewiesenen Pflanzenarten standen rund 30 als selten oder gefährdet auf der Roten Liste gefährdeter Arten. Dazu zählen nach der aktuellen Berliner Roten Liste (Stand: 2001) als vom Aussterben bedroht die Grünliche Gelbsegge und das Fleischfarbene Knabenkraut (beide 1989 auf der Egelpfuhlwiese nachgewiesen), als extrem selten die Bruch-Weide, als stark gefährdet die Sumpf-Platterbse und als gefährdet die Sumpfdotterblume, die Gelbe Wiesenraute, die Zweizeilige Segge, die Kuckucks-Lichtnelke und die Blume des Jahres 2005, der Große Klappertopf. In der Vorwarnstufe führt das Land Berlin die Scheinzypergras-Segge und die Knäuel-Binse.
==== Artenarme Fauna ====
Die Faunistische Arbeitsgruppe, die die Untersuchungen 1988/1989 vorgenommen hatte, stufte das weitgehend umbaute Gebiet als „ohne besondere Bedeutung“ für den Bestand der meisten Tierarten ein. Bemerkenswerte Vorkommen gab es unter den Vögeln mit dem Sumpfrohrsänger, der feuchte Hochstaudenfluren bevorzugt und in der Berliner Roten Liste in der Vorwarnstufe zurückgehender Bestände geführt wird. Nachweise gab es ferner für die auf Schilfröhricht angewiesenen Teichrohrsänger und Rohrammern sowie für die Beutelmeise, die in der Niederung ihre bevorzugte Kombination verschiedener Verlandungsgesellschaften findet. Am Biotop Wiesenbecken fand sich neben Teichrallen und Blässhühnern der auf der Vorwarnliste stehende Zwergtaucher. Den Grasfrosch, der aufgrund einer seit 1991 kontinuierlich guten Bestandsentwicklung nicht mehr auf der aktuellen Berliner Roten Liste steht, beobachtete die Arbeitsgruppe gleichfalls am Wiesenbecken. Aus der Klasse der Amphibien konnte ferner der Teichmolch an allen Kleingewässern nachgewiesen werden. Das Wiesenbecken bildete zudem ein Laichgebiet für die strikt nachtaktive Knoblauchkröte, die die Deutsche Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde 2007 aufgrund ihrer starken Gefährdung zum Lurch des Jahres ernannte. Ein weiterer Froschlurch, die nach der FFH-Richtlinie streng zu schützende Wechselkröte, nutzte den Gewässerboden zur Ablage der Laichschnüre.
Für die Lebensbedingungen der Lauf-, Lang- und Rüsselkäfer erwiesen sich alle Biotope als wertvoll. In den Feuchtbiotopen zeigten sich hohe Anteile phytophager und hygrophiler Arten, darunter der in Berlin gefährdete Mattschwarze Glanzflachläufer (Agonum lugens), der eutrophe beziehungsweise mesotrophe Verlandungszonen bevorzugt. Ferner gab es Nachweise für den stark gefährdeten Heydens Schlankrüssler (Mecinus heydeni Wenck), der als Futterpflanze Echtes Leinkraut braucht, und für den vom Aussterben bedrohten Langkäfer Taenapion rufulum (Syn.: Apion rufulum) an seiner Futterpflanze Kleine Brennnessel. Heuschrecken bildeten auf den Wiesen durchschnittliche Vorkommen, darunter die Langflüglige Schwertschrecke, Roesels Beißschrecke und der Weißrandige Grashüpfer. Auf den trockenen Rasen herrschten Braune Grashüpfer und Feldgrashüpfer vor. Die in Berlin bislang selten nachgewiesene und mit anzunehmender Gefährdung eingestufte Maulwurfsgrille fand sich im Erdreich der Egelpfuhlwiesen. Zudem gab es im Weidenbruch Nachweise der vom Aussterben bedrohten Großen Goldschrecke, die Feuchtgebiete und frische bis mäßig trockene Wiesen bevorzugt. Eine Besonderheit unter den Spinnen des Gebiets stellten Funde der gefährdeten Marmorierten Kreuzspinne (Araneus marmoreus) dar. Hinsichtlich der aquatischen Insekten und Mollusken ist die in Berlin stark gefährdete, scheibenförmige Gelippte Tellerschnecke bemerkenswert, die in Tümpeln an der Egelpfuhlwiese und im Weidenbruch nachgewiesen werden konnte. Unter den Schwimmkäfern gab es Vorkommen der in Berlin stark gefährdeten Arten Agabus fuscipennis und Cybister lateralimarginalis und bei den Libellen der stark gefährdeten Kleinen Pechlibelle und der gefährdeten Gefleckten Smaragdlibelle.
== Grünzug Bullengraben/Lindenufer ==
=== Planung, Realisierung und Auszeichnung ===
Das Bezirksamt Spandau plante seit Anfang der 1980er Jahre die Erschließung und Sanierung des vernachlässigten Bullengrabens und die Renaturierung seiner geschützten Biotope. Das Vorhaben scheiterte an den mangelnden finanziellen Möglichkeiten des Bezirks. Allerdings kaufte der Bezirk mit Blick auf eine spätere Realisierung bereits einige frei werdende Grundstücke auf. Nach monatelangen Verhandlungen überzeugte das Grünflächenamt Spandau 1996 die Deutsche Bahn, den Plan als naturschutzrechtliche Ersatzmaßnahme für die Beeinträchtigungen in Natur und Landschaft durch das Bauvorhaben der Schnellfahrstrecke Hannover–Berlin umzusetzen.
Die Arbeiten begannen im Oktober 2004. Im Juni 2007 erfolgte die Eröffnung und die Übergabe an die Öffentlichkeit. Bauherr war die Deutsche-Bahn-Tochter DB ProjektBau. Die Tragwerksplanung und die Leitung für die Bauwerke lag bei der Firma Dr. Herold AG, Fachbereich Konstruktiver Ingenieurbau, und bei der Senatsverwaltung für Brückenbau. Die Arbeiten erfolgten in Kooperation mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, der Obersten Naturschutzbehörde, dem Bezirksamt Spandau und dem Naturschutz- und Grünflächenamt Berlin. Die Gesamtplanung und Projektsteuerung führte die landeseigene Servicegesellschaft für Aufgaben der Freiraumentwicklung, die Grün Berlin GmbH, durch, die wiederum fünf verschiedene Büros oder Firmen für Landschaftsarchitektur/Gartengestaltung mit der Realisierung der einzelnen Bauabschnitte beauftragte. Die Gestaltung, Sanierung und Renaturierung erfolgte in sechs Bauabschnitten mit jeweils prägenden landschaftsgestalterischen Schwerpunkten. Dabei entfielen mit den Abschnitten zwei bis fünf vier Abschnitte auf den Bullengraben selbst, während der Abschnitt eins den Burgwallgraben sowie das Havelufer (Lindenufer) und der Abschnitt sechs den am Grabenkreuz nach Süden abzweigenden Egelpfuhlgraben umfassten. Sämtliche sechs Abschnitte werden heute zusammenfassend als „Grünzug Bullengraben“, gelegentlich als „Grünzug Bullengraben/Lindenufer“ bezeichnet. Die Gesamtinvestition für alle sechs Abschnitte lag bei rund 7,5 Millionen Euro. Dabei wurden insgesamt 21,33 Hektar qualitativ und ökologisch aufgewertet. An einigen Stellen wurde die geometrische Form des Bullengrabens aufgebrochen, damit ökologisch wertvolle Niederungsflächen mit feuchtigkeitsliebenden Pflanzen entstehen können. Die Maßnahmen umfassten im Einzelnen:
Baumpflanzungen: 757 Stück
Fuß- und Radwege: 33.270 m²
Pflanzmaßnahmen auf: 82.215 m²
Pflegemaßnahmen auf: 103.650 m²
Spielflächen auf: 3.700 m²
Brücken, Stege, Plattformen: 14 StückAuf einem Festakt des Berliner Senats erhielt die Deutsche Bahn am 20. Mai 2009 für die Gestaltung des Grünzugs den Gustav-Meyer-Preis 2008 in der Kategorie für bis zu fünf Jahre alte Anlagen. Der Preis wird seit 1995 alle zwei Jahre für hervorragend geplante und außergewöhnliche öffentliche Grün- und Parkanlagen vergeben und trägt den Namen Johann Heinrich Gustav Meyers, des ersten Städtischen Gartenbaudirektors Berlins.
=== Abschnitte ===
Nach der Sanierung erreicht die betonierte Sohle des Bullengrabens eine Breite von 1,30 Metern und eine Höhe von 40 Zentimetern. Im ersten Abschnitt gehen die Maße des Grabens nicht wesentlich über die Sohlenwerte hinaus. Nach dem Stieglakebecken und in den folgenden Abschnitten ist die Sohle in einen Graben eingebettet, der eine Breite von über zehn Metern und eine Tiefe von rund zwei Metern hat. Die Breite des gesamten Grünzugs schwankt zwischen rund 30 und 200 Metern. Die Gesamtweglänge mit allen Nebenabschnitten liegt bei rund acht Kilometern.
==== Abschnitt 1: Symbolische Quelle, Staakener Felder, Stieglakebecken ====
Der Grünzug Bullengraben beginnt östlich der Staakener Dorfkirche am Nennhauser Damm, von dem ein Metallsteg durch einen alten Lindenhain in die Niederung führt. Der Steg läuft in einem Platz mit Bänken und Bäumen aus, an den sich ein Holzplateau über einem rund zehn Meter breiten Absetzbecken anschließt. Der Bullengraben hat an dieser Stelle den Nennhauser Damm bereits in einem Rohr unterquert. Das Rohr mündet in den kleinen Teich, der so nach Darstellung des ausführenden Büros Grigoleit Landschaftsarchitekten „zum Symbol für die ‚Quelle‘ des Bullengrabens“ wird. Nach dem Absetzbecken beginnt der sanierte Teil des Bullengrabens. Der Grünzug verläuft im Anschluss durch ländliches Gebiet und bezieht die Reste der verbliebenen Staakener Felder ein. Eingefasst von der dörflichen Bebauung Altstaakens im Süden und der Louise-Schroeder-Siedlung im Norden öffnet sich der Grünzug in einem weiten Wiesenzug mit Schilf- und Binsenbändern. Bei Bedarf kann der Wiesenraum geflutet werden, sodass hohe Regenwasserabflüsse zurückgehalten und zeitverzögert zur Havel abgeleitet werden können. Auf halber Strecke leitet ein langgestreckter Holzsteg über die Feuchtwiesen zu den überwiegend vieretagigen Mehrfamilienhäusern der Siedlung, die Ende der 1960er Jahre um Südekumzeile und Zweiwinkelweg bis in die Staakener Felder erweitert wurde.
Der von rhythmisch-linear gesetzten Eschen begleitete Hauptweg führt zum Stieglakebecken, das das Ende der Teilstrecke markiert und das von der Nordseite zugänglich ist. Den Teich speist der nach Norden abzweigende, rund 700 Meter lange Stieglakegraben, der in den Gesamtgrünzug Bullengraben einbezogen und mit einem begleitenden Weg ausgestattet wurde. Der gestalterische Schwerpunkt des 6,8 Hektar umfassenden ersten Bauabschnitts liegt in der symbolischen Quelldarstellung und in der Betonung des ländlichen Umfelds.
==== Abschnitt 2: Vom Land zur Stadt ====
Der zweite Abschnitt führt vom Stieglakebecken zum Magistratsweg und thematisiert den Übergang vom Land zur Stadt. Als Gestaltungsmittel setzte das zuständige Büro Weidinger Landschaftsarchitekten „Texturänderungen der Vegetation in West-Ost-Richtung“ ein, indem Weiden-, Schilf- und Rasenpflanzungen im Übergang immer feinkörniger werden und einen gleitenden Stimmungswechsel vermitteln. Getrennt durch den Abzweig zum Stieglakegraben folgt dem Stieglakebecken zu Beginn dieses Abschnitts das geschützte Biotop Wiese am Bullengraben. Während die Bebauung nördlich des Grabens zunehmend dichter wird und näher an den Grünzug heranrückt, öffnen sich nach Süden Grünflächen um den Ramingraben/Amalienhofgraben, die bis zur Heerstraße reichen. Am Spieroweg/Dörbeckweg hebt dann auch am Südufer eine dichte Bebauung den ländlichen Charakter auf. Vor dem Magistratsweg und in Nachbarschaft zum Jugendzentrum Geschwister-Scholl-Heim/Kunstschule Sophie-Scholl liegen ausgedehnte Spiel- und Sportflächen mit zwei kleinen Fußball- oder Hockeyfeldern, einem Basketballplatz, mit Skate- und BMX-Pipes, Tischtennisplatten, einem Spielplatz und einem Rodelhügel im Grünzug.
==== Abschnitt 3, Teil 1: Wiesenbecken und Grabenkreuz ====
Die Gestaltung des Abschnitts vom Magistratsweg bis zum Päwesiner Weg besorgte das Büro Grigoleit Landschaftsarchitekten, das bereits den ersten Abschnitt ausgeführt hatte. Prägend für diesen Teil des Grünzugs sind das Wiesenbecken, das Grabenkreuz und die Bullengraben-Aue. Das biotopgeschützte und nach wie vor unzugängliche Wiesenbecken bezogen die Landschaftsarchitekten behutsam in die Planung ein. Stege und Plateaus, die sich in das Uferdickicht einschneiden, geben Blicke auf den lange verborgenen Teich und seinen Röhrichtbestand frei. Am Baluschekweg bricht die Wohnhausbebauung ab und die Niederung öffnet sich in das Grabenkreuz aus Bullengraben, Egelpfuhlgraben und Neustaakener Graben. Das Kreuz teilt den Raum in vier unterschiedlich geprägte Bereiche. Die Wildnis des Weidenbruchs, kurz gemähter Grasen mit locker verteilten einzelnen Bäumen, Feuchtwiesen mit Schilfbeständen und eine Pflanzung mit Ziergräsern stehen hier im Kontrast zueinander. Ein langgezogener Bohlensteg leitet in die enge Niederung des Egelpfuhlgrabens, der nach Süden abzweigt.
==== Abzweig Abschnitt 6: Egelpfuhlgraben ====
Vom Grabenkreuz führt der rund 150 Meter lange Bohlensteg vorbei an Weiden und hohem Schilf durch den häufig überfluteten Weidenbruch. Der anschließende, marode Pflasterweg wurde auch hier durch einen Asphaltbelag für Fußgänger und Radfahrer ersetzt, der den Egelpfuhlgraben auf der gesamten Länge von rund einem Kilometer nach Süden begleitet. Nach anfangs engem Verlauf weitet sich der Grünzug stellenweise auf 50 Meter. Auf der Westseite folgen die Lauben der ‚Kolonie am Baluschekweg‘, danach führt der Grünzug dicht an die Wohnblöcke des Baluschekwegs heran. Die Ostseite prägt ein offenes Grüngelände. Nach einem Schwenk nach Südosten an der Lutoner Straße erreicht der Grünzug die Egelpfuhlwiesen und die Grabenquelle vor dem Seeburger Weg.
Das ausführende ARGE Planungsbüro Förster & maigrün wertete den Abschnitt neben der Anlage des Weges und von Spiel- und Ruheflächen durch umfangreiche Rodungs- und Pflegemaßnahmen im Böschungsbereich des Egelpfuhlgrabens auf. Die Maßnahmen machten den Grabenverlauf und seinen Baumbestand wieder sichtbar. Sitzmauern aus Betonblöcken betonen den Eingang am Seeburger Weg. Nach der Setzung von 70.000 Blumenzwiebeln verwandeln sich die Rasenflächen im Frühjahr in ein Blütenmeer. Der Flächennutzungsplan trägt den Erfordernissen der „Geschützten Grünanlage“ Rechnung:
==== Abschnitt 3, Teil 2: Bullengraben-Bulle, Senkgarten und Ulrikenbecken ====
Am Bullengraben selbst hebt sich östlich der Egelpfuhlstraße ein rostbrauner Stahlbulle von der grünen Wiese ab, die Plastik Bullengraben-Bulle des Künstlers Sebastian Kulisch. Konrad Birkholz, Bezirksbürgermeister von Spandau, enthüllte die Figur am 7. Juni 2007 als symbolisches Zeichen für die Eröffnung des Grünzugs.Die Bebauung setzt sich hier auf beiden Seiten des Grünzugs fort. Auf der Nordseite wechseln Kleingartenkolonien mit aufgelockerten Gewerbegebieten, die Südseite bestimmen Mehrfamilienhäuser. Der sonst schmale, von hohen Dämmen begleitete Graben weitet sich hier auf. Dabei wurde die südliche Böschung abgeflacht und nach Süden verschoben, sodass ein großer kontrollierter Überflutungsbereich, die Bullengraben-Aue, entstanden ist. Auf einem neuen, zentral gelegten Damm führt der Weg vorbei an Wildobstwiesen und an einem Senkgarten mit alten Zier- und Obstbäumen, der mit roten Betonsesseln als Erholungs- und Ruhefläche angelegt ist. Den Senkgarten überspannt ein Holzsteg, der in den Hauptweg mündet. Auf der anderen Seite des Weges setzt eine Stahlbrücke über dem Bullengraben, die zur Kleingartenkolonie ‚Freie Scholle‘ führt, den Brückenzug fort. Getrennt durch einen schmalen Erdwall folgt dem Senkgarten mit dem Ulrikenbecken eine weitere Senke. Prägend für dieses Becken sind eine mächtige Weide und sein dichter Schilfbestand. Nach dem Ulrikenbecken engt sich der Grünzug durch Kleingärten, die nun auch auf der Südseite folgen, bis zum Päwesiner Weg auf eine Breite von rund 80 Metern ein. Die Baukosten für den 9,1 Hektar umfassenden Bereich lagen bei 1,625 Millionen Euro.
==== Abschnitt 4: Hoch zum Spandauer Siedlungskern ====
Der ein Kilometer lange und bis zu 200 Meter breite Abschnitt zwischen dem Päwesiner Weg und der Klosterstraße, an dem der Grünzug das Spandauer Zentrum erreicht, betont den Höhenunterschied der Grabensenke zur umliegenden Stadtlandschaft. Der Höhenunterschied der Senke zur Umgebung geht nicht auf eine natürliche Vertiefung zurück, sondern auf Aufschüttungen des morastigen Grundes für den Stadtbau. Die Höhendifferenz vergrößert sich mit dem von West nach Ost zunehmenden Alter der Stadt und zeigt sich besonders deutlich an den Schnittstellen zwischen dem Bullengraben und den Querungsstraßen sowie an der großen Niederungswiese mit älterem Baumbestand, dem prägenden Landschaftselement. Ein Steg führt durch die tieferliegende Wiese zur nördlichen Promenade, die das für den Abschnitt zuständige Büro für Landschaftsarchitektur Häfner/Jimenez mit Bänken und abwechslungsreichen Staudenpflanzungen ausstattete. In den Eingangsbereichen dominieren Obstbäume wie Zierkirschen und Birnen. Den zentralen Asphaltweg begleiten Rasenflächen und Baumalleen. Auf der Klosterfelder Nordseite grenzen vier Kleingartenkolonien an den Grünzug, während kleinere Gewerbeflächen die Südseite bestimmen. Am Päwesiner und Elsflether Weg ergänzen kleine Sandflächen mit Spielgeräten das Freizeitangebot. Die Baukosten des Abschnitts betrugen rund 1,5 Millionen Euro.
==== Abschnitt 5: Am Ziegelhof, Burgwallgraben, Havel ====
Nach der Unterbrechung an der Klosterstraße verlässt der Grünzug den Bullengraben und zieht sich vom Ziegelhof in einer Schleife nach Südosten zur Havel. Ein Spazierweg ersetzt hier den Asphaltweg und begleitet in scharfkantigen Windungen den verbliebenen Teil des Burgwallgrabens. Das landschaftsarchitektonische Konzept von Topotek 1, Gesellschaft von Landschaftsarchitekten mbH, unterstreicht den atmosphärischen Charakter eines lang gestreckten, vom Wasser geprägten Raumes. Im unteren Teil des Burgwallgrabens, der für Sportboote befahrbar ist, bauten die Landschaftsarchitekten eine großzügige Wassertreppe in die Böschung. „Zur Havel hin öffnet sich der Weg und wird entsprechend den Maßstäben des Gewässers zu einer städtischen Promenade mit leuchtend gelben Parkbänken.“ Mit Stand 2009 ist der Havelabschnitt auf rund 30 Meter angelegt, die Erweiterung nach Süden bis zur Schulenburgbrücke befindet sich im Bau. Auf der anderen Seite der Burgwallmündung setzt sich die Lindenuferpromenade nach Norden fort. Diese Promenade wurde bereits 2006, gleichfalls als Ersatzmaßnahme der Deutschen Bahn, fertiggestellt. Da noch keine Brücke über den Graben existiert, lässt sich dieser Abschnitt nur durch Umgehung des größten Teils des Burgwallgrabens erreichen.
== Einbindung in das Berliner Wegenetz und Entwicklungskonzept ==
Der den Graben und Grünzug begleitende Bullengrabenweg gehört unter der Nr. 20 zu den 20 grünen Hauptwegen Berlins, die weitgehend mit blau-weißen Aufklebern mit der entsprechenden Nummer ausgezeichnet und markiert sind. Die Wegverbindungen weisen noch einige Lücken auf, für die Ersatz- und Umgehungsstrecken vorgegeben werden.Der Bullengrabengrünzug trifft an der Lindenuferpromenade auf den Havelseenweg (Hauptweg 12). In der weiteren Weg- und Grünraumvernetzung besteht eine Lücke zwischen dem Lindenufer und dem Landschaftsschutzgebiet Tiefwerder Wiesen auf der südöstlichen Havelseite. In einem Planwerk Westraum Berlin schlug die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2004 zur direkten Anbindung vor:
Über den Spreewanderweg (Hauptweg 01) wäre der Bullengrabengrünzug damit über das Schloss Charlottenburg und den Großen Tiergarten mit der westlichen City Berlins und dem Europawanderweg E11 verbunden. Nach Norden vernetzt der Havelseenweg (Hauptweg 12) mit dem Heiligenseer Weg (Hauptweg 03). Nach Süden ergibt sich über den Havelhöhenweg durch den Grunewald eine Verbindung zum Wannseeweg (Hauptweg 11) und nach Südwesten über den Berliner Mauerweg, den der Bullengraben an seiner Staakener symbolischen Quelle (Absetzbecken) quert, oder über den Ramingraben/Amalienhofgraben eine Verbindung zur Grünanlage Hahneberg und dem Spandauer Weg (Hauptweg 02) auf der Nordkante der Nauener Platte. Zudem liegt der Grünzug nur rund 1200 Meter von der westlichen Berliner Grenze entfernt, sodass die Stadt hier eine Anbindung in Richtung Dallgower Niederung plant. Mit der Umsetzung wird der Grünzug Bullengraben die Berliner City in einem nahezu durchgehenden Grünband mit der Döberitzer Heide und der Seeburger Agrarlandschaft vernetzen.
== Literatur ==
Elke Hickisch, Reinhard Hanke: Untersuchungen zur Entwicklung des Ziegelhofs und des Bullengrabens in Spandau. Landschaft und Geschichten. Hrsg.: Bezirksamt Spandau von Berlin, Abt. Bau- und Wohnungswesen – Gartenbauamt. Berlin 1987.
Adriaan von Müller, Klara von Müller-Muci: Ausgrabungen, Funde und Naturwissenschaftliche Untersuchungen auf dem Burgwall in Berlin-Spandau. Hrsg.: Klaus Goldmann, Alfred Kerndl. Wissenschaftsverlag Volker Spieß, Berlin 1998 ISBN 3-89166-068-5
Schutz-, Pflege- und Entwicklungskonzept: Egelpfuhlwiese. Teil: Boden/Vegetation. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III A. Auftragnehmer: Wolfgang Linder, Nonno Schacht. Berlin 1990.
Schutz-, Pflege- und Entwicklungskonzept: Egelpfuhlwiese. Teil: Die faunistischen Aspekte. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III A. Auftragnehmer: Faunistische Arbeitsgruppe Berlin (FAB). Berlin 1990.
Schutz-, Pflege- und Entwicklungskonzept: Weidenbruch am Bullengraben. Teil: Boden/Vegetation. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III A. Auftragnehmer: Wolfgang Linder, Nonno Schacht. Berlin 1990.
Schutz-, Pflege- und Entwicklungskonzept: Weidenbruch am Bullengraben. Teil: Die faunistischen Aspekte. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III A. Auftragnehmer: Faunistische Arbeitsgruppe Berlin (FAB). Berlin 1990.
Schutz-, Pflege- und Entwicklungskonzept: Wiese am Bullengraben. Teil: Boden/Vegetation. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III A. Auftragnehmer: Wolfgang Linder, Nonno Schacht. Berlin 1990.
Schutz-, Pflege- und Entwicklungskonzept: Wiese am Bullengraben. Teil: Die faunistischen Aspekte. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III A. Auftragnehmer: Faunistische Arbeitsgruppe Berlin (FAB). Berlin 1990.
Schutz-, Pflege- und Entwicklungskonzept: Wiesenbecken am Bullengraben. Teil: Boden/Vegetation. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III A. Auftragnehmer: Wolfgang Linder, Nonno Schacht. Berlin 1990.
Schutz-, Pflege- und Entwicklungskonzept: Wiesenbecken am Bullengraben. Teil: Die faunistischen Aspekte. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III A. Auftragnehmer: Faunistische Arbeitsgruppe Berlin (FAB). Berlin 1990.
Schutz-, Pflege- und Entwicklungskonzept: Wiesenbecken am Bullengraben. Teil: Limnologie. Endbericht. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III A. Wissenschaftliche Leitung: Wilhelm Ripl. Berlin 1990.
Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Slawenburg, Landesfestung, Industriezentrum. Untersuchungen zur Geschichte von Stadt und Bezirk Spandau. Colloquium-Verlag, Berlin 1983, ISBN 3-7678-0593-6.
== Weblinks ==
Grünzug Bullengraben Kurzbeschreibung bei Grün Berlin (abgerufen 28. September 2009)
Bullengraben, Bauabschnitte 1–5 (PDF; 317 kB) bdla Bund Deutscher Landschaftsarchitekten, Landesgruppe Berlin-Brandenburg: Gartenwelten – im Westen ’was Neues. Neue Parkanlagen im Berliner Bezirk Spandau. Ausstellung und Gartenrundgänge, 22. und 23. September 2007, S. 2; abgerufen 28. September 2009
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bullengraben
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Baumgarten-Bau
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= Baumgarten-Bau =
Der Baumgarten-Bau in Karlsruhe ist der Amtssitz des Bundesverfassungsgerichts. Der in den Jahren 1965 bis 1969 am Botanischen Garten des Schlossgartens nach Plänen des Architekten Paul Baumgarten errichtete Baukomplex bestand aus ursprünglich fünf pavillonartigen Baukörpern mit Flachdächern, die um einen langen Verbindungsgang angeordnet sind. Der Gebäudekomplex weist eine Brutto-Grundfläche von gut 16.000 Quadratmetern auf. Die einzelnen quaderförmigen Bauteile des Baumgarten-Baus unterscheiden sich in der Höhe, umfassen jedoch wenige Geschosse. Die Form gepaart mit der Glas- und Stahlfassade verleiht dem Bauwerk eine sachlich-nüchterne Ästhetik und wird dem Stil der Moderne zugerechnet.
Seit Mai 1969 dient der Baumgarten-Bau als Amtssitz, nachdem der erste Amtssitz von 1951 bis 1969, das Prinz-Max-Palais, aufgrund des wachsenden Raumbedarfs ausgedient hatte. In den Jahren 2005 bis 2007 erhielt der Komplex im Südwesten einen Erweiterungsbau, so dass das Ensemble von fünf auf sechs Bauwerke anwuchs. Das Bauwerksensemble steht seit der Einbindung des neugebauten Bürohauses unter Denkmalschutz. Während umfassender Sanierungsarbeiten in den Jahren 2011 bis 2014 verlegte das Bundesverfassungsgericht übergangsweise seinen Dienstsitz in den Karlsruher Stadtteil Waldstadt. Im Baumgarten-Bau arbeiteten 2021 rund 260 Personen.
== Geschichte ==
=== Vorgängerbau ===
Den ersten Amtssitz hatte das Bundesverfassungsgericht von 1951 bis 1969 im Prinz-Max-Palais. Die vom Architekten Josef Durm im Stil der Gründerzeit entworfene Stadtvilla aus den 1880er Jahren liegt in der Karlsruher Innenstadt-West nahe des Europaplatzes. Sie befindet sich rund einen halben Kilometer südwestlich vom heutigen Amtssitz des Verfassungsgerichts. Nachdem das Bundeskabinett trotz heftiger Proteste aus Berlin im Dezember 1950 Karlsruhe als Sitz für das Verfassungsgericht festlegte, wurde das im Krieg zerstörte Palais wieder aufgebaut und den Bedürfnissen des Gerichts angepasst. Am 28. September 1951 zog das Bundesverfassungsgericht in einem Festakt im Beisein von Bundespräsident Theodor Heuss und Bundeskanzler Konrad Adenauer in die neuen Räumlichkeiten. Das Palais erwies sich allerdings von den Räumlichkeiten als zu klein; die Richter teilten sich zumeist die Zimmer mit anderen Kollegen und Mitarbeitern. Für größere Sitzungen musste das Gericht immer wieder auf andere Säle in der Stadt ausweichen. Bereits 1959 äußerte der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Gebhard Müller den Wunsch nach einem Neubau. Es gab Überlegungen, den Sitz des Verfassungsgerichts nach München zu verlegen oder ins nahe gelegene Schloss umzuziehen. Beides wollte die Stadt Karlsruhe verhindern und lobte 1960 einen Architektenwettbewerb aus.
=== Standortsuche ===
Als Standort wurde das vom Architekten Heinrich Hübsch gestaltete Hoftheater zwischen Schlossplatz und Botanischem Garten gewählt, das im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war. Im September präsentierte der Architekt Paul Baumgarten drei von ursprünglich fünf Vorentwürfen von insgesamt fünf Baukörpern in Pavillonform. Die nüchtern-sachliche Gestaltung steht dabei im deutlichen Gegensatz zur Bautradition von Gerichtsgebäuden des 19. und 20. Jahrhunderts. Damit sollte der Gebäudekomplex bewusst das städtebauliche Gesamtkonzept des Schlossplatzes nicht beeinträchtigen. Um das zu erreichen wurde außerdem der Baukomplex in die Fläche statt in die Höhe gebaut. Als bauliches Vorbild für die transparente Glas- und Stahlarchitektur diente Baumgarten der deutsche Beitrag zur Brüsseler Weltausstellung 1958 der Architekten Egon Eiermann und Sep Ruf.In der Bevölkerung und Administration wurde zwischenzeitlich erwogen, das zerstörte Hoftheater wieder aufzubauen. Paul Baumgarten setzte sich auch dafür als Architekt mit einem möglichen Neubau auseinander und gewann den Architekturwettbewerb dafür. Mit der Entscheidung für einen Verfassungsgerichts-Neubau waren die Wiederaufbaupläne des Hoftheaters endgültig vom Tisch. Der umstrittene Abbruch der Kriegsruine des Hoftheaters wurde 1964/1965 von Teilen der Bevölkerung mit entsprechender Bitterkeit verfolgt.
=== Bau und Nutzung ===
Im Februar 1965 begannen die Bauarbeiten am Gebäudeensemble im Karlsruher Schlossbezirk. Im Oktober 1966 fand das Richtfest statt und am 6. Mai 1969 erfolgte die Schlüsselübergabe des neuen Amtssitzes. Die Kosten lagen bei fast 20 Mio. Mark, was kaufkraftbereinigt im Jahr 2023 etwa 41,6 Mio. Euro entspricht.
In die Bauzeit des Baumgarten-Baus fiel die Austragung der Bundesgartenschau 1967 in Karlsruhe. Der Landschaftsarchitekt Walter Rossow entwickelte einen „grünen Weg“ für Fußgänger vom Karlsruher Hauptbahnhof über den denkmalgeschützten Stadtgarten bis zum Schlosspark. Die Grün- und Freiflächen rund um den Baumgarten-Bau folgen diesem Konzept und binden sich in den angrenzenden Schlosspark ein.
Am Abend des 4. März 1975 kam es am Bundesverfassungsgericht zu einem Anschlag. An einem Pfeiler des Richtergebäudes war eine Sprengladung angebracht. Die Explosion zerbarst eine große Fensterscheibe. Verletzt wurde niemand. Zum Tatzeitpunkt patrouillierten vier Beamte des Bundesgrenzschutzes – zu wenige um den Anschlag zu verhindern. Wie Untersuchungen zeigten, konnte die Sprengladung aufgrund des fehlenden Gehäuses keine massive Zerstörung hervorrufen. Die Bombe wurde nicht von Profis gebaut. Später ging beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel ein Bekennerschreiben der Roten Zora ein, einer radikal-feministischen Terrororganisation, die mit dem Anschlag gewaltsam gegen das eine Woche alte Urteil des Bundesverfassungsgerichts protestieren wollte, welches die Reform des Paragraphen 218 für nichtig erklärten. Trotz Bekennerschreiben wurden die Täterinnen nie gefasst.Ab 1982 mietete das Bundesverfassungsgericht aufgrund des gestiegenen Platzbedarfs zusätzliche Räumlichkeiten im Nord-West-Flügel des Karlsruher Schlosses an. Mit diesen Räumen ist der Baumgartenkomplex über einen unterirdischen Ganz verbunden. Das vormalige Speise-Casino wurde zwischen 1995 und 1997 soweit umgebaut, dass es zusätzliche Büroräumlichkeiten bot. Im Jahr 2000 erfolgte ein Einbau im Untergeschoss der Bibliothek um weitere sieben Büroräume. 2001 erhielt das Richtergebäude im Unterbau 13 weitere Räume.
=== Ergänzungsbau ===
In einem Wettbewerb wurde 2002 der Architekt Michael Schrölkamp für die Gestaltung des Erweiterungsbaus ausgelobt. In der Zeit von Juni 2005 bis März 2007 wurde der neue Bauteil mit einer Nutzungsfläche von 794 Quadratmetern, einer Brutto-Grundfläche von 1576 Quadratmetern und einem Brutto-Rauminhalt von 5081 Kubikmetern errichtet. Die Baukosten betrugen 3,4 Mio. Euro. Die Eröffnung fand am 10. Mai 2007 im Beisein des damaligen Ministerpräsidenten Günther Oettinger, Staatssekretär Engelbert Lütke Daldrup, dem damaligen Karlsruher Oberbürgermeister Heinz Fenrich, dem Architekten und weiteren Ehrengästen statt. Der Erweiterungsbau wurde im Jahr 2007 bezogen.Seit der Fertigstellung des Ergänzungsbaus steht der gesamte Baumgarten-Bau gemäß § 2 DSchG BW unter Denkmalschutz. (→ Kulturdenkmale im Schlossbezirk Karlsruhe) Der Ausweisungstext der amtlichen Denkmalliste lautet:
=== Interimsquartier 2011 bis 2014 ===
Seit der Deutschen Wiedervereinigung hatte das Verfassungsgericht deutlich mehr Beschwerdefälle, so dass der Baumgarten-Bau in seiner ursprünglichen Form den gestiegenen Anforderungen nicht mehr gerecht wurde. Neben einem geplanten Erweiterungsbau hin zum Botanischen Garten wurde eine Sanierung der bestehenden Bauwerke ab 2011 notwendig. Um die mehrjährigen Arbeiten bewältigen zu können, zogen die 16 Verfassungsrichter und damals etwa 60 Mitarbeiter für drei Jahre in ein Interimsquartier um. Das nordöstlich vom Baumgarten-Bau gelegene Zwischenquartier war die ehemalige General-Kammhuber-Kaserne (Lage) an der Rintheimer Querallee 11 am östlichen Rand des Hardtwaldes. Um den üblichen Bürostandard und den halböffentlichen Bereich repräsentativ zu gestalten, wurden die Stuttgarter Architekten Lederer Ragnarsdóttir Oei beauftragt. Ähnlich wie am Stammsitz des Verfassungsgerichts am Schlossbezirk standen im Interimsquartier – auch „Dienstsitz Waldstadt“ genannt – verschiedene Baukörper zur Verfügung, die durch Gänge und Verbindungstrakte verbunden sind und in der Gestaltung durch die Architekten eine gewisse Erinnerung an den eigentlichen Amtssitz wecken sollten. Nach dem Eingang kontrastierte ein hellgrüner Teppichboden mit einem Glasbild. Der Plenarsaal – der ehemalige Lehrsaal der Kaserne – erhielt einen seitlichen angefügten Treppenturm, der zur Presseempore führte. Damit erhielt der Saal von außen eine skulpturale Anmutung. Im Saal selbst öffnete sich auf den Längsseiten mit zwei gläsernen Vorbauten zu den Höfen. Die so gebildeten Dachüberstände erinnerten an die architektonische Formensprache der 1950er Jahre. Der Interimsbau griff gewisse Formen des Baumgarten-Baus auf und nutzte sie als Vorbild. Nichts sollte protzig, aber andererseits nicht zu spartanisch wirken. Der Rückumzug vom Dienstsitz Waldstadt in den Baumgarten-Bau erfolgte vom 26. bis 28. September 2014.Die zum Gericht umgebauten Kasernengebäude werden seit 2020 durch den Bundesgerichtshof interimsweise genutzt, da ein Bürogebäude an dessen Hauptsitz in der Herrenstraße, das sogenannte Westgebäude, saniert wird. Die Bundespolizeiinspektion Karlsruhe ist in vier weiteren seitigen Kasernengebäuden untergekommen.
=== Sanierung 2011 bis 2014 ===
Der langjährige Betrieb, Komfortmängel und eine Analyse der Bausubstanz zeigten, dass eine bauliche und energetische Sanierung des Baumgarten-Baus notwendig geworden war. Aus diesem Grund wurden die Gebäude von August 2011 bis August 2014 einer dreijährigen Sanierung unterzogen, die insgesamt rund 55 Mio. Euro kostete. Neben der Nachrüstung und Optimierung der Grundsubstanz bestand die Herausforderung darin, das denkmalgeschützte Ensemble zu erhalten.Die markanten Fassaden mit Holzfenster aus Red Oregon Pine und der Einfachverglasung konnten nicht behalten werden. Sie wurden durch doppeltverglaste Fenster ersetzt und hatten keine reflektierende Beschichtung, um die Transparenz zu bewahren. Betonbrüstungen erhielten energetisch günstigere vollgedämmte Sandwichpaneele, die aufwendig gefertigten Aluminiumgusstafeln wurden abgenommen, gereinigt und mit verstärkter Befestigung wieder montiert. Im Inneren war in einigen Bereichen Schadstoffsanierung notwendig. Bereiche, deren funktionale Nutzung weggefallen war, wurden entsprechend umgestaltet. Um den Brandschutz zu gewährleisten, wurden Stahlstützen abgeschliffen und neu beschichtet. Überdies wurde die gesamte technische Gebäudeausstattung auf den aktuellen Stand gebracht sowie Haus- und Kommunikationstechnik neu installiert und eine effiziente LED-Beleuchtung verbaut. Die Arbeiten wurden von dem Rotterdamer Architekturbüro West 8 durchgeführt, das 2012 bei einem internationalen Wettbewerb ausgelobt wurde. Zur Verbesserung des Komforts trugen der Einbau von Kühldecken beziehungsweise sogenannte Coolwave-Elemente in allen Büros bei, ebenso wie der Einbau von Teppichböden und schallschluckenden Elementen zur Verbesserung der Akustik und Einbau von perforierten Sonnenschutzelementen. Zu den Maßnahmen im Innenausbau zählten die Erneuerung der Sanitäranlagen sowie der Austausch von Heizkörpern, Bodenbelägen und Möblierung.
=== Tag der offenen Tür ===
Zum Festprogramm zum 70-jährigen Bestehen des Grundgesetzes öffnete am 25. Mai 2019 das Bundesverfassungsgericht seine Tore und veranstaltete einen Tag der offenen Tür für 5000 interessierte Bürger. In einem kostenlosen, rund 90 Minuten dauernden Rundgang ließen sich der Sitzungssaal und der Richter-Ring anschauen. Auch außerhalb dieses Anlasses bestanden und bestehen Möglichkeiten für begrenzte öffentliche Führungen.
== Beschreibung ==
=== Lage und Umgebung ===
Der Baumgarten-Gebäudekomplex befindet sich im Karlsruher Stadtteil Innenstadt-West – mit der Adresse Schlossbezirk 3 – am südlichen Rand des Schlossgartens, benachbart und eingerahmt vom Schloss Karlsruhe im Norden, dem Schlossplatz im Osten, der Staatlichen Kunsthalle im Süden und dem Botanischen Garten im Westen. Unmittelbar gegenüber der Zufahrt Waldstraße ist das Amtsgericht Karlsruhe gelegen.
Das Bundesverfassungsgericht ist für den motorisierten Verkehr nur von Süden über die Waldstraße beziehungsweise von Osten über den Schlossplatz anzufahren. Die beschrankten Einfahrten in den Schlossbezirk ist jedoch nur Mitarbeitern und geladenen Personen gestattet. Über die Einfahrt Schlossbezirk ist der Vorplatz mit dem sogenannten „Platz der Grundrechte“ erreichbar. Der Platz wurde 2005 mit 24 doppelseitigen Straßenschildern gestaltet, die Richter, Juristen und Bürger zitiert, die sich mit dem Thema Recht und Unrecht befassen. Eine weitere Einfahrt zur Liegenschaft führt links ab in eine Rampe, welche in ein unterirdisches Parkhaus unterhalb des Sitzungssaalgebäudes führt. Die Bundespolizei schützt die Gebäude und Areal und unterhält vor Ort ein eigenes Revier. Die Schutzmaßnahmen werden durch Zugangskontrollen sowie Posten- und Streifenpräsenz der Bundespolizei sichergestellt. Das Betreten der Wege unmittelbar am teilweise umfriedeten Baukomplex ist nur befugten Personen gestattet. Das Betreten der Rasenflächen um die Anlage ist untersagt.
Die Nordwestflanke des Gebäudekomplexes wird durch Baumbewuchs fast vollständig bedeckt. Die Südostflanke ist von dem Vorplatz und der gepflasterten Zufahrt geprägt, die wiederum dicht mit Bäumen bepflanzt ist. Diese Allee bildet die unmittelbare Sichtachse auf den Westflügel des Karlsruher Schlosses und folgt damit dem strengen geometrischen Schema der gesamten Anlage. Die Gebäude des Baumgarten-Baus sind exakt parallel zu dieser Sichtachse ausgerichtet und fügen sich durch ihre zurückhaltende architektonische Gestaltung in das baulich deutlich ältere Umfeld ein.
=== Gebäudekomplex und Außenanlagen ===
Der Baumgarten-Bau mit seinen sechs Gebäuden mit rechteckigem, größtenteils quadratischem Grundriss, weist eine Nutzfläche von 10.086 Quadratmeter auf, eine Brutto-Grundfläche von 16.342 Quadratmeter und einen Brutto-Rauminhalt von 64.274 Kubikmeter. Der Komplex besteht aus folgenden Bauteilen, die offiziell römischen Zahlen zugeordnet sind:
Bauteil I: ehemaliges Casino
Bauteil II: Bibliothek
Bauteil III: Sitzungssaalgebäude
Bauteil IV: Richtergebäude, auch: „Richterring“
Bauteil V: Verwaltungsgebäude
Bauteil IX: Erweiterungsbau mit weiteren Büros
Sämtliche Bauwerke sind in ihre Aufgabengebiete räumlich getrennt und der Höhe nach unterschiedlich gestaffelt. Die Anordnung und Höhendifferenzierung soll die Wertigkeit und Beziehung zur Öffentlichkeit ausdrucken. Der Baukomplex beherbergt neben den Arbeitsplätzen für die Richterinnen und Richter auch die Justizverwaltung, die allgemeine Verwaltung, die Abteilung EDV/Dokumentation, die Protokollabteilung sowie die Bibliothek.Alle Gebäude sind über einen gut 150 Meter langen, verglasten Verbindungsbau miteinander verbunden. Der gerade Verbindungsgang zwischen dem ehemaligen Casino im Süden durchdringt das Richtergebäude und führt bis zum Verwaltungsgebäude im Norden. Etwa mittig zweigt rechtwinklig der Gang zweifach zum südlich gelegenen Sitzungssaalgebäude, einfach zur nördlich gelegenen Bibliothek ab. Der 2007 bezogene Erweiterungsbau ist mit dem Verwaltungsgebäude ebenfalls über einen Verbindungsgang überdacht erreichbar. Die Untergeschosse aller Gebäude bestehen aus einer Stahlbeton-Konstruktion mit außenliegenden Foamglas-Wärmedämmungen. Ab der Eingangshöhe sind die Geschosse als Stahlskelett-Konstruktion mit Stahlbetondecken umgesetzt.Ein Merkmal des Baumgarten-Baus ist die vollflächige Einbettung des Komplexes in die ihn umgebende Rasenfläche. Dadurch sollen Architektur und Natur eine Einheit bilden. Die Verschmelzung dieser zwei Elemente ist am Eingangsbereich des Sitzungssaals und des Richtergebäudes besonders augenfällig. Der teilweise gepflasterte Vorplatz wird von streifigen Rasenstücken unterbrochen. Das rhythmisierte streifenförmige Fugenraster der Natursteinplatten leitet sich optisch von der Tragstruktur des Gebäudes ab. Für die Gestaltung der Außenanlagen war das niederländische Landschaftsarchitekturbüro West 8 verantwortlich. Der fließende Übergang zwischen Grünraum und Bauwerk wird in den Innenhöfen des Ensembles durch skulpturale Gehölzer und farbenfrohe Blütenteppiche umgesetzt.
=== Bauteile ===
Das mit etwa 15 Metern höchste der Bauwerke ist das Sitzungssaal-Gebäude (Bauteil III), das durch seine gläserne Fassade den Einblick bis in den Sitzungssaal ermöglicht. Es ist gleichzeitig der Baukörper, der am meisten der Öffentlichkeit zugewendet ist. Im Erdgeschoss befindet sich neben einem großen Foyer auch der Plenarsaal. Im Zwischengeschoss liegt ein Empfangssaal und ein Presseraum. Im ebenerdigen, im 2. Stock befindlichen Sitzungssaal befindet sich eine kleine Empore, die Platz für 44 Personen bietet. Dem gegenüber liegt der Richtertisch mit einem mehrere hundert Kilogramm schweren hölzernen Bundesadler-Relief, das vom Bildhauer Hans Kindermann gestaltet wurde. Der Sitzungssaal weist seitliche Glaswände auf, die eine freie Sicht zum Schloss und Schlossplatz ermöglichen. An der Seite zum Botanischen Garten sind Beratungszimmer und Nebenräume angeordnet.
Das zum Schloss anschließende Richtergebäude (Bauteil IV) oder „Richterring“ genannte, zweigeschossige Bauwerk ist ein rechteckiger Atriumbau mit einem Innenhof in der Mitte. Jeder der beiden Senate des Bundesverfassungsgerichtes hat ein eigenes Stockwerk, das dessen jeweils acht Richter und seine Mitarbeiter beherbergt. Die ringförmige Raumgruppierung erfolgt nach Richtern, wissenschaftlichen Mitarbeitern und dem Sekretariat. Die Räumlichkeiten der Senate und die Dienstzimmer des Präsidenten und Vizepräsidenten weisen zum Botanischen Garten. Das Bauwerk steht auf Stelzen, so dass es zu schweben scheint. Unterhalb des Stelzenbaus befinden sich Parkplätze. Die Decken des Richtergebäudes werden am inneren Freiraum von vier über zwei Geschosse führende Fachwerkträger aufgenommen, die vor der Fassade liegen. Damit ist das Richtergebäude das einzige der Bauteile, das im Grundriss kein exaktes Rechteck bildet. Die Spannstähle der Diagonalstäbe sind den entsprechenden Stabkräften ihrer Anzahl abgestuft; im Durchschnitt sind es 26 Spannstähle. Die Konstruktion wurde weitgehend durch Erdbebensicherheit beeinflusst.
Das dem Schloss am nächsten gelegene Bauwerk des Gerichtskomplexes ist das Verwaltungsgebäude (Bauteil V), welches über ein oberirdisches Geschoss verfügt. In diesem sind die Räumlichkeiten der Verwaltungsmitarbeiter, dem Leiter, dem Stellvertreter und dem Sekretariat untergebracht. Daneben sitzt in diesem Bauteil die Amtsmeisterei. Neben dem Verwaltungsarchiv, Kanzleiräumen, sanitären Räumen beherbergt Bauteil V einen Raum für Vervielfältigungen. 1992 verband man diesen Verwaltungspavillon über einem unterirdischen, aber nach außen teilweise sichtbaren Gang mit dem Schlossflügel, der als Registratur genutzt wird. Zwischen dem Verwaltungsgebäude und der Zugangsstraße befindet sich auf dem Rasenstück die Plastik „Erkenntnis“ des Schweizer Künstlers André Bucher. Ihre Maße betragen 215 × 215 × 60 Zentimeter und sie besteht aus einem unbearbeiteten Findling und Bronze. Das am 21. Mai 1982 enthüllte Kunstwerk mit geschwungenen Ellipsen trägt in seiner Mitte einen Lava-Gesteinsbrocken vom Vulkan Ätna.
Gegenüber des Sitzungssaalgebäudes liegt zum Botanischen Garten hin gewandt der Bibliotheksbau (Bauteil II). Sein Mittelpunkt bildet der Katalogsaal, in welchem sich neben der Auskunft, Kataloge, Ausleihetheke und der Bücheraufzug zum Magazingeschoss sowie Treppe und Personalaufzug befinden. Um den Katalogsaal sind zwei Lesesäle und Räume für Bibliotheksmitarbeiter untergebracht. Im ersten Untergeschoss, das durch Geländeangleichung teilweise Tageslicht hat, befinden sich Pressearchiv und Signierraum, eine Buchbinderei und Einbandstelle sowie eine Magazinfläche von 780 Quadratmetern und Studierplätze. Das zweite Untergeschoss wird ausschließlich als Büchermagazin genutzt. Der Bibliotheksbestand umfasst derzeit 400.000 Bände und wächst jährlich um rund 5.000 Bände. Darüber hinaus führt die Bibliothek einen umfangreichen Zeitschriftenbestand, Parlamentaria und Amtsdruckschriften des Bundes und der Länder und 450 rechts- und sozialwissenschaftliche Periodika des In- und Auslandes. Die Hauptkonstruktion des stützenfreien Daches des Sitzungssaalgebäudes besteht aus sich in den vier Viertelpunkten kreuzenden Stahlblechträgern, die beweglich an acht Stützen angeschlossen sind. Diese Pfeiler nehmen zwar keine Vertikalkräfte auf, sind jedoch mit dem statischen System der Geschossdecken ausgesteift.
Den südlichen Abschluss der Gebäudegruppe, benachbart zur Kunsthalle, bildet das ehemalige Casino-Gebäude (Bauteil I). In dem Bauwerk war ursprünglich ein Restaurant befindlich, dessen Speisesaal zum Botanischen Garten hin orientiert ist. Die Küchenanlage befand sich im Kern des Gebäudes. Zum Schlossplatz gab es ein Restaurant-Sonderzimmer und Dienstzimmer. Im Untergeschoss ist neben einer Technikzentrale eine Tiefgarage für 78 Personenwagen untergebracht. Seit 1995 befinden sich im ehemaligen Casino-Bau Büroräume, ein Besprechungszimmer und ein Pausenraum.
Der im März 2007 fertiggestellte Erweiterungsbau (Bauteil IX) von Schrölkamp befindet sich in der Nahtstelle zum Botanischen Garten und nimmt die Fluchten der benachbarten Bauwerke auf. Der Neubau ist über eine Brücke mit den übrigen Bauten verbunden. Der Erweiterungsbau fasst in zwei Obergeschossen 40 Büroräume. Im abgesenkten Erdgeschoss sind Speiseraum und -ausgabe untergebracht. Küche, Technik- und Lagerräume befinden sich im Untergeschoss. Der Erweiterungsbau versucht die rationale, quaderförmige Gebäudeform mit der umgebenden Natur in Einklang zu bringen. Dazu wurde unter anderem ein pergolaähnlicher Vorbau an der Nordwest-Fassade zur Orangerie eingesetzt, der mit Pflanzenbewuchs eine Korrespondenz zum umgebenden Garten schaffen möchte. Auf dem Stahlgerüst vor den Büros wachsen zwergwüchsige Kiefern, Schlitzahorn, Weißdorne und Bambus. Die beiden Stirnseiten des Erweiterungsbaus sind mit Paneelen aus brüniertem Messing verkleidet, setzen sich damit farblich zu den restlichen Bauwerken ab ohne zu stark hervorzustechen.
=== Kunst am Bau ===
Der an der Karlsruher Kunstakademie lehrende Maler Franz Ackermann gestaltete großflächige, zum Teil über zwei Stockwerke gehende, farbige Gemälde auf mehreren Innenwandsegmenten in den Fluren und Zimmern des Richtergebäudes. Ackermann war 2013 als Sieger eines international besetzten Wettbewerbs hervorgegangen. Die Wandmalerei, die durch den Einsatz von intensiven Farben lebt, wechselt in der Bildersprache zwischen kartografischer Zeichenstruktur, gegenständlichen Elementen, abstrakten Farbwirbeln und ornamentalen Passagen.Im Treppenhaus des Erweiterungsbaus schuf die Karlsruher Künstlerin Stefanie Lampert 2008 ein farbiges Wand-Relief, das sich abhängig von der Belichtung ändert. Lampert schuf rechteckige Farbfelderflächen in den Farben Gelb, Grau und Grün, die auf den Wänden und Wandvorsprüngen durch das Licht aus der Südostseite sich perspektivisch zu verschieben scheinen.Eine besonders symbolhafte Skulptur ist „Die Gerechtigkeit“ des Schweizer Bildhauers André Bucher, von dem bereits im Außenbereich des Baumgarten-Baus eine Plastik stammt. Die Metallskulptur aus dem Jahr 1997 aus vier gebogenen und miteinander verbundenen Eisenstangen hält in der Mitte eine Kugel im Gleichgewicht. und steht auf einem Marmorblock. Das Kunstwerk, das im ehemaligen Casino steht, wurde 2001 auf einer Briefmarke der Post (Mi.-Nr. 2214) zum 50-jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen.
== Rezeption ==
=== Einordnung des Baustils ===
Der nüchtern-sachliche Baumgarten-Bau der Moderne aus der Tradition des Bauhauses kommend, steht im architektonischen Spannungsfeld zwischen dem barocken Schloss, dem Botanischen Garten und der historistischen Kunsthalle. Die offensichtlichen Unterschiede dieser Bauwerke aus den unterschiedlichsten Bauepochen wurden nicht durch eine Angleichung versucht zu überbrücken, die Bauwerke sollten vielmehr einen reflektierenden Dialog mit den Bestehenden eingehen. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Maßnahmen umgesetzt. Die flachen Gebäude des Bundesverfassungsgerichts sind nicht nur durch ihre niedrige Höhe, sondern auch durch die zurückgenommene Farbigkeit in Silbergrau, dem verbauten Glas und dem braunen Holzton gut in die Parklandschaft integriert. Überdies wurde trotz der erforderlichen Absicherung der Institution das Bauwerk nicht mit Mauern oder anderen Elementen vom übrigen Umfeld getrennt. Vielmehr wurde durch die Gestaltung Auflockerung und Transparenz gesucht. Der Baumgarten-Bau steht nicht nur zu seiner unmittelbar umgebenden Architektur in einem konträren Gegensatz, sondern stellt einen bewussten Gegensatz zur Tradition aller Justizpaläste des Wilhelminismus, der Gründerzeit und der Gigantomanie der Architektur in der Zeit des Nationalsozialismus. Die staatstragende Aufgabe eines Verfassungsgerichts schlug sich seit jeher in der Architektur der Gerichtsgebäude wieder. Weltweit ist zu beobachten, dass Gerichtsbauten Ehrfurcht einflößen sollen und deutlich darstellen, dass von ihnen Macht und Gesetz ausgeht. Der Architekturkritiker Heinrich Wefing bezeichnete den Baumgarten-Bau aus dargestellten Gründen daher als „eines der ersten nicht monumentalen Justizgebäude der Welt“. Der Bau von institutionellen Bauwerken der damals neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland war damals zumindest in Teilen auch ein architektonischer Neubeginn. Und so erklärt er sich, dass das offizielle Bauen der Bonner Republik die Ideologie der Moderne, insbesondere des Bauhaus-Stils wieder aufgriff. In dieser Reihe von Bauwerken versteht sich auch der Stil des Kanzlerbungalows von Sep Ruf, das der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard ausdrücklich deswegen erbauen ließ, weil er die „weltoffene Baugesinnung“ der Republik demonstrieren wollte.Trotz der bewussten Zurückhaltung des Staatsbaus war der Anspruch der Bauherren durchaus auf Repräsentanz angelegt. Aber genau diese machten zeitgenössische Kritiker dem Bau streitig. Dabei mangelte es nicht an exklusiven Elementen. Die sonderangefertigten Aluminium-Gusstafeln heben sich bewusst von der einfachen Materialität der 1950er Jahre ab. Die Fassade enthält neben filigranen Linienführungen sogenannte körperhafte Flächen, die mit ihren Sturz- und Brüstungselementen einen deutlich sichtbaren Kontrast zur Offenheit der Glaszone bilden. Im übrigen sind die einzelnen Bauten des Bundesverfassungsgericht trotz ihrer Ähnlichkeit nicht gleich und entsprechend ihrer Funktion individuell gestaltet. Die Ausarbeitung unterlag keinem genormten und zeitsparenden Raster. Im Gegenteil stellte die Tagespresse während der Bauarbeiten fest, dass das Bautempo hinter den Erwartungen zurück liege. Dies lag nicht zuletzt am Architekten Baumgarten selbst, der manchmal um jede Schraube ringe.Der ehemalige Präsident (2010–2020) des Bundesverfassungsgerichtes Andreas Voßkuhle befand zu den geraden Blickachsen und großen Fensterflächen der Gerichtsgebäude: „Das transparente, zugewandte Gebäude gehört zu unserer Identität als Bürgergericht“.Der Jurist Ulrich Battis sprach sich bei seiner Antrittsvorlesung „Demokratie als Bauherrin“ am 25. Januar 1994 kritisch gegen den Transparenzanspruch des Bauwerks aus. Zwar sieht er in historischen Staatsbauten wie den monumentalen Justizpalästen einen Ausdruck der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit. Allerdings konnte der institutionelle Transparenzanspruch im Baumgarten-Bau nur bedingt umgesetzt werden. Es sei ein frommer Wunsch der „Egalitätsverfechter“ Gerichtsgebäude zu errichten, in denen man sich wohlfühlen könne und in dem alle Prozessbeteiligten an einem „runden Tisch“ säßen.
=== Auszeichnungen ===
Die bauliche Grundsanierung und Modernisierung des denkmalgeschützten Baumgarten-Komplexes war ein komplexes und anspruchsvolles Unterfangen. Viele Bauelemente entpuppten sich als handwerkliche Unikate in industrieller Optik und mussten entsprechend unverändert bewahrt bleiben. Dieses Wesensmerkmal auf der einen Seite zu bewahren, den modernen Anforderungen andererseits gerecht zu werden, erforderte Sorgfalt und Fingerspitzengefühl.Das Sanierungs- und Modernisierungsvorhaben in den Jahren 2009 bis 2014 wurde daher mit verschiedenen Bau- und Architekturpreisen bedacht. Folgende Preise beziehungsweise Nominierungen erhielt die Sanierung des Gerichtsgebäudes unter anderem:
Auszeichnung Beispielhaftes Bauen 2018
Hugo-Häring-Preis 2017
Nominierung Kategorie „Bauen für die Gemeinschaft“ Staatspreis Baukultur Baden-Württemberg 2016
Anerkennung Deutscher Architekturpreis 2015
== Literatur ==
Wolfgang Grether: Die Grundsanierung des Bundesverfassungsgerichts in: Sebastian Horn (Hrsg.): Denkmal und Energie 2017. Energieeffizienz, Nachhaltigkeit und Nutzerkomfort. Springer, 2016, ISBN 978-3-658-16453-9, S. 7–19.
Bundesbau Baden-Württemberg, Staatliches Hochbauamt Baden-Baden für Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (Hrsg.): Grundsanierung Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, 2014. (Digitalisat)
Falk Jaeger (Hrsg.): Transparenz und Würde – Das Bundesverfassungsgericht und seine Architektur, Jovis Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-86859-286-3.
Bauwelt: Bundesverfassungsgericht. Temporäres Hintergrundbild, 32/2011, S. 24–31, (Artikel als PDF)
Clemens Kieser: „Zweckmäßigkeit und Ruhe“ – Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 4/2008, S. 210–215 (PDF; Digitalisat).
Bauwelt: Verfassungsorganfortsatz, 14/2008 (PDF; 1,5 MB) – Artikel zum Erweiterungsbau
Annette Menting: Paul Baumgarten – Schaffen aus dem Charakter der Zeit, Gebr. Mann Verlag, Berlin 1998, ISBN 978-3-7861-1777-3.
Bundesverfassungsgericht Karlsruhe in: Bauwelt, Nr. 48, 1969, 1714–1722. (Digitalisat)
== Weblinks ==
Bundesverfassungsgericht: Gebäude – Bauwerksbeschreibung
Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe: „Eines der allerersten gläsernen Gerichte der Welt“ (Memento vom 22. Dezember 2020 im Internet Archive) – Interview mit dem Architekten Wolfgang Grether
Goethe-Institut: Wiederauferstandene Ikone der Baukunst (Memento vom 28. September 2021 im Internet Archive)
Landesbetrieb Bundesbau Baden-Württemberg: Bundesverfassungsgericht, Karlsruhe – Artikel zur Grundsanierung
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Baumgarten-Bau
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Burg Groitzsch
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= Burg Groitzsch =
Die Wiprechtsburg Groitzsch in der gleichnamigen Stadt ist ein herausragendes Bodendenkmal mit den ältesten bislang bekannten Steinbauten in Sachsen. Sie war im späten 11. und frühen 12. Jahrhundert die Burg des bedeutenden Grafen Wiprecht von Groitzsch und eine der größten Anlagen der Region.
== Lage ==
Die Höhenburg liegt am nordwestlichen Ortsrand der Stadt Groitzsch, gegenüber der Stadt Pegau, am Ostufer der Weißen Elster, ungefähr 30 km südwestlich von Leipzig und jeweils etwa 15 km von Altenburg, Merseburg, Zeitz und Borna entfernt. Wichtige Verkehrsverbindungen, die die genannten Städte verbanden und in weitere mittelalterliche Zentren führten, liefen durch Groitzsch und an der Burg vorbei.
== Historische Bedeutung ==
Der Name leitet sich von slawisch grodišče ab, was so viel wie „befestigter Ort, Burgschanze“ bedeutet. Die Anlage ist als Burg des Grafen Wiprecht von Groitzsch von großer historischer Bedeutung. Dieser war um 1073/74 aus dem Gebiet von Stendal/Tangermünde, durch Tausch an die Burg gekommen. Der Bericht hierüber ist gleichzeitig die erste sichere urkundliche Erwähnung der Burg. Insgesamt ist Groitzsch eine der wenigen Burgen, deren Schicksal in Schriftquellen des 11. und 12. Jahrhunderts verzeichnet wurde. Damit bestand die Möglichkeit, archäologische Datierungen zu überprüfen sowie für Befunde und Funde erstmals einen genaueren Datierungshinweis zu erhalten. Diese gelten nicht nur für Nordwestsachsen, sondern auch weit darüber hinaus.
Bei archäologischen Ausgrabungen im Burgbereich konnten über 6 m hohe Schichtenkomplexe stratigraphisch ergraben werden. Diese lassen die kontinuierliche Entwicklung sowohl der Befestigungsweise, als auch der materiellen Kultur in fünf unmittelbar aufeinanderfolgenden Burgperioden vom 10. bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, verfolgen. Dabei ist Groitzsch eine der wenigen Anlagen in Ostthüringen und Westsachsen mit einer längeren kontinuierlichen Besiedlung und wurde namengebend für die mittel- und spätslawische Keramik des 10. und 11. Jahrhunderts („Groitzscher Gruppe“).
In den Bauphasen I und II, wurde die Befestigung durch ein rostartiges Kernwerk gebildet, das – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – im westslawischen Raum weit verbreitet ist.
In besonderer Weise markiert die im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts entstandene Wiprechtsburg mit der Phase III den Übergang vom Holz-Erde-Bau zum mörtelgebundenen Steinbau. Eine Rundkapelle und ein Rundturm gelten als älteste Steinbauten Sachsens. Diese Gebäude läuteten die Errichtung zahlreicher weiterer sakraler und profaner Steinbauten in (Ober-)Sachsen des 12. Jahrhunderts ein.
== Heutige Nutzung ==
Die Burgruine kann ständig kostenlos besichtigt werden. Sehenswert sind besonders die teilweise rekonstruierte Rundkapelle und der Stumpf eines runden Turmes, die beide aus der Zeit um 1080 stammen. In den Sommermonaten finden häufig Veranstaltungen wie Freiluftkonzerte oder Aufführungen in dem amphitheaterförmig gestalteten Gelände statt. Es wurde ein Weinberg mit über 5.000 Rebstöcken, Blumenbeete und Wanderwege angelegt. Das Lapidarium im Innenraum der Burg umfasst mittlerweile eine Sammlung von etwa 40 Flur- und Grenzsteinen aus der Region.
== Topografische Situation ==
Die Burg liegt auf einem aus pleistozänen Schottern bestehenden Geländesporn, der weit ins breite Tal der Weißen Elster, hineinragt. Sie wird von den Elsternebenflüssen Schwennigke im Südwesten, Westen und Norden und weiter im Osten der Schnauder, umflossen. Aufgrund der fortifikatorisch günstigen Lage wurde hier eine Abschnittsbefestigung in Spornlage errichtet.
Das Burggelände wird heute durch eine Straße, die von Pegau in die Stadt Groitzsch führt, durchschnitten. Diese verläuft weitgehend im mittelalterlichen Burggraben, einem ehemaligen breiten Trockengraben. Westlich von diesem befindet sich die Hauptburg, die rund 10 bis 12 m höher als die Straße liegt. Nur im Osten besitzt die 150 × 100 m große Burg einen etwa 4 m hohen Abschnittswall, die anderen Seiten fallen steil zur Schwennigke ab.
Östlich der Straße schließt sich ein Vorburggelände mit dreifachem Flächeninhalt an. Dies war ursprünglich ebenfalls befestigt, jedoch haben sich nur an der Ostseite noch Reste erhalten. Außerdem war ein Graben vorgelagert, der nur noch z. T. nachweisbar ist. Die Fläche wird heute hauptsächlich von einer Gärtnerei, einem Friedhof und dem Kirchbereich mit den Resten der romanischen Frauenkirche eingenommen. Südlich der Vorburg schließt sich die mittelalterliche Altstadt Groitzsch an.
== Forschungsgeschichte ==
Bereits 1743 ließ der Gerichtsherr von Groitzsch, Baron von Schwedendorf, „Aufgrabungen“ vornehmen. Da in rund 10 m Tiefe Konstruktionsteile – Holzreste, die „als wie ein Rost aussehen“ – gefunden wurden, hatte man wohl im Bereich der Burgbefestigung gegraben. 1849 wurden bei Bauarbeiten für eine Gaststätte auf der Hauptburg, die Mauern einer romanischen Rotunde (Rundkapelle) freigelegt und das Innere der Kirche ausgegraben. Dieses füllte sich schnell durch die Hangerosion sowie mit Unrat, so dass es nach 75 Jahren erneut ausgegraben werden musste. 1863 ließ ein „Comitee zur Hebung des Schatzes“ Wiprechts die Schwennigke auspumpen, fand aber neben einer reichen Fischausbeute nur ein neuzeitliches Hufeisen, eine Schwertklinge und einen Degenkorb.
Die Wiprechtsburg ist als wichtiges und gut erhaltenes Bodendenkmal schon 1936 unter Denkmalschutz gestellt worden. Pläne für Bau eines Altersheims in den 1950er Jahren führten zunächst 1959 zur Untersuchungen der Baugruben, die sich schnell zu langjährigen Forschungsgrabungen erweiterten und bis 1967/68, unter der Leitung von Heinz-Joachim Vogt fortgeführt wurden. Anschließend restaurierte man die Rundkapelle und den bei den Grabungen entdeckten Rest eines romanischen Rundturmes und gestaltete das umliegende Gelände amphitheaterförmig als Erholungsanlage.
== Grabungsergebnisse und Bauphasen der Burg ==
=== Urgeschichtliche Funde ===
Nur an wenigen Stellen in der Hauptburg und in der Vorburg konnten Reste einer urgeschichtlichen Kulturschicht angetroffen werden. Die Funde, v. a. Keramik und Steingeräte, gehören zum großen Teil ins Neolithikum (v. a. Trichterbecherkultur), es sind jedoch auch wenige bronze- und eisenzeitliche Stücke darunter. Insgesamt waren die untersuchten Flächen jedoch zu klein, um zu weiterführenden Aussagen zu gelangen.
=== Periode I: 10. Jahrhundert ===
Der Wallkörper bestand zu unterst aus einer mindestens 8 m breiten und 2,80 m hohen Rostkonstruktion aus halbierten Eichenstämmen und kleinen Rundhölzern. Darauf erhob sich an der inneren Wallfront eine 2,9 m breite Holz-Erde-Mauer, an die sich außen noch eine 5 m breite humose Lehmpackung anschloss. Wie die äußere Wallfront beschaffen war, konnte nicht mehr festgestellt werden. Ebenfalls bleibt durch die Baumaßnahmen der späteren Befestigungen unklar, ob auf der Mauer Oberbauten aufsaßen, und ob ein Graben die Hauptburg im Osten abgrenzte.
Zur Besiedlung der Innenfläche konnten wegen der Eingriffe und Umlagerungen bei der Anlage der Burg II, und den nur geringen Flächen, kaum genauere Aussagen getroffen werden. Sie begann anscheinend unmittelbar hinter der Mauer und war zur Burgmitte hin eher gering. Aufgrund von starken Holzkohleschichten unmittelbar hinter der Mauer vermutete Vogt hier einen Holzbau. 4 m hinter der Rückfront der Mauer wurde eine erste Herdstelle angetroffen, die wahrscheinlich zu einem Grubenhaus gehörte. Ein weiteres Grubenhaus war offensichtlich durch Brand zerstört worden, der auch die gesamte Befestigung betroffen hatte. Bereits in der ersten Burg zeigten sich Bemühungen, den Hang nach außen zu verlagern, um so eine größere Innenfläche zu gewinnen. Dazu hatte man die Innenfläche planiert und die Siedlungsreste den Hang hinuntergekippt, wodurch die gesamte Nordseite um nahezu 20 m verbreitert wurde.
Die stratigraphische Trennung der Keramik von der Periode II gelang nur an sehr wenigen Stellen. Ansätze für eine Datierung bieten Teile eines Stachelsporns, der wohl in die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts gehört. Die Gründung der ersten Befestigung wird auch in dieser Zeit liegen, das Ende der Burg I, durch einen Brand, ist wohl in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts, zu datieren. Die Gründung wird zumeist mit dem historischen Ereignis der Eroberungen Heinrichs I. 928, in dessen Folge die Burg Meißen gegründet wurde, in Verbindung gebracht. Möglicherweise, erfolgte zu dieser Zeit auch die Ablösung des ungefähr 2 km südlich liegenden Burgwalls Altengroitzsch, von dem hauptsächlich Fundmaterial des 9. und frühen 10. Jahrhunderts, vorliegt.
=== Periode II: Ende 10. Jahrhundert (?) bis um 1080 ===
Auf den planierten Resten der Burgmauer der ersten Burg wurde eine Rostkonstruktion ähnlich wie in Burg I, errichtet und die anfallenden Schuttmassen, hangseitig als Basis für die Mauer angeschüttet. Steine, die auf Trockenmauer schließen lassen könnten, fehlen hier.
Im östlichen Teil des Schnittes gelang der Nachweis eines aus starken Stämmen errichteten Turmbaus, der jedoch nicht völlig freigelegt werden konnte. Die Interpretation des Befundes als Turm ist damit schwierig, es könnte sich auch um ein Tor handeln, jedoch spricht nach Ansicht von Vogt die Geländesituation dagegen.
Die Innenbesiedlung war dichter als in Burg I. Sie begann ebenfalls direkt hinter der Mauer und umfasste aber die gesamte Innenfläche, wobei mehrere Herdstellen und Teile von Grubenhäusern untersucht worden sind. Auch hier waren aber wieder die Ausschnitte zu klein, um genauere Angaben zur Grundrissgestaltung machen zu können.
Bei den archäologischen Funden ermöglichte ein reiches Knochenmaterial einen guten Einblick in die Nahrungsgewohnheiten der Burgbewohner. 98,6 % der Knochen stammen von Haustieren, wobei hier das Schwein dominiert. Die Jagd spielte eine untergeordnete Rolle, was v. a. im Vergleich zu zeitgleichen Befestigungen im brandenburgischen Raum festgestellt werden kann. Auch hier war wieder das Wildschwein am beliebtesten.
Des Weiteren wurde eine große Zahl von Knochengeräten wie Pfriemen und Nadeln, beziehungsweise Schlittknochen geborgen. Letztere dienten mit hoher Wahrscheinlichkeit als Schlittenkufen, für den Transport schwerer Lasten und nicht als Schlittschuh. An Eisengeräten und anderen Metallfunden sind Sporen, Griffangelmesser und Feuerstähle gefunden worden. Auch die übrigen Stücke sind typischer Siedlungsabfall: Bruchstücke eines Henkels, wohl von einem Holzeimer, Kesselhaken, Beschläge und Gürtelteile. Mehrere Eisenschlacken lassen Eisenverarbeitung durch einen oder mehrere Schmiede in der Burg vermuten.
Aufgrund der Keramik- und Metallfunde kann die Burg II in das 10. und 11. Jahrhundert datiert werden. Die Befestigung fiel einer umfassenden Zerstörung zum Opfer, die sich in starken Brandschichten dokumentiert. Ob dies mit den Auseinandersetzungen zwischen Wiprecht und den umliegenden Adligen in den 1070er Jahren, oder dem Investiturstreit zu verbinden ist, die mit der Schlacht von Hohenmölsen 1080, hier seinen Höhepunkt erreicht hatten, kann nicht geklärt werden.
=== Periode III: um 1080 bis um 1120 ===
Die nachfolgende Burg III wurde nach völlig neuen Prinzipien errichtet, was sowohl für Befestigungssystem als auch die Innenbebauung gilt. Die Schuttschichten der Burgen I und II bildeten das Fundament für einen gewaltigen aufgeschütteten Wall aus Sanden und Kiesen, der eine Basisbreite von 27 bis 30 m hatte. Die Befestigung überragte das damalige Burghofniveau um 8–10 m. Der Außenhang wurde wiederum, diesmal um durchschnittlich 10 m, nach außen verlagert. Die Innenfront wurde von einer Kastenkonstruktion von 2,80 m Stärke gebildet. Diese bestand aus waagerecht verbauten, hochkant übereinandergestellten und miteinander winklig verplatteten 2–4 cm starken Bohlen, die Kästen von 3,80 Länge und unterschiedlicher Breite (80 cm–3,50 m) ergaben. Sie waren teilweise noch bis in 3,20 m Höhe erhalten und mit Sand, grobem Kies und stellenweise Lehm gefüllt. Die innere Holz-Erde-Mauer konnte auf mehr als 25 m Länge verfolgt werden. Sie umgab den Wall polygonal an der Nord-, Ost- und Südseite. Der Sinn dieser Konstruktion war wohl, den enormen Seitendruck des Walles und eventuell weiterer Oberbauten abzufangen und das Abfließen der Sandmassen auf die Burginnenfläche zu verhindern. Vogt vermutete auf der 15 bis 18 m breiten Krone des Walles weitere Gebäude, das heißt Wehrbauten, die jedoch nicht mehr nachgewiesen werden konnten, da spätere Baumaßnahmen alle Reste beseitigten.
Die Wallinnenfläche war anscheinend durch dammartige Erdaufschüttung in einen Ost- und Westteil unterschieden. Der letztere ist der größere Teil, der aber nicht untersucht werden konnte. Auch die Innenbesiedlung war völlig anders konzipiert als in den vorangegangenen Burgen. In der ersten Phase des Burgausbaus sind Holzhäuser hinter der Kastenkonstruktion und ein Grubenhauses mit Eingangsrampe nachgewiesen. Das nicht vollständig freigelegte Grubenhaus gehört wohl zu einer Werkstatt von Steinmetzen, denn direkt über den Schichten von Burg II konnte im Sand ein Steinsplitterhorizont festgestellt werden. Dieser steht im Zusammenhang mit dem Bau eines romanischen Rundturms mit 9,30 m Innendurchmesser und 2,00 m Mauerstärke. Dieser diente offensichtlich sowohl zu Wohn- als auch zu Verteidigungszwecken und ist wahrscheinlich mit einem der beiden in den Pegauer Annalen genannten Türmen identisch. Wenig später hatte man ungefähr 10 m entfernt die romanische Rundkapelle mit 6,4 m Innendurchmesser und hufeisenförmiger Apsis errichtet.
Dem Bauhorizont folgten vier weitere Niveaus, die teilweise mit Bohlenbelag versehen waren. Sie waren also eindeutig einander ablösende Hofhorizonte und sprechen für eine länger währende Nutzung dieser Anlage. Stärkere Tonschichten auf den Bohlenbelägen machten deren häufige Erneuerung notwendig. In der zweiten Hofphase hatte man im Norden der Burg, nur 50 cm hinter der Kastenkonstruktion, ein Holzhaus in der gleichen Technik wie die Kästen errichtet. In einer Ecke konnte ein zusammengebrochener Kuppelofen festgestellt werden. Unmittelbar nach Fertigstellung des fünften Hofes erfolgte eine Teilzerstörung der Burg und Schuttschichten überdeckten die Hofoberfläche. Gleichzeitig erfolgte auch der Ausbau der Vorburg durch die Errichtung einer Befestigung – wohl mit Palisaden – und mit einer intensiveren Besiedlung. Möglicherweise wurde auch bereits ein Vorgängerbau der romanischen St.-Marien-Kirche errichtet.
Anhand des ausgegrabenen Tierknochenmaterials und mit Hilfe osteologischer Untersuchungen konnte erstmals für Westsachsen Abgabenverhältnisse nachgewiesen werden. Bei den Rinderknochen war eindeutig zu erkennen, dass keine ganzen Tiere, sondern nur die fleischreichen Partien an die Burg geliefert wurden. Wie schon bei den älteren Burgen ist der Anteil von Wildtieren überraschend gering (1,2 %). Dass darunter Knochen von Rothirschen, Wildschweinen, Elchen und Wisenten sowie Braunbären – also Tieren der „hohen Jagd“ – nachweisbar sind, unterstreicht die soziale Stellung der Burgherren. Dies verdeutlicht auch der hohe Anteil von Greiftierknochen, die sicherlich bei der Beizjagd eine Rolle spielten. Als Indiz für eine mehr oder weniger höfische Kultur kann auch die Haltung von Pfauen und dackelartigen Hunden gesehen werden.
Bei dem Fundgut können wieder zahlreiche Schlittknochen genannt werden, wobei es sich in einem Fall wohl tatsächlich um eine Schlittschuhkufe handelt. Weitere verzierte Knochenobjekte liegen mit Nadeln, Teilen von Kämmen, einem Knochengriff, einer Flöte und einem Würfel vor. Eisengeräte wie Messer sind relativ selten. Aus Bronze bestehen unter anderem die Teile von Messerscheidenbeschlagteilen und eine Vielzahl an Nägel und Krampen. Ein besonderes Objekt ist die Schnellwaage aus Blei mit wahrscheinlich zugehörigem Bleigewicht. An Schmuckobjekten sind eine Reihe von Glasfingerringen und Reste einer Bronzebommel bekannt. An Resten von Reiterausstattung, Pferd und Bewaffnung liegen eine schachbrettartig verzierte goldene Trense und mehrere Wellenhufeisen vor. Neben spätslawischer Keramik erscheint erstmals eine neue scheibengedrehte, dünnwandige und auch härtergebrannte Keramik, die wesentlich qualitätvoller als die vorangegangene ist und als „uneinheitlich gebrannte Irdenware“ bezeichnet wird.
Bei der Burg III handelt es sich zweifellos um die Burg des Grafen Wiprecht von Groitzsch. Nicht nur die Erwähnung der Türme und die komplette Umgestaltung der Burg in den Pegauer Annalen für das Jahr 1080, sondern auch die Baugestalt des ergrabenen Turms sprechen für dessen Datierung in das Ende des 11. Jahrhunderts. Das Hauptverbreitungsgebiet der nur wenig später errichteten Rundkapelle ist Böhmen und Mähren, wohin Wiprecht ja enge Beziehungen unterhalten hatte, was in der Heirat der Přemysliden Königstochter Judith von Böhmen seinen stärksten Ausdruck fand. Das Konstruktionsprinzip der Befestigung mit aufgeschüttetem Wall und einer Kastenkonstruktion als innerer Mauer ist bislang in Obersachsen unbekannt. Ihr Hauptverbreitungsgebiet liegt im westelbischen Raum (Hannoversches Wendland) und ist auch bei obodritischen Burgen Mecklenburgs sowie in Dänemark nachweisbar. Wiprecht stammte wiederum aus der Umgebung dieses Raumes.
Eine C-14-Bestimmung erbrachte ein Datum 1120 ± 40 Jahre. Auch die Keramik sowie die übrigen Funde sprechen für diese Datierung und mit ihrer hohen Qualität für die besondere Bedeutung der Burg zu dieser Zeit. Das Ende der Burg dokumentiert ein Zerstörungshorizont, der archäologisch in die ersten Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts datiert wird. Er kann mit den Auseinandersetzungen zwischen Wiprecht und Heinrich V. um 1115 in Zusammenhang gebracht werden, bei denen die Burg mehrfach erobert und zurückerobert wurde.
=== Periode IV: um 1120 bis 1224 ===
Reste der Befestigung dieser Burg haben sich nicht erhalten, da für die nachfolgende Burg V umfangreiche Planierungen durchgeführt worden sind, die die Befestigung wie auch die meisten übrigen Befunde der Burg IV beseitigen. Der Ausgräber Vogt meinte aber aus stratigraphischen Befunden am Außenhang erschließen zu können, dass Burg IV von einer Backsteinmauer umschlossen war.
Im Inneren der Anlage wurde der Burghof um mindestens drei bis vier Meter erhöht, um Anschluss an das Niveau der Wallkrone zu erhalten und um der ständigen Feuchtigkeit im Burghof zu begegnen. Dazu errichtete man große kastenartige Einbauten im Burghof, die man mit Schutt verfüllte. Dabei hatte man das Gelände zwischen Rundkapelle und Turm zunächst noch ausgespart. Die Rundkapelle blieb zunächst weiter in Funktion, sie war nur noch von der Nordwestseite aus, auf altem Niveau, erreichbar. Möglicherweise lag in der Nähe des Rundturmes auch das Burgtor.
Im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts sind erneut Planierungs- und Baumaßnahmen durchgeführt wurden. Mit dem Schutt verfüllte man die restlichen Kästen und erhöhte das Gesamtniveau des Burghofes, wobei die Rundkapelle aufgegeben wurde. Dadurch wurde ein einheitliches Hofniveau erreicht. Den nun eingemottenen Turm nutzte man weiterhin. Bei diesen Baumaßnahmen beseitigte man auch ein Fachwerkgebäude in der Südostecke der Burg auf dem Wall, in dem der älteste bisher östlich der Saale nachgewiesene Topfkachelofen gestanden hatte. Außer Fachwerkgebäuden waren auch Backsteinbauten vorhanden.
Das Fundgut zeigt insgesamt wenig Veränderungen zu Burg III. Das gilt für die Nahrungsreste, vor allem den Anteil der Tierknochen genauso wie für Produktionsinstrumente und Gegenstände von Haus und Hof. Weiterhin liegen Schlittknochen, Messerklingen und -scheidenbeschläge, Wetz- und Schleifsteine, Nägel usw. vor. Besonders zu erwähnen sind nur Bronzeglocke und Bronzegegenstand mit Dorn von unbestimmter Funktion. Außerdem gibt es auch hier nur wenige Schmuckobjekte und Waffen und Reitausstattung. Auch die Keramik ist kaum verändert. Immer noch treten einige spätslawische Stücke auf, aber die uneinheitlich gebrannte Irdenware dominiert.
Die Burg kann über das Fundgut in das 12. und beginnende 13. Jahrhundert datiert werden. Nach dem Aussterben des Hauses Groitzsch 1144 fiel die Burg an den Wettiner Dedo V. („den Feisten“), der das Allodialgut durch Heirat Berthas, der Tochter Wiprechts, erhalten hatte. Seinen Sitz nahm Dedo jedoch höchstwahrscheinlich auf seiner Burg in Rochlitz. Für 1224 sind eine Belagerung der Wehranlage und Brandschatzungen in der Vorburg durch Thüringer Landgraf Ludwig IV. den Heiligen bezeugt, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit das Ende der Burg IV bedeuteten.
=== Periode V: 1224 bis um 1300 ===
Die Burg hatte weitgehend dieselben Ausmaße wie die Vorgängeranlagen, aber offenbar hatte sich die Funktion der Burg völlig verändert. Das Befestigungssystem bestand aus zwei Backsteinmauern, die parallel zueinander am Hang und an der Außenkante des Burgareals verliefen. Im Nordostteil der Burg wurden außerdem zwei gewölbte viereckige Backsteintürme mit Mittelstütze ergraben. Sie hatten ungefähr 10 m innere Seitenlänge und sind wohl ebenfalls Bestandteile der Befestigung gewesen.
Die Burginnenfläche wurde zunächst mit dem Bauschutt der am Ende der Periode IV zerstörten Gebäude weiter erhöht und der Wehrturm, soweit er noch erreichbar war, dann nach und nach zur Steingewinnung abgetragen. Mehrere Backsteinbauten, von denen einige Mauerreste und vermutlich Unterfundamente gefunden wurden, lassen auf differenzierte Bedürfnisse schließen. Genauere Aussagen sind schwierig zu machen, da die Reste nur knapp unter der Oberfläche lagen und v. a. bei dem Bau der Gaststätte und anderen Baumaßnahmen nachhaltig gestört worden waren. Neben größeren Gebäudekomplexen bestanden an der Südseite der Burg wahrscheinlich Pferdeställe, wie die in dem Gebäude gemachten Funde vermuten lassen. Glasierte Dachziegel und Giebelabschlüsse betonten den repräsentativen Charakter der Anlage. Auch diese Burg wurde gewaltsam vernichtet, wie Schutt- und Ascheschichten und v. a. darin eingebettete menschliche Überreste klar belegen.
Aus Burg V stammt das umfangreichste Fundmaterial aller fünf Befestigungen. Fast unvermittelt tritt eine gänzlich neue Art von Keramik, sogenannte graue/blaugraue Irdenware auf, die das Bild völlig dominiert. In weiter zunehmender Zahl wird glasierte Keramik verwendet, wobei das Bruchstück eines Spielzeugpferdchens mit Reiter besonders zu erwähnen ist. Außerdem liegen die Bruchstücke zweier Aquamanile (Handwasch-/Gießgefäße) vor. Die übrigen reichhaltige Fundmaterialien geben einen Querschnitt durch das Inventar einer mittelalterlichen Burg: verschiedene Produktionsgerät wie Bohrer, Meißel, Äxte, Knochengriffe für Geräte, außerdem Messer, Beschläge, Steck- und Bartschlüssel usw. Mehrere Stücke, vornehmlich aus Eisen, wie Striegel, Trensenteile, Hufeisen, Sporen und Steigbügel belegen die Anwesenheit von Ross und Reiter. Des Weiteren liegen auch Teile der Bewaffnung wie Messer, Schwerter (Parierstange) sowie Pfeil- und Armbrustspitzen vor.
Der Beginn der Burg V um 1224 wird durch das Vorkommen von grauer/blaugrauer Irdenware gesichert. Aufgrund einer Brakteatendose, die zwischen 1280 und 1288 hergestellt wurde, und dem Fehlen jüngerer Keramiktypen kann das Ende der Burg in die Zeit um 1300 datiert werden. Wahrscheinlich erfolgte die restlose Zerstörung der Burg in den Erbfolgekriegen 1294 oder 1296 durch Truppen Adolfs von Nassau beziehungsweise spätestens bei dem Durchzug der Truppen seines Nachfolgers König Albrecht I. 1306/07.
Auf dem Westrand des Burgberges bestand eine kleine Turmhügelbefestigung weiter, auf die die mit dem Burggrafenamt verbundenen Rechte und Pflichten übergingen. Das Amt Groitzsch hatte jedoch seine Bedeutung weitgehend verloren.
== Ausstellung ==
Ein Bereich in der archäologischen Dauerausstellung im Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz widmet sich der Burg Groitzsch.
== Literatur ==
Susanne Baudisch: Burgen und Herrensitze in Nordwestsachsen. Ausgang 11. Jahrhundert bis Mitte 14. Jahrhundert. Haus Katzbach, Regis-Breitingen 1996. ISBN 3-930044-04-8
Hansjürgen Brachmann: Zum Burgenbau salischer Zeit zwischen Harz und Elbe. In: Horst Wolfgang Böhme (Hrsg.): Burgen der Salierzeit. Teil 1. In den nördlichen Landschaften des Reiches. Publikation zur Ausstellung „Die Salier und ihr Reich“. RGZM-Monografien. Bd. 25. Thorbecke, Sigmaringen 1992, S. 97–148 (hierzu bes. 135–137). ISBN 3-7995-4134-9
Lothar Herklotz: Groitzsch, Wiprechtsburg. In: Leipzig und sein Umland. Archäologie zwischen Elster und Mulde. Führer zu archäologischen Denkmälern in Deutschland. Bd. 32. Theiss, Stuttgart 1996, S. 142–146. ISBN 3-8062-1272-4
Yves Hoffmann: Ein „Turmstreit“ oder ein Methodenstreit? Über das Datieren von Bauwerken. in: Burgen und Schlössern in Sachsen-Anhalt. Halle Saale 9.2000, S. 67–83 (hierzu 78f.). ISSN 0944-4157
Herbert Küas, Manfred Kobuch: Rundkapellen des Wiprecht von Groitzsch. Bauwerk und Geschichte. Veröffentlichungen des Landesmuseums für Vorgeschichte. Bd. 15. Deutscher Vlg der Wissenschaften, Berlin 1977. ISSN 0070-7201
Herbert Küas: Steinbauten der Wiprechtsburg bei Groitzsch, Kreis Borna, seit dem Ende des 11. Jahrhunderts. in: Arbeits- und Forschungsberichte zur sächsischen Bodendenkmalpflege. Landesamt, Dresden 23.1979, S. 107–146. ISSN 0402-7817
Heinz-Joachim Vogt: Die Wiprechtsburg Groitzsch. Eine mittelalterliche Befestigung in Westsachsen. Veröffentlichungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Dresden. Bd. 18. Berlin 1987. ISBN 3-326-00067-7
Heinz-Joachim Vogt: Die archäologische Untersuchung auf der Wiprechtsburg bei Groitzsch, Kr. Borna. In: Archäologische Feldforschungen in Sachsen. Arbeits- und Forschungsberichte zur sächsischen Bodendenkmalpflege. Beiheft 18. Berlin 1988, S. 387–396. ISBN 3-326-00337-4.
Thomas Nabert (Hrsg.): Im Elsterland zwischen Zwenkau, Groitzsch und Pegau. Hrsg. von Pro Leipzig in Zusammenarbeit mit den Städten Zwenkau, Groitzsch und Pegau. Leipzig 2002. ISBN 3-936508-92-5.
Gerhard Billig, Heinz Müller: Burgen – Zeugen sächsischer Geschichte. Neustadt a.d. Aisch, 1998.
Heinz-Joachim Vogt: Archäologische Untersuchungen in der Burg Wiprecht von Groitzsch. In: Burgenforschung aus Sachsen. 1992.
== Weblinks ==
Die Wiprechtsburg auf den Seiten des Tourismusvereins Leipziger Neuseenland e.V.
Historische Rekonstruktionszeichnung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Burg_Groitzsch
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Burg Klingenstein (Steiermark)
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= Burg Klingenstein (Steiermark) =
Die Ruine der Burg Klingenstein, auch als Burg Salla und in der Literatur teilweise unter dem Doppelnamen „Burg Klingenstein/Salla“ bekannt, liegt westlich des Dorfes Salla in der Marktgemeinde Maria Lankowitz in der Weststeiermark. Die erstmals im Jahre 1834 Klingenstein genannte Burg wurde zum Schutz der Handelsstraße von Voitsberg über das Gaberl in das obere Murtal errichtet. Ihre Geschichte lässt sich aufgrund fehlender Schriftquellen nur lückenhaft rekonstruieren. Durch bauliche Details, wie das Mauerwerk und die Gestaltung der Schießscharten, scheint eine Errichtung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als wahrscheinlich, was im Vergleich zu anderen österreichischen Burgen recht spät ist. Als Bauherren kommen die Grafen von Montfort in Frage, welche zu jener Zeit die Herrschaft über das nahe gelegenen Dorf Salla innehatten. Spätestens ab dem 16. Jahrhundert war die Burg im Besitz der Adelsfamilie Saurau und ihnen nachfolgend auch der Glojacher. Die Burg wurde noch im 16. Jahrhundert wahrscheinlich durch einen Brand zerstört und nicht wieder aufgebaut. Ab 1982/1983 wurde die Ruine vom Altbürgermeister der ehemaligen Gemeinde Salla wiederaufgebaut, wobei diese Aufbauten teilweise Neubauten waren und unter Forschern durchaus umstritten sind. Bisher fanden auch drei archäologische Grabungen statt, welche aber nicht das gesamte Burgareal umfassten.
Die Burg wurde wahrscheinlich in einer Bauphase aus örtlich vorkommendem Marmor errichtet und besteht aus der Kernburg sowie dem Vorwerk westlich davon. Die ursprüngliche Gestaltung der Burg und die Funktionen der einzelnen Gebäude lassen sich aufgrund bisher fehlender wissenschaftlicher Untersuchungen nur vermuten.
== Standort ==
Die Burg befindet sich im nordwestlichen Teil der Marktgemeinde Maria Lankowitz, im westlichen Teil der Katastralgemeinde Salla. Sie liegt rund 900 Meter westsüdwestlich des Dorfes Salla auf einem schmalen bewaldeten, nach Norden, Osten und Süden steil und vor allem in südliche Richtung auch felsig abfallenden Bergrücken. Dieser ist der letzte Ausläufer eines vom Ofnerkogel, einem Gipfel im Höhenzug der Stubalpe, in südöstliche Richtung abzweigenden und nach Osten abknickenden Rückens, der sich rund 150 Meter über das Tal des Sallabaches erhebt. Das Burgplateau befindet sich auf einer Seehöhe von etwa 1040 m ü. A. Im Süden wird es vom Sallabach und im Norden sowie Osten vom Lederwinkelbach begrenzt.Der Burgzugang erfolgte früher vermutlich von Westen über eine Verbindung ins Hinterland, welche durch einen in den Fels gehauenen Graben geschützt war. Die heutige Zufahrt ist ein Waldweg, der in der als „Schlosskehre“ oder „Schlossreihe“ bezeichneten Kurve in östliche Richtung von der Gaberl Straße (B 77) abzweigt. Es ist aber unklar, ob die alte Handelsstraße über das Gaberl im Mittelalter und in der frühen Neuzeit einen ähnlichen Verlauf wie die moderne Straße hatte. Vermutlich gab es aber einen weiteren, direkteren Zugang, der vom Dorf Salla über den nördlichen Hang des Burgberges führte. Der Historiker Robert Baravalle verortete einen Weg am Osthang, ohne näher auf dessen genaueren Verlauf einzugehen. Die Lage des westlich der Kernburg gelegenen Vorwerkes lässt aber darauf schließen, dass der Zugang auf dem letzten Stück auf jeden Fall aus westlicher Richtung erfolgte.Der 1659 genannte Bauernhof Hofbauer sowie der Bauernhof Gregorbauer, dessen Ursprung vermutlich im Mittelalter liegt, könnten auf ehemalige Wirtschaftsgebäude der Burg zurückgehen.
== Geschichte ==
=== Unklare frühe Geschichte und Bauzeit ===
Vor allem über die Entstehung und frühe Geschichte der Burg gibt es kaum Quellen, so dass hierzu viele Historiker verschiedenste Annahmen äußerten. Das Gebiet, in dem die spätere Burg erbaut wurde, kam durch eine Schenkung Kaiser Ottos III. an die Eppensteiner. Eine Besiedlung der Gegend dürfte dann im 11. oder 12. Jahrhundert erfolgt sein. Das Dorf Salla entstand vermutlich spätestens im 12. Jahrhundert und wurde 1213 erstmals urkundlich erwähnt. Robert Baravalle ging davon aus, dass die Eppensteiner das Gebiet an ihre Dienstmannen, die Herren von Wildon, übergaben und es von diesen schließlich an die Herren von Walsee kam. Der Historiker Herwig Ebner vertrat hingegen die Ansicht, dass die spätere Burgstelle ein Teil einer 1103 dokumentierten Stiftung der Eppensteiner an das Stift St. Lambrecht war. Aufgrund fehlender historischer Quellen ist nicht nachweisbar, ob eine der beiden Annahmen der Wahrheit entspricht.Sowohl Baravalle als auch Ebner sahen in den westlich der Kernburg gelegenen Mauerteilen die Reste einer frühen Burganlage aus dem 13. Jahrhundert. Eine solche Anlage lässt sich aber in keiner historischen Quelle finden und konnte auch nicht durch archäologische Grabungen belegt werden. Der Historiker Anton Mell verortete den Bau der Burg in das Spätmittelalter und sah die Stadecker oder die Grafen von Montfort als die wahrscheinlichsten Bauherren an. Auch einen Bau durch die Saurau, welche die Burg in der frühen Neuzeit besaßen, hielt er für möglich, aber eher unwahrscheinlich. Eine genaue zeitliche Einordnung des Burgbaues stellt sich wegen fehlender Quellen als schwierig heraus. Einen entscheidenden Hinweis auf die Bauzeit stellen die erhaltenen Schießscharten dar, welche bis auf zwei Ausnahmen eindeutig für Feuerwaffen ausgelegt waren. Zudem gibt es keine Spuren, die auf eine im Nachhinein erfolgte Veränderung an der Form der Scharten hinweisen. Da Feuerwaffen in Mitteleuropa erst in den 1420er- und 1430er-Jahren aufkamen, lässt sich daraus schließen, dass die Burg frühestens zu dieser Zeit errichtet worden ist, wenn nicht später, was für österreichische Verhältnisse ein relativ später Burgbau wäre. Sollten die Schießscharten tatsächlich aus der Bauzeit stammen, dann kommen die Grafen von Montfort als die wahrscheinlichsten Bauherren in Frage, da sie die Gegend um Salla zu Beginn des 15. Jahrhunderts von den Stadeckern erbten. Ein Montforter Grundbuch aus der Zeit um 1420 führt zwar Besitzungen bei Salla auf und erwähnt auch, dass die Grafen die niedere Gerichtsbarkeit in dieser Gegend innehatten, nennt aber keine Befestigung oder Burg.
=== Ab dem 15. Jahrhundert, Verfall und darauffolgende Besitzer ===
Der Wehrbau sollte die sogenannte Reisstraße, den Übergang über das Gaberl, sowie möglicherweise auch in der Nähe entdeckte Erzlagerstätten sichern, war aber vermutlich nur von geringem militärischen Wert. Wer den Grafen von Montfort im Besitz der Burg nachfolgte, ist nicht ganz klar. So ging Baravalle im Jahr 1961 von einer Übergabe an die Gradner aus, während in jüngerer Literatur vor allem die Herren von Herberstein als Nachfolger angesehen werden. Spätestens im 16. Jahrhundert aber kam die Befestigung in den Besitz der Lobminger Linie der Adelsfamilie Saurau. Der Historiker Anton Mell ging davon aus, dass Klingenstein sich bereits im Besitz des 1532 verstorbenen Erasmus von Saurau befand. Mit Sicherheit lässt sich allerdings nur bestätigen, dass Gilg von Saurau, der Sohn von Erasmus, ab 1550 Besitzer war. Die Burg blieb längere Zeit im Besitz der Familie Saurau, so wird sie etwa in Dokumenten des 1618 verstorbenen Ehrenreich von Saurau als Schloss Salla genannt. Emerich von Saurau vererbte sie schließlich an seine mit Ehrenreich von Rindscheit verheiratete Schwester Christine. Als Christines Tochter Maria Magdalena Ruprecht von Glojach heiratete, brachte sie die Festung als Morgengabe mit in die Ehe.Da beide bekennende Protestanten waren, mussten sie die Steiermark verlassen und verkauften ihren Besitz im Salle zusammen mit der als öden gschloß im Khanachtal in der pfar Salath bezeichneten Burg 1629 an ihre Tante Benigna, der Frau von Veit Sigmund von Herberstein. Eine weitere kurze Erwähnung der zu diesem Zeitpunkt vermutlich bereits nicht mehr bewohnten und dem Verfall überlassenen Burg erfolgte im Jahr 1638. Bei den bisher erfolgten archäologischen Grabungen wurden auch keine Funde gemacht, die sich eindeutig auf eine Zeit nach dem 16. Jahrhundert datieren lassen. Die bei diesen Grabungen gemachten Funde, wie etwa dickere Schichten an Holzkohle und die Anzeichen von größerer Hitzeeinwirkung auf Bausteine, lassen auch die Vermutung zu, dass die Burg im Laufe des 16. Jahrhunderts oder auch später durch einen Brand zerstört wurde.Von den Herberstein kam Klingenstein im Jahr 1650 mitsamt den umliegenden Wäldern an Leonore Eusebia Gräfin Wagensperg, die es mit ihrer Herrschaft Greißenegg verband. In der nachfolgenden Zeit gibt es kaum schriftliche Quellen, welche die Burg erwähnen, und auch die Besitzverhältnisse bleiben unbekannt. Auf den Karten der Josephinischen Landesaufnahme aus dem Jahr 1787 wird die Burg als altes Gschloss bezeichnet. Zu den ältesten bekannten Abbildungen der Burg zählt die Darstellung im Hintergrund eines am Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Bildes der heiligen Barbara in der Pfarrkirche Salla. Aus dem Jahr 1894 existiert weiters eine Bleistiftzeichnung, welche die Ruine detailliert zeigt. Im Jahr 1834 findet der Name Klingenstein als Bezeichnung für die Burg erstmals urkundliche Erwähnung. Sein genauer Ursprung ist unklar, der Namensteil Klinge- taucht aber bereits 1586 als Bezeichnung für einen Sägemeister an der Klingensag als Ortsname in der Gegend um Salla auf.
=== 19. Jahrhundert bis heute ===
Erst im 19. Jahrhundert erscheint die Grazer Steinmetzfamilie Grein als neue Besitzer der nunmehrigen Ruine. Die erste ausführliche Beschreibung der Burgruine stammt aus dem Jahr 1925 vom Historiker Anton Mell. Seit dem 20. Jahrhundert befindet sie sich im Privatbesitz der aus Graz stammenden Familie Petrasch. Ab 1982/1983 wurde die Ruine 25 Jahre lang von Hubert Stiefmann, der von 1980 bis 1995 Bürgermeister der Gemeinde Salla war, gesichert und zu großen Teilen wiederaufgebaut, wobei diese Sicherungs- und Sanierungsarbeiten in jüngerer Zeit auch die Form von Neubauten annahmen und deshalb bei Burgenforschern umstritten sind.Insgesamt fanden bisher drei kleinere archäologische Grabungen auf dem Burggelände statt. Der Archäologe Bernhard Hebert sowie der Historiker Ernst Reinhold Lasnik hatten die Leitung bei allen diesen Grabungen, die teilweise von ungeschulten freiwilligen Helfern wie etwa Schülern durchgeführt wurden, inne. Die erste Grabung fand 1993 im Rahmen eines Schulprojektes statt und es wurde in fünf Tagen das westliche Gebäude des Vorwerkes freigelegt sowie dessen Mauern gesichert und saniert. Im Jahr 1994 führte das Bundesdenkmalamt eine fünftägige Grabung in der Kernburg durch, wobei diese nur teilweise ergraben wurde. Diese Grabung in der Kernburg wurde 2000 für zwei Tage fortgesetzt, wobei auch Funde gemacht wurden, die auf einen möglichen Brand der Burg hinweisen. Weil man bei den Grabungen auf eine aufwendige Schichtengrabung verzichtete, ist eine genaue Fundtrennung trotz geführter Grabungstagebücher nicht mehr möglich.Im Sommer 2013 wurde von der Gemeinde Salla ein Stromkabel auf den Burgberg verlegt, um die Ruine in der Nacht illuminieren zu können. Es gibt Pläne, die Burg als Veranstaltungsort, etwa für Chorkonzerte zu nutzen.
== Beschreibung ==
=== Vorwerk ===
Auf dem westlich der eigentlichen Kernburg gelegenen Höhenrücken befinden sich nördlich des neuzeitlichen Zufahrtsweges auf einer Länge von etwa 100 Metern die Mauerreste eines Vorwerkes mit mindestens drei, ursprünglich vermutlich durch Mauern miteinander verbundenen Gebäuden oder Türmen. Diese wurden von einigen Historikern wie etwa Robert Baravalle und Herwig Ebner als Reste eines älteren Burgbaues angesehen, archäologische Grabungen zeigten aber, dass der älteste Teil dieser Mauern aus der Entstehungszeit der Kernburg und damit aus dem 15. Jahrhundert stammt. Die Gebäude sind nur mehr in ihren Grundmauern erhalten und wurden nur teilweise durch archäologische Grabungen freigelegt und untersucht. Ihre genauere Form und auch die Funktionen, die sie erfüllten, lassen sich mit der bisherigen Fundlage nicht erschließen. Alle Teile des Vorwerkes haben ein unregelmäßiges und teilweise lagerhaftes Bruchsteinmauerwerk aus lokal vorkommendem Marmor, wobei die Größe dieser Bruchsteine teilweise stark variiert. Kleinere Unterschiede in der Zusammensetzung dieses Mauerwerkes könnten darauf hinweisen, dass das Vorwerk in mehreren Phasen errichtet wurde.
==== Westlicher Abschnitt mit möglichem Geschützturm oder Rondell ====
Den westlichen Abschluss und damit auch den am weitesten von der Kernburg entfernten Teil dieses Vorwerkes bildete ein nach Südwesten ausgerichtetes und etwa auf das 15. Jahrhundert datiertes Gebäude mit fächerförmigen Grundriss, welches in der Literatur mitunter auch als Wehrturm oder Bastion interpretiert wird und von dem nur mehr die Grundmauern erhalten sind. Dieses Bauwerk wurde 1993 im Rahmen einer Grabung freigelegt, wobei auch das Mauerwerk teilweise wiederhergestellt und gesichert wurde. Die Mauer dieses Gebäudes erhebt sich rund 1,7 Meter über das rezente Bodenniveau und ist an der mit circa 4 Meter breitesten Gebäudestelle im Südwesten gerundet und etwas nach innen gewölbt. Diese Mauer ist die einzige bekannte rundlich verlaufende Mauer in der gesamten Burganlage. Von dieser Bogenmauer gehen die zwei anderen Gebäudemauern ab, die bei einem im Nordosten gelegenen Felsblock zusammenlaufen und dort bei einer Breite von etwa 1 Meter die schmälste Stelle des Gebäudes bilden. Die lichte Länge des Innenraumes beträgt rund 6,5 Meter. Die Dicke der Gebäudemauer schwankt zwischen 1 Meter und etwas über 1,5 Meter. Die gesamte Ostmauer sowie Teile der Nordmauer waren verstürzt und wurden im 20. Jahrhundert wiederaufgebaut. Der Innenraum des Gebäudes wird im Westen, bei der gebogenen Mauer, durch eine aus dieser Mauer ragende Zunge in zwei unregelmäßig geformte Bereiche oder Kammern unterteilt. Beide dieser Kammern sind kleiner als 2 Meter. Die südliche Kammer hat einen 0,53 Meter breiten Eingang, während dieser bei der etwa 20 Zentimeter tiefer gelegenen nördlichen Kammer eine Breite von 1,5 Metern aufweist. Bei beiden Eingängen wurden während Grabungsarbeiten Steinplatten gefunden, die als Schwellen interpretiert wurden. Im südlichen Gebäudeteil gibt es eine weitere kleinere und auch etwas höher gelegene Nische, deren Mauerwerk aber soweit durch Baumwurzeln zerstört wurde, dass es schwierig ist, deren ursprüngliche Form zu rekonstruieren. Da das Gebäude nur mehr in den Grundmauern erhalten ist, lässt sich seine ursprüngliche Nutzung und auch Funktion der Kammern nicht genau bestimmen. Wahrscheinlich dienten diese aber als Lagerräume und das Gebäude selbst hatte vermutlich eine Aussichts- und Wehrfunktion inne. Eine Nutzung als kleiner Geschützturm oder als Rondell erscheint aufgrund der gerundeten Gebäudeform möglich, muss aber allein schon wegen des Erhaltungszustandes des Gebäudes als reine Spekulation ohne sichere Belege gesehen werden.Etwa 40 bis 60 Meter nördlich dieses Gebäudes befindet sich am Hang unterhalb des neuzeitlichen Zufahrtsweges zur Burg eine sich nach Nordosten hin öffnende Mauerecke ohne erkennbare bauliche Verbindung zum restlichen Vorwerk. Das Mauerwerk dieser Ecke besteht aus unregelmäßiger geformten Bruchsteinen als das des Vorwerkes und könnte damit auf eine andere Bauzeit hinweisen.
==== Mittlerer Abschnitt ====
Vom westlichsten Gebäude ausgehend ostwärts befindet sich ein etwa 85 Zentimeter breiter Mauerrest, der dem Höhenrücken folgt. Entlang dieses Rückens befinden sich weitere Schutthaufen, die vermutlich von ehemaligen Mauerzügen stammen, welche die einzelnen Gebäude des Vorwerkes miteinander verbanden. Der genaue Verlauf dieser Mauern lässt sich nicht mehr erkennen, was unter anderem auch daran liegt, dass die erhaltenen Schutthaufen teilweise überwachsen und nicht als solche erkennbar sind. Die Schutthaufen führen zum mittleren der drei Gebäude des Vorwerkes, welches nur mehr aus einer im Nordwesten rund 4,5 Meter und im Nordosten etwa 1,75 Meter langen Ecke einer circa 0,8 Meter dicken Mauer besteht. Die Funktion und Form dieses Gebäudes sind aufgrund fehlender Grabungsarbeiten unbekannt. Die Mauerecke bildete aber den nördlichen Teil dieses Gebäudes oder Turmes. Das Gelände fällt südlich der Mauer etwas ab, ist relativ eben und lässt den Grundriss des ehemaligen Gebäudes vermuten. Sollte das ehemalige Gebäude diese gesamte Fläche eingenommen haben, dann wäre es im Nordwesten rund 6 Meter lang und im Südosten etwa 3 Meter breit gewesen.Östlich dieser Mauerecke findet man keine eindeutig erkennbaren Mauerreste mehr, was allerdings auch am hier steileren Gelände liegen könnte. Südöstlich der Mauerecke befindet sich ein etwas tiefer gelegenes und ohne erkennbare Verbindung zum restlichen Vorwerk stehendes Mauerstück, was die als Deutung als möglicher Gebäude- oder Mauerrest erschwert. Nördlich dieses Mauerstückes, auf der anderen Seite des Bergrückens, steht auf einem kleinen Vorsprung im Gelände eine weitere, sich nach Norden hin öffnende Mauerecke. Ein Stück dieser Mauer verläuft noch in nördliche Richtung und reicht dabei über den Vorsprung hinaus. Auch die Funktion dieser Mauer ist nicht bekannt. Das Grabungstagebuch aus dem Jahr 1993 sieht in dieser Mauerecke einen Sockel oder den fraglichen Rest einer Brücke.
==== Östlicher Abschnitt ====
Im östlichen und damit der Kernburg am nächsten gelegenen Abschnitt des Vorwerkes befinden sich die nicht vollständig erhaltenen Grundmauern eines weiteren Gebäudes. Dieses hatte einen fast quadratischen Grundriss mit unregelmäßigen Ecken. Die Nordmauer ist an der Außenseite 7,65 Meter lang und ist bis auf einen Lücke erhalten. Die ebenfalls lückenhafte Ostmauer ist rund 7,5 Meter, die Westmauer etwa 7,6 Meter und die Südmauer circa 7,25 Meter lang. Die Südmauer befindet sich direkt an steil abfallendem Gelände und weist deshalb vermutlich mit rund 1,4 Metern die größte Dicke der erhaltenen Mauerteile auf, da sie als mögliche Stützmauer diente. An den anderen Gebäudeseiten hat die Mauer eine Dicke von etwa 1 Meter. Der gerade Abschluss auf einer der beiden Seiten der Lücke in der östlichen Mauer könnte auf den hier gelegen einstigen Zugang hinweisen. Dies erscheint auch durch die etwa 50 Meter weiter östlich gelegene Kernburg und dem damit möglichen, schnellen Zugang zum Gebäude als wahrscheinlich. Das Grabungstagebuch aus dem Jahr 1993 vermutet in der Lücke der Nordmauer einen weiteren Eingang.Eine nach Osten verlaufende Mauer schließt an den östlichen Gebäudeteil an und biegt nach etwa 2,25 Meter in nordöstliche Richtung ab. In diese Richtung verläuft die Mauer noch rund 2,4 Meter, ehe sie endet. Das Fehlen von weiteren Mauerresten und Schuttkegeln lässt auf eine Wehrmauer und nicht auf die Reste eines angebauten Gebäudes schließen.
=== Kernburg und nähere Umgebung ===
Vom westlich gelegenen Vorwerk gelangt man über einen bei der Anlage des neuzeitlichen Zufahrtsweges großteils zugeschütteten Halsgraben zur am Ende des Bergrückens gelegenen Kernburg und damit zur eigentlichen Burganlage. An der Nord- und Südseite des Zufahrtsweges kann man den Graben noch erkennen. Ursprünglich führte vermutlich eine einfache Brücke über den Graben. Nördlich der Kernburg befinden sich Reste von teilweise bis zu 2 Meter hohen Mauern, die entlang einer Felskante verlaufen und einen annähernd trapezförmigen Grundriss bilden, wobei der Mauerteil im Westen vollständig fehlt. Es ist unklar, ob es sich dabei um die Reste eines Gebäudes oder einer Ringmauer handelt, auch eine bauliche Verbindung zur Kernburg ist nicht erkennbar.Die Kernburg wurde, soweit erkennbar, in einer einzelnen zwischen dem Spätmittelalter und der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts datierbaren Bauphase errichtet und besteht aus dem Bergfried sowie einem daran im Osten im Verbund angebauten Gebäudekomplex. Der Großteil der oberirdisch erhaltenen Mauern der Kernburg wurden im Rahmen von Renovierungs- und Sicherungsarbeiten seit 1982/1983 neu aufgebaut, sind also jüngeren Ursprungs. Das aus dem späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert stammende Mauerwerk der Kernburg besteht aus unregelmäßigen, ungleich großen und teilweise lagerhaften Marmorbruchsteinen und im unteren Bereich der Außenmauern auch aus größeren Steinblöcken. Teilweise findet man aber auch einigermaßen rechteckig geformte Hausteine im Mauerwerk.
==== Bergfried ====
Der mächtige, aus unregelmäßig angeordneten Marmorbruchsteinen errichtete Bergfried hat einen unregelmäßig dreieckigen Grundriss und zeigt mit einer scharfen Kante in Richtung Westen. Von dort führt der Weg zur Burg, und der Bau bot damit einem möglichen Angreifer keine ebene Angriffsfläche. Die Außenseiten des Bergfriedes haben im Südwesten eine Länge von 9,84 Metern, im Osten von 11,85 Metern und im Nordwesten von 12,68 Metern. Die Mauern aus unregelmäßigen Bruchsteinmauerwerk sind ungleichmäßig dick, wobei die westlichen Mauerteile stärker sind. So sind etwa die Südwestmauer zwischen 2,2 und 2,3 Meter und die Nordwestmauer zwischen 1,7 und 2,1 Metern dick, während die Ostmauer im verstärkten unteren Bereich nur eine Breite von etwa 1,5 Metern aufweist und sich nach oben hin verjüngt. Der Ostmauer wurde zu ihrer Verstärkung auf der Innenseite zudem eine etwa 1,8 Meter hohe Mauer vorgeblendet. Über dieser Blendmauer ist die Ostmauer nur mehr etwa 87 Zentimeter dick. Auch die Nordwestmauer ist bis in eine Höhe von etwa einen halben Meter über dem rezenten Bodenniveau um rund 10 bis 20 Zentimeter dicker als im schmäleren darüber liegenden Bereich. In der westlichen Ecke des Bergfriedes, wo die Nordwest- und Nordostmauer zusammentreffen, erreicht das Mauerwerk eine Stärke von etwa 4,2 Metern.Die ursprüngliche Höhe des Bergfriedes vor seinem, ab den 1980er-Jahren erfolgten Wiederaufbau ist nicht bekannt. Die drei im Original erhaltenen Fensteröffnungen in der Nordmauer sowie eine erhaltene Aussparung im Mauerwerk, die auf ein mögliches viertes Fenster hinweisen könnte, lassen auf mindestens drei, vermutlich aber auch vier Obergeschoße schließen. Der ursprüngliche Zugang zum Bergfried erfolgte vermutlich im zweiten Stockwerk des östlich an ihm angebauten Bauwerkes. Dieser Hocheinstieg wurde nur im oberen Teil beim Wiederaufbau ergänzt. Der vorhandene, ebenerdige Zugang stammt nicht aus der Bauzeit, existierte aber bereits vor den im 20. Jahrhundert erfolgten Wiederaufbauten.Der Innenraum des Bergfriedes hat nur im unteren Bereich einen dreieckigen Grundriss. Durch ein, in der westlichen Ecke in einer Höhe von 1,8 bis 2 Meter über den Boden eingezogenes Mauerstück entsteht dort eine unregelmäßig fünfeckige Form. Die Mauern haben auf der Innenseite in einer Höhe von etwa 2 Metern eine Länge von rund 5,1 Meter im Osten, 0,9 Meter im Nordosten, rund 3,8 Metern im Nordwesten, etwa 1,2 Meter im Westen und circa 3,9 Meter im Südwesten. Durch zwei senkrechte Lichtschlitze im unteren Teil der Nordwest- und der Südwestmauer gelangt Licht in das Innere des Bergfriedes. Der Lichtschlitz in der Südwestmauer wurde bei den seit den 1980er-Jahren erfolgten Renovierungsarbeiten ergänzt, da sich die Mauer in diesem Bereich in einem schlechten Erhaltungszustand befand. Die Lichtschlitze sind auf der Innenseite etwa 50 Zentimeter breit und verjüngen sich zur Außenseite hin auf eine Breite von 10 bis 20 Zentimeter. Im unteren Teil der Ostmauer haben sich Putzreste erhalten. Im original vorhandenen Mauerwerk findet man mehrere rund 10 bis 20 Zentimeter große, quadratische Löcher, die vermutlich die Balken der Zwischendecken trugen. In der nördlichen und westlichen Ecke des Bergfriedes befinden sich mehrere rund 50 hohe, 60 Zentimeter breite und zwischen 60 und 85 Zentimeter tiefe, in der Westecke zudem mit Steinplatten ausgelegte Nischen. Im zweiten Obergeschoß findet man an der Nordwestmauer zwei nach Nordwesten, also zur Außenmauer hin, führende Treppenstufen. Da diese Mauer nicht dick genug für eine vollständige Treppe ist, die ins nächste Obergeschoß führen könnte, dürften sie ursprünglich zu einer Nische mit einer Leiter, einem Erker oder einer erhöht gelegenen Fensteröffnung geführt haben.Die bei einer Grabung aufgefundenen, vermutlich im späten 15. Jahrhundert von einer Werkstatt im ungarischen Buda gefertigten und reliefierten Kacheln und Ofenlehm lassen darauf schließen, dass zumindest ein kleiner Kachelofen im Bergfried stand.
==== Baukomplex östlich des Bergfriedes und Flankierungsturm ====
Östlich an den Bergfried ist ein nur mehr in Grundzügen erhaltener Baukomplex mit unregelmäßigem, grob langrechteckigem Grundriss sowie einem im Südosten angebauten Turm angestellt. Das genaue Aussehen und die Funktion dieses Komplexes lassen sich anhand der vorhandenen Funde und Mauern nur erahnen, und man kann, ausgehend von den original erhalten gebliebenen Fensteröffnungen in der Mauer, auf die angebauten Gebäude schließen. Die seit den 1980er-Jahren erfolgten Wiederaufbauarbeiten erschweren zudem die Deutung dieses Gebäudes. Anton Mell sah in dem Komplex einen Bering, der ein Wohngebäude oder den Palas umgab. Strittig ist auch die Frage, ob der ganze Bereich mit einem einzigen Gebäude verbaut war, oder ob es einen Burghof gab.Der ummauerte Bereich dieses Komplexes hat eine lichte Länge von rund 18 Metern und ist direkt östlich des Bergfriedes etwa 8,2 Meter breit. Bis zum Turm verbreitert er sich auf etwa 10 Meter und verschmälert sich schließlich zum östlichen Abschluss hin auf circa 6 Meter. Die Stärke der großteils seit den 1980er-Jahren wieder aufgebauten Mauern schwankt zwischen 1,3 und 1,4 Metern. Die im Original erhaltene südöstliche Mauerecke ist wiederum nur rund 0,9 Meter dick. An der nördlichen Mauer, direkt östlich des Bergfriedes, befinden sich drei mehr oder weniger direkt übereinander liegende, vollständig erhaltene sowie ein viertes im Ansatz erhaltenes Fenster. Ein weiter östlich gelegenes Fenster in dieser Mauer dürfte auch noch aus der Bauzeit stammen, zumindest scheint die östliche Laibung original zu sein. Alle weiteren Fensteröffnungen an der Nordmauer stammen von den neuzeitlichen Wiederaufbauarbeiten. An den original erhaltenen Mauerteilen kann man mehrere quadratische Löcher etwas unterhalb der Fensteröffnungen finden, welche vermutlich die Balken für die Zwischendecken der Gebäude trugen. Mit Ausnahme der äußeren Mauer lassen sich oberirdisch keine weiteren Mauern oder Zwischenmauer erkennen. Eine weitere Ausnahme ist ein Mauerstumpf an der Nordmauer, bei dem es sich vermutlich um den Ansatz einer Zwischenwand handelt. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Gebäude an der Nordmauer um den Palas, also das Wohngebäude der Burg, durch welches auch der Bergfried betreten werden konnte. Die Fenster lassen auf mindestens vier Obergeschosse schließen. Möglicherweise füllte der Palas den gesamten Bereich zwischen der Nord- und der Südmauer des Baukomplexes aus. An der Nordmauer befinden sich in einem Abstand von jeweils etwa 2,5 Meter fünf Schießscharten.Die meisten Schießscharten der Burg sind sogenannte Spatenscharten und waren vermutlich bereits für die Nutzung von Feuerwaffen ausgelegt. Sie bestehen an der Außenseite aus einem 0,5 bis 0,6 Meter langen und rund 0,1 Meter breiten senkrechten Schlitz, der in einem verbreiterten, grob rechteckigen, 0,2 bis 0,3 Meter breiten und nach außen hin etwas abgesenkten Fuß endet. Auf der Innenseite bestehen die Scharten aus einem breiten, sich zum Schlitz hin verjüngenden Rechteck, das eine flache Steinplatte als oberen Abschluss hat. Bei einigen dieser Scharten findet man noch Löcher, in denen ursprünglich vermutlich ein Prellholz befestigt war. Nur zwei Schießscharten im östlichen Teil der Nordmauer sind keine Spatenscharten, sondern einfache Schlitzscharten.Der moderne und wahrscheinlich auch ursprüngliche Zugang zur Burg erfolgt über ein 2,7 Meter breites Rundbogenportal in der südlichen Mauer, direkt östlich des Bergfriedes. An den Seitenwänden dieses Portals befinden sich jeweils zwei übereinander liegende, zwischen 0,6 und 0,9 Meter tiefe Löcher mit einer Seitenlänge von rund 20 Zentimetern. Sie könnten ursprünglich Platz für die Schiebebalken oder die Halterungen eines Burgtores geboten haben. An der westlichen Innenseite dieses Portals befindet sich eine weitere, grob quadratisch geformte Öffnung mit einer Seitenlänge von etwa 25 Zentimetern, welche rund 2,1 Meter tief ist und dabei in das Mauerwerk des Bergfriedes hineinreicht. Östlich des Portals befinden sich drei Schießscharten, welche zumindest in jüngerer Zeit tiefer liegen als der Zugang zur Burg. Möglich ist, dass der Baukomplex ursprünglich ein unterschiedliches Bodenniveau hatte oder aber dass eine Treppe oder Rampe zum Portal hochführte. Das Gelände an der Außenseite des Portals fiel ursprünglich steil und felsig ab und wurde im 20. Jahrhundert eingeebnet, um den Zugang zu erleichtern. Einige Burgenforscher vermuten deshalb, dass während der ursprünglichen Nutzungszeit eine Holzbrücke zum Portal führte. Das Fehlen der ursprünglichen Ostmauer, welche erst im 20. Jahrhundert wiederaufgebaut wurde, lässt auch einen Zugang an dieser Seite vermuten. Anton Mell erwähnte in seiner Beschreibung der Burg aus dem Jahr 1925 noch einen nicht erhalten gebliebenen, 35 Zentimeter breiten, verputzten Kanal. Dieser führte von der östlich des Portals gelegenen Schießscharte hinauf zur Mauer, mit einer Abzweigung aber auch zum Portal selbst, und Mell vermutete in ihm er eine Art Sprachrohr für die Burgbesatzung. Die drei Fenster in der Mauer über dem Eingangsportal sind vermutlich nicht original, auch wenn die Mauer hier ansonsten recht gut im ursprünglichen Bauzustand erhalten geblieben ist.Etwas östlich des Portals, im Südosten des Baukomplexes, springt ein annähernd quadratischer Flankierungsturm aus der südlichen Mauer hervor. Die nordwestliche Ecke sowie die hochstehenden Mauern des Turmes wurden ab den 1980er-Jahren wiederaufgebaut und überdacht. Ursprünglich befand sich zumindest an der Südseite ein Fenster im Obergeschoß des Turmes. An den Außenseiten ist er jeweils zwischen 5 und 6 Meter lang. Auch seine Mauern sind unterschiedlich dick, so sind sie an der Süd- und Westseite zwischen 1,3 und 1,4 Meter und an der Ostseite 1,2 Meter stark, während die dem Burginneren zugewandte Nordseite nur rund 0,9 Meter dick ist. Im Erdgeschoß befinden sich vier Schießscharten, von denen zwei nach Osten und je eine nach Süden und Westen zeigt. Die nördlichere der beiden östlichen Schießscharten liegt dabei höher als die restlichen Scharten des Turmes.Von der einstigen, der heiligen Katharina geweihten Burgkapelle ist nichts erhalten.
== Sagen und Erzählungen ==
Um die Burg Klingenstein ranken sich mehrere Sagen und Erzählungen. So soll laut der örtlichen Bevölkerung Klingenstein durch einen geheimen unterirdischen Gang mit der Burg Hauenstein bei Gallmannsegg verbunden sein, wie Josef von Scheiger im Jahr 1868 bemerkte. Das scheint aber schon aufgrund der mehr als 12 Kilometer Entfernung der beiden Anlagen unmöglich zu sein. Von einem weiteren Geheimgang voll großer Schätze, der von der Burg ins Tal hinab zum Hof Gregorbauer oder Gregerbauer führen soll, weiß J. Leitner in seiner 1995 veröffentlichten Pfarrchronik von Salla zu berichten. Laut einer von Ernst Reinhold Lasnik aufgezeichneten Sage soll durch diesen Geheimgang auch eine Weiße Frau von der Burg die Gregerbäurin besucht haben, um sie über kürzlich im Ort Salla Verstorbene zu informieren. Ebenfalls von Leitner wurde auch die Sage niedergeschrieben, dass jenes Kind zu einem Schatz oder zu großem Reichtum gelangen soll, das als erstes in einer aus dem Holz der am Burgberg wachsenden Bäume gefertigten Wiege liegt. Der Historiker Josef A. Janisch berichtete von Erzählungen der Ortsbewohner, einst hätten Raubritter auf dieser Burg gelebt.Georg Göth bemerkte 1834 in seiner statistischen Landesaufnahme für Erzherzog Johann, dass ein Ritter, der im Besitz der Burg war, beim sogenannten Ofnerkreuz in Salla von seinem Pferd gestürzt und gestorben sein soll, als er sah, dass seine Burg in Flammen stand. Diese Erzählung könnte insoweit einen wahren Kern haben, da bei archäologischen Grabungen Hinweise auf einen möglichen Brand der Burg gefunden wurden.
== Literatur ==
Levente Horváth: Die Burg Salla/Klingenstein. Eine späte Höhenburg der Weststeiermark. Graz 2013, urn:nbn:at:at-ubg:1-53719 (uni-graz.at [PDF; 27,5 MB]).
Werner Murgg: Burgruinen der Steiermark. Hrsg.: Bundesdenkmalamt (= Fundberichte aus Österreich. Materialhefte. Reihe B. Band 2). Ferdinand Berger & Söhne, 2009, ISSN 1993-1263, S. 156–157.
== Weblinks ==
Burg Klingenstein (Steiermark). In: burgen-austria.com. Private Website von Martin Hammerl; abgerufen am 1. Januar 1900
Burg Klingenstein auf burgenseite.com
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Burg_Klingenstein_(Steiermark)
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Busmannkapelle
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= Busmannkapelle =
Die Busmannkapelle war eine Seitenkapelle der Sophienkirche in Dresden, die um 1400 angebaut wurde. Zu dieser Zeit war die spätere Sophienkirche noch Teil des Dresdner Franziskanerklosters. Die angesehene Patrizierfamilie Busmann stiftete den Anbau als Familien- und Begräbniskapelle. Der bildhauerische Schmuck der Kapelle war der früheste, der in Dresden nachgewiesen ist. Die Büsten der Stifter auf Konsolsteinen sind die ersten überlieferten bildlichen Darstellungen Dresdner Bürger.
Die Busmannkapelle wurde wie die Kirche bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 zerstört. Ab 1994 existierten Pläne, die Kapelle in moderner Form am ursprünglichen Standort zu rekonstruieren und sie als Erinnerungsort an die zerstörte Sophienkirche zu nutzen. Die Bauarbeiten für die Gedenkstätte Busmannkapelle begannen 2009 und waren 2020 beendet. Im Oktober 2020 wurde die Gedenkstätte unter dem Namen DenkRaum Sophienkirche feierlich eröffnet.
== Die Stifterfamilie Busmann ==
Die Kapelle der Familie Busmann an der Südostseite der Kirche, die sogenannte Busmannkapelle, wurde von Lorenz Busmann und seiner Frau gestiftet. Die Familie Busmann war im 14. und 15. Jahrhundert eine der bedeutendsten und außerordentlich wohlhabenden Patrizierfamilien Dresdens. Lorenz Busmanns Name erscheint erstmals 1362 in einer Urkunde; hier wird er als „Ehrbar Mann“ bezeichnet. Busmann war 1387 in den Rat der Stadt eingetreten und insgesamt viermal (1392, 1400, 1403, 1406) Bürgermeister von Dresden. In der etwa einen Quadratkilometer großen Stadt lebten zu der Zeit knapp 4000 Menschen. Mit der sich entwickelnden Warenproduktion und dem Handel bildeten sich stärkere Klassenunterschiede heraus: von Tagelöhnern über ärmere Handwerker bis hin zu wohlhabenden Bürgern/Patriziern und Adeligen. In den Spätmittelalterlichen Stadtbüchern von Altendresden (Band I beginnt 1404 und Band VIII endet um 1550) findet man wenig Eintragungen zu geschichtlichen Fakten. Schließlich sind es Rechnungs- und Amtsbücher. Hier wird Lorencz Bousmann als Bürgermeister erwähnt.Im Mittelalter entstanden vielerorts geistliche Bruderschaften des Bürgertums, der Handwerker und Zünfte, die oft von einer Ordensgemeinschaft initiiert waren, an der Spiritualität des Ordens ausgerichtet waren und von den Ordensleuten – wie hier den Franziskanern an der Klosterkirche seelsorglich betreut wurden. Bruderschaften verstanden sich als Gebetsgemeinschaft, nahmen an gemeinsamen Messfeiern, Prozessionen und Gottesdiensten teil und leisteten untereinander und gegenüber Hilfsbedürftigen Beistand. Die Mitglieder legten aber keine Ordensgelübde ab. Nach ihrem Tod war auch in Dresden eine Bestattung auf dem Friedhof des Franziskanerklosters erstrebenswert; viele ließen sich in der grauen Kutte eines Franziskaners beisetzen, wie Ausgrabungen bewiesen. Die Nähe zur Gebetsgemeinschaft der Franziskanerbrüder versprach nach damaligen Glaubensvorstellungen „eine schnellere Rettung aus dem Fegefeuer“. Wohlhabende Vertreter der Oberschicht zeigten dabei mehr Prunk: das Begräbnis in einer Kapelle. Voraussetzung dafür war aber eine großzügige Stiftung zu Lebzeiten an das Kloster, wie es bei dem Ehepaar Busman auch geschah, die mit ihrer Familie einer Bruderschaft beim Franbziskanerkloster angehörten.Das Todesdatum von Lorenz Busmann ist unsicher, es liegt zwischen 1406 und Anfang 1407. Die Familie lebte in der Webergasse und hinterließ fünf Söhne.
Ein weiterer Lorenz Busmann der 3. Generation verstarb 1440 und wurde in der Busmannkapelle beigesetzt, ebenso wie die Gattin Elisabeth eines Johannes Busmanns 1478. Weitere bekannte Familienmitglieder sind Heinrich Busmann, der dem Herzog Albrecht 1476 in das gelobte Land folgte und auf der Reise verstarb sowie Martin Busmann, der das Franziskanerkloster noch 1486 unterstützte.
== Geschichte ==
Bereits 1351 war eine neue Klosterkirche für das 1272 erstmals erwähnte Franziskanerkloster in Dresden erbaut worden. Am Südchor der zweischiffigen Saalkirche schuf ein unbekannter Baumeister vermutlich zwischen 1398 und 1406 die Busmannkapelle. Sie diente der Familie Busmann als Kapelle und Begräbnisstätte. Bis 1552 hatte die Kapelle einen Altar mit einer Darstellung des Heiligen Grabes.
Nach der Reformation wurde das Kloster profaniert und unter anderem als Zeughaus und Lagerstätte für Nahrungsmittel genutzt. Nachdem die Sophienkirche wieder als Gotteshaus geweiht worden war, richtete man die Kapelle um 1600 als Eingangshalle ein. Um 1720 erhielt die Sophienkirche eine neue Silbermann-Orgel, die ihren Platz auf der Empore über dem Südchor fand. In dieser Zeit wurde auf halber Höhe der Fenster der Busmannkapelle eine Decke eingezogen und der so entstandene Oberraum als Bälgekammer für die Orgel genutzt.
Wahrscheinlich bereits um 1720, sicher aber ab 1737 diente die Kapelle dem Oberhofprediger als Sakristei – die Sophienkirche erhielt 1737 den Status einer evangelischen Hofkirche. In der Kapelle fanden ab dem 17. September 1737 Privatkommunionen statt. Dafür bekam sie einen Zugang durch die Südwand der Sophienkirche. Aus der 1737 aufgelösten Schlosskapelle erhielt die Busmannkapelle den Altar von Wolf Caspar von Klengel sowie einen Taufstein von Hans Walther II.
Es ist umstritten, ob die Kapelle tatsächlich, wie in einem Grundriss vor 1864 sichtbar, von 1737 bis 1864 mit einer Wand unterteilt war: „In den barocken Grundrissen ist diese Trennwand vorgesehen und nach den Plänen von Cornelius Gurlitt auch eingezogen worden“. In der zeitgenössischen Literatur wird die Trennwand hingegen nicht erwähnt.
Bereits 1824 wurde die Kapelle neu ausgemalt und mit Stuck im Stil der Neogotik versehen. Im Jahr 1864 erfolgte der große Umbau der Sophienkirche unter Christian Friedrich Arnold. Die Kapelle erhielt Maßwerkfenster und die Orgel der Sophienkirche bekam ihren neuen Platz an der nördlichen Westempore, sodass die 1737 eingezogene Decke der Kapelle entfernt werden konnte. Die Busmannkapelle war nun wieder einräumig. An der Westwand errichtete man auf den Pfosten der Bälgekammer eine Empore, die „von einer im Seitengang zu den Emporen führenden Treppe aus“ begehbar war. Gleichzeitig wurde der Eingang zur Kapelle verlegt. War zuvor ein direkter Zugang von außen möglich, konnte die Kapelle nun nur noch über den in der Südwand befindlichen und verbreiterten Zugang von 1737 und einen Eingang von den neu geschaffenen Gängen des Seitenschiffs von 1864 betreten werden. Der Holzfußboden der Kapelle wurde durch Steinplatten ersetzt und die Kapelle neu gestrichen. Im Jahr 1875 besserte Arnold die Rippengewölbe aus und ergänzte Maßwerk und Gewände der Fenster. Von 1875 bis 1910 war in der Kapelle das Nosseni-Epitaph aufgestellt.
Bei der Renovierung der Sophienkirche im Jahr 1910 wurde unter der Busmannkapelle eine neue zweiräumige Krypta angelegt, die die alte Krypta der Kirche unter dem Altarbereich ersetzte. Dabei fand man in 4,5 Metern Tiefe Grüfte, in denen sich neben Knochenresten auch Frauentrachten des 15. Jahrhunderts sowie Kutten der Franziskaner erhalten hatten. Da in der Kapelle wahrscheinlich ausschließlich Mitglieder der Familie Busmann ihre letzte Ruhestätte fanden, sind die Kleiderfunde der Familie Busmann zuzuordnen. Die Bestattung männlicher Familienmitglieder im Habit der Franziskaner zeigt, dass zahlreiche Mitglieder der Familie als Tertiaren oder Mitglieder einer beim Kloster bestehenden Bruderschaft eng mit dem Kloster verbunden waren. Die neue Krypta wurde von Hans Erlwein entworfen und durch Paul Rößler ausgemalt. Sie war nur von der Busmannkapelle aus begehbar und enthielt unter anderem die kunstvollen Särge der Wettiner.
Im Februar 1945 brannte die Busmannkapelle wie der Rest der Kirche aus. Die Gewölbe stürzten 1946 zusammen. Einige Architekturfragmente der Kapelle konnten geborgen werden, bevor die Busmannkapelle wie der Rest der Kirche von 1962 bis 1963 abgetragen wurde.
== Raumbeschreibung ==
Die Busmannkapelle war ein hoher, fünf Meter breiter und acht Meter langer Raum. Sie besaß ein sechsteiliges Sterngewölbe, das bei der Überwölbung der Kirche in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden war. „Das Netzwerk des Gewölbes ist namentlich gen Osten von origineller Lösung, feingliederig und an den Kreuzungen mit kleinen runden Schlusssteinen versehen“. Der Kapelleninnenraum war mit Stuck im Stil der Neogotik ausgeschmückt.
Im Osten befand sich eine kleine, aus einem unregelmäßigen Achteck gebildete Choranlage. „Sechs Strebepfeiler wirkten dem Schub des mit einem abgewalmten Satteldach bedeckten Gewölbes entgegen.“ Zwischen den Pfeilern lagen fünf hohe Spitzbogenfenster.
In den Chorecken befanden sich Runddienste, die die Wände gliederten und sich aus den Kehlungen der Fenstergewände entwickelten. Von den Runddiensten wiederum gingen die Rippen des Gewölbes aus. Auf halber Höhe der Dienste waren gestaltete Konsolsteine angebracht. Die Konsolbüsten von Bürgermeister Lorenz Busmann und seiner Frau flankierten dabei den vor dem zweiten Fenster aus östlicher Richtung aufgestellten Altar. Vor dem Altar waren in mehreren Reihen Stühle aufgestellt, in deren Mitte der Taufstein stand.
Auf der Westseite der Kapelle befanden sich auf halber Fensterhöhe „vier sehr eigenartige […], in Stein eine Holzconstruction nachahmende […] Stützen“, die Pfosten des früheren Bälgekammerbodens. Die Stützen nutzte man um 1864 für eine eingebaute, balkonartige Empore, die eine Balustrade mit gotischem Maßwerk trug.Im Jahr 1824 wurden die Butzenscheiben der Kapelle durch breitere Fensterscheiben ersetzt. Während des Umbaus unter Arnold 1864 erhielt die Kapelle Maßwerkfenster, wobei vier Fenster zweibahnig und das südlichste dreibahnig ausgeführt wurden. Das Maßwerk wurde zwar 1875 ausgebessert, doch merkte Cornelius Gurlitt bereits um 1900 an, dass die Maßwerkfenster nicht mehr erhalten seien.Der Eingang zur Kapelle erfolgte bis 1864 durch ein Rundbogenportal im Südwesten der Kapelle, über dem sich ein kleines Fenster befand. Während der Umbauten ab 1864 wurde das Portal vermauert. Der Zugang zur Kapelle erfolgte seitdem über einen großen Durchgang vom Kirchenschiff und einen kleineren von den 1864 geschaffenen seitenschiffartigen Gängen.
== Ausstattung ==
Der bildhauerische Schmuck der Kapelle ist der früheste, der in Dresden nachgewiesen ist. Es handelte sich nachweisbar um den bis 1552 in der Kapelle befindlichen Altar mit der Darstellung des Heiligen Grabes, die Figur einer knienden Frauengestalt und verschiedenartig gestaltete Konsolsteine. Während der Altar und die Frauenfigur 1945 zerstört wurden, haben sich vier Konsolsteine erhalten. Fritz Löffler bezeichnete den Altar und die Konsolbüsten als „die frühesten Bildwerke von Bedeutung, die Dresden aufzuweisen hat“. Weitere Einrichtungsgegenstände, wie ein Nachfolgealtar und der Taufstein, stammten aus der alten Schlosskapelle.
=== Altar ===
==== Altar mit dem Heiligen Grab ====
Das Alter und der Künstler des ersten Altars der Busmannkapelle sind nicht bekannt. Die Entstehungszeit wird auf Anfang des 15. Jahrhunderts geschätzt. Während Albert von Eye in der Skulpturengruppe einen Nachklang der älteren sächsischen Bildhauerkunst vermutete, sah Gurlitt eine Parallele zur schwäbisch-böhmischen Schule und eine innere Verwandtschaft mit dem Heiligen Grab in Schwäbisch Gmünd aus dem Jahr 1410 als gegeben an.Nach der Säkularisation des Franziskanerklosters und damit der Kirche ging der Altar im Jahr 1552 aus der Busmannkapelle in den Besitz des Bartholomäus-Hospitals über und wurde in der Hospitalkirche St.-Bartholomäus aufgestellt. Als das Hospital 1839 abgebrochen wurde, gelangte das Stück in den Besitz des Königlich Sächsischen Altertumsvereins, der es im Palais im Großen Garten einlagerte. Hier wurde der Altar, von dem sich bereits um 1900 nur Teile erhalten hatten, bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 zerstört.Der Altar war aus Sandstein gefertigt und bestand aus einem Altartisch mit der Darstellung des Heiligen Grabes auf einer Sockelplatte und einem Aufsatz. Ohne Platte war der Altartisch 105 Zentimeter hoch, 173 Zentimeter breit und 126 Zentimeter tief.Heiliges Grab
Vier rechteckige Pfeiler trugen eine kräftig profilierte Platte, die am unteren Profil ein Spitzenrundbogenfries hatte. Die Bogen hatten Nasen und endeten in Lilien. Die eigentliche Tumba, auf der Jesus lag, schmückte ein Maßwerkfries. Zwischen den Steinpfeilern an den Schmalseiten und vor dem Grab standen insgesamt vier Wächter.
Der Körper Jesu war 118 Zentimeter lang. Sein Kopf – das Gesicht mit eingefallenen Wangen und geschlossenen Augen – lag auf einem Kissen und die Hände waren auf dem Oberkörper gekreuzt. Die einzige Bekleidung der Figur stellte ein Lendenschurz dar. Gurlitt bezeichnete die Jesusfigur als eine der „edelsten Schöpfungen deutscher Plastik“. Die Figur war teilweise farbig gehalten, so waren die Locken Jesu schwarz bemalt und die Brustwunde zeigte noch um 1900 Spuren roter Farbe.
Hinter Jesus befanden sich drei 63 Zentimeter hohe Frauendarstellungen, die Kopftücher und weite Mäntel trugen. Alle drei hielten Salbbüchsen in der Hand. Zu Kopf und zu Füßen der Jesusfigur stand an den Schmalseiten je ein Engel mit langen Flügeln, der ein Weihrauchbecken schwang.
Möglicherweise ebenfalls zum Grab gehörte eine bis 1945 erhalten gebliebene kniende Frauengestalt, die 72 Zentimeter hoch war. Gurlitt sah in ihr eine Stifterfigur, die ursprünglich links neben dem Grab aufgestellt worden war und deren männliches Pendant bereits um 1900 verloren gegangen war. Otto Wanckel bezeichnete sie als Magdalenengestalt, die zu einer Kreuzigungsgruppe über dem Heiligen Grab gehörte; eine Deutung, die Fritz Löffler als „die wahrscheinlichere“ bezeichnete.Predella
Auch die 35 Zentimeter hohe Predella des darauf stehenden Altaraufsatzes hatte sich um 1900 erhalten und besaß seitlich das Wappen der Familie Busmann. Die Predella war mit Tempera bemalt und zeigte eine Heilandsfigur sowie zu dessen Seite je sechs Apostel. Die Figuren besaßen unverhältnismäßig große Köpfe und unbeholfen oval dargestellte Heiligenscheine, sodass das Werk als die Arbeit eines „handwerksmäßigen Künstlers“ eingeordnet wurde. Der um 1900 darüber stehende Schrein gehörte nicht zum ursprünglichen Altar, sondern stammte nach Gurlitt möglicherweise von der Dreikönigskirche.
==== Altar der Schlosskapelle ====
Im Jahr 1737 bzw. 1738 erhielt die Busmannkapelle den Altar der säkularisierten Schlosskapelle. Er stammt aus dem Jahr 1662 und „ist wohl zweifellos ein Werk des Oberbaumeisters Wolf Caspar Klengel“. Klengel hatte 1659 untersucht, welche sächsischen Edelsteine noch vorhanden und welche Marmorbrüche noch ergiebig sind. Die Bestrebungen Kurfürst Friedrich Augusts I., vermehrt einheimische Gesteine zu verwenden, zeigte sich am Altar, dessen Hauptschmuck verschiedene sächsische Gesteinsarten waren. Eine Ausnahme bildeten die vier Säulenschäfte aus grünem Gestein. Sie wurden der Legende nach aus einem Marmorblock gehauen, den Herzog Albrecht 1476 aus dem Heiligen Land mit nach Sachsen gebracht hatte und der ihm dort als ein Rest des Tempels zu Jerusalem geschenkt worden war.
Der Altartisch hatte eine Platte aus rotem, weißgeadertem Marmor, die von schweren Pilastern aus schwarzem Marmor getragen wurde. Zwischen den Pilastern befand sich eine Bogenarchitektur aus Serpentin und Felder aus rotem Marmor.
Der Altaraufsatz hatte auf Postamenten aus rotem Gestein je zwei Säulen. Deren Basis war aus rotem Kalkstein, ein mit Blattwerk verziertes Zwischenglied aus Alabaster aus Weißensee und die 97 Zentimeter hohen Schäfte aus grüner, möglicherweise Jerusalemer Brekzie. Darüber befanden sich Kompositkapitelle, die ebenfalls aus Weißenseer Alabaster geschaffen waren. Ein stark verkröpftes Gebälk aus Crottendorfer Marmor schloss den Altar in einem Rundbogen ab. Zwischen den Säulen befand sich eine einfache, leere Platte aus rotem Gestein, vor der später ein Kruzifix stand.
Nach der Bombardierung Dresdens wurde der Altar bereits nach Kriegsende 1945 vermessen und der zu dem Zeitpunkt vermutlich weitgehend unbeschädigte Aufbau des Altars geborgen. Altartisch und Mensa verblieben in der Busmannkapelle, wo sie beim Einsturz der Gewölbe erheblich beschädigt wurden. Sie sind heute nicht mehr erhalten. Das Kruzifix konnte geborgen werden, allerdings ist sein derzeitiger Standort unbekannt.
Der Altaraufbau wurde vermutlich bei Umlagerungen beschädigt. Seine Überreste lagern derzeit im Landesamt für Denkmalpflege Sachsen. Erhalten sind neben den vier Säulen die Zwischenglieder und Kompositkapitelle aus Alabaster, weite Teile des verkröpften Gebälks und einzelne Ab- und Anschlussplatten. Nicht erhalten haben sich die Postamente und die zwischen den Säulen befindliche Platte. Es wird vermutet, dass sie, entgegen den Angaben Cornelius Gurlitts, nicht aus rotem Marmor bestand. Die Fläche der Platte wäre zum einen ungewöhnlich groß gewesen. Zum anderen lassen fehlende Überreste im Gegensatz zum sonst weitgehend erhaltenen Aufbau darauf schließen, dass die Platte nur gemauert und verputzt gewesen ist bzw. eine Marmorierung aufgemalt wurde. Der Altar soll auf Grundlage der 1945 vorgenommenen Vermessungen rekonstruiert und anschließend in der derzeit entstehenden neuen Schlosskapelle aufgestellt werden.
=== Taufstein ===
Im Jahr 1737 bekam die Busmannkapelle den Taufstein der im selben Jahr säkularisierten Schlosskapelle. Es handelte sich um ein Werk aus Sandstein von Hans Walther II aus dem Jahr 1558. Der Taufstein wurde 1602 mit farbigen Steinen, unter anderem Jaspis, verschiedenen Marmorsorten und Serpentin verziert und erhielt möglicherweise erst zu der Zeit den Säulenschmuck auf dem Kelch. Der Taufstein soll im Jahr 1606 erneut verändert worden sein. Er wurde bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 schwer beschädigt. Die Rekonstruktion des Taufsteins aus zahlreichen erhaltenen Fragmenten erfolgte 1988 und 1989 durch die Dresdner Bildhauerwerkstatt Hempel und das Landesamt für Denkmalpflege Sachsen. Der fragmentarisch erhaltene Taufstein befindet sich heute im Landesamt für Denkmalpflege Sachsen in Dresden.
Der Taufstein ist 115 Zentimeter hoch und hat einen maximalen Durchmesser von 88 Zentimetern. Der Fuß wird durch vier Pilaster geteilt, die mit Bögen verbunden sind. In den Bögen befinden sich Putten in Trauerkleidung. Den Bauch des kelchartigen Taufsteins gliedern vier Doppelhermen, zwischen denen sich Blumengirlanden mit Putten und Vögeln befinden. Darüber liegt eine durchgehende Reihe mit Diamantquadern in unterschiedlichen Marmorarten.
Den Kelch gliedern viermal zwei ionische Säulen, zwischen denen sich sowohl Nischen in Serpentin als auch vier vergoldete Alabasterreliefs befanden. Sie zeigten die Sintflut mit der Arche Noah, den Gang durch das Rote Meer, die Taufe Jesu und die Kindersegnung. Während das Taufbecken aus rotem Marmor geschaffen ist, war der Taufdeckel mit Löwenfratzen, Rankenwerk und Mäanderrand aus Holz verziert. Der Taufdeckel, der als mittigen Abschluss vergoldet das ruhende Lamm Gottes besaß, ist nicht erhalten. Gurlitt sah Fuß, Relief und Taufdeckel als Werk Walthers an, während er die anderen Teile als Ergänzungen aus der Zeit nach 1600 einordnete.
=== Konsolsteine ===
Die konsolartigen Bauglieder befanden sich in den Chorecken. Sie ragten in halber Fensterhöhe in den Raum. Gurlitt vermutete, dass die Konsolen ursprünglich Statuen trugen. Die Konsolsteine besaßen eine unterschiedliche Ausführung. Sie waren als Oberkörper einer Frau, eines Mannes, als geflügelter Mensch, Blattwerk und Adler gestaltet. Robert Bruck vermutete 1912, dass an um 1900 leeren Chorecken weitere Konsolsteine befestigt waren. Analog zum Adler (Sinnbild des Apostel Johannes) und dem Menschen (Sinnbild des Matthäus) ging Bruck davon aus, dass die fehlenden Steine einen Löwen (Sinnbild für Markus) und einen Stier (Sinnbild für Lukas) darstellten. Diese wurden bei dem Durchbruch der Wand zum Kirchenschiff möglicherweise um 1701 mit den Diensten abgeschlagen. Bruck erwähnte zudem weitere sieben Konsolsteine, die um 1910 bei Grabungen gefunden wurden: Vier zeigten Blattwerk, einer einen Kopf mit Blattwerk, einer einen Pelikan mit seinen Jungen und ein weiterer eine Tierdarstellung. Keiner dieser sieben Steine ist erhalten.
Der Stein des Adlers war um 1912 noch vorhanden, ging jedoch verloren. Erhalten haben sich vier Konsolsteine: Zwei Büsten und die Konsole mit dem geflügelten Menschen aus feinkörnigem (Labiatus-)Sandstein, die 1945 geborgen wurden, sowie die Blattwerkkonsole aus grobkörnigem Elbsandstein, die erst in den 1960er Jahren während des Abbruchs der Kapelle geborgen wurde. Alle vier kamen in das Dresdner Stadtmuseum, wo Restauratoren sie von Übermalungen der Jahrhunderte befreiten sowie untersuchten. Insgesamt stellte man dabei acht verschiedene Farbschichten fest, darunter drei Schichten Grau in Kalkfarbe.Von besonderer Bedeutung sind die Konsolbüsten des Mannes und der Frau, die „für die mittelalterliche Bildhauerkunst in Dresden beachtenswerte Schöpfungen [darstellen], da man an ihnen deutlich erkennt, daß der Künstler Porträtdarstellungen schuf“. Sie sind zudem die frühesten erhaltenen Porträtdarstellungen Dresdner Bürger. Die Büste des Mannes trägt die Hausmarke der Familie Busmann, sodass als sicher gilt, dass es sich bei den Dargestellten um den Stifter Lorenz Busmann und seine Gattin, deren Name nicht bekannt ist, handelt.
Fritz Löffler sah in den Büsten Gemeinsamkeiten mit Werken der Parler-Schule, wie zum Beispiel der Büste des Matthias von Arras oder dem Kopf der Tumba Ottokar II. Přemysls, und bezeichnete sie als „kostbarstes figurales Werk“ der Kapelle.
== Gedenkstätte Busmannkapelle ==
Die Dresdner Stadtverordnetenversammlung beschloss bereits 1994, dass eine Gedenkstätte für die Sophienkirche errichtet werden soll. Eine Grundforderung der Ausschreibung war, dass erhaltene Architekturfragmente der Busmannkapelle in die Gestaltung der Gedenkstätte einfließen sollten. Dazu gehörten:
40 Dienstwerkstücke
06 Rippenanfänger
23 Laibungsbogenstücke
01 Sohlbankstück
21 Gewändestücke
Maßwerkreste der Fenster aus dem Jahr 1864
03 Kragsteine (Westempore)
04 Konsolsteine (Frau Busmann, Lorenz Busmann, Engel, Blattwerk)Zum Schutz der Originalstücke sollten diese in einem geschlossenen Raum präsentiert werden und „mit der ortsgebundenen Präsentation der erhaltenen Architekturteile […] die Geschichte der Sophienkirche mit der Busmannkapelle fortgeschrieben werden.“
Beim 1995 ausgeschriebenen Architektenwettbewerb setzte sich aus zwölf Bewerbungen ein Entwurf des Dresdner Architektenbüros Gustavs und Lungwitz durch, der eine räumliche Reproduktion der Busmannkapelle am ursprünglichen Ort vorsah. Die Bauplastik soll von einer gläsernen Vitrine umschlossen werden. „Zur Verdeutlichung des Zusammenhanges zwischen Busmannkapelle und Sophienkirche werden die Strebepfeiler der Franziskanerkirche als stilisierte Stelen errichtet“, so der Entwurf des Architektenbüros. Der Aufbau der ersten vier Stelen begann am 13. Februar 2009; die Einweihung des Gebäudes unter dem neuen Namen DenkRaum Sophienkirche erfolgte am 9. Oktober 2020. Die Kosten für die Gedenkstätte beliefen sich auf über 4,8 Millionen Euro.
== Literatur ==
Robert Bruck: Die Sophienkirche in Dresden. Ihre Geschichte und ihre Kunstschätze. Keller, Dresden 1912.
Wiebke Fastenrath: Zur ehemaligen Busmannkapelle in Dresden. In: Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.): Denkmalpflege in Sachsen. Mitteilungen des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen. Landesamt für Denkmalpflege, Dresden 1996, S. 5–15.
Cornelius Gurlitt: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. Bd. 21: Stadt Dresden, Teil 1. C. C. Meinhold & Söhne, Dresden 1900 – Volltext im Angebot der SLUB
Fritz Löffler: Konsolfiguren in der Busmann-Kapelle der ehemaligen Franziskaner-Kirche Dresden. In: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft. Bd. XXII, Heft 3/4, Berlin 1968, S. 139–147.
== Weblinks ==
Seite der Gedenkstätte Busmannkapelle
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Busmannkapelle
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Bürgerpark und Stadtwald
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= Bürgerpark und Stadtwald =
Der Bürgerpark und der Stadtwald sind die bekannteste Parkanlage in Bremen. Mit zusammen mehr als 200 Hektar ist sie – nach dem Park links der Weser – die zweitgrößte Grünanlage der Hansestadt.
Der Bürgerpark entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unweit des Hauptbahnhofes als klassischer Volksgarten mit Seen, Kaffeehäusern und Liegewiesen innerhalb der bewaldeten Flächen. In der Zeit nach 1900 wurde nördlich davon der rund 65 ha große Stadtwald angelegt. Zusammen bieten sie heute den Besuchern mit so unterschiedlichen Attraktionen wie Tiergehegen, einem Bootsverleih, einer Finnenbahn, Lehrpfaden sowie Minigolf- und Bouleplätzen zahlreiche Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung.
Sowohl im Stadtwald als auch im Bürgerpark finden sich neben zahlreichen teilweise mehr als 130 Jahre alten Skulpturen und Denkmälern mehrere denkmalgeschützte Gebäude in aufeinander abgestimmten Naturensembles. Bis heute erfolgt die Unterhaltung ohne Regelfinanzierung aus öffentlichen Kassen durch den Bürgerparkverein, der sich ausschließlich durch Beiträge und Spenden trägt. Eine seiner wichtigsten Einnahmequellen ist die seit 1953 jährlich von Anfang Februar bis in den Mai veranstaltete „Bürgerpark-Tombola“.
== Lage ==
Der Bürgerpark und der Stadtwald liegen etwa einen Kilometer nordöstlich der Bremer Altstadt und erstrecken sich als unregelmäßiges Viereck in selbige Richtung. Sie haben ihr Gebiet in den Ortsteilen Bürgerpark und Neu-Schwachhausen im Stadtteil Schwachhausen. Im Süden an der Hollerallee gleich gegenüber der Stadthalle (jetzt Bremen Arena) beginnend, wird der Grünzug im Westen auf der gesamten Länge vom Torfkanal und der Findorffallee und im Osten vollständig von der Parkallee begrenzt. Als Grenze zwischen Bürgerpark und Stadtwald fungiert die (Bremer Schleife zwischen Sagehorn und Dreye der) Bahnstrecke Bremen–Hamburg. Die Verbindung zwischen beiden Bereichen erfolgt über zwei kleine Fußgängerunterführungen jeweils an den Außenseiten der Anlage. Die nördliche Abgrenzung bildet der Wetterungsweg. Oberhalb davon erstrecken sich jedoch noch der 28,2 Hektar große Stadtwaldsee (Unisee) sowie das 11,4 Hektar große Naturschutzgebiet „Am Stadtwaldsee (Uni-Wildnis)“, über welche die Parks mit dem Blockland verbunden sind und somit wie eine grüne Zunge aus den weitläufigen Marschwiesen in die Stadt reichen.
Anders als viele andere große städtische Parks wie beispielsweise der New Yorker Central Park oder der Berliner Tiergarten werden Bürgerpark und Stadtwald nicht von Verkehrsstraßen zerschnitten. Als einziger großer, einheitlicher Durchgang von einer Seite zur anderen fungiert eine breite, gesperrte Trasse, die an der Polizeiwache im Osten beginnt, den Emmasee nördlich passiert und an der Westseite austritt. Er stellt das nicht befahrbare Verbindungsstück im stadtteilübergreifenden Straßensystem Waller Ring, Osterfeuerberger Ring, Utbremer Ring im Westen und Schwachhauser Ring, Kirchbachstraße im Osten dar.
Der Bürgerpark ist mit den Straßenbahnlinien 5, 6 und 8 und den Buslinien 22, 24, 25, 26, 27 und 28 der Bremer Straßenbahn AG erreichbar. Die umgebenden Haltestellen sind Am Stern, Bürgerpark, Findorffallee, Weidedamm, Weidedamm III, Parkallee, Busestraße/Bürgerpark und Emmastraße/Bürgerpark.
== Geschichte ==
=== Bürgerpark ===
==== Planungen ====
Die ländliche Bewirtschaftung der Bremer Bürgerweide – eines ursprünglich 450 Hektar großen, aber im Zuge der Urbanisierung verkleinerten Wiesengeländes nördlich der Stadt – nahm in den 1860er Jahren stetig ab und wurde 1864 vollständig eingestellt. Es musste über eine andere Nutzungsmöglichkeit nachgedacht werden. Vom 16. bis zum 24. Juli 1865 trugen mehrere Tausend Schützen auf der Weide das Zweite Deutsche Bundesschießen aus. Die Teilnehmer litten auf der kahlen Fläche unter der starken Sonneneinstrahlung und der Hitze, und es kam die Idee eines Schießstandes unter Bäumen auf. Die Stadtoberen planten auf der Bürgerweide zwar weitere Veranstaltungen, um „Bremens Reputation im Deutschen Reich“ zu stärken, doch die expandierende Stadt benötigte auch Erholungsgebiete und Grünräume, die zur damaligen Zeit nur in den Wallanlagen geboten wurden.
Hauptideengeber für eine Aufforstung des Gebietes war wohl der Kauf- und Geschäftsmann Johann Hermann Holler. Ein erstes Treffen von interessierten Bürgern fand noch am 25. September des gleichen Jahres unter Leitung des Kaufmannes Franz Ernst Schütte im Bremer Ratskeller statt. Alsbald stellte sich heraus, dass der Senat einem solchen Projekt keine Geldmittel zur Verfügung stellen würde, weshalb sich eine Bürgerinitiative gründete. Sie konstituierte sich am 16. November als Comité zur Bewaldung der Bürgerweide mit anfänglich 60 Mitgliedern.
Das Gremium beauftragte schon bald darauf Carl Friedrich Wilhelm Nagel mit der Ausarbeitung eines Generalplanes. Dieser sah Spielplätze, einen Konzertgarten, Seen, Wiesen, eine Reitbahn und weitere typische Gestaltungselemente eines Volksparkes vor. Allerdings verwarf Nagel seinen Vorschlag selbst wieder und zog ihn schließlich zurück. Das Projekt geriet daraufhin etwas ins Stocken, doch das Komitee nahm Verhandlungen mit drei Gartenarchitekten auf. Man entschied sich am Ende für die Pläne Wilhelm Benques. Nach dieser Übereinkunft, die einen schnellen Fortschritt der Arbeiten in Aussicht stellte, erhielt man regen Zulauf, und schon bald zählte die Vereinigung rund 800 Mitglieder. Benque erhielt eine Anstellung als Angestellter des Komitees und zukünftiger Parkdirektor. Ein vollständiger Gestaltungsplan war erarbeitet und viel Geld in Form von Spenden gesammelt, bevor der Vorstand des Komitees eine Bitte an den Senat richtete, mit der Intention, einen Abschnitt der Bürgerweide einer anderen Nutzung zuzuführen und ein „städtisches Gehölz“ anzulegen. Die Anfrage wurde bewilligt, und der Senat und die Bürgerschaft überschrieben den Planern ein Areal von 76 Hektar Größe.
==== Entstehung ====
Am 28. Juni 1866 erfolgte der erste Spatenstich, und knapp 170 Arbeiter vollbrachten mit dem Aushub des heutigen Emmasees die erste gartenarchitektonische Maßnahme. Zwar überarbeitete Benque seine Pläne zum Jahreswechsel 1866/1867 noch einmal (unter anderem verlegte er auf Anraten des Gartendirektors Johann Heinrich Gustav Meyer das große Wasserbecken – den späteren Hollersee – weiter nach Süden), doch im Frühling 1867 konnten die ersten Bäume gepflanzt werden. Wenige Monate später wurde auch das erste Kaffeehaus mit Musikpavillon und Grotte errichtet. Im August begann man mit der Gestaltung der Hauptanlage im Süden einschließlich des Hollersees, welche drei Jahre später vollendet wurde. Fast zeitgleich jedoch zog sich Ende 1870 Benque aus dem Projekt zurück. Andere Quellen sprechen von einer Entlassung.
Im Jahr 1872 ging aus dem Comité zur Bewaldung der Bürgerweide der noch heute bestehende Bürgerparkverein hervor, und die Verantwortlichen in den städtischen Ausschüssen genehmigten 60 weitere Hektar als Erweiterung des Geländes nach Norden („Bürgerwald“). 1873 entstand das große Parkhaus. In jenem Jahr präsentierte sich die Parkanlage erstmals vom Anfang im Süden bis zur Straße des Schwachhauser Rings, also auf einer Länge von knapp einem Kilometer, als homogene Gestaltungseinheit. 1874 konnte der Schießstand übergeben werden, der ursprünglich den Anstoß zur Umgestaltung der Bürgerweide gegeben hatte, und vom 13. bis 21. Juni desselben Jahres fand die Internationale landwirtschaftliche Ausstellung in den neuen Parkanlagen statt. 1877 erlangte der Kaufmann Franz Ernst Schütte den Posten als Vorsitzender des Vereins und trieb als solcher den Ausbau und Fortgang der Gestaltung wesentlich voran – nicht zuletzt durch massive finanzielle Zuwendungen aus seinem mit Ölimporten erworbenen Vermögen. Benque nahm ebenfalls 1877 seinen Posten als Parkdirektor wieder ein und erlebte drei Jahre später die Fertigstellung der Meierei. 1884 trat er nach kontrovers geführten Diskussionen bezüglich der weiteren Entwicklung des Parks endgültig zurück. Sein Nachfolger wurde Carl Ohrt. Die Bauarbeiten waren 1886 beendet und der Bürgerpark endgültig ausgestaltet.
==== Weitere Geschichte ====
Ein Ereignis von überregionaler Bedeutung war die Nordwestdeutschen Gewerbe- und Industrieausstellung, die vom 31. Mai bis zum 15. Oktober 1890 auf einem 37,5 Hektar großen Areal im südlichen Bereich des Parks veranstaltet wurde. Hierzu wurde das Parkhaus abgerissen und als Haupthaus der Ausstellung ein Neubau errichtet. Dieser brannte allerdings 1907 in einem Großfeuer nieder, weswegen sechs Jahre darauf ein drittes Parkhaus im Stil eines fürstlichen Landsitzes eingeweiht wurde.
Im Bremen zur Zeit des Nationalsozialismus wurden während des Zweiten Weltkrieges auf der Ostseite des Bürgerparks drei Luftschutzbunker errichtet, die noch erhalten sind. Derjenige gegenüber der Einmündung der Emmastraße in die Parkallee diente zunächst der 8. Flak-Division und später 1945 dem Kampfkommandanten als Befehlsbunker. Die beiden anderen stehen im Abschnitt zwischen Bulthaupt- und Benquestraße. Im Zuge der Luftangriffe erlitten die Grünanlagen massive Verwüstungen – so wurden beispielsweise das Parkhaus sowie der von Franz Ernst Schütte gestiftete, hohe Aussichtsturm im Bürgerpark zerstört. Ersteres baute man 1956 als Parkhotel wieder auf.
Im Jahre 1990 erhielten Bürgerpark und Stadtwald den Schutzstatus eines Gartendenkmals zugesprochen. Im selben Jahr wurde ein fachwissenschaftlicher Beirat eingeführt, der der Parkverwaltung in Fragen der Erhaltung und Pflege der Parks zur Seite steht.
=== Stadtwald ===
Auf einer Sitzung am 6. Juli 1906 beschlossen der Ausschuss und der Vorstand des Bürgerparkvereins, ein Gesuch an den Senat zu stellen, mit der Bitte, dem Verein das trapezförmige Gebiet nördlich der Eisenbahnlinie bis zum Wetterungsweg – die sogenannte Bürgerweidekämpe – zur Anlage eines Stadtwaldes zu übereignen. Die gartenarchitektonische Gestaltungsplanung übernahm der damalige Parkdirektor Carl Ohrt, und der Kaufmann und gleichzeitige Vorsitzende des Bürgerparkvereins Franz Schütte sagte die Bereitstellung von 100.000 Goldmark aus seinem Privatvermögen zur Deckung der Kosten zu. Im Juli genehmigten die Vereinsmitglieder auf einer außerordentlichen Generalversammlung das Gesuch, welches dann umgehend gesendet wurde. Am 14. September teilte der Senat seine Zustimmung mit:
Noch im Oktober desselben Jahres kamen im Zuge der ersten Arbeiten zwei Lokomobile und ein Dampfpflug mit zugehörigem Wasserkesselwagen zum Einsatz, die man sich von der Oldenburger Forstverwaltung geliehen hatte. Der schluffige Tonboden über Niedermoor mit örtlich starker Grundnässe musste zunächst bis zu 70 Zentimeter tief umgepflügt werden. Da der hohe Grundwasserstand die Ausbildung eines weiten Wurzelgeflechtes verhinderte, setzte man die Bäume äußerst dicht, damit sie sich gegenseitig stützen konnten. Insgesamt wurden auf der Fläche von 265 Morgen 525.000 Laub- und Nadelholzbaumsetzlinge, 75.000 Niederholzsetzlinge sowie 1.940 Alleebäume gepflanzt. Es entstanden Alleen mit einer Länge von zusammengerechnet 5.270 Metern, und der Aushub des Kleinen Stadtwaldsees ermöglichte die Aufschüttung eines sieben Meter hohen Hügels an dessen Ufer. An der Ost- und an der Westseite erfolgte die Anlage je einer Nadelholzschonung, und der Wald öffnete sich zu vier kleinen verstreuten Lichtungen mit Liegewiesen. Die Fußwege gestaltete man in Grasform, so dass sie ein teppichgleiches Aussehen erhielten und wesentlich niedrigere Unterhaltskosten erforderten. Bemerkenswertestes Merkmal waren jedoch zwei große Alleen. Die Nord-Süd-Achse verlief auf einer Länge von annähernd 600 Metern schnurgerade, und die leicht geschwungene West-Ost-Transversale wies eine Breite von 20 Metern auf und besaß zu beiden Seiten je zwei Baumreihen. Am Kreuzungspunkt beider Trassen in der Mitte des Stadtwaldes errichtete man die Waldhütte. Im Mai 1908, nach weniger als zwei Jahren Bauzeit, gab der Vereinsvorstand auf einer Generalversammlung den Abschluss der Umgestaltung bekannt. Letztlich hatten sich die Kosten doch mehr als verdoppelt, und Schütte zahlte 250.000 Goldmark.
Nach dem Ersten Weltkrieg glich der Stadtwald einem verwahrlosten Gehölz ohne Pflege, weswegen externe Experten dem Parkdirektor Hugo Riggers nahelegten, sämtliche Bäume abholzen zu lassen, da es unmöglich sei, dort wieder Ordnung zu schaffen. Riggers jedoch entschied sich gegen diese radikale Maßnahme; stattdessen erhöhte er die Wege, lichtete den Baumbestand aus und verhalf dem Stadtwald zu neuer Beliebtheit. In den Jahren 1962 und 1972 richteten Orkane teilweise schwere Verwüstungen an. Die Stürme hatten an den aufgrund der schlechten Bodenverhältnisse dünnen, schwachen Stämmen und den kärglich ausgebildeten Kronen der Bäume gute Angriffsmöglichkeiten. Allein 1972 brachen – vornehmlich an der Ostseite des Stadtwaldes in einer Nadelholzpflanzung – 1.730 Bäume und damit mehr als doppelt so viele wie im gesamten Bürgerpark.Anfang April 1971 drohte der Kleine Stadtwaldsee auszutrocknen, als der Wasserspiegel rapide fiel. Am 2. April erfolgte eine groß angelegte Aktion von Naturfreunden, Mitgliedern des Bürgerparkvereins und Tierschützern, die mit Schlauchbooten und Keschern Hechte und andere Fischarten retteten. Die Ursache für die Trockenheit lag bei den Bauarbeiten der neuen Universität. Dafür spülte man die ehemaligen Marschenwiesen mit Sand auf, wofür große Mengen Wasser benötigt wurde. Es kam zu einer raschen Absenkung des Grundwasserspiegels in diesem Gebiet. Mit Hilfe einer schnell verlegten Rohrleitung und einer Pumpe konnte der See im Stadtwald wieder aufgefüllt werden. Während der Bürgerpark noch heute kaum von den Planungen Benques abweicht, hat sich das Gesicht des Stadtwaldes im Laufe der Jahre sehr verändert. Die anfänglich gestalteten Alleen sind beispielsweise Wiesendurchsichten und der westliche Nadelholzhain einer Lichtung gewichen. Auch die Waldhütte existiert nicht mehr.
== Erscheinungsbild ==
Bürgerpark und Stadtwald haben zusammen eine Fläche von 202,5 Hektar. Davon entfallen 136 auf den Bürgerpark und 66,5 auf letztgenannten. Zusammengerechnet zählen sie somit nach dem Englischen Garten in München, dem Großen Tiergarten in Berlin und dem Altonaer Volkspark in Hamburg zu den größten innerstädtischen Parkanlagen Deutschlands. Der Grünzug hat eine Gesamtlänge von bis zu 2,56 Kilometern, die Breite variiert zwischen 0,6 und 1,17 Kilometern. 142 Hektar (gut 70 Prozent der Gesamtfläche) sind baumbestanden, 30 Hektar (15 Prozent) Liegewiesen und sonstige Rasenflächen und 15 Hektar (7,5 Prozent) Wasserflächen. Hierbei wird der Park von fünf großen Seen dominiert. In der nordöstlichen Ecke des Stadtwaldes liegt der 2.500 Quadratmeter messende, dreigliedrige Kleine Stadtwaldsee. Im südlichen Bereich des Bürgerparks sind in der Südostecke der Schwanensee und in zentraler Lage der künstlich eingefasste Hollersee vor dem Parkhotel angesiedelt. Dieser ist in den Sommermonaten mit einer hohen Fontäne ausgestattet. In nördlicher Richtung folgt im westlichen Parkbereich der Emmasee, an dessen Ufern ein bekanntes Kaffeehaus steht und auf dem man Ruderboote mieten kann. Mit diesen besteht die Möglichkeit, auf dem weitläufigen zentralen Wasserlauf des Bürgerparks zu fahren, der ringförmig den gesamten Parkabschnitt zwischen der Eisenbahnlinie und dem durchquerenden Fußweg durchfließt. Eingeschlossen in diesen Gewässerkreis ist der Meiereisee neben dem Restaurant Meierei. Von diesem aus erstreckt sich die mit 2,9 Kilometern längste Sichtachse Bremens über das südlich anschließende Weidengelände, die Große Parkwiese und das Parkhotel bis zum Bremer Dom. Während im Bürgerpark die Wasserläufe unregelmäßig verlaufen, fließen sie im Stadtwald vergleichsweise parallel im Schachbrettmuster. Der Stadtwaldgraben zieht sich die gesamte östliche Seite des Stadtwaldes entlang und ist dessen größter Bach. Über die Gewässer führen in beiden Parks zahlreiche teilweise aufwendig verzierte Brücken, die entweder nach ihren Stiftern benannt sind (Alfred-Hoffmann-Brücke, Aselmeyerbrücken, Carl-Schütte-Brücke, Hachezbrücke, Hoffmann-Brücke, Marie-Bergmann-Brücke, Melchersbrücke von 1881/82, Schüttebrücke, Wiegandbrücke, Fritz-Hollweg-Brücke) oder dem Namen nach an bekannte Bremer Persönlichkeiten erinnern (Lambert-Leisewitz-Brücke).
Stadtwald und Bürgerpark sind vollständig erschlossen und von einem dichten Wegenetz durchzogen. Die Fußwege erreichen zusammengerechnet eine Länge von 31,5 Kilometern, die Radwege sind 14 Kilometer und die Fahrwege 7,3 Kilometer lang. Darüber hinaus existiert seit dem 19. November 1977 im südlichen Abschnitt des Stadtwaldes knapp oberhalb der Bahnstrecke eine 1.667 Meter lange, im Dunkeln beleuchtete Finnenbahn als Rundkurs. Diese wurde letztmals im Jahre 2004 in Kooperation mit dem Bremer Institut für angewandte Prävention und Leistungsdiagnostik überarbeitet. Bei diesen Maßnahmen verbreiterte man die Bahn auf 1,5 Meter und erhöhte sie zum besseren Wasserabfluss um 30 Zentimeter. Ebenfalls im Stadtpark legte der Bürgerparkverein im Jahre 2000 auf Initiative der Bremer Landesjägerschaft einen Naturlehr- und Erlebnispfad an. Innerhalb der Parkgrenzen liegen neben einem Minigolfplatz am Emmasee und einer Boule-Bahn fünf Spielplätze – vier im Bürgerpark und einer im Stadtwald, von denen einige als große Abenteuerspielplätze ausgelegt sind. Zudem erhebt sich im westlichen Drittel des Stadtwaldes auf einer Lichtung ein Rodelberg.
Eine Besonderheit der Grünanlage sind die unterschiedlichen gartenbaulichen Landschaften innerhalb des Parkgefüges. Die wohl bekannteste ist der Eichenhain im mittel-östlichen Bereich des Bürgerparks. Er geht auf eine Initiative des Parkdirektors Carl Ohrt zurück, der an jener Stelle 1884 in Absprache mit Benque eine einzigartige Sammlung aus 105 unterschiedlichen Eichenarten anpflanzen ließ. Bei der Zusammenstellung und Gruppierung achtete man neben der Blattform auch auf die geographische Verbreitung und auf die Herbstfärbung, um ein harmonisches Bild zu erzeugen. Heutzutage sind im Eichenhain noch ungefähr 20 Eichenarten zu finden. Weiter südlich, am Südufer des Schwanenteiches, erstreckt sich mit dem Fichtenhain ein Pinetum, in dem Ohrt – abermals einem Konzept Benques folgend – viele Nadelholzarten setzen ließ. Dieser Ort ist einer von nur drei Flecken in beiden Parks, an denen hauptsächlich Nadelbäume wachsen; ansonsten dominieren die verschiedensten Laubbäume in von Benque bestimmten Gruppierungen nach Hauptbaumarten. Als Miesegaeshain wird eine kleine Gruppierung von Eichen auf der großen Parkwiese bezeichnet, die August Friedrich Miesegaes stiftete. An gleicher Stelle war zuvor 1880 ein verzierter Zinkpavillon erbaut worden, der vermutlich im Zuge der „Metallspende“ von 1942 abgerissen wurde. Die sogenannte Buchendurchsicht vom Schwanenteich gen Norden an der Ostseite des Schweizerhaushofes entlang plante Benque mit dem Gedanken an die typischen „Thüringischen Landschaften“ als Darstellung eines „saftigen Wiesentals“. Die Rasenflächen werden in diesem Gebiet von mächtigen Buchen umstanden.
Beide Parkanlagen wurden im Stile der damals für expandierende Städte typischen und beliebten Volksgärten konzipiert, weswegen Wilhelm Benque und seine Mitarbeiter darauf bedacht waren, verschiedene gartenarchitektonische Richtungen und Stile in Einklang zu bringen und einen in sich harmonierenden Park zu erschaffen. So finden sich beispielsweise an der Meierei oder im Bereich des Parkhotels und des Hollersees streng geometrische und symmetrische Formgebungen mit geraden Blumenrabatten und gezirkelten Wegen, während an anderen Stellen verschlungene Pfade durch eine scheinbar wilde Natur führen. Die teilweise versteckten Gräben, Seen und Wasserläufe dienen dazu, den Park zu be- und zu entwässern, und sollen den Besuchern die Möglichkeit geben, von der Wasserseite aus neue, ungewohnte Eindrücke und Einblicke von der Grünanlage zu gewinnen.
=== Denkmäler ===
Verstreut über die Parkanlagen finden sich die unterschiedlichsten Skulpturen, Statuen, Denkmäler, Büsten und Monumente. Sie stehen nahezu ausschließlich im Bürgerpark.
Zu den ungewöhnlicheren Kleinoden zählen:
Die Spenderskulptur, eine bronzene Skulptur mit floralen Elementen, die der Bürgerparkverein als Zeichen des Dankes für alle Spender und Unterstützer aufgestellt hat.
Die Gorillabüste aus Stein, die in einem Pavillon am Tiergehege steht.Dausch-Plastiken: Gleich drei Bildnisse hat der Bildhauer Constantin Dausch entworfen. 1875 schuf er in der italienischen Hauptstadt Rom einem Auftrag des Bremer Kaufmannes H. Lamotte folgend Siegfried mit dem Drachen kämpfend aus Carrara-Marmor auf einem runden Steinsockel. In Bremen wurde das Werk im Zuge der Nordwestdeutschen Gewerbe- und Industrieausstellung 1890 zu einem Brunnen umfunktioniert und von Lamottes Frau dem Bürgerparkverein übergeben. Heute steht Siegfried der Drachentöter an der Westseite des Parkhotels. Die marmorne Musica schuf Dausch 1877. Ebenso wie das ein Jahr darauf entstandene Stadtbild Jüngling und Schicksalsgöttin fand sie zunächst ihren Platz im Park von Schloss Mühlenthal St. Magnus, bevor man sie 1933 vor die Meiereivilla versetzte. Das zweifigurale Werk von 1878 steht ebenfalls seit 1933 nur 100 Meter entfernt im Garten der Meierei.
Der Hollersee wird von mehreren Statuen flankiert, die jeweils an den Ecken seines Ufers stehen.
Musik und Tanz: aus Marmor als idealisierte Personifikationen von Diedrich Kropp von 1885.
Das Skulpturenensemble Vier Jahreszeiten (1991) mit den vier Skulpturen Frühling, Sommer, Herbst und Winter am Hollersee stammt von Bernd Altenstein und wurde anlässlich des 125-jährigen Bestehens des Bürgerparks aufgestellt.Werke von Theodor Georgii: Aus dem Vermächtnis Eduart Schrodts konnte in den Jahren 1909 und 1910 die Errichtung der Skulpturen Afrikanischer Wasserbock und Edelhirsch an der Ostseite des damaligen Parkhauses und heutigen Parkhotels realisiert werden. Beide Figuren besitzen einen Sockel aus Muschelkalk und sind nach Entwürfen von Theodor Georgii aus Bronze gefertigt.
Leihgaben vom Kunstverein: 1972 bedachte der gemeinnützige Kunstverein in Bremen, der Träger der Kunsthalle ist, den Bürgerparkverein mit zwei unbefristeten Leihgaben. So gelangten die Amphytrite von Kurt Edzard und der Poseidon von Ernesto de Fiori in die Parkanlage, die beide 1929 ursprünglich für einen Passagierdampfer des Norddeutschen Lloyd gefertigt worden waren. Beide bronzenen Statuen stehen nun im Garten des Kaffeehauses am Emmasee.
Hermann-Löns-Stein: Anfang der 1930er Jahre organisierten Jäger, Naturfreunde und Liebhaber der Schriften des im Ersten Weltkrieg gefallenen Heimatdichters Hermann Löns eine Spendensammlung für ein Denkmal. 1933 fertigte man aus einem bei Nienburg gefundenen Findling einen schlichten Gedenkstein mit der Inschrift „Löns“. Dieser Hermann-Löns-Stein wurde dem Bürgerparkverein von der Bremer Jägervereinigung e. V. geschenkt.
Schütte-Büste: In Erinnerung an den 1911 verstorbenen Vorsitzenden des Bürgerparkvereins und größten Mäzen der Parkanlagen Franz Ernst Schütte, der sich außergewöhnliche Verdienste um Bürgerpark und Stadtwald erworben hatte, sammelte ein Komitee nach seinem Tod Spenden für ein Denkmal. 1913 konnte der damalige Bürgermeister und Nachfolger Schüttes im Posten des Vereinspräsidenten Carl Georg Barkhausen die von Adolf von Hildebrand geschaffene Schütte-Büste aus Marmor enthüllen. Die Inschrift lautet „Franz Schütte dem hochverdienten Mitbürger von seinen Freunden gewidmet MDCCCCXIII“. Vierzig Jahre nach ihrer Errichtung wurde die Büste 1953 aus Sicherheitsgründen durch eine Kopie ersetzt. Das Original erhielt einen Platz in der Kunsthalle und seit 1989 in der Meierei.
Benquedenkmal: Auch an den leitenden Landschaftsgärtner, Gartenarchitekt und langjährigen Parkdirektor Wilhelm Benque wird erinnert. Dieser hatte sich zu Lebzeiten gegen jede Ehrung ausgesprochen, und so brachte erst 42 Jahre nach seinem Tod der Architekt Eduard Gildemeister 1937 den Vorschlag zur Schaffung eines Denkmals ein. Die Gestaltung übernahm der gebürtige Bremer Bildhauer und Direktor der Nordischen Kunsthochschule in Bremen Ernst Gorsemann. Der Benquestein im Eichenhain, ein schlichter Granitblock aus dem Fichtelgebirge, ist von einer halbkreisförmigen niedrigen Bank des gleichen Materials umgeben und trägt neben der Inschrift „Wilhelm “ zwei Reliefs eines grabenden und eines pflanzenden Arbeiters, symbolisch für die Tätigkeiten im Park.
Rehkitz: Von Gorsemann stammt auch die Tonskulptur eines Rehkitzes, die er 1954 als Abguss einer Figur des Rehbrunnes in den Bremer Wallanlagen fertigte und die heute am Wildhaus im Bürgerpark steht.
Bienenroland: Im Stadtwald steht lediglich der Bienenroland aus Eichenholz. Er stammt von der Künstlerin Birgit Jönsson und wurde im 2004 anlässlich des 600-jährigen Bestehens des Bremer Rolands aufgestellt. Das Standbild beherbergt einen Bienenstock und hat daher seinen Namen.
=== Bänke ===
Als besondere Gestaltungselemente im Bürgerpark und im Stadtwald hervorzuheben sind die zahlreichen kunstvoll ausgearbeiteten Bänke, die neben den normalen Sitzgelegenheiten bestehen. Sie gehen nahezu alle auf Privatspenden zurück und tragen nicht selten den Namen des Stifters oder desjenigen, an den sie erinnern sollen. Mehrere dieser Werke entstammen der Werkstatt des Kunstschlossers Justus Leidenberg:
Er schuf 1893 die Amelie-Ziermann-Bank, die der Kaufmann August Ziermann im Andenken an seine verstorbene Tochter gestiftet hatte. Die halbrunde Sitzgelegenheit aus Gusseisen diente als Vorbild für mehrere andere Bänke in der Parkanlage.
In der Form nahezu identisch mit der vorherigen ist die Marie-Sagehorn-Bank, die Leidenberg 1894 baute. Kurz nach ihrer Aufstellung entschied man sich, sie zu teilen und an mehreren unterschiedlichen Orten aufzustellen. Als wiedervereinigtes Ganzes steht sie am Wasserlauf nahe dem Alten Schießhaus.
Die dreiteiligen Kulenkampbänke wurden im Jahr 1897 gebaut. Sie stehen im sogenannten Laubengang am Ufer des südöstlichen Knicks des zentralen Wasserlaufes an der Ostseite des Bürgerparks. Dieser entstand 1886 als Dekoration, indem man beschnittene Hainbuchenpflanzen auf einer eisernen Pergola zu einem Laubendach formte. Dieser Ort gilt als einer der idyllischsten Plätze der gesamten Parkanlage.
Die schmiedeeiserne J.-Meyer-Bank ist filigran geschmückt und entstand 1898. Ursprünglich stand sie in einer Sitznische nahe dem Schweizerhaus, heute im Garten der Waldbühne.
Mit floralen Elementen stattete der Schlosser 1900 die Remmersbank, benannt nach ihrem Stifter, aus. Das schmiedeeiserne Werk weist abermals Parallelen zu den vorherigen auf und stand zunächst nahe der Emmabank, bevor man es östlich des Schweizerhauses installierte.
Am Fichtenhain stellte man 1907 die zwei Jahre zuvor aus einem Legat des Hrn. Lang in Auftrag gegebene Früßmersbank aus Gusseisen auf. Heutzutage steht sie nahe der Hachezbrücke.Neben diesen sechs Bänken existieren weitere, die nicht von Leidenberg gefertigt wurden.
Die bekannteste von ihnen ist die relativ kleine schmiedeeiserne Heine-Bank im Jugendstil. Sie steht als Andenken an Heinrich Heine im Eichenhain und geht auf Ideen des Bremer Literarischen Vereins von 1902 zurück, ein Denkmal für den berühmten Schriftsteller zu errichten. Diese Pläne wurden 1904 gemäß den Entwürfen von Hans Lassen umgesetzt. Die Bank trug anfangs in der Rückenlehne ein großes, mittig platziertes Reliefporträtmedaillon Heines (Bildhauer: Hugo Berwald) sowie zwei flankierende kleine Texttafeln mit Lyrikversen aus Bronze. Nach Ende des Ersten Weltkrieges erfolgte jedoch eine Schändung durch Antisemiten, die die große Plakette stahlen. Eine Reparatur wurde 1924 vorgenommen, bevor sich der Parkdirektor Hugo Riggers 1933 im Zuge der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gezwungen sah, alle drei Platten zu verstecken. Während der Luftangriffe durch die Alliierten fiel die Bank der Zerstörung durch Bomben zum Opfer. 1969 befestigte man die Platten an einer steinernen Bank, bevor 1989 die Wiederherstellung der Heine-Bank in alter Form gefeiert werden konnte. Die Heine-Bank fehlte 2010 im Bürgerpark, da sie sich als Teil des Bremen-Standes auf der Expo 2010 in Shanghai befand.
Die 1868 nach Entwürfen von Heinrich Müller aus Sandstein gefertigte Emmabank am Westufer des Emmasees gleicht mehr einem Denkmal denn einer Bank, besteht sie doch aus einem großen Gedenkstein und lediglich zwei kleinen flankierenden Sitzmöglichkeiten. Die Inschrift erinnert an den Beginn der Bauarbeiten für die Bewaldung der Bürgerweide, an die legendäre Emma von Lesum sowie an den Bremer Bischof Hartwig I. von Stade, der im Jahre 1159 in einer Urkunde der Stadt den Besitz der Bürgerweide bestätigte. Ferner trägt die Bank das Motto des Bürgerparks „Für Herr und Gesind’, Mann, Weib und Kind. Zu Nutz und Freud’ für alle Zeit“. Eine Kerbe im Stein deutet zudem auf das Doppelhochwasser 1880/1881 hin, die schwerste Überflutung, die der Park bis heute erlebt hat. 1966 erfuhr die Bank eine geringfügige Umsetzung.
Die halbrunde Hollerbank aus Sandstein entstand 1869 nach Entwürfen der Architekten Müller und Runge und soll an den ein Jahr zuvor verstorbenen Johann Hermann Holler erinnern, der mit seinen Ideen die Entstehung des Bürgerparks maßgeblich beeinflusste. Die Bank steht am Marcusbrunnen.
Die sogenannte Römische Bank aus Sandstein wurde 1898 vom Direktor des Bremer Gewerbemuseums August Töpfer entworfen. Sie formt einen Halbkreis und ist stilistisch an die Formensprache der Antike angelehnt. Auf die Stifterin Meta Schütte deuten die Initialen M. S. hin.
Nahe der Wiegandbrücke steht die steinerne Bulthauptbank aus dem Jahre 1909. Sie erinnert mit einer bronzenen Porträtplakette an den Dichter und Schriftsteller Heinrich Bulthaupt, der angeblich häufig an jener Stelle anzutreffen war.
Die massive steinerne Primavesibank, auch bekannt als „Idas- und Mariannenruhe“, entwarf der Baurat Hugo Weber im Jahre 1912. Diese Sitzgelegenheit wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und 1969 neu aufgestellt
In der Gestaltung der Hollerbank sehr ähnlich präsentiert sich die Wolrabbank, die auch „Ruheleben“ genannt wird. Sie ist eine Spende von Elise Wolrab aus dem Jahre 1914 zum Gedenken an ihren verstorbenen Bruder Carl. War die Bank zunächst noch von zwei Steinfiguren in Form einer Kinder- und einer Tierplastik flankiert, wurden diese später wegen häufiger Beschädigungen entfernt.
Als Annas Ruhe bezeichnet man eine kleine Bank mit steinernen Wangen und hölzernem Sitz, die 1915 von zwei Geschwistern in Erinnerung an eine verstorbene Schwester gespendet wurde.
=== Tiergehege ===
Als eine der Hauptattraktionen der Parkanlage gilt das von Wasserläufen und großen Rasenflächen umgebene Tiergehege im mittleren Abschnitt des Bürgerparks. Es besteht in unterschiedlichen Formen bereits seit 1869. Damals legte man ein Bassin für Fischotter an, das bis 1886 bestand. Kleine zoologische Präsentationen waren in vielen Volksparks während des 19. Jahrhunderts zur Unterhaltung der Besucher üblich. Die Otter als nachtaktive Lebewesen waren jedoch sehr scheu, weshalb 1871 ein Gehege mit einem Stall für Rene und Rehe errichtet wurde, der ein Jahr darauf einen hölzernen Aufbau erhielt. So konnten heimische, tagaktive Tiere gehalten werden, die die teils widrige Witterung ertrugen. 1874 wurde im damaligen Buchenhain ein weiterer Wildstall gebaut, den man 1884 in den Westteil des Bürgerparks verlegte.
Im Jahre 1903 wurde dieser durch einen Neubau mit einem eckigen und einem runden Turm ersetzt, der ein nach außen sichtbares Birkenständerwerk aufwies und den Mittelpunkt eines großen Geheges mit vielen Tierarten bildete. Mittlerweile unternahm man Versuche, exotische Tiere zu halten, um die Attraktivität zu erhöhen, stellte jedoch bald fest, dass der Kostenaufwand zu hoch war. Dennoch lebten über Jahrzehnte Kängurus im Bürgerpark, die sich zahlreich vermehrten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das Dromedar „Bobby“ zum Publikumsliebling und 1954 entstand ein neues Gebäude, das heute auch die Wildwärterwohnung beherbergt. Seit 1966 leben Damwild und Sikahirsche in den Gehegen. Ferner werden heutzutage überwiegend heimische Tierarten gehalten; neben Grauen Bergziegen, Hausschafen und Enten sind dort auch Bentheimer Landschweine, Wildschweine, Gänse, Hausesel, Alpakas, Mufflons, Pfauen und Meerschweinchen angesiedelt.
== Bauten ==
=== Gebäude ===
Neben den weitläufigen Grünflächen, Wäldchen, Wiesen und Bachläufen des Bürgerparks und des Stadtwaldes befinden sich innerhalb der Parkanlagen auch zahlreiche Gebäude. Diese dienen teilweise der Erholung oder Verpflegung der Besucher oder beherbergen die Büros der Verwaltung. Darüber hinaus existieren fünf Schutzhütten, in denen sich Wanderer und Radfahrer bei Unwetter unterstellen können. Die beiden größten Bauten finden sich in unmittelbarer Nachbarschaft im südlichen Bereich des Bürgerparks. Es handelt sich zum einen um das Parkhotel am Hollersee und zum anderen um das Schweizerhaus. Letzteres entstand 1871 durch eine Spende des Geld- und Wechselmaklers Heinrich Christian Dieckmann nach Plänen von Carl Scheinpflug im „Schweizerhaus Stil“ und diente zunächst als Wärterhaus und Geschäftsstelle des Bürgerparkvereins. Es beherbergte eine kleine Wohnung, eine Schreibstube und ein Konferenzzimmer für den Vereinsvorstand. 1881 erfolgte eine Erweiterung und fünf Jahre darauf der Anbau einer Küche. Man war allerdings darauf bedacht, den ursprünglichen Stil zu bewahren. Noch heute dient es als Wohnhaus des Parkdirektors und ist mittlerweile an einem größeren gepflasterten Hof Teil eines siebenteiligen Gebäudeensembles, das allerdings unter der Bezeichnung Schweizerhaus zusammengefasst und zusammengerechnet wird.
Das Alte Schießhaus ließ der Maurermeister F. Holländer im Jahre 1861 an dem nördlich der Ringstraße gelegenen ehemaligen Militärschießplatz errichten. Das Grundstück fiel während der Parkexpansion 1874 an den Bürgerparkverein, der es in ein Wärterhaus umbaute. Heute dient das Haus am östlichsten Rand des Bürgerparks als Dienstwohnung. Ein weiteres Aufseherhaus konnte 1901 durch eine Spende von Elise Köncke in Höhe von 10.000 Goldmark nahe dem südwestlichen Eingang in den Park gebaut werden. Dieses farbig gestaltete Haus ist unter der Bezeichnung Elisenstiftung bekannt und hat eine schmuckvolle Holzdekoration im Nordischen Stil. Zwei Pavillons im Parkgelände gehen ebenfalls auf großzügige Spender zurück. Der norwegisch-schwedische Konsul Hermann S. Gerdes stiftete am 31. Mai 1903 anlässlich seines 80. Geburtstages eine dieser Konstruktionen. Der Gerdespavillon entstand nach Entwürfen der Architekten Friedrich Wellermann und Paul Frölich als Holzkonstruktion mit Schiefer gedecktem Dach an der Buchendurchsicht unweit der Meierei. Fritz Brandt baute 1963 an einer Wegteilung zwischen Emmasee und Marcusbrunnen den Dyckhoffpavillon, den das Bremer Bekleidungshaus H. Dyckhoff zu seinem 75. Firmenjubiläum zwei Jahre zuvor als „Kinderschutzhütte“ gespendet hatte. Der Rundbau wurde 1986 saniert und mit einer vergoldeten Spitze versehen. Im nordwestlichen Winkel des Bürgerparks steht zwischen dem Hauptwasserlauf und der Bahnstrecke das Wätjenshaus, ein im Landhausstil aus Backsteinen gebautes Haus mit verziertem Dach, weiß verputzten Mauerteilen und einem vom Weg zugänglichen Regenschutz. An jener Stelle hatte Benque zunächst einen Unterstand für Pferde und Reiter geplant. Nach einer Spende der Witwe des bremischen Kaufmanns und Reeders Diedrich Heinrich Wätjen im Jahre 1893 begann man mit dem Bau, errichtete allerdings ein in diesem Bereich benötigtes Wärterhaus.
Zwei bedeutende Bauten im Stadtwald sind das Aufseherhaus am Ostrand und der Aussichtsturm am Kleinen Stadtwaldsee. Ersteres geht auf eine Schenkung Franz Ernst Schüttes zurück und wurde ebenfalls von Wellermann und Frölich als zweistöckiger, achteckiger Zentralbau mit zwei Seitenflügeln konzipiert, der zur Parkallee eine dezente Schaufassade mit säulengestütztem Pultdach aufweist. Das Haus war 1908 bezugsfertig und wurde von 1996 bis 1997 generalsaniert. Gabriel von Seidl lieferte die Entwürfe für den Aussichtsturm auf dem Hügel am Kleinen Stadtwaldsee und ließ einen turmartigen Pavillon mit Säulenumgang errichten, hinter dessen Eichenholztür eine Treppe auf die obere Plattform führte. Ab Herbst 1909 diente das Bauwerk so als Aussichtspunkt und Regenunterstand, wurde aber gleich darauf bis Sommer 1910 wieder geschlossen, da die Aussicht auf den gerade neugestalteten Park als noch zu unschön angesehen wurde. Im Volksmund bürgerte sich bald nach der Fertigstellung aus nicht näher bekannten Gründen die Bezeichnung „Judentempel“ ein. Der Turm war von Beginn an immer wieder Vandalismus ausgesetzt, weshalb man schon 1917 die Glas- durch Drahtfenster ersetzte. In den 1920er Jahren mussten Setzrisse und Dachschäden ausgebessert werden und 1956/1957 erfolgte eine erneute Reparatur des langsam verfallenden Daches. Da die mutwilligen Zerstörungen anhielten, wurde 1972 der Zugang zum Turm zugemauert. Sechs Jahre darauf erfolgte zwar eine vollständige Restaurierung, er blieb aber unzugänglich. Im Jahr 1984 stellte man den Aussichtsturm unter Denkmalschutz und mit finanzieller Unterstützung des Rotary Clubs Bremen-Weser gelang 2004 eine erneute Renovierung. Die Eingangstür sowie die Glasfenster wurden originalgetreu wieder eingesetzt, begehbar ist der Turm jedoch nach wie vor lediglich mit Führungen. Fernsicht bietet der Turm trotz seiner exponierten Lage aufgrund der hoch gewachsenen umstehenden Bäume nicht mehr.
==== Waldbühne ====
Die Waldbühne ist das letzte noch erhaltene Gebäude der Gewerbe- und Industrieausstellung von 1890. Der Holzbau in der Nähe des Parkhauses wurde nach Entwürfen des Architekten Carl Bollmann vom Zimmermann J. H. Meyer, dem Tischler Fr. Flathmann und dem Dachdecker J. Mähl errichtet. Er diente der Bremer Zigarrenfirma Engelhardt & Biermann als Ausstellungspavillon und sollte den ursprünglichen Planungen zufolge wie die anderen Schauräume nach dem Ende der Exposition abgerissen werden. Da jedoch im nordöstlichsten Winkel des Bürgerparks zu jenem Zeitpunkt noch immer kein Regenunterstand und keine Aufseherwohnung gebaut worden waren, entschied das Tabakunternehmen, den Pavillon zu spenden, und übernahm auch die Kosten für die Verlegung an den heutigen Standort. Die neben der Aufseherwohnung in dem kleinen Bau schon am 8. Juli 1891 eröffnete Restauration trug den Namen Waldschlösschen, der im Volksmund bald auch auf das Häuschen selbst übertragen wurde. Beide Weltkriege überstand die Waldbühne ohne nennenswerte Schäden und wurde 1966 von einer Brauerei renoviert, bevor der Bürgerparkverein sie 1975 etwas ausbauen ließ, um Pächter zu locken.
Im Jahre 1991 erfolgte mit Hilfe des Landesamtes für Denkmalpflege abermals eine umfangreiche Sanierung. Das reich geschmückte Gebäude erhielt eine Schiefereindeckung und präsentiert sich damit wieder im Originalzustand. Im Innenraum finden sich zahlreiche nostalgische Zierelemente. Seit Mitte der 1970er Jahre ist die Waldbühne ein beliebter Treffpunkt in den Parks. Sie beherbergt eine Gastwirtschaft mit großem Garten und eine Bühne, auf der ganzjährig zahlreiche Konzertveranstaltungen mit dem Schwerpunkt auf Jazz gegeben werden. Im Sommer findet sonntagmorgens auf einer Außenbühne ein sogenannter Jazzfrühschoppen statt.
==== Meierei ====
Die Meierei liegt fast im Zentrum der Grünanlagen am Südufer des nach ihr benannten Sees. Sie ist heute ein beliebtes Ausflugs- und Veranstaltungslokal. Die knapp 400 Meter lange Zufahrt von der Parkallee ist der einzige öffentliche Weg in den beiden Parkanlagen, auf dem Kraftfahrzeuge zugelassen sind.
1879 entstand auf dem Gelände eine kleine Molkerei mit zwölf Milchkühen, die auf den umgebenden Wiesen weideten. Bereits zwei Jahre später baute man mit einer Spende Schüttes und nach Plänen Heinrich Müllers das heutige Gebäude im „Schweizer Stil“ mit mehreren Veranden. Der von einem 36 Kühe fassenden Stall und einem Remisenhaus begrenzte Innenhof wurde mit Blumenbeeten und der Aufstellung eines Taubenhauses zu einem Garten umgewandelt. Die Meierei diente nun auch als Restauration und verkaufte darüber hinaus die gefertigten Produkte, wie beispielsweise Milch, Butter, Schichtkäse, Schlagsahne und Jogurt. Im Souterrain beherbergte das Gebäude die Küche, Milchkammern und die Käserei, während im Hochparterre die Gasträume, der große Mittelsaal und seitlich je ein Damen- und ein Herrenzimmer zu finden waren. Bedienstetenräume und Pächterwohnung lagen im Dachgeschoss.
Zur Erhöhung der Attraktivität und um den Betrieb rentabler zu machen, legte man 1883 am Meiereisee einen Bootsverleih mit Wasserzug sowie 1886 einen Affenkäfig an. Mit dem kulinarischen Angebot, Musikdarbietungen und Mineralbrunnenkuren entwickelte sich die Meierei bald zu einer bekannten Adresse. Die Stallungen mussten allerdings im Jahre 1900 nach vermehrten Beschwerden der Gäste und aus hygienischen Gründen aufgegeben werden. Zunächst war angedacht, sie umzusiedeln, doch für diese Maßnahme fehlten die nötigen finanziellen Mittel, sodass die Milchviehwirtschaft endete. Fünf Jahre darauf brach man das Taubenhaus im Garten ab, und der Bildhauer Max Dennert schuf die von Franz Ernst Schütte finanzierte Marmorgruppe Geschwister oder der erste Schritt. Diese überstand den Zweiten Weltkrieg nicht. Nach dem Ende des Krieges wurde die Meierei von US-amerikanischen Soldaten beschlagnahmt und verschiedenen Jugendgruppen für die Freizeitgestaltung überlassen, was innerhalb von sechs Jahren zu einer teilweisen Zerstörung der Innenräume führte. 1951 entließen die Amerikaner das Gebäude aus ihrem Besitz, und es wurde renoviert. Im Jahre 1970 erfolgte dann eine Umgestaltung der Innenräume und zwischen 1976 und 1980 erneuerte man die Außenfassaden. 1981 wurde die Bewirtschaftung vom Personal des Parkhotels übernommen. Im Jahr 2002 fand eine Instandsetzung der Fassaden statt, während der die Farbgebung nach Originalplänen wiederhergestellt wurde. 2014 wurden im Zuge eines Pächterwechsels eine Renovierung des Gebäudes und eine Umgestaltung der Innenräume vorgenommen. Zudem wurde die ursprüngliche Fronttreppe, die bei einer früheren Verbreiterung der Veranda weggefallen war, in geringerer Breite wiederhergestellt.
Um den ländlichen Charakter zu bewahren, den Wilhelm Benque der Meierei anfangs zugedacht hatte, weiden noch heute auf den südlich des Hauses anschließenden Wiesen in den Sommermonaten Kühe. Unweit der Meierei steht am anderen Ufer des Sees die Meiereivilla, ein 1882 als Wirtschaftshof für die Viehwirtschaft angelegtes Gebäude. Man konzipierte den Grundriss bewusst breit, um den dahinter liegenden Hof für die Augen der Parkbesucher zu verdecken. Die Fassade erhielt passend zur Meierei eine Blende; heutzutage dient die Villa als Wohnung für das Parkpersonal.
Am Meiereisee befindet sich auch das Bootshaus für den 2013 fertiggestellten Nachbau des historischen Ausflugsbootes Marie von 1913. Das mit einem Elektromotor betriebene Boot fährt an Wochenenden und Feiertagen von Mai bis Oktober auf einem Rundkurs über die Gewässer des Bürgerparks. Hierfür wurden 2012 vier Anlegestellen auf dem Wasserlauf eingerichtet.
==== Kaffeehaus Emmasee ====
Heinrich Müller entwarf das Kaffeehaus am Nordufer des Emmasees 1867 als leichten, flachen Holzbau, der „Zelt“ genannt wurde. Der großen Beliebtheit dieses Hauses unter den Bremern Rechnung tragend, genehmigte man den Ausbau der Zuwege und Zieranpflanzungen, und der Pächter konnte ein Jahr darauf einen vorgelagerten Musikpavillon anbauen. 1874 wurde das Kaffeehaus erweitert. Nachdem aus dem Vermächtnis von J. H. Gräving 30.000 Goldmark an den Bürgerparkverein ausgezahlt worden waren und der Brauereidirektor Lambert Leisewitz aus Anlass seiner Silberhochzeit 50.000 Goldmark spendete, entschied man sich für einen soliden Neubau an gleicher Stelle. Dieser war 1897 fertiggestellt, im „Tiroler Stil“ gehalten und besaß einen hohen Schmuckturm auf der Deckenkonstruktion des Sommersaals. In den Jahren 1908 und 1909 erhielt das Haus als Schenkung des Bankiers Wätjen einen neuen Musikpavillon, der den Namen seines Stifters trägt.
Der Turm musste 1918 abgebrochen werden, da er sich bei einem Sturm derart geneigt hatte, dass man einen Einsturz befürchtete. Das Kaffeehaus wurde im Zweiten Weltkrieg durch Brandbomben zerstört und die Holztrümmer von notleidenden Bürgern entwendet, sodass lediglich noch die Grundmauern standen. Von dieser Situation ausgehend, befasste sich der Vorstand des Bürgerparkvereins erstmals 1951 mit einem Wiederaufbau des Cafés – erwogen wurde ein Gebäude im Stile eines Fachhallenhauses. Es gelang jedoch erst 1960, auf finanzielle Rücklagen durch die Bürgerpark-Tombola zurückzugreifen, sodass die Planungsphase beginnen konnte. 1964 wurde das neue Kaffeehaus am Emmasee im Stile der Zeit nach Plänen von Carsten Schröck und Hans Budde als einstöckiger Flachdachbau mit großen Fensterfronten zum Wasser eingeweiht. Emma am See wird heute das Kaffeehaus benannt.
=== Brunnen ===
Der berühmteste Brunnen der Parks ist der Marcusbrunnen im Süden des Bürgerparks in unmittelbarer Nähe zum Parkhotel. Er wurde im Jahr 1883 vom damaligen Bürgermeister Victor Marcus gespendet. Einen Realisierungswettbewerb gewann August Töpfer, dessen gestalterische figurale Ideen von Diedrich Samuel Kropp umgesetzt wurden, während F. Kallmeyer den Metallschmuck goss. Die Einweihung des Brunnens feierte man im Jahre 1889. Das Werk bestand zunächst aus einem steinernen Sockel und einer steinernen Brunnenschale und besaß aus Bronze zwei weitere Schalen, Tritonen und wasserspeiende Seepferde auf dem Sockel. Im Zuge der „Metallspende“ 1942 wurden die Metallelemente demontiert, der Brunnen konnte 1959 aber wieder in zunächst vereinfachter Form in Betrieb genommen werden. 1975 wurde der Marcusbrunnen dann von dem Bildhauer Claus Homfeld wieder mit einer oberen Schale sowie anstelle der ursprünglichen Seepferde mit vier Muschelschalen ergänzt, die jeweils in Bronze ausgeführt wurden.
Der Niemitzbrunnen liegt zwischen dem Parkhotel und dem Haus der Parkverwaltung. Der Kaufmann Johann Friedrich Niemitz stiftete ihn, und er wurde 1878 ein Jahr nach dessen Tod nach einem Entwurf von Heinrich Müller errichtet. Der Brunnen hat die Formgebung eines kleinen pompejanischen Tempels und beherbergt unter seinem flachen Dreiecksgiebel im Inneren Steinbänke und eine Brunnensäule mit Wasserbecken. Ein weiterer Brunnen wurde 1908 infolge eines Legats aus dem Erbe des Kaufmanns Claus Albert Addix vom Bildhauer J. Conrad Buchner gefertigt. Dieser sandsteinerne Claus-Addix-Brunnen steht südlich des Emmasees zwischen einem Spielplatz und der Minigolfanlage und besaß in früherer Zeit auf dem Beckenrand Blumenverzierungen. Die Wasserversorgung des Brunnens ist allerdings bereits seit längerer Zeit defekt.
== Organisation und Finanzierung ==
Bis heute werden der Bürgerpark und der Stadtwald ohne staatliche Finanzierung vom Bürgerparkverein, der gut 2.600 Mitglieder zählt, unterhalten und sind damit die größte privat finanzierte Stadtparkanlage in der Bundesrepublik. Einen wesentlichen Einnahmebereich stellt die Bürgerpark-Tombola dar. Diese findet seit 1953 unter der Schirmherrschaft des jeweiligen Bürgermeisters über einen Zeitraum von drei Monaten auf den Plätzen der Innenstadt Bremens statt. Zur dauerhaften finanziellen Festigung der Parks rief der Bürgerparkverein im November 2000 die „Gräfin-Emma-Stiftung zur Erhaltung des Bremer Bürgerparks“ ins Leben. Nach dem Erreichen eines festen Sockelbetrages soll diese als ergänzende Sicherung dienen. Verwaltet wird die Stiftung von der Sparkasse Bremen.
Präsident des Bürgerparkvereins war von 2004 bis zu seinem Tod im Jahr 2022 Joachim J. Linnemann von der Immobiliengesellschaft Justus Grosse. Sehr viele Bäume, aber auch Brunnen und Bänke im Bürgerpark und im Stadtwald sind Spenden von Bremern und tragen daher oft deren Namen.
Der Bürgerparkverein beschäftigt je nach Jahreszeit 30 bis 45 fest angestellte Mitarbeiter im Verwaltungsbüro sowie als Handwerker und Gärtner. Letztere kümmern sich um die Erhaltung der Grünanlage, bessern Schäden aus und setzen neue Ideen gestalterisch um. Ferner sind acht bis zehn Teilzeitkräfte als Sicherheits- und Reinigungspersonal, für die Jagd und den Bisamrattenfang engagiert. Im Verein kann man darüber hinaus Schul- und Berufspraktika sowie ein freiwilliges ökologisches Jahr ableisten.
Der durchschnittliche Jahreshaushalt des Bürgerparks und des Stadtwaldes liegt zwischen 2.000.000 und 2.500.000 Euro. In der Regel wird ein Drittel dieses Betrages durch Vermächtnisse und Erbschaften abgedeckt. Die restlichen zwei Drittel ergeben sich aus privaten Spenden, Mitgliederbeiträgen, großangelegten Spendenaktionen, Miet- und Pachteinnahmen, Stiftungsvermögen und Mitteln aus den Toto- und Lottotöpfen. Maßgeblich trägt zur Finanzierung der Reinerlös der verkauften Lose der Bürgerpark-Tombola bei – 2012 wurden 936.100 Lose zu je einem Euro verkauft. Die Bürgerpark-Tombola ist somit die umsatzstärkste Sachwertlotterie Deutschlands. Der Gesamterlös belief sich bis 2003 auf ungefähr 46.000.000, der Reingewinn auf zirka 19.200.000 Euro.
== Regelmäßige Veranstaltungen ==
Als zentraler und stark frequentierter Stadtpark einer Großstadt sind Bürgerpark und Stadtwald auch Veranstaltungsort zahlreicher Feste, Vorführungen und Konzerte. Im Jahre 2008 gab es allein 26 Musikveranstaltungen. Die populärste von ihnen ist der jährlich Mitte September stattfindende Konzertabend „Musik und Licht am Hollersee“. Auf einer Bühne am Südufer des Sees spielt dann das Jugendsinfonieorchester Bremen der Musikschule Bremen, während auf den Rasenflächen regelmäßig mehr als 30.000 Zuschauer auf Decken oder mitgebrachten Klappstühlen sitzen und picknicken. Die Atmosphäre erinnert an die Proms, speziell wenn die Besucher zu fortgeschrittener Stunde Fackeln entzünden und der Hollersee in ein weites Lichtermeer getaucht wird. Die Fackeln werden an den Zuwegen verkauft, wobei der Erlös zur Hälfte dem Orchester und zur anderen Hälfte den Spielplätzen in den Parks zugutekommt. Zu einem Höhenfeuerwerk wird traditionell Georg Friedrich Händels Feuerwerksmusik gespielt und den Abschluss bildet das gemeinsam gesungene Lied Der Mond ist aufgegangen.
1995 ging der Bürgerparkverein eine Kooperation mit der bremer shakespeare company ein. Diese führt seitdem jährlich an fünf Tagen im August unter dem Titel „Bremer Theatersommer – Shakespeare im Park“ Klassiker von William Shakespeare auf einer Freilichtbühne an der Melchersbrücke auf. Binnen kurzer Zeit erreichten diese Vorführungen vor der Silhouette des Bürgerparks in der Abenddämmerung eine hohe Beliebtheit und sind in der Regel bereits Wochen zuvor ausverkauft. Seit 1990 feiern mehrere verschiedene Vereinigungen unter der Federführung des Landesbetriebssportverband e. V. (LBSV) im August den „Bremer Kindertag“ am Marcusbrunnen. Ziel ist die Auseinandersetzung der Erwachsenen mit dem Kind. Geboten werden neben einem vielfältigen Spielprogramm auch Tanzvorführungen, Shows, Konzerte und Lesungen. Den Höhepunkt stellt sie Verleihung des Kinder-Oskar dar, der an Personen oder Verbände vergeben wird, die sich besonders um die Rechte der Kinder verdient gemacht haben oder Kindern in unterschiedlichster Weise helfen oder diese fördern.
== Persönlichkeiten ==
Vorsitzende (Präsidenten) des Bürgerparkvereins
1865–1872: Justin Friedrich Wilhelm Löning, Kaufmann
1872–1876: August Friedrich Miesegaes
1877–1911: Franz Ernst Schütte, Kaufmann
1911–1917: Carl Georg Barkhausen, Bürgermeister
1918–1933: Clemens Carl Buff, Bürgermeister
1933–1934: Richard Markert, Bürgermeister
1934–1966: Franz Albrecht Schütte, Kaufmann
1966–1977: Otto Ronning, Kaufmann
1977–1981: Friedrich Selchert
1981–1998: Friedrich Rebers, Sparkassendirektor
1998–2004: Heinz-Werner Hempel
2004–2022: Joachim J. LinnemannParkdirektoren
1865–1870: Wilhelm Benque
1877–1884: Wilhelm Benque
1884–1908: Carl F.H.A. Ohrt (1852–1908)
1909–1918: Theodor G. Karich (1853–1918)
1919–1963: Hugo Riggers (1884–1968)
1964–1989: Günter Reinsch (1923–?)
1989–2012: Werner Damke
seit 2012: Tim Großmann
== Literatur ==
(nach Erscheinungsjahr geordnet)
Günter Reinsch: Der Bürgerpark – ein Beispiel deutscher Stadtparkanlagen in Bremen. In: Die Gartenkunst 2 (1/1990), S. 87–98.
Günter Reinsch: 125 Jahre Parkpflege Bürgerpark Bremen. Die Gartenkunst 3 (2/1991), S. 225–234.
Bürgerparkverein Bremen (Hrsg.), Die Wittheit zu Bremen (Hrsg.): 125 Jahre Bremer Bürgerpark. Johann Heinrich Döll-Verlag, Bremen, 1991, ISBN 3-88808-135-1.
Bürgerparkverein (Hrsg.): Der Bürgerpark. Park begehen – Kultur erfahren. Natur beobachten – Natur erfahren. Kartenblatt. Asco Sturm Druck, Bremen 1994.
Karolin Bubke: Zehn Jahrhunderte Bürgerweide Bremen. Aschenbeck & Holstein Verlag, Delmenhorst 1999, ISBN 3-932292-17-0.
Herbert Schwarzwälder: Das Große Bremen-Lexikon. Edition Temmen, Bremen 2003, ISBN 3-86108-693-X.
Ulrike Graf, Bürgerparkverein (Hrsg.): Der Stadtwald. Wald begehen – Kultur erfahren. Asco Sturm Druck, Bremen 2006.
== Weblinks ==
www.buergerpark-bremen.de – Internetpräsenz des Bürgerparks Bremen
www.buergerpark-tombola.de – Internetpräsenz der Bürgerpark-Tombola
www.waldbuehne.com – Internetpräsenz der Waldbühne
www.meierei-bremen.de – Internetpräsenz der Meierei
Vorstellung des Bürgerparks auf der offiziellen Internetpräsenz der Stadt Bremen im Zuge der Präsentation des Stadtteils Schwachhausen
Das Gesamtensemble des Bürgerparks in der Denkmaldatenbank des LfD
gauss.suub.uni-bremen.de – Historische Karten des Bürgerparks
Audio-Slideshow vom Bremer Bürgerpark (Radio Bremen)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCrgerpark_und_Stadtwald
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Büyükkale
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= Büyükkale =
Büyükkale (türkisch für Große Burg) ist ein Felsrücken in der hethitischen Hauptstadt Ḫattuša. Er war von der frühen Bronzezeit im späten 3. Jahrtausend v. Chr. bis in römische Zeit besiedelt. Schon vor der Ankunft der Hethiter in der Zeit der Hattier existierte eine befestigte Siedlung, ebenso in der Zeit der assyrischen Handelskolonien (Karumzeit). Während des hethitischen Großreichs wurde der Hügel immer weiter bebaut und befestigt und trug in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. den Regierungssitz der hethitischen Großkönige. Auch in späterer phrygischer, hellenistischer und römischer Zeit gab es ummauerte Siedlungen auf dem Büyükkale. Ab dem frühen 20. Jahrhundert wurde der Felsrücken – vornehmlich von deutschen Archäologen – eingehend erforscht und ausgegraben. Für die Hethitologie bedeutsam ist die dortige Burganlage auch wegen einer großen Anzahl an Keilschrifttafeln, die in den Gebäuderesten gefunden wurden und in hethitischer Sprache, aber auch in mehreren anderen Sprachen verfasst sind.
== Forschungsgeschichte ==
Bereits der französische Reisende Charles Texier, der 1834 die Ruinen bei Boğazköy entdeckte und sie für die Überreste des antiken Pteria hielt, verzeichnete die Burg auf seinem Stadtplan unter der Bezeichnung Esplanade. Der britische Geologe William John Hamilton, der 1836 den Ort besuchte, berichtet als erster über die Gruben bzw. Zisternen auf dem Gelände und über zahlreiche Keramikscherben. Auf dem genaueren Plan Carl Humanns von 1882 ist die Festung als Böjük Kale eingetragen. Mit dem französischen Archäologen Ernest Chantre begannen die ersten Grabungen auf Büyükkale. Nachdem er 1893 einzelne Tontafelfragmente mit Keilschrift gefunden hatte, unternahm er im folgenden Jahr eine Sondage, wahrscheinlich im westlichen Teil des Hügels. Diese Funde erregten allgemeines Interesse, da sie weitergehende Aufschlüsse über Zusammenhänge im alten Orient versprachen. Daraufhin reiste der deutsche Altorientalist Hugo Winckler 1905 nach Boğazköy, wo er gemeinsam mit Theodor Makridi bis 1907 Ausgrabungen unternahm, vermutlich an der gleichen Stelle wie Chantre, wobei sie ihr Hauptaugenmerk allerdings auf die Keilschrifttexte richteten und die Architektur weitgehend unbeachtet ließen. Dabei kamen zahlreiche Tontafeln ans Tageslicht, die Winckler zu dem Schluss brachten, dass es sich bei den Ruinen von Boğazköy um Ḫattuša, die Hauptstadt des hethitischen Großreichs handeln müsse. Die selbst für die damalige Zeit unsystematischen und unpublizierten Ausgrabungen wurden zumindest in Teilen von Otto Puchstein, der zur gleichen Zeit vor Ort war, dokumentiert.Von 1907 bis 1931 ruhten – auch im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg – die Arbeiten auf Büyükkale. 1931 nahm der deutsche Prähistoriker Kurt Bittel im Auftrag des Archäologischen Instituts des Deutschen Reichs, des heutigen Deutschen Archäologischen Instituts (DAI), und der Deutschen Orient-Gesellschaft die Grabungen in Boğazköy wieder auf, wobei er sich zunächst auf Büyükkale konzentrierte. Schon in den nächsten zwei Jahren kamen auch große Mengen von Keilschrifttafeln ans Licht. Hauptsächlich diese Funde gaben den Ausschlag dafür, dass die Grabungen bis heute fortgesetzt wurden. Dabei wurden nun auch systematisch Architekturreste aus verschiedenen Schichten ergraben und dokumentiert. Die Grabungsarbeiten gingen unter Bittels Leitung und mit Unterstützung des DAI, der DFG und verschiedener Sponsoren zunächst bis 1939 weiter und wurden nach einer kriegsbedingten Unterbrechung ab 1952 fortgesetzt, nun gemeinsam mit dem Bauforscher und Archäologen Rudolf Naumann. 1954 bis 1966 war Peter Neve für die Büyükkale-Forschungen verantwortlich, der ab 1978 die Gesamtleitung der Grabungen in Ḫattuša übernahm. Sein Nachfolger war ab 1994 Jürgen Seeher, seit 2006 hat Andreas Schachner die Grabungsleitung inne. Funde und Befunde sind ab Beginn des 20. Jahrhunderts regelmäßig in den Schriftreihen Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft zu Berlin und Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft veröffentlicht worden. Die erste Gesamtbestandsaufnahme der Architektur publizierte Peter Neve 1982 unter dem Titel Büyükkale – Die Bauwerke.Die Funde werden im lokalen Museum in Boğazkale, im Museum Çorum und größtenteils im Museum für anatolische Zivilisationen in Ankara ausgestellt.
== Lage ==
Der aus mesozoischem Kalkstein bestehende Felsrücken gehört als Ausläufer zu einem Bergzug, der das Tal des Budaközü Çayı nach Osten abschließt. Er ist von Südwesten nach Nordosten ausgerichtet, das Hochplateau hat eine Größe von etwa 260 × 150 Metern. Die höchste Erhebung ist eine Felsbarriere im Nordosten mit einer Höhe von 1128 Metern über Meereshöhe. Vor der Bebauung war die Oberfläche wesentlich stärker zergliedert, als es heute erkennbar ist. Durch die baulichen Maßnahmen und natürliche Einwirkungen wurde die Oberfläche deutlich eingeebnet. Vor allem im Norden und Osten ist das Plateau durch steil abfallende Felswände geschützt, im Süden und Westen sind die Abhänge sanfter. Es liegt im östlichen Zentrum des Stadtgebiets von Ḫattuša an der Grenze zwischen Ober- und Unterstadt. Die die Unterstadt von der jüngeren Oberstadt trennende Stadtmauer – Poternenmauer genannt – bildet gleichzeitig die südliche Ummauerung der Festung. Sie umläuft in großem Bogen die Altstadt und schließt von Norden kommend wieder an die nördliche Befestigung von Büyükkale an. Südlich des Hügels liegt die als Südburg bezeichnete Erhebung, die ein Heiligtum mit einer Hieroglyphenkammer und später eine phrygische Befestigung trug. Südwestlich, wo auch der Eingang liegt, führt heute am Fuß des Hügels die moderne Straße vorbei, die vom Löwentor herabkommt. Schräg gegenüber, westlich der Straße, findet sich der Felsen Nişantepe mit der Nişantaş genannten Felsinschrift Šuppiluliumas II. Der Felsrücken bot einen guten Überblick über die Unterstadt und große Teile der Oberstadt.
== Geschichte ==
Die ältesten Besiedlungsspuren in Ḫattuša stammen aus dem Chalkolithikum im 6. Jahrtausend v. Chr. und sind auf dem Felsrücken Büyükkaya zu finden, nördlich von Büyükkale. Büyükkale selbst war seit der ausgehenden frühen Bronzezeit bewohnt, die ältesten Nachweise sind Vorratsgruben im Süden und Südwesten des Plateaus. Ihre Datierung ist unsicher, nachweisbar ist lediglich die Entstehung vor 2000 v. Chr. Danach begann der Ausbau des Hochplateaus zur Siedlung. Sie beschränkte sich zunächst auf den Südteil, wies aber bereits im 19. Jahrhundert v. Chr. eine Befestigung auf. Als ihre Bewohner kommen die vorhethitischen Hattier in Frage. Mit der Zerstörung der gesamten Stadt Ḫattuša durch Anitta von Kaniš um 1700 v. Chr. ging auch diese Besiedlung auf dem Büyükkale in einer Brandkatastrophe zu Grunde. Die Neubesiedlung setzte etwa 100 Jahre später wieder ein, als die Stadt um 1600 v. Chr. durch Ḫattušili I. neu gegründet wurde. Vermutlich wegen der Raubzüge der Kaškäer errichtete Ḫantili I. an der Wende vom 17. zum 16. Jahrtausend v. Chr. die erste Mauer um die Stadt, die seiner Aussage nach bis dahin ungeschützt war. Sie war wahrscheinlich identisch mit der Poternenmauer, die den südlichen Abschnitt der Befestigung von Büyükkale bildet. Infolge von Thronstreitigkeiten, die schon unter Ḫantili einsetzten, kam es zu einem wirtschaftlichen und politischen Niedergang der Stadt, den wohl Nachbarn ausnutzten, sodass die Stadt erneut gebrandschatzt wurde und anschließend langsam verfiel. Erst durch den Thronfolgeerlass des Telipinu nach 1500 v. Chr. wurde die Thronfolge geregelt, sodass interne Streitigkeiten beendet und die Herrschaft gefestigt wurde, wonach die Stadt neu aufgebaut wurde. Auf dem Büyükkale folgte erstmals ein systematischer Aufbau eines Palastzentrums. Es fiel erst nach 1280 v. Chr., vermutlich im Zusammenhang mit den Thronstreitigkeiten zwischen dem designierten Herrscher Urḫi-Teššup (Muršili III.) und seinem Onkel, dem späteren Großkönig Ḫattušili III., wieder einer Zerstörung zum Opfer. Letzterer sowie sein Sohn und Nachfolger Tudḫaliya IV. zeichneten verantwortlich für den erneuten Aufbau des letzten großreichszeitlichen Palastes, der schließlich mit dem Ende des Hethiterreichs um 1180 v. Chr. wiederum der Zerstörung anheimfiel.Vom 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr. sowie in römischer Zeit war das Plateau zwar bewohnt und meist auch befestigt, es erlangte aber nie mehr überregionale Bedeutung. Über eine mögliche weitere Geschichte ist nichts bekannt.
== Aufbau ==
Der Burghügel wurde in mehreren Bauperioden und Schichten bebaut. Eine erste Einteilung in fünf Schichten entstand bereits in den 1930er-Jahren, wobei von oben nach unten nummeriert wurde:
Schicht I
Schicht II – beide nachhethitisch
Schicht IIIb
Schicht IIIa – beide großreichszeitlich
Schicht IV – althethitischDiese Einteilung wurde später mehrfach verändert und erweitert, aber im Grundgerüst trotz einiger Schwächen beibehalten. So waren beispielsweise die – wenn auch nur spärlich vertretene – römische und byzantinische Periode darin nicht erfassbar. Die heutige Einteilung sieht folgendermaßen aus:
Die einzelnen Schichten umfassen dabei teilweise noch mehrere Bauphasen.
Bei der folgenden Beschreibung ist zu beachten, dass die Zeichnung den Zustand der späten Großreichszeit im 13. Jahrhundert v. Chr. (Schicht III) abbildet.
=== Vorhethitische Zeit ===
Die ältesten Zeugnisse sind mehrere in den anstehenden Lehm eingetiefte runde Gruben, die im Süden und Südwesten des Plateaus neben dem Oberen Burghof, im Bereich der späteren Häuser M und N, gefunden wurden. Von stark divergierender Größe, sind sie zwischen 0,25 und 0,95 Meter tief und haben Durchmesser von 0,60 bis 1,95 Metern. Sie stellten vermutlich Vorratsspeicher dar, die in späterer Zeit als Abfallgruben genutzt wurden. In den Gruben wurden unter anderem Fragmente eines kupferzeitlichen Pithos gefunden, außerdem bemalte Scherben der sogenannten Alişar-III-Ware und monochrome Scherben sowohl handgefertigter als auch auf der Töpferscheibe erstellter Art. Eine genauere zeitliche Einordnung ist bis dato nicht möglich, lediglich eine Entstehung von oder während der Zeit von Schicht V ließ sich feststellen.Aus den vorhethitischen Schichten Vd–g konnten verschiedene Reste von Grundmauern, vornehmlich im südlichen Teil der Plateaufläche, erkannt werden. Sie bestehen aus Bruchsteinen, über ihre Bestimmung sind keine Aussagen möglich. Lediglich eine gegen Süden gerichtete starke Mauer im Bereich des späteren Burgtorhofs scheint eine Wehrmauer darzustellen. Demnach kann schon in dieser Zeit von der Existenz einer Befestigung auf Büyükkale ausgegangen werden. Die Funde sind ähnlich wie in den Gruben handgearbeitete Keramik, Alişar-III-Ware sowie dünnwandige Scheibenware, sogenannte Blumentopfware. Der Schicht Vd wird ein spatelähnliches Bronzegerät zugerechnet. Für Schicht Vc konnten im Bereich des späteren unteren Burghofs mehrere Häuser mit Lehmfußboden nachgewiesen werden, von denen zum Teil nicht nur die Steinfundamente, sondern auch einige Schichten des aufgehenden Mauerwerks aus Lehmziegeln erhalten waren. In dem größten, aus acht Räumen bestehenden Haus, das über drei Terrassen gebaut war, kamen zwei komplett verkohlte Türblätter von 85 × 180 Zentimetern ans Licht. Das Haus war vermutlich der Wohnsitz einer höherstehenden Person. Ein anderes Gebäude hatte wohl zwei Stockwerke. In den Gebäuden wurden Pithoi, Geschirr, Herdstellen, Topfständer, eine steinerne Gussform, eine beinerne Stecknadel, Stempel, verbranntes Getreide und ein menschliches Skelett gefunden. Die Bauten wurden alle in einer Brandkatastrophe vernichtet. Auf Grund von C14-Analysen an den gefundenen Holzteilen werden sie zwischen 1800 und 1600 v. Chr. datiert.
=== Karumzeit ===
Von den vorhethitischen Schichten Va und Vb sind nur noch spärliche Fundamentreste erhalten, da sie durch Umbauten der folgenden Schicht IVd planmäßig überbaut, teilweise abgetragen und planiert wurden. Sie enthielten nur wenige Reste von hand- und scheibengemachter Keramik. Die Datierung ist unsicher. Die Schicht IVd dagegen ist sicher als karumzeitlich zu datieren. Zu ihr gehören zum einen Teile einer über vier Meter breiten Mauer im Bereich des unteren Burghoftores. Sie stellen die ältesten Spuren einer Befestigung auf Büyükkale dar, auch wenn sie wohl teilweise auf dem Schutt einer älteren Mauer errichtet wurden. Zum anderen konnten im süd- und südwestlichen Bereich verschiedene Gebäudereste ergraben werden. Bei den meisten sind nur Mauerfragmente nachweisbar, eine Ausnahme bildet das Gebäude I/IVd. Das Haus hatte eine erhaltene Größe von 23 × 21 Metern und bestand aus mindestens zwölf zum Teil zweigeschossigen Räumen und einem Hof mit Feuerstelle. Im Hof wurde neben reichhaltigen Geschirrfunden ein halbes Geweih eines Rothirsches als Rest einer Mahlzeit gefunden, aber in der Nähe der Herdstelle auch ein Kinderskelett, was eine zusätzliche Verwendung als Begräbnisplatz belegt. Auch die Funde in den Räumen waren reichhaltig. Zu den Keramikfunden gehören wieder Pithoi, verzierte Schnabel- und Henkelkannen, Schalen, bemalte Turmvasen sowie Tierrhyta in Löwen- und Entenform. Es ist sowohl Gebrauchsgeschirr darunter als auch Kultgefäße. Außerdem fanden sich ein Mahlstein, ein Stück Bleiblech und Bronzenadeln. In mehr als hundert Tonklumpen, die in den Wänden verarbeitet waren, waren zahlreiche Siegelabdrücke zu erkennen. Sie hatten einen Durchmesser von einem Zentimeter und zeigten Ornamente und stilisierte Tier- und Menschenfiguren. Der Beginn der Bauschicht IVd wird in die Zeit der assyrischen Handelskolonien (assyrisch karum), genauer ins 19. Jahrhundert v. Chr., datiert. Ihr Ende bestimmte eine verheerende Brandkatastrophe am Übergang vom 18. zum 17. Jahrhundert, beim Überfall Anittas von Kuššara auf Ḫattuša.
=== Frühhethitische Zeit ===
Zur althethitischen Bauschicht IVc gehören Siedlungsreste in verschiedenen Teilen des Plateaus sowie Bauten am südwestlichen Hang des Burgbergs. Dort sind von den Gebäuden nur spärliche Spuren erkennbar, da sie zum größten Teil von der Poternenmauer überbaut sind, die in der letzten Phase von IVc errichtet wurde. Sie stellt die älteste hethitische Stadtbefestigung von Ḫattuša dar. Sie setzte sich von Büyükkale nach Nordwesten fort und umschloss die entstehende Unterstadt. In großem Bogen umlief sie sie – zum Teil vom heutigen Ort Boğazkale überbaut – und schloss im Norden wieder an die dortige Mauer von Büyükkale an. Sie war ohne Mörtel aus zwei etwa 2,7 Meter dicken Wänden aus grob zugerichteten Bruchsteinen erstellt, zur Füllung kamen Schotter und Lesesteine zur Verwendung. Die Gesamtstärke war auf 7,5 Meter ausgelegt. Am südwestlichen Fuß der Erhebung befand sich ein Torbau mit einem inneren Durchgang von 3,6 Metern und einem äußeren von 3,8 Metern Weite. Seitlich gab es zwei Torkammern von 11 Metern Breite, im Osten 3,5 und im Westen 3,0 Meter tief. Die Funde in diesem südwestlichen Bereich unterscheiden sich nicht wesentlich von den älteren, der größte Teil ist auch sekundär verlagert, stammt also aus älteren Bauphasen. Erwähnenswert sind zwei etwa armdicke Tonrohre, die an einem Ende verschlossen sind und eine dünne, düsenartige Durchbohrung aufweisen. Da sie an der Düsenstelle zu Glasfluss verbrannt sind, nehmen die Ausgräber an, dass ihr Zweck die Belüftung von Brennöfen war.Auf der Oberfläche des Berges sind nur geringe Reste der Poternenmauer zu identifizieren. Allerdings zeigt eine weiter östlich gefundene Poterne, dass sich die Mauer nach Osten zumindest 100 Meter weit fortsetzte. Der Tunnel war 37 Meter lang und führte vom südöstlichen Fuß des Burgbergs steil nach oben, um in den Bereich des späteren oberen Burghoftores zu münden. Er war mit zurechtgehauenen Bruchsteinen in Kragsteintechnik spitzbogig gebaut und hatte – wegen der starken Steigung von bis zu 35 Grad – eine Höhe zwischen 4,0 und 4,3 Metern. Eine zusammenhängende Bebauung des Gipfelplateaus ist nur im südlichen Teil zu erkennen. Die zahlreichen Häuser wurden auf dem Schutt der älteren Bauschichten gebaut und wurden selbst wiederum beim Bau der darüberliegenden Schichten planiert, abgetragen oder zerstört. Von vier Häusern ist noch durch Fundamentreste oder dazugehörige Vertiefungen der Grundriss erkennbar, von den anderen sind nur Reste oder Fußböden erhalten. Drei der Gebäude haben mehr als zwei Räume. Etwas weiter nördlich sind nochmals Gebäudespuren feststellbar, die allerdings nicht eindeutig der Schicht IVc zuzuordnen sind. Auffallend ist unter allen gefundenen Bauten eine große Zahl (mindestens sieben) von Zweiraum-Häusern, die sonst im vergleichbaren Zeitraum im Stadtgebiet von Ḫattuša nicht vorkommen. Es gilt als wahrscheinlich, dass es sich mindestens zum Teil nicht um Wohnhäuser, sondern um Werkstätten wie Schmieden gehandelt hat. Der anzunehmende Herrschersitz wird im nordöstlichen Teil von Büyükkale vermutet. Von Bedeutung für die Datierung ist einzig die sogenannte „Manda“-Tafel, ein Fragment einer in Keilschrift beschriebenen Tontafel, deren Inhalt sich auf Ereignisse in der Zeit von Ḫattušili I. bezieht und demnach in dessen Regierungszeit im 16. oder späten 17. Jahrhundert v. Chr. oder kurz danach verfasst sein dürfte. Als Beginn der Neubesiedlung nach dem erwähnten Brand wird die Zeit etwa 100 Jahre nach dem Ende der Karumperiode, also etwa um 1600 v. Chr., angenommen. Die Poternenmauer könnte die Befestigung sein, die Ḫantili I. (um 1520) nach eigener Aussage als erste Stadtmauer gegen die Angriffe der Kaškäer errichten ließ.
=== Großreichszeit ===
In den Schichten IVa und IVb sind erstmals Hinweise auf einen Palast im nördlichen Bereich des Bergplateaus ans Licht gekommen. Der älteste Befund ist das Haus J/IVb, das schon in der Epoche des frühen Großreichs wieder überbaut wurde. Es lag im Bereich des späteren Eingangs zum Haus D und war möglicherweise der Unterbau zu einer frühen Audienzhalle. Ebenfalls zur Periode IVb/a gehören zwei sogenannte Terrassenmauern im Osten und Norden des Berges. Die nordwestliche Mauer, unter den späteren Gebäuden E und F gelegen, ist 85 Meter lang, als Schalenmauer aus zugerichteten, teilweise zyklopischen Steinen ausgeführt. Sie hat eine Stärke von etwa 3 Metern und diente auf dem abschüssigen Terrain vermutlich sowohl als Stützmauer der südöstlich liegenden Gebäude als auch als Fundament darüber errichteter Bauwerke. Südöstlich anschließend wurden auf zwei Meter höherem Niveau einige Mauerreste eines Gebäudes ergraben. Die zweite Terrassenmauer liegt im Osten bei der Felsstufe, auf der Speichergruben gefunden wurden. Sie ist etwa doppelt so lang wie ihr nördliches Pendant, mit mehreren Knicken, wobei ihr Verlauf sich den Abstufungen des anstehenden Felsens anpasst. Ihr Aufbau entspricht dem der nördlichen Mauer, auch die Doppelfunktion als Stützmauer und Fundament dürfte die gleiche sein. Als Hinweis auf darüber stehende Gebäude werden auch die Spuren einer Pfeilerhalle, parallel zur östlichen Terrassenmauer, angesehen. Die Mauern wurden in den folgenden Perioden weiter als Substruktion der späteren Palastbauten genutzt. Für einen Nachfolgebau des Hauses J/IVb liegt ein Datierungsansatz in Form einer im darüberliegenden Schutt gefundenen Tontafel vor. Sie hat den sogenannten Bentešina-Brief zum Inhalt, der mit großer Wahrscheinlichkeit an Ḫattušili III. (Regierungsantritt etwa 1278 v. Chr.) gerichtet war. Er stellt jedoch nur einen terminus ante quem dar und kann nicht als Ende der Periode IVa/b für die restlichen Palastgebäude verallgemeinert werden. Die Bautätigkeit zur Umgestaltung des gesamten Burgbergs in Periode III setzte sicherlich schon früher an.Auf dem Südplateau konnten Reste verschiedener Gebäude (IV/A–H) ergraben werden, die im Bereich des unteren Burghofs im Schutz der Poternenmauer lagen. An letzterer wurden lediglich im Torbereich geringfügige Änderungen vorgenommen. Die Häuser sind in mehreren Phasen nacheinander entstanden und haben unterschiedliche Grundrisse. Zunächst wurden einige Gebäude ohne ersichtlichen architektonischen Zusammenhang, aber mit Verkehrswegen dazwischen erstellt. Anschließend schlossen sich die Häuser, wohl auch wegen des Mangels an verfügbarem Gelände, dichter zusammen und es entstand ein komplexes System von Gassen, Straßen und Kanälen. Bei einem der Häuser (Haus IVb/E), das etwa unter dem späteren Haus N lag, wird eine kultische Funktion vermutet, dort wurde ein bemaltes Paar Stiergefäße gefunden, die durch Füllöffnungen am Nacken und Ausgüsse durch die Nüstern als Libationsgefäße gedeutet wurden, als Gefäße für Trankopfer. Die anderen Häuser waren wohl Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Die meisten enthielten runde oder viereckige Feuerstellen, in Haus F wurden auch zwei Backöfen gefunden. Neben der bekannten Gebrauchskeramik gehörten zu den Funden neben den erwähnten Rhyta in Stierform ein Entenrhython, Pithoi, kleine Bronzegegenstände und verbranntes Getreide. Durch Architekturvergleiche mit datierten Bauten in der Unterstadt von Ḫattuša kann der Beginn von Schicht IVa/b frühestens auf das Ende des 15. Jahrhunderts v. Chr. festgelegt werden. Für das Ende der Periode zeigt der oben genannte Bentešina-Brief einen ungefähren Zeitpunkt an, sodass sich für die Dauer ein Zeitraum von 120 bis 140 Jahren ergibt.
=== Späte Großreichszeit ===
Ab dem späten 13. Jahrhundert v. Chr. begann unter Ḫattušili III. der monumentale Ausbau des Palasthügels. Die Spuren dieser Bebauung, der Schicht III, sind die, die heute hauptsächlich auf Büyükkale zu sehen sind.
==== Befestigung ====
Das komplette Burgplateau wurde nun für Regierungsbauten genutzt und ist an allen Seiten von einer Burgmauer umgeben. Im Südbereich ersetzte sie die frühere Poternenmauer, wurde jedoch nach oben versetzt. West-, Nord- und Ostmauern passten sich den Unebenheiten des Geländes an, auch die Standorte der 21 Türme oder Bastionen richteten sich meist nach vorhandenen Felsvorsprüngen. Der massive Mauersockel bestand aus Bruchsteinen, lediglich im Bereich der Tore und der Turmfassaden kamen Werksteine zum Einsatz. Darüber wurden Holzfachwerk und Lehmziegel verwendet, die auch Räumlichkeiten in der Mauer bildeten. Tore bestanden im Südwesten, Süden und Osten. Der Hauptzugang war das südliche Tor, das aus Südwesten über einen Viadukt erreicht wurde. Sein rekonstruierter steinerner Unterbau ist östlich der heutigen Straße zu sehen. Er trug einen hohen Aufbau aus Lehmziegeln und war vielleicht mit Balken gedeckt, über die auch Pferdewagen fahren konnten. Der Aufweg traf zunächst auf einen vier Meter tiefen Vorhof des Südtores. Dahinter folgten im Abstand von vier Metern zwei Durchgänge, der äußere drei, der innere vier Meter breit. Das Tor wurde von zwei Türmen flankiert, der östliche zwölf, der westliche acht Meter breit. Sie bargen im Westen die Wachstube, im Osten ein Treppenhaus, das in die Obergeschosse und auf den Wehrgang führte. Das Tor ähnelte damit im Aufbau den Toren in der Oberstadtmauer, dem Löwen-, dem Sphinx- und dem Königstor, wenn auch durch die Gegebenheiten in etwas kleineren Abmessungen. Wie das Löwentor war das Südtor mit Löwenskulpturen am äußeren Durchgang ausgestattet. Ein Fragment eines Löwenreliefs wurde am Abhang des Burgbergs gefunden. Ebenfalls in verstürzter Lage wurden vier Fragmente eines Inschriftensteins mit luwischen Hieroglyphen gefunden, die wohl im Mauersockel der Türme verbaut waren. Von der Inschrift ist allerdings zu wenig lesbar, um einen Hinweis für die Datierung geben zu können. Das Südwesttor ist in phrygischer Zeit beim Bau eines Tiefbrunnens komplett zerstört worden, erhalten sind lediglich ein Schwellen- und ein Laibungsstein. Demnach war es kleiner als das Südtor und die Tore der Stadtmauer in der Ober- und der Unterstadt. Das Tor war mit dem dahinter parallel zur Mauer verlaufenden Aufweg die direkte Verbindung in die Unterstadt, die wohl von Lieferanten, aber auch vom König auf dem Weg zu den dortigen Heiligtümern genutzt wurde. Unterhalb des Tors befand sich auch die einzige Quelle, die Büyükkale mit Wasser versorgte. Das zwischen Gebäude K und der von Norden kommenden Mauer liegende Osttor bot unter Umgehung der unteren Burghöfe einen direkten Zugang zum oberen Teil des Palastareals mit den Königsgemächern.Die Burgmauer umschließt als geschlossener Ring den Burgberg, mit Ausnahme der Stelle im Südosten, wo sie von Westen kommend an Gebäude K anschließt, während die von Norden kommende Ostmauer versetzt darauf trifft und dadurch den Durchgang für das Osttor bildet. Im Süden hat die Befestigung eine Stärke von etwa sieben Metern, die Türme sind bis zu zwölf Meter breit. An den anderen Flanken ist das Bauwerk wegen der natürlichen Gegebenheiten sehr unterschiedlich ausgeführt. Zwar war die Mauer selbst einheitlich etwa fünf Meter dick, die Länge der Kurtinen schwankte jedoch zwischen 14 und 41 Metern, die Breite der Türme zwischen 6,9 und 12 Metern, der Vorsprung der Bastionen zwischen 3,5 und 9 Metern. Die Türme überragten durchgängig die Mauer. Abhängig davon, ob Mauern und Türme ein- oder zweigeschossig waren, kann die Höhe auf 10 bis 12 Meter für die Kurtinen und 14 bis 18 Meter für die Türme angenommen werden. Während die südliche Mauer auf den Substruktionen der alten Poternenmauer gegründet war, setzte der Rest der Mauer auf dem gewachsenen Fels auf. Dieser wurde dafür in Stufen zugerichtet, oft mit einem Steg an der Außenseite, der das Abrutschen des Mauersockels verhindern sollte. Auf diesem Sockel aus Werk- und Bruchsteinen setzte dann das zweischalige Mauerwerk aus Holzfachwerk mit Lehmziegeln in Kastenbauweise auf, das heißt in unregelmäßigen Abständen waren Querwände in die Mauer eingezogen. Ob die dadurch entstandenen Räume begehbar waren, ist nicht allgemein zu klären. Die Turmfassaden waren in Werkstein errichtet. Auf der wahrscheinlich mit Tonplatten gepflasterten Oberfläche der Mauer verlief zwischen den Zinnen ein Wehrgang.Zur Datierung der Befestigung stehen zwei Schriftfunde zur Verfügung. Der erwähnte Bentešina-Brief, der in der Erdfüllung gefunden wurde, gibt einen terminus post quem an, zeigt also, dass der Ausbau in der Zeit Ḫattušilis III. (etwa 1266–1236 v. Chr.) oder später vorgenommen wurde. Das Fragment eines Orthostaten mit einer Herrscherkartusche von dessen Sohn Tudḫaliya IV. (etwa 1236–1215 v. Chr.) führt zur Feststellung, dass in dessen Regierungszeit die Bauarbeiten fortgesetzt wurden.
==== Innenbebauung ====
Gleichzeitig mit der Errichtung der Befestigung wurde der Ausbau des Palastes vorangetrieben, sodass schließlich die komplette Oberfläche des Burgfelsens dafür genutzt wurde, die Siedlung im südlichen Bereich verschwand. Über den Viadukt im Süden betrat man durch das Südtor zunächst den etwa dreieckigen Burgtorhof, der im Süden und Westen von der Burgmauer umgeben war. Im Nordosten befand sich der Eingang zum nächsten Hof. Ein rot gepflasterter Weg führte dorthin, vergleichbar dem heutigen roten Teppich, woraus ersichtlich wird, dass hier der offizielle Eingang für Besucher des Herrschers war. Der Weg setzte sich über den unteren Burghof und einen weiteren Torbau zum mittleren und schließlich zum oberen Burghof fort. Der untere Burghof war beidseitig von Säulenhallen begrenzt, die vor den dortigen Gebäuden verliefen. Dies waren auf der linken, nordwestlichen Seite die Gebäude M, N und H, rechts die Gebäude G und A. M und G, die sich auch im Grundriss ähneln, dienten wohl repräsentativen Zwecken beziehungsweise waren Residenzen hochgestellter Hofbeamter. Gebäude N, das links zwischen M und H lag, war ein kleines Torhaus. Dahinter endete der zum Südwesttor hochführende Aufweg, womit hier ein aus der Unterstadt und von der erwähnten Quelle kommender Zugang zum unteren Burghof zur Verfügung stand. Die Gebäude waren, wie nahezu alle Häuser des Burgbergs, mindestens zweigeschossig, wobei wegen der Hanglage meist der Zugang im oberen Stockwerk lag.In der Nordecke des Hofes, vor Gebäude H, befand sich ein Durchgang, der zum Komplex der Häuser B, C und H führte. Dieser Weg verlief zwischen einem Verbindungsbau und Haus B, wendete sich an dessen Ostecke nach Westen, wo dann über eine zwischen B und C verlaufende Gasse die drei Gebäude erschlossen wurden. Bei der Biegung nach Westen gab es außerdem einen – nachträglich eingebauten – Zugang zum großen Repräsentationsbau D. Haus B ist in zehn unterschiedlich große Räume aufgeteilt, die sich dem Gefälle des Untergrunds folgend über verschiedene Ebenen verteilen. In einem der Räume wurden 24 Bruchstücke von Keilschrifttafeln gefunden. Das nordwestlich liegende, etwa quadratische Gebäude C besteht aus sechs Räumen. Neben zahlreichen Keramikteilen wurde hier eine Stele mit einer Hieroglypheninschrift gefunden, die den Namen Tudhaliya (wahrscheinlich IV.) nennt. Sie war allerdings, vielleicht als Schwellenstein, zweitverwendet und ist daher stark abgeschliffen. Der zentrale Raum war kellerartig eingetieft und mit Wasserbecken als Impluvium gebaut. Damit ist eine kultische Funktion des Hauses anzunehmen, wohl gemeinsam mit Haus B. Es war eines der wenigen eingeschossigen Häuser. Südwestlich schließt sich, durch eine Zugangsgasse getrennt, Haus H an. Beide sind durch die nordwestliche Stützmauer miteinander verbunden. H wird mit seinen vier langrechteckigen Räumen in zwei Etagen als Magazin angesehen. Den nordöstlichen Abschluss des unteren Burghofs bildete ein Torbau, der ebenso wie das Südtor von Torlöwen flankiert wurde. Wegen des Niveauunterschieds von etwa einer Geschosshöhe zum folgenden, mittleren Burghof war der Durchgang als Rampe oder – aus Platzgründen wahrscheinlicher – als Treppe gestaltet. Im Bauschutt wurden Fragmente eines liegenden Löwen gefunden, der wohl im Durchgang aufgestellt war, sowie ein Bruchstück mit einer teilweise erhaltenen Herrscherkartusche Tadhaliyas, der demnach als Erbauer der Toranlage angenommen werden kann. Der Torbau war mehrstöckig und enthielt zwölf Räume, die Sockel waren wie beim Südtor aus Werksteinen.Mit dem mittleren Burghof betritt man den inneren Palastbereich. Der Hof war an drei Seiten, im Nordwesten, Nordosten und Südosten von Säulenreihen gesäumt. Den südwestlichen Abschluss bilden das Gebäude A und ein weiteres, kleines Tor in der Südecke des Hofs. Auf der linken, nordwestlichen Seite liegt hinter der Kolonnade das Gebäude D, das nach Süden durch einen Verbindungsbau mit dem Torhaus zusammenhängt. Haus D ist mit 39 × 48 Metern das größte Bauwerk dieser Periode. Es bestand zunächst aus 14 Räumen, in einer späteren Bauphase wurde an der Südecke ein kleiner Raum, der erwähnte Seiteneingang bei Haus B, angebaut sowie im Südosten ein Vorbau mit dem Haupteingang. Ebenfalls im Südosten lagen sechs kleinere Räume, die den Eingang mit dazugehörigen Seitengemächern bildeten. Im Südwesten nimmt ein langgestreckter Raum fast die gesamte Länge des Gebäudes ein. Den Rest des Hauses bilden sechs gleiche, ebenfalls langrechteckige Räume, wobei von einem eine kleinere Kammer abgetrennt ist. Aufgrund der extremen Hanglage weisen ihre Fußböden von Nordwest nach Südost einen Niveauunterschied von über sechs Metern auf. Sie liegen parallel zum Hang im Nordwesten und bilden gemeinsam ein nahezu exaktes Quadrat von 35,3 × 35,5 Metern. Sie stellten den Unterbau des darüberliegenden Audienzsaales des Großkönigs dar, wobei über den Wänden des Untergeschosses Reihen von Säulen oder Pfeilern standen, die die Saaldecke trugen. Aufgrund der Wandabstände können demnach fünf mal fünf Stützen, vermutlich aus Holz, angenommen werden. Im Bereich der Eingangsräume und dem davorliegenden Teil des Hofes wurden zahlreiche Bruchstücke von Skulpturen, Löwen und Stieren, gefunden. Sie waren wahrscheinlich Säulenbasen der vorliegenden Säulenhalle. In den Räumen des Untergeschosses kamen außerdem eine Anzahl von Tontafelbruchstücken und ein Hort von 280 gesiegelten Tonplomben zu Tage. Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Gebäude um ein repräsentatives Empfangsgebäude mit angeschlossenem Dokumentenarchiv handelte. Die langen Räume des Untergeschosses dienten zusätzlich wohl als Lagerräume.Den südwestlichen Abschluss des mittleren Burghofs bildet das Gebäude A, das sich südöstlich an den Torbau anschließt. Es bedeckt eine Grundfläche von maximal 36 × 34 Metern. Es besteht, dem nach Süden abfallenden Gelände entsprechend aus einem oberen und einem unteren Gebäudetrakt. Der obere Trakt hat hauptsächlich zwei, zum mittleren Burghof parallel liegende Langräume, wobei vom südlichen zwei kleine Kammern abgetrennt sind. Eine davon hat im Westen einen Eingang vom unteren Burghof. Der südliche Gebäudeteil, der im Westen an den unteren Burghof anstößt, besteht aus fünf länglichen, quer zum oberen Teil liegenden Räumen. In den vier größeren davon wurden Reihen von Kalkstein- und Granitbasen mit Dübellöchern gefunden. Ob die darauf stehenden Pfeiler der Abstützung der Decke und des Obergeschosses dienten, ist unklar. Wahrscheinlicher ist es, dass sie zu in den Räumen stehenden Regalen gehörten. Im Brandschutt und auf den lehmgestampften Fußböden kamen an die 4.000 Bruchstücke von Tontafeln zu Tage. Das Gebäude wird daher als Magazin und Archiv angesehen, wobei im oberen Trakt vielleicht Verwaltungsräume und eine Schreiberschule untergebracht waren. Im Osten schließt sich ein kleiner Torbau an. Er führt auf einen weiteren Hof, der im Süden durch das Osttor der Burg betreten werden konnte. Dort liegt, in Fortsetzung der von Westen kommenden Burgmauer, das Gebäude K. Dieses hat eine Grundfläche von 27,5 × 22,5 Metern. Es besteht aus einem Kerngebäude mit drei unterschiedlich großen Zimmern sowie elf Kammern, die sich in zwei Reihen im Nordwesten und Nordosten an den Kernbau anschließen. Letztere wurden nach einem Brand des Gebäudes in einer zweiten Bauphase angebaut. In einem Raum des Altbaus wurden in den Ecken wiederum Stützenbasen gefunden, die auf Regale hindeuten. Da im Schutt mehr als 200 Tontafelbruchstücke ans Licht kamen, wird angenommen, das es sich auch hier um ein Archiv handelt. Insgesamt wird dem Bau eher eine repräsentative Funktion zugeordnet, wobei die kleinen, kammerartigen Gelasse an den nördlichen Seiten wohl vorgelagerte Pfeilerhallen darstellten. Diese Funktion könnte mit dem unmittelbar östlich anschließenden Osttor der Burg zusammenhängen.Nordwestlich von Gebäude K liegt der als Südgasse bezeichnete Bereich. Er wird im Süden von K, der Burgmauer und dem darin integrierten Gebäude J begrenzt, im Norden von den Rückseiten von A und G. Von der Südseite von Haus G setzt er sich als schmale, steil abfallende Gasse entlang der Mauer bis zum Burgtorhof fort. Der Bereich war ursprünglich mit Steinen gepflastert und verfügte über einen darunter liegenden Kanal, der über den Burgtorhof zum Westhang hin entwässerte. Zwischen Haus G und der Burgmauer war der Bereich durch eine kurze Mauer von der schmalen Gasse getrennt. In einer späteren Bauphase wurde eine 35 bis 50 Zentimeter dicke Lehmschicht mit darin verlaufender Kanalisation aufgebracht. Die Trennmauer wurde an das Westende zum Burgtorhof hin versetzt, vom Durchgang wurden eine Schwelle und das Türgewände ergraben. Etwa zehn Meter westlich von Haus K war in die Burgmauer das Gebäude J eingebaut. Es war 20 Meter lang und ragt im Norden etwa 2,50 Meter aus der Mauer heraus. Es besteht aus zehn kleinen, unterschiedlichen Räumen, sein südlicher Teil ist mitsamt der Burgmauer abgestürzt. In der Mitte des Südplatzes liegt, etwa parallel zum Haus, ein Wasserbecken. Es misst an der längsten Stelle 24,0 Meter von West nach Ost, die Breite beträgt im Osten 5,0 und im Westen 1,5 Meter. Darin wurden zahlreiche Votivgaben – Henkelkrüge, Becher, Schalen – gefunden. Daraus folgert, dass das Becken und der Platz einschließlich der umliegenden Gebäude unter anderem eine kultische Bedeutung hatten. Eine zusätzliche Funktion des Beckens zur Wasserversorgung der Burg ist jedoch ebenfalls wahrscheinlich.Der südöstliche Abschluss des mittleren Burghofs ist unsicher, vielleicht war er durch eine Pfeilerreihe begrenzt. Über die Bebauung des stark verstürzten Bereichs zwischen dieser angenommenen Trennreihe und der Burgmauer ist nichts bekannt.
Im Nordosten schließt sich, vermutlich wiederum durch eine Pfeilerreihe getrennt, der obere Burghof an. Dessen südöstliche Begrenzung stellt eine 24,5 Meter lange und bis zu 2,2 Meter hohe künstliche Felsstufe dar. Davor sind Pfeilerbasen zu erkennen, sowohl direkt an der Barriere als auch – korrespondierend dazu – in einem Abstand von 2 Metern davor liegend, was sicherlich auf eine vorgebaute Pfeilerhalle (L) hindeutet. Auf der östlichen Oberfläche der Felsstufe sind im dort anstehenden Felsen Bebauungsspuren zu erkennen, genauere Angaben über dort vorhandene Gebäude sind jedoch wegen der späteren, phrygischen Überbauung nicht möglich. Es deutet sich an, dass sich die Vorhalle nach Süden fortsetzte und somit den Ostabschluss des mittleren Burghofs bildete. Am Südende der Felsbarriere weisen nach Westen liegende Baureste darauf hin, dass hier nicht nur eine Pfeilerreihe, sondern auch ein Torbau die beiden Höfe getrennt haben könnte. Teile von Türangelsteinen und eines schön ausgearbeiteten Löwenkopfes lassen gar einen monumentalen Torbau mit Torlöwen vermuten. Zwei Vertiefungen auf der Oberfläche der Felsstufe stellten wohl Vorratsgruben oder Zisternen aus früherer, möglicherweise vorhethitischer Zeit dar, ihre genaue Datierung ist unsicher. Wie weit sich der Hof nach Norden und Nordwesten erstreckte, ist nicht geklärt. Auf dem freien Platz im Norden sind keine Bebauungsspuren feststellbar. Im Nordwesten liegen die Gebäude E und F, jedoch ist wegen des Höhenunterschieds von fünf Metern zwischen dem Hof und den Häusern unwahrscheinlich, dass sich der Hof bis an die Gebäude erstreckte. Sie waren zweigeschossig, wobei wieder das Obergeschoss von der Hofseite aus zu betreten war. Der südwestliche Bau E misst 26,6 × 22,2 Meter und hat 13 Räume. Der zentral gelegene, größte von diesen wurde über einen hofseitig vorgelagerten Eingangsraum betreten, der vielleicht als Säulenhalle gestaltet war. Die umliegenden Zimmer hatten, ebenso wie die des Untergeschosses, vermutlich Lager- und Archivfunktionen. In zwei der unteren Zimmer wurden wieder zahlreiche Tontafelfragmente gefunden. Haus F liegt am äußersten Ende der Nordterrasse und hat Maße von 33,1 × 29,2 Meter. Es ist erheblich schlechter erhalten, weshalb sich weniger über die einzelnen Räume aussagen lässt. Das Zentrum bilden fünf parallel liegende langgestreckte Räume. Dies könnte bedeuten, dass sich darüber, analog zu Haus D, eine Säulenhalle befand. Sicher lässt sich sagen, dass beide Gebäude, abseits des repräsentativen Bereichs der Burg, die Privatgemächer des Herrscherpaares darstellten. Beide bieten einen prachtvollen Ausblick über die gesamte Unterstadt und große Teile der Oberstadt von Ḫattuša. Es ist anzunehmen, dass auch die nicht mehr feststellbaren Gebäude im Nordosten des Plateaus zum Privatbereich des Großkönigs gehörten.Zur Datierung der spätgroßreichszeitlichen Bauten wird diese Periode in drei Bauphasen unterteilt, III c, b und a. In der ersten Phase III c, die wohl in die Regierungszeit Ḫattušilis III. (etwa 1266–1236 v. Chr.) fällt, wurden auf den Grundmauern und Substruktionen des alten Palastes im nordöstlichen Bereich neue Gebäude errichtet. Die zweite Phase III b wird in die Zeit Tudhaliyas IV. (etwa 1236–1215 v. Chr.) datiert, der den monumentalen Ausbau der gesamten Palastanlage in Angriff nahm, was auch aus verschiedenen gefundenen Inschriften hervorgeht, die seinen Namen nennen. Phase III a schließlich zeigt zum Teil nachlässige und improvisiert erscheinende Reparatur- und Neubauaktivitäten, wahrscheinlich nach einem Brand, sie lag vermutlich in der Zeit von Tudhaliyas Nachfolgern Arnuwanda III. (etwa 1215 bis 1214 v. Chr.) und Šuppiluliuma II. (etwa 1214 bis 1190 v. Chr.), den letzten bezeugten Herrschern des Hethiterreiches vor dessen Untergang.Die im Verhältnis zu anderen ausgegrabenen Palastanlagen geringe Funddichte bei Einrichtungsgegenständen und sonstigen Fundstücken auf Büyükkale lässt darauf schließen, dass der nach 1190 vollzogene Auszug ohne Fremdeinwirkung in geordneten Bahnen vor sich ging. Die Bewohner waren in der Lage, wichtige Utensilien mitzunehmen und ließen lediglich ihnen unwichtig erscheinende (oder schwere) Gegenstände wie beispielsweise die Tontafeln zurück. Vorhandene Spuren von Bränden wie an den königlichen Palästen stammen wahrscheinlich aus einer Zeit, in der die Stadt bereits verlassen war.In einer Grube bei Gebäude G sowie im Grabungsschutt im Bereich der südlichen Befestigung kamen – ebenso wie in den Tempeln 5 und 9 der Oberstadt – einige Fragmente von Wandmalereien zu Tage. Die kleinen und schlecht erhaltenen Bruchstücke sind zwischen 0,2 und 0,55 Zentimetern dick und bestehen aus ein bis zwei Putzschichten, gelegentlich ist unter der Farbe noch eine weiße Grundierung feststellbar. Die verwendeten Farben sind neben Schwarz und Weiß hauptsächlich Rot, Blau und Ockergelb. An Motiven sind Rosetten, Spiralen und Bänder zu erkennen. Die Malereien werden in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts v. Chr. datiert.
=== Nachhethitische Zeit ===
Nachdem Ḫattuša im frühen 12. Jahrhundert v. Chr. verlassen worden war, waren zwar andere Teile der Stadt, zum Beispiel Büyükkaya, nach einiger Zeit von einfachen, anatolischen Einwohnern wieder besiedelt worden, möglicherweise auch von Kaškäern. Scheibengedrehte Keramik mit deutlich hethitischen Merkmalen führt zu der Annahme, dass in dieser eisenzeitlichen Bevölkerung auch noch hethitische Elemente vertreten waren. Auf Büyükkale jedoch setzte eine Besiedlung erst wieder zu Beginn des 8. Jahrhunderts v. Chr. ein. Dass es sich bei den neuen Einwohnern um Phryger handelte, ist anhand von zahlreichen Funden, darunter auch Inschriften, belegbar.
==== Phrygische Besiedlung ====
In den ersten, nicht vor dem 8. Jahrhundert v. Chr. beginnenden Bauphasen IIb und IIa entstand im Südteil des Plateaus bis hinauf zum ehemaligen oberen Burghof eine unbefestigte Siedlung. Sie bestand vorwiegend aus ein- oder zweiräumigen Häusern, darunter einige sogenannte Grubenhäuser. Bei diesen war ein unterer Teil der Räume ins Gelände eingetieft. Etwas höher gelegen, im Bereich des oberen Burghofes befand sich vermutlich die Residenz des Herrschers. Da die Bauten dieser Phasen zum größten Teil in der folgenden Zeit überbaut wurden, sind nur spärliche Reste davon nachweisbar. Das Ende dieser altphrygischen Phase wurde oft mit den Kimmerer-Einfällen gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. in Verbindung gebracht. Andreas Schachner hält diese Erklärung für unhaltbar, da zum einen die Kimmerer in Zentralanatolien nirgends nachweisbar seien und auch die Datierung der Zerstörung von Gordion, die mit den Kimmerern in Verbindung gebracht wurde, nicht gesichert sei. In dieser Zeit wurde die Unterstadt Ḫattušas zerstört und gebrandschatzt, auf Büyükkale sind davon jedoch keine Spuren feststellbar.Im Zuge der anschließenden erneuten Besiedlung mit den Bauphasen Ib und Ia wurde der Hügel wieder befestigt, sodass nun erstmals ein kompletter Stadtkomplex mit Siedlung, Herrscherpalast und Stadtmauern auf dem Büyükkale Platz fand.
Die Befestigungsmauern entstanden im Südwesten, Süden und Südosten und folgten, lediglich etwas nach oben versetzt, der hethitischen Anlage. Im Unterschied dazu waren sie jedoch nicht in Kastenbauweise, sondern massiv und damit insgesamt schwächer gebaut. Bis auf wenige Ausnahmen waren sie auch vollständig aus Bruchsteinen errichtet, Ziegel wie bei der hethitischen Mauer kommen nur an einem Torbau vor. Die Abstände zwischen den Türmen waren sehr unterschiedlich, die Kurtinen hatten Längen von bis zu 35 Metern. Die Türme, die vermutlich die Mauern überragten, waren nicht in sie integriert, sondern eigenständige Baukörper. Die Kurtinen waren an sie heran oder dahinter vorbei geführt. Die Befestigung hatte im Westen und Südosten jeweils ein älteres und ein jüngeres Tor. Davon ist das jüngere Südosttor bemerkenswert, da es durch seine monumentale Ausgestaltung an die hethitischen Toranlagen erinnert. Neben Opferplätzen und Bildwerken konnte dort eine Kultnische festgestellt werden, in der eine Statue der Kybele stand. Von einem Brunnen, der bei der Quelle am Südwesthang des Hügels angelegt wurde, führt ein Treppenaufgang zur Südwestbastion.Die Innenbebauung ist in der jünger-phrygischen Epoche in drei Abschnitte aufgeteilt, die durch zwei Mauern erfolgte, eine von Nord nach Süd und eine zweite, im nördlichen Teil winklig daran nach Osten anschließende. Im nördlichen Bereich, etwa identisch mit dem hethitischen oberen Burghof, lag der Palast. Er hatte insgesamt Trapezform und maß von West nach Ost etwa 30 Meter, von Nord nach Süd zwischen 16 Meter im Osten und 25 Meter im Westen. Er wurde von einem Hof im Norden durch eine Art Vorhalle betreten, die aus fünf kleinen Gelassen bestand. Der zentrale Raum von 8 × 11 Metern war von Räumen in Doppelreihen umgeben. Den südlichen Abschluss bildete die genannte Abschnittsmauer, im Westen lagen verschiedene, dazu gehörige Wirtschaftsgebäude. Die beiden anderen Abschnitte waren Wohnquartiere. Dabei gab es eine Reihe von rechteckigen Gebäuden, die als Werkstätten, Magazine und auch Verwaltungs- und Kultgebäude interpretiert werden. Bei anderen, weniger rechtwinklig angelegten Häusern handelte es sich um reine Wohngebäude. Allgemein verdichtete sich in dieser späteren Phase die Bebauung, die sich nach einem durch die Tore bestimmten Wegesystem richtete, was zu der unregelmäßigen Bauweise führte. Im Unterschied zur hethitischen Zeit sind die phrygischen Häuser ausschließlich aus Bruchsteinen erbaut, von Lehmziegeln sind keine Spuren erhalten. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass in möglicherweise vorhandenen, aber nicht nachweisbaren Obergeschossen solche zum Einsatz kamen.Der Beginn der zweiten phrygischen Bebauungsphase wird auf den Anfang des 7. Jahrhunderts v. Chr. datiert. Ihr Ende lag wahrscheinlich frühestens am Übergang vom 6. zum 5. Jahrhundert, als das Südosttor zerstört wurde. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass die Siedlung noch – unbefestigt – lange danach weiter bestand.
==== Hellenistische und römische Bebauung ====
In hellenistischer und römischer Zeit existierte nochmals eine befestigte Siedlung auf dem Büyükkale, von der allerdings nur spärliche Reste erhalten sind. Dazu gehören zwei Mauersockel einer Befestigung im Südosten und Südwesten, jedoch ohne Türme oder Bastionen. Sie bestand wie die phrygische Mauer aus Schalenmauerwerk mit einer Verfüllung aus Geröll. An zwei Stellen gibt es an die Mauer anschließende Gebäudespuren, die wahrscheinlich zu Räumen für Wachmannschaften gehörten. Andere Mauerreste im Inneren der Befestigung könnten Wohnräume darstellen. Durch Kleinfunde lassen sich die Gebäude auf hellenistische beziehungsweise römische Zeit datieren. Der Beginn dieser Bebauungsperiode kann auf das späte 2. Jahrhundert v. Chr. datiert werden, das Ende wohl in die spätere römische Kaiserzeit im 3. Jahrhundert n. Chr. Es gibt keine Hinweise auf eine längere Bebauungspause zwischen phrygischer und hellenistischer Zeit.Einzelfunde wie Münzen und Keramik aus byzantinischer, seldschukischer und osmanischer Zeit bestätigen, dass sich auch in späteren Epochen Menschen auf Büyükkale aufhielten. Architektonische Zeugnisse sind davon nicht vorhanden.
== Tontafeln ==
In Ḫattuša wurden insgesamt 30.000 beschriftete Tontafeln gefunden. Allein 4.000 davon entfallen auf das Archiv in Haus A der Spätzeit. Kurt Bittel vermutet aufgrund der Fundsituation, dass sie in Holzregalen, möglicherweise im Obergeschoss, gelagert waren. Auch in den Gebäuden E und K bestanden umfangreiche Tontafelarchive. Die ältesten stammen aus der Zeit der assyrischen Handelskolonien, die meisten jedoch aus hethitischer Zeit. Sie sind außer in hethitischer und assyrischer Sprache in den Sprachen Hurritisch, Palaisch, Luwisch und Hattisch abgefasst. Die Texte haben profane ebenso wie religiöse Inhalte. Dazu gehören Kaufverträge (speziell aus der Karumzeit), Korrespondenz mit auswärtigen Herrschern, Verträge, aber auch Dienst- und Kultvorschriften.
Obwohl die Texte sehr zahlreich sind, bezieht sich keiner von ihnen auf den Palast. Einzig ein Fragment, von dem leider nur die erste Tafel vorhanden ist, lässt Rückschlüsse auf eventuelle Funktionen der Palastarchitektur zu. Es handelt sich um den sogenannten Mešedi-Text, eine Dienstvorschrift für Bedienstete des Palastes. Die Tafel wurde Anfang des 20. Jahrhunderts im westlichen Teil des Burghügels von Winckler und Makridi gefunden. Aufgrund der fehlenden Dokumentation der Grabung ist der genaue Fundort nicht mehr nachvollziehbar. Der Text ist in der älteren Großreichszeit entstanden, lässt sich aber auch auf die letzte Bauphase des Burgbergs beziehen. Der Text erwähnt im Palastbereich zwei getrennte Höfe, den Hof des Ḫalentuva-Hauses, womit der Wohnsitz des Herrschers gemeint ist, und den Hof der Leibwache (Mešedi-Hof), der daran grenzt und auf oder an dem Gerichtsverhandlungen und Empfänge stattfanden. Beide verfügen über verschiedene Tore, dazu gehören das Große Tor (É ḫilammar) und das Kaškaštepa-Tor des Wohnpalasts, auch ein unteres und ein oberes Tor werden erwähnt. Ersterer Hof kann wohl mit dem oberen Burghof gleichgesetzt werden, der Mešedi-Hof ist vermutlich der mittlere Burghof mit dem Audienzgebäude D. Das Kaškaštepa-Tor bezeichnet den Eingang vom mittleren zum oberen Burghof, das Große Tor dürfte als dasjenige vom unteren zum mittleren Hof zu deuten sein. Der Eingang mit der Vorhalle von Haus D könnte das erwähnte untere Tor sein. Ein Ort mit der Bezeichnung É arkiu, bei dem es sich wohl um eine Art Kapelle handelte, in der der König vor Verlassen des Palastes sein Gebet verrichtete, ist möglicherweise mit dem Heiligtum im Zentrum von Gebäude C zu identifizieren. Maciej Popko identifiziert noch einige andere Tempel auf Büyükkale, allerdings sind diese Lokalisierungen sehr spekulativ. Im Zusammenhang mit den Toren werden Arsenale erwähnt, in denen die Waffen gelagert wurden, die die Bediensteten der Garde beim Verlassen des Geländes beim jeweiligen Pförtner abzugeben hatten.
== Literatur ==
Kurt Bittel: Hattuscha – Hauptstadt der Hethiter. Geschichte und Kultur einer altorientalischen Großmacht. DuMont, Köln 1983, ISBN 3-7701-1456-6, S. 87–132.
Peter Neve: Büyükkale – Die Bauwerke. Grabungen 1954–1966. Gebr. Mann, Berlin 1982, ISBN 978-3-7861-1252-5.
Jürgen Seeher: Hattuscha-Führer. Ein Tag in der hethitischen Hauptstadt. 2. überarb. Auflage, Ege Yayınları, Istanbul 2002, ISBN 975-8070-48-7, S. 102–115.
Andreas Schachner: Hattuscha – Auf der Suche nach dem sagenhaften Großreich der Hethiter. C. H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-60504-8, S. 71–82.
Maciej Popko: Zur Topographie von Ḫattuša: Tempel auf Büyükkale. In: Harry A. Hoffner (Hrsg.): Hittite Studies in Honor of Harry A. Hoffner, Jr: On the Occasion of His 65th Birthday. Eisenbrauns, 2003, ISBN 978-1-57506-079-8, S. 315–323.
== Weblinks ==
Royal Citadel in Hattusa – Turkish Archaeological News
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCy%C3%BCkkale
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Senat Momper
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= Senat Momper =
Der Senat Momper amtierte vom 16. März 1989 bis zum 24. Januar 1991 zunächst als Regierung von West-Berlin und nach der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 gemeinsam mit dem Ostberliner Magistrat Schwierzina als Regierung des neuen Landes Berlin. Nach dem überraschenden Wahlsieg bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus am 29. Januar 1989 löste die rot-grüne Koalition zwischen den Berliner Sozialdemokraten (SPD) und der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) die bisherige CDU/FDP-Regierung unter Eberhard Diepgen ab. Regierender Bürgermeister wurde Walter Momper (SPD). Das SPD/AL-Bündnis war nach dem Kabinett Börner III in Hessen (1985 bis 1987) die zweite rot-grüne Landesregierung in Deutschland. Der Fall der Berliner Mauer bedeutete eine Zäsur sowohl für Berlin als auch in der zwanzigmonatigen Amtszeit des Senats. Ab der Vereinigung Deutschlands und Berlins amtierte der Senat Momper mehr als drei Monate lang gemeinsam mit dem Magistrat Schwierzina als Gesamtberliner Regierung. Nach andauernden Konflikten stieg die AL am 15. November 1990, zwei Wochen vor ohnehin angesetzten Neuwahlen des Abgeordnetenhauses, aus der Koalition aus. Anlass war eine von Innensenator Erich Pätzold (SPD) veranlasste Räumung von besetzten Häusern in der Mainzer Straße. Bei der ersten Gesamtberliner Wahl zum Abgeordnetenhaus am 2. Dezember 1990 erlitten sowohl die SPD als auch die AL schwere Verluste.
== Voraussetzungen ==
=== Der CDU/FDP-Senat unter Eberhard Diepgen ===
In der ehemaligen SPD-Hochburg West-Berlin stellte die CDU seit 1975 die stärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus und seit 1981 den Regierenden Bürgermeister. Die Sozialdemokraten, die bei der Wahl 1963 mit 61,9 Prozent ihr zweitbestes Ergebnis in der Berliner Nachkriegsgeschichte erzielen konnten, hatten seit dieser Wahl bei annähernd jedem Urnengang Verluste erlitten. Nachdem Richard von Weizsäcker 1984 zum Bundespräsidenten gewählt worden war, regierte Eberhard Diepgen einen CDU/FDP-Senat. Diepgen, der als wenig charismatischer Technokrat und Strippenzieher galt, war bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus vom 10. März 1985 klar bestätigt worden. Im Abgeordnetenhaus war die CDU mit 69 Mandaten vertreten, die SPD erhielt 48, die Alternative Liste 15 und die FDP 12 Sitze.
Über die gesamte 10. Legislaturperiode zog sich die Aufdeckung des Antes-Skandals hin. Bis zum Regierungswechsel 1981 war es die SPD gewesen, die von der Garski-Affäre über die Kreisel-Affäre und andere im sogenannten „roten Sumpf“ oder „Berliner Filz“ steckte. Am Beziehungsgeflecht zwischen öffentlicher Hand und Privatwirtschaft in der Inselstadt hatte jedoch auch Richard von Weizsäcker nichts ändern können, der in seiner Regierungserklärung das etablierte System der Vorteilnahme und Ämterpatronage noch heftig als „Beutepolitik der Parteien“ kritisiert hatte. Im Gegenteil verfestigte sich das Korruptionssystem unter der CDU-Regierung noch. Das persönliche, überaus enge Netzwerk einer Gruppe von hochrangigen CDU-Politikern, auf dem Diepgens Position beruhte, erwies sich nun als Teil dieses Systems. CDU-Bausenator Klaus Franke und FDP-Umweltsenator Horst Vetter mussten ihre Hüte nehmen, Innensenator Heinrich Lummer sein Amt zudem wegen einer früheren Zusammenarbeit mit der NPD aufgeben. Die CDU bagatellisierte den Skandal und sah sich in der Rolle eines Opfers einer „Schmutz- und Schundkampagne“.
=== Wahlkampf ===
Allen Skandalen zum Trotz war Diepgen in Berlin relativ populär, auch wenn er als eher blass galt und weit entfernt davon war, eine ähnliche Verehrung zu genießen wie etwa von Weizsäcker, Willy Brandt oder Ernst Reuter. Verschiedene Umfragen ergaben, dass sich zwischen den Spitzenkandidaten Eberhard Diepgen und Walter Momper etwa 60 Prozent der Berliner für Diepgen entschieden hätten, wenn sie den Regierenden Bürgermeister direkt hätten wählen können. Er profitierte von einer dichten Reihe von Großveranstaltungen anlässlich der 750-Jahr-Feier 1987 sowie als West-Berlin 1988 als Kulturstadt Europas fungierte, die die politischen Probleme Berlins und die Affären der CDU zu überstrahlen schienen. So setzte die CDU ganz auf den Bürgermeisterbonus. Die meisten Wahlplakate zeigten ein Porträt des Regierenden Bürgermeisters mit dem Wahlkampfslogan „Ihn braucht Berlin“, später „Ihn will Berlin“.Die SPD vermied es dagegen, die Wahl zu personalisieren, und stellte ihren Spitzenkandidaten Walter Momper, Fraktionsvorsitzender der SPD seit März 1985 und Parteivorsitzender seit Juni 1986, im Wahlkampf nicht besonders heraus. Sie konzentrierte sich auf traditionell sozialdemokratisch besetzte Politikfelder. Ab 1987 begannen Kampagnen zur Mietpreisbindung, zur Gestaltung des Flächennutzungsplans, zur Gleichstellung der Frauen und gegen die Gesundheitspolitik der Bonner CDU/FDP-Koalition.Der Wahlkampf wurde, je näher der Wahltag heranrückte, immer inhaltsleerer. Die Parolen auf den Wahlplakaten wirkten austauschbar und teilweise unverständlich: „Frohes neues Berlin“ (CDU), „Berlin ist Freiheit“ (SPD) oder „Ein frohes 1993“ (FDP). Lediglich die AL griff offensiv Themen auf, die der Bevölkerung wichtig waren, vertraute jedoch auf das alternative Milieu und scheute kostenträchtige Werbemaßnahmen. Kurz vor der Wahl polarisierte und polemisierte die erstmals antretende rechtsextreme Partei Die Republikaner mit ausländerfeindlichen und autoritär akzentuierten Fernsehspots sowie mit einer Veranstaltung, die von dem Bundesvorsitzenden Franz Schönhuber dominiert und von heftigen Gegendemonstrationen begleitet wurde.
=== Die Haltung von SPD und AL zu einer rot-grünen Koalition vor der Wahl ===
Da in der Bundesrepublik der Ansehensverlust der CDU/FDP-Bundesregierung unter Helmut Kohl scheinbar unaufhaltsam voranschritt, sich eine Wechselstimmung abzeichnete und eine rot-grüne Mehrheit bei der Bundestagswahl im Dezember 1990 möglich schien, hätte eine SPD/AL-Regierung in Berlin als Testfall für eine rot-grüne Bundesregierung dienen können. Weil es vor der Wahl aber nahezu unvorstellbar erschien, dass die SPD und die Alternative Liste die etwa zwölf Prozentpunkte Rückstand auf die CDU/FDP-Regierung würden aufholen können, gingen die AL und mehr noch die Sozialdemokraten in den Wahlkampf, ohne eine mögliche gemeinsame Koalition ernsthaft geprüft zu haben.
Angesichts des prognostizierten Wahlausgangs fiel es der SPD leicht, ein Bündnis mit der AL auszuschließen und so verschreckte Wähler zu beruhigen. Die AL hatte sich dagegen dazu durchgerungen, ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten zu erklären, nachdem sie noch im Vorfeld der Wahl zum Abgeordnetenhaus 1985 eine mögliche Koalition oder auch nur eine Tolerierung abgelehnt hatte. Die besondere Insellage West-Berlins hatte zu einem Sonderweg der AL gegenüber den Bundes-Grünen geführt. So war sie besonders stark im links-alternativen Spektrum der Stadt angesiedelt, klassische Umweltschützer hatten dagegen keine besondere Rolle gespielt. Zudem war die AL formal von der Bundespartei unabhängig, auch wenn sie die Rolle eines Landesverbandes übernahm. Die Auseinandersetzungen zwischen den auf Regierungsbeteiligungen abzielenden Realos und den auf fundamentale Opposition setzenden Fundis, die die Bundespartei in den 1980er Jahren beherrschten und zu spalten drohten, spielten in der AL niemals eine so bedeutende Rolle. Stattdessen galt die AL als relativ homogener, dabei dezidiert linker Landesverband, der basisdemokratischen Entscheidungsprozessen einen ganz besonders hohen Stellenwert einräumte.
=== Umfragen vor der Wahl ===
Trotz der Bedrängnis der Berliner CDU durch den Antes-Skandal prognostizierten Umfragen der CDU/FDP-Koalition noch knapp drei Wochen vor dem Wahltag eine deutliche Mehrheit. Erst wenige Tage vor der Wahl deutete sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den politischen Lagern an, allerdings immer noch mit einer schwarz-gelben Mehrheit und einem klaren Vorsprung der CDU vor der SPD.
Einer Infas-Umfrage im Auftrag des SFB-Magazins Kontraste zufolge war für 24 Prozent der Befragten die Situation auf dem Arbeitsmarkt das wichtigste Thema, für 23 Prozent der Umweltschutz und für 20 Prozent der Wohnungsbau.
Zwei Wochen zuvor hatte eine vom Stern beauftragte Umfrage ergeben, dass Mieten und Wohnungsnot an erster Stelle standen, darauf folgten die Themen Ausländer und Uni-Überfüllung.
=== Wahl zum Abgeordnetenhaus am 29. Januar 1989 ===
Die Wahl zum Abgeordnetenhaus am 29. Januar 1989 sorgte in mehrfacher Hinsicht für Überraschungen: Die CDU, deren Sieg als sicher gegolten hatte, erlitt eine schwere Niederlage und brach mit 37,7 Prozent der Stimmen um 8,7 Prozentpunkte ein. Die SPD legte dagegen um 4,9 Prozentpunkte auf 37,3 Prozent zu und erzielte mit 55 Parlamentssitzen ebenso viele Mandate wie die CDU. Zusammen mit der ebenfalls gestärkten Alternativen Liste (11,8 Prozent, +1,2 Prozentpunkte) ergab dies eine deutliche Mehrheit für Rot-Grün, da mit der FDP – ebenfalls überraschend – der bisherige Koalitionspartner der CDU mit 3,9 Prozent (−4,6 Prozentpunkte) klar den Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus verfehlte. Das dritte in keiner Weise vorher prognostizierte und mit Erschrecken zur Kenntnis genommene Ergebnis war der Einzug der Republikaner, die auf Anhieb 7,5 Prozent der Stimmen und somit elf Sitze erhielten.
== Koalitionsbildung ==
=== Koalitionsverhandlungen ===
Noch am Wahlabend lehnte Walter Momper ein erneutes Angebot der Alternativen Liste zur Zusammenarbeit mit der Bemerkung ab, diese sei „nicht regierungsfähig“. So zeichnete sich direkt nach der Wahl eine große Koalition ab. Andererseits hatten die SPD und die AL bei kräftigen Zugewinnen eine deutliche Mehrheit erzielt, während die bisher regierende Koalition klar abgewählt worden war. Ein SPD/CDU-Bündnis als einzige Alternative zu dem mit der AL hatte deshalb keine Mehrheit an der SPD-Basis, zumal Umfragen besagten, dass nur 17,2 Prozent der Berliner eine solche Regierung wünschten, während sich 23,9 Prozent für Rot-Grün aussprachen.Nach einigen Tagen kam es zu informellen Gesprächen, an denen auf Seiten der SPD Walter Momper, der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Gerd Wartenberg und der frühere Landesvorsitzende Jürgen Egert sowie für die Alternative Liste Bernd Köppl, Harald Wolf und Renate Künast teilnahmen. Hans-Christian Ströbele, eines der prominentesten AL-Mitglieder, Exponent des linken Parteiflügels und 1990/91 Sprecher der Bundespartei, war dagegen nur bei einigen Treffen anwesend. Der Delegiertenrat der AL kritisierte diese Art der Gespräche, da diese seinem basisdemokratischen Prinzip widersprachen, billigte die Vorverhandlungen aber schließlich. Eine Mitgliedervollversammlung, das höchste beschlussfassende Gremium der Partei, sprach sich am 11. Februar 1989 bei über 1000 Anwesenden mit einer Mehrheit von 99,8 Prozent für offizielle Koalitionsverhandlungen aus. Die AL ging ohne erkennbare Strategie und inhaltliche Vorbereitung in die am 13. Februar 1989 beginnenden Koalitionsverhandlungen. Als Verhandlungsgrundlage diente lediglich das gesamte, ganz auf eine Oppositionsfraktion zugeschnittene und aus einer Ansammlung von Einzelforderungen bestehende AL-Programm.Walter Momper führte parallel zu den Verhandlungen mit der AL Koalitionsgespräche mit Eberhard Diepgen. An die AL gerichtet formulierte er als „Prüfsteine“ die Anerkennung des Gewaltmonopols des Staates, der Rechte und Präsenz der Alliierten in Berlin sowie der Bindung Berlins an den Bund, die er zur Vorbedingung für eine Koalition machte. Die Zustimmung fiel der AL nicht leicht, da es sich um Themen handelte, die innerparteilich umstritten waren. Mit der Zustimmung gelang es Momper, einerseits die AL von vornherein zu disziplinieren und andererseits den eigenen Kurswechsel begründen zu können.Anfang März 1989 lag die Koalitionsvereinbarung vor. Die AL konnte sich insbesondere im Bereich der ökologischen Stadterneuerung im Koalitionsvertrag durchsetzen, die ein Leitbegriff der Koalition wurde. Als problematisch sollte es sich erweisen, dass die etwa 30 umstrittensten Fragen als „Prüfaufträge“ in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen, wichtige Dissenspunkte also ungelöst vertagt wurden.Das Ergebnis der Verhandlungen wurde auf einer Mitgliedervollversammlung der AL am 11. und 12. März 1989 mit einer erstaunlich deutlichen Mehrheit von 80 Prozent der Stimmen und in nahezu euphorischer Stimmung gebilligt. Ohne Chance blieben Anträge, statt eine Koalition einzugehen, eine SPD-Minderheitsregierung zu dulden (Harald Wolf und Birgit Arkenstette vom Linken Forum hatten diesen Vorschlag als Minderheitenvotum der Verhandlungskommission eingebracht) oder Nachverhandlungen mit der SPD aufzunehmen (diesen Antrag brachten Dieter Kunzelmann und andere ein). Ebenfalls am 12. März stimmte ein Sonderparteitag der SPD einer Koalition mit der AL zu.
=== Personelle Besetzung des Senats ===
Erst nachdem die inhaltlichen Verhandlungen vollständig abgeschlossen waren, begannen diejenigen über die Zuschnitte der Ressorts. Die AL beanspruchte das Umweltressort und erhielt es als Senatsamt für Stadtentwicklung und Umweltschutz. Auch das Frauenressort war der Alternativen Liste wichtig. Als Gegenleistung verzichtete sie darauf, eine Bürgermeisterin, also eine stellvertretende Regierungschefin, zu stellen. Diese Funktion übernahm die Gesundheits- und Sozialsenatorin Ingrid Stahmer von der SPD. Als drittes Senatsamt erhielt die AL das für Schulwesen, Berufsbildung und Sport. Somit gingen alle klassischen Ressorts an die Sozialdemokraten. Die AL hatte auch keine diesbezüglichen Ansprüche gestellt, da sie sich diese „einfach nicht zugetraut“ hatte, so Christian Ströbele. Hilde Schramm wurde Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses, außerdem stellte die AL vier Staatssekretäre sowie mit Ingvield Kiehle eine stellvertretende Senats-Pressesprecherin.Bis auf den ehemaligen Gesundheitssenator Erich Pätzold, der nun Innensenator wurde, und den neuen Wirtschaftssenator Peter Mitzscherling, 1974 bis 1980 Senatsdirektor (Staatssekretär) für Arbeit, verzichtete die SPD darauf, frühere Senatsmitglieder zu berücksichtigen. Der neue Chef der Senatskanzlei, Dieter Schröder, verfügte über Erfahrung als Senatsrat und war zuletzt Völkerrechtsprofessor. Die Bürgermeisterin und Senatorin für Gesundheit und Soziales Ingrid Stahmer war zuvor Stadträtin, die Senatorin für Justiz, Jutta Limbach, Juraprofessorin an der Freien Universität. Finanzsenator wurde Norbert Meisner, bisher Studienleiter beim Jugendsozialwerk und Vertreter des linken Parteiflügels, Bausenator Wolfgang Nagel war bis dahin baupolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und Redakteur im Deutschen Institut für Urbanistik. Als Kultursenatorin wechselte die Journalistin Anke Martiny-Glotz vom Bonner Parteivorstand der SPD nach Berlin, Wissenschaftssenatorin wurde die Sozialwissenschaftlerin und Vizepräsidentin der Freien Universität Barbara Riedmüller-Seel. Horst Wagner, Berliner IG-Metall-Vorsitzender vom rechten SPD-Flügel, übernahm das Senatsamt für Arbeit, Verkehr und Betriebe, und Senatorin für Bundesangelegenheiten wurde die in Berlin aufgewachsene ehemalige Juraprofessorin und Vizepräsidentin der Universität Hamburg, Heide Pfarr. Die meisten Senatsmitglieder verfügten also über wenig Verwaltungserfahrung.
Auf der Mitgliedervollversammlung der AL begann die eigentliche Personaldebatte erst nach der Billigung des Koalitionsvertrages. Im Gespräch war die Fraktionsvorsitzende und anerkannte linke Integrationsfigur Heidi Bischoff-Pflanz für das Amt der Senatorin für Frauen, Jugend und Familie, sie lehnte jedoch ab. Schließlich einigte man sich auf drei weitgehend unbekannte Fachpolitikerinnen, die alle keine Fraktions- oder auch nur AL-Mitglieder waren und somit keine parteiinternen Konflikte in die Regierungsarbeit hineintragen sollten. Das wichtige Querschnittsressort für Stadtentwicklung und Umweltschutz übernahm Michaele Schreyer, Volkswirtin, Mitarbeiterin der grünen Bundestagsfraktion und einzige Senatorin, die Parteimitglied der (westdeutschen) Grünen war. Das Frauenressort wurde mit der Juristin und früheren wissenschaftlichen Mitarbeiterin von Waltraud Schoppe im Bundestag, Anne Klein, besetzt, die sich in einer harten Auseinandersetzung gegen die AL-Frauenpolitikerin Helga Hentschel durchsetzte. Senatorin für Schulwesen, Berufsbildung und Sport wurde die stellvertretende Berliner GEW-Vorsitzende Sybille Volkholz. Beide waren parteilos. Der linke Koalitionsskeptiker Harald Wolf wurde als Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses mit der Aufgabe betraut, die Koordination zwischen Partei, Fraktion und Senatorinnen zu stärken.Mit acht Senatorinnen und fünf Senatoren sowie dem Regierenden Bürgermeister war der Senat Momper die erste deutsche Landesregierung mit Frauenmehrheit. Die Senatorinnen beider Parteien trafen sich vor jeder Senatssitzung bei Heide Pfarr zu einem sogenannten „Hexenfrühstück“.Das Abgeordnetenhaus wählte den neuen Senat am 16. März 1989. Dabei musste als Berliner Besonderheit jeder Senator vom Abgeordnetenhaus einzeln gewählt werden.
=== Liste der Senatoren und Staatssekretäre ===
=== Öffentliche Reaktionen ===
Da die Alternative Liste von Anfang an auf möglichst große Transparenz bestand, war die Öffentlichkeit stets gut über den Stand der Koalitionsverhandlungen informiert. Von Einzelinteressen geleitete Forderungen wurden während der Koalitionsverhandlungen in großer Zahl von Initiativen und Einrichtungen aus dem links-alternativen Milieu an die AL herangetragen. An Ratschlägen fehlte es auch aus Westdeutschland nicht. So meldete sich unter anderem die grundsätzlich auf Oppositionsarbeit setzende Jutta Ditfurth, Exponentin der Fundis und bis Dezember 1988 Bundesparteisprecherin der Grünen, ablehnend zu einer Regierungsbeteiligung. Andererseits empfahl der Realo Otto Schily, der im November 1989 zu den Sozialdemokraten wechselte, der SPD, in der Frage der Prüfsteine „ganz hart zu bleiben“. Schily versuchte, wie auch das unbedingt koalitionswillige Spektrum innerhalb der AL um die Gruppe „Grüne Panther auf dem Sprung“, die Chance zu nutzen, die Partei in ihrem Sinne zu reformieren. Nach einer mit Ovationen aufgenommenen Rede Ströbeles auf der Bundesversammlung der Grünen in Duisburg im März 1990, in der er eine rot-grüne Koalition in Berlin als „Jahrhundertchance“ bezeichnete, unterstützten die Delegierten den Berliner Koalitionskurs mit großer Mehrheit.Die CDU bekämpfte die rot-grüne Koalition schon im Vorfeld vehement. Diepgen bezeichnete das sich anbahnende Regierungsbündnis als „Koalition des Irrsinns“. Für den Fall, dass die Reizfigur Christian Ströbele Justizsenator werden sollte, kündigte er ein Volksbegehren gegen den Senat an. Eine unionsnahe „Initiative Zukunft Berlins nicht gefährden“ veranstaltete eine Demonstration auf dem Kurfürstendamm gegen die geplante „Koalition des Verderbens“, an der rund 1000 Demonstranten teilnahmen. Schützenhilfe bekam die Berliner Union von der Bundespartei. So beschwor ihr Generalsekretär Heiner Geißler ein düsteres Szenario eines linken Rätesystems und unbezahlbarer Sozialleistungen. Der Bundestagsabgeordnete Eduard Lintner unterstellte „Liebedienerei in Richtung DDR“ und behauptete, dass Berlin „unregierbar zu werden droht und letztlich gewalttätigen Demonstrationen ausgeliefert werden soll“. Rudolf Seiters kritisierte, „die Wähler sind getäuscht, belogen und betrogen worden“, weil Momper vor der Wahl eine Koalition mit der AL immer ausgeschlossen hatte. In einem Papier der CDU mit dem Titel „SPD: Verrat am Wähler“ hieß es polemisch über Hilde Schramm: „Sie betreibt als Tochter von Hitlers Rüstungsminister Speer in der AL familiäre Vergangenheitsbewältigung.“ In einer aktuellen Stunde im Bundestag sah der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff die Stadt auf dem „Weg zur selbständigen politischen Einheit Berlin“, also den Vorstellungen der DDR folgend.Die marktbeherrschende Springer-Presse (B.Z., Bild, Die Welt, Berliner Morgenpost) der Stadt stand seit je fest an der Seite der CDU. Auch die Morgenpost sprach jedoch angesichts der schon während der Koalitionsverhandlungen geäußerten harschen, teils irrationalen Kritik an einem möglichen rot-grünen Senat von Tiefschlägen der CDU. Konservative überregionale Medien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung prophezeiten noch vor Beginn der Verhandlungen einen wirtschaftlichen Niedergang Berlins im Falle einer rot-grünen Regierungsbildung. Der liberal-kritische, auflagenschwache Tagesspiegel stand dem Senat Momper wohlwollender gegenüber. Die kleine taz baute während der Koalitionsverhandlungen eine euphorische Aufbruchstimmung im links-alternativen Milieu über die Möglichkeit einer rot-grünen Koalition auf.Franz Schoser, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelstages, riet zu einem Investitionsstopp, da Berlin möglicherweise auf dem Weg zu einem völlig anderen Wirtschaftssystem sei. Die Industrie- und Handelskammer Berlin sprach von einem „ganzen Bündel dirigistischer Maßnahmen“ im Koalitionsvertrag, ohne diese jedoch genauer benennen zu können. Andererseits bezeichnete ihr Präsident die Behauptung Heiner Geißlers, ein rot-grüner Senat würde die Wirtschaft ruinieren, als „Stimmungsmache“.
== Die Arbeit des rot-grünen Senats bis November 1990 ==
=== Die ersten Monate der Koalition ===
Bis zum Sommer 1989 war die Zusammenarbeit zwischen SPD und AL von dem gemeinsamen Willen zur Konfliktlösung geprägt. Entgegen den Erwartungen der Opposition, dass es für Rot-Grün keine Mehrheit gebe und die Wähler sich betrogen fühlten, ergaben Umfragen im Mai 1989, dass sowohl die SPD als auch die AL bei einer Neuwahl weiter hinzugewinnen, CDU und Republikaner gegenüber der Wahl vom Januar verlieren würden.Der erste Prüfauftrag, der zu einem Konflikt zwischen SPD und AL führte, war die Auseinandersetzung um die Weiterführung des Ausbaus des Großklinikums Rudolf-Virchow bei gleichzeitiger Aufgabe des Universitätsklinikums Charlottenburg, eines Projekts des vorangegangenen CDU/FDP-Senats, das die AL rückgängig machen wollte. Ein anderer Streitpunkt war der ebenfalls vom Senat Diepgen auf den Weg gebrachte Bau einer Stromtrasse, die Berlin an das westdeutsche Stromnetz anschließen sollte. Da die Mitgliedervollversammlung der AL den Senatorinnen ein imperatives Mandat erteilte, das Projekt abzulehnen und keinerlei Kompromisse zu diskutieren, drohte erstmals ein Bruch der Koalition. Ebenso strikt lehnte die Basis aus ökologischen Gründen die Einrichtung eines neuen Grenzübergangs an der Schichaustraße ab. In allen drei Fällen setzten sich die Senatorinnen und die Fraktion über das Votum der Basis hinweg, um die Koalition weiterzuführen, ohne dass dies von der Partei sanktioniert worden wäre. Somit nahmen künftige Aufträge der Mitgliedervollversammlung den Charakter verbalradikaler Leerformeln an, die keine Drohwirkung gegenüber der SPD mehr entfalten konnten. Dagegen stimmten die Sozialdemokraten nach anfänglichen Bedenken einem von der AL eingebrachten Gesetzentwurf zu, ein kommunales Ausländerwahlrecht einzuführen.Bereits im März 1989 kam die Alternative Liste in ihrer neuen Rolle als Regierungspartei erstmals in Konflikt mit dem links-alternativen Milieu, genauer mit der autonomen Szene, als in Kreuzberg mehrere Häuser besetzt und mit der Zustimmung der AL-Senatorinnen geräumt wurden. Ähnlich agierte die AL, als es am 1. Mai 1989 in Kreuzberg trotz der Deeskalationsstrategie der Polizei zu heftigen Straßenschlachten kam.
Mit ökologisch begründeten, äußerst unpopulären Maßnahmen rief der Senat heftige Proteste hervor. Auf einem etwa sechs Kilometer langen Abschnitt der AVUS, der bis dahin die einzige Autobahnstrecke ohne Geschwindigkeitsbegrenzung in Berlin war, wurde Tempo 100 eingeführt. Die Berliner empfanden dies als tiefen Eingriff in ihr Lebensgefühl, hatten sie es doch bisher als Symbol der Freiheit wahrgenommen, nach der Transitstrecke durch die DDR hinter dem Grenzübergang Dreilinden Gas geben zu können. Der ADAC mobilisierte über eine längere Zeit abendliche Gegendemonstrationen. Auch die Sperrung der im Grunewald gelegenen Havelchaussee für den privaten Kfz-Verkehr, die Einführung von Tempo-30-Zonen in Wohngebieten und die flächendeckende Einrichtung von Busspuren wurden von Protesten begleitet. Besonders die Busspuren auf dem Kurfürstendamm wurden unter anderem von der CDU heftig bekämpft. Keine Proteste löste dagegen die Einführung einer Umweltkarte für die Berliner Verkehrsbetriebe aus.
Ab dem Spätsommer 1989 setzte eine Phase des gegenseitigen Misstrauens zwischen SPD und AL ein. Einen Wendepunkt in der Koalitionsstimmung markierte der ergebnislose zehnwöchige Streik der Erzieherinnen und Erzieher der Kindertagesstätten, die einen Tarifvertrag und verbesserte Arbeitsbedingungen gefordert hatten. In diesem längsten Streik der Berliner Nachkriegsgeschichte stand die AL auf Seiten der Erzieherinnen, die SPD lehnte dagegen jede Verhandlung mit den Streikenden ab. Angesichts der wachsenden Spannungen im Senat kam den wöchentlichen Treffen der Fraktionen eine immer wichtigere Rolle zu. Während der Koalitionsausschuss bald gescheitert war, wurde diese Schaltstelle ab Herbst 1989 zum eigentlichen Fundament der Zusammenarbeit.
=== Die Beziehungen zur DDR vor dem 9. November 1989 ===
Charakteristisch für das Verhältnis der Alternativen Liste zur DDR und zur deutschen Teilung war es, dass die Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses, Hilde Schramm, sich am 25. Mai 1989 weigerte, die rituellen Mahnworte zu sprechen, mit denen seit 1955 das Abgeordnetenhaus eröffnet wurde: „Ich bekunde unseren unbeugsamen Willen, dass Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und Freiheit vereinigt werden muss.“ Auch in weiten Kreisen der SPD galt die Rede von einer Wiedervereinigung längst als Lebenslüge. Während einige führende Grüne der Bundespartei, etwa Petra Kelly, Gert Bastian, Lukas Beckmann, Wilhelm Knabe oder Milan Horáček, zeitweise auch Antje Vollmer, besonders engen Kontakt und die Grünen insgesamt unter allen westdeutschen Parteien die intensivsten Beziehungen zu den oppositionellen Kreisen in der DDR pflegten, war besonders der einflussreiche Kreuzberger Kreisverband der AL ausgesprochen SED-freundlich eingestellt. Dies ging so weit, dass der Kreuzberger Dirk Schneider, 1983 bis 1985 Mitglied des Bundestages, unter grünen Bundestagsabgeordneten als „ständiger Vertreter der SED bei der grünen Bundestagsfraktion“ galt. Nach der Wende wurden unter anderem Schneider, der gezielt gegen die Opposition in der DDR arbeitete, und der ehemalige Kreuzberger Bezirksbürgermeisterkandidat Klaus Croissant als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit enttarnt. Unabhängig von der Positionierung zur Opposition und der Bewertung der Menschenrechte in der DDR war die Akzeptanz der deutschen Zweistaatlichkeit bei Grünen und AL kaum umstritten.Am 19. Juni 1989 traf sich Walter Momper mit Erich Honecker in Ost-Berlin. Dieses Treffen, für dessen Zustandekommen langwierige Verhandlungen über diplomatische und protokollarische Fragen nötig waren, sollte zur Nagelprobe der Deutschland- und Berlinpolitik der rot-grünen Koalition werden. Die Berliner SPD, die schon früher ständig Kontakte zur SED hatte, machte in diesem Treffen radikale Vorschläge. So bot sie an, West-Berlin stärker in die DDR-Wirtschaft einzubinden und zugleich die Sondersubventionen des Bundes abzuschaffen. Zudem ging Verhandlungsführer Harry Ristock so weit, die Mauer als „Chance“ für West-Berlin anzuerkennen, „in Frieden zu leben“. Da er trotz aller Zugeständnisse die Bindung an die Bundesrepublik betonte, reagierte die SED zurückhaltend. Den Vorschlag einer gemeinsamen Bewerbung Ost- und West-Berlins um die Olympischen Spiele lehnte Honecker mit dem Hinweis auf eine Leipziger Bewerbung ab. Momper erreichte jedoch Erleichterungen für Reisen von West-Berlinern nach Ost-Berlin und ins Umland. Die Bedeutung dieses Treffens schrumpfte angesichts der rasanten Entwicklung in den nächsten Monaten zu einer folgenlosen Randnotiz der Geschichte.Schon vor dem Fall der Mauer waren deutliche Veränderungen in Berlin spürbar. In Polen hatten sich durch Solidarność die Verhältnisse geändert und neue Freiheiten ergeben. Da Berlin nicht nur nah lag, sondern Besucher aus Osteuropa sich gemäß einer Anordnung der Alliierten Kommandantur 30 Tage ohne Visum in der Stadt aufhalten konnten, strömten massenhaft Polen nach West-Berlin. Am augenfälligsten waren die Veränderungen durch den „Polenmarkt“ unweit des Potsdamer Platzes und die vielen Import-Export-Geschäfte auf der Kantstraße nahe dem Bahnhof Zoo. Hinzu kam die ständig wachsende Zahl von Übersiedlern aus der DDR, denen West-Berlin häufig vertrauter schien als Westdeutschland und die deshalb in großer Zahl hierher zogen. 37.000 Zuzügler innerhalb eines Jahres und zuletzt 500 an einem Tag begannen die Stadt an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit zu bringen. Die AL wollte die Übersiedler aus der DDR wie Asylbewerber aus anderen Staaten behandeln, was für Momper jedoch nicht in Frage kam.Trotz aller Veränderungen blieb der Senat bei seiner politischen Linie, Verhandlungen stets mit der SED zu führen und die Opposition in der DDR kaum zur Kenntnis zu nehmen. Diese starre Haltung war von der Befürchtung geleitet, dass West-Berlin gravierende Probleme bekommen würde, wenn es zu Unruhen in der DDR und zu einem möglichen Eingreifen der Sowjetunion kommen würde. Die allein auf die offiziellen Staatsorgane bezogene Politik führte etwa dazu, dass AL-Umweltsenatorin Schreyer einen Vertrag über die Entsorgung von West-Berliner Sondermüll auf einer Deponie im brandenburgischen Vorketzin unterzeichnete, obwohl diese allen Umweltrichtlinien Hohn sprach und Umweltgruppen in der DDR heftig protestierten. Momper betrachtete selbst die Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) am 7. Oktober 1989 als ineffektives Störelement.Am 29. Oktober weihte Günter Schabowski, Sprecher des Zentralkomitees der SED, Walter Momper in Pläne für eine großzügige Reiseregelung ein. Da Momper klar war, dass dies Hunderttausende von Besuchern bedeuten würde, setzte er eine Projektgruppe „Vorbereitung auf einen verstärkten Besucher- und Reiseverkehr aus Ost-Berlin und aus der DDR“ ein. Am Tag der Maueröffnung erfuhr Momper zu Mittag, dass das ZK der SED an diesem Tag eine neue Reiseregelung beschließen würde, und versetzte die Berliner Verkehrsbetriebe in Alarmbereitschaft. So überraschend der Zeitpunkt und die Art und Weise der Maueröffnung am 9. November 1989 war, traf sie den Senat doch nicht völlig unvorbereitet.
== Der Mauerfall als Zäsur ==
=== Der Fall der Berliner Mauer ===
Mit der Maueröffnung am 9. November 1989 fielen ein letztes Mal wie unter Ernst Reuter während der Berlin-Blockade oder unter Willy Brandt beim Bau der Mauer Lokal- und Weltpolitik zusammen, war der Regierende Bürgermeister gleichzeitig Außenpolitiker, bevor Berlin ein normales Bundesland wurde. Am Tag nach der Maueröffnung konnte sich das Parlament auf keine gemeinsame Resolution einigen, weil die AL strikt auf der deutschen Zweistaatlichkeit beharrte und der Begriff Wiedervereinigung keinesfalls im Text vorkommen sollte, da diese ein „reaktionäres Projekt“ sei. Als Momper, Diepgen und der Parlamentspräsident Jürgen Wohlrabe zusammen mit den Bonner Ehrengästen Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und Willy Brandt auf den Balkon des Rathauses Schöneberg traten, gingen die Rede des Bundeskanzlers und der dissonante Gesang des Deutschlandliedes in einem Pfeifkonzert der versammelten Masse unter.Die Maueröffnung machte Walter Momper deutschland-, ja weltweit als den ständig im Fernsehen präsenten „Mann mit dem roten Schal“ bekannt und erhöhte seine Popularität beträchtlich. Er wurde als möglicher künftiger SPD-Vorsitzender und Kanzlerkandidat gehandelt. Bestätigte Momper unmittelbar nach dem Fall der Mauer noch die Zweistaatlichkeit, so schwenkte er angesichts der Erfahrungen vor Ort und der sich überschlagenden Ereignisse schnell auf einen Wiedervereinigungskurs ein. Damit geriet er in Widerspruch zur Bundespartei, denn der Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine lehnte die rasche Vereinigung der beiden deutschen Staaten ab. Da Lafontaine die SPD mit dieser Haltung zunehmend ins Abseits manövrierte, wurde im Mai 1990 in den Medien sogar ein Wechsel des Spitzenkandidaten im laufenden Wahlkampf von Lafontaine zu Momper diskutiert.
=== Gemeinsame Arbeit mit dem Ost-Berliner Magistrat ===
Schnell konfrontierte die veränderte Situation Berlin mit völlig neuen Problemen, etwa dem stark erhöhten Verkehrsaufkommen. Allein am Wochenende nach der Maueröffnung strömten etwa zwei Millionen Menschen nach West-Berlin, S- und U-Bahn quollen über, Bahnhöfe mussten gesperrt werden. Die Einrichtung zahlreicher neuer Grenzübergänge belastete die Verkehrswege zusätzlich. Zur Bewältigung dieser Probleme wurde ein gemeinsamer Regionalausschuss eingerichtet, der West- und Ost-Berlin koordinieren sollte. Noch aber schien eine deutsche Wiedervereinigung und damit die Vereinigung Berlins in weiter Ferne zu liegen. So peilte Diepgen sie für 1995 an. Doch die Entwicklung beschleunigte sich zusehends vor allem durch den Drang zu einer raschen Währungsunion und den ungebremsten Strom von Übersiedlern in den Westen.Die erste freie Kommunalwahl vom 6. Mai 1990 brachte der SPD in Ost-Berlin 34,0 Prozent der Stimmen, der CDU dagegen nur 17,7. Aufgrund des starken Ergebnisses der als nicht koalitionsfähig geltenden SED-Nachfolgepartei PDS (30,0 Prozent) kam es dort zu einer großen Koalition, dem Magistrat Schwierzina. Wie schon bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit dem überraschend deutlichen Sieg der CDU und später bei der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 spielte die Bürgerbewegung keine große Rolle mehr, das Bündnis 90 erhielt 9,9 Prozent der Stimmen, die Grüne Liste 2,7 Prozent. Das Modell eines von der Bürgerbewegung favorisierten Dritten Wegs zwischen Kapitalismus und Sozialismus in einer fortbestehenden DDR fand erkennbar keinen Anklang unter den Wählern.
Am 12. Juni 1990 fand unter der Leitung von Walter Momper und Tino Schwierzina die erste gemeinsame Sitzung von Senat und Magistrat („Magi-Senat“) im Roten Rathaus statt. Danach fanden die Sitzungen abwechselnd im Roten Rathaus und im West-Berliner Rathaus Schöneberg, zuletzt wegen der besseren technischen Bedingungen nur noch dort statt. Die beiden präsidierenden Bürgermeister sowie die je 13 Senatoren und Stadträte standen sich gleichberechtigt gegenüber. Senats- und Magistratsvorlagen wurden vor der Beschlussfassung von dem zuständigen Senator und dem Stadtrat gemeinsam eingereicht. Die nachgeordnete Verwaltung musste vereinheitlicht und die seit 1948 unterschiedlichen Entwicklungen einander angepasst werden. So wurde im Magistrat in Anlehnung an die bereits bestehende Senatskanzlei eine Magistratskanzlei errichtet. Aufeinander abgestimmte Strukturen sollten die endgültige Vereinigung auch der Stadtverwaltung befördern. Gemäß dem Einigungsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik regierten Senat und Magistrat unter Tino Schwierzina (SPD) vom Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 bis zur Wahl einer gemeinsamen Stadtregierung auch offiziell als Doppelregierung. Angesichts der rasanten Entwicklung nach dem Fall der Mauer und der Vereinigung Berlins zu einer Stadt wurde für den Tag der Bundestagswahl, den 2. Dezember 1990, die Neuwahl des Abgeordnetenhauses angesetzt.
Problematisch wurde es für den Senat, als bereits Anfang 1990 sowohl Finanzminister Theo Waigel als auch die finanzpolitische Sprecherin der SPD im Bundestag, Ingrid Matthäus-Maier, die Berlinförderung, die die Hälfte des West-Berliner Etats ausmachte, einschließlich der Berlinzulage in Frage stellten, da mit der Mauer auch deren Grundlage weggefallen sei. Obwohl Helmut Kohl nach Aussagen Walter Mompers zusagte, die Berlinförderung nicht anzutasten, beschloss das Bundeskabinett Anfang 1991, diese bis 1994 schrittweise abzubauen.
== Das Ende der Koalition ==
=== Zuspitzung der Koalitionskrise ===
Die neuen, durch den Fall der Mauer auftretenden Probleme verstärkten die Krise des rot-grünen Bündnisses erheblich. Berlin hatte über Nacht die Rolle eines „urbanen Biotops“ verloren und war von der äußersten Peripherie in den Mittelpunkt der deutschen Politik und der unterschiedlichsten Interessen gerückt.
Die Grundlagen des reformorientierten „Konfliktbündnisses“ zwischen SPD und AL hatten sich radikal geändert, die bisherige Politik war nicht bruchlos fortsetzbar, so dass die Zahl der Kritiker an der Koalition inner- wie außerhalb der Parteien stetig wuchs. Walter Momper selbst war, wie er später bekannte, insgeheim der Überzeugung, dass die Koalition mit der AL zu instabil für die anstehenden Aufgaben sei, sah in einer großen Koalition aber keine Alternative. Entscheidungen wurden zunehmend in einem kleinen Personenkreis um Walter Momper getroffen. Vor allem die Deutschland- und Vereinigungspolitik zog die Senatskanzlei an sich und schloss die AL, die allerdings auch wenig Interesse an diesem Politikfeld zeigte, nahezu aus. Dieser Führungsstil wurde auch innerhalb der SPD kritisiert.Als die Alternative Liste sich gegen den Verkauf eines großen Areals am Potsdamer Platz an Daimler-Benz aussprach, war dies einer der seltenen Fälle, in denen sie breite Zustimmung in der Presse, unter Stadtplanern und in Teilen der SPD erhielt. Walter Momper und Bausenator Wolfgang Nagel hatten die bereits vor dem Fall der Mauer begonnenen Verhandlungen fortgeführt, ohne auf die inzwischen geänderte Situation einzugehen, einen niedrigen Verkaufspreis vereinbart und weder ihre Fraktion noch den Koalitionspartner angemessen informiert. Deshalb verweigerte Stadtentwicklungssenatorin Schreyer die nötige Gegenzeichnung und setzte einen städtebaulichen Wettbewerb zur Gestaltung des Areals durch. Als die Unterzeichnung des Kaufvertrags im Abgeordnetenhaus anstand, verabschiedete die SPD ihn mit den Stimmen der CDU und gegen die AL, obwohl der Koalitionsvertrag den Fraktionen ausdrücklich untersagte, mit wechselnden Mehrheiten abzustimmen. Ebenfalls im Sommer 1990 kämpfte Michaele Schreyer gegen die Baugenehmigung eines atomaren Versuchsreaktors des Hahn-Meitner-Instituts. Zu einer Entscheidung in dieser Streitfrage, die zu einer erneuten Zerreißprobe für die Koalition wurde, kam es nicht mehr.
Erfolge hatte die AL zu verbuchen, indem sie ein Verbandsklagerecht im Naturschutz, die Umweltverträglichkeitsprüfung bei öffentlichen Vorhaben, ein Energiespargesetz, Integrationsklassen behinderter und nichtbehinderter Kinder, die Einsetzung einer Leitstelle für gleichgeschlechtliche Lebensweisen sowie ein Landes-Anti-Diskriminierungsgesetz einführte. Alle Prüfaufträge der Koalitionsvereinbarung waren jedoch gegen die Vorstellungen der AL entschieden worden. Im März 1990 trat die Fraktionsvorsitzende der AL, Heidi Bischoff-Pflanz, aus Enttäuschung über die sich häufenden Misserfolge innerhalb des Regierungsbündnisses zurück. Zur Nachfolgerin wurde Renate Künast gewählt, deren enge Zusammenarbeit mit dem SPD-Fraktionschef Ditmar Staffelt die Koalition wesentlich am Leben hielt. Im Juni 1990 stand der Bruch der Koalition auf der Tagesordnung der Mitgliedervollversammlung der AL, doch eine Zweidrittelmehrheit entschied sich für eine bedingungslose Fortführung. Eine Welle von Parteiaustritten und innerparteilichen Distanzierungen von der Koalition erreichte im Herbst 1990 ihren Höhepunkt, als im September unter anderem Harald Wolf, Birgit Arkenstette und Astrid Geese und im November weitere Aktive um Heidi Bischoff-Pflanz die Partei verließen.
=== Ausstieg der AL aus der Koalition ===
Am 14. November 1990 ließ Innensenator Erich Pätzold (SPD) mit einem der massivsten Polizeieinsätze Berlins in der Nachkriegszeit 13 seit April 1990 besetzte Häuser in der Mainzer Straße in Friedrichshain räumen. Dabei kam es zu heftigen Straßenschlachten. Pätzold hatte die AL über die Räumung weder vorab informiert noch ihr während der Aktion gestattet, vermittelnd einzugreifen.Bereits am 15. November, gut zwei Wochen vor der bereits terminierten Neuwahl, kündigte die AL deshalb die Koalition auf. Die drei Senatorinnen traten am 19. November zurück, obwohl sie nicht mit der Fraktion und dem Vorstand der AL übereinstimmten. Geschäftsführend übernahm Heide Pfarr das Senatsamt für Schulwesen, Berufsbildung und Sport von Sybille Volkholz, Norbert Meisner das Senatsamt für Stadtentwicklung und Umweltschutz von Michaele Schreyer sowie Ingrid Stahmer das Senatsamt für Frauen, Jugend und Familie von Anne Klein. Ein von der Fraktion und dem geschäftsführenden Ausschuss der AL geplanter Misstrauensantrag gegen Momper wurde auf Druck der Parteibasis nicht eingebracht.Der Bruch der Koalition kam plötzlich und für viele Beobachter unvermittelt, bildete aber nur den Endpunkt der zunehmend konfliktreichen Regierungszusammenarbeit. Harald Wolf bezeichnete es rückblickend als Problem für die AL, dass es nicht einen einzelnen, besonders gravierenden Streitpunkt zwischen den Regierungsparteien gab, wie die Atompolitik in Hessen, sondern zahlreiche kleinere Auseinandersetzungen, so dass der Ausstieg aus der Regierung der Öffentlichkeit weniger überzeugend vermittelbar war. Die Entscheidung zum Bruch der Koalition wurde durch das Wissen erleichtert, dass ohnehin zwei Wochen später Neuwahlen stattfinden würden. Das Abgeordnetenhaus hatte seine Arbeit für diese Legislaturperiode bereits eingestellt. Die Beendigung der Zusammenarbeit hatte erkennbar auch taktische Gründe: Die Alternative Liste empfahl sich mit dem Bruch ihren unzufriedenen Stammwählern, aus dem gleichen Grund, in diesem Fall der Rücksicht auf bürgerliche Wählerkreise, kam er der SPD zupass.
=== Wahl zum Abgeordnetenhaus am 2. Dezember 1990 ===
Mit der Wahl zum Abgeordnetenhaus am 2. Dezember 1990 fanden erstmals seit 1946 wieder demokratische Wahlen in ganz Berlin statt. Als Besonderheit wurde sie am selben Tag wie die Bundestagswahl durchgeführt, an der auch die West-Berliner Bevölkerung zum ersten Mal teilnehmen konnte. Gemäß dem Viermächteabkommen hatte bis dahin lediglich das Abgeordnetenhaus nicht stimmberechtigte sogenannte Berliner Abgeordnete in den Bundestag delegieren können. Das Interesse an der Wahl zum Abgeordnetenhaus war in Berlin höher als das an der Bundestagswahl, weil diese als entschieden galt, während bei der Abgeordnetenhauswahl ein knappes Ergebnis erwartet wurde. Die AL hatte trotz des Ausstiegs aus der Koalition eine erneute Zusammenarbeit mit der SPD nach der Wahl nicht ausgeschlossen.
Wie schon das Ergebnis von 1989 war auch der klare Ausgang der Wahl von 1990 eine große Überraschung. Sowohl die SPD als auch die AL erlitten deutliche Niederlagen. Im Westteil Berlins, also im Vergleich zu 1989, büßten die beiden Parteien 7,8 beziehungsweise 4,9 Prozentpunkte ein, hier kam die CDU auf 49 Prozent gegenüber 29,5 Prozent für die SPD. Berlinweit kam die SPD auf 30,4 Prozent, die CDU erhielt 40,4 Prozent, obwohl sie im Osten klar hinter der SPD blieb. Die Alternative Liste und eine Listenvereinigung Bündnis 90/Grüne/UFV, ein Wahlbündnis aus Ost-Grünen, Bündnis 90 und dem Unabhängigen Frauenverband, traten noch getrennt zur Wahl an und erhielten insgesamt 9,2 Prozent der Stimmen. Nach der Wahl bildeten sie eine gemeinsame Fraktion, 1993 folgte die Fusion. Mit der PDS, die 9,2 Prozent der Stimmen erhielt, bekamen AL und SPD Konkurrenz im linken Lager. Allerdings spielte die SED-Nachfolgepartei bei dieser Wahl noch keine große Rolle in West-Berlin, hier erhielt sie lediglich 1,1 Prozent gegenüber 23,6 Prozent im Ostteil der Stadt. Einige ehemalige linke AL-Mitglieder wie Dirk Schneider, Harald Wolf oder Klaus Croissant kandidierten für die PDS. Schneider und Wolf zogen über die Landesliste in das Abgeordnetenhaus ein. Die FDP kehrte mit 7,1 Prozent ins Abgeordnetenhaus zurück. Die Republikaner scheiterten mit 3,1 Prozent erwartungsgemäß an der Fünf-Prozent-Hürde.
=== Große Koalition und weitere Entwicklung ===
Da Schwarz-Gelb keine Mehrheit erzielte, kam es zu einer großen Koalition unter Eberhard Diepgen (Senat Diepgen III). Vor Diepgen war es mit Max Brauer in Hamburg und Hinrich Wilhelm Kopf in Niedersachsen nur in den 1950er Jahren zwei Ministerpräsidenten gelungen, nach Abwahlen wieder in das Amt des Regierungschefs zurückzukehren. Momper, der Rot-Grün verbittert zum „Auslaufmodell“ erklärte, gehörte dem neuen Senat nicht an, blieb aber zunächst Landesparteichef.
Mit dem Senat Momper war auch die zweite rot-grüne Koalition nach der in Hessen vorzeitig zerbrochen. Allerdings existierte zu diesem Zeitpunkt seit dem 21. Juni 1990 in Niedersachsen ein Bündnis aus SPD und Grünen (Kabinett Schröder I) und seit dem 1. November 1990 in Brandenburg eine Ampelkoalition unter Beteiligung des Bündnis 90 (Kabinett Stolpe I). Da 1989/90 etwa 850 neue, in der Regel realpolitisch orientierte Mitglieder in die AL eintraten, während knapp 700 meist linke Parteimitglieder austraten, relativierte sich das Profil der Partei als ausgeprägt linker Landesverband. Diese Entwicklung, die in der nächsten Legislaturperiode durch die Fusion mit dem Ostberliner Bündnis 90 noch verstärkt wurde, und die Erfahrung in Regierung und Verwaltung förderten eine Strukturreform, die nach 1990 die basisdemokratischen Elemente der AL zurückdrängte. Erst elf Jahre nach dem ersten rot-grünen Experiment kam es wieder zu einer kurzfristigen Regierungszusammenarbeit zwischen der SPD und der inzwischen „Bündnis 90/Die Grünen“ heißenden AL in Berlin. Klaus Wowereit bildete nach dem Bruch der großen Koalition unter Eberhard Diepgen eine rot-grüne Minderheitsregierung (Senat Wowereit I), die von der PDS geduldet wurde. Dieser rot-grüne Senat hatte nur bis zum 17. Januar 2002 Bestand und wurde nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus vom 21. Oktober 2001 durch einen rot-roten Senat unter Wowereit abgelöst (Senat Wowereit II).
== Siehe auch ==
Liste der Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin (11. Wahlperiode)
Geschichte der deutschen Sozialdemokratie
Geschichte von Bündnis 90/Die Grünen
Politik in Berlin
Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin
== Literatur ==
Berliner Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und AL vom 13. März 1989, herausgegeben von der SPD Berlin, Berlin 1989
Gudrun Heinrich: Rot-Grün in Berlin. Die Alternative Liste in der Regierungsverantwortung 1989–1990. Schüren, Marburg 1993, ISBN 3-89472-079-4
Gudrun Heinrich: Rot-Grün in Berlin 1989–1990. In: Joachim Raschke: Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind. Bund, Köln 1993, S. 809–822, ISBN 3-7663-2474-8
Eckhard Jesse: Die Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 7. Dezember 1990. Die Korrektur der Korrektur von 1989. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 22 (1991), S. 390–405
Walter Momper: Grenzfall. Berlin im Brennpunkt deutscher Geschichte. Bertelsmann, München 1991, ISBN 3-570-02284-6
Wilfried Rott: Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948–1990. C. H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-59133-4
Horst W. Schmollinger: Die Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 29. Januar 1989. Ein überraschender Wandel im Parteiensystem. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 20 (1989), S. 309–322
Michaele Schreyer: Rot-Grün – Ein Auslaufmodell? Die Lehren aus Berlin. In: Ralf Fücks (Hrsg.): Sind die Grünen noch zu retten? Rowohlt, Reinbek 1991, ISBN 3-499-13017-3
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Senat_Momper
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Kastell Ala Nova
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= Kastell Ala Nova =
Das Kastell Ala Nova ist ein ehemaliges römisches Reiterkastell (Alenkastell für 500 Reiter) im österreichischen Abschnitt des oberpannonischen Limes. Es befand sich auf dem Gemeindegebiet von Schwechat, Niederösterreich, wenige Kilometer östlich von Wien. Die Fläche des einstigen Reiterkastells verteilte sich auf das Areal des heutigen Alanovaplatzes, den Friedhof und das Brauereigelände im Stadtteil Klein-Schwechat. Die Stationierung einer mobilen Reitereinheit war strategisch notwendig, um die weite Ebene zwischen Vindobona und Carnuntum entlang der Donau besser zu sichern und im Ernstfall die rasche Intervention zu ermöglichen.
Ala Nova wurde möglicherweise im späten 2. Jahrhundert mit Befestigungen aus Holz und Erde am derzeitigen Alanovaplatz errichtet. Am Anfang des 3. Jahrhunderts wurde es als rechteckig ummauertes Kastell aufgebaut. In der Belegungszeit bis ins 5. Jahrhundert sind mehrere Umbauphasen bekannt. Im Umfeld des Kastells wird aufgrund von Einzelfunden zumindest eine Zivilsiedlung (vicus) vermutet. Gräberfelder wurden im Bereich des Schwechater Hauptplatzes und südlich des Kastells, am Frauenfeld, entdeckt. Das Bodendenkmal ist seit 2021 Bestandteil des zum UNESCO-Weltkulturerbe erhobenen Donaulimes.
== Lage ==
Schwechat liegt am nordöstlichen Rand des Wiener Beckens an der Mündung des Flusses Schwechat in die Donau und wurde nach diesem Fluss benannt. Im Nordwesten ist die Stadt in den letzten Jahrzehnten mit Wien zusammengewachsen und grenzt direkt an den 11. Wiener Gemeindebezirk (Simmering).
Der Ort liegt in verkehrsgeographisch günstiger Lage am Schnittpunkt zweier bedeutender Verkehrswege: In Schwechat wird der Weg entlang der Donau von einer von der Leitha bei Deutsch Brodersdorf kommenden, über Moosbrunn und Himberg und weiter über die Donau und ihre nördlich angrenzenden Auen nach Groß-Enzersdorf führenden Route gekreuzt. Die Besiedlung der Region ist seit dem Neolithikum nachweisbar. Innerhalb von rund 6000 Jahren entstand auf nur fünf Kilometern Länge ein Ballungsraum mit 16 großflächigen Siedlungsgebieten. Das belegen sich beiderseits der Schwechat-Au hinziehende Fundstellen.Schwechat wird von insgesamt fünf Bächen,
der hier einmündenden Liesing,
der Schwechat (dem natürlichen Flussbett),
dem Schwechat-Mühlbach bei Schloss Rothmühle, der in den 1950er Jahren zugeschüttet wurde,
dem Mitterbach oder Wildbach oder Wildes Wasser (ein künstliches Entlastungsgerinne der Schwechat, das bei Achau beginnt und die überwiegende Wassermenge aufnimmt) und
dem Kalten Gangdurchflossen, wodurch das Stadtgebiet in zwei Teile geteilt wird, Klein-Schwechat im Westen und Groß-Schwechat am rechten Ufer des Kalten Ganges. Es ist davon auszugehen, dass an dieser Stelle schon in frühen Zeiten Brücken gebaut wurden, die mit dem Einzug der Römer und dem Ausbau der Limesstraße sehr wahrscheinlich als Steinbrücken ausgeführt wurden. Allerdings konnten davon bis jetzt keine Spuren gefunden werden.Das einstige Auxiliarkastell befand sich in Klein-Schwechat auf dem Areal des heutigen Alanovaplatzes, des Friedhofes und des Brauereigeländes nur wenige hundert Meter südlich des antiken Steilufers der Donau (heute am Grund genannt). Die Stationierung einer mobilen Reitereinheit war notwendig, um die weite und flache Ebene zwischen Vindobona und Carnuntum besser zu sichern und im Ernstfall rasch einschreiten zu können. Die Flussübergänge bzw. die Brücken über die drei Flussläufe in Schwechat hatten ebenfalls eine gewisse strategische Bedeutung, die aus der Häufung von archäologischen Spuren (Spitzgräben) von zwei bis eventuell drei Holz-Erde-Lagern in unmittelbarer Nähe dieser Flüsse abgeleitet werden kann. In der Kastellkette des Limes lag Ala Nova etwa sechs römische Meilen (neun Kilometer) südöstlich des Legionslagers Vindobona und 21 römische Meilen (31,1 km) westlich der Metropole (Ober-)Pannoniens, Carnuntum (Petronell).
== Name ==
Ala Nova bedeutet neu aufgestellte Reiterabteilung (lateinisch ala = Reiterabteilung, nova = neu).
In der antiken Literatur wird Ala Nova zweimal erwähnt: Das Itinerarium Antonini, ein um 300 n. Chr. neu redigiertes Straßenverzeichnis, nennt Ala Nova in der Nähe von Aequinoctio (Fischamend), einem Posten, der ziemlich genau in der Mitte zwischen Vindobona und Carnuntum lag („Aequinoctio et Ala Nova in medio Vindobona“). Das Itinerarium gibt die Entfernung Carnuntum–Vindobona mit 27 römischen Meilen an, die etwa 40,5 km entsprechen.In der Notitia dignitatum, einem Verwaltungshandbuch aus dem 5. Jahrhundert, wird ebenfalls ein Alanoua bzw. ein Ala nova (mitsamt der wohl dort zuletzt stationierten Einheit, den equites Dalmatae Ala nova) erwähnt.
Im Jahre 98 n. Chr. wurde die Ala I Flavia Britannica in Vindobona/Wien von der Legio XIII Gemina abgelöst. Es könnte das Bestreben gewesenen sein, den neuen Legionsstandort Vindobona zusätzlich an seiner südöstlichen Flanke abzusichern. Für diesen Zweck wurde ein Kastell in Schwechat errichtet. Der römische Ortsname Ala Nova dürfte auf eine (wahrscheinlich vollkommen neu aufgestellte) in Schwechat stationierte Reitereinheit zurückzuführen sein.
Der Name könnte auch davon herrühren, dass das neue Reiterlager nördlich von einem bereits am Westufer des Schwechat-Flusses bestehenden Holz-Erde-Lager errichtet wurde. Laut Hannsjörg Ubl (1980) stellt sich die Frage, ob der antike Name Ala oder Ala Nova nicht bereits auf dieses ältere Holz-Erde-Lager zurückzuführen sei.
== Forschungsgeschichte ==
=== Frühe Beobachtungen ===
Erste Hinweise für die römische Vergangenheit Schwechats gab die Antike Reise F. F. Wächters von 1821. Er erwähnt darin „… alte Mauern im Gottesacker von Schwechat“. Aufzeichnungen des Schwechater Notars Franz Schranzhofer zeigen, dass noch in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts Reste römischer Mauern sichtbar waren. In den Jahren 1843 und 1844 wurden in einem Brunnen am westlichen Stadtrand sechs römische Meilensteine gefunden, die ursprünglich 21 römische Meilen vor Carnuntum standen. 1879 wurde bei Feldarbeiten in der Nähe des Schwechater Friedhofs am Frauenfeld ein 60 cm hoher bauchiger Tontopf entdeckt, der einen Münzschatz mit etwa 12.000 versilberten Kupfermünzen aus dem 4. Jahrhundert (306 bis 361 n. Chr.) enthielt.
=== Grabungen 1910–1937 ===
Im Rahmen der regen Bautätigkeit an der Wende zum 20. Jahrhundert wurden abermals viele Münzen, Mauerwerk und zahlreiche Ziegel mit Stempeln der Legio X Gemina gefunden. In den meisten Fällen gerieten die Funde aber ohne wissenschaftliche Dokumentation in die Hände privater Sammler.Im Frühjahr 1910 entdeckte Johann Ableidinger, ehemaliger Bürgermeister und Heimatforscher von Schwechat, im Zuge von Erdaushubarbeiten für einen Bierkanal auf dem Grundstück der Brauerei Dreher das Profil des Kastellgrabens und die Fundamente der Umfassungsmauer. Die daraufhin von Josef Nowalski de Lilia durchgeführten Untersuchungen führten zur Rekonstruktion des Wallgangverlaufs, und Reste einer Kaserne konnten bestimmt werden. Im Herbst 1910 gelang dem Archäologen der Limeskommission, Eduard Nowotny, die Aufdeckung und nachfolgende Dokumentation eines beträchtlichen Teils der westlichen Befestigungsanlagen auf dem Brauereigelände. Diese Grabungsergebnisse ließen aber noch keine Feststellung über die Ausdehnung des Lagers zu. 1937 stieß man bei Erdarbeiten in der Umgebung des Friedhofs erneut auf römisches Mauerwerk. Bei der Errichtung eines Ablaufkanals am Alanovaplatz wurde dann die südöstliche Kastellfront angeschnitten, womit war etwa 40 Jahren nach der Entdeckung des Kastells die Dimensionen des Lagers bekannt waren.
=== Grabungen 1979–2009 ===
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg fanden einige kleinere Grabungen statt, insbesondere um die Kirche St. Jakob am Schwechater Hauptplatz sowie bei Wiederaufbauarbeiten der zahlreichen kriegsbeschädigten Gebäude im Bereich dieses Platzes und auf dem Gelände der Bezirkshauptmannschaft. Erst 1979 konnte wieder ein bedeutender archäologischer Fund gemacht werden. Beim Bau einer neuen Wohnanlage am Frauenfeld konnte Hannsjörg Ubl vom Bundesdenkmalamt an der Nordostecke der Baugrube angeschnittene Spitzgräben feststellen. Der Fund von Befestigungs- und Balkengräbchen wurde ein Hinweis auf eine mögliche Holz-Erde-Anlage an diesem Standort, etwa 400 Meter südlich des bisher bekannten Kastells Ala Nova. Ubl vermutet, dass diese Holz-Erde-Anlage älter ist als das Kastell. Dies bestätigte Ursula Langenecker vom Bundesdenkmalamt 1994 durch den Nachweis weiterer Spitzgräben in unmittelbarer Nähe der ersten Fundstelle. Unglücklicherweise wurde das Areal, in dem das frühe Holz-Erde-Lager vermutet wird, durch intensive Wohnbebauung weitgehend zerstört.
Eine kleinere archäologische Untersuchung im Bereich des Alanovaplatzes unter Leitung von Krista Süss vom Verein AUSINA im Jahr 2000 lieferte unter anderem Hinweise auf zwei Steinbauphasen des Kastells und eine vermutete frühe Holzbauphase des Lagers.
=== Untersuchungen ab 2010 ===
Seit der Grabung aus dem Jahre 1910 gab es keine systematische Untersuchung des römischen Kastells in Schwechat. Die Geschichte des Lagers und die damit verbundenen Fragen blieben deshalb lange Zeit weitgehend ungeklärt. Eine neue Wende in der Forschungsgeschichte des römischen Schwechats brachte das Jahr 2010, wo zwei großflächige Ausgrabungen auf dem Areal des ehemaligen Kastells zwischen dem Alanovaplatz und der Wiener Straße sowie im Stadtteil Frauenfeld, im Kreuzungsbereich der Gladbeckstraße und der Klederinger Straße, durchgeführt wurden. Beide Ausgrabungen erfolgten im Auftrag des Bundesdenkmalamts und wurden von der Firma AS-Archäologie Service. durchgeführt.
Am Frauenfeld wurde unter der Leitung von Mag. Igl und Mag. Leingartner neben einigen zum großen Teil geplünderten langobardischen Gräbern ein ausgedehnter ziviler römischer Friedhof entdeckt und untersucht. Zahlreiche Brandgräber mit zum Teil reichen Grabbeigaben und eine Reihe von Körperbestattungen wurden freigelegt. Vorläufige Auswertungen lassen eine Datierung der Funde auf das 2. bis 4. Jahrhundert n. Chr. zu. Die Lage der Gräber ließen den Verlauf einer Gräberstraße vermuten, die allerdings, bedingt durch die relativ seichte Fundlage, nicht mehr nachgewiesen werden konnte.Die Grabungsarbeiten am Alanovaplatz unter der Leitung von Mag. Scholz lieferten grundlegende neue Erkenntnisse. Zwei Kasernenbauten konnten fast vollkommen erfasst und mehrere Ausbesserungsphasen nachgewiesen werden. Eine erste römische Holzbauphase konnte allerdings nicht bestätigt werden. Dafür gibt es klare Hinweise auf eine frühere Besiedlung des Areals. Von besonderem Interesse waren Funde einer späten Umbauphase aus dem 4./5. Jahrhundert, mit denen die Umwandlung eines militärischen Lagers in ein ziviles Siedlungsareal in Steinbauweise eindeutig belegt werden konnten. Vom nahezu sensationellen Wert ist der erstmalige österreichische Nachweis einer awarenzeitlichen Besiedlung innerhalb eines römischen Lagers. Diese Ausgrabungen, die Anfang November 2010 abgeschlossen wurden, lieferten zahlreiche neue Erkenntnisse, die Größe, Lage und Geschichte von Ala Nova in ein gänzlich neues Licht bringen werden.Diese beiden stratigraphischen Grabungen sowie deren zahlreichen Funde werden seit 2012 im Rahmen einer Dissertation des Österreichischen Archäologischen Instituts (Projektleitung Stefan Groh) umfassend aufgearbeitet.Im November 2011 wurde im Auftrag der Stadtgemeinde Schwechat und der Asset One Immobilienentwicklung AG eine geophysikalische Prospektion durch die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik auf dem ehemaligen Gelände der Brauerei Schwechat westlich des Klein-Schwechater Friedhofs, wo weitere Reste des römischen Reiterkastells vermutet werden, durchgeführt. Insbesondere die Georadar-Messungen zeigen im Tiefenbereich von etwa 0,75 m eine rechteckige Struktur (9 × 35 m) mit scheinbar erhaltenem Steinboden und Innenunterteilungen. Weitere parallele Strukturen sowie einen Graben sind ebenfalls erkennbar. Diese Ergebnisse lassen spannende Grabungen mit mindestens so spannenden Ergebnissen in die nächste Zukunft erwarten.
== Holz-Erde-Lager und Kastell ==
=== Frühes Holz-Erde-Lager ===
Die Frage nach ein frühes Holz-Erde-lager in Schwechat konnte bis jetzt nicht eindeutig beantwortet werden. Die jüngsten Ausgrabungen im Jahre 2010 am Alanovaplatz konnten eine ausgedehnte Holzbauphase nicht belegen. Im Südost Bereich des Grabungsareals konnte zwar einige Hinweise auf eine frühe Bauphase identifiziert werden, allerdings ließen sich aus den Befunden keine Strukturen bzw. Bau ableiten. Das Fundmaterial dieser möglichen frühen Lagerphase ist in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts zu datieren.
Einen weiteren Hinweis auf ein frühes Holz-Erde-Lager, allerdings südlich des Steinkastells an der Kreuzung Gladbeck- und Brauhausstraße, in unmittelbarer Nähe des damals an dieser Stelle verlaufenden Mühlbachs, konnten 1979 H. Ubl und 1994 U. Langenecker Spitzgräben feststellen. In unmittelbarer östlicher Nähe waren auch Balkengräbchen im Mutterboden zu sehen. Hannsjörg Ubl glaubt an dieser Stelle ein frühes Holz-Erde-Lager entdeckt zu haben und vermutet eine Datierung in flavischer Zeit (Hannsjörg Ubl, 1980). Unter anderem konnten auf diesem Areal 1976 römische Gebrauchskeramik und Fragmente von reliefverzierten Terra-Sigillata-Schüsseln geborgen werden.
Im Untersuchungsbericht von 1994 wird der angeschnittene Graben als exakt ausgehobener, spitzförmiger Graben beschrieben. Seine Tiefe betrug 1,8 m (2,6 m unter der Humusoberkante), die maximale Breite 3,8 m. Die Fundstücke aus den untersten Schichten eigneten sich aber wegen ihres schlechten Erhaltungszustandes bzw. starker Abnutzung nicht mehr für eine exakte Datierung. Die Funde aus der oberen Verfüllung des Grabens sind nicht vor der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts anzusetzen. Zur Bestimmung der Ausdehnung, Orientierung sowie Datierung des Lagers wären weitere Grabungen auf den wenigen noch nicht zerstörten Bereichen dieses Areals notwendig.
Im Rahmen einer Grabungskampagne im Juni 1950 im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der im Krieg beschädigten St.-Jakobs-Kirche in Groß Schwechat wurden am Hauptplatz 21a wiederum die Profile von zwei Spitzgräben angeschnitten, deren römische Herkunft nachgewiesen wurde. Eine genauere Datierung war allerdings nicht möglich. Eigenartigerweise fand dieser Hinweis in der späteren Literatur und der wissenschaftlichen Diskussion keine Beachtung. Ob diese Spitzgräben auf ein frühes Marschlager bzw. Holz-Erde-Lager am Ostufer der Flüsse in Schwechat hindeuten, oder als Einfriedung bzw. Abgrenzungen eines Grabes des an dieser Stelle befindlichen römischen Friedhofs dienten, kann derzeit nicht beantwortet werden.
=== Kastell Ala Nova ===
Die Untersuchungen von E. Nowotny und J. Ableidinger zwischen 1910 und 1937 ermöglichten eine genaue Bestimmung der Größe und Position des Steinkastells. Die Grabung im Frühjahr 1910 der k&k-Limeskommission unter der Leitung von E. Nowotny führte zur Aufdeckung eines beträchtlichen Teiles der Lagerbefestigung auf dem damaligen Gelände der Brauerei Dreher. Im Bereich des Alanovaplatzes und des Friedhofs konnte auf einer Linie von 153 Metern das Vorhandensein der von Nordost nach Südwest streichenden Lagerfront (linke Prinzipalseite) bestätigt werden, die im Nordabschnitt von einem 19 Meter breiten Torbau durchbrochen war. An der Nordwestfront schloss sich nach einer abgerundeten Ecke in einem Winkel von 88,5 Grad die südwestliche Kastellfront an, deren Verlauf bis zu einer Länge von 160 Metern beobachtet werden konnte.
Durch zwei Funde von J. Ableidinger (Wasserleitungsgraben im Juni 1928 im Hause Wiener Straße 35 und Kanalarbeiten am Alanovaplatz im Jahre 1937) dachte man die genauen Lagerausmaße bestimmt zu haben. Eine antike Mauer 30 bis 40 m hinter der Mauerflucht der Häuser Wienerstraße 33 und 35 wurde als Lagermauer interpretiert und die Seitenlänge des Lagers mit auf 206 m festgelegt. Die Jüngste Grabung von 2010 am Alanovaplatz konnte den nördlichen Spitzgraben unmittelbar entlang der Wienerstraße identifizieren, sodass die Lagermauer, wenn auch keine Artefakte mehr nachweisbar sind, etwa 20 m nördlicher als bisher angenommen liegen muss. Das Anschneiden der südöstlichen Längsseite im Jahre 1937 erbrachte die Breitenmaße des Lagers: Die Innenbreite betrug 168 Meter, die Mauer war zwei Meter dick. Das Schwechater Lager umfasst eine Fläche von ca. 225 × 170 Metern, also 3,8 Hektar; diese Größe war für eine Auxiliartruppe von 500 Mann durchaus üblich. Die Südwestecke des Kastells war abgerundet und zusätzlich mit einem verhältnismäßig kleinen und nur leicht nach innen versetzten viereckigen Turm mit sechs Meter Seitenlänge verstärkt. In der Mitte der Linie zwischen der südwestlichen Lagerecke und der porta principalis sinistra befand sich noch ein innen angesetzter Zwischenturm. Dieser wies die gleichen Abmessungen wie der Südwest-Eckturm auf, nur die Mauerstärke war etwas geringer.Beim westlichen Wehrgraben konnten zwei Bauphasen festgestellt werden:
Graben I: An die Umfassungsmauer schloss sich eine 1,65 bis 1,80 Meter breite Berme an, daran ein Graben von etwa sechs Meter Breite, in dessen Sohle mittig ein Wasserabzugsgraben (Künette) von trapezförmigem Querschnitt eingetieft war.
Graben II: Der frühere Graben war durch einen zweiten, größeren überlagert, der eine Breite von 9,55 Meter laut Nowotny, 11,40 Meter laut Ableidinger (1929) hatte und etwa vier Meter unter dem heutigen Bodenniveau lag. Zwischen Mauer und Graben wurde eine Berme von ca. zwei Meter Breite festgestellt. In der Nähe des Tores verbreiterte sich der Wallgraben, der an dieser Stelle etwas ausgebuchtet war.Die Fundamentgrube der Wallmauer betrug etwa fünf römische Fuß (1,46 bis 1,65 m). Die Grundmauern schienen aus weißem Betonmörtel zu bestehen. Das aufgehende Mauerwerk bestanden wahrscheinlich aus sarmatischem muschelhaltigem Sandstein aus Atzgersdorf. Im Graben wurden Teile einer Mauer gefunden, die offensichtlich bei der Zerstörung des Kastells hineingestürzt waren. Die Mauer muss nach dem Umfang der Schuttmasse mindestens fünf bis sechs Meter hoch gewesen sein (Ableidinger, 1929). Innerhalb der Umfassungsmauer befand sich der Wehrgang, der eine Breite von drei Metern aufwies und anhand von Pfostenlöchern, die den Wallgang nach innen abstützten, erkannt wurde.Besonders bemerkenswert war die Aufdeckung des Westtores, der porta principalis sinistra, dessen Abmessungen sich wie bei der Kastellmauer nur aus den Fundamentgruben rekonstruieren ließ. Es handelte sich um ein überwölbtes Doppeltor mit einer Breite von 19 Metern, das zwei rechteckige Türme flankierten. Zwischen den Türmen befand sich ein Wehrgang.
Bei der Ausgrabung des Tores fand sich in einer Mauernische ein Hohlziegel, der vermutlich Bestandteil der Heizungsanlage für die oberen Wachräume war. Durch die Lokalisierung des Westtores konnten die relativ grob ausgeführte Pflasterung der via principalis und zwei Mauerreste von etwa 60 cm Höhe aufgedeckt werden. Die Breite der via principalis betrug 17,23 Meter (60 römische Fuß).
An der westlichen Umwehrung konnte das Intervallum (Zwischenraum) durch eine 60 Zentimeter breite Mauergrube und einen sich nach innen anschließenden Estrich auf 9,95 Meter weiterverfolgt werden. An der Dekumanfront (d. h. im hinteren Teil, die nicht dem Feind zugewandte Lagerhälfte) konnte die Pflasterung der Lagerstraße bis auf eine Länge von 16,65 Metern nachgewiesen werden. Ein kleines Stück der betonierten Wallböschung zeigte sich am westlichen Zwischenturm.Administratives Zentrum jedes größeren Kastells war das Stabsgebäude, die Principia mit dem Lager- oder Fahnenheiligtum. An der Stelle der Principia von Ala Nova steht heute eine Friedhofskapelle. Sie ist der letzte Überrest der Pfarrkirche Maria am Anger, die 1815 wegen Baufälligkeit abgerissen werden musste. Auffällig ist, dass die Fundamente der Kapelle und der einstigen Kirche parallel zu den Umfassungsmauern des Kastells verlaufen und daher höchstwahrscheinlich mit diesen in Zusammenhang stehen (Ableidinger 1929). J. Ableidinger nahm an, dass die Innenbauten des Lagers überwiegend aus Holz waren, wogegen das Stabsgebäude (principia) und das Fahnenheiligtum in Stein errichtet worden waren. Dies lässt auch der Fund von zwei Säulen vermuten, die im 19. Jahrhundert innerhalb des Friedhofes, das heißt auf dem ehemaligen Kastellareal, entdeckt wurden (Ableidinger 1929).
Im Jahr 2000 fand eine Grabung durch den Verein AUSINA (Leitung Krista Süß) statt. Dabei konnte herausgefunden werden, dass sich die mittel-kaiserzeitlichen Baubefunde in zwei Steinperioden manifestierten. Erwähnenswert ist der Fund unter den ältesten Mauerzügen einer stark profilierten Fibel mit gelochtem Nadelhalter, der vermutlich ins 1. Jahrhundert zu datieren ist. Die drei unterschiedlichen Fundhorizonte spiegeln eine intensive Nutzung des Lagerareals wider und werden der Steinbauperiode I und II zugerechnet. Unklar bleibt jedoch, ob die gefundenen Mauerreste Bestandteil einer Kaserne bzw. eines Pferdestalls waren. Beachtung verdient die Entdeckung von Pfostensetzungen unter dem Steinkastell Ala Nova. Überraschend ist die Orientierung dieser Pfostenlinie, die sich vom Steinbau durch eine exakte Nord-Süd-Ausrichtung und auch durch die Höhenlage klar abgrenzte.
Die Grabung von 2010 lieferte gänzlich neue Erkenntnisse. Die ersten Befunde von der Grabung 2000 für das Bestehen eines frühen Holz-Erde-Lagers konnten nicht bestätigt werden. Vielmehr wurde nun erkannt, dass das römische Kastell auf Bereits bewohntes Gebiet entstanden ist. Die aktuellen Befunde zeigen, dass das Reiterlager größer ist als bisher vermutet. Da wo die östliche Kastellmauer und Graben erwartet wurden, wurden Kasernenbaracken festgestellt. Im Norden konnte der Graben identifiziert werden, allerdings deutlich nördlicher als erwartet. Die Feststellung einer zivilen Besiedlung auf dem Areallager im späten 4. bzw. frühen 5. Jahrhundert zeigt, dass auch in Ala Nova eine ähnliche Entwicklung wie bei den benachbarten Lagern bzw. Kastellen stattfand.
== Besatzung ==
Die Besatzung des frühen Holz-Erde-Lagers ist nicht bekannt. Ebenfalls unbekannt ist der Name derjenigen Reitereinheit, die nach Ausbau des Steinkastells I dort stationiert wurde. Für das 2. Jahrhundert stand zunächst die Ala I Thracum Victrix zur Diskussion, allerdings belegen Neufunde von Ziegelstempeln mit großer Sicherheit den Standort der Truppe bei Petronell-Carnuntum. Es wurde ebenfalls bereits postuliert, dass Ala Nova überhaupt keine eigenen Truppen hatte und das Lager möglicherweise nur ein „Außenposten“ einer der benachbarten Legionsfestungen, Vindobona oder Carnuntum, war. Für die Spätantike lässt sich – im Zusammenhang mit den Überlieferungen aus der Notitia dignitatum – allerdings noch eine Reitereinheit der Equites Dalmatae für Ala Nova (ebenso für das benachbarte Kastell Aequinoctium/Fischamend) eindeutig zuordnen.
== Vicus ==
Die genaue Lage der Zivilsiedlung von Ala Nova ist bis dato unbekannt geblieben. Siedlungsbefunde wurden nur an wenigen Stellen in Schwechat dokumentiert. Eine Grube mit Fundmaterial des 2. beziehungsweise 3. Jahrhunderts fand sich südlich des Kastellareals. Die Verfüllung des Kastellgrabens enthielt Artefakte, die im Zusammenhang mit einer Siedlung stehen könnten. In den letzten 200 Jahren wurden zahlreiche Streufunde, vor allem Keramik, innerhalb des Brauereigeländes aufgelesen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass der vermutlich gleichzeitig mit dem Kastell angelegte Vicus südlich des Lagers gelegen war, die genaue Ausdehnung konnte aber bisher wegen starker Überbauung nicht erfasst werden. Ob dies allerdings jemals zweifelsfrei geklärt werden kann, ist fraglich, weil der Vicus sich wohl größtenteils auf dem Gelände des Brauhauses befand, wo Ende des 19. Jahrhunderts für den Bau großangelegter Bierkeller große Erdbewegungen stattfanden. Dadurch erklären sich auch die vielen kaum dokumentierten Funde in dieser Zeit. Römerzeitliche Funde am rechten Ufer der Schwechat, wo zum Beispiel in der Sendnergasse eine antike Ofenanlage entdeckt wurde, sind weitere römische Siedlungsspuren.
== Gräberfelder ==
Aus den Aufzeichnungen von J. Ableidinger (1929) geht hervor, dass bereits im 19. Jahrhundert auf dem Gelände der Brauerei ein Leichenfeld gefunden und zahlreiche andere Funde gemacht wurden. Allerdings wurden sie von Sammlern entwendet und daher nicht wissenschaftlich erfasst. Südlich des Kastellareals wurden noch weitere Gräber entdeckt. So konnte 1929 unter den völkerwanderungszeitlichen Bestattungen des Gräberfeldes Ried Frauenfeld ein frühkaiserzeitliches Brandgrab identifiziert werden. Rechts der Brauereistraße, Richtung Katastralgemeinde Rannersdorf, wahrscheinlich noch im Bereich des Frauenfelds, wurden im Jahr 1968 drei weitere Körpergräber aus der Römerzeit geborgen.
Ein weiteres Gräberfeld befindet sich im Bereich des Hauptplatzes von Schwechat, da dort eine Reihe spätantiker Bestattungen gesichert werden konnte. Einer der ältesten dokumentierten Funde ist ein römisches Skelettgrab, das 1923 am Hauptplatz 5 aufgefunden wurde. Weitere vier römische Gräber wurden 1927 (ebenfalls am Hauptplatz) durch M. Müllner beschrieben. Im selben Jahr wurde im Hof des damaligen Bezirksgerichts (heute Bezirkshauptmannschaft) ein römerzeitliches Grab mit verschiedenen Gefäßen gefunden. Am 31. März 1933 deckte J. Ableidinger in der südöstlichen Ecke der Hammerbrothütte ein römisches Steinplattengrab auf. Es handelte sich dabei vermutlich um ein Reitergrab aus dem frühen 4. Jahrhundert, zumindest weisen die neben den Skelett eines etwa 35-jährigen Mannes gefundenen Grabbeigaben, ein Hufeisen, eine eiserne Schnalle, ein Messer sowie einige Pferdezähne, darauf hin. Für dieses Grab war ein Grabstein aus der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts als Abdeckung verwendet worden. Das Reitergrab wurde restauriert und konserviert und in der Eingangsaula des Bundesgymnasiums/Bundesrealgymnasiums aufgestellt. E. Neumann berichtete 1950 vom Fund mehrerer Gräber und goldener Ohrgehänge bei einer Grundaushebung im Zuge der Beseitigung von Kriegsschäden am Hauptplatz 21 und 21a. In diesem Zusammenhang wurde am Hauptplatz 23 auch ein spätrömischer Sarkophag geborgen.
Bei der Beseitigung von Kriegsschäden am Hauptplatz 6 wurden drei Sarkophage mit Körperbestattungen und ein Gefäß aufgefunden, daneben zwei Erdbestattungen (ohne Beigaben). An der Eckparzelle Hauptplatz, Bruck-Hainburgerstraße, ehemals Neckam (Hauptplatz 3), konnte trotz der Zerstörung des dortigen Kindergrabes noch ein in sich verdrehter (tordierter) Goldohrring aufgefunden werden. Im Jahr 1958 legte Hans Walter bei Erdarbeiten für eine neue Straße innerhalb des Areals der Schwechater Brauerei zwischen Flaschenhalle und ehemaliger Soma-Anlage ein mit dem Kopf nach Osten ausgerichtetes Skelett frei. Der Oberkörper war in einem Winkel von 70 Grad aufgerichtet. An der linken Hand befand sich eine Bronzemünze (reduzierter Follis des Constantius Chlorus, 293–306, geprägt in Ticinum) gefunden. Das Skelett wurde dem Landesmuseum Niederösterreich (seit 2015: Museum Niederösterreich) übergeben, die Münze befindet sich im Besitz der Brauerei Schwechat. Im Jahr 1963 wurden im Aushub eines 2,50 Meter tiefen Kanalgrabens in der Sendnergasse/Ecke Hauptplatz Skelettteile und römische Keramikscherben festgestellt, offensichtlich waren dort vorher einige Körpergräber zerstört worden. Beim Fundamentaushub für Gebäude der Bezirkshauptmannschaft am Hauptplatz 3 wurde 1964 eine Körperbestattung, die parallel zum Gehsteig ausgerichtet war, zerstört. Die Ausdehnung des Gräberfeldes am Hauptplatz ist unbekannt, man weiß nur, dass es sich im Bereich der Limesstraße befindet, deren Trasse einst dort entlanglief.
Die Grabungen von 2010 am Frauenfeld konnten ein umfangreiches ziviles Gräberfeld südlich des Lagerareals nachweisen. Die Gräber waren weitestgehend ungeplündert. Die Brandgräber und Körperbestattungen waren zum Teil sehr reichhaltig mit Grabbeigaben versehen. Die Position und Häufung der Bestattungen lassen eine Ost-West Gräberstraße vermuten. Bedingt durch die relativ seichte Tiefe der Funde – es konnte kein Begehungshorizont festgestellt werden – konnte diese Gräberstraße nicht mehr nachgewiesen werden.
== Limesstraße und Meilensteine bei Ala Nova ==
Ein Teil der Limesstraße der Strecke Carnuntum–Schwechat befindet sich in der Nähe der Bahn-Haltestelle Mannswörth. Der weitere Verlauf ostwärts konnte auf etwa 1,5 Kilometer an einem Uferabbruch der Donau in der Poigenau und in einigen Schottergruben verfolgt werden. Westlich der Haltestelle Mannswörth verläuft die ehemalige Limesstraße etwa 1,5 Kilometer unter dem heutigen Bahndamm und tritt wieder zutage, wo die heutige, parallel verlaufende Fahrstraße sich wieder von der Bahn abkehrt. Die Limesstraße von Schwechat nach Wien führte vermutlich nicht direkt durch das Lagerareal, sondern wahrscheinlich südwestlich des heutigen Friedhofes auf den Bahnhof Klein-Schwechat zu, machte dort einen Bogen und führte weiter zur Ostmauer des Zentralfriedhofes, unter dessen Verwaltungsgebäuden sie sich weiter fortzusetzen scheint, entlang der Simmeringer Hauptstraße in Richtung des ehemaligen Legionslagers Vindobona.
Die Lage der angenommenen Straßen-Abzweigung zum Lager Ala Nova blieb bisher unbekannt. Es ist davon auszugehen, dass die zu Ala Nova führende Abzweigung der Limesstraße erst nach den Übergängen über die Schwechat-Flüsse angelegt war, wahrscheinlich südwestlich des Kastells; dies deshalb, weil dort auch der Vicus vermutet wird und bisher kein Hinweis darauf gefunden werden konnte, dass die einstige Limesstraße sich an der Stelle der heutigen Wienerstraße befand.Eine Häufung von Meilensteinen wie die der sechs, die vermutlich ursprünglich am östlichen Ufer der Schwechat standen und die Entfernung von Carnuntum aus angaben, verleitet zu der Schlussfolgerung, dass dieser Punkt auch die Grenze zum Stadt- und Lagerterritorium Carnuntums war. Aus diesem Grunde wurde die Schwechat als Grenze zwischen den Territorien von Carnuntum und Vindobona angenommen. Die Ursache für die Aufstellung von sechs Meilensteinen innerhalb von wenigen Jahren um die Mitte des 3. Jahrhunderts bei Schwechat, also an einer Ost-West-Hauptverkehrsverbindung, mögen aber nicht nur Ausbesserungen an Straßen und Brücken gewesen sein, sondern sicherlich auch politische Propaganda, da auf solchen Meilensteinen üblicherweise die gerade regierenden Kaiser mit ihrer vollständigen Titulatur verewigt wurden, um ihre Leistungen für die jeweilige Provinz gebührend herauszustreichen.
== Denkmalschutz und Fundverbleib ==
Alle hier beschriebenen Anlagen sind Bodendenkmäler im Sinne des Österreichischen Denkmalschutzgesetzes. Nachgrabungen und Sammeln von Artefakten und Funden ohne Genehmigung des Bundesdenkmalamtes stellen eine strafbare Handlung dar. Zufällige Funde archäologischer Objekte (Mauern, Keramik, Münzen, Knochen etc.), sowie alle in den Boden eingreifenden Maßnahmen sind dem Bundesdenkmalamt zu melden.
Viele Funde von J. Ableidinger werden im Museum Niederösterreich in St. Pölten aufbewahrt (Sammlung Ableidinger). Die Funde aus der kleineren Grabung im Jahre 2000 werden derzeit von der Stadtgemeinde Schwechat gelagert. Die Funde aus beiden Grabungen im Jahr 2010 (Kastell und Friedhof) wurden nach ihrer Restaurierung zum Teil im Rahmen einer Ausstellung im Jahre 2011 der Öffentlichkeit gezeigt (Ausstellung „Spuren der Zeit“ in den Räumlichkeiten der städtischen Bücherei von Schwechat). Derzeit sind die Funde der Öffentlichkeit leider nicht mehr zugänglich und werden im Wesentlichen in der Kulturfabrik Hainburg aufgehoben.
== Literatur ==
Eduard Nowotny: Die Grabung in Schwechat. In: Anzeiger der Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-hist. Klasse. Band 48. Wien 1911, S. 44 ff.
Johann Ableidinger: Geschichte von Schwechat. Verlag der Stadtgemeinde Schwechat, Schwechat 1929.
Gertrud Pascher: Römische Siedlungen und Straßen im Limesgebiet zwischen Enns und Leitha. In: Der römische Limes in Österreich. Band 19. Wien 1949, S. 138 ff. und 189 ff.
Hannsjörg Ubl: Der österreichische Abschnitt des Donaulimes. Ein Forschungsbericht (1970–1979). In: Roman Frontier Studies. Oxford 1980, S. 587 ff.
Kurt Genser: Der österreichische Donaulimes in der Römerzeit. Ein Forschungsbericht. In: Der römische Limes in Österreich. Band 33. Wien 1986, ISBN 3-7001-0783-8, S. 564 ff.
Manfred Kandler: Der römische Limes in Österreich. Ein Führer. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien 1989, ISBN 3-7001-0785-4, S. 199 ff.
Franz Sauer: Fundstelle Rannersdorf. Die archäologischen Grabungen auf der Trasse der S 1. Bundesdenkmalamt, Wien 2006, S. 61 ff.
Ana Zora Maspoli: Schwechat - Ala Nova. Auxiliarkastell - vicus. In: Verena Gassner, Andreas Pülz (Hrsg.): Der römische Limes in Österreich. Führer zu den archäologischen Denkmälern. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2015, ISBN 978-3-7001-7787-6, S. 267–270.
== Weblinks ==
Ala Nova
Der römische Limes in Österreich
Liste der Kastelle in Noricum und Oberpannonien
Liste der Limeskastelle in Ungarn
Liste der Kastelle am Obergermanisch-Raetischen Limes
Lage des Kastells auf Vici.org
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kastell_Ala_Nova
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Kastell Hesselbach
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= Kastell Hesselbach =
Das Kastell Hesselbach war ein römisches Numeruskastell der älteren Odenwaldlinie des Neckar-Odenwald-Limes. Das heutige Bodendenkmal befindet sich auf dem Gebiet von Hesselbach, einem Ortsteil der Stadt Oberzent im Odenwaldkreis. Die einstige Fortifikation ist das am besten erforschte Militärlager des Odenwaldlimes und das südlichste Limeskastell Hessens. Das Kastell Hesselbach dient als „Referenz-Kastell“ für nahezu alle anderen Militärlager des Odenwaldlimes, die hier gewonnenen Erkenntnisse werden in der Provinzialrömischen Archäologie zur Interpretation des gesamten Limesabschnitts zwischen Main und Neckar herangezogen.
== Lage ==
Das ehemalige Kastell Hesselbach liegt am nordöstlichen Ortsrand von Hesselbach auf einem als Wiesenfläche genutzten, nicht überbauten Gelände am östlichen Ortsrand, unweit der heutigen hessisch-bayrischen Landesgrenze. Vor seiner Prätorialfront (Vorderfront) und vor den beiden Flanken verlaufen moderne Straßen, an die Dekumatseite (Rückfront des Kastells) schließt das Hof- und Weidegelände eines landwirtschaftlichen Betriebes an. Die Konturen der ehemaligen Umwehrung zeichnen sich deutlich im Gelände ab.
Topographisch befindet sich das Kastell in 489 m ü. NHN auf dem Plateau eines Höhenrückens, der sich von der Mündung der Mümling bei Obernburg bis in die Gegend um Schloßau im SSO erstreckt. Das Plateau mit seinen nährstoffarmen Buntsandsteinverwitterungsböden in relativ rauem Klima bot und bietet nicht gerade die besten Voraussetzungen für menschliche Ansiedlungen. Doch verläuft der Buntsandsteinrücken parallel zur Mümling auf relativ gleichmäßiger Höhe, weshalb er sich wahrscheinlich als Grenzlinie besonders anbot. Vorrömerzeitliche Funde fehlen in dieser Gegend und auch das römische Fundmaterial weist auf eine rein militärische, bestenfalls eine sehr kurzfristige zivile, nachkastellzeitliche Nutzung des Platzes hin.
== Forschungsgeschichte und Bedeutung ==
Das Kastell Hesselbach fand bereits bei Ernst Christian Hansselmann (1699–1776) 1768 eine kurze Erwähnung. Eine ausführlichere Beschreibung erfolgte ein halbes Jahrhundert später bei Johann Friedrich Knapp (1776–1848), der den Odenwaldlimes im Auftrag des Grafen Franz I. zu Erbach-Erbach (1754–1823) untersuchte. Von der hessischen Limeskommission wurde der Kastellbereich vermutlich nur oberflächlich untersucht, die Identifikation der Befunde mit einem Kastell überhaupt in Frage gestellt, da lediglich an einer Stelle festes Mauerwerk nachgewiesen werden konnte. Im Jahre 1895 wurden die Ausgrabungen der Reichslimeskommission unter der Leitung des Streckenkommissars Friedrich Kofler (1830–1910) durchgeführt. Die Veröffentlichung der Ergebnisse fand bereits 1896 statt.Um konstruktive Details noch erhaltener römischer Kastelltoranlagen zu studieren, besuchte 1961 der provinzialrömische Archäologe Dietwulf Baatz (1928–2021) das tripolitanische Limeskastell Gholaia. Analog übertrug er seine zur Diskussion gebrachten Beobachtungen auf zeichnerische Rekonstruktionen der Torbauten am Kastell Hesselbach. Baatz hatte anschließend auch die wissenschaftliche Leitung der umfangreichen Untersuchungen mit den damals modernsten Methoden inne, als Hesselbach von 1966 bis 1968 durch das Saalburgmuseum ergraben wurde. Diese Grabungen sowie die hieraus resultierende Publikation waren wegweisend für weitere Forschungen am Odenwaldlimes. Seit der Grabungskampagne der 1960er Jahre gilt das Kastell Hesselbach als das am besten erforschte Numeruskastell des Odenwaldlimes, vor allem, weil im Unterschied zu anderen Odenwaldkastellen die Innenbebauung umfassend erschlossen und dokumentiert werden konnte. Die Innenbebauung der anderen Numeruskastelle der Odenwaldlinie wird seither oft analog zu der des Kastells Hesselbach rekonstruiert.
== Befunde ==
Während sich die Ausgrabungen der Reichs-Limeskommission Ende des 19. Jahrhunderts in erster Linie der Kastellumwehrung gewidmet hatten (es war auch mit den feldarchäologischen Methoden jener Zeit noch gar nicht möglich, die komplexen und diffizilen Befunde der Innenstrukturen zu erfassen), lag der Schwerpunkt der Untersuchungen der 1960er Jahre auf der Erforschung des Lagerinneren. Bei beiden Befundkomplexen gelang es, mehrere Bauphasen voneinander zu differenzieren. Da kein gesicherter stratigraphischer Zusammenhang zwischen den Perioden der Umwehrung und den Phasen der Innenstrukturen hergestellt werden konnte, wurden unterschiedliche Bezeichnungen gewählt. Es ist jedoch aufgrund der Befunde und der Verteilung des Fundmaterials erlaubt, Korrelationen zwischen diesen herzustellen.Zeitliche Korrelationen zwischen den Bauphasen der Umwehrung und der Innenstrukturen:
=== Umwehrungen ===
Die Form und der Umfang (und somit die eingeschlossene Fläche) der Umwehrungsanlagen des Kastells Hesselbach änderten sich während der verschiedenen Bauphasen nicht oder nur in Details. Die verschiedenen Mauern lagen nahezu übereinander. Das gesamte durch die Wehranlagen definierte Kastellgelände nahm zu allen Zeiten eine Fläche von rund 6000 Quadratmetern ein. Ebenfalls während der gesamten Zeit seiner Existenz war das Vordertor (Porta praetoria) der Fortifikation zum Limes hin ausgerichtet, der das Kastell in nur etwa 150 Meter Entfernung östlich passierte. Auffällig ist, dass die Porta principalis dextra (rechtes Seitentor) und nicht die Porta praetoria die größte Durchfahrtbreite besaß, was dafür spricht, dass dieses Seitentor die Funktion eines „Haupttores“ übernahm. Die Konturen der Kastellumwehrung sind im größtenteils nicht überbauten Wiesengelände noch heute gut zu erkennen, die moderne Wegführung läuft außen um das Kastell herum. Eine Schautafel mit Erläuterungen ist im Norden des Kastells zu finden.
==== Umwehrung A ====
Die älteste „Umwehrung A“ entstand zusammen mit dem Kastell in trajanischer Zeit und war gänzlich in Holz-Erde-Bauweise ausgeführt. Die hölzerne Palisade wurde nach hinten, also zum Lagerinneren hin, mit einem durch Holzpfähle verstärkten Erdwall stabilisiert, der gleichzeitig die Funktion hatte, einen einfachen Wehrgang zu tragen. Vor dieser Holz-Erde-Mauer befand sich – nach einer schmalen Berme – ein Spitzgraben in Form einer sogenannten fossa Punica („Punischer Graben“). Bei der fossa Punica war die dem Feind zugewandte Böschung des Grabens deutlich steiler eingetieft als die zum Lager hin weisende. In dieser frühen Phase besaß die Umwehrung nur drei Tore: neben der Porta praetoria gab es eine Porta principalis dextra (rechtes Seitentor) und eine Porta principalis sinistra (linkes Seitentor). Die Porta decumana (rückwärtiges Tor) fehlte und konnte auch nicht in Form einer reduzierten Schlupfpforte nachgewiesen werden, wie sie von der letzten Bauphase her bekannt ist. Die Tore waren von hölzernen Tortürmen flankiert, wobei jeder einzelne von sechs Pfosten getragen wurde. Alle Indizien sprechen für das Fehlen von Ecktürmen, jedoch können diese nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden.
==== Umwehrung B ====
In hadrianischer Zeit, genauer zwischen 115 und 130, wurde die hölzerne Umwehrung durch eine zweischalige Trockenmauerkonstruktion ersetzt. Diese Konstruktion, die sogenannte „Umwehrung B“, besaß eine Gesamtbreite von 5,00 bis 6,90 Metern. Der Raum zwischen der bis zu 1,50 Meter breiten äußeren Mauerschale und der etwas schmaleren inneren Mauer war mit von Knüppelholzeinlagerungen durchsetzter Erde verfüllt. Die Mauerschalen waren aus unbehauenem lokalem Buntsandstein ausgeführt. Die Konstruktion trug einen möglicherweise mit Holzbohlen befestigten Wehrgang und auf der Feindseite eine aus Brettern oder Flechtwerk bestehende Brustwehr. Die in der Phase A angelegte fossa Punica diente weiterhin als Wehrgraben, war allerdings im Laufe der Jahre so weit zugeschwemmt, dass sie keine prägnante Spitze mehr besaß. Ebenfalls ohne Veränderung übernommen wurden die hölzernen Torbauten. Das Lager besaß weiterhin nur diese drei Tore, die in der späteren Bauphase festgestellte Schlupfpforte an der Dekumatfront konnte für diese Periode nicht festgestellt werden. In dem hierfür anzunehmenden Bereich wurde stattdessen ein Abwasserkanal angelegt, der eine in der Retentura (rückwärtiger Lagerteil) unmittelbar an der Umwehrung eingebaute Latrine entsorgte.
==== Umwehrung C ====
Zwischen 140 und 150 unserer Zeitrechnung wurde die Trockenmauer durch eine gemörtelte Mauer ersetzt. Die neue Wehrmauer orientierte sich am Verlauf der alten „Umwehrung B“, vor deren Außenmauer sie errichtet wurde. Nur an einzelnen Stellen wird die Front der älteren Mauer von der neuen Konstruktion überschnitten. Hinter der Mauer wurde ein Erdwall angeschüttet, der jedoch zum Lagerinneren hin nicht vollständig geböscht war, sondern die Innenschale der Trockenmauer als stützende Begrenzung nutzte. Das Fundament der Mauer war 80 Zentimeter eingetieft und besaß eine zwischen 1,0 und 1,2 Meter schwankende Breite, die Stärke des Aufgehenden betrug am Mauerfuß rund 95 Zentimeter. Als Baumaterial diente lokaler Buntsandstein, den die Erbauer mit Kalkmörtel vermauert hatten. Dieser Mörtel stammte aus nicht allzu weit entfernten Muschelkalkvorkommen im Odenwald. Die Steine auf der Innenseite waren klein und nur grob behauen, während die Quader der Außenseite größer und sehr sorgfältig ausgeführt worden waren. Oberhalb der Brustwehr war die Außenmauer vermutlich mit Zinnen besetzt. Der möglicherweise ursprünglich vorhandene, üblicherweise mit roten Scheinfugen übermalte weiße Außenverputz konnte nicht mehr festgestellt werden. Er ist wahrscheinlich in dem sauren Boden Hesselbachs vollständig erodiert, kann analog zu anderen Kastellen und Wachtürmen allerdings mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden.Im Zuge der Neuanlage der Mauer wurde auch der – inzwischen zumindest stellenweise zugeschwemmte – Verteidigungsgraben durch einen neuen ersetzt. Er war durch eine 60 bis 80 Zentimeter breite Berme von der Mauer abgesetzt und besaß bei einer Tiefe von rund 1,50 Metern eine Breite von etwa sechs Metern. Es ist anzunehmen, dass dieser Graben dementsprechend in einem Verhältnis von fünf römischen Fuß zu 20 römischen Fuß konzipiert worden.Auch die Tore wurden von Grund auf neu errichtet. Zu den bisher vorhandenen drei großen Toranlagen kam eine kleine Schlupfpforte auf der Dekumatseite (Rückfront des Kastells) hinzu. Die großen Tore waren weiterhin von zwei Türmen flankiert, die vermutlich nicht nur mittels einfacher Wehrplattformen, sondern durch überdachte Torhäuser miteinander verbunden waren. Hierfür spricht der Umstand, dass sich nicht nur auf der Feindseite, sondern auch auf der Innenseite kräftige Torbögen befanden. Denn während solche Bögen an der Außenseite aus fortifikatorischen Gründen notwendig sein könnten, machen sie auf der Innenseite nur aus statischen Gründen Sinn. Die lichte Durchfahrtsweite betrug bei der Porta principalis dextra 3,40 Meter, bei den beiden anderen Toren, der Porta praetoria und der Porta principalis sinistra je drei Meter. Bei der neuen, rückwärtigen Schlupfpforte, die in dieser Form auch in den Kastellen Würzberg und Eulbach angetroffen wurde, handelt es sich um ein einfach gehaltenes Tor mit einem lichten Durchlass von nur 1,25 Meter, das möglicherweise durch einen Sperrbalken gesichert wurde. Vor der Pforte war der Grabenverlauf nicht unterbrochen, eine Pfostengrube weist auf einen möglichen Holzsteg an dieser Stelle hin.
Auch in dieser Bauphase gab es keine Ecktürme. Die abgerundeten Ecken der Mauer waren jedoch an der Außenseite mit schwach vorspringenden Risaliten versehen. Diese nicht recht erklärbare Eigenart des Mauerbaus findet sich auch beim Kastell Oberscheidental.
=== Innenbebauung ===
Die Innenbauten bestanden in allen kastellzeitlichen Perioden aus dem zentralen Stabsgebäude (Principia), vier Mannschaftsbaracken mit den Stuben (Contubernia), der Kommandeurswohnung (Praetorium) sowie Magazinen und Ställen. Die Existenz der Principia macht deutlich, dass hier ein taktisch selbständiger Verband stationiert war, ein Numerus mit einer Besatzungsstärke von ungefähr 160 Mann. In der Praetentura, dem vorderen Lagerbereich, waren Stallungen und Magazine untergebracht. Das Zentrum wurde, wie bei römischen Militärlagern üblich, von den Principia beherrscht. In der Retentura, dem rückwärtigen Lagerteil, befanden sich unmittelbar hinter den Principia das Praetorium und – die Principia flankierend – rechts und links jeweils zwei Mannschaftsbaracken. Alle Bauten bestanden aus Holz, wodurch sie nur noch anhand der Bodenverfärbung ihrer Pfostengräben und -löcher identifizierbar sind, ein Umstand, mit dem die frühen Ausgräber noch nicht hinlänglich vertraut waren, sodass mit den grabungstechnischen Methoden jener Zeit kaum Befunde der Innenbebauung erfasst werden konnten.
==== Periode 1 ====
Die Principia, das Stabs- und Verwaltungsgebäude (in Publikationen über Hesselbach auch als „Gebäude 5“ bezeichnet) bedeckten in dieser Periode einschließlich der Vorhalle eine Fläche von etwa 10,5/10,8 Meter mal 18,0/18,2 Meter, insgesamt also etwas weniger als 200 Quadratmeter. Eine ungenaue Bauausführung sowie unklare und zum Teil gestörte Befunde erschweren jedoch die Zuweisung wirklich exakter Bemaßungen. Möglicherweise war der Bau ursprünglich auf eine Größe von 36 mal 45 römische Fuß konzipiert worden. Man betrat die Principia durch eine etwa 4,2/4,4 mal 10,7 Meter große offene Vorhalle. Diese Halle überdeckte die Via principalis (Lagerhauptstraße, welche die beiden seitlichen Lagertore miteinander verband) und öffnete sich mit ihrer Front zur Via praetoria (vordere Lagerhauptstraße) und zur Porta praetoria (Vorderes Lagertor, Haupttor) hin. Neben den Principia des Kastells Künzing gehört die Kommandantur von Hesselbach zu den ältesten Stabsgebäuden mit Vorhalle. An die Vorhalle schloss sich ein seitlich von zwei Portiken gesäumter Hof an, der zu einer Querhalle (Basilica) überleitete. Die Querhalle (und damit der gesamte Gebäudekomplex) wurde an ihrer Rückseite von einem aus drei Räumen bestehenden Gebäude abgeschlossen. Der mittlere, etwas größere dieser Räume war das „Fahnenheiligtum“ (Aedes principiorum oder Sacellum), die beiden anderen dürften als Verwaltungsräume gedient haben.Hinter den Principia, in der Mitte der Retentura (rückwärtiger Lagerbereich), befand sich das Wohngebäude des Praepositus Numeri, des Kommandanten (Praepositus) der Garnison („Gebäude 6“). Seine Außenmaße betrugen rund 10,5 mal 15,0 Meter (gut 150 Quadratmeter), vermutlich war es mit einer Bemaßung von 35 mal 50 römischen Fuß angelegt worden. Mit seinem Eingang öffnete sich das Kommandantengebäude zu den Principia hin. Der Eingang führte möglicherweise in einen kreuzförmig angelegten Flur, in dessen Mitte sich eine Art Atrium oder eine Atrium-ähnliche Konstruktion mit Oberlicht befunden haben könnte. In diesem Falle hätten sich sechs etwa gleich große Zimmer und ein kleinerer Raum (vielleicht eine Latrine) in dem Gebäude befunden. Eine andere Interpretation der Befunde lässt aber auch einen lang gestreckten Mittelkorridor möglich erscheinen, der auf jeder Längsseite von vier separaten Räumen flankiert gewesen wäre und dessen Ende ein kleiner Raum gebildet haben könnte. Eine nachgewiesene Herdstelle belegt, dass in dem Gebäude zumindest einzelne Räume beheizbar waren.Principia und Kommandantenwohnhaus wurden von je zwei Mannschaftsbaracken („Gebäude 1 bis 4“) flankiert. Die insgesamt vier Baracken maßen jeweils etwa 34,6/34,8 mal 4,55 Meter (außen) und waren in neun etwa gleich große Räume von etwa 3,70 mal 4,15 Meter lichter Weite unterteilt, wodurch sich eine Nutzfläche von 15,5 Quadratmeter pro Raum ergab. Ein vergrößerter Raum oder ein Kopfbau für den Unteroffizier war nicht vorhanden. Eine Portikus konnte nicht nachgewiesen werden, ihre Existenz kann jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Dietwulf Baatz ging in seinen Untersuchungen davon aus, dass die Contubernien jeweils mit vier bis fünf Soldaten belegt gewesen sein dürften, sodass, wenn ein Raum für den Unteroffizier abgezogen und die mögliche geringere Belegungsdichte einiger Räume, in denen Chargen untergebracht gewesen seien, berücksichtigt würde, von einer Barackenbelegung mit rund 32 Mann ausgegangen werden könne. Hierdurch ergäbe sich eine Barackenbelegung mit rund 128 Mannschaften, sodass einschließlich Unteroffizieren und Offizieren von einer Gesamtstärke von 130 bis 140 Mann ausgegangen werden könnte. Allerdings betonte Baatz den hypothetischen Charakter seiner Überlegungen, die lediglich eine ungefähre Vorstellung von der Stärke des Numeruskastells vermitteln sollten.In der Praetentura, dem vorderen Teil des Lagers, wurden insgesamt drei größere Bauten nachgewiesen. Die Interpretation der Befunde ist auf Grund der in diesem Bereich sehr starken Bodenerosion nicht gänzlich gesichert. Das „Gebäude 7“ im südöstlichen Bereich des Kastells wird als Speichergebäude oder Magazin, möglicherweise einschließlich der in den Principia fehlenden Armamentaria (Waffenkammern) interpretiert. Die beiden 4,30 mal 10,60 Meter und 4,30 mal 13,50 Meter großen „Gebäude 8 und 9“ im Nordwesten des Lagers wurden mit einiger Wahrscheinlichkeit als Ställe angesprochen, davor befand sich möglicherweise eine Backofengruppe.Alle Gebäude der Periode 1 wurden in Holzbauweise errichtet. Reparaturen und Zerstörungen konnten an keiner Stelle nachgewiesen werden, die Bauten wurden offenbar planmäßig niedergelegt, bevor sie baufällig wurden, um Platz für die Errichtung neuer Gebäude zu schaffen.
==== Periode 2 ====
Die Struktur des Kastells in der Periode 2 entsprach in etwa der Gliederung der Periode 1. Auch die Bautechnik war weitestgehend identisch, es wurden jedoch kräftigere Holzpfosten als zuvor verwendet. Die Gebäude waren so lange in Gebrauch, bis sich die Notwendigkeit zu Reparaturmaßnahmen ergab. Die Phase der dann einsetzenden Instandsetzungsmaßnahmen wird als Periode 2a differenziert.
Der Grundriss der Principia (so genanntes „Gebäude 5“) ähnelte dem der Periode 1, jedoch ragte die Vorhalle seitlich über die beiden Fluchten des restlichen Gebäudekomplexes um jeweils etwas mehr als einen Meter hinaus. Die Halle besaß eine Breite von 6,3 bis 6,4 Meter, eine Länge von etwa 14,3 Metern, war in offener Bauweise konstruiert und überdeckte die gesamte Breite der Via Principalis. Von der Vorhalle aus gelangte man in einen kleinen, 3,8 Meter breiten und 7,7 Meter langen Hof, der an seinen Schmalseiten von 1,8 Meter tiefen Portiken gesäumt war. An den Hof schloss sich eine Querhalle mit einer lichten Breite von 6,9 Metern und einer Länge von 11,5 Metern an. In den unterschiedlichen Proportionen zwischen dem Hof mit seinen Portiken und der Querhalle besteht der augenfälligste Unterschied zum Grundriss der Periode 1. Der Platz für den Hof reduzierte sich zugunsten des Raums für die Halle. Eine Besonderheit innerhalb der Querhalle war der Nachweis einer knapp 1,50 Meter durchmessenden Zisterne mit kanalisiertem Abfluss zur Rückseite des Kastells hin. Vermutlich wurde das Wasser bei kultischen Handlungen benötigt, die in den Principia durchgeführt wurden. Auf die Querhalle folgte, den Gebäudekomplex an seiner Rückseite abschließend, wie schon in der Periode 1 eine dreiräumige Zimmerflucht. Der mittlere, etwas größere Raum, war das Fahnenheiligtum (Aedes oder Sacellum), das im Gegensatz zur Periode 1 an der Rückwand der Principia über die Flucht des Gebäudes leicht nach außen vorkragte. Dieser Vorsprung wurde in der (Reparatur-)Periode 2a zurückgenommen, sodass die Rückfront des Gebäudekomplexes wieder eine einheitliche Flucht bildete. Die zuweilen bei Fahnenheiligtümern vorkommende Unterkellerung konnte in Hesselbach für die zweite Bauphase ebenso wenig wie für die erste festgestellt werden und erscheint überdies aufgrund der Bodenverhältnisse (Staunässe) unwahrscheinlich.Das „Gebäude 6“, das vermutliche Wohnhaus des Praepositus Numeri, besaß Außenmaße von rund 11,7 mal 10,8 Metern. Es war ein Korridorhaus mit einem Mittelflur, der von je drei Räumen gesäumt war. Alle sechs Räume waren mit ungefähr 15 Quadratmeter etwa gleich groß, wenigstens vier von ihnen waren mit Herdstellen beheizbar. Das Gebäude war mit seinem Haupteingang auf die Principia ausgerichtet. Ein zweiter Eingang auf der Gegenseite kann nicht ausgeschlossen werden, jedoch war dieser Bereich durch eine neuzeitliche Grube gestört. Möglicherweise könnte sich an diesem Ende des Korridors eine Latrine befunden haben.
Wie in der Periode 1 wurde das Ensemble aus Principia und Kommandantur von zwei Mannschaftsbaracken („Gebäude 1 bis 4“) auf jeder Seite flankiert. Im Gegensatz zur frühen Bauphase verfügten diese sowohl über Kopfbauten als auch über Portiken.
In einem besonders guten Erhaltungszustand befand sich die „Baracke 4“. Sie erstreckte sich bei einer Breite (mit Portikus) zwischen 7,30 und 7,45 Metern über eine Länge von 34,8 Meter und setzte sich aus einer Flucht von sieben Contubernien mit vorgelagerter Portikus sowie einem Kopfbau für den Centurio oder/und die Unteroffiziere zusammen. Die lichte Breite der Portikus bewegte sich zwischen 1,6 und 1,7 Meter. Auf die sieben Contubernien entfielen 27,4 Meter der Gesamtlänge, jedes einzelne Contubernium dürfte eine Nutzfläche von etwas mehr als 19 Quadratmetern besessen haben. Jedes Contubernium bestand aus einem einzelnen, nicht weiter unterteilten Raum mit einer Herdstelle, die sich ungefähr mittig an der Zwischenwand zu einem Nachbarcontubernium befand. Die Herdstellen besaßen in etwa das Aussehen noch heute gebräuchlicher offener Kamine: Hinter einer feuerfesten Bodenplatte befand sich ein Rauchabzug und oberhalb der Feuerstelle ein Rauchfang. Die Herdstellen dienten der Zubereitung der Mahlzeiten und als Heizung in den kälteren Jahreszeiten. Der Kopfbau der „Baracke 4“ besaß einen annähernd quadratischen Grundriss von etwa 7,4 Meter Seitenlänge, woraus sich eine Gesamtwohnfläche von 53 Quadratmeter ergibt. Er bestand (in der Fortsetzung der Portikus) aus einem Korridor sowie zwei Räumen, von denen jeder mit einer Heizstelle versehen war. Jeweils zwei Baracken (1 und 2 sowie 3 und 4) bildeten ein Barackenpaar, in dessen Mitte sich ein mit Schotter befestigter Weg befand. Die einzelnen Baracken unterschieden sich in einigen Merkmalen hinsichtlich Form und Größe voneinander:
Die „Baracke 3“ war deutlich schmaler als die „Baracke 4“ und besaß keinen Kopfbau, sondern bestand aus neun annähernd gleich großen Contubernien mit jeweils rund 12,5 Quadratmetern Grundfläche. „Baracke 2“ besaß einen überdurchschnittlich großen Kopfbau mit insgesamt drei Räumen und einem vom Hauptkorridor abknickenden Seitenkorridor. In den Kopfbauten der „Baracken 1 und 2“ konnten Latrinen mit Entwässerungskanälen nachgewiesen werden. Ebenfalls für den Kopfbau der „Baracke 4“ ist eine entsprechende Latrine als wahrscheinlich anzunehmen, jedoch war der hierfür in Frage kommende Bereich durch eine neuzeitliche Grube gestört, so dass der entsprechende archäologische Nachweis nicht geführt werden konnte.Die östliche Hälfte der Praetentura, des vorderen Lagerteils, wurde zur Gänze von dem so genannten „Gebäude 7“ eingenommen. Es handelte sich hierbei um ein komplexes, möglicherweise mehrphasiges Bauwerk mit unregelmäßiger Raumaufteilung. Das Gebäude bedeckte mit seinen Außenmaßen von rund 20,8 mal 13,1 Meter eine Fläche von rund 270 Quadratmeter und verfügte über zwei Eingänge. Da die Retentura (rückwärtiger Lagerteil) vollständig von den Principia, dem Praetorium und den vier Mannschaftsbaracken ausgefüllt war und sich Horreum (Speichergebäude) und Armamentaria (Waffenkammer) folglich nicht dort befinden konnten, interpretierte Dietwulf Baatz diesen Befund als „Mehrzweckgebäude“, das die Funktionen des Speichers und der Waffenkammer unter einem Dach vereinigt habe. Hierfür sprach nach Ansicht des Archäologen auch die Lage dieses Gebäudes unmittelbar an der offenbar als Haupttor dienenden Porta principalis dextra (vgl. weiter oben).Im westlichen Teil der Praetentura konnten die Fundamentspuren zweier einfacher, im Inneren nicht weiter unterteilter Gebäude nachgewiesen werden. Beide Bauten hatten eine länglich rechteckige Form. Das zur Via Praetoria hin gelegene „Gebäude 8“ war 14,6 Meter lang und 4,0 Meter breit, das zur Umwallung hin gelegene „Gebäude 9“ besaß eine Länge von 14,3 Metern und eine Breite von 5,3 Meter. Analog zu den Befunden der Periode 1 wurden die beiden Bauwerke als Stallungen interpretiert, wofür auch die Beobachtung von Wasserbehältern außerhalb der Gebäude sprach, sowie von Rinnen, die zur Versorgung des Viehs mit Frischwasser und/oder zur Entsorgung der Jauche gedient haben könnten. Die Funktion eines weiteren „Gebäudes 10“, eines einfachen Schuppens von rund 8,0 mal 2,8 Metern Größe, der sich an der Stelle befand, an der für die Periode 1 eine Backofengruppe angenommen worden war, konnte nicht geklärt werden.Die Lagerstraßen bestanden aus einer mehrschichtigen Schotterung ohne Belag durch größere Steine und ohne Randsteine. Die Form, in der das Lager mit Frischwasser versorgt wurde, ist unklar. Der Umstand, dass keine Brunnen innerhalb des Kastells festgestellt wurden, spricht nicht per se gegen ihre Existenz, da die Kastellfläche nicht vollständig ergraben wurde. Spuren von Wasserbehältern und -rinnen sprechen jedoch eher für eine Versorgung mit fließendem Wasser, möglicherweise aus einem Bereich etwa 250 bis 300 Meter nordöstlich des Kastells, in dem noch heute Quellen aus den Feuchtwiesen zu Tage treten. Dieser vielleicht nicht gänzlich ausreichende Frischwasserzufluss wurde vielleicht durch von den Dächern aufgefangenes Regenwasser ergänzt. Besser geklärt ist die Abwasserentsorgung. Sie erfolgte über mehrere kleinere Rinnen, die in einem größeren Sammelgraben mündeten, der schließlich neben der Porta decumana aus dem Kastell heraus in Wehrgraben führte. An dieser Stelle unweit der Porta decumana sind auch die Latrinen des Lagers zu vermuten, die mit dem abfließenden Brauchwasser gespült worden sein könnten. Archäologisch konnten solche Latrinen jedoch nicht nachgewiesen werden, da der für sie grundsätzlich in Frage kommende Bereich des Lagers nicht ausgegraben worden ist.
==== Periode 2a (Reparaturphase) ====
Die Periode 2a bezeichnet keine eigenständige Bauphase. Unter diesem Begriff wurden vielmehr alle Reparaturmaßnahmen der Periode 2 ungeachtet ihrer konkreten Zeitstellung zusammengefasst. Keine dieser Maßnahmen führte zu einer fundamentalen Änderung der Grundrisse. So wurden teilweise einzelne Pfosten, im Kopfbau der Baracke 4 ein vollständiger Pfostengraben erneuert, in mehreren Contubernien wurden die Herdstellen verlegt. An den Principia bestand die augenfälligste Veränderung in der Erneuerung der Rückwand des Fahnenheiligtums, die nach der Renovierung nicht mehr aus der rückwärtigen Gebäudeflucht vorsprang.
==== Periode 3 (Nachkastellzeit) ====
Die Befunde der Periode 3 waren bereits nachkastellzeitlich, die ihnen zugrunde liegende ehemalige Bebauung entstand also erst nach der Vorverlegung der römischen Truppen auf die Linie des sogenannten „Vorderen Limes“ im Bereich Miltenberg-Walldürn-Osterburken und war wahrscheinlich rein ziviler Natur. In dieser Periode wurden entweder keine separaten Bauten errichtet, oder die Bauwerke bestanden aus leichten Holzbauten, deren Spuren in dem später abgetragenen und/oder erodierten Boden nicht mehr auszumachen waren. Möglicherweise wurden auch die alten Kastellbauten zum Teil weiter genutzt, was insbesondere für die „Gebäude 5 und 6“ sowie eventuell für das „Gebäude 10“ nicht gänzlich unwahrscheinlich erscheint. Die Ausgrabungsbefunde der Periode 3 bestanden ausschließlich aus den Resten von Siedlungsgruben. In einer davon wurden die Reste eines Ofens festgestellt, der mit Sicherheit als Rennofen zur Eisenverhüttung identifiziert werden konnte. Die Befundsituation ließ es als gesichert erscheinen, dass dieser Ofen nur einer von mehreren war, sodass mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Nutzung des aufgelassenen Kastellplatzes durch einen eisenverhüttenden Betrieb ausgegangen werden kann. Die Rohstoffe zur Eisengewinnung, namentlich Eisenerz und Holz(-kohle), konnten in der unmittelbaren oder relativen Nähe gewonnen werden. An Holz hatte es in den auch in antiker Zeit dicht bewaldeten Gebieten des Odenwalds keinen Mangel und Eisenerz konnte möglicherweise in Form des sogenannten Raseneisenerzes verwendet werden. Diese Art der Eisengewinnung ist für die nachrömische Zeit auch an anderen Plätzen des Odenwaldes nachgewiesen. Darunter befindet sich eine Stelle in nur einem Kilometer nördlicher Entfernung von Hesselbach. Schon nach einigen wenigen Jahren wurde der Hüttenbetrieb wieder eingestellt, vermutlich mangels Rentabilität infolge der geringen Ergiebigkeit lokaler Erzvorkommen.
== Fundmaterial ==
=== Münzen ===
Bei den Ausgrabungen in Hesselbach wurden insgesamt nur vier eindeutig bestimm- und datierbare Münzen gefunden, zu wenig, um konkrete und verlässliche Aussagen daraus ableiten zu können. Die Münzen im Einzelnen:
=== Sigillaten ===
Die Anzahl der in Hesselbach geborgenen Sigillata-Scherben war mit 24 % (= 224 Stück) des Gesamtaufkommens an keramischen Funden (932 Stück) relativ hoch und lieferte wichtige Anhaltspunkte zur Datierung des Kastells. Die ältesten Fragmente von Bilderschüsseln südgallischer Provenienz ließen sich erst auf das letzte Jahrzehnt des 1., spätestens aber auf den Anfang des 2. Jahrhunderts datieren, frühere Dekorationsweisen fehlten hingegen völlig. Baatz wies bei der Auswertung der Keramik zusätzlich darauf hin, dass die Typen Drag. 29 und Drag. 15 fehlten, Sigillata-Typen, die üblicherweise in Kastellen vorkommen, die unmittelbar nach dem Jahr 90 entstanden sind. Dies wertete er als Indiz dafür, dass der Anfang des Lagers frühestens einige Jahre nach 90 angenommen werden dürfe. Die Verteilung der Sigillata-Typen im Einzelnen:
Aufgrund des relativ hohen Anteils an südgallischer Ware bei den Bilderschüsseln wies Dietwulf Baatz weiterhin einen Errichtungszeitpunkt des Kastells nach dem Jahr 105 als äußerst unwahrscheinlich zurück. Die Verteilung der Bilderschüsseln und Töpferstempel auf glatter Ware setzte sich folgendermaßen zusammen:
Insgesamt gelangte Baatz bei der Auswertung der Sigillaten zu dem Ergebnis, dass die Gründung von Hesselbach in die spätdomitianische bis frühtrajanische Zeit zu datieren, konkret für den Zeitraum zwischen den Jahren 95 und 105 anzunehmen sei.
=== Sonstige Keramik ===
Die gesamte Keramik setzte sich neben der relativ häufig vorkommenden Terra Sigillata aus rauwandiger Ware, Schwerkeramik, glattwandiger Ware, Firnisware und Terra Nigra zusammen, wovon die rauwandige Ware, wie auch anderenorts üblich, den größten Anteil bildete. Rauwandige Ware ist eine durch starke Sandmagerung feuerfest gemachte Keramikart. Daher ist es nicht verwunderlich, dass unter den Funden an rauwandiger Ware Töpfe und Schüsseln dominierten (399 von insgesamt 463 Scherben). Das Fundaufkommen an größerer/gröberer Keramik bestand ausschließlich aus Reibschalen (120 Stück) und Amphoren (elf Stück), tönerne Fässer (so genannte Dolien) waren nicht vorhanden. Die glattwandige Ware bestand überwiegend aus Krügen und Amphoren. Engobierte Ware und Terra Nigra waren in nur geringem Umfang vertreten und beide in unterschiedlichen Materialzusammensetzungen und unterschiedlichen Techniken gefertigt. Die Verteilung des gesamten Keramikaufkommens stellte sich folgendermaßen dar:
=== Sonstige Funde ===
Metallfunde lagen nur in geringem Umfang vor und waren zudem durch die Bodenverhältnisse in Hesselbach stark korrodiert. Auch gab es keine gesicherte stratigraphische Zuordnung, sodass einzelne Stücke durchaus nachrömisch sein könnten. Namentlich konnten neben mehreren Nägeln bei den Grabungen der 1960er Jahre eine Bronzefibel, eine Bleischeibe, ein eiserner Bohrer und ein eiserner Pfriem, sowie bei den älteren Ausgrabungen ein Eisenmesser und eine eiserne Torpfanne geborgen werden. Unter den mengenmäßig ebenfalls nicht sonderlich stark vertretenen Glasfunden fielen neben dem Bruchstück einer amethystfarbenen Rippenschale und einigen Bruchstücken weiterer Glasgefäße insbesondere zwei Fragmente von Fensterglas auf.
Unter etwas über 100 Ziegelfunden (neun ganze Ziegel und rund 100 Bruchstücke) befanden sich keine gestempelten Exemplare. Mengenmäßig dominierten Lateres (Mauerziegel), daneben fanden sich auch Tegulae und Imbrices (flache und bogenförmige Dachziegel) sowie Wandplatten mit Kammstrichrauung. Die Menge an Dachziegeln insgesamt erlaubt es jedoch nicht, eine Ziegeleindeckung der Kastellinnenbauten oder der Tortürme zu postulieren. Sie können auch von dem anzunehmenden Kastellbad stammen und sekundär oder zweckentfremdet weiterverwendet worden sein. Eine solche Verwendung ist auch für die Wandplatten anzunehmen, die üblicherweise nur an im Hesselbacher Kastell nicht vorkommenden Steinwänden verbaut wurden. Die Ziegel entstammen möglicherweise einer unbekannten Produktionsstätte des Odenwaldes, wofür die Magerung mit Sandsteinpartikeln spricht, wie sie in den regionstypischen Buntsandsteinverwitterungsböden vorkommen.Insgesamt 70 Sandsteinkugeln von unterschiedlicher Größe und Gewicht (von weniger als 200 Gramm bis hin zu 15–20 Kilogramm) wurden bei den Grabungen des 19. und des 20. Jahrhunderts in Hesselbach gefunden. Sie waren von Friedrich Kofler noch als ballistische Kugeln interpretiert worden. Dietwulf Baatz gelangte hingegen zu dem Ergebnis, dass zum einen die Tortürme des Kastells Hesselbach für die Installation ballistischer Vorrichtungen viel zu klein und zum anderen die Mehrzahl der Kugeln abgeplattet gewesen seien. Letzteres hätte aber beim Abschuss zu einem für die Geschützmannschaften unkalkulierbaren Risiko geführt. Baatz ging weiter davon aus, dass es sich möglicherweise um Handschleudersteine gehandelt haben könnte, aber auch um Steine, die zur Beschwerung, als Kontergewichte oder als Schleif- und Reibesteine dienten.Naturgemäß gab es in der Form von Architekturteilen weitere Steinfunde, ferner einige Skulpturteile. Unter den Architekturfragmenten dominierten Gesimse, Keilsteine und die für die Bauwerke des Odenwaldlimes typischen Lünetten. Augenfälligster Skulpturenrest war das Fragment eines Reliefs aus rotem Sandstein, von dem nur noch die Darstellung eines 17 Zentimeter langen und fünf Zentimeter erhabenen Phallus mit abgebrochenen Hoden erhalten war. Des Weiteren wurden einige Bruchstücke von Handmühlen geborgen.
== Limesverlauf zwischen dem Kastell Hesselbach und dem Kleinkastell Zwing ==
Vom Kastell Hesselbach aus zieht der Limes weiter in südsüdöstliche Richtung auf einem Bergrücken des Odenwaldes, der sich von einem breiten Plateau ausgehend nach Süden hin allmählich zu einem bis zu weniger als einhundert Meter schmalen Berggrat verjüngt. Hierbei tritt er am Ortsrand von Hesselbach in ein dichtes Waldgebiet ein, in dem er streckenweise sehr gut erhalten ist und stellenweise von einer mittelalterlichen Landwehr begleitet wird. Auf diesem Weg steigt er zunächst um rund 55 Höhenmeter an und erreicht in der Nähe der hessisch-badischen Grenze mit etwa 545 Metern ü. NN seinen höchsten Punkt, um anschließend auf badischer Seite, zum Kleinkastell Zwing hin, wieder um gut 50 Höhenmeter abzufallen. Dieser Limesabschnitt gilt als einer der landschaftlich schönsten der gesamten Odenwaldlinie.
Rekonstruktionen der Baulichkeiten des Odenwaldlimes
== Denkmalschutz ==
Das Kastell Hesselbach und die anschließenden Limesbauwerke sind Bodendenkmale nach dem Hessischen Denkmalschutzgesetz. Nachforschungen und gezieltes Sammeln von Funden sind genehmigungspflichtig, Zufallsfunde an die Denkmalbehörden zu melden.
== Siehe auch ==
Liste der Kastelle am Obergermanisch-Raetischen Limes
== Literatur ==
Dietwulf Baatz: Kastell Hesselbach und andere Forschungen am Odenwaldlimes. Gebr. Mann, Berlin 1973, ISBN 3-7861-1059-X (Limesforschungen, Band 12).
Dietwulf Baatz: Das Numeruskastell Hesselbach (Odenwald). Kurzbericht. In: Saalburg-Jahrbuch 25, 1968, S. 185–192.
Dietwulf Baatz: Hesseneck-Hesselbach. In ders. und Fritz-Rudolf Herrmann (Hrsg.): Die Römer in Hessen. Lizenzausgabe, Nikol, Hamburg 2002, ISBN 3-933203-58-9, S. 348 f.
Dietwulf Baatz: Der Römische Limes. Archäologische Ausflüge zwischen Rhein und Donau. Gebr. Mann, Berlin 2000, ISBN 3-7861-2347-0, S. 192–194.
Ernst Fabricius, Felix Hettner, Oscar von Sarwey (Hrsg.): Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches, Abteilung A, Band 5: Strecke 10 (Der Odenwaldlimes von Wörth am Main bis Wimpfen am Neckar), 1926, 1935; S. 62–68 sowie Tafel 7, Abb. 2, Tafel 8, Abb. 1–2, Tafel 16, Tafel 18, Abb. 2.
Holger Göldner, Fritz-Rudolf Herrmann: Wachtposten 10/30 „In den Vogelbaumhecken“ und Kastell Hesselbach am Odenwaldlimes. Amt für Denkmalpflege Hessen, Wiesbaden 2001, ISBN 3-89822-154-7 (Archäologische Denkmäler in Hessen, 154).
Margot Klee: Der römische Limes in Hessen. Geschichte und Schauplätze des UNESCO-Welterbes. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2009, ISBN 978-3-7917-2232-0, S. 196–199.
Friedrich Kofler: In: Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches (Hrsg. Ernst Fabricius, Felix Hettner, Oscar von Sarwey): Abteilung B, Band 5, Kastell Nr. 50 (1896).
Egon Schallmayer: Der Odenwaldlimes. Entlang der römischen Grenze zwischen Main und Neckar. Theiss, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8062-2309-5, S. 104–110.
Egon Schallmayer: Der Odenwaldlimes. Neueste Forschungsergebnisse. Beiträge zum wissenschaftlichen Kolloquium am 19. März 2010 in Michelstadt. Saalburgmuseum, Bad Homburg 2012, ISBN 978-3-931267-07-0 (Saalburg-Schriften, 8).
== Weblinks ==
Hesselbach und der Odenwaldlimes auf einer privaten Webpräsenz
== Einzelnachweise ==
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kastell_Hesselbach
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Kastell Stockstadt
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= Kastell Stockstadt =
Das Kastell Stockstadt ist ein ehemaliges römisches Kastell in Stockstadt am Main im Landkreis Aschaffenburg in Unterfranken. Mehrjährige Grabungen, hauptsächlich im frühen 20. Jahrhundert, erbrachten den Nachweis einer Kastellanlage mit zwei kurzzeitig belegten Vorgängerbauten, sowie eine Abfolge verschiedener dort stationierter Truppen. Stockstadt war damit von der frühen Zeit des Obergermanisch-Raetischen Limes bis zum Limesfall ein bedeutendes Standlager an der Mainlinie, dem sogenannten Nassen Limes. Für die archäologische Forschung ist der Fundort wegen einer großen Zahl von Steindenkmälern bedeutend, die vor allem im Vicus im Bereich zweier Mithräen, eines Iupiter-Dolichenus-Heiligtums und einer Benefiziarier-Station gefunden wurden.
== Lage ==
Stockstadt liegt verkehrsgeographisch günstig nahe der Mündung der Gersprenz in den Main (Moenus), der neben der Funktion als Grenze für die Versorgung der Kastelle am Nassen Limes bedeutend war. Da auch die Gersprenz in römischer Zeit zur Schifffahrt, möglicherweise mit kleineren Kähnen, genutzt wurde, war dort wahrscheinlich ein wichtiger Umschlagplatz. Eine Benefiziarier-Station und weitere Steindenkmäler aus römischer Zeit zeugen davon. Über die Gersprenz war der Civitas-Hauptort Dieburg zu erreichen. Funde wie ein Schifferhaken in Groß-Bieberau weisen auf die Nutzung des kleinen Flusses bis weit in die Täler des vorderen Odenwalds hin.Eine frühe Römerstraße, von der mit der Sumpfbrücke Bickenbach am Kleinkastell Allmendfeld bedeutende Reste nachgewiesen wurden, verband das Westtor zunächst mit Gernsheim am Rhein. Durch die spätere Gründung des Hauptortes Dieburg wuchs die Bedeutung dieser Verbindung nach Westen. Im unmittelbaren Vorfeld des Kastells konnte sie aber nicht nachgewiesen werden. Die Hauptsiedlungsachse des Kastelldorfs befand sich entlang der von Nordwesten nach Südosten führenden Römerstraße, die parallel zum Mainlimes Stockstadt mit den benachbarten Kastellen Seligenstadt (nordwestlich) und Niedernberg (südöstlich) verband. Diese Trasse wurde auch im Bereich des Kastells mehrfach angeschnitten.Der römische Truppenstandort wurde südlich der heutigen Wohnbebauung beiderseits der Rhein-Main-Bahn zwischen dem Bahnhof Stockstadt und dem Main verortet. Die Anlage war 160 bis 200 Meter vom Fluss entfernt. Vom Hochufer aus waren es nur etwa 75 Meter. Der Bereich ist vollständig mit Industrieanlagen überbaut, von den antiken Stätten ist nichts mehr sichtbar.
== Geschichte ==
Die Stockstädter Kastelle sind von allen römischen Militärplätzen des Mainlimes am großflächigsten erforscht. Dadurch konnte ein recht deutliches Bild von der zeitlichen Abfolge der verschiedenen Kastellanlagen und der hier stationierten Truppenkörper gewonnen werden. Ungeklärt ist, ob der teilweise recht rasche Wechsel der Kohorten nur für den Kastellort Stockstadt typisch war oder ob es Entsprechungen an anderen Standorten im Limesgebiet gab. Durch die zahlreichen Hinterlassenschaften, besonders die Steindenkmäler mit der Nennung der Truppenteile, bietet Stockstadt ein sehr geschlossenes Bild von den zeitlichen Abläufen. Zwar liegen von einigen Militärplätzen der Region ebenfalls Befunde zeitlich aufeinanderfolgender Kastellanlagen vor, doch ist dort die Quellenlage hinsichtlich der stationierten Einheiten im Vergleich zu Stockstadt meist dürftig.
Die Chronologie der Stockstädter Kastellanlagen beginnt wahrscheinlich mit einer kleinen Schanze nördlich der Bahnlinie. Sie wurde sehr bald von dem nur teilweise ergrabenen ersten Holz-Erde-Kastell abgelöst. Aus beiden Anlagen wurden nur wenige stratifizierte Funde geborgen, später überlagerten Teile des Vicus (Lagerdorf) die frühen Kastelle. Funde legen nahe, dass die erste Garnison nicht vor 90 n. Chr. entstand, nach einer neueren Auswertung der Münzreihen sogar erst zwischen 100 und 110 n. Chr. Die Vorgängerfunktion der Stockstädter Schanzen gegenüber dem Kastell wurde in neuerer Zeit bezweifelt.Möglicherweise diente das spärlich dokumentierte Holz-Erde-Kastell als Baulager für das größere, südöstlich gelegene Kohortenkastell, das um 100 n. Chr. entstanden sein dürfte. Es gehörte zusammen mit dem Balineum (Kastellbad) zur frühtrajanischen Zeit. Ausschlaggebend für die Datierung waren neben den Kleinfunden besonders die gestempelten Ziegel aus dem Badegebäude. 122 von den 126 Ziegeln trugen einen Stempel der Legio XXII Primigenia. Die übrigen vier waren wahrscheinlich bei einer Reparatur verwendet worden, sie trugen die wesentlich späteren Stempel der Cohors IIII Vindelicorum (4. Kohorte der Vindeliker) aus dem mainabwärts gelegenen Kastell Großkrotzenburg. Die Ziegelstempel der 22. Legion werden in der Forschung als Stockstädter Gruppe bezeichnet. Sie sind zeitlich sehr bald nach der Verlegung der Legion nach Mogontiacum (Mainz) um 93 n. Chr. anzusetzen. Bedeutsam ist diese Gruppe von Stempeltypen für die Datierung zahlreicher weiterer Kastellbauten am obergermanischen Limes, unter anderem der Kastelle Marköbel und Ober-Florstadt, des Kastellbads von Hanau-Salisberg und des Kastells Hainstadt.Vermutlich während der Regierungszeit Kaiser Hadrians erhielt das Kohortenkastell eine Umwehrung aus Stein. Nördlich und südlich davon entwickelte sich ein ausgedehntes Lagerdorf. Die Einrichtung einer zivilen Verwaltung (Civitas Auderiensium) mit Hauptort in Dieburg begünstigte den Standort wirtschaftlich. Am Main entstand eine Anlegestelle für Schiffe und dicht daneben eine Benefiziarier-Station. Die Bedeutung des Umschlagplatzes ist aus der Weihinschrift eines Soldaten der Legio XXII für Iupiter Dolichenus ersichtlich, der mit einem Holzfällerkommando nach Stockstadt abkommandiert wurde. Die Inschrift lässt sich auf das Jahr 214 n. Chr. datieren und gehört zu einer Reihe ähnlicher Inschriften, die am Mainlimes etwa in Obernburg oder Trennfurt gefunden wurden.Mit zwei Mithräen und einem Heiligtum für Iupiter Dolichenus sind in Stockstadt orientalische Kulte des späten zweiten und dritten Jahrhunderts nachweisbar. Hinzu kamen Hinweise in Inschriften auf ein Fortuna-Heiligtum sowie ein Nymphäum. Auch der in den Nordwestprovinzen sehr seltene Kult des Iupiter Heliopolitanus aus Heliopolis (Baalbek) ist im nahe gelegenen Zellhausen belegt. Seinen Altar stiftete ein Präfekt der Coh. I Aquitanorum, der aus Berytus (Beirut) unweit von Heliopolis stammte und den Kult wahrscheinlich aus seiner Heimat mitgebracht hatte. Die zahlreichen Stockstädter Steindenkmäler bilden einen einzigartigen Bestand dieser Art am Obergermanisch-Raetischen Limes. Kastell und Vicus bestanden bis in die Zeit des Limesfalls in der Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr.
Im Kastellbereich wurden einige Körpergräber geborgen, die aufgrund der Beigaben in das 4. Jahrhundert n. Chr. datieren. Aus dem Fundgut erkennt man, dass das Gebiet in der Spätantike von Alamannen aufgesucht wurde. Parallelen dazu gibt es in den Mainlimes-Kastellorten Großkrotzenburg und Hainstadt. Der mittelalterliche Siedlungskern Stockstadts lag allerdings weiter nördlich. Das Kastellgelände blieb bis in die Zeit der Reichs-Limeskommission (RLK) unbebaut.
=== Stationierte militärische Einheiten ===
Durch Hinweise auf Inschriften lassen sich drei Einheiten in Stockstadt nachweisen. Stempel auf Ziegeln, die aus mehreren Bauten des Kohortenkastells und aus zwei Ziegelöfen stammen, belegen die Anwesenheit der Cohors III Aquitanorum equitata civium Romanorum (3. teilberittene Aquitanier-Kohorte römischer Bürger). Es handelte sich um eine 500 Mann starke Kohorte (cohors quingenaria) und eine Reitereinheit von 120 Mann, insgesamt also um eine Sollstärke von 620 Mann. Die verbauten Ziegel zeigen, dass diese Einheit das Kastell errichtet hat, wobei nicht sicher ist, ob sie bereits vorher dort stationiert war.
Die Kohorte wurde noch in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. in das Kastell Neckarburken verlegt. Ihren Platz nahm die Coh. II Hispanorum eq. pia fidelis (2. teilberittene Kohorte der Spanier, pflichtbewusst und treu) ein, die zuvor im Kastell Wimpfen im Tal stationiert war. Der Name dieser Kohorte erscheint auf dem Grabstein des Soldaten Diomedes, eines Isauriers von Geburt, und in der Weiheschrift eines Decurio. Beide Inschriften sind undatiert. Die Einleitungsformel [I]n h(onorem) d(omus) d(ivinae) (Zu Ehren des Kaiserhauses) der Decurionenweihung macht es wahrscheinlich, dass sie frühestens in der Zeit des Antoninus Pius entstanden ist.Nach der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. ist die Coh. II Hispanorum eq. p. f. im Kastell Heddesdorf nachweisbar, sie wird also nicht sehr lange in Stockstadt gestanden haben. Sie wurde von der zuvor im Kastell Arnsburg nachgewiesenen Coh. I Aquitanorum veterana eq. (1. teilberittene Veteranenkohorte der Aquitanier) abgelöst, die wahrscheinlich bis zur Aufgabe des Kastells in Stockstadt verblieb. Sie ist durch mehrere Inschriften aus dem Dolichenus-Heiligtum belegt.
=== Erforschung ===
Die ältesten Nachrichten von römischen Funden in Stockstadt liegen aus dem beginnenden 19. Jahrhundert vor. Ein „ansehnliches römisches Bad“ wurde 1820 unweit des Kirchhofs „ganz in der Nähe des Mains“ entdeckt. Beim Bau der Eisenbahn (mit der Eisenbahnbrücke Stockstadt) 1858, die den Kastellbereich durchquert, wurde die Gelegenheit zu weiteren Untersuchungen nicht genutzt. Erst ab 1885 führte Wilhelm Conrady Ausgrabungen in größerem Umfang durch. Im Frühjahr desselben Jahres wurde das Kohortenkastell entdeckt. Die Grabungen erstreckten sich über 25 Jahre.
Im Jahre 1897 waren größere Untersuchungen notwendig geworden, da auf dem Areal eine Zellstoff-Fabrik der Aschaffenburger Aktien-Gesellschaft für Maschinenpapier-Fabrikation (heute Sappi GmbH) errichtet werden sollte. Conrady betreute die archäologischen Forschungen bis kurz vor seinem Tod, die Leitung vor Ort lag bei dem Fabrikingenieur Carl Wirth, der den römischen Altertümern großes Interesse entgegenbrachte. Nach ihm ist eine Straße in Stockstadt, nahe dem Kastell, benannt. Die meisten Funde aus den älteren Grabungen sind verschollen. Die Steindenkmäler gelangten als Schenkung an das Saalburgmuseum, da dieses nach Conradys Tod geschulte Arbeiter entsandt und technische Hilfe geleistet hatte. Nur wenige Funde fanden den Weg in die städtischen Sammlungen Aschaffenburgs oder befinden sich im örtlichen Heimatmuseum. 1908 und 1909 ließ der Aschaffenburger Geschichtsverein einige Nachgrabungen durchführen.
1962 wurde bei Fundamentierungsarbeiten für ein Fabrikgebäude im nordöstlichen Lagerbereich des Kohortenkastells in einem Krug ein Münzschatz mit mindestens sechs Aurei und 1315 Denaren entdeckt. Die jüngste Münze war zwischen 167 und 168 n. Chr. geprägt worden. Der Münzschatz dürfte vor Chatteneinfällen während der Markomannenkriege versteckt worden sein und befindet sich heute im Stiftsmuseum Aschaffenburg.Einige kleinere Untersuchungen fanden zu Beginn der 1990er Jahre statt. Sie lieferten neue Erkenntnisse zur Zivilsiedlung und zum Gräberfeld. In einem zugeschütteten Keller 50 Meter außerhalb der Südecke des Kohortenkastells wurden zwei weitere Weihealtäre entdeckt. Nicht sicher zu erklären sind fünf Pferdebestattungen männlicher Tiere mit angewinkelten Gliedmaßen unweit davon. Teile eines Töpfer- und Ziegeleibezirks mit über 80 Brand- und Brandschüttungsgräbern erbrachten weitere Erkenntnisse zum Gräberfeld.
=== Steindenkmäler ===
Im Corpus Signorum Imperii Romani wurden 146 Steindenkmäler aus Kastell und Vicus Stockstadt erfasst. Neben den Funden aus dem Mithräum I sind besonders die Weihesteine der Benefiziarier zu erwähnen. Zehn dieser Weihinschriften sowie mehrere Bruchstücke sind hochwertiger bearbeitet als die übrigen Funde, meist reicher verziert und besitzen ein sauberes, gleichmäßiges Schriftbild. Möglicherweise spiegelt sich darin die höhere Kaufkraft der als Benefiziarier abkommandierten Legionssoldaten wider.
Stilistisch scheinen die Stockstädter Altäre eine weniger geschlossene Gruppe zu bilden als die zahlreichen Funde aus der Benefiziarier-Station im nahe gelegenen Obernburg. Besonders die Altarformen variieren in Stockstadt stärker, als Ornamentik wurden geometrisch-abstrakte Motive verwendet. Der Stockstädter Gruppe von Weihealtären ähneln zwei Weihesteine aus dem Umfeld des Kastell Jagsthausen. Auffälligerweise wurde einer dieser beiden stilistisch verwandten Steine in Jagsthausen von einem Soldaten geweiht, der einen ebensolchen Stein in Stockstadt gestiftet hat. Die späteren Steine aus Stockstadt sind nur fragmentarisch erhalten. Offenbar wurde die Herstellung um 210 n. Chr. eingestellt. Ein Teil der Altäre wurde umgearbeitet und im Mithräum I wiederverwendet, wobei sich Reste der Inschriften und besonders die für Benefiziarier-Weihesteine typischen Verzierungen an den Seitenflächen der Altäre erhalten haben.
Die Fragmente des Mithras-Kultbildes lassen erkennen, dass es aus der gleichen Werkstatt wie im nahe gelegenen Dieburg gefundene Bruchstücke stammt. Neben einer sehr ähnlichen Aufteilung der Bildfelder zeigen beide Reliefs im Medaillonfeld eine identische Szene der Phaetonsage. Stilistische Übereinstimmung besteht auch in zwei Reliefdarstellungen von Fackelträgern (Cautes und Cautopates) sowie vier weiteren Skulpturen. Sie entstammen wahrscheinlich der gleichen Werkstatt. Obwohl sie stilistisch in das letzte Viertel des 2. Jahrhunderts n. Chr. einzuordnen sind, wurden sie im späteren Mithräum I aufgefunden, was eine Wiederverwendung großer Teile des Inventars in dem jüngeren Gebäude wahrscheinlich macht.Das hohe Vorkommen von Denkmälern gegenüber dem Hinterland ist auf die dort stationierten Truppen zurückzuführen. Während die Denkmäler aus zivilen Siedlungen, wie Jupitergigantensäulen, in gallorömischer Tradition stehen, sind in Stockstadt Militärpersonen aus sehr unterschiedlichen Regionen des Römischen Reichs fassbar. Inschriftliche Hinweise liegen für Soldaten aus Thrakien, Kleinasien, dem Nahen Osten und Nordafrika vor. Zu den sehr seltenen Funden am Limes zählt der Sockel einer Geniusstatue, deren Inschrift in sehr sorgfältig gearbeiteter griechischer Schrift verfasst ist. Die relativ häufigen Weihungen für einen Genius loci lassen einen Mangel an einheimischen vorrömischen Kulten in der Region erkennen. Zu den regionalen Besonderheiten gehört eine Fenster- oder Türsturzlünette, die als Bauschmuck von zahlreichen Gebäuden des Odenwaldlimes geläufig ist.Als Material für Skulpturen und Inschriftensteine wurde bevorzugt der lokale Buntsandstein verwendet. Die meisten Denkmäler wurden aus rötlichem Sandstein hergestellt, es existieren aber auch Varianten aus grauem und beige-gelblichem Stein. Für die Verwendung der Steine aus dem Untermaingebiet und dem vorderen Odenwald sprach neben der guten Bearbeitungsmöglichkeit auch der preisgünstige Transport.
== Anlage ==
Insgesamt wurden drei aufeinanderfolgende Kastellbauten festgestellt, wobei eine rasche bauliche Abfolge von der ersten kleineren Schanze bis zum Bau des Kohortenkastells wahrscheinlich ist. Die nahe gelegenen Kastellplätze in Nida-Heddernheim und Altenstadt hatten eine ähnliche Entwicklung, wobei in Altenstadt die späteren Kastelle die vorhergehenden überdeckten. Das ebenfalls in der Nähe gelegene Kastell Salisberg hat eine ähnliche Anfangsdatierung wie Stockstadt. Auch dort gab es mit dem Kastell Kesselstadt wahrscheinlich einen Vorgängerbau, später folgte eine Limeslinie mit den Kastellen Rückingen und Großkrotzenburg. Möglicherweise entsprechen das Kastell Seligenstadt südlich des Mains und das zeitlich frühere Kastell Hainstadt diesem Schema. Wegen späterer Überbauung liegen aus den meisten dieser Kastelle noch weniger sicher stratifizierte Funde vor als aus Stockstadt. Die chronologische Abfolge der Stockstädter Kastelle hat damit wesentlichen Einfluss auf die Datierung weiterer Limeskastelle am Mainlimes und an der östlichen Wetteraustrecke.
=== Schanze oder kleines Holzkastell ===
Die sogenannte Erdschanze, fachlich besser kleines Holzkastell, befand sich nördlich der Bahnlinie. Nachgewiesen wurde davon lediglich der Graben; der vollständig abgetragene Wall bestand vermutlich aus einer mit Holz versteiften Erdkonstruktion. Von den Grabenspitzen gemessen hatte die frühe Anlage eine Innenfläche von 66 × 57 Meter (= 0,38 Hektar).
Zur Innenbebauung können keine sicheren Angaben gemacht werden. Dies liegt zum einen daran, dass, bedingt durch die Grabungsmethoden der RLK, in ganz Stockstadt keine Befunde von Holzgebäuden aus dem militärischen oder zivilen Bereich erkannt wurden, zum anderen war die Innenfläche nach Aufgabe der Schanze sowie des frühen Holz-Erde-Kastells von Bauten des Kastellvicus überlagert. Weder gelang es, diese auf eine spätere Zeit zu datierenden zivilen Befunde sicher von den frühen Kastellanlagen zu unterscheiden, noch fand eine genaue Dokumentation der Fundlage von Gegenständen aus dem Kastellgraben statt. Fundmaterial könnte nach Auflassung der Schanze also auch wesentlich später in die noch offenen Gräben gelangt sein.
=== Holz-Erde-Kastell ===
Die Existenz des Holz-Erde-Kastells ergibt sich aus dem Nachweis eines Grabens, der parallel zum südöstlichen Graben der vorherigen Schanze verlief. Er konnte auf einer Länge von 50 m nachgewiesen werden. Da er jeweils nach Südosten umbog, muss daraus geschlossen werden, dass sich zwischen dem kleinen Holzkastell und dem späteren großen Kohortenkastell eine weitere Anlage befand. Vermutlich verlief die südwestliche Fortsetzung des Grabens unter dem späteren Stadtweg. Über die Größe des Lagers können keine Aussagen getroffen werden. Auch die Datierung bleibt wie beim kleinen Holzkastell unklar. Unzweifelhaft bestand es vor dem Kohortenkastell, wahrscheinlich als Nachfolger des kleinen Holzkastells. Denkbar wäre eine kurzfristige Besetzung als Baulager für das Kohortenkastell.
=== Kohortenkastell ===
Das südlich der beiden vorhergehenden Anlagen gelegene Kohortenkastell war mit seiner Front nach Nordosten, auf den Main zu, ausgerichtet. Aufgrund der damaligen Grabungsmethoden wurden auch von diesem lediglich Steinbauten dokumentiert. Dass es einen Vorgängerbau in Holz-Erde-Bauweise beziehungsweise Fachwerkbauten im Inneren gegeben hat, geht aus Befunden eines älteren Holzbaus unter den principia (Stabsgebäude) sowie einem hölzernen Vorgänger des nordöstlichen Torturms, der porta principalis sinistra (linkes Lagertor), hervor. Das Kastell nimmt eine Fläche von 198,6 × 163,8 Meter ein (= 3,25 Hektar) und ähnelt den Kastellen Saalburg, Marköbel, Langenhain und Butzbach, die zur selben Zeit entstanden sein dürften und, soweit bekannt, ebenfalls für eine teilberittene Kohorte (cohors equitata) konzipiert waren.
Von den Wehrbauten des Steinkastells wurden fast ausschließlich die Ausbruchsgruben der Fundamentmauern festgestellt, die sich klar vom anstehenden Kiesboden abhoben. Das Fundamentmauerwerk bestand aus lokalem Gneis, dem sogenannten Ballenberger. Für das aufgehende Mauerwerk wurde aufgrund der Witterungsbeständigkeit roter Mainsandstein bevorzugt. Auffällig groß ist die Zahl von zwölf gefundenen Zinnendecksteinen, hinzu kamen fünf Winkelstücke (möglicherweise von den nicht überdachten Ecktürmen). Die geraden Stücke wiesen eine Länge zwischen 1,07 und 1,34 Meter auf. Alle Decksteine wurden in der Verfüllung des Grabens aufgefunden. Möglicherweise wurden die unhandlichen Steine, die nur schwer wiederverwendbar waren, in den noch offenen Kastellgraben geworfen, bevor man die Kastellmauer zur Verwertung der Steine bis auf das Fundament abtrug.Die Kastellmauer hatte eine Breite zwischen 1,20 und 1,40 Metern, das Fundament von 1,80 Metern. An den Ecken war das Kastell mit einem inneren Radius von 15 Metern abgerundet. Besonders auffällig am Grundriss sind die nach außen vorspringenden Ecktürme (5,30 × 3,80 m), die wahrscheinlich in einer späteren Bauphase hinzugefügt wurden. Zwischentürme wurden keine festgestellt. Auch die Tortürme waren auffallend schmal und tief (6,90 × 4,20 m), mit Ausnahme der porta praetoria (vorderes Lagertor) waren die restlichen drei Tore nur mit einer Durchfahrt ausgestattet. An der Innenseite der Mauer befand sich eine Wallschüttung, deren Breite durch den Nachweis der via sagularis (Wallstraße) mit 4,60 bis 5,10 Metern angegeben werden kann.Um das Kastell verlief ein einfacher Spitzgraben mit einer Breite um 7 Meter. Er war von der Mauer durch eine etwa 1,20 bis 1,40 Meter breite Berme getrennt. Eine Erneuerung des Grabens wird belegt durch eine im Profil (Grabenschnitt) doppelte Spitze mit einem Abstand von etwa 80 Zentimetern zueinander.Von der Innenbebauung sind mit Ausnahme der steinernen Principia (Stabsgebäude) ausschließlich Teilgrundrisse bekannt. Dabei handelt es sich meist um die tiefer fundamentierten Teile von Gebäuden, von denen die Anbauten aus Fachwerk nicht erkannt wurden. In der Nordwestecke befand sich ein größerer Baukomplex mit mehreren Öfen, der als Bäckerei angesprochen wird.
=== Kastellbad ===
Das Badegebäude wurde etwa 50 Meter vor dem südlichen Teil der Prätorialfront, der dem Feind zugewandten Lagerseite, in direkter Nähe zum Main lokalisiert. Nach der Entdeckung und ersten Konservierung 1820 konnten bei den großen Flächengrabungen nur noch Nachuntersuchungen vorgenommen werden. Es hat eine Länge von 44,50 bei einer maximalen Breite von 19,45 Metern und gehört zum sogenannten Reihentyp, bei dem die wichtigsten drei Badetrakte in einer Achse hintereinander angeordnet sind. Da ein Apodyterium (Auskleideraum) nicht nachgewiesen werden konnte, wird dieser vermutlich in einem Anbau aus Holz oder Fachwerk bestanden haben. Ähnliche Befunde sind von den Kastellbädern in Würzberg und Walldürn bekannt.
Aufgrund der Apsiden des Warmbades, die besonders häufig bei Gebäuden ab hadrianischer Zeit auftreten, wurde zunächst eine Datierung in diese Zeit erwogen. Ähnliche Typen von Kastellbädern sind am obergermanischen Limes schon aus flavischer Zeit geläufig, etwa die Thermen vom Kastell Echzell, Kastell Bendorf oder Kastell Salisberg.Nach den Grabungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde das Bad restauriert. 70 Jahre später musste es 1968 einem Fabrikgebäude weichen. Es wurde in den Nilkheimer Park versetzt, wo es sich noch befindet.
=== Vicus und Gräberfeld ===
Das Kastelldorf (Vicus) erstreckte sich entlang des Mains nördlich und südlich des Kastells. Wie bei der Kastellinnenbebauung sind nur tiefer liegende Befunde wie Keller und Hypokausten dokumentiert; deshalb ist von der Wohnbebauung kein zusammenhängendes Bild zu gewinnen, obwohl von Wirth über 50 Keller oder Steingebäude angeschnitten wurden. Die Verlängerung der via principalis nach Norden und Süden bildete die Hauptachse des Lagerdorfs. Sie wurde stellenweise nachgewiesen, wobei eine Breite von neun Metern festgestellt wurde. Südlich des Kastells scheint die Besiedlung dichter gewesen zu sein, sodass die Straße zur Erschließung nicht mehr ausreichte. Parallel verlief etwa 100 Meter westlich eine zweite Straße, die vermutlich das rückwärtige Kastelltor (porta decumana) erreichte.Von den Gräberfeldern konnte besonders nördlich der Eisenbahnlinie und der Erdschanze ein größerer Teil ergraben werden. Im Vicus haben mehrere Einzelbefunde Eingang in die archäologische Forschung gefunden.
Etwa 100 Meter nördlich des Kohortenkastells wurde in der Nähe des Mainufers ein auf den Zeitraum 95–125 n. Chr. datierter Ziegelofen freigelegt, der nach den Stempeln von der Cohors III Aquitanorum (3. Kohorte der Aquitanier) betrieben wurde. Ein weiterer Brennofen derselben Einheit wurde 75 Meter von der Südecke des Kastells entfernt entdeckt. Die Ziegel wurden vorwiegend zu Bauten innerhalb des Steinkastells verwendet.
==== Schiffslände ====
Vor der nordöstlichen Lagerecke befand sich eine Anlegestelle für Schiffe. Aufgefunden wurde eine stark zerstörte Kaimauer mit 2,70 Meter Breite und bis zu 2,40 Meter Höhe. Sie ruhte auf einem Pfahlrost aus Eichen. Davor befand sich eine Holzkonstruktion, von der mehrere miteinander verzapfte Balken aufgefunden wurden. Sie hatte wahrscheinlich den Zweck, auch Schiffen mit größerem Tiefgang das Andocken zu ermöglichen. Eine Darstellung an der Trajanssäule in Rom ist der Stockstädter Anlegestelle sehr ähnlich.
==== Benefiziarier-Station ====
Wenige Meter von der Anlegestelle flussabwärts wurden seit 1886 zahlreiche Weihealtäre von beneficiarii consulares aus dem weitgehend moorigen Boden geborgen. Aufgrund der Masse der Steininschriften konnte es sich nur um eine Station handeln, die den Handel und wahrscheinlich besonders den Schiffsverkehr überwachte. Die Inschriften datieren in die Zeit von 166 bis 208 n. Chr. Möglicherweise wurde die Station danach aufgegeben. Ein Teil der älteren Weihealtäre der Benefiziarier fand sich wiederverwertet im Mithräum I. Von dem zugehörigen Gebäude konnte Conrady trotz intensiver Suche nur Kulturschichten und Bauschutt entdecken.
==== Mithräum I und II ====
Das Mithräum I (13,00 × 7,80 m) wurde 1902 südöstlich des Kastells gefunden. Es handelt sich nach den Funden um das jüngere, um 210 n. Chr. errichtete der beiden Heiligtümer. Ein Brand zerstörte den Bau, sein außerordentlich reiches Inventar blieb aber im Boden erhalten. Neben einem silbernen Votivblech gehörten dazu Fragmente eines drehbaren Mithras-Kultbildes und 66 weitere Steindenkmäler. Kleinfunde wie Münzen sind dagegen unterrepräsentiert. Funde von drei verschiedenen Merkur-Statuen legen nahe, dass die Verehrung dieses Gottes besondere Bedeutung hatte. In beiden Mithräen befand sich je eine Mercuriusstatue mit einem Kind im Arm. Die Weihungen einer Vielzahl von Göttern in den Heiligtümern belegt, dass sich religiöse Vorstellungen allmählich vermischten.Mit dem Mithräum II (11,50 × 6,50 m) wurde an der Südostseite des kleinen Holzkastells in der Nähe des Mains 1909/10 ein weiteres Heiligtum freigelegt. Münzfunde, die als Bauopfer anzusehen sind, geben einen terminus post quem für die Errichtung des Mithräums II nach 157 n. Chr. Mit fünf Altären und einer Mercurius-Statue sind die Funde wesentlich geringer als im Mithräum I, insbesondere fehlt ein Kultbild. Dies belegt im Zusammenhang damit, dass in dem ebenfalls durch einen Brand zerstörten Gebäude im 3. Jahrhundert Siedlungsabfälle abgelagert wurden, die zeitliche Abfolge der beiden Mithräen. Das Kultbild aus dem Mithräum II könnte in dem späteren Gebäude weiter verwendet worden sein.
==== Dolichenus-Heiligtum ====
Ein Heiligtum für Iupiter Dolichenus (sogenanntes Dolichenum) konnte südöstlich des Kastells, nur wenige Meter vom Mithräum I entfernt, nachgewiesen werden. Vom Grundriss lässt sich wegen der starken Zerstörung des Gebäudes kein genaues Bild machen. Inschriften legen eine Nutzung in severischer Zeit nahe. Der bei Soldaten recht beliebte Kult könnte wesentlich von der cohors I Aquitanorum etabliert worden sein, die seit der Mitte des 2. Jahrhunderts in Stockstadt nachweisbar ist. Neben der gemeinschaftlich gesetzten Weihinschrift der Truppe, die auf ein eingelöstes Gelübde hinweist, ist in einer anderen einer ihrer Präfekten genannt. Eine Besonderheit im Fundmaterial sind zahlreiche Stierhörner und -schädel, wahrscheinlich Reste von Opfertieren.
== Denkmalschutz und Fundverbleib ==
Aufgrund der sehr weitgehenden Zerstörung des Kastellareals durch Überbauung ist das Kastell Stockstadt nicht Teil des UNESCO-Welterbes Frontiers of the Roman Empire. Das Kastell und die erwähnten Anlagen sind jedoch als eingetragene Bodendenkmale im Sinne des Bayerischen Denkmalschutzgesetzes (BayDSchG) geschützt. Nachforschungen und gezieltes Sammeln von Funden sind erlaubnispflichtig, Zufallsfunde den Denkmalbehörden anzuzeigen.
Römerzeitliche Funde aus Stockstadt sind im Saalburgmuseum, im Stiftsmuseum Aschaffenburg und im Heimatmuseum Stockstadt ausgestellt.
== Siehe auch ==
Liste der Kastelle am Obergermanisch-Raetischen Limes
== Literatur ==
Dietwulf Baatz: Stockstadt am Main AB. Kohortenkastell. In: Dietwulf Baatz und Fritz-Rudolf Herrmann (Hrsg.): Die Römer in Hessen. Lizenzausgabe der 3. Auflage von 1989. Nikol, Hamburg 2002 S. 479–481. ISBN 3-933203-58-9.
Dietwulf Baatz: Der Römische Limes. Archäologische Ausflüge zwischen Rhein und Donau. 4. Auflage. Gebr. Mann, Berlin 2000, ISBN 3-7861-2347-0, S. 176f.; S. 231 (Stiftsmuseum Aschaffenburg); S. 233f. (Badegebäude im Nilkheimer Park).
Dietwulf Baatz: Zur Datierung des Bades am Limeskastell Stockstadt. In: Bayerische Vorgeschichtsblätter 34, 1969 S. 63–75.
Karlheinz Dietz: Zwei Jupiterweihungen aus Stockstadt a. Main. Landkreis Aschaffenburg, Unterfranken. In: Das archäologische Jahr in Bayern 1990. S. 104–107.
Andreas Hensen: Die Tempel des Mithras beim Kastell von Stockstadt am Main. In: Der Limes. Nachrichtenblatt der Deutschen Limeskommission 5/2011 Heft 2, S. 10–13.
Hans-Jörg Kellner: Ein Schatzfund aus dem Kastell Stockstadt, Lkr. Aschaffenburg. In: Germania 41, 1963 S. 119–122.
Marion Mattern: Römische Steindenkmäler aus Hessen südlich des Mains sowie vom bayerischen Teil des Mainlimes. Corpus Signorum Imperii Romani. Deutschland Bd. 2,13, Mainz 2005, Verlag des Romisch-Germanischen Zentralmuseums; in Kommission bei Habelt, Bonn, ISBN 3-88467-091-3.
L. Schleiermacher: Das zweite Mithräum in Stockstadt a.M. In: Germania 12, 1928, S. 46–56.
Hans Schönberger: Die Körpergräber des vierten Jahrhunderts aus Stockstadt a. Main. In: Bayerische Vorgeschichtsblätter 20, 1954 S. 128–134.
Kurt Stade: Nachtrag zu Abt. B Nr. 33 Kastell Stockstadt. In: Ernst Fabricius, Felix Hettner, Oscar von Sarwey (Hrsg.): Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches. (ORL) Abt. A Strecke 6 (1933) S. 29–70.
Bernd Steidl: Welterbe Limes: Roms Grenze am Main. Logo, Obernburg am Main 2008 ISBN 3-939462-06-3 S. 156–161 (= Ausstellungskataloge der Archäologischen Staatssammlung 36).
Ludwig Wamser: Ausgrabungen im Vicus des Römerkastells Stockstadt a. Main. Landkreis Aschaffenburg, Unterfranken. In: Das archäologische Jahr in Bayern 1990, S. 98–104.Grabungsbericht der Reichs-Limeskommission:
Friedrich Drexel: Das Kastell Stockstadt. In: Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches B, Bd. 3, Kastell Nr. 33 (1914).
== Weblinks ==
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kastell_Stockstadt
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Kettenschifffahrt auf dem Main
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= Kettenschifffahrt auf dem Main =
Die Kettenschifffahrt auf dem Main war eine spezielle Art des Schiffstransports von 1886 bis 1936 auf dem Main. Entlang einer im Fluss verlegten Kette zogen sich Kettenschleppschiffe mit mehreren angehängten Schleppkähnen stromaufwärts. Die Technik der Kettenschifffahrt löste die bis dahin übliche Treidelschifffahrt ab, bei der die Schiffe von Pferden gezogen wurden.
Durch die stromaufwärts fortschreitende Kanalisierung und die dafür erforderlichen Staustufen wurde der Kettenschleppbetrieb besonders durch die Wartezeiten an den Schleusen erschwert und die Kette bekam Konkurrenz von der Schiffsschraube, deren Einsatz durch die größere Fahrrinnentiefe möglich und durch die Verwendung von Dieselmotoren wirtschaftlich wurde. Die personalintensive Kettenschifffahrt mit Dampfmaschinen wurde unwirtschaftlich und 1936 ganz eingestellt.
== Geschichte ==
=== Die Situation vor der Kettenschifffahrt ===
Der Main hat nur geringes Gefälle. Bis zur Mittelwasserkorrektion Mitte des 19. Jahrhunderts war er ein träge fließendes seichtes Gewässer mit vielen Schleifen, Biegungen, Inseln und oft mehreren flachen Flussarmen nebeneinander. Demgegenüber führten starke Hochwasser vor allem im Herbst und im Frühjahr zu Überschwemmungen, zu Uferabbrüchen und Verlandungen. Im Sommer hingegen fiel der Wasserstand in den meist nur einen halben Meter tiefen Fahrrinnen auf wenige Dezimeter und es entstanden Untiefen und Sandbänke.Flussaufwärts wurden die Schiffzüge von Leinreitern getreidelt. Ein Zug bestand aus einer Kette von hölzernen Fahrzeugen von je 15 bis 30 t Tragkraft. Sie begannen meist mit einer Frankensau oder einem Marktschiff und setzten sich über Schelche, Schlumper und Nachen fort bis zum kleinsten Fahrzeug, dem Ankernachen. Der Leinpfad wechselte oft vor den Mündungen der Nebenflüsse oder vor Steilhängen die Uferseite. An solchen Stellen mussten Pferde und Reiter die Fahrrinne durchqueren oder übergesetzt werden. Flussabwärts trieben die Schiffe im Wasserstrom. Bei günstigem Wind wurden Segel gesetzt. Die Kosten für das Treideln der meist leeren oder gering beladenen Schiffe waren hoch. Daher konnte Gewinn meist nur bei ausreichend tiefem Fahrwasser und mit voll beladenen Schiffen auf Talfahrten erzielt werden.1828 verkehrte die Stadt Frankfurt als erster Raddampfer auf dem Main zwischen Mainz und Frankfurt. Sie blieb jedoch wegen konstruktiver Mängel ihrer Dampfmaschine und der schwierigen Fahrwasserverhältnisse in der stark versandeten Mainmündung erfolglos. Bereits 1832 wurden die Versuche wieder eingestellt. Erst ab 1841, nach dem Beitritt der Freien Stadt Frankfurt zum Deutschen Zollverein und dem Bau der Taunus-Eisenbahn von Frankfurt nach Wiesbaden, wurde die Dampfschifffahrt auf dem Main wieder aufgenommen. Sie konnte sich jedoch auch diesmal aus mehreren Gründen nicht durchsetzen: Erstens behinderten die ungünstigen Fahrwasser des Mains bei niedrigen Wasserständen der Sommermonate die Dampfschiffe mit ihrem relativ großen Tiefgang, zumal die vom bayerischen Staat zugesagten Fahrwasserverbesserungen nicht in ausreichendem Maße vorgenommen wurden. Zweitens war die etwa zeitgleich aufgebaute Eisenbahn den Dampfschiffen überlegen; sie fuhr schneller und hatte kürzere Wege. Der Wasserweg von Mainz nach Schweinfurt war um 88 Prozent länger. Außerdem konnte die Bahn Zollstellen ohne Wartezeiten passieren und wurde finanziell nicht durch Zölle und Abgaben belastet. Schon 1858 wurde deshalb die Dampfschifffahrt mit Raddampfern wegen ihrer dauerhaften Unrentabilität wieder eingestellt.
=== Die Zeit der Kettenschleppschifffahrt auf dem Main ===
Nachdem die Mainschifffahrt immer mehr ihrer Transportkapazität an die Eisenbahn verloren hatte und der Einsatz von Raddampfschleppern aufgrund des flachen Fahrwassers des Mains scheiterte, war die Idee von Heino Held, Inhaber der Mainzer Speditions- und Kohlenhandlung mit dem Namen C.J.H. Held & Cie., die Schifffahrt durch Einführung der Kettenschlepp-Schifffahrt zu retten. Ermuntert von den gerade auf der Elbe in Gang gekommenen Unternehmen beantragte dieser bei den Behörden von Preußen, Bayern und Hessen am 15. Februar 1871 eine entsprechende Konzession. 1872 gründeten daraufhin die verschiedenen Länder und Städte entlang des Mains ein Komitee in Aschaffenburg. Unterstützt wurde das Komitee durch Ewald Bellingrath, der schon bei der Einführung der Kettenschifffahrt auf der Elbe und dem Neckar federführend war. Zur Debatte standen die Kettenschiffahrt und die Kanalisierung des Mains. Das zum Großherzogtum Hessen gehörende Mainz trat für die Kettenschifffahrt ein, da es befürchtete, dass nach einer Kanalisierung des Mains die Rheinschiffe ihre Güter direkt bis nach Frankfurt bringen könnten und Mainz so seine Stellung als Umschlagplatz verlöre. Das damals zu Preußen gehörende Frankfurt wollte Rheinhafen werden und stimmte der Kette erst zu, nachdem die Kanalisierung bis Frankfurt vollendet war. Der bayerische Landtag war ebenfalls Gegner der Kette; er fürchtete eine Konkurrenz für die staatliche bayerische Eisenbahn und genehmigte die Kette vorerst nur bis Aschaffenburg.
Die hessische Konzession zum Betrieb der Kettenschifffahrt auf dem Main und durch den Rhein bis zum Hafen von Mainz wurde der hessischen Aktiengesellschaft Mainkette-AG 1885 erteilt. Die Mainkette-AG verlegte die Kette und die Kettenboote wurden 1886 auf der Neckarwerft in Neckarsulm gebaut. Die Pläne zum Bau stammten von der Firma Gebr. Sachsenberg aus Roßlau (Elbe), die bereits viele Jahre Erfahrungen mit dem Bau von Kettenschiffen gesammelt hatte und auch die gesamten Maschinenanlagen zur Fortbewegung mit der Kette an den Neckar lieferte. Vom Neckar zum Main konnten die Kettenschiffe direkt auf dem Wasserwege transportiert werden, was von der Elbe aus nicht möglich gewesen wäre. Die Kettenschiffe zogen sich selbst und bis zu zehn angehängte Kähne und erreichten dabei eine Geschwindigkeit von etwa fünf Kilometern pro Stunde.
Am 7. August 1886 wurde die Strecke zwischen Mainz und Aschaffenburg in Betrieb genommen. Bis Oktober des Jahres waren alle drei Kettenboote (Mainkette I-III) auf dieser Strecke im Einsatz. Der Fränkische Kurier schrieb in einem Rückblick über die Anfänge der Kettenschifffahrt:
In den folgenden Jahren vergrößerte die Mainkette-AG ihren Schiffspark um drei Schraubendampfschlepper, die zuerst hauptsächlich als Zubringer in Mainz-Kostheim und Frankfurt eingesetzt wurden, dann aber immer häufiger auch für den Schleppdienst zwischen Mainz und Frankfurt selbst eingesetzt wurden.
1892 stimmte die bayerische Regierung zögernd dem mehrfachen Antrag der Mainkette-AG zur Verlängerung ihrer Kette bis Miltenberg zu, jedoch unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufes. Die bayerische Regierung beschloss allerdings schon zwei Jahre später ein Gesetz zur Einrichtung einer eigenen Kettenschifffahrt auf dem Main und ließ im Sommer 1895 ihre Kette bis Lohr verlegen. Der Mainkette-AG wurde in Ermangelung eigener Kettenschlepper der Betrieb auf diesem Flussabschnitt gegen eine Kettenbenutzungsgebühr gestattet. Von 1895 bis 1901 fuhren daher die Kettenboote der hessischen Mainkette-AG noch auf den bayerischen Flussabschnitten bis Miltenberg oder Lohr.1898 wurde vom bayerischen Königreich die Königlich Bayerische Kettenschleppschiffahrt-Gesellschaft (kurz KBKS) in Würzburg gegründet und von der bayerischen Staatseisenbahn verwaltet. Die neugegründete staatliche Gesellschaft hatte den Auftrag zum Bau von fünf Kettenschleppern K.B.K.S. No. I bis V an die Schiffswerft Übigau bei Dresden vergeben. Die Schlepper wurden in der Schiffswerft vorgefertigt, zerlegt mit der Bahn nach Aschaffenburg transportiert, zusammengenietet und zwischen 1898 und 1900 zu Wasser gelassen.
Zur Instandhaltung seiner Kettenschiffe errichtete der Bayerische Staat bei Schweinheim, unterhalb Fluss-Kilometer 88,8 zwischen dem Mainufer und der damaligen Mainländebahn einen ca. 60 m langen Werftplatz.
Mit dem Einsatz aller neuen bayerischen Kettenschlepper musste sich die hessische Mainkette-AG jedoch aus Bayern zurückziehen. Die Königlich Bayerische Kettenschleppschiffahrt-Gesellschaft kaufte der Mainkette-AG die Kette zwischen Aschaffenburg und Miltenberg ab und verlängerte sie in den Folgejahren: 1900 bis Kitzingen, 1911 bis Schweinfurt und 1912 bis Bamberg. Damit hatte die Kette mit 396 Kilometern ihre größte Länge erreicht. In den Jahren 1910 und 1911 wurden drei weitere Kettenschlepper mit den Bezeichnungen K.B.K.S. No. VI bis VIII in Übigau vorgefertigt und in Aschaffenburg zusammengebaut. Ab 1912 waren somit acht bayerische Kettenschleppschiffe zwischen Aschaffenburg und Bamberg unterwegs.Die Kettenschiffe wurden meist nur auf der Bergfahrt benutzt. Die Situation der Kettenschifffahrt wird 1900 in der Aschaffenburger Zeitung wie folgt beschrieben:
Nach dem Sturz des bayerischen Königs Ludwig III. 1918 wurde in der Bezeichnung K.B.K.S. (Königlich Bayerisches Kettenschiff) das erste 'K.' für Königlich gestrichen und etwa das Schiff Nummero acht nicht mehr K.B.K.S.NoVIII., sondern nur noch als B.K.S.NoVIII. (bayerisches Kettenschiff Nummero acht) bezeichnet. 1924 änderte sich die Bezeichnung in DRG. KS NrVIII (Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft Kettenschiff Nummer acht). Nach der Übernahme durch die Deutsche Reichsbahn 1937 wurde der Name DR .KS NrVIII. (Deutsche Reichsbahn Kettenschiff Nummer 8) benutzt.
=== Das Ende der Kettenschifffahrt ===
So wie anfangs die Frankfurter an der Kanalisierung des Mains bis zu ihrer Stadt interessiert waren, zeigte nun der bayerische Staat größtes Interesse an der Mainkanalisierung bis Aschaffenburg. Alle Güter, insbesondere die zum Betrieb der Bayerischen Staatseisenbahnen erforderliche Ruhrkohle sollten bis dorthin per Schiff transportiert, dort bevorratet, gelagert und verteilt werden können. Die mainaufwärts tätige staatliche bayerische Kettenschifffahrt wurde dadurch nicht beeinflusst, die Folgen hatte jedoch die Mainzer Gesellschaft Mainkette-AG zu tragen. Das Aufstauen des Flusses führte zu einer größeren Wassertiefe und reduzierte gleichzeitig die Fließgeschwindigkeit. Vor allem mussten die langen Schleppzüge an den Schleusen der Staustufen aufgeteilt und getrennt geschleust werden. Das konnte bis zu fünf Stunden Verzögerung bedeuten, da die Schleppkähne mühsam per Menschenkraft in die Schleuse hinein und auch wieder herausgezogen werden mussten.Alles das verschob die Rentabilität von der Kettenschifffahrt zu schraubengetriebenen Schiffen. Die Mainkette-AG konnte mit der fortschreitenden Mainkanalisierung bis Aschaffenburg im Jahr 1921 nur noch ihre Schraubenschlepper wirtschaftlich einsetzen und gab den Schleppbetrieb Anfang der 1930er Jahre ganz auf.Auch für die bayerische Strecke musste die Reichsbahndirektion Nürnberg 1935 feststellen: „Das Verkehrsaufkommen bei der Kettenschleppschifffahrt auf dem Main ist in der 1. Hälfte dieses Jahres [1935] durch den Wettbewerb der Schraubenboote außerordentlich zurückgegangen, sodaß der Betrieb nahezu zum Erliegen gekommen ist und die Frage der völligen Auflassung des Unternehmens ins Auge gefaßt werden muß.“ Als Grund hierfür wurde angegeben:
Ein weiterer Nachteil der Kettenschleppschiffahrt lag in den Seitwärtsbewegungen der Kette über den Flussgrund hinweg, weil sie jeweils in das Kurveninnere gezogen werden konnte. Damit verschleifte die Kette manchmal auch größere Steinbrocken in die Fahrrinne oder kantete dort bereits liegende Steine auf. Außerdem wurde sie nach jedem Anheben nicht wieder genau dort abgelegt, wo sie vorher lag.
Die Bayerische Kettenschifffahrt wurde im Juli 1936 vollständig eingestellt und die Kette 1938 gehoben. Der Fränkische Kurier beschrieb am 14. Mai 1938 die letzte Fahrt eines Kettenschiffs auf dem Main:
== Der Name Mainkuh ==
Vor gefährlichen Flussstellen hatte der Kettenschleppverband Vorrang vor anderen Schiffen. Diese mussten beidrehen und den Schleppverband durchlassen. Um die anderen Schiffe zu warnen, gaben die Kettenschiffe schon lange vorher ein lautes Pfeifsignal ab. Ein solches Signal ertönte auch, bevor Schiffe an- oder abgekoppelt wurden. Passierte ein Schleppverband den Heimathafen des Kettenschleppers oder eines der Schleppkähne, wurden ebenfalls Signale gegeben. Die Familien der Schiffer wussten so von der Ankunft und konnten über kleine Boote, den sogenannten Nachen, Proviant, Kleidung und Neuigkeiten überbringen. Das Tuten der Kettenschleppschiffe, das sich wie lautes Muhen anhörte, und die laut rasselnden Ketten – wie in einem Kuhstall – führten landläufig zu der Bezeichnung Mainkuh oder je nach Dialekt und Aussprache auch zu unterfränkischem Määkuh, Meekuh, Frankfurter Maakuh oder Meankuh.
== Technische Beschreibung ==
Die Kettenschlepper hangelten sich entlang einer im Flussbett verlegten Kette, die nur an ihrem Anfang und Ende im Fluss fixiert war. Die steglose Kette bestand aus 118 mm langen und 85 mm breiten eisernen Gliedern mit einer Stärke von 26 Millimetern. Allein durch das Eigengewicht der Kette und das natürliche Verhaken mit dem Flussgrund konnte an dieser eine Zugkraft von etwa 40000 Newton (entsprechen etwa 4000 kg) auftreten. Am Bug und am Heck des Schiffes waren Verlängerungen (Ausleger) angebracht, die seitlich in beide Richtungen geschwenkt werden konnten. Die Kette wurde über den vorderen Ausleger aus dem Flussbett geholt und über Deck entlang der Schiffsachse zum Kettenantrieb in der Mitte des Schiffes geführt. Führungsrollen sorgten für eine exakte Ausrichtung der Kette. Von dort führte die Kette über Deck zum Ausleger am Heck und wieder zurück in den Fluss. Durch die seitliche Beweglichkeit des Auslegers und die beiden sowohl vorne und hinten angebrachten Ruder war es möglich, die Kette auch bei Flussbiegungen wieder in der Flussmitte abzulegen.
Eduard Weiß beschreibt die Schiffe in der Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure wie folgt: „Das Aussehen des Schiffes ist insofern eigenartig, als es in der Mitte am höchsten ist und nach den Enden zu stark abfällt, damit der durch das Heben der Schleppkette entstehende Arbeitsverlust möglichst gering wird.“ Diese Form ist typisch für alle Kettenschiffe und war optimiert für geringe Wassertiefen. Je größer die Wassertiefe ist, umso geringer ist der Wirkungsgrad, da immer mehr Energie aufgewendet werden muss, um die Kette vom Flussbett heraufzuholen.
3D-Rekonstruktionen des bayerischen Kettenschleppschiffs K.B.K.S. No. V
Die Kette hielt etwa 10 bis 15 Jahre. Aufgrund der Schleifwirkung des Sandes zwischen den Kettengliedern kam es dann vermehrt zu Kettenbrüchen. Um das Auffischen der Kette vom Grund mit Hilfe von Suchankern zu vermeiden, waren an den Auslegern der Schiffe Fangeinrichtungen in Form von Sperrhaken eingebaut, die ein Ablaufen der Kette nach einem Kettenbruch oder während der Reparatur der Kette verhinderten.
=== Die hessischen Kettenschiffe ===
Die drei hessischen Schiffe mit der Bezeichnung Mainkette I-III hatten eine Länge über Deck von 49,80 m, sowie eine Breite an der Wasserlinie von 7,05 m. Sie hatten außer dem Kettenantrieb in Form eines Trommelwindwerks keinen weiteren unabhängigen Antrieb. Bei der Fahrt zu Berg und zu Tal waren diese Schiffe folglich auf die Kette angewiesen. Schiffe, die sich begegneten, mussten mit einem komplizierten Manöver aneinander vorbeifahren. Zuerst musste die Kette an Schäkeln („Kettenschlösser“ genannt) geöffnet werden, die sich im Abstand von 400 Metern in der Kette befanden. Mit Hilfe von Hilfskette und Seil musste das talwärts fahrende Schiff aus der Kette gehen und ankern. Nachdem das gegen die Strömung fahrende Schiff passiert war, konnte das talwärts fahrende Schiff mit einem Zeitverlust von etwa 45 Minuten wieder in die Kette gehen.Der Tiefgang mit 20 Tonnen Kohlen an Bord betrug 0,60 Meter. Die Schiffe wurden von einer Dampfmaschine mit 88 kW (120 PS) angetrieben. Typisch für diesen Schiffstyp waren zwei nebeneinander angeordnete Kamine. Das war darauf zurückzuführen, dass das Schiff zwei Kessel mit je einem Feuer besaß. Der Kohlenverbrauch pro Stunde betrug 3 Zentner (150 kg).
=== Die bayerischen Kettenschiffe ===
Die bayerischen Kettenschleppschiffe mit den Bezeichnungen K.B.K.S. No.I-V wurden in Übigau gebaut und waren mit 50 Meter über Deck (entsprechend 46,80 m an der Wasserlinie) geringfügig länger als die Schiffe der Mainkette-AG. Dafür war jedoch die Breite an der Wasserlinie mit 6,40 Meter (Breite über Deck 7,40 m) geringer. Bei einem Tiefgang von nur 0,56 Metern hatten sie eine Wasserverdrängung von 147 Kubikmeter, was ihrem Gewicht in Tonnen entspricht. Mit einer Antriebsleistung von 95 kW (130 PS), die eine Dampfmaschine lieferte, konnte sie bis zu 12 Lastkähne ziehen.
Die bayerischen Kettenschleppschiffe mit den Bezeichnungen K.B.K.S. No.VI-VIII waren an der Wasserlinie mit 48,00 Meter etwas länger als die Vorgängerversion. Die Breite an der Wasserlinie war mit 6,40 Metern jedoch unverändert geblieben. Die Antriebsleistung der Dampfmaschine betrug bei diesen Schiffen 80 kW (110 PS). Bis 1924 wurde für die Kraftübertragung ein Kettengreifrad nach Bellingrath verwendet. Danach wurde ein 2-rädriges Kettenrad benutzt, um das die Kette geschlungen wurde.
Eine Besonderheit der bayerischen Schiffe waren zwei Wasserturbinen nach Gustav Anton Zeuner, Vorläufer des heutigen Wasserstrahlantriebs, mit denen das Schiff gelenkt werden konnte und ohne Kette mit einer Geschwindigkeit von rund 14 Kilometern pro Stunde zu Tal fuhr. Der zusätzliche Antrieb ermöglichte aber auch Richtungskorrekturen während der Fahrt an der Kette und erleichterte Wendemanöver.
Die bayerischen Kettenschiffe besaßen nur einen Kamin. Dieser war bei Bedarf abklappbar. Der Rumpf bestand aus sieben, durch sechs wasserdichte Schottwände getrennte Abteilungen. Die Besatzung bestand aus dem Kapitän, einem Steuermann, zwei Matrosen, einem Maschinisten und zwei Heizern. Im Unterdeck befanden sich die Kojen und Kabinen. Die Steuerplattform war mit einer Tuchabdeckung umkleidet und ein Sonnen-/Regensegel war darüber gespannt. Später wurde der Steuerstand zu einem Steuerhaus umgebaut.
== Schiffsmodelle ==
Ein Modell eines Kettenschleppschiffes ist zusammen mit einem Stück der Originalkette im Schifffahrts- und Schiffbaumuseum Wörth am Main ausgestellt. Zusätzlich ist dort eine im Maßstab 1:5 nachgebaute Doppelwinde zu sehen, die auf Knopfdruck die Kette aufwickelt und abspult. Ein zweites Modell eines Kettenschleppschiffes steht im Sitzungszimmer des Wörther Rathauses und wird bei Bedarf an andere Museen und Ausstellungen verliehen.
Das im Heimatmuseum von Elsenfeld ausgestellte Modell eines Kettenschleppschiffes erlaubt die Bewegung der Kette am Modell. Außerdem ist dort eine Original-Schiffsglocke des Königlich Bayerischen Kettendampfschiffs Nr. 4 und ein Stück der Originalkette zu sehen. Das Museum ist nur wenige Tage im Jahr geöffnet.
Auch das Museum Stadt Miltenberg und das Schlossmuseum Aschaffenburg verfügen über ein Modell eines Kettenschiffes. In Aschaffenburg ist außerdem auch ein Stück der Originalkette zu sehen.
Ein weiteres Modell (Werftmodell des K.B.K.S. No. I im Maßstab 1:25) ist im Besitz des DB-Museums in Nürnberg. Dieses wurde hier jedoch nur selten ausgestellt. Seit April 2010 ist das Modell als Dauerleihgabe im Zunftsaal des Aschaffenburger Schlosses zu sehen.Außerdem gibt es das Kettenschiff K.B.K.S. No. V als Kartonmodell im Maßstab 1:250.
== Die letzten Kettenschiffe Deutschlands ==
Der letzte Überrest eines Kettenschiffs vom Main war bis März 2009 im ehemaligen Floßhafen von Aschaffenburg zu sehen. Die Määkuh diente bis Anfang des neuen Jahrtausends als Restaurant und Bootsanleger. Sie war wegen ihrer Aufbauten kaum noch als Kettenschiff zu erkennen. Danach lag sie in der Werft zu Erlenbach am Main und liegt nun seit Oktober 2009 am SMA-Hafen auf dem linken Mainufer bei Main-km 91 in Aschaffenburg (s. Abb.). Sie ist ausgeschlachtet und nicht mehr schwimmfähig. Die Vereine „Technikdenkmal Määkuh“ und „AbaKuZ e. V.“ kämpften im Herbst 2009 um die Rettung vor Verschrottung, um sie später im Originalzustand wieder aufzubauen. 2010 wurde das Schiff verkauft. Der Schiffsrumpf (max. ca. 1,80 m lichte Höhe) sollte künftig direkt unterhalb des Schlosses als Café oder auch als Ausstellungsraum dienen. 2015 wurden die Pläne jedoch vom Stadtrat abgelehnt. 2021 war die Zukunft des Schiffes noch immer ungeklärt. Aufgrund seiner Abmessungen gehört das Schiff zur Baureihe K.B.K.S. No. I bis V. Wegen seiner geschichtlichen Bedeutung und außerordentlichen Seltenheit wurde es als bewegliches Baudenkmal in Teil A – Baudenkmale – Heft 71 der Denkmalliste – Stadt Aschaffenburg aufgenommen.
Das letzte Kettenschiff, welches noch als solches zu erkennen ist, ist die „Gustav Zeuner“, die auf der Elbe eingesetzt war und in Magdeburg als Museumsschiff an Land liegt.
== Literatur ==
Otto Berninger: Die Kettenschiffahrt auf dem Main. In: Mainschiffahrtsnachrichten des Vereins zur Förderung des Schiffahrts- und Schiffbaumusums Wörth am Main, Mitteilungsblatt Nr. 6 vom April 1987, 111 Seiten
Georg Schanz: Studien über die bay. Wasserstraßen. Band 1: Die Kettenschleppschiffahrt auf dem Main. C.C. Buchner Verlag, Bamberg 1893 (online)
Sigbert Zesewitz, Helmut Düntzsch, Theodor Grötschel: Kettenschiffahrt. VEB Verlag Technik, Berlin 1987, ISBN 3-341-00282-0
Eduard Weiß: Die Kettenschlepper der kgl. bayerischen Kettenschleppschiffahrt auf dem oberen Main. In: Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, Band 45, 1901, Nr. 17, S. 578–584
Helmut Betz: Historisches vom Strom: Die Mainschiffahrt – Vom Kettenschleppzug zum Gelenkverband. Band 12. Verlag Krüpfganz, Duisburg 1996, ISBN 3-924999-13-9.
== Weblinks ==
Letzte Fahrt der Määkuh von einem Schubschiff geschoben. YouTube
K.B.K.S. No.5 „Technikdenkmal Määkuh“. Arbeitskreis Technikdenkmal „Määkuh“, abgerufen am 20. September 2017.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kettenschifffahrt_auf_dem_Main
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Chester-Beatty Akbar-nāma
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= Chester-Beatty Akbar-nāma =
Das Chester-Beatty Akbar-nāma oder Zweite Akbar-nāma ist eine illustrierte Handschrift des Akbar-nāma, also der von Abu 'l-Fazl verfassten Dynastie- und Regierungsgeschichte des Mogulherrschers Akbar. Das Manuskript wurde um 1600 am Mogulhof in Agra angefertigt. Der größere Teil der Handschrift, nämlich der zweite Band und ein Teil des dritten Bandes mit insgesamt 61 Miniaturen, werden in der Chester Beatty Library in Dublin unter der Signatur Ms In 0.3 verwahrt. Daher rührt der Name Chester-Beatty Akbar-nāma. Der erste Band des Manuskriptes befindet sich in der British Library unter der Signatur Ms. Or. 12988 und enthält 39 Illustrationen. Die Handschrift ist unvollendet und reicht nur bis zum Jahre 1579. Es ist nicht bekannt, ob der Rest des Buches verlorengegangen ist oder ob es überhaupt jemals fertiggestellt wurde. Das Chester-Beatty Akbar-nāma wird auch als Zweites Akbar-nāma bezeichnet, weil es später entstanden ist als das Erste oder Victoria-and-Albert-Akbar-nāma.
Der am Mogulhof hoch geschätzte Kalligraph Muhammad Husayn, der von Akbar mit dem Titel Zarrin Qalam (persisch für „Goldener Stift“) ausgezeichnet worden war, hat das Werk kopiert. Das verzierte Kopfstück auf Folio 1v und die Illuminationen auf dem Rand derselben Seite stammen von Ustad Mansur. Etwa 25 Maler waren an der Illustration beteiligt, von denen neben Mansur auch Laʿl, Sur Das und Dharm Das bereits aus früheren Handschriften bekannt sind. Eine neue Generation von Künstlern, zu denen Manohar, Govardhan und Daulat gehören, sie alle Söhne von Malern des Mogulateliers, treten in dieser Handschrift sehr deutlich neben die alten Meister.
Das Chester-Beatty Akbar-nāma ist die letzte historische Handschrift aus Akbars Regierungszeit. Es vereinigt in sich verschiedene Malstile, die einerseits aus den exquisiten Manuskripten der späten 1590er Jahre bekannt sind, andererseits aber schon Merkmale der frühen Jahangir-Zeit tragen. Das Zweite Akbar-nāma steht also gleichsam auf der Schwelle zu einer neuen Ästhetik in der Mogulmalerei. Es bildet überdies einen Kulminationspunkt in dem langjährigen Bestreben der Künstler, die dargestellten Personen zu porträtieren und dadurch zugleich stärker zu individualisieren.
In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts sind die beiden Bände des Zweiten Akbar-nāma nach Europa gelangt. In Paris hat der berüchtigte Kunsthändler George Demotte mit dem Ziel der Gewinnmaximierung zahlreiche Bilder aus den Bänden herausgelöst und einzeln verkauft. Einige davon hat er außerdem aus ihren Folios herausgeschnitten und auf Dekorrahmen aus dem Farhang-i Jahāngīrī, einem Mogul-Lexikon von 1608, geklebt, um damit die Attraktivität der Bilder zu steigern. Diese Seiten finden sich heute in Sammlungen auf der ganzen Welt.
== Äußere Gestalt ==
Die Anordnung des Textes entspricht, anders als beim Victoria-and-Albert-Akbar-nāma, der endgültigen Unterteilung des Akbar-nāma in drei Bände. Eine Nummerierung in Rot innerhalb der Textfelder reicht bis 511. Der Teilband in der British Library besitzt noch 163, der in der Chester Beatty 271 Blätter. Es wurde also ein beträchtlicher Teil der Folios entnommen. Beiden Teilbänden gemeinsam ist die Größe des Schriftfeldes mit etwa 24 × 12,5 cm. Es umfasst 22 Zeilen und wird von roten, grünen, blauen und goldenen Linien umrahmt. Der Text ist im Duktus des Nastaʿlīq geschrieben. Die Größe der Illustrationen entspricht in etwa der des Schriftfeldes. Sofern die Bilder von Textzeilen begleitet werden, sind sie entsprechend kleiner. Ihr Format unterscheidet sich also von dem des deutlich größeren Victoria-and-Albert-Akbar-nāma, das ein durchschnittliches Bildmaß von 32,5 × 19,5 cm aufweist. Anders als in der früheren Handschrift werden keine Textblöcke in die Miniaturen eingeschoben. Wenn sich die Illustrationen den Raum mit Textzeilen teilen müssen, stehen diese ober- und/oder unterhalb des Bildes.
=== Der Band in der British Library ===
Im ersten Teil behandelt der Autor Abu 'l-Fazl Akbars Vorfahren von Adam bis Humayun. Dieser Band ist im Besitz der British Library. Er umfasst 163 von ehemals 176 Folios, in denen noch 39 von ehemals 52 Illustrationen und zwei dekorative Eröffnungsseiten enthalten sind. Die Folios haben eine durchschnittliche Größe von 40,5 × 27,5 cm. Der bemalte Lackeinband ist im Qadscharenreich entstanden und trägt die Jahreszahl 1249 (1833/4). Es war wahrscheinlich bei dieser Neubindung im 19. Jahrhundert, dass insgesamt sieben Folios vertauscht worden sind.
=== Der Band in der Chester Beatty Library ===
Das zweite Buch dieses Akbar-nāma, das mit der Thronbesteigung Akbars 1556 beginnt und mit dem Jahr 1572 endet, sowie ein kleiner Teil des dritten Buches bis zum Jahre 1579 werden in der Chester Beatty Library in Dublin aufbewahrt. Die 271 Folios, alle in einem Band zusammengebunden, enthielten beim Kauf von Sir Alfred Chester Beatty nur noch 61 Miniaturen. Insgesamt 59 Bilder waren zuvor aus der Handschrift herausgelöst und einzeln verkauft worden.
Der Beginn von Band 2 (Fol. 1v) und der von Band 3 (Fol. 177v) ist durch je eine Schmuckseite gekennzeichnet. In der Chester Beatty Library hat man von den 61 Illustrationen 58 aus der Handschrift entfernt; sie werden einzeln ausgestellt. Nur drei Bilder (Fol. 177r, 212r und 212v) sind im Manuskript verblieben.
Der Chester-Beatty-Teil des 2. Akbar-nāma ist nach Einschätzung von Linda Leach im 18. Jahrhundert von Muhammad Zamān ʿAbbāsī, der im Inneren des Vorderdeckels signiert, neu eingebunden worden. Bei dieser Gelegenheit habe man auch die Folios neu eingerahmt. Sie weisen nun eine Größe von 43 × 26 cm auf. Der Ledereinband zeigt Szenen mit Rehen, Löwen, Kranichen und anderen Tieren in einer Landschaft.
Sieben einzelne Miniaturen des Zweiten Akbar-nāma erstand Chester Beatty bei späteren Gelegenheiten. Sie alle wurden von dem Kunsthändler George Joseph Demotte (1877–1923) mit Rahmen aus dem mogulzeitlichen Lexikon Farhang-i Jahāngīrī versehen und haben einschließlich Umrandung eine Größe von durchschnittlich 34,2 × 22,4 cm. Zahlreiche Museen und private Sammler besitzen weitere Bilder des 2. Akbar-nāma.
== Die Datierung des Manuskripts und andere Jahresangaben ==
Über die Frage der Datierung gehen die Meinungen der Fachleute auseinander. Die Handschrift besitzt kein Kolophon, das eindeutig über die Entstehungszeit Auskunft geben könnte. Auf Folio 134v im Band der British Library befindet sich jedoch eine Inschrift, aus der G. M. Meredith-Owens erstmals das Ilāhī-Jahr 47 gelesen hat, also das 47. Regierungsjahr Akbars (1602-03). Man hat deshalb lange Zeit allgemein angenommen, dass das Zweite Akbar-nāma um 1602–1603 entstanden ist. Im Jahre 1987 hat John Seyller jedoch eine weitere Datumsangabe in der Chester Beatty-Handschrift entdeckt und die bereits bekannte im Band der British Library neu übersetzt. Die undeutlich geschriebene Jahreszahl auf Fol. 134v hat er als 40 oder 42 interpretiert und die in der Chester Beatty Library auf Fol. 27v (Ms In 03.27) als Ilāhī-Jahr 42. Daraus ergab sich eine frühere Datierung in die Zeit von 1596 bis 1598. Ein Teil der Fachwelt folgt Seyllers Datierung, ein anderer verortet die Handschrift weiterhin in das Jahr 1602–1603.Jahresangaben aus späterer Zeit zusammen mit einem Hinweis auf den Schreiber befinden sich auf Fol. 1r des ersten Bandes. Dort konstatiert ein Autograph von Jahangir, dass das Buch am 3. Februar 1619 (17. Safar 1028) vollendet wurde. Auf demselben Blatt teilt eine Notiz von Shah Jahan mit, dass das Buch am Tag seiner Thronbesteigung im Jahre 1037/1628 in die kaiserliche Bibliothek übernommen wurde. Beide Inschriften sind aufgrund von Reparaturen heute überklebt und lassen sich nur unter Infrarotlicht lesen.
== Der Weg über Persien nach Europa ==
Das Zweite Akbar-nāma gelangte, vermutlich nach der Plünderung Delhis 1739 durch Nader Shah, nach Persien. Dort wurden Schäden an der Handschrift ausgebessert und die beiden Teile des Manuskriptes danach mit neuen Einbänden versehen. Wie genau die Bände schließlich nach Europa und in die Hände des zwielichtigen Kunsthändlers George J. Demotte gekommen sind, lässt sich nicht sicher bestimmen. Ihr Weg war wahrscheinlich ähnlich wie der des berühmten Großen Ilkhanidischen Shāhnāma von ca. 1330, das ebenfalls durch die Hände von Demotte gegangen ist und dadurch schwersten Schaden genommen hat. Dieses Shāhnāma hatte sich ehemals im Besitz der königlich-kadscharischen Bibliothek befunden, war aber, wie auch mehrere andere Handschriften, von Mitgliedern des königlichen Haushaltes verkauft worden, die damit ihr Budget aufgebessert haben. Seit 1908 sind zumindest einige dieser Handschriften von Shemavan Malayan, einem Schwager von Hagop Kevorkian, in Teheran angekauft und dann vor allem über Demotte in den westlichen Kunsthandel gebracht worden.
Auch das Zweite Akbar-nāma war zunächst im Besitz von Georges Demotte und gehörte spätestens seit 1912 dem Londoner Buchhändler Bernard Alfred Quaritch, der das Geschäft seines Vaters Bernard Quaritch weiterführte. Nach einer Ausstellung durch den Buchhändler im Jahre 1912 war Band 1 erst 1966, nach dem Ankauf des Werkes durch die British Library, wieder öffentlich zu sehen. Band 2 und den kleinen Teil von Band 3 hatte Chester Beatty bereits 1923 von Quaritch erworben.
== Der Kalligraph ==
Aus Jahangirs Notiz auf Folio 1r des ersten Bandes geht hervor, dass der Kalligraph Muhammad Husayn al-Kashmiri (ca. 1545–1612) mit der Niederschrift des Zweiten Akbar-nāma betraut war. Muhammad Husayn gehörte zu den am meisten geschätzten Kalligraphen am Mogulhof. Seinen Ehrentitel Zarrīn Qalam (Goldstift) hatte Akbar ihm verliehen. Abu 'l-Fazl erwähnt ihn im Āʾīn-i Akbarī. Zu den von Muhammad Husayn kopierten Werken, die alle im Duktus des Nastaʿlīq geschrieben sind, gehört neben anderen das Gulistān von Saʿdī (RAS Persian 258).
== Die Randgestaltung der Eröffnungsseiten ==
Alle Folios der Handschrift sind sichtbar nachträglich mit neuen, besonders breiten Rändern versehen worden. Zumindest für den Band in der British Library muss das auf jeden Fall vor 1619 geschehen sein, denn die erwähnte Notiz Jahangirs auf Fol. 1r erstreckt sich bis über den Rand und datiert vom 3. Februar 1619 (17. Safar 1028). Ein Manuskript so bald nach seiner Fertigstellung neu zu rahmen ist eher ungewöhnlich. Jeremiah Losty (1945–2021) ging davon aus, dass es umfangreiche Pläne für eine neue Randgestaltung gab, nachdem bereits ein großer Teil der Handschrift fertig war. Das Projekt kam aber, wahrscheinlich durch den Tod Akbars, unerwartet früh zum Erliegen, so dass nicht mehr als die erste Doppelseite, Fol. 1v–2r mit Randillustrationen verziert werden konnte. Diese wird auf etwa 1605 datiert. Losty hält eine Entstehung unter Jahangir für unwahrscheinlich. Dieser hatte Abu 'l-Fazl 1602 ermorden lassen und vermutlich kein Interesse, das Werk seines Erzfeindes durch aufwendige Illustrationen aufzuwerten. Die Datierung auf 1605 ist aber letztlich nur eine Vermutung. Eine spätere Entstehung in den ersten Jahren nach dem Thronwechsel kann nicht ausgeschlossen werden.
=== Folio 1v von Mansur ===
Folio 1v zeigt ein kunstvolles Kopfstück über dem Textfeld. Am Farbton des Papiers ist erkennbar, dass diese Illumination bereits vor der Neuumrandung entstanden ist. Auf der Umrahmung sind Landschaftselemente mit Pflanzen, Tieren und Menschen in Gold zu sehen. Ganz oben sitzt ein Betender auf einer Bodenerhebung unter einem kleinen Baum. Er hält eine Gebetskette und ist in Andacht versunken. Ihm zugewandt steht weiter unten ein Mann mit einem Buch in der Hand. Drei weitere Männer haben sich in der Landschaft niedergelassen, die sich über den rechten Rand in Höhe des Textfeldes erstreckt. Ihre Kleidung und zum Teil auch ihre Gesichter sind mit blassen Farbtönen versehen. Eine winzige Signatur auf der rechten Interkolumnie identifiziert die Seite als „Werk von Mansur“ (ʿamal-i Mansūr). Dieser Maler ist nach neueren Erkenntnissen nicht nur, wie man früher dachte, für das illuminierte Kopfstück verantwortlich, sondern auch für die Illustration im Rahmenbereich. Er setzt hier die Art der Randgestaltung fort, die im größeren Umfang erstmals in den poetischen Handschriften aus der Zeit von 1595 bis 1598, zum Beispiel einer Khamsa von Nizami, bekannt ist. Von Mansur stammt auch die Eröffnungsseite im Ersten Akbar-nāma.
=== Folio 2r von Daulat ===
Auf der linken Eröffnungsseite, Folio 2r, finden sich ebenfalls Landschaftsdarstellungen in Gold, die von Menschen und Engeln belebt sind. Ganz oben schweben zwei Engel, von denen einer die timuridische Krone herabbringt, der andere eine Schale, deren Inhalt als Flammen des göttlichen Lichtes gedeutet werden. Ein Betender, der am linken Rand kniet, blickt zu den Engeln hinauf. Ein geöffnetes Buch liegt vor ihm. Am unteren Rand hockt rechts ein Derwisch, ebenfalls mit einem aufgeschlagenen Buch vor sich, während links ein junger Mann eine Wasserflasche herbeibringt. Die Randgestaltung ist gewiss mit Bezug zum begleitenden Text gewählt worden. Dieser ist schwer zu illustrieren, denn darin geht es um die Bedeutung der Sprache und die Unmöglichkeit, die Erhabenheit Gottes auch nur zu erfassen, geschweige denn, dafür passende Worte zu finden. Der wahrhaft Weise, der im Herzen das unbegreifliche Wesen Gottes ahnt, ziehe es vor, zu schweigen. Im weiteren Verlauf des Textes wird Akbar schließlich selbst als gottgleiches Wesen geschildert.
Die Figuren auf diesem Blatt sind, anders als auf der gegenüberliegenden Seite, mit kräftigen Farben koloriert – eine Neuerung. Ebensolche Figuren finden sich auch auf Rändern der Jahangir-Alben, die in der Zeit von 1605 bis 1608 von dem Maler Daulat signiert wurden. Die Annahme liegt deshalb nahe, dass auch Folio 2r von Daulat stammt.Bei Akbars Tod muss sich das Manuskript noch in den höfischen Werkstätten befunden haben. Möglicherweise war für die Maler nicht klar, wie damit zu verfahren war, so dass das unvollendete Werk einige Jahre dort gelegen hat. Ob in dieser Zeit irgendwelche Arbeiten daran ausgeführt wurden und wenn ja, welche, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Ausnahme ist der Rand einer Doppelseite, Fol. 55v-56r, der aus unbekanntem Grund mit stilisierten goldenen Blumen – Hibiskus, Iris und Mohn – dekoriert wurde. Stilistische Ähnlichkeiten mit anderen Handschriften lassen vermuten, dass diese Ausgestaltung aus der Zeit um 1615 stammt. Erst nach weiteren vier Jahren ist das Buch Jahangir vorgelegt worden. In seiner Inschrift von 1619 erklärt er die Arbeiten an dem Manuskript endgültig für abgeschlossen und bestimmt den Eingang in die kaiserliche Bibliothek.
== Die Maler ==
Anders als bei den anderen historischen Mogul-Handschriften wurden die Illustrationen zum Chester-Beatty Akbar-nāma im Wesentlichen nicht von einem Team von Malern, sondern von einzelnen Künstlern angefertigt. Dieselben Künstler, die sich um die farbliche Ausgestaltung (ʿamal) kümmerten, hatten vorher selbst das Bild entworfen (ṭarḥ). Lediglich für die Gesichter wichtiger Persönlichkeiten kamen ab und an zusätzliche Spezialisten zum Einsatz. Die Namen der Maler, die unterhalb der Bilder vermerkt waren, wurden bei der oben erwähnte Neurahmung übernommen. Dennoch sind heute viele Bilder nicht zuordenbar, weil sie von Demotte ausgeschnitten wurden und die Namen damit verlorengegangen sind. Die genaue Anzahl der Beteiligten lässt sich daher heute nicht mehr ermitteln. Soweit bekannt, waren 25 Künstler im Einsatz.
Zu den wichtigsten Malern gehört Laʿl, der schon im Ersten Akbar-nāma die meisten Kompositionen beigesteuert hat. Mit mindestens 20 Bildern steht er auch hier an der ersten Stelle der Beiträger. Sein Sohn Daulat, der seit etwa 1598 aktiv ist, hat nicht nur die Randillustrationen auf Fol. 2r angefertigt, sondern noch drei weitere Miniaturen.
Der Generationswechsel im Zweiten Akbar-nāma ist auch bei weiteren Malerfamilien zu beobachten. So war zum Beispiel Basawan nicht mehr im Team. Er ist, wahrscheinlich aus Altersgründen, seit 1598 nicht mehr im Mogulatelier nachweisbar. Dass ein Meister seines Kalibers nicht unter den Künstlern des Zweiten Akbar-nāma ist, wertet Linda Leach als wichtiges Indiz gegen eine Datierung der Handschrift auf 1596–98. Wäre sie zu dieser Zeit entstanden, hätte er, so argumentiert sie, als einer der bedeutendsten Maler im kaiserlichen Atelier, gewiss an der Gestaltung dieses Buches teilgenommen. Stattdessen erlangt nun sein Sohn Manohar größere Bedeutung. Im Ersten Akbar-nāma war er nur bei einem Bild (Nr. 155) für die Koloration verantwortlich. Hier ist er nun mit mindestens fünf Miniaturen vertreten und zeichnet außerdem in einem Bild für seinen Kollegen Farrukh Chela die Gesichter der wichtigen Persönlichkeiten.
Govardhan, Sohn des weniger prominenten Malers Bhavani Das, tritt hier erstmalig in Erscheinung und gestaltet gleich fünf Miniaturen, zwei davon im nīm-qalam-Stil. In seiner Teilnahme sieht Linda Leach ein weiteres Argument gegen eine frühere Datierung. Würde die Handschrift nämlich von 1596–98 stammen, wäre nicht erklärbar, so Leach, warum Govardhans Name in allen anderen illustrierten Handschriften der späten 1590er fehlt.Zu den altgedienten Malern, die am Zweiten Akbar-nāma beteiligt sind, gehört Dharm Das. Er war schon bei der Illustration des Dārāb-nāma dabei und hat im Ersten Akbar-nāma fünf Bilder als Kolorist ausgestaltet. Er hat seine Fähigkeiten im Laufe der Zeit perfektioniert und steuert hier mindestens elf Miniaturen bei.
== Die Illustrationen ==
=== Bildzählungen ===
Die Illustrationen im ersten Band werden von insgesamt drei Nummernfolgen außerhalb des Rahmens begleitet: eine rote indische Nummer unten am linken Bildrand, eine weitere rechts außen an der Unterkante und drittens eine mit Bleistift geschriebene arabische Zahl etwa in der Mitte unter der Miniatur. Diese Nummerierungen bezeugen den sukzessiven Schwund der Bilder. Die früheste Zählung ist die auf der rechten Seite, die bis 50 reicht. Zu diesem Zeitpunkt fehlten bereits die Bilder 18 und 29. Als die zweite Zahlenfolge links neben den Illustrationen hinzugefügt wurde, waren vier weitere Bildseiten verschwunden, nämlich 4, 5, 43 und 50, so dass nur noch 46 Miniaturen gezählt werden konnten. Bei der Inventarisierung in der British Library kam schließlich die letzte Nummernfolge in der Mitte dazu. Da in der Zwischenzeit weitere sieben Folios die Handschrift verlassen hatten, reicht diese Zählung nur noch bis 39.
Im zweiten Band waren bei der ersten Zählung noch alle 120 Illustrationen vorhanden, bei der zweiten Zählung zeigte sich der Verlust von fünf Miniaturen. Da es heute nur noch 61 Bildseiten im Chester-Beatty-Teil des Zweiten Akbar-nāma gibt, müssen weitere 54 zu späterer Zeit entnommen worden sein. Dazu gehören mehr als 40 Miniaturen, die einen Rahmen aus dem Farhang-i Jahāngīrī besitzen.
=== Das Bildprogramm im Vergleich zum Victoria-and-Albert Akbar-nāma ===
Die Illustrationen beziehen sich auf Ereignisse bis zum Jahr 1579. Danach bricht das Zweite Akbar-nāma ab. Nach heutigem Wissensstand existieren keine Bilder, die Begebenheiten nach 1579 darstellen. Die Anzahl der Bilder ist im Vergleich zum Ersten Akbar-nāma etwas geringer. Die Zeit vom 5. bis zum 22. Regierungsjahr wird bei der früheren Handschrift mit 115, in der späteren mit 87 Illustrationen wiedergegeben. Das Zweite Akbar-nāma besitzt also, zumindest für den zur Verfügung stehenden Vergleichszeitraum, fast 25 Prozent weniger Bilder. Anders als beim Ersten Akbar-nāma liegen im Chester-Beatty Akbar-nāma auch die Illustrationen zu Ereignissen vor 1560 vor. Das Bildprogramm der Handschrift ist somit, von wenigen Unsicherheiten abgesehen, bis zum Jahr 1579 vollständig bekannt. Ein Überblick über die hier verwendeten Miniaturen zeigt, dass sie dem Betrachter, über die Freude an der Kunst hinaus, eine Kurzfassung des Akbar-nāma liefern. Die Bilder vermitteln in unterhaltsamer Form die wichtigsten Botschaften des Textes, sowohl in historischer als auch in ideologischer Hinsicht.
Zunächst geht es um Grundsätzliches im Hinblick auf Akbars Legitimation: Der Padischah ist in besonderer Weise mit Adam (Bild 3) verbunden, dessen „göttliches Licht“ über die Generationen an Akbar weitergegeben wurde und in ihm kulminiert. Überdies steht er in der Nachfolge der berühmten Eroberer Timur (Bild 7 und 8) und – mit Einschränkung – Chingiz Khan (Bild 6). Seit frühester Kindheit sind seine herausragenden geistigen (Bild 35) und körperlichen (Bild 30) Fähigkeiten offenbar, die weit über die Begabungen Gleichaltriger hinausgehen. In diese Kategorie gehören auch die Berichte von Akbars Wundertätigkeit, die seine übernatürlichen Kräfte erahnen lassen sollen. Die zugehörigen Bilder zeigen seine Macht über das Tierreich, zum Beispiel über das Pferd Hayran (Bild 68) und den Elefanten Fath-i Mubarak (164).
Der größte Teil der Miniaturen illustriert historische Ereignisse. Für die Zeit Baburs werden die Eroberung von Kabul (Bild 9) und sein großer Sieg gegen die afghanische Lodi-Dynastie (Bild 10) sowie gegen die vereinigten Rajputen in der Schlacht von Khanwa (Bild 13) hervorgehoben. Nach nur sechs Bildern wenden sich die Maler bereits Humayuns Regierungszeit zu. Er führt die indischen Eroberungen fort, dehnt das Reich nach Gujarat aus (Bilder 16–20) und versucht, die afghanische Herrschaft von Sher Khan in Bihar und Bengalen zu brechen (Bilder 21–25). Seine Kriegszüge sind jedoch nicht dauerhaft von Erfolg gekrönt, denn nach seiner verheerenden Niederlage in der Schlacht von Chausa bleibt ihm nur noch die Flucht in das Safavidenreich von Shah Tahmasp. Wo Abu 'l-Fazl bereits eine geschönte Fassung von Humayuns Aufenthalt in Persien präsentiert, zeigen die zugehörigen Illustrationen ein noch glänzenderes Bild: ein königlicher Empfang in Herat (Bild 26), ein Gastmahl mit Shah Tahmasp (Bild 27), gemeinsame Jagden (Bild 28) und weitere Festlichkeiten (Bild 29).
Mit safavidischer Hilfe gelingt Humayun die Rückeroberung von Kandahar (Bilder 31–33). Sein weiteres Vordringen wird in erster Linie von seinen Brüdern gestoppt, allen voran Mirza Kamran (Bilder 38–42 und 45–49). Erst nachdem sich Humayun in dem Bruderkampf endgültig durchgesetzt hat, kann er die Eroberung Indiens angehen, die durch seinen plötzlichen Tod ein jähes Ende findet.
Sein zwölfjähriger Sohn Akbar besteigt 1556 den Mogulthron (Bilder 53–54), die Führung des Reiches liegt aber noch in der Hand des Generalissimus' Bairam Khan. Dieser leitet den jungen Herrscher erfolgreich durch die Kämpfe gegen die afghanischen Prinzen, die in der Nachfolge Sher Shah Surs ihre Interessen verteidigen (Bilder 59–62, 65–66). Trotz seiner großen Verdienste strebt der heranwachsende Akbar danach, sich von Bairam Khan zu befreien. Dessen Absetzung stellt einen bedeutenden Einschnitt dar, der mit drei Bildern angemessen gewürdigt ist (Bild 73, 77–78).
Der Usbekenaufstand (ca. 1561–67), der zu den größten Gefahren für Akbars frühe Herrschaft gehörte, enthielt in Ersten Akbar-nāma noch 19 Bilder und war damit die dort am umfangreichsten illustrierte Episode. In der späteren Handschrift schrumpft diese gefährliche Phase auf fünf Illustrationen zusammen (Bilder 100–102, 104, 105).
Die Einnahme der strategisch bedeutsamen Rajputenfestungen von Mewar, Chitor und Ranthambhor, wird im früheren Manuskript mit insgesamt neun Bildern gefeiert. Im Beatty-Akbar-nāma gibt es zu jeder Burg zwar nur eine Doppelseite, dafür werden aber noch andere Kämpfe gegen die verschiedenen Rajputenclans thematisiert: gegen die Rathor von Marwar (155/156), die Bundela von Orchha (165) und weitere gegen die Sisodiya von Mewar, die seit 1572 von Rana Pratap Singh angeführt wurden (157/158 und 167/168).
Beide Akbar-nāmas porträtieren den Feldzug nach Gujarat 1572–73 mit etwa zwölf Bildern, wobei die wichtigen Schlachten von Sarnal (Bild 122–123), Patan (Bild 124–125), Tulamba (Bild 131–132) und Ahmadabad (Bild 133–134) je zwei Seiten erhalten. Hinsichtlich der übrigen Szenen zu Gujarat unterscheiden sich die Manuskripte.
Die militärischen Aktivitäten in Bengalen ab 1574 treten im Zweiten Akbar-nāma mit 16 Miniaturen (Bilder 142–153, 155, 156, 159, 160) erheblich stärker in den Vordergrund als im Ersten Akbar-nāma, das die Kämpfe im Osten nur durch zwei Bilder repräsentiert.Vergleicht man Erstes und Zweites Akbar-nāma, so fallen zwei Bildthemen auf, die in den beiden Handschriften deutlich unterschiedlich akzentuiert werden. So hat die Sicherung der Nachfolge erheblich an Bedeutung gewonnen: Während das Erste Akbar-nāma nur dem ältesten Sohn Salim eine Doppelseite und seinem Bruder Murad eine Einzelillustration widmet, erhalten in der Beatty-Handschrift alle drei Söhne eine Doppelseite (Bilder 110–113 und 118–119). Zusätzlich folgt noch eine zweiseitige Darstellung der Beschneidungsfeierlichkeiten (Bilder 137–138). Das heißt, dass sich die Anzahl Miniaturen, die sich der dynastischen Nachfolge widmen, in der späteren Handschrift mehr als verdoppelt hat.
Im Gegensatz dazu hat die Jagd, der königliche Sport schlechthin, nicht mehr die herausragende Stellung, die sie noch im Ersten Akbar-nāma hatte. Dort waren es 15 Bilder, die sich dem Thema widmen, im Zweiten Akbar-nāma sind es nur noch acht.
=== Stilistische Aspekte ===
Leach sieht mehrere unterschiedliche Malweisen im Zweiten Akbar-nāma vereint:
==== 1. Der Stil der Luxushandschriften von 1595 bis 1598 ====
Von etwa 1595–1598 wurde eine Anzahl von Handschriften am Hof in Lahore angefertigt, die heute als Höhepunkt der Mogulmalerei gelten. Es handelt sich um persische poetische Klassiker, beispielsweise Nizamis und Amir Khusraus Khamsa oder das Baharistān von Jami, die mit dem besten Papier, den kostbarsten Pigmenten und mit höchster technischer Vollendung aufwarten. Anders als die historischen Handschriften, wie das Tīmūr-nāma, Chingīz-nāma oder Akbar-nāma, besaßen sie nur wenige, dafür umso kunstvollere, kleinere Illustrationen, die gewöhnlich das Werk eines einzelnen Meisters waren. Ein großer Teil dieser Bilder bezeugt, dass die europäischen Methoden der Modellierung und der räumlichen Tiefe, die zum großen Teil durch Bilder jesuitischer Missionare in Indien bekannt waren, inzwischen zum Vokabular der Mogulmalerei gehörten. Die Farben sind leuchtend, die Figuren vergleichsweise klein.
==== 2. Nīm-qalam-Stil ====
Bei Bildern im nīm-qalam-Stil (pers. halber Stift) handelt es sich im Grunde um Zeichnungen mit Farbtönungen in Braun und gelegentlichen Akzentuierungen in mehr oder weniger kräftigen Farben und/oder Gold. Diese Malweise war zwar grundsätzlich schon seit langem bekannt, kam aber im frühen 17. Jahrhundert besonders in Mode und zeichnet auch andere Handschriften aus, wie zum Beispiel das Nafahāt al-ʿuns, das um 1603 am Mogulhof angefertigt wurde. Das Chester-Beatty Akbar-nāma besitzt aber mehr nīm-qalam-Miniaturen als jedes andere Manuskript der Mogulzeit. Die Bilder mit reduziertem Farbauftrag waren naturgemäß schneller fertigzustellen. Die Annahme liegt deshalb nahe, dass man auf diese Weise das Projekt schneller zu Ende führen wollte. Dagegen spricht jedoch, dass auf die Gruppe der nīm-qalam-Bilder Illustrationen in einem weiteren, farbigen Malstil folgen, und die Handschrift überdies im weiteren Verlauf besonders großzügig mit vielen doppelseitigen Kompositionen ausgestattet ist. Nīm-qalam dürfte also eher aufgrund seines ästhetischen Wertes verwendet worden sein und nicht aus ökonomischen Gründen.
==== 3. Die farbigen Miniaturen der späten Akbar-Zeit ====
Die Bilder dieser Gruppe stellen die jüngste stilistische Entwicklung innerhalb des Zweiten Akbar-nāma dar. Hier sind die dargestellten Personen größer als in den Bildern der erstgenannten Stils. Außerdem unterscheidet sich die neue Farbigkeit deutlich von der im British Library-Band. Die Palette wird insgesamt kühler, nun häufiger mit transparenten Blau- und Grüntönen. Das entspricht der Trendwende, die Losty in den Handschriften für Akbar ab der Jahrhundertwende erkannte, und die zeitgleich ebenso in den Werken für Akbars Nachfolger Jahangir festzustellen ist. Die Betrachtung der einzelnen Illustrationen zeigt, dass die Übergänge zwischen den Stilen fließend sind.
=== Porträts ===
Ansätze für ein erstes Interesse an der Portraitkunst finden sich bereits in den 1560ern. Allerdings gibt es so gut wie keine Beispiele dafür in der Buchmalerei, sondern fast nur auf Einzelstudien. Erst im Victoria-and-Albert-Akbar-nāma wird erstmals auf einer Buchillustration (Nr. 197) die Anwesenheit bestimmter Höflinge durch ihre beschrifteten Porträts bezeugt. Die naturgetreue Wiedergabe von Gesichtern blieb ein wichtiges Anliegen der Mogulmaler, das im Zweiten Akbar-nāma mit seinen vielen identifizierbaren historischen Gestalten einen ersten Höhepunkt erreichte. Dabei geht es nicht nur um die Wiedergabe wichtiger Persönlichkeiten, sondern um ein grundsätzliches Interesse an der Individualisierung der Dargestellten. Die Fortschritte, die die Maler in der Zeit zwischen den beiden Akbar-nāmas gemacht haben, wird besonders deutlich im Vergleich einer Szene, die in beiden Handschriften illustriert wurde: die Bestrafung von Hamid Bakari. Er hatte während einer großen Treibjagd auf ein anderes Mitglied des Hofes geschossen und musste, weil seine Hinrichtung mehrfach fehlschlug, mit rasiertem Kopf auf einem Esel rückwärts sitzend um das Jagdfeld reiten. Bei dem Bild von Miskin im Ersten Akbar-nāma (Bild-Nr. 135) befindet sich Hamid Bakari oben rechts auf der Seite und erscheint eher nebensächlich im Vergleich zum Hauptgeschehen, nämlich Akbars Jagd. Bei der späteren Interpretation der Szene ist er unten links im Bild zu sehen. Durch die hohe Individualisierung, die ihm der Maler, wahrscheinlich Manohar, verliehen hat, nimmt er nun aber eine erheblich zentralere Stellung für den Betrachter ein. Er wird zu einem Charakter, den man mit Sympathie und Mitleid betrachtet, so wie es die Männer tun, die ihn umgeben. Es geht dem Künstler also um die glaubhafte Darstellung menschlicher Interaktion. Ziel ist hier nicht mehr nur die Wiedergabe von Handlungen und Gesten, sondern die Porträtierung von Persönlichkeiten und das Sichtbarmachen von Gedanken. Milo Beach bezeichnet diese Entwicklung als die entscheidende Veränderung in der Mogulmalerei der späten Akbar-Zeit.
== Die Illustrationen des ersten Bandes im Einzelnen ==
== Illustrationen des zweiten Bandes im Einzelnen ==
== Illustrationen des dritten Bandes im Einzelnen ==
== Weblinks ==
Akbar-nāma-Text British Library, Or. 12988
British Library Akbar-nāma, Images online
Chester-Beatty-Library, Akbar-nāma viewer.cbl.ie
Akbar-nāma-Text Chester Beatty Library, Ms. In 03
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The Ā-īn-i Akbarī Vol. I. By Abu L-Fazl Allami. Translated into English by H. Blochmann, M.A. Calcutta, Madras. Ed. by Lieut.-Colonel D.C. Phillott. Low Price Publications. Delhi 1994. (Repr. 1927) Digitalisat Band I
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== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chester-Beatty_Akbar-n%C4%81ma
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Weihnachtslied, chemisch gereinigt
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= Weihnachtslied, chemisch gereinigt =
Weihnachtslied, chemisch gereinigt ist ein Gedicht des deutschen Schriftstellers Erich Kästner. Es erschien erstmals in der Weihnachtsausgabe 1927 der Zeitschrift Das Tage-Buch. Ein Jahr später nahm Kästner es in seine erste Gedichtsammlung Herz auf Taille auf. Seither wurde es in verschiedenen Anthologien abgedruckt und von zahlreichen Künstlern vorgetragen.
Das Gedicht parodiert das bekannte Weihnachtslied Morgen, Kinder, wird’s was geben und verkehrt dessen Inhalt in die Aussage, dass es für arme Kinder nichts geben wird. Es folgen satirische Begründungen, warum Geschenke und ein prachtvolles Weihnachtsfest für arme Kinder auch nicht notwendig oder erstrebenswert seien. Kästner reagierte mit dem Gedicht auf die sozialen Spannungen in der Weimarer Republik. Dazu unterzog er die Sentimentalität des Weihnachtsfestes einer „chemischen Reinigung“ im desillusionierenden und sprachlich nüchternen Stil der Neuen Sachlichkeit.
== Form ==
Das Gedicht Weihnachtslied, chemisch gereinigt besteht aus fünf Strophen zu je sechs Versen. Gemäß seinem Untertitel orientiert es sich am Weihnachtslied Morgen, Kinder, wird’s was geben. Es ahmt dessen akzentuierende Metrik nach, die vollständig aus trochäischen Versen besteht. Das Reimschema jeder Strophe wird aus einem Kreuzreim mit abschließendem Paarreim gebildet ([ababcc]). Die allesamt vierhebigen Verse enden im Kreuzreim abwechselnd mit einer unbetonten und einer betonten Silbe, wechseln also zwischen Akatalexe und Katalexe, während die Verse der Paarreime durchgängig katalektisch sind.
== Inhalt ==
Das Gedicht beginnt mit der Feststellung: „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!“ Geschenke gebe es nur für die, die bereits haben. Für die anderen genüge das Geschenk des Lebens. Auch ihre Zeit komme irgendwann, doch noch nicht morgen. Man dürfe nicht traurig über die Armut sein, sie werde von den Reichen geliebt und entbinde sowohl von unmodernen Geschenken als auch von Verdauungsbeschwerden. Ein Christbaum sei nicht nötig, das Weihnachtsfest könne auch auf der Straße genossen werden, das vom Kirchturm verkündete Christentum erhöhe die Intelligenz. Die Armut könne auch Stolz lehren. Wenn man sonst kein Holz für den Ofen habe, solle man eben das Brett vor seinem Kopf verbrennen. Durch das Warten lerne man Geduld, lerne fürs Leben. Gott in seiner umfassenden Güte sei jedenfalls nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Das Gedicht endet mit dem Ausruf: „Ach, du liebe Weihnachtszeit!“
== Stil und Sprache ==
Weihnachtslied, chemisch gereinigt ist eine Parodie auf das bekannte Weihnachtslied Morgen, Kinder, wird’s was geben, dessen Text von Karl Friedrich Splittegarb verfasst wurde. Es widerspricht dessen Titel und verkehrt ihn in die gegenteilige Aussage „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!“ Hans-Georg Kemper sprach vom umgekehrten Verfahren einer Kontrafaktur, der geistlichen Umdichtung eines weltlichen Gesangs, die hier in ridikülisierender und satirischer Absicht geschehe. Neben Morgen, Kinder, wird’s was geben zitiert Kästner im Gedicht auch andere traditionelle Lieder aus der Weihnachtszeit: Morgen kommt der Weihnachtsmann, Stille Nacht, heilige Nacht sowie den Psalmvers „Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist“.Doch Kästner „zerfetzt“ laut Hermann Kurzke „die Lieder und Sentenzen der Weihnachtszeit“, um mit ihren Sentimentalitäten zu brechen. Seine Sprache sei „flott und frech, spöttisch bis höhnisch, nicht süß sondern gesalzen“. Sie bediene sich eines modernen und saloppen Vokabulars, umgangssprachlicher Wendungen wie „drauf pfeifen“ oder nüchterner Markennamen wie Osrambirnen. Statt „Christentum, vom Turm geblasen“ verbreite das Gedicht Unromantik und Illusionslosigkeit. In seiner „chemischen Reinigung“ des Weihnachtsfests bedient es sich der stilistischen Mittel der Neuen Sachlichkeit mit realistischem, zeitkritischem Inhalt und nüchterner, distanzierter Sprache.
== Interpretation ==
=== Zeitbezug und persönlicher Hintergrund ===
Für Kurt Beutler beschreibt Kästners Gedicht Weihnachtslied, chemisch gereinigt das Weihnachtsfest „nicht als ein Fest der Freude, sondern als Tage, in denen die Kinder der Armen in besonderer Weise die Ungerechtigkeit und Härte ihres sozialen Schicksals erfahren“. Es formuliere mit den Mitteln der Ironie gleichermaßen Anklage und Resignation. Durch das Leid der Kinder rücke Kästner besonders den pädagogischen Aspekt in den Mittelpunkt. Dabei entlarve Kästner laut Ruth Klüger „die Scheinheiligkeit eines konsumbesessenen, sich karitativ gebärdenden Kapitalismus“. Stefan Neuhaus sah das Gedicht Weihnachten, chemisch gereinigt in der Reihe einer ganzen Anzahl weiterer Gedichte, mit denen Kästner wiederholt die sozialen Verwerfungen in der Weimarer Republik thematisiert habe. So beschrieb er auch in der Ballade vom Nachahmungstrieb die Auswirkungen sozialer Kälte auf Kinder. In Ansprache an Millionäre kritisierte er direkt die wirtschaftliche Ordnung der Weimarer Republik. Der Titel geht zurück auf die neu eingeführte chemische Reinigung, die zur Entstehungszeit des Gedichts zum allgemeinen Slogan geworden war, der – auf die unterschiedlichsten Bereiche angewandt – für eine besonders gründliche Säuberung und Entschleierung von Sachverhalten stand.Laut Hermann Kurzke pendelte Kästner in seiner Jugend in der Äußeren Neustadt Dresdens selbst zwischen den Extremen der Armut und des Reichtums, zwischen der ärmlichen Dachwohnung seiner Eltern und der Villa des vermögenden Onkels Franz Augustin, die die Kinder lediglich durch den Dienstboteneingang bis zur Küche betreten durften. Die Erfahrung der Gegensätze von Arm und Reich habe Kästner ein Leben lang geprägt und sei mal idyllisch wie in Pünktchen und Anton oder Drei Männer im Schnee, mal satirisch verarbeitet worden wie im Gedicht Weihnachtslied, chemisch gereinigt. Kästners Lebensgefährtin und erste Biografin Luiselotte Enderle urteilte: „Kästners Werk und Leben kann man völlig auf diese ersten Milieuerfahrungen zurückführen.“
=== „Linke Melancholie“ ===
Walter Benjamin kritisierte 1931 die frühe Lyrik Kästners, darunter auch Weihnachtslied, chemisch gereinigt, als „linke Melancholie“ und „Nihilismus“. Die Gedichte befänden sich „links vom Möglichen überhaupt“; „in negativistischer Ruhe sich selbst zu genießen“ genüge ihnen. „Die Verwandlung des politischen Kampfes in einen Gegenstand des Vergnügens, aus einem Produktionsmittel in einen Konsumartikel – das ist der letzte Schlager dieser Literatur.“ Aus der Sicht Benjamins knebelte Kästner in seinen Gedichten „Kritik und Erkenntnis [, die] zum Greifen naheliegen, aber die wären Spielverderber und sollen unter keiner Bedingung zu Worte kommen“.Hermann Kurzke stimmte knapp 75 Jahre später Benjamins Befund der „linken Melancholie“ zu. Zwar verstehe sich Kästner als Aufklärer, der ein verlogenes Fest und die herrschende Ungerechtigkeit demaskiere, doch wirke der Ton des Gedichts seltsam gebremst. Es steuere nicht auf einen Befreiungsakt oder eine Rebellion zu, sondern verbleibe unpolitisch. Kurzke führte dies auf den biografischen Hintergrund Kästners zurück, der Revolutionär sein wollte und gleichzeitig Musterschüler war. Zur Aussage des Gedichts wurde für Kurzke die moralische Haltung, ausgedrückt durch die Appelle, klug und stolz zu werden, fürs Leben zu lernen und zu lachen. Letztlich wohne dem Gedicht eine Sehnsucht inne, auch die armen Kinder mögen eines Tages an Weihnachtsbaum, Gänsebraten und Puppe teilhaben, auch die Armen würden eines Tages von den Reichen beschenkt, so unvernünftig und unwahrscheinlich diese Hoffnung auch sei.
=== Verordnete Passivität und Widerspruch ===
Wulf Segebrecht stellte hingegen im Jahr 2006 die Frage, ob Benjamin Kästners Gedicht nicht genau genug gelesen habe, da er die zynische Absicht dahinter nicht erkannt habe. Das Gedicht unterbreite den Kindern in jeder Strophe einen Vorschlag, wie man sich mit seiner Armut zu Weihnachten arrangieren könne:
Warten auf eine künftige Bescherung in der fernen Zukunft,
Ablehnung von Geschenken, die sogar schädlich seien,
Begnügen mit dem öffentlichen Weihnachtsrummel,
überlegene Verachtung der Feierlichkeiten,
Vertrauen auf einen Gott, der für größere Dimensionen verantwortlich sei.Jede Lehre führe letztlich zu einem Verharren in der Passivität, lege den Kindern nahe, sich mit ihrem Status abzufinden, statt sich aufzulehnen.
Noch verstärkt werde diese repressive Unterweisung durch Kästners erfundene Anmerkung zum Gedicht: „Dieses Gedicht wurde vom Reichsschulrat für das Deutsche Einheitslesebuch angekauft.“ Der Schulrat, dem Erhalt der öffentlichen Ruhe und Ordnung verpflichtet, sei daran interessiert, dass die armen Kinder sich in ihr Schicksal fügen anstatt aufzubegehren. Gerade dies entlarve aber den Zynismus der Vorschläge, der vom Leser durchschaut werden solle. Der Leser werde zum Nachdenken über die Absichten hinter den vorgeführten Lehren angeregt und zum Widerspruch provoziert, ohne dass das Gedicht selbst einen solchen formuliere. Dieser Widerspruch befreie das Weihnachtsfest von falscher Sentimentalität wie politischer Instrumentalisierung; das Weihnachtslied werde mit den Mitteln der Neuen Sachlichkeit „chemisch gereinigt“. Mit Verweis auf den Kinderreport des Deutschen Kinderhilfswerks betonte Segebrecht fast 80 Jahre nach der Entstehung des Gedichts die noch immer ungebrochene Aktualität des Themas Kinderarmut.
== Veröffentlichungen und Adaptionen ==
Kästners Weihnachtslied, chemisch gereinigt wurde erstmals in der Weihnachtsausgabe 1927 der Zeitschrift Das Tage-Buch veröffentlicht. Im Jahr 1928 nahm Kästner es in seine erste Gedichtsammlung Herz auf Taille auf. Danach erschien das Gedicht in unveränderter Form in Auswahlbänden seiner Werke, so 1946 in Bei Durchsicht meiner Bücher und 1966 in Kästner für Erwachsene, sowie in diversen Anthologien zum Thema Weihnachten.
Zahlreiche Künstler haben das Gedicht rezitiert oder gesungen. Veröffentlicht wurden etwa Lesungen von Hans-Jürgen Schatz, Otto Mellies, Gerd Wameling und Ralf Bauer. Von einer frühen Lesung des Schauspielers Alfred Beierle für seine kurzlebige Plattenfirma Die neue Truppe aus dem Herbst 1930 existiert nur eine zerbrochene Schellackplatte im Deutschen Historischen Museum, die für eine Veröffentlichung des Deutschen Rundfunkarchivs restauriert wurde. Musikalische Interpretationen greifen oftmals auf die Originalmelodie von Morgen, Kinder, wird’s was geben von Carl Gottlieb Hering zurück, so beispielsweise jene von Gina Pietsch. Eine eigene Vertonung unterlegte dem Gedicht der Komponist Marcel Rubin.2015 wurde das Gedicht von Saltatio Mortis auf deren Album Fest der Liebe vertont.
== Ausgaben (Auswahl) ==
Erich Kästner: Herz auf Taille. Mit Zeichnungen von Erich Ohser. Curt Weller, Leipzig 1928 (Erstausgabe). Textgetreuer Neudruck: Atrium, Zürich 1985, ISBN 3-85535-905-9, S. 102–103.
Erich Kästner: Bei Durchsicht meiner Bücher. Atrium, Zürich 1946, ISBN 3-85535-912-1, S. 103–104.
Erich Kästner: Kästner für Erwachsene. S. Fischer, Frankfurt am Main 1966, ISBN 3-85535-912-1, S. 35.
Erich Kästner: Zeitgenossen haufenweise. Band 1 der Werkausgabe in 9 Bänden. Herausgegeben von Harald Hartung und Nicola Brinkmann. Hanser, München 1998, ISBN 3-446-19563-7, S. 221.
== Literatur ==
Hermann Kurzke: Kirchenlied und Kultur. Francke, Tübingen 2010, ISBN 978-3-7720-8378-5, S. 228–229.
Karl-Josef Kuschel: Das Weihnachten der Dichter. Große Texte von Thomas Mann bis Reiner Kunze. Neuausgabe, Patmos, Ostfildern 2011 (Erstausgabe 2004), ISBN 978-3-491-72484-6, S. 96–97 (Originaltexte mit Erschließungen und Interpretationen).
Wulf Segebrecht: Schöne Bescherung! In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Band 29, Insel, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-458-17322-6, S. 167–171.
== Weblinks ==
Weihnachtslied, chemisch gereinigt, Text des Gedichtes
Weihnachtslied, chemisch gereinigt, in einer Leseprobe von Achtung Weihnachten! Diogenes Verlag, Zürich 2010, ISBN 978-3-257-01015-2, S. 15 (PDF; 11,61 MB).
Weihnachtslied, chemisch gereinigt (MP3; 1,5 MB), vorgetragen von Gottfried Riedl.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Weihnachtslied,_chemisch_gereinigt
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Canines Cushing-Syndrom
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= Canines Cushing-Syndrom =
Das Canine Cushing-Syndrom – nach Harvey Cushing, der die Erkrankung beim Menschen erstmals beschrieb – oder der Canine Hyperadrenokortizismus (von altgriechisch ὑπέρ hyper, deutsch ‚über‘, und lateinisch Cortex adrenalis ‚Nebennierenrinde‘) ist eine häufige hormonelle Erkrankung des Haushundes (Canis lupus familiaris). Bei ihr treten hohe Blutspiegel an Glucocorticoiden auf, insbesondere des in der Nebenniere produzierten Cortisols (Hypercortisolismus). Ursache sind zumeist Tumoren der Hirnanhangsdrüse, die das die Nebenniere steuernde Hormon ACTH im Übermaß abgeben und somit eine Überproduktion von Cortisol auslösen. Noch häufiger tritt ein Cushing-Syndrom durch die Gabe von synthetischen Glucocorticoiden wie Prednisolon oder Dexamethason auf. Diese werden in der Tiermedizin häufig zur Behandlung von Allergien, Autoimmunkrankheiten oder Entzündungen eingesetzt und können bei Langzeitanwendung das gleiche Krankheitsbild auslösen (iatrogenes Cushing-Syndrom). Typische Symptome der Erkrankung sind vermehrtes Trinken, vermehrter Urinabsatz, gesteigerter Appetit, Hängebauch, dünne Haut, Muskelschwund und Infektanfälligkeit. Zur Sicherung der Diagnose können verschiedene Labortests herangezogen werden, eine eindeutige Diagnose ist aber nicht immer möglich. Zur Behandlung des iatrogenen Cushing-Syndroms wird das synthetische Glucocorticoid schrittweise abgesetzt. Bei den anderen Cushing-Formen wird zumeist der Arzneistoff Trilostan eingesetzt, der über eine Enzymhemmung die Bildung des Cortisols unterdrückt. Die chirurgische Entfernung der die Krankheit auslösenden Tumoren ist ebenfalls möglich, wird aber wegen der häufigen Komplikationen deutlich seltener durchgeführt.
== Grundlagen ==
Die Nebenniere ist ein kleines, paariges Organ des Hormonsystems. Sie liegt vor der jeweiligen Niere und ist beim Hund etwa 20 × 5 mm groß. In der äußeren Schicht, der Nebennierenrinde, werden von strangartig angeordneten Zellen der Zona faciolata Glucocorticoide wie Cortisol und Corticosteron gebildet. Die Steuerung der Cortisolproduktion erfolgt über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Dabei wird bei Bedarf im Hypothalamus Corticotropin-releasing Hormone (CRH) gebildet, welches in der Hypophyse die Bildung von Adrenocorticotropin (ACTH) stimuliert. Hohe Spiegel von Cortisol hemmen dabei die Bildung und Ausschüttung der übergeordneten Steuerhormone CRH und ACTH (Feedback-Hemmung). Cortisol kann nach erfolgter Wirkung durch Oxidation reversibel (umkehrbar) in die inaktive Form Cortison umgewandelt werden oder durch Leberenzyme an der Doppelbindung zwischen viertem und fünftem Kohlenstoffatom hydriert und damit irreversibel inaktiviert werden.Cortisol hat im Körper zahlreiche Wirkungen. Es bindet sich an spezifische Rezeptoren im Zellkern und stimuliert die Traubenzuckerneubildung (Gluconeogenese) in der Leber, hemmt die Proteinbiosynthese in Muskulatur und Bindegewebe, steigert den Eiweißabbau (Proteolyse), steigert den Fettabbau (Lipolyse), unterdrückt die Immunantwort und hemmt die Wundheilung.
== Krankheitsentstehung und Vorkommen ==
Prinzipiell können fünf Ursachen unterschieden werden:
Behandlung mit synthetischen Glucocorticoiden (iatrogenes Cushing-Syndrom)
Spontanes Cushing-Syndrom
Tumoren der Hirnanhangsdrüse (sekundärer Hyperadrenokortizismus)
Tumoren der Nebenniere (primärer Hyperadrenokortizismus)
Ektopes ACTH-Syndrom
Fütterungsabhängiges Cushing-SyndromDie häufigste Ursache des Cushing-Syndroms ist die Behandlung mit synthetischen Glucocorticoiden (iatrogen, also durch den Tierarzt verursacht). Prednisolon oder Dexamethason werden häufig zur Behandlung von Allergien, Autoimmunerkrankungen oder Entzündungen eingesetzt. Je länger Glucocorticoide angewendet werden, umso häufiger treten Krankheitsbilder wie ein Cushing-Syndrom oder eine Zuckerkrankheit als Nebenwirkung auf, da diese Wirkstoffe zu einer Hemmung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse führen.Das spontane Cushing-Syndrom wird in 80 bis 85 % der Fälle durch Zellvermehrung der ACTH-produzierenden Zellen des Hypophysenvorderlappens, meist einen Tumor dieses Organteils, verursacht. Die Zellen bilden vermehrt ACTH, welches die Zellen der Nebennierenrinde zur übermäßigen Bildung von Cortisol anregt. Beim Hund dominieren gutartige Tumoren (Adenome) und betreffen fast immer nur die ACTH-produzierenden Zellen der Hirnanhangsdrüse. In etwa 15 bis 20 % der Fälle sind Tumoren (Adenome und Karzinome) der Nebennierenrinde selbst für die vermehrte Cortisolproduktion verantwortlich. Die übrigen beiden Formen sind sehr selten. Beim ektopen ACTH-Syndrom sind es ACTH-produzierende Tumoren außerhalb der Hirnanhangsdrüse, meist bösartige Tumoren des diffusen neuroendokrinen Systems, deren Zellen vermehrt dieses Hormon bilden. Das fütterungsabhängige Cushing-Syndrom tritt bei Tieren auf, die in der Nebennierenrinde fehlerhafte Rezeptoren, vor allem für das Glukoseabhängige insulinotrope Peptid, ausbilden. Bei diesen Tieren kommt es nach jeder Nahrungsaufnahme zu einer krankhaft gesteigerten Cortisolbildung.Für das spontane Cushing-Syndrom ermittelte eine britische Studie aus dem Jahre 2022 eine Inzidenz von 0,06 %. Die Erkrankung tritt vor allem bei älteren Tieren (> 7 Jahre) auf. Am häufigsten sind Bichon Frisé, Border Terrier und Zwergschnauzer betroffen. Auch Yorkshire Terrier, Jack Russell Terrier und Dackel erkranken häufiger. Für andere Hunderassen wie Foxterrier, Cavalier King Charles Spaniel, Boxer, Shih Tzu, Pudel, Irish Setter und Basset Hound ist eine rassebedingte Häufung beschrieben, allerdings basieren diese Angaben auf relativ kleinen Stichproben. Hunderassen wie Golden Retriever, Labrador Retriever, Border Collie und Cocker Spaniel scheinen dagegen deutlich seltener an einem Cushing-Syndrom zu erkranken. Das in der Literatur beschriebene vermehrte Auftreten bei kastrierten Hündinnen konnte die britische Studie dagegen nicht bestätigen. Ob es einen Zusammenhang zwischen Sexualhormonen und der Erkrankung gibt, ist auch unter Experten umstritten, er gilt derzeit als wenig wahrscheinlich.Die Erstbeschreibung der Erkrankung beim Menschen erfolgte 1912 durch den US-amerikanischen Neurochirurgen Harvey Cushing. Zwei Jahre zuvor hatte Cushing bereits einen Einzelfallbericht vorgelegt. Beim Hund wurde das Cushing-Syndrom erstmals 1939 durch Verstraete and Thoonen beschrieben.
== Klinisches Bild ==
Die häufigsten Symptome eines Cushing-Syndroms sind vermehrtes Trinken (Polydipsie), vermehrter Urinabsatz (Polyurie), stark gesteigerter Appetit mit Fresssucht (Polyphagie), Hängebauch, Verdünnung der Haut (Hautatrophie) mit Haarausfall und Hautverkalkungen (Calcinosis cutis) sowie Muskelschwund und erhöhte Infektanfälligkeit. Der vermehrte Urinabsatz wird vermutlich über die cortisolbedingte Hemmung der Adiuretinsekretion und die Steigerung der glomerulären Filtrationsrate vermittelt und der dadurch bedingte Flüssigkeitsverlust wird durch vermehrtes Trinken ausgeglichen. Die Fresssucht resultiert aus der direkten Stimulation des Hungerzentrums im Hypothalamus, eventuell wird auch die Leptinfreisetzung gehemmt. Der Hängebauch entsteht durch Atrophie der Bauchmuskulatur, Zunahme des Fetts im Bauchraum, die Vergrößerung der Leber (Hepatomegalie) und die häufig stark gefüllte Harnblase. Milde Formen des Cushing-Syndroms zeigen sich häufig nur in Hautveränderungen mit Infektanfälligkeit in Form von Hautpilzerkrankung, eitriger Hautentzündung oder generalisierter Haarbalgmilbenerkrankung (Demodikose).
Weitere Krankheitsanzeichen sind Abgeschlagenheit, Hecheln und Bluthochdruck. Da Cortisol mit zahlreichen anderen Komponenten des Hormonsystems Wechselwirkungen zeigt, können als Begleiterkrankungen eine Zuckerkrankheit, eine Wasserharnruhr, eine sekundäre Schilddrüsenunterfunktion, eine sekundäre Nebenschilddrüsenüberfunktion und Fortpflanzungsstörungen auftreten. Dies sind neben Nierenerkrankungen auch die wichtigsten Differentialdiagnosen.
== Diagnostik ==
Das klinische Bild ist bei voller Ausprägung bereits stark hinweisend auf die Erkrankung. Die Diagnose muss jedoch durch Laboruntersuchungen gesichert werden. Es gibt allerdings keinen Test, der ein Cushing-Syndrom sicher beweisen oder ausschließen kann, es gibt also immer falsch positive oder falsch negative Laborbefunde. Die Laborergebnisse müssen daher immer im Zusammenhang mit dem klinischen Bild betrachtet werden und gegebenenfalls müssen mehrere Tests kombiniert werden.
=== Laborbefunde ===
Im Blutbild zeigt sich durch den Einfluss des Cortisols auf die Blutzellen sehr häufig ein Stressleukogramm. Ein Stressleukogramm ist durch einen Anstieg der Zahl der weißen Blutkörperchen (Leukozytose), insbesondere der neutrophilen Granulozyten (Neutrophilie), sowie der Abnahme der Lymphozyten (Lymphopenie) und der Eosinophilen (Eosinopenie) gekennzeichnet. Außerdem ist die Zahl der roten Blutkörperchen meist moderat erhöht (Erythrozytose). Durch den Einfluss hoher Cortisolspiegel kommt es zur Aktivierung der Leberenzyme, zu einer Einlagerung von Glycogen und damit zur Vergrößerung der Leberzellen und der Leber insgesamt („Steroidleber“). Bei der blutchemischen Untersuchung dominieren daher erhöhte Leberwerte, vor allem die Alkalische Phosphatase, die bei 85 bis 90 % der erkrankten Hunde deutlich erhöht ist. Auch Cholesterin und Blutfette sind oft erhöht.Bei der Urinuntersuchung fällt insbesondere die stark verminderte relative Dichte auf. Da Cortisol auch Blaseninfektionen begünstigt, können sekundär auch die dafür typischen Veränderungen (Pyurie, Bakteriurie) auftreten.
=== Spezifische Diagnostik ===
Als Goldstandard für ein spontanes Cushing-Syndrom gilt der Low-Dose-Dexamethason-Suppressionstest (LDDS), für das Erkennen eines iatrogenen Hyperadrenokortizismus ist er jedoch nicht geeignet. Für den Test wird eine Blutprobe am Morgen genommen und dem Hund danach eine geringe Dosis Dexamethason gespritzt. Vier und acht Stunden später wird erneut Blut abgenommen und in allen drei Proben das Cortisol bestimmt. Bei gesunden Hunden würde das Dexamethason über die Feedback-Hemmung (s. o.) die ACTH- und damit die Cortisolsekretion hemmen. Liegt der Cortisolspiegel nach 8 Stunden über 39 nmol/l (1,4 µg/dl) ist das stark hinweisend auf ein Cushing-Syndrom, liegt er unter 28 nmol/l (1 µg/dl) ist es unwahrscheinlich. Der 4-Stunden-Wert dient zur Unterscheidung eines primären von einem sekundären Hyperadrenokortizismus. Beim sekundären Hyperadrenokortizismus, also Tumoren der Hirnanhangsdrüse, kommt es bei etwa 60 % der Tiere in den ersten Stunden zu einer Senkung der ACTH-Sekretion und damit zu einem Abfall der Cortisolsekretion, bei Tieren mit einem Nebennierentumor unterbleibt diese Suppression. Die Sensitivität des LDDS liegt bei 97 %, die Spezifität bei 70 %. Zur Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Hyperadrenokortizismus kann auch der High-Dose-Dexamethason-Suppressionstest (HDDS) eingesetzt werden. Hierfür wird im Vergleich zum LDDS die fünffache Menge an Dexamethason verabreicht. Bei einem primären Hyperadrenokortizismus wird auch damit die Cortisolbildung kaum unterdrückt. Es gibt gelegentlich Fälle, bei denen zwar die klinischen Befunde für ein Cushing-Syndrom sprechen, die Suppressionstests aber normale Befunde zeigen. Diese werden als atypischer Hyperadrenokortizismus bezeichnet.Beim ACTH-Stimulationstest wird der Blutspiegel des Cortisols bestimmt, ACTH injiziert und nach einer Stunde erneut der Cortisolspiegel im Blut gemessen. Dieser Test ist für die Diagnostik des spontanen Cushing-Syndroms bedingt geeignet, aber er ist der einzige Test mit dem ein iatrogenes Cushing-Syndrom nachgewiesen werden kann. Stimulierte Cortisolwerte unter 138 nmol/l sprechen für eine Nebennierenrindeninsuffizienz oder ein iatrogenes Cushing-Syndrom, Werte zwischen 138 und 497 nmol/l sind physiologisch, Werte zwischen 497 und 662 nmol/l sind verdächtig und Werte darüber stark verdächtig für ein spontanes Cushing-Syndrom. Für atypische Cushing-Fälle wird auch vorgeschlagen, nicht das Cortisol selbst zu bestimmen, sondern dessen Vorläufermoleküle im Syntheseweg (Sexualhormone wie 17α-Hydroxyprogesteron, Progesteron, Estradiol und Androstendion).Die Cortisolbestimmung im Blut erlaubt keine Aussage über die Krankheit. Hunde mit einem Cushing-Syndrom haben zwar statistisch höhere Cortisolwerte im Blut als gesunde, aber da Cortisol unregelmäßig (pulsatil) ausgeschüttet wird, Stresssituationen zu erhöhten Cortisolpegeln führen und erhebliche individuelle Unterschiede bestehen, sind Einzelbestimmungen für die Diagnostik nicht geeignet. Etwas aussagekräftiger ist die Ermittlung in einer 24-Stunden-Urinprobe, da dadurch tageszeitliche Schwankungen ausgeglichen werden. Idealerweise wird Urin von zwei aufeinanderfolgenden Tagen eingesammelt und Cortisol im Verhältnis zum Kreatinin betrachtet (Cortisol-Kreatinin-Quotient). Die Sensitivität beträgt fast 100 %, es werden also alle Hunde mit einem Cushing-Syndrom erkannt, die Spezifität ist allerdings gering (21 %), es gibt also auch viele andere Ursachen für einen erhöhten Cortisol-Kreatinin-Quotienten. Bereits die Größe des Hundes hat einen Einfluss, da die Kreatininausscheidung abhängig von der Muskelmasse ist. Die Tagesschwankungen in der Cortisolproduktion lassen sich auch durch stündliche Blutentnahmen über acht Stunden ausgleichen, Hunde mit einem Cushing-Syndrom haben hier generell höhere Cortisolkonzentrationen als gesunde.Die Bestimmung der endogenen (körpereigenen) ACTH-Konzentration im Blutplasma ist ein weiteres Testverfahren. Bei einem primären Cushing-Syndrom ist ACTH infolge der Feedback-Hemmung meist erniedrigt (< 4,4 pmol/l), bei einem sekundären meist erhöht (> 8,8 pmol/l). Allerdings liefert dieser Test in etwa 20 % der Fälle keine eindeutigen Ergebnisse. Zudem ist diese Untersuchung kostspieliger und logistisch aufwändiger, denn das Plasma muss tiefgekühlt in das Labor transportiert werden.
=== Bildgebende Diagnostik ===
Zur Unterscheidung zwischen primärem und sekundären Hyperadrenokortizismus wird mittlerweile häufig auf die Ultraschalluntersuchung (Sonografie) der Nebenniere zurückgegriffen. Diese Untersuchungstechnik ist in der Tiermedizin mittlerweile breit verfügbar und kann Nebennierentumoren relativ sicher nachweisen. Generell ist die Nebenniere auch bei primären Cushing-Patienten vergrößert, da die gesteigerte Hormonproduktion zu einer Vergrößerung des Organs führt. Ein Querdurchmesser über 6 mm ist verdächtig für einen Hyperadrenokortizismus, die Sensitivität beträgt 75 %, die Spezifität 94 %. Zudem lässt sich mittels Ultraschall auch die typische „Steroidleber“ nachweisen, bei der das Lebergewebe diffus echoreich ist. Die Abgrenzung zu anderen Erkrankungen mit diesem sonografischen Befund ist aber nur durch eine Leberbiopsie und anschließende histologische Untersuchung möglich.Die als Krankheitsursache viel häufigeren Hypophysentumoren ließen sich mit einer Magnetresonanzuntersuchung oder Computertomographie erkennen, allerdings ist diese nur in wenigen tiermedizinischen Einrichtungen verfügbar und nur in Narkose durchführbar. Zudem sind mit diesen Verfahren solche Tumoren erst ab einer bestimmten Größe erkennbar. Für die Planung einer operativen Tumorentfernung sind sie aber zwingend erforderlich.
=== Konsenspapier zur Diagnostik ===
Führende Fachleute auf dem Gebiet der Endokrinologie von Hund und Katze vom American College of Veterinary Internal Medicine (ACVIM) haben sich 2013 auf einheitliche Kriterien zur Diagnostik des Caninen Cushing-Syndroms geeinigt. In diesem Konsenspapier (Consensus statement) wird empfohlen, keine Labordiagnostik einzuleiten, wenn es klinisch keinen Verdacht auf die Erkrankung gibt. Wenn nur wenige Krankheitserscheinungen vorliegen, dann sind es entweder vermehrtes Trinken und Urinieren oder Haarausfall und Hautveränderungen, die den Verdacht auf diese Erkrankung lenken sollten. Auch ein schlecht auf Insulin ansprechender Diabetes mellitus oder ein anhaltender Bluthochdruck wären Indikationen für eine spezifische Cushing-Diagnostik, bloße Veränderungen in Blutbild und Blutchemie dagegen nicht. Es wird keiner der Tests bevorzugt, außer bei Verdacht auf einen iatrogenes Cushing-Syndrom, bei dem nur der ACTH-Stimulationstest sinnvoll ist. Zeigt ein Test trotz klinischem Verdacht auf ein spontanes Cushing-Syndrom ein negatives Ergebnis, sollten alternative Tests durchgeführt werden. Bei fraglichen Resultaten sollten die Tests nach 3 bis 6 Monaten wiederholt werden. Liegen andere schwere Erkrankungen vor, ist die Testung wenig sinnvoll, da diese die Ergebnisse der Cushing-Tests verfälschen können. Die bildgebende Diagnostik allein ist zur Diagnose nicht geeignet. Bei Verdacht auf ein atypisches Cushing-Syndrom, bei dem eine Beteiligung der Sexualhormone von einigen Wissenschaftlern postuliert wurde, wird deren Bestimmung dennoch für wenig sinnvoll gehalten, da die Spezifität sehr gering ist.
== Behandlung ==
Die häufigste Form, der iatrogene Hyperadrenokortizismus, ist am einfachsten zu behandeln, nämlich durch Ausschleichen der Glucocorticoidtherapie. Ein abruptes Absetzen würde zu einem Hypoadrenokortizismus (Morbus Addison) führen, da nach längerer Unterdrückung der Hormonbildung die Nebennieren einige Zeit brauchen, um wieder ausreichend Glucocorticoide zu produzieren. Das spontane Cushing-Syndrom wird zumeist konservativ durch die Gabe von Medikamenten behandelt. Da häufig Tumoren der Auslöser sind, wird damit zwar nicht die Ursache der Erkrankung beseitigt, aber wieder eine angemessene Lebensqualität hergestellt. Die chirurgische oder strahlentherapeutische Behandlung der Tumoren ist mit einigen Risiken verbunden, nicht für jeden Patienten geeignet und nur in spezialisierten Einrichtungen durchführbar.
=== Medikamentöse Behandlung ===
Der einzige zur Behandlung des Caninen Cushing-Syndrom zugelassene Wirkstoff ist Trilostan. Trilostan bewirkt über eine reversible Hemmung der 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase die Bildung des Cortisols. Vor der Einführung von Trilostan im Jahre 2001 durch Dechra Pharmaceuticals wurde auch Mitotan verwendet, welches selektiv ein Absterben der glucocorticoidproduzierenden Zellen in der Nebennierenrinde auslöst. Die Behandlung muss auf jeden Fall überwacht werden, weil bei zu hoher Dosis eine Nebennierenunterfunktion (Morbus Addison) ausgelöst werden kann. Diese zeigt sich vor allem in Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit, Schwäche, verminderter Leistungsfähigkeit, Gewichtsverlust und Erbrechen. Mit Absetzen des Trilostans oder Verringerung der Dosis verschwinden die Symptome aber wieder schnell. In einer Studie aus dem Jahre 2022 zeigte sich, dass mit einer zweimal täglichen Gabe einer geringeren Startdosis von 0,2–1,1 mg/kg als der vom Hersteller empfohlenen 3–6 mg/kg 1× täglich die Überlebenszeit etwas verbessert ist. Negativ auf die Überlebenszeit wirken sich Alter, eine Calcinosis cutis, ein Body-Condition-Score <3 und eine erhöhte Blutplättchenzahl (Thrombozythämie) aus.Zur Überwachung und Dosisanpassung der Behandlung mit Trilostan galt lange der ACTH-Stimulationstest als Goldstandard. Der Stimulationswert sollte bei guter Einstellung des Medikaments zwischen 6 und 18 µg Cortisol/dl liegen. Da ACTH längere Zeit nicht mehr hergestellt wurde, war dieser Test nicht mehr möglich, und es wurden Alternativen zum Trilostan-Monitoring gesucht. Dabei wurden der Serumcortisolspiegel vor der Trilostan-Gabe (prepill), die ACTH-Plasmakonzentration, die Serum-Haptoglobin-Konzentration, die Alanin-Aminotransferase (ALT), die Γ-Glutamyltransferase (γGT) und die Alkalische Phosphatase, die spezifische Dichte des Urins und der Cortisol-Kreatinin-Quotient im Urin als mögliche Marker getestet. Am besten eignet sich Haptoglobin zur Therapiekontrolle, hiermit konnten in einer Studie aus dem Jahre 2021 90 % der gut eingestellten und zwei Drittel der untertherapierten Hunde erkannt werden.Neben der blutchemischen Kontrolle ist die Überwachung des Befindens durch den Hundehalter wichtig. Der Hersteller von Trilostan hat dafür mit dem Royal Veterinary College London zwei Fragebogen entwickelt. Mit einem werden Trinkverhalten und Harnabsatz, Appetit, Verhalten und Aktivität erfasst, der zweite dient der Beurteilung der Lebensqualität.Ein neuer Therapieansatz im experimentellen Stadium ist die Verabreichung von ATR-101. Dieser selektive Hemmer des Enzyms ACAT1 und damit der ACTH-Produktion zeigt auch beim Hund vielversprechende Ergebnisse.
=== Chirurgische Behandlung ===
Da in der Mehrzahl der Fälle ein spontaner Hyperadrenokortizismus durch Tumoren verursacht wird, erscheint die chirurgische Entfernung des auslösenden Tumors zunächst als naheliegendste Therapieoption. Für einseitige Nebennierentumoren liegen dazu mehrere Studien vor. Diese zeigen, dass einige Tumoren inoperabel waren, es zahlreiche Komplikationen geben kann, die zu einer Einschläferung führen, und in einigen Fällen die gesteigerte Cortisolsekretion bestehen blieb oder nach einiger Zeit wieder auftrat. Die chirurgische Behandlung ist daher nur Mittel der Wahl bei einseitigen Nebennierentumoren ohne Metastasen und guter Abgrenzung zum umgebenden Gewebe. Die Entfernung eines Tumors der Hirnanhangsdrüse ist eine sehr schwierige Operation mit zahlreichen Risiken. Die Sterblichkeitsrate liegt zwischen 8 und 19 %. Da bei der Entfernung eines Hypophysentumors häufig noch ausreichend hormonproduzierende Hypophysenzellen im Körper verbleiben, ist dies jedoch eine effektive therapeutische Option.
=== Strahlentherapie ===
Die Effektivität der Bestrahlung von Hypophysentumoren ist bislang nur în geringen Fallzahlen untersucht. Eine Studie an 45 Hunden ermittelte eine mittlere Überlebenszeit von 311 Tagen. Eine klinische Besserung trat bei 82 % der Tiere ein, akute Nebenwirkungen zeigten 22 % der Hunde. Bei 69 % der Tiere kam es in der Spätphase zunehmend zu neurologischen Ausfallerscheinungen.
== Cushing-Syndrom beim Menschen und anderen Säugetieren ==
Da die Wirkungen von Cortisol bei allen Säugetieren weitestgehend gleich sind, ähneln sich auch das klinische Bild und die Laborbefunde bei allen sehr stark. Auch in der Diagnostik gibt es kaum Unterschiede.
Beim Menschen grenzt man manchmal den hypophysären Hyperadrenokortizismus als Morbus Cushing begrifflich vom nebennierenbedingten Cushing-Syndrom ab. Mit 1 bis 3 Neuerkrankungen pro 1 Million Einwohner (zum Vergleich: Hund 1–2 pro 1000 Hunde pro Jahr) ist der spontane Hyperadrenokortizismus aber sehr selten. Betroffen sind vor allem Frauen über 40 Jahre. Wie beim Hund dominiert mit 70 bis 80 % der Fälle die hypophysäre Form. Als Besonderheit treten beim Menschen auch eine alkoholinduzierte Form („Pseudo-Cushing-Syndrom“) und ein „biochemischer Hyperkortisolismus“ bei Depressionen und Einnahme der Antibabypille auf. Der tumorbedingte Hyperadrenokortizismus wird beim Menschen zumeist chirurgisch behandelt, ist dies nicht möglich, erfolgt eine Strahlen- oder medikamentöse Behandlung. Für letztere kann die ACTH-Sekretion durch das Somatostatinanalogon Pasireotid blockiert werden. Seit 2020 ist mit Osilodrostat auch ein Hemmstoff der Steroid-11β-Hydroxylase (CYP11B1) und damit der Cortisolsynthese zugelassen.In der Tiermedizin spielt das Cushing-Syndrom neben dem Hund vor allem bei Pferden und Katzen eine gewisse Rolle. Auch hier dominiert der sekundäre, also hypophysäre Hyperadrenokortizismus, auch wenn diese Tierarten insgesamt deutlich seltener als der Hund betroffen sind. Bei Pferden (Equines Cushing-Syndrom) wird ein Cushing-Syndrom durch erhöhte Produktion von ACTH oder anderer Proopiomelanocortin-Abkömmlinge hervorgerufen. Da deren Bildung unter Kontrolle dopaminerger Nervenzellen steht, wird zur Behandlung beim Pferd der Dopamin-Rezeptor- Agonist Pergolid eingesetzt. Bei Katzen (Felines Cushing-Syndrom) ist die Erkrankung fast immer mit einem Diabetes mellitus vergesellschaftet, der nicht auf eine Insulinbehandlung anspricht (Insulinresistenz). Bei dieser Tierart sind, im Gegensatz zum Hund, in der Hirnanhangsdrüse Tumoren der Wachstumshormon-produzierenden Zellen deutlich häufiger als solche der ACTH-produzierenden Zellen. Zur Therapie wird wie beim Hund Trilostan eingesetzt.
== Weblinks ==
Besitzerinformation: Cushing-Syndrom beim Hund. (PDF) LMU München, abgerufen am 26. September 2022.
Überfunktion der Nebenniere – das Cushing-Syndrom. Dechra, abgerufen am 26. September 2022.
Hyperadrenokortizismus beim Hund. Royal Canin, abgerufen am 26. September 2022.
== Literatur ==
Renate Hämmerling: Caniner Hyperadrenokortizismus. In: Praxis der endokrinologischen Krankheitsbilder bei Hund und Katze: Von der Pathophysiologie zur Therapie. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-8304-4208-0, S. 60–89.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Canines_Cushing-Syndrom
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Dorfkapelle Tregist
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= Dorfkapelle Tregist =
Die Dorfkapelle Tregist, auch Ortskapelle Tregist oder Kapelle Maria Knotenlöserin genannt, ist eine auf dem Gebiet der Stadtgemeinde Bärnbach in der Weststeiermark gelegene römisch-katholische Kapelle. Die der heiligen Maria gewidmete Kapelle untersteht der Pfarre Voitsberg und gehört damit zum Seelsorgeraum Voitsberg in der Region Steiermark Mitte der Diözese Graz-Seckau.
Eine erste Kapelle an diesem Standort wurde 1884 geweiht, in den 1950er-Jahren durch ein Hochwasser zerstört und anschließend abgetragen. Von 1986 bis 1989 wurde unter Mithilfe der Bevölkerung ein Neubau errichtet und von dem weststeirischen Bildhauer und Maler Franz Weiss künstlerisch gestaltet. Weiss gestaltete sowohl die Außenwände als auch den Innenraum in verschiedensten Kunsttechniken als Gesamtkunstwerk und führte fast alle künstlerischen Gestaltungselemente der Kapelle selbst aus. Einzig die beiden Glasfenster fertigte ein anderer Meister nach seinen Entwürfen.
Die Außenwände der Kapelle zieren großflächige und farbenfrohe Wandmalereien, die biblische Motive mit Darstellungen von Heiligen zeigen sowie Päpste und Personen, die sich um die Verkündigung der christlichen Botschaft verdient gemacht haben. So sieht man neben Heiligen wie Martin von Tours auch Mutter Teresa oder Hélder Câmara. In den Motiven wird immer wieder ein regionaler Bezug hergestellt, so etwa mit Häusern aus dem Umland der Kapelle, an denen Jesus das Kreuz vorbeiträgt. Auch die Besuche des Papstes in Österreich werden dargestellt. Das Hauptbild des Altars zeigt Maria Knotenlöserin, die Knoten aus einem Band löst. Durch eine Inschrift auf dem Band und die Darstellung des Kraftwerks nimmt es Bezug auf die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. In der Weihnachtszeit wird um die Kapelle ein Krippendorf aufgestellt, bestehend aus sechs Bildtafeln mit Motiven der Weihnachtsgeschichte. Das gesamte Bauwerk steht unter Denkmalschutz (Listeneintrag).
== Standort ==
Die Dorfkapelle steht im zur Stadtgemeinde Bärnbach gehörenden Teil der Streusiedlung Tregisttal, auf einer Seehöhe von rund 470 Metern, am linken Ufer des Tregistbaches. Der Tregistbach fließt etwa 5 Meter westlich an der Kapelle vorbei, während der Altsteigbach etwa 5 Meter südlich verläuft. Der Altsteigbach mündet direkt südwestlich der Kapelle in den Tregistbach. Beide Gewässer bilden die Gemeindegrenze zur Stadtgemeinde Voitsberg.
Unmittelbar östlich verläuft die Tregisttalstraße, die von Tregist nach Tregisttal führt und in diesem Ort endet. Das Gasthaus Alaunfabrik, das auf die ehemalige Alaunfabrik zurückgeht, steht 10 Meter östlich auf dem Gemeindegebiet von Voitsberg. Etwa 50 Meter südöstlich der Kapelle liegt die ehemalige Volksschule von Tregist, die zu einem Museum für die Werke von Franz Weiss umgestaltet wurde.
== Geschichte ==
Etwas südlich der heutigen Dorfkapelle stand am linken Ufer des Tregistbaches ursprünglich eine 1884 geweihte einfache Kapelle der nahe gelegenen ehemaligen Alaunfabrik, die um 1955 durch ein Hochwasser des Tregistbaches zerstört und anschließend abgetragen wurde. Der Künstler Franz Weiss wohnte in der Nähe der alten Kapelle und schätzte sie als Andachtsort. Schon als junger Malerschüler bei Rudolf Szyszkowitz hatte Weiss den Wunsch, die alte Kapelle auszumalen. So setzte er sich bereits kurze Zeit nach der Zerstörung dafür ein, das Bauwerk in seinem Stil neu zu errichten.Der Bau der neuen Andachtsstätte begann in den 1980er-Jahren, wobei ein besser vor Hochwasser geschützter Standort in der unmittelbaren Nähe der alten Kapelle gesucht wurde. Wie die alte Kapelle, so wurde auch die neue Kapelle am linken Ufer des Tregistbaches errichtet. Das Grundstück für den Neubau stellten Annemarie und Engelbert Pignitter zur Verfügung, und am 29. Juni 1986 wurde es gesegnet. Franz Weiss stellte anlässlich der Segnung eine Widmungstafel mit einem darauf abgebildeten Kirchenmodell und dem Datum der Segnung auf. Durch die Lage der Kapelle in der Stadtgemeinde Bärnbach, aber im Pfarrsprengel von Voitsberg, wurde der Bau durch Förderungen von beiden Gemeinden unterstützt. Der eigentliche Bau der Kapelle begann im September 1986 und am 5. April 1987 wurde die Fertigstellung des Rohbaues mit der Weihe der Giebelkreuze gefeiert. Am 12. April 1987 wurden die beiden von der Bevölkerung gespendeten Glocken der Kapelle geweiht; die Weihe der Kapelle folgte am 15. Oktober 1989. An der Ausgestaltung des Bauwerks arbeitete Franz Weiss noch bis 1992 weiter.
== Architektur und Gestaltung ==
Die Kapelle hat einen kreuzförmigen Grundriss und ist nach Nordwesten ausgerichtet. Der Grundriss entsteht durch das Querschiff vor dem Altarraum. Das Querschiff wurde kürzer als in einem ersten Plan ausgeführt. Die technische Bauplanung lag bei dem Architekten Anton Walter, während die Bauausführung Hubert Grinschgl oblag. Karl und Peter Weiss, zwei Brüder von Franz Weiss, führten den Innenausbau aus. Franz Weiss gestaltete zwischen 1986 und 1992 sowohl das Innere als auch das Äußere der neuen Kapelle. Die Innenwände und die Decke sowie drei Außenwände sind mit großflächigen Gemälden in Seccomalerei und Tempera versehen.
=== Außenarchitektur ===
Die verputzten Außenwände sind glatt gehalten und außer an der nordwestlichen Seite mit zahlreichen Wandmalereien von Franz Weiss gestaltet. Im Südosten befindet sich eine rundbogige Eingangstür. Über der Eingangstür erhebt sich ein offener Dachreiter mit den Glocken der Kapelle. Langhaus und auch Querschiff haben mit Ziegeln gedeckte und nach unten hin leicht ausschwingende Satteldächer. An der südöstlichen Seite des Langhauses ist die Kante des Satteldaches über dem Eingang walmartig. An den Dachgräten über den Giebeln im Nordwesten, Südwesten und Nordosten ist je eine Kugel mit darauf aufgesetztem Kreuz angebracht. Der Dachreiter endet in einer Kugel mit einem aufgesetzten Patriarchenkreuz. An jeder Seite des Querschiffs fällt durch ein hohes Rundbogenfenster Licht in das Innere der Kapelle.Die rundbogige Eingangstür der Kapelle ist mit Treibarbeiten aus Kupfer und mit Emailmalereien verziert. Das untere Türfeld zeigt den Erzengel Michael mit erhobenem Schwert vor einer Weltenscheibe stehend. Die Weltenscheibe ist von der Inschrift „Wer ist wie Gott. Sanct Michael“ umgeben. Das Bogenfeld der Tür trägt eine Darstellung der Gnadenmutter von Mariazell in einer Mandorla über der Inschrift „O MARIA IMMER HILF“. Beide Bildfelder werden durch ein Triforium voneinander getrennt, durch das man in das Kapelleninnere schauen kann.Vor der Kapelle steht an der Gemeindegrenze zwischen Bärnbach und Voitsberg eine von Franz Weiss in Email gestaltete Grenztafel. Darauf steht ein Engel mit je einer Hand auf den Wappen der beiden Gemeinden. Zu seinen Füßen sind die Wappen Österreichs und der Steiermark sowie das Wappen von Papst Johannes Paul II. dargestellt, das aber statt einer goldenen (gelben) Tingierung eine silberne (weiße) aufweist.
=== Wandmalereien ===
Mit Ausnahme der Westwand sind alle Außenwände mit Seccomalereien geschmückt, die zugleich die Wände gliedern. Sie stammen alle von Franz Weiss und entstanden zwischen 1986 und 1992. Die farbenfrohe Ausmalung kann als ungewöhnlich bezeichnet werden.
==== Ostwand ====
Die Ostwand der Kapelle ist durch Bänderungen in acht Bildfelder unterteilt. Diese Abgrenzungen sind fließend und werden teilweise von den dargestellten Figuren überschritten. Als Hauptbild über dem Eingang ist Jesus als Pantokrator oder Weltenherrscher in der Mandorla dargestellt. Die rechte Hand hat er zum Segen erhoben, in seiner linken Hand hält er eine aufgeschlagene Bibel und mit seinen Füßen steht er auf einer Weltkugel. Jesus sitzt statt auf einem Thron auf einem Regenbogen, der in den österreichischen Nationalfarben Rot-Weiß-Rot gehalten ist. Die Mandorla ist dunkelrot ausgelegt und in Gold gerahmt. Rund um den breiten Rahmen sind Kreise mit Sternen gemalt. Jesus wird von zwei knienden Engeln flankiert, links Erzengel Gabriel mit weißen Lilien und rechts Erzengel Michael mit dem Schwert in der Hand. Unterhalb des Jesusbildes, direkt über dem Eingang, steht der Satz „GOTT IST DER HERR AUCH UNSERER ZEIT“. Schräg unterhalb des Jesusbildes sind auf jeder Seite des Eingangs und der Inschrift je sechs der zwölf Apostel dargestellt. Der Regenbogenthron, auf dem Jesus sitzt, reicht bis zu den Aposteln und nimmt dort mit Weiß-Grün die steirischen Landesfarben an. Die Apostel halten Bibeln in den Händen und sind teilweise mit sprechenden Gesten als Verkünder der Heiligen Schrift dargestellt. Unter den Aposteln liegt die unterste Bildebene mit weiteren Heiligen, die als Zeugen des gelebten Glaubens angesehen werden. Auf jeder Seite der Eingangstür sind zwei Heilige dargestellt. Am linken Rand steht Nikolaus von Flue, ein Schweizer Einsiedler mit politischem Einfluss, in einer braunen Kutte und auf einen Stock gestützt. In der linken Hand hält er einen Rosenkranz. Über seinem Kopf schwebt in einem Kreis das Gesicht von Christus König. Neben ihm steht Teresa von Ávila im Ordensgewand der Karmelitinnen. Sie hält ein aufgeschlagenes Buch. Ihre Darstellung ist ein Verweis auf das nahe gelegene Karmelitinnenkloster auf dem Heiligen Berg bei Bärnbach. Diese beiden Heiligen sind Vertreter der Vita contemplativa, die ihr Leben dem Studium der Heiligen Schrift widmeten. Dem stehen auf der rechten Seite zwei Vertreter der Vita activa, also des in Taten gelebten Glaubens gegenüber. Als erste Vertreterin schließt rechts der Eingangstür die als Kirchengründerin bekannte Hemma von Gurk an, die ein Modell der Kapelle in den Händen hält. Den Abschluss auf der rechten Seite bildet Martin von Tours. Er zerschneidet seinen Mantel und schenkt einen Teil dem vor ihm knienden Bettler.
==== Nordwand ====
Die Nordwand ist in sieben Bildfelder unterteilt. Sie setzt die Reihe mit Persönlichkeiten des Glaubens in neuerer Zeit fort. Über den Figuren in der oberen Bildfläche am Langhaus schwebt das Rad des Himmels mit goldenen Speichen. Vom Rad fallen Tropfen der Gnade zu den Figuren. Im Zentrum dieser Bildfläche steht eine Darstellung von Maria. In ihrem Schoß liegt die aufgeschlagene Bibel, über der der Heilige Geist in Gestalt der Taube schwebt. Wie die Flügel der Taube breitet auch Maria ihre Arme aus. Bei der Gestaltung der Maria ließ Franz Weiss persönliche Bezüge einfließen und gab ihr die Gesichtszüge seiner Mutter. Zu ihren Füßen stehen gelbe Gladiolen. Zur Rechten von Maria ist die Begegnung von Papst Paul VI. mit dem Patriarchen Athinagoras von Konstantinopel am 5. Januar 1964 in Jerusalem dargestellt. Diese Begegnung führte zu einem Durchbruch in den Beziehungen zwischen römisch-katholischer Kirche und griechisch-orthodoxen Kirchen. Die Darstellung zeigt beide bei der Geste des Friedensgrußes. Zur Linken Marias steht Mutter Teresa, die durch ihren Einsatz für Arme, Obdachlose, Kranke und Sterbende weltweit bekannte indische Ordensfrau. In ihrer linken Hand hält sie einen Suppenteller als Symbol für die Speisung der Armen und ein Tropfen der Gnade trifft ihr Herz. Neben Mutter Teresa steht der Erzbischof und Befreiungstheologe Dom Hélder Câmara, der sich für die soziale Gerechtigkeit und als Kämpfer für Menschenrechte in Brasilien engagierte. Das untere Bildfeld ist von Lichtbahnen durchzogen; sie wirken, als würden sie vom Himmelsrad im oberen Bildfeld nach unten strahlen. Am linken Rand steht Frère Roger Schutz, der Gründer der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, bei der jährlich Tausende junge Menschen religiöse Selbstbesinnung suchen. Er trägt einen hellen Habit und ist im Gespräch mit einem Jugendlichen. Neben ihm steht die Schweizer Ärztin, Mystikerin und geistliche Schriftstellerin Adrienne von Speyr. Sie wird von zwei Sonnenblumen flankiert und hält als Zeichen für ihre zahlreichen Schriften ein Buch in die Höhe. Der Nächste ist der auch als „Speckpater“ bekannte Pater und Begründer des Hilfswerks Kirche in Not Werenfried van Straaten. Er steht vor einer Weltkugel, hält mit seiner rechten Hand einen Kelch in die Höhe und trägt in seiner linken Hand eine umgedrehte Melone, mit der er Spenden für sein Hilfswerk sammelte. Den Abschluss auf der rechten Seite macht der hinter Gittern stehende ungarische Erzbischof József Mindszenty, der mehrmals wegen seines Auftretens gegen Ungerechtigkeit inhaftiert wurde. Er gilt als eine Symbolfigur des Widerstandes gegen den Kommunismus in Ungarn.Die Nordwand des Querschiffes ist den Papstbesuchen Johannes Pauls II. am 13. September 1983 in Mariazell und am 25. Juni 1988 in Gurk gewidmet. Im Giebelfeld über dem Fenster steht unter dem Auge der Vorsehung die Gnadenmutter von Mariazell. Auf jeder Seite der Gnadenmutter steht ein Kerzenleuchter mit je drei Kerzen. Im Hintergrund sieht man Waldreben und Rosen. Auf der linken Seite des Fensters steht die heilige Anna, wie sie die junge Maria mit einem Buch das Lesen lehrt. Ihren rechten Fuß hat Anna auf einen Schemel aufgesetzt, hinter dem eine Vase mit Marien- und Taglilien steht. Die weißen Marienlilien sind dabei zu Maria hin geneigt. Rechts vom Fenster steht Johannes Paul II. Unterhalb von Anna sieht man die Basilika Mariazell mit dem Datum des Papstbesuches. Auf der rechten Seite steht der Dom zu Gurk mit dem Datum des Besuches und dem damals gewählten Wappen. Zwischen diesen beiden Darstellungen und direkt unterhalb des Fensters ist eine Säule mit dem Papstwappen von Johannes Paul II., wiederum weiß statt gelb tingiert. Auf drei Spruchbändern unterhalb des Fensters steht das Weihegebet des Papstes, das er vor dem Mariazeller Gnadenaltar sprach. Am linken Rand dieser Fläche, unterhalb der Basilika von Mariazell, sind das Wappen des Diözesanbischofes Johann Weber und das Wappen des Weihbischofes Franz Lackner aufgemalt.Die obere Bildfläche an der Nordwand des Altarraumes zeigt einen Schutzengel, vor dem zwei Kinder spielen und tanzen. Die untere Bildfläche ist nicht figürlich gestaltet, sondern gibt eine kurze Baubeschreibung mit einer Aufzählung der am Bau beteiligten Personen wieder.
==== Südwand ====
Beherrschende Motive der Südwand sind biblische Szenen der Passion und Auferstehung. Wie die Nordwand ist sie auch in sieben Bildfelder unterteilt. Das obere Bildfeld am Langhaus zeigt die Verklärung Jesu auf dem Berg Tabor, wie es im Evangelium geschildert ist: Jesus nimmt drei seiner Jünger, von denen zwei im Gemälde zu sehen sind, mit auf den Gipfel des Berges, wo sich sein Aussehen verändert und neben ihm Mose und Elija erscheinen (Lk 9,28-36 ). Jesus ist in Weiß gekleidet, vor einer geometrischen, im symbolischen Blau des Himmels gehaltenen Schmuckform. Jesus hat die linke Hand zum Segen gehoben. Zu seiner Linken steht Mose mit den Zehn Geboten, zur Rechten der Prophet Elija. Im Hintergrund der Szene strahlen die Sterne des Himmels sowie die Mondsichel. Das untere Bild zeigt die fünfte Station des Kreuzwegs: Simon von Cyrene hilft Jesus, das Kreuz zu tragen (Mt 27,32 ). Hier ist es aber nicht Simon, sondern ein einheimischer Bauer, der ihm hilft. Der Hintergrund stellt einen lokalen Bezug her, da man sowohl das Heimathaus von Franz Weiss als auch einige Bauernhöfe der näheren Umgebung sowie die alte Kapelle von Tregisttal erkennen kann. Das Gewand Jesu ist in Violett, der Passionsfarbe, gehalten, und diese Farbe lässt sich auch in der Kleidung des Bauern erkennen. Auf der linken Seite des Bildfeldes, am Längsbalken des Kreuzes, steht eine alte Frau mit Handtasche und Rosenkranz. Es ist die Tregisterin Hedwig Kurz, der Franz Weiss damit ein Denkmal setzte. Kurz unternahm von Herbst 1937 bis Ostern 1938 eine Fußwallfahrt nach Rom. Der Querbalken des Kreuzes ragt nach oben aus dem Bildfeld hinaus und wird zu einem Lichtstrahl, auf dem der verklärte Jesus im oberen Bildfeld steht.Die Südwand des Querschiffes zeigt Szenen der Auferstehung Jesu. Im Giebelfeld sitzt ein Engel am leeren Grab. Rechts unter dem Engel ist ein Wappen mit dem Lamm Gottes angebracht. Links unter dem Engel fließt aus einem Kreuz das heilige Blut, das von drei Kelchen aufgefangen wird. Unter den Kelchen steht die Stadtpfarrkirche Voitsberg. Rechts neben dem Fenster steht der auferstandene Jesus in einem Feld mit Disteln. Ihm gegenüber kniet links vom Fenster in einem Feld mit orangefarbenen Taglilien Maria Magdalena, die ihn ansieht (Joh 2,11-18 ). Im Bildfeld unter dem Fenster ist Jesus im Grab dargestellt. Unterhalb verläuft ein Band aus Immergrün. Auf jeder Seite des Grabes steht ein Kerzenständer mit drei Kerzen auf dem linken und zwei auf dem rechten als Symbole für die Wundmale. Aus den Wundmalen sprießen insgesamt fünf Ähren, die als Frucht je eine Hostie ausbilden. Zwischen den Ähren und dem Grab verläuft der Spruch „DIES IST DAS BROT FÜR DAS LEBEN DER WELT“.Das obere Bild an der Südwand des Altarraumes zeigt die Auffahrt Jesu in den Himmel. In der Mandorla entschwindet er durch die Wolkendecke den Blicken seiner Jünger (Lk 24,50-53 ). Auf der Weltkugel im Bild darunter hat er seine Fußabdrücke hinterlassen. Die Darstellung hat wieder einen regionalen Bezug. In der Weltkugel ist der Stolleneingang eines Bergwerkes eingelassen, den eine Inschrift als den Eingang der Grube Zangtal ausweist, in der von 1799 bis 1989 unter anderem die Graz-Köflacher Eisenbahn- und Bergbaugesellschaft Kohle abbaute. Unter dem Stolleneingang prangt das Wappen der Stadt Voitsberg.
=== Innenarchitektur ===
Die Innenwände sind glatt verputzt. Der Dachstuhl ist mit einer Holzdecke aus gebleichtem Fichtenholz verkleidet, in die mehrere flache und hohe Rundbogennischen eingelassen sind. Vor dem Altar sind in den Fußboden ein Kreuz, drei ineinander übergehende Herzen sowie Alpha und Omega gefräst. Unter den Herzen steht das Wort „Maria“ sowie das Weihedatum der Kapelle.
=== Deckenmalereien ===
Die Holzdecke ist mit von Franz Weiss geschaffenen Tafelmalereien geschmückt. Die nischenartigen Vertiefungen der Decke sind in Blau und Gold gerahmt und mit goldenen Sternen verziert. Zwischen den Nischen sind acht Engel sowie die vier Evangelisten dargestellt. Auf der linken Seite des Langhauses stehen ein Engel mit Blumen, daneben mit Krone und von Blumen umgeben der Engel des inneren Gebetes sowie der Siegesengel mit einem Blumenkranz und Kreuzstab. Ihnen gegenüber sind auf der rechten Langhausseite der Erzengel Raphael mit dem jungen Tobias, der Lobpreisengel mit einer Gitarre sowie der Engel der Betrachtung mit einem Buch dargestellt. Im Altarraum sind links ein Engel mit dem Auge der Vorsehung und rechts der Engel der ewigen Anbetung mit einem Schriftband abgebildet. Die Vierung zeigt das Christusmonogramm IHS. Im umlaufenden Deckengesims steht ein Gebet von Papst Johannes XXIII.; die Zitate in den Fensternischen sind den vier Evangelien entnommen.
== Ausstattung ==
Mit dem Vortragekreuz und dem Weihbrunnkessel stammen zwei der Gegenstände im Inventar der Kapelle aus dem alten Vorgängerbau. Das Vortragekreuz wurde von Franz Weiss zu einem Dreifaltigkeitskreuz umgestaltet und hängt an der Wand links neben dem Altar. Über dem gekreuzigten Jesus sind Gottvater und der Heilige Geist als Taube angebracht.
=== Altar ===
Der mit Hinterglasmalerei in Acrylfarben auf Plexiglas von Franz Weiss gestaltete Altar zeigt das Hauptbild der Maria Knotenlöserin. Der Name und die Darstellung gehen auf ein Gemälde im Stift St. Peter in Augsburg zurück. Das Band steht symbolisch für die Verbindung des Menschen zu Gott, die durch die Ursünde wie durch einen Knoten gestört ist, den Maria löst. Weiss wählte das Motiv auch, um seine Dankbarkeit für die Führung durch sein Leben zum Ausdruck zu bringen, die er seiner Verehrung der Maria zuschrieb. Das Bild in Tregist entstand unter dem Eindruck der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im April 1986. Am linken Fuß Marias ist die Atomanlage abgebildet und auf dem verknoteten, dunkel gefärbten Band steht „Tschernobyl“. Am rechten Fuß Marias sieht man die Stadtpfarrkirche Voitsberg sowie die Voitsberger Michaelikirche. Zu den beiden Kirchen fällt das weiße und nicht mehr verknotete Band aus Marias Händen. Über dem Hauptbild des Retabels ist die Heilige Dreifaltigkeit als sogenannter Gnadenstuhl dargestellt. In der Tafel links des Hauptbildes stehen Franz von Assisi mit seinen Stigmata und Josef von Nazareth als Zimmermann mit dem Jesuskind. In der rechten Tafel stehen Barbara mit Schwert, Turm und Kelch sowie Veronika mit dem Schweißtuch. Unter dem Hauptbild, in der Predella des Altares, sind zwei Bildtafeln, die eine Einheit bilden. Links steht Erzengel Michael mit dem Flammenschwert und rechts Adam und Eva, die aus dem Paradies vertrieben sind (Genesis 3,7 ). Auf der Mensa des Altars ist das Lamm Gottes dargestellt.Da die Farbe der Altarbilder abzublättern begann, wurden sie von 2010 bis 2013 von der Kunsthistorikerin Christina Pucher restauriert.
=== Farbglasfenster ===
Die zwei Farbglasfenster fertigte Meister Odilo Kurka in der Werkstätte Schlierbach nach Entwürfen von Franz Weiss. Das als Weihnachtsfenster bezeichnete Fenster im nördlichen Querschiff zeigt unten die Verkündigung des Erzengels Gabriel an Maria, dass sie einen Sohn gebären wird (Lk 1,26–33 ), darüber die Geburt Jesu und oben den zwölfjährigen Jesus mit den Schriftgelehrten im Tempel (Lk 2,41ff ). Die Bilder des sogenannten Osterfensters im südlichen Querschiff beginnen mit der Pietà, der Mutter Maria mit ihrem toten Sohn, in der Mitte der auferstandene Jesus mit der Siegesfahne und darüber Jesus mit den beiden Jüngern, denen er nach seiner Auferstehung auf dem Weg nach Emmaus begegnet war und die ihn jetzt erkennen, als er wie beim Abendmahl vor seinem Leiden das Brot bricht (Lk 24,13–35 ).
== Glocken ==
Im offenen Dachreiter hängen zwei unterschiedlich große Glocken. Beide wurden durch Spenden aus der Bevölkerung finanziert und am 12. April 1987 geweiht.
== Kirchliches und Brauchtum ==
Die Dorfkapelle steht zwar auf dem Gemeindegebiet von Bärnbach, gehört aber zum Pfarrsprengel der Pfarre Voitsberg. Dieser Pfarre ist die Kapelle bereits seit ihrer Weihe unterstellt.Jedes Jahr wird an einem Sonntag um den Weihetag der Kapelle (15. Oktober) eine heilige Messe gefeiert. Daneben ist die Kapelle auch Ort des kirchlichen Brauchtums. So dient sie als Station bei der Segnung der Osterspeisen am Karsamstag, regional als Fleischweihe bekannt. Auch Maiandachten und das Erntedankfest werden in ihr gehalten. Zu Weihnachten wird bei ihr das Friedenslicht zur Abholung aufgestellt.
== Krippendorf an der Kapelle ==
Zum 750-jährigen Jubiläum der Stadt Voitsberg fertigte Franz Weiss in den Jahren 1995 und 1996 ein Krippendorf. Es besteht aus sechs Bildtafeln, die jedes Jahr von Mariä Empfängnis (8. Dezember) bis Mariä Lichtmess (2. Februar) bei der Kapelle aufgestellt werden. Die Tafeln hängen in sechs von Anton Walter gezimmerten Krippenhäuschen. Die Szenen auf den Tafeln sind in Acryl gemalt. Jede Szene ist von einem Rahmen umgeben, in dem der begleitende Bibeltext steht.Die Szenen des Krippendorfes stellen in ihren Motiven immer wieder regionale Bezüge her. Die erste Tafel zeigt die Verkündigung des Herrn (Lukas 1,28 ) durch den Erzengel Gabriel an die vor einem Betpult kniende Maria. Im Hintergrund der Szene sieht man die Voitsberger Michaelkirche, das Schloss Greißenegg, die Stadtpfarrkirche Voitsberg sowie das Dampfkraftwerk Voitsberg. Die nächste Szene zeigt die Verkündigung an die Hirten auf dem Felde durch einen Engel. Auch diese Szene stellt einen regionalen Bezug her, da die Schafe der Hirten vor der Burgruine Obervoitsberg weiden. In der dritten Szene sieht man die Geburt Christi in einem offenen Stall. Josef trägt einen grünen Janker und einen alpenländischen Hut. Bei der Anbetung der Könige (Matthäus 2,11 ) auf der nächsten Tafel trägt Josef eine einfache steirische Landestracht. Die fünfte Tafel zeigt die Darstellung des Herrn (Lukas 2,22 ) im Tempel von Jerusalem. Der Tempel ist als Säulenhalle dargestellt, die der Krypta im Dom zu Gurk ähnelt. Die Flucht nach Ägypten (Matthäus 2,14 ) ist die letzte Szene. Die Heilige Familie zieht dabei an der Pfarrkirche Bärnbach, der Pfarrkirche Piber sowie dem Schloss Alt-Kainach vorbei.
== Literatur ==
Gottfried Allmer: Voitsberg – Porträt einer Stadt und ihrer Umgebung. Kirchengeschichte. Hrsg.: Römisch-Katholisches Stadtpfarramt Voitsberg. Band 3. Voitsberg 2012, S. 153.
Margit Stadlober: Die Kapelle Maria Knotenlöserin in Tregist. Ein Gesamtkunstwerk der Moderne. In: Pochat Götz (Hrsg.): Franz Weiß. Arbeiten im öffentlichen Raum. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 2003, ISBN 3-201-01819-8, S. 111–129 (austria-forum.org).
== Weblinks ==
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dorfkapelle_Tregist
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Dresden Leipziger Bahnhof
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= Dresden Leipziger Bahnhof =
Der Leipziger Bahnhof war der erste Bahnhof in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden. Er lag unweit des heutigen Bahnhofs Dresden-Neustadt in der Leipziger Vorstadt und war Endpunkt der 1839 eingeweihten ersten deutschen Ferneisenbahn Leipzig–Dresden.
Der rasante Anstieg des Verkehrsaufkommens und die Verknüpfung zu neu erbauten Bahnlinien machten bereits in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz wesentliche Erweiterungen sowie Um- und Neubauten notwendig. Mit der umfassenden Neugestaltung der Dresdner Eisenbahnanlagen im ausgehenden 19. Jahrhundert verlor der Bahnhof schließlich seine Funktion im Personenverkehr, die fortan vom neugebauten Bahnhof Dresden-Neustadt übernommen wurde. Die Güterverkehrsanlagen werden dagegen bis heute als Güterbahnhof Dresden-Neustadt weiter genutzt.
== Lage und Umgebung ==
Der Leipziger Bahnhof lag in nordöstlicher-südwestlicher Richtung zwischen der Großenhainer und der Leipziger Straße. Nach Südwesten begrenzte ursprünglich der damalige Leipziger Platz die Bahnanlagen; heute markiert die Eisenbahnstraße das Ende des Bahngeländes. In Richtung Nordosten wuchs die Bahnanlage im Laufe der Zeit und erreichte kurz vor dem heutigen Abzweig Pieschen ihre größte Ausdehnung.
== Geschichte ==
=== Im Betrieb der Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie ===
Das Direktorium der Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie (LDE) entschied sich aufgrund der günstigeren topographischen Verhältnisse, die Bahnstrecke zwischen Dresden und Riesa rechtselbisch zu trassieren. Folglich musste der Dresdner Endpunkt, der Leipziger Bahnhof, auf Neustädter Elbseite gewählt werden, obwohl dies grundsätzlich als nachteilig angesehen wurde. Im Jahr 1837 begannen die Bauarbeiten am Bahnhof und ab dem 19. Juli 1838 wurden die Bahnhofsanlagen für den Bahnbetrieb genutzt. Ab Dresden fuhren zunächst Züge auf der bereits fertiggestellten Teilstrecke bis Weintraube sowie ab dem 16. September 1838 bis Oberau. Festlich eingeweiht wurde der Leipziger Bahnhof jedoch erst zeitgleich mit der feierlichen Eröffnung der Gesamtstrecke bis Leipzig am 7. April 1839, fast neun Monate nach Betriebsbeginn.
Das im Gefälle liegende Hauptgleis in Richtung Leipzig begünstigte im Jahr 1846 eine eisenbahnbetriebstechnische Erfindung: Im Leipziger Bahnhof wurde erstmals die Schwerkraft zum Rangieren von Wagen genutzt. Eine Lokomotive zog die zu rangierenden Wagen auf das geneigte Gleis und nach Stellen der entsprechenden Weichen ließ man die Wagen auf das gewünschte Gleis abrollen. Dieses Prinzip wird bis heute auf Rangierbahnhöfen mit Ablaufberg angewandt.Die am 1. September 1847 eröffnete Bahnstrecke Dresden–Görlitz fand im benachbarten Schlesischen Bahnhof ihren Endpunkt. Die spitzwinklige Lage der beiden Bahnhöfe zueinander ermöglichte keine betriebstechnisch zufriedenstellende Verbindung. Dennoch wurde ein Verbindungsgleis gebaut, das den Frachthof des Schlesischen Bahnhofs mit dem Gleisvorfeld des Leipziger Bahnhofs verband. Dort stellte eine Drehscheibe die Verbindung her.
Schon bald war der erste Leipziger Bahnhof jedoch zu klein und veraltet. Im Jahr 1847 baute die LDE die Bahnanlagen erstmals um und errichtete ein neues, seitlich angeordnetes Empfangsgebäude. Vor 1852 erhielt der Bahnhof noch weitere Neubauten, die sich zeitlich jedoch nicht genau einordnen lassen, namentlich ein Maschinenhaus, zwei Güterschuppen, einen Zollschuppen und eine Wagenremise. Kurz darauf erfuhr der Bahnhof von 1852 bis 1857 erneut eine wesentliche Erweiterung und Umgestaltung. Der am 19. Mai 1857 zur Abreise von König Johann, seiner Gattin Königin Amalie sowie seiner Kinder Sidonie und Sophie nach Italien eingeweihte, wesentlich größere Empfangskomplex blieb schließlich bis zur Neugestaltung der Dresdner Bahnanlagen um die Jahrhundertwende in Betrieb.
Der Umbau der Bahnanlagen in kurzem Abstand war unter anderem der deutlichen Steigerung der Verkehrsleistung geschuldet. Von drei Zugpaaren täglich zur Eröffnung wuchs die Verkehrsleistung bis 1876 auf 44 Personenzüge (im Sommer 56) sowie 20 bis 24 Güterzüge mit je 170 Achsen täglich. Der Gesamtgüterumschlag im Leipziger Bahnhof betrug in jenem Jahr fast 275.500 t. Daneben waren sowohl Betriebsabläufe als auch Betriebsmittel in den ersten Eisenbahnjahrzehnten noch einem schnellen Veränderungsprozess unterworfen. Beispielsweise konnten die im ersten Bahnhof verwendeten Drehscheiben mit einem Durchmesser von nur 3,4 m nicht lange verwendet werden.
Bereits seit 1852 bestand über die neu erbaute Marienbrücke eine Bahnverbindung zwischen dem Leipziger und dem Schlesischen Bahnhof auf Neustädter Elbseite und den Bahnhöfen auf Altstädter Elbseite. Somit waren direkte Verbindungen Leipzig–Dresden–Prag–Wien möglich.
Die Betriebsanlagen erfuhren in den Jahren 1868/1869 eine Erneuerung. Der neue Maschinenbahnhof bestand aus einem rechteckigen Lokomotivschuppen mit 25 Ständen, einer Werkstatt mit 20 Ständen, einem Kohlenschuppen sowie einer Bekohlungsanlage. Später kam noch ein Ringlokschuppen für zwölf Maschinen hinzu. Damit erreichten die Anlagen des Leipziger Bahnhofs ihre größte Ausdehnung. Die beiden Lokomotivschuppen sowie das Werkstattgebäude blieben bis 2010 erhalten.
=== Nach der Verstaatlichung der LDE ===
Zum 1. Januar 1876 erwarb der sächsische Staat die Leipzig-Dresdner Eisenbahn. Fortan verkehrten durchgehende Züge zwischen Leipzig und Bodenbach und die Richtungsfunktionen der Hallen des Bahnhofs mussten teilweise aufgegeben werden. Die bauliche Substanz des Bahnhofs blieb dagegen nach dem Übergang in Staatseigentum bis zur Umgestaltung des Eisenbahnknotens Dresden erhalten.
Diese erfolgte von 1892 bis 1901 und erforderte den Abriss der am weitesten stadteinwärts gelegenen Anlagen. Seitdem begrenzt die Eisenbahnstraße die Bahnanlagen auf dieser Seite. Am 1. März 1901 markierte der Bodenbach-Leipziger Schnellzug 2, der um 3:55 Uhr im Leipziger Bahnhof ankam und um 4:00 Uhr in Richtung Leipzig weiterfuhr, das Ende des Personenverkehrs am Leipziger Bahnhof. Fortan übernahm der Bahnhof Dresden-Neustadt die Abfertigung des Personenverkehrs.
=== Weiterbetrieb als Güterbahnhof Dresden-Neustadt ===
Zum Güterbahnhof Dresden-Neustadt umgebaut, fand der Großteil der Bahnanlagen weiterhin Verwendung. Die von den Leipziger Bahnhofsbauten übernommenen Gebäude dienten überwiegend dem Stückgutumschlag, aber auch Post- und Expressgüterzüge endeten dort. Daneben diente der Bahnhof dem Ortsgüterverkehr, übernahm die Bedienung der Neustädter Elbkaianlagen und wickelte teilweise den Güterfernverkehr in und aus Richtung Oberlausitz ab. Im Ortsgüterverkehr verknüpften Übergabefahrten den Neustädter Güterbahnhof mit dem Rangierbahnhof Dresden-Friedrichstadt. Rangierlokomotiven verteilten die Wagen in Dresden-Neustadt weiter und fuhren Nahgüterzüge nach Coswig, Radebeul und das Industriegelände in der Albertstadt.Während des Zweiten Weltkriegs war der Güterbahnhof Dresden-Neustadt Ausgangspunkt zweier Deportationszüge. Am 21. Januar 1942 verließ ein Zug mit 224 Juden aus dem Regierungsbezirk Dresden-Bautzen in ungeheizten Güterwagen den Bahnhof und erreichte vier Tage später das Ghetto Riga. Ein gutes Jahr später, am 3. März 1943, wurden 293 Juden aus Dresden in einen weiteren Transport verladen. Sie hatten zuvor Zwangsarbeit bei der Zeiss Ikon AG leisten müssen und in Baracken im Judenlager Hellerberg gelebt. Ziel des zweiten Transports mit insgesamt 1500 Deportierten von unterschiedlichen Orten war das KZ Auschwitz-Birkenau. Unmittelbar nach der Ankunft fanden etwa 820 von ihnen in den Gaskammern den Tod.Während der Luftangriffe auf Dresden im Jahr 1945 trafen mehrere Brandbomben das ehemalige Empfangsgebäude; zwei Gebäudeteile wurden danach abgetragen.
Im Jahr 1968 wurde an der Gehestraße ein Container-Terminal (Containerbahnhof Dresden-Neustadt) mit zwei Portalkränen eröffnet. Lange Zeit stellte es die einzige Anlage dieser Art im Großraum Dresden dar und diente fortan als Ausgangs- und Endpunkt für den Ganzzug-Containerverkehr über Berlin zum Überseehafen Rostock.Noch 1989 war ein Wiederaufbau der zerstörten Gebäudeteile geplant, sie sollten für eine Zentralisierung der Expressgutabfertigung genutzt werden. Die Wende beendete diese Planungen jedoch und stellte eine Zäsur in der Geschichte des Güterbahnhofs dar. Die Bedienung der Gleisanschlüsse und Lagerhallen am Neustädter Elbufer kam gänzlich zum Erliegen und der Stückgutverkehr nahm wie der Postverkehr deutlich ab. Im Container-Verkehr änderte sich zunächst nur die Hauptverkehrsrichtung und das Terminal übernahm vorrangig Umschlag im Ost-West-Verkehr. Am 2. November 2005 übernahm jedoch das neue Container-Terminal im Güterverkehrszentrum Dresden-Friedrichstadt den Container-Umschlag. Das Terminal in Dresden-Neustadt entsprach nicht mehr den aktuellen Leistungsstandards und wurde geschlossen.In Zukunft könnte das Gebiet um den Neustädter Hafen im Rahmen des vorgeschlagenen Masterplans Leipziger Vorstadt – Neustädter Hafen neu entwickelt werden. Auf dem Gelände des Leipziger Bahnhofs plant die Globus SB-Warenhaus Holding einen SB-Markt sowie weitere Dienstleistungsbetriebe und gastronomische Einrichtungen. Im ehemaligen Empfangsgebäude des Leipziger Bahnhofs ist ein kleines List-Museum geplant. Das Globus-Projekt ist in Dresden umstritten, einerseits wäre das brach liegende Gelände revitalisiert und das ehemalige Empfangsgebäude könnte denkmalschutzgerecht einer neuen Nutzung übergeben werden, andererseits verfügt die Stadt bereits über ein dichtes Angebot von Lebensmittelgeschäften und Discountern, wodurch ein Verdrängungswettbewerb befürchtet wird. Außerdem eröffnete im Juli 2015 mit dem Edeka am Hochhaus am Albertplatz in 700 Metern Entfernung ein weiterer großer Lebensmittelmarkt.
== Beschreibung ==
In der Residenzstadt gelegen, erfuhr der Bahnhof eine, im Vergleich zu den anderen Bahnhöfen der Strecke, besonders repräsentative Ausgestaltung. Der erste Bahnhof wurde im klassizistischen Stil errichtet. Kubische zweigeschossige Gebäude mit aufgesetztem Mezzanin flankierten zu beiden Seiten den Vorplatz mit seinen Drehscheiben. Dieser pavillonartige Gebäudetyp war im Klassizismus weit verbreitet. Ein noch heute erhaltenes, stilistisch sehr ähnliches Gebäude stellt das von Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff erbaute Schlösschen Luisium dar.Zum Vorplatz hin offene Kolonnaden verbanden in je einem Viertelkreis diese Gebäude mit der Personenhalle. Je zwei Rundbögen für Giebeldurchfahrten schlossen die 50 Meter lange Personenhalle an ihren Schmalseiten ab. Da nach englischem Vorbild zunächst links gefahren wurde, befand sich der Eingang zur Abfahrseite links, und der Ausgang auf der rechten Seite. Verglichen mit den repräsentativen Gebäuden waren die beiden Seitenbahnsteige mit nur 1,70 Meter Breite von bescheidenen Ausmaßen.
Zunächst beherbergte die Personenhalle nur drei Gleise. Mehrere kleine Drehscheiben übernahmen das Umsetzen der Lokomotiven auf dem Vorplatz sowie die Einfahrt in das massiv aus Ziegeln erbaute Maschinenhaus. Mit seiner polygonalen Grundfläche stellt es einen Vorläufer der später verbreiteten Ringschuppen dar. Während die sechs Maschinenstände eine rechteckige Grundform aufwiesen, erhielten die dazwischen angeordneten Schmieden, Werkstätten bzw. Aufenthaltsräume eine Grundform aus symmetrischen Paralleltrapezen. An weiteren Gebäuden bestanden zwei Güterschuppen an den beiden Längsseiten der Personenhalle sowie Koksschuppen, eine kleine Wagenremise und ein Königswagenschuppen.
Das 1847 im Stil des Spätklassizismus errichtete neue Empfangsgebäude wurde seitlich zu den Gleisanlagen in Richtung Großenhainer Straße angeordnet. Dies gilt ebenfalls für den weitere zehn Jahre später eingeweihten, insgesamt 280 Meter langen Empfangsgebäudekomplex, der wesentlich näher an der Großenhainer Straße erbaut wurde und somit den Gleisanlagen mehr Platz bot. Dieser dritte Leipziger Bahnhof bestand aus einer zentralen Abgangshalle für Züge in Richtung Leipzig sowie zwei an beiden Seiten angeordneten weiteren Hallen. Auf stadtauswärtiger Seite befand sich die Ankunftshalle für Züge aus Leipzig, auf stadteinwärtiger Seite die Prager Halle der Sächsisch-Böhmischen Eisenbahn für Züge aus und in Richtung Prag. Rundbauten mit Drehscheiben zum Richtungswechsel verbanden diese beiden Gebäude mit dem zentralen Mittelbau. Während der Mittelbau und die verbindenden Rundbauten eingeschossig ausgeführt waren, besaßen die Seitenflügel ein aufgesetztes Halbgeschoss.
Die im selben Zeitraum neu errichteten Güteranlagen liegen dagegen zur Leipziger Straße hin. Es entstanden vier große Güterboden sowie ein Marktboden.
Der Güterbahnhof Dresden-Neustadt besteht aus denselben Gebäuden, lediglich die Prager Halle musste den Hochgleisanlagen zwischen dem Personenbahnhof Dresden-Neustadt und der Marienbrücke weichen. Die noch erhaltenen Gebäude des ehemaligen Empfangskomplexes stehen heute unter Denkmalschutz. Durch die Hochgleisanlagen in Richtung Südosten beschränkt, sind die südöstlichen Gleisanlagen des Güterbahnhofs Dresden-Neustadt nur in Richtung Nordwesten an die Bahnstrecke Dresden-Pieschen–Dresden-Neustadt angeschlossen. Der weiter nordöstlich gelegene Teil jenseits der Erfurter Straße hat dagegen in beide Richtungen direkten Anschluss an die Bahnstrecke.
== Bahnbetriebswerk Dresden-Pieschen ==
Die Anlagen des Maschinenbahnhofs Dresden Leipziger Bahnhof gingen 1899 im Bahnbetriebswerk Dresden-Pieschen auf. Zunächst für den Einsatz von Dampflokomotiven im Vorortverkehr zuständig, dauerte die Dampflokzeit jedoch nur bis zum 14. November 1933. Insbesondere der große Maschinenschuppen mit rechteckigem Grundriss begünstigte die Verwendung der Anlagen zur Stationierung von Triebwagen, die fortan im Bahnbetriebswerk Dresden-Pieschen beheimatet waren. Daneben wurden auch Kraftfahrzeuge der Bahn (zum Beispiel zum Transport von Lokomotiven und Wagen mittels Straßenrollern) sowie Diesellokomotiven hier stationiert. Die ersten acht in Dresden-Pieschen stationierten Triebwagen VT 137 058–137 065 befuhren im Eilzugverkehr die beiden Strecken nach Leipzig sowie jene nach Chemnitz, Görlitz und Zittau. Weitere Baureihen folgten, mit Beginn des Zweiten Weltkriegs musste der Betrieb der Verbrennungsmotortriebwagen jedoch aus Kraftstoffmangel eingestellt werden. Die Luftangriffe auf Dresden am 13. Februar sowie am 17. April 1945 führten zur weitgehenden Zerstörung der Anlagen sowie einiger noch dort abgestellter Triebwagengarnituren.In den Nachkriegsjahren erfolgten zunächst die provisorische Wiederherstellung der Triebwagenhalle in hölzerner Bauweise sowie die Aufarbeitung nicht mehr betriebsfähiger Fahrzeuge. Zum Sommerfahrplan 1947 erfolgten die ersten Nachkriegseinsätze der Dresdner Triebwagen. Ab dem Jahr 1963 waren die ersten Neubaudiesellokomotiven der DR-Baureihe V 180 im Betriebswerk beheimatet und sorgten für eine qualitative Verbesserung des Reisezugverkehrs. Für die Wartung der V 180 war das Bahnbetriebswerk Dresden-Pieschen jedoch nur unzureichend ausgerüstet. Die Stationierung dieser Lokomotiven ging deshalb an das Bahnbetriebswerk Dresden-Friedrichstadt über, das schon beim Bau für die Beheimatung der modernen Traktionsarten vorgesehen worden war.
Am 25. September 1965 setzte das Bahnbetriebswerk Dresden-Pieschen letztmals Dieseltriebwagen der Vorkriegsbauarten ein, bevor es zum Jahreswechsel 1965/66 aufgelöst wurde. Die Anlagen nutzte fortan das Kraftwagenbetriebswerk Dresden (Kbw Dresden), das für die Wartung und Instandhaltung der bahneigenen Kraftfahrzeuge zuständig war. Seit dessen Auflösung Anfang der 1990er Jahre standen die Gebäude leer und verfielen; ab Ende 2010 wurden sie abgerissen.
== Überreste ==
Seit dem Abriss der beiden kubischen Flügelbauten 1899 beziehungsweise 1900 sind keine Gebäude des ursprünglichen Bahnhofs mehr erhalten. Das zweite Empfangsgebäude von 1847 ist ebenfalls nicht mehr vorhanden. Einige Gebäude des Empfangskomplexes von 1857 existieren jedoch noch.
Die erhaltenen Gebäude des Empfangskomplexes sind von der Eisenbahnstraße aus gut zugänglich. Einige sanierte Gebäudeteile befinden sich als Bürogebäude in Nutzung, der Zustand der übrigen Gebäude beziehungsweise Gebäudeteile ist jedoch stark sanierungsbedürftig.
== Literatur ==
Manfred Berger, Manfred Weisbrod: Über 150 Jahre Dresdener Bahnhöfe. Merker Verlag, Fürstenfeldbruck 1991, ISBN 3-922404-27-8 (Eisenbahn Journal Special-Ausgabe 6/91).
Fritz Borchert (Hrsg.): Die Leipzig-Dresdner Eisenbahn, Anfänge und Gegenwart einer 150-jährigen. transpress VEB Verlag für Verkehrswesen, Berlin 1989, ISBN 3-344-00354-2.
Timon Hoppe: Leipziger Bahnhof in Dresden – Deutschlands älteste Bahnhofsanlage. In: industrie-kultur. Ausgabe 1/2009, Klartext-Verlag, Essen 2009, ISSN 0949-3751, S. 42–43.
Kurt Kaiß, Matthias Hengst: Dresdens Eisenbahn. 1894–1994. Alba Publikation, Düsseldorf 1994, ISBN 3-87094-350-5.
DB Station & Service AG / Bahnhofsmanagement Dresden-Neustadt (Hrsg.): Hundert Jahre Bahnhof Dresden-Neustadt 1901–2001. HochlandVerlag Pappritz, Dresden 2001, ISBN 3-934047-10-6.
== Weblinks ==
Alter Leipziger Bahnhof Dresden auf YouTube (Drohnenüberflug)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dresden_Leipziger_Bahnhof
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Elektrische Straßenbahn Spandau–Nonnendamm
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= Elektrische Straßenbahn Spandau–Nonnendamm =
Die Elektrische Straßenbahn Spandau–Nonnendamm GmbH (SpN) – umgangssprachlich Nonnendammbahn genannt – war ein zwischen 1909 und 1914 bestehendes Straßenbahnunternehmen, das aus einer 1908 von Siemens & Halske errichteten Straßenbahnlinie hervorging. Drei Monate nach ihrer Gründung erwarb die damals selbstständige Stadt Spandau alle Anteile an der Bahn, deren Betriebsführung im Folgejahr von der Städtischen Straßenbahn Spandau übernommen wurde. Mit der Löschung der Nonnendammbahn aus dem Handelsregister im Jahr 1914 erfolgte die vollständige Eingliederung in die Spandauer Straßenbahn.
Die von der Nonnendammbahn betriebene Strecke zwischen der Spandauer Altstadt und Siemensstadt befuhr zuletzt die Linie 55 der Berliner Straßenbahn, die die Berliner Verkehrsbetriebe am 2. Oktober 1967 als letzte Straßenbahnlinie West-Berlins einstellten.
== Geschichte ==
Im Jahr 1897 erwarb Siemens & Halske ein rund 21 Hektar großes Gelände am Nonnendamm, auf dem in den nächsten Jahren ein neues großes Werksgelände entstehen sollte, das später unter dem Namen Siemensstadt bekannt wurde. Zur gleichen Zeit entstand im nahegelegenen Haselhorst unter anderem eine Wohnkolonie des preußischen Militärfiskus zur Unterbringung der Arbeiter der Armee-Konservenfabrik. Die Stadt Spandau verfolgte mit diesen Neuansiedlungen von Betrieben das Ziel, ihr Steueraufkommen zu erhöhen. Zur Unterstützung dieser Aktivitäten schlug 1899 der Spandauer Oberbürgermeister Koeltze den Bau einer Güterbahn vor, die von der Spandauer Militärbahn abzweigend den Nonnendamm erschließen sollte. Im Jahr darauf beauftragte der Spandauer Senat eine Eisenbahnbaufirma mit den Vorarbeiten für eine normalspurige Güter- und Straßenbahn Spandau – Haselhorst – Nonnendamm – Charlottenburg. Während der bis 1902 andauernden Verhandlungen konnten mehrere technische und rechtliche Fragen geklärt werden, die Finanzierung des 530 000 Mark teuren Vorhabens blieb dagegen offen. Die Stadt verfolgte das kostspielige Projekt deshalb zunächst nicht weiter. Auch schien das Vorhaben nicht sonderlich vielversprechend, denn die fraglichen Stadtviertel erhielten 1905 mit dem Bahnhof Fürstenbrunn eine Verbindung zum öffentlichen Nahverkehr. Allerdings war der Bahnhof über einen Kilometer von den Werkhallen entfernt.Ab 1904 dehnten sich die Siemenswerke über die administrativen Grenzen der Spandauer Exklave Nonnendamm hinaus auf die benachbarten Kreise Niederbarnim und Osthavelland aus. In der Folge gab es Anstrengungen sowohl seitens der Stadt Spandau als auch der Stadt Charlottenburg, das Gebiet unter die eigene Hoheit zu bringen. Allerdings wünschte die Residenzstadt Charlottenburg keine weitere Ausdehnung von Industrieanlagen, weil das nicht ihren städtebaulichen Vorstellungen entsprach. Die Stadt Spandau war hingegen bemüht, das zwischen Kernstadt und Exklave liegende Gebiet einzugemeinden, was ihr in den Jahren 1908 und 1910 gelingen sollte. Einhergehend mit der Ausweitung des Werkgeländes griff Siemens die Pläne der Stadt Spandau wieder auf und nahm die Realisierung von Güter- und Straßenbahn selbst in die Hand. 1906 kam es zum Vertragsabschluss mit dem Militärfiskus über den Bau der Güterbahn, 1907 schloss das Unternehmen einen Vertrag mit der Stadt über den Bau der Straßenbahn. Darin wurde auch die Übergabe an die Stadt im Jahr 1909 geregelt.
Der Regierungspräsident in Potsdam erteilte am 24. Februar 1908 der Firma Siemens & Halske die Konzession zum Betrieb der Straßenbahn Spandau – Nonnendamm. Der Bau der Siemens-Güterbahn hatte zunächst Vorrang, sie nahm am 16. März 1908 ihren Betrieb auf. Der Bau der Straßenbahn fand überwiegend im Sommer 1908 statt. Nachdem der Eröffnungstermin auf Grund von Gleisbauarbeiten auf der Berliner Brücke mehrmals nach hinten verschoben werden musste, erfolgte zum 30. September 1908 die Betriebsaufnahme der Straßenbahn von der Kreuzung Nonnendamm Ecke Reisstraße über Haselhorst zur Kreuzung Breite Ecke Havelstraße in Spandau. Zum Einsatz kamen zwei von vier Triebwagen, die im Abstand von 30 Minuten auf der eingleisigen Strecke verkehrten. Da die Endstelle in der Spandauer Altstadt keine Umsetzmöglichkeit besaß, konnten vorerst keine Beiwagen eingesetzt werden. Ab dem 27. Oktober 1908 setzte die Bahn für den Arbeiterverkehr zur Armee-Konservenfabrik einen dritten Triebwagen zwischen Spandau und Haselhorst ein, ab Anfang Dezember fuhr in den Abendstunden zusätzlich der vierte Triebwagen.Im März 1909 wurde am Nonnendamm Ecke Grenzstraße ein neuer Betriebshof errichtet, zuvor kamen die Wagen in der Siemens-Bahnhalle am Rohrdamm unter. Der Bau war nötig, da einerseits der Fuhrpark vergrößert wurde, andererseits eine Unterbringung im Betriebshof der Städtischen Straßenbahn vorerst nicht möglich gewesen wäre, da selbiger bereits an seine Kapazitätsgrenzen stieß. Zu Ostern 1909 fuhr die Bahn erstmals mit Beiwagen. Dafür war eine Weichenverbindung zum Streckennetz der Spandauer Straßenbahn hergestellt worden, die als provisorisches Wendedreieck genutzt werden konnte. Da diese Betriebsform nicht genügte, durchfuhren die Züge ab dem 2. Mai 1909 die Blockschleife aus Havelstraße, Potsdamer Straße, Markt und Breite Straße.Zur Übergabe der Straßenbahn an die Stadt Spandau gründeten Siemens & Halske und die Siemens-Schuckertwerke am 23. März 1909 die Elektrische Straßenbahn Spandau–Nonnendamm GmbH. Die Stadt Spandau erwarb am 1. Oktober 1909 deren Gesellschaftsanteile in Höhe von 300.000 Mark zum Preis von 463.000 Mark. Die Konzessiosübertragung auf die Stadt war am 16. Februar 1910. Es gingen dabei nur die ausschließlich für den Personenverkehr verwendeten Gleise über. Die von der Straßenbahn mitbenutzten Gleise der Siemens-Güterbahn im Nonnendamm und dem Schwarzen Weg verblieben bei Siemens. Ab dem 1. April 1910 übernahm dann die Spandauer Straßenbahn die Betriebsführung der Bahn.
Infolge des stetigen Ausbaus der Siemenswerke stieg die Nachfrage auf der Nonnendammbahn ebenfalls an. In den Morgen- und Abendstunden fuhren die Züge teilweise mit drei Wagen. Die bereits von Siemens verfolgte Verlängerung der Strecke um 800 Meter durch die Reisstraße und den Rohrdamm bis zum Bahnhof Fürstenbrunn konnte am 1. November 1911 eröffnet werden. Die Strecke führte über die Reisstraße und den Rohrdamm bis zum Bahnhof an der Hamburger Bahn.Zu Beginn des Jahres 1912 ging zwischen der Armee-Konservenfabrik und Gartenfeld, wo Siemens sein Kabelwerk errichtete, eine 700 Meter lange Zweigstrecke in Betrieb. Die Strecke war nur für Arbeiterzüge vorgesehen, die jeweils zu Betriebsbeginn und -ende verkehrten. Die Stadt Spandau bezuschusste den Bau mit 250.000 Mark. Siemens beteiligte sich ebenfalls am Streckenbau, da auch hier ein Gemeinschaftsbetrieb mit der Güterbahn bestand.Im Jahr 1913 stand die Linie N trotz des starken Pendlerverkehrs zu den Siemenswerken erst an dritter Stelle der Spandauer Linien. Während die Linien P nach Pichelsdorf und H nach Hakenfelde 3,26 Millionen beziehungsweise 2,55 Millionen Fahrgäste aufweisen konnten, waren es auf der Nonnendammbahn 1,865 Millionen Fahrgäste. Die beiden übrigen Linien B und J nach dem Spandauer Bock und Johannesstift folgten in geringem Abstand. Trotz der Erweiterungen blieb die Nonnendammbahn zeit ihres Bestehens defizitär. Die Einnahmen fielen vergleichsweise gering aus, da die Bahn zwischen Spandau und Haselhorst durch noch vorwiegend unbebautes Gelände führte und die meisten Fahrgäste die nicht kostendeckenden Arbeiterkarten in Anspruch nehmen konnten. Dem gegenüber standen die hohen Betriebsausgaben, zu denen auch die Verzinsung und Amortisation des Anlagekapitals von 780.000 Mark gehörten. Für den sich auf wenige Stunden konzentrierenden Pendlerverkehr mussten zusätzliche Wagen bereitgestellt werden, die den Rest des Tages keine Verwendung fanden. Zu guter Letzt bezog die Straßenbahn auch nach der Übernahme durch die Stadt ihren Strom aus dem firmeneigenen Kraftwerk, was Siemens mit 12 Pfennig pro Kilowattstunde in Rechnung stellte. Die Städtische Straßenbahn führte 1910–1913 jährlich zwischen 42.000 und 71.371 Mark an die Nonnendammbahn ab, um deren Verluste auszugleichen. 1912 reichten die Mehreinnahmen nicht aus, um den Fehlbetrag zu decken, weshalb die Stadt weitere 11.000 Mark beisteuerte. Erst um 1914 schien sich die Lage zu entspannen. Da das Unternehmen inzwischen vollständig der Spandauer Straßenbahn angegliedert war, gab es ab 1911 Überlegungen, die Gesellschaft aufzulösen. Den Beschluss fällten die Stadtverordneten am 3. April 1914. Am 1. Oktober 1914 wurde die Elektrische Straßenbahn Spandau–Nonnendamm GmbH aus dem Handelsregister gelöscht.Am 8. Dezember 1920 ging die Städtische Straßenbahn Spandau in der Großen Berliner Straßenbahn auf, die kurz darauf in der Berliner Straßenbahn (BSt) aufging. Am 21. April 1921 wurden die Spandauer Linien vollständig in das Berliner Netz integriert. Die Strecken blieben mit teilweisen Unterbrechungen bis in die 1960er Jahre in Betrieb. Den Anschluss nach Gartenfeld legten die Berliner Verkehrsbetriebe am 1. Oktober 1960 still, die Stammstrecke der Nonnendammbahn war bis zum 2. Oktober 1967 als Abschnitt der letzten West-Berliner Straßenbahnlinie 55 in Betrieb.
== Streckenbeschreibung ==
Die Strecke war zur Eröffnung etwa 3,2 Kilometer lang und überwiegend eingleisig. Sie führte von der Kreuzung Breite Straße Ecke Havelstraße in der Spandauer Altstadt über die Berliner Straße und Berliner Chaussee, Gartenfelder Straße, Schwarzer Weg und Nonnendamm zur Ecke Reisstraße, wo sich eine Umsetzendstelle befand. Auf dem Nonnendamm zwischen Grenzstraße und Reisstraße war die Strecke auf 1250 Meter Länge zweigleisig. Die Gleise befanden sich in Straßenmitte oder, sofern vorhanden, auf dem Mittelstreifen. Im Schwarzen Weg war es seitlich der Fahrbahn angeordnet. Ausweichen befanden sich in der Berliner Chaussee und in der Gartenfelder Straße Höhe Küsterstraße. Auf der Nonnendammallee und dem Schwarzen Weg fand anfänglich noch Mischbetrieb mit der Siemens-Güterbahn statt.1909 wurde mit der Herstellung einer Gleisverbindung der Anschluss an das Spandauer Straßenbahnnetz hergestellt. In Siemensstadt wurde 1911 die Strecke eingleisig über die Reisstraße, das Siemens-Werksgelände und den Rohrdamm zum Bahnhof Fürstenbrunn verlängert; die Endstelle lag nördlich der Spree.Mit dem Bau der Anschlussstrecke nach Jungfernheide wurde die Endstelle am Nonnendamm auf insgesamt vier Gleise erweitert. Die von der Spandauer Straßenbahn und der Güterbahn genutzten Anlagen lagen im südlichen Teil des Mittelstreifens, die von der BCS und GBS genutzten nördlich dazu. Vor der Ecke Rohrdamm führten zwei Gleise von der Nonnendammbahn auf die Anschlussstrecke.Bis April 1923 baute Siemens die Abschnitte von der Berliner Chaussee Ecke Gartenfelder Straße bis zur Reisstraße einschließlich der Stichstrecke nach Gartenfeld auf eigene Kosten zweigleisig aus. Die Gütergleise waren damit vollständig von der Straßenbahn getrennt. Die doppelte Endstelle an der Reisstraße wurde zu einer dreigleisigen Aufstellanlage für die Straßenbahnen sowie ein getrenntes Gütergleis für die Anschlussbahn zurückgebaut. Die Wendeschleife für die aus Jungfernheide kommenden Züge ging an der Wagenhalle Grenzstraße neu in Betrieb. Die Anordnung blieb im Wesentlichen bis zur Einstellung der Straßenbahn 1967 erhalten, die Gleisanlagen wurden danach teilweise von der Güterbahn weiter genutzt. Der verbliebene Abschnitt zwischen Gartenfelder Straße und der Berliner Brücke wurde bis 1927 zweigleisig ausgebaut.
== Betrieb ==
=== Betriebshof ===
Die Fahrzeuge waren zunächst in der Bahnhalle im Rohrdamm untergebracht, bevor am 1. Mai 1909 ein neuer Betriebshof am Nonnendamm Ecke Grenzstraße dem Betrieb übergeben werden konnte. Dieser Betriebshof Grenzstraße wurde 1912 erstmals erweitert und bot auf einer Fläche von 1380 Quadratmetern Platz für 18 Wagen. 1920 übernahm die Berliner Straßenbahn der Hof als Außenstelle des Betriebshofs Pichelsdorfer Straße unter der Nummer 28a. 1923 wurde die Halle um 35 Meter verlängert. 1944 wurden die Hallen infolge der Kampfhandlungen schwer beschädigt. Nach einer notdürftigen Instandsetzung stellte die BVG vorübergehend kriegszerstörte Wagen ab. 1951 erfolgte die Beseitigung der Gebäudereste, 1954 die Stilllegung der Gleisschleife und die anschließende Rückgabe des Geländes an Siemens.
=== Fahrzeuge ===
Die Straßenbahn bestellte anfangs je sechs Trieb- und Beiwagen. Zur Betriebseröffnung standen erst vier Triebwagen zur Verfügung, die übrigen Fahrzeuge wurden Anfang 1909 ausgeliefert. Zu Ostern 1909 setzte die Bahn erstmals planmäßig Beiwagen ein. 1911 bestellte die Bahn sieben weitere Trieb- sowie zehn Beiwagen. Die Spandauer Straßenbahn übernahm diese Wagen 1914 und reihte sie in ihr Nummernschema ein. Mit dem Übergang zur Berliner Straßenbahn erfolgte eine erneute Umnummerierung.Die Wagen hatten offene Einstiegsplattformen und sechs beziehungsweise acht Fenster je Seite. An den Wagenenden sowie unterhalb der Fensterreihe war die Wagennummer mittig angeschrieben, darunter der Schriftzug STRASSENBAHN SPANDAU – NONNENDAMM. Über den Fenstern waren Linienverlaufsschilder angebracht. Die Stromentnahme aus der Oberleitung erfolgte über Rollenstromabnehmer. Obwohl Siemens zu dieser Zeit bei seinen Straßenbahnen den Bügelstromabnehmer bevorzugte, war von Beginn an ein Übergang zur Spandauer Straßenbahn, die ebenfalls Rollenstromabnehmer nutzte, vorgesehen. Die Triebwagen boten 18 Sitz- und 16 Stehplätze, die Beiwagen 24 Sitz- und 20 Stehplätze.Die Triebwagen erhielten nach 1920 die Wagennummern 4156 bis 4168. Die Berliner Straßenbahn musterte sie bis 1929 aus.Die Beiwagen der ersten Lieferung liefen nach 1920 unter den Nummern 1487 bis 1492. 1927 erhielten sie geschlossene Plattformen und die Nummern 1471II bis 1476II. Bei der Verwaltungstrennung der BVG kamen Wagen 1471II und 1475II zur BVG-West, die diese bis 1954 ausmusterte. Die Wagen 1472II bis 1474II kamen zur BVG-Ost. Diese baute die Wagen äußerlich um, wobei diese Tonnendächer erhielten und teilweise eine veränderte Fensteranordnung. 1969 zog die BVG-Ost die drei Wagen in das Rekoprogramm ein. Wagen 1476II musterte die BVG vor 1949 ausgemustert.Die Beiwagen der zweiten Lieferserie erhielten nach 1920 die Wagennummern 1523 bis 1532. Wagen 1526 bis 1530 kamen ab 1923 auf der Linie 120 vom Bahnhof Spandau West nach Hennigsdorf zum Einsatz. Sie erhielten 1927 wie die anderen Beiwagen geschlossene Plattformen. Wagen 1527 war zu diesem Zeitpunkt bereits ausgemustert. Die auf der Überlandlinie verkehrenden Wagen hatten im Gegensatz zu den normalen Wagen längere Plattformen sowie breitere Radreifen für den Einsatz auf Eisenbahnstrecken erhalten. Ferner erhielten sie zusätzliche Sicherungseinrichtungen und verschließbare Plattformtüren. Nach dem Umbau liefen die Wagen unter den Nummern 1477II bis 1485II. Wagen 1478II sowie Wagen 1481II bis 1484II verblieben nach 1949 bei der BVG-West, wo sie 1954 ausgemustert wurden. Wagen 1477II und 1485II blieben im Ostteil der Stadt und wurden 1969 ebenfalls ins Rekoprogramm einbezogen. Auf den Untergestellen der Wagen 1479II und 1480II wurden vor 1949 die Güterloren G337 und G338 aufgebaut, die in den Bestand der BVG-Ost übergingen.An Arbeitsfahrzeugen standen dem Unternehmen ein Sprengwagen und ein weiterer Wagen zur Verfügung.
=== Fahrplan ===
Die Linie fuhr zunächst mit zwei Triebwagen halbstündlich zwischen Spandau und Nonnendamm, da durch noch weitgehend unbebautes Gelände führte und ein Großteil der Siemens-Mitarbeiter aus Berlin und Charlottenburg kam. Nach 20 Uhr wurde die Wagenfolge auf eine Stunde ausgedehnt und mit einem Pendelwagen gefahren. Ab dem 27. Oktober 1908 pendelte ein dritter Triebwagen zwischen Spandau und Haselhorst. Wegen der begrenzten Ausweichmöglichkeiten fuhr er in der Regel unmittelbar nach einem der beiden anderen Triebwagen und war dementsprechend spärlich besetzt. Ab Anfang November 1908 dehnte man den Halbstundentakt bis 21.30 Uhr aus.
Steigende Fahrgastzahlen führten im Mai 1909 zur Einführung des Viertelstundentaktes bis etwa 21 Uhr, danach fuhren die Züge Halbstundentakt. Am 2. oder 3. Mai 1909 verlängerte man die Linie in die Spandauer Altstadt hinein. Nach der Übernahme der Betriebsführung durch die Städtische Straßenbahn erhielten die Nonnendammbahn im Mai 1910 die Liniensignale N (für Züge nach Nonnendamm) und K (für Züge zur Armee-Konservenfabrik) zugeteilt. Die Linie K fuhr überwiegend sonntags, da die Linie N an diesen Tagen halbstündlich verkehrte und durch die zweite Linie der Viertelstundentakt zwischen Spandau und Haselhorst beibehalten werden konnte. Ab dem 1. Mai fuhren die Linien westwärts weiter bis zum Bahnhof Spandau West an der Seegefelder Straße. Am 1. Oktober 1913 wurde die Linie K wieder eingestellt.Als Zubringer für das in Gartenfeld errichtete Kabelwerk fuhren vereinzelte Züge während des Berufsverkehrs ab dem 8. Januar 1912 als Linie G zwischen Gartenfeld und Bahnhof Fürstenbrunn. Infolge der Inbetriebnahme der Straßenbahnstrecke vom Ringbahnhof Jungfernheide nach Nonnendamm durch die Berlin-Charlottenburger Straßenbahn im Jahr 1913 ergab sich eine Konkurrenzsituation in der Siemensstadt. Die überwiegend in Berlin und Charlottenburg wohnhafte Bevölkerung nutzte bis dato die Vorortzüge bis Bahnhof Fürstenbrunn und ab dort die Nonnendammbahn bis Siemensstadt. Nach der Inbetriebnahme stiegen die meisten Arbeiter bereits in Jungfernheide um, da bis hier der günstigere Stadt- und Ringbahntarif galt, und fuhren von dort aus mit der Linie der Berlin-Charlottenburger Straßenbahn. Die Mitarbeiter des Kabelwerks nahmen für die günstigere Verbindung auch einen rund einen Kilometer langen Fußmarsch in Kauf. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges stellte die Spandauer Straßenbahn daher die wenig gefragte Linie G wieder ein. Ab dem 9. Juni 1914 bestand eine Anschlussverbindung zum Bahnhof Jungfernheide. Die von Siemens & Halske sowie den Siemens-Schuckertwerken erbaute Strecke bediente zunächst die Pendellinie der BCS (Linie V), später die Linie 164 der Großen Berliner Straßenbahn (GBS).Die Linie N erhielt am 29. Juni 1917 im Zuge der Nummernvergabe bei der Spandauer Straßenbahn die Liniennummer 5. Am 21. Januar 1918 wurde sie zusammen mit einer neu eingerichteten Verstärkerlinie 8, die ab Haselhorst verkehrte, über die Anschlussstrecke zum Bahnhof Jungfernheide verlängert; die Strecke zum Bahnhof Fürstenbrunn ging am gleichen Tag außer Betrieb.
=== Tarif ===
Der Fahrpreis betrug für die Gesamtstrecke anfänglich 10 Pfennig. Ferner wurden Schülerkarten für 15 Fahrten zum Preis von 1 Mark ausgegeben. Ab Mai 1909 gab die Bahn auch Lochkarten zum Preis von 1 Mark aus, die zu zwölf Fahrten berechtigten. Ab Herbst 1909 gab die Bahn zudem Arbeiterwochenkarten zum Preis von 60 Pfennig aus, diese berechtigten zu zwei Fahrten je Werktag. Die Hinfahrt hatte bis 8 Uhr, die Rückfahrt zwischen 11 und 20 Uhr zu erfolgen. Ihr Preis wurde 1912 auf 80 Pfennig und 1913 auf eine Mark angehoben. Die Ausgabe erfolgte an „einheimische“ Arbeiter, die Invalidenmarken klebten und ein Jahreseinkommen bis 2100 Mark hatten.
Ab dem 15. August 1909 bestand in Richtung des Spandauer Hauptbahnhofs eine Umsteigeberechtigung zu den Linien der Spandauer Straßenbahn, in entgegengesetzter Richtung war dieser Vorgang nicht zugelassen. Fahrgäste, die umsteigen wollten, hatten den Weichensteller am Markt unter Vorlage ihres Fahrscheins davon in Kenntnis zu setzen. Spätestens mit der Umstellung der Spandauer Straßenbahn von Zahlkasten- auf Schaffnerbetrieb am 1. Januar 1911 bildeten beide Bahnen eine Tarifeinheit.
== Anmerkungen ==
== Literatur ==
Henry Alex: Ein Jahrhundert Nahverkehr in Haselhorst. In: Verkehrsgeschichtliche Blätter. Nr. 2, 2010.
Arne Hengsbach, Wolfgang Kramer: Die Straßenbahnen im Raum Berlin (12). Elektrische Straßenbahn Spandau – Nonnendamm GmbH. In: Strassenbahn Magazin. Nr. 48, Mai 1983.
== Weblinks ==
Karl H. P. Bienek: Straßenbahn in Siemensstadt. In: Die Siemensstadt – Ein Lexikon der Siemensstadt in Berlin. 28. Mai 2008, archiviert vom Original am 30. März 2012; abgerufen am 18. März 2017.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Elektrische_Stra%C3%9Fenbahn_Spandau%E2%80%93Nonnendamm
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Elsterwerda-Grödel-Floßkanal
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= Elsterwerda-Grödel-Floßkanal =
Der Elsterwerda-Grödel-Floßkanal ist eine im 18. Jahrhundert angelegte Wasserstraße, die die Pulsnitz in Elsterwerda mit der Elbe bei Grödel verbindet.
Ursprünglicher Zweck des in der Gegenwart vor allem zu Naherholungszwecken genutzten Kanals war es, den hohen Bedarf an Holz im Raum Dresden/Meißen aus den Wäldern in der Umgebung des damals noch zu Sachsen gehörenden Elsterwerda (heute brandenburgisch) zu decken. Sein Bau erfolgte auf persönliche Anordnung des sächsischen Kurfürsten. Später diente er bis zur Einstellung der Schifffahrt im Jahre 1942 in erster Linie als Transportweg für das Gröditzer Eisenwerk. Zum Transport wurden von Bomätschern gezogene Kähne eingesetzt. Ab den 1960er Jahren bis zur Wende wurde er als Bewässerungskanal genutzt.
== Geografische Lage, Naturraum, Flora und Fauna ==
Der Elsterwerda-Grödel-Floßkanal befindet sich im östlichen Elbe-Elster-Gebiet. Beginnend an einem unmittelbar bei der Elbe gelegenen künstlich angelegten Bassin im sächsischen Grödel, verläuft der Kanal in nordöstliche Richtung durch die westliche Großenhainer Pflege bis in den Schraden zum Holzhof im brandenburgischen Elsterwerda.
Zwischen Pulsen und Gröditz kreuzt der Kanal die drei Mündungsarme der Großen Röder, von denen er gespeist wird. Im Bereich der Stadt Gröditz wurde der Kanal inzwischen auf etwa einem Kilometer Länge verfüllt, wodurch er sich heute in zwei Teilstücke gliedert. Während das südliche Teilstück in Gröditz über eine Rohrleitung in die Große Röder mündet, wird der nördliche Teil über eine weitere Rohrleitung aus der Großen Röder mit Wasser versorgt. In Elsterwerda gibt es eine Verbindung in die Pulsnitz, kurz bevor diese wenig später in die Schwarze Elster fließt.
Seine Breite liegt durchschnittlich bei etwa 7 bis 9 Metern. Die Länge beträgt 21,4 Kilometer, wovon 15,45 Kilometer auf sächsischen Territorium liegen. Auf der gesamten Strecke wurden sechs verbreiterte Ausweichstellen angelegt, an denen sich Lastkähne begegnen konnten. Er berührt in seinem Verlauf die Orte Glaubitz, Radewitz, Marksiedlitz, Streumen, Wülknitz, Koselitz, Tiefenau, Pulsen, Gröditz, Prösen und schließlich Elsterwerda. Dabei unterquert er unter anderem die Bahnstrecke Riesa–Dresden und die Bundesstraße 98 in Glaubitz, die Bundesstraße 169 in Prösen sowie in Elsterwerda die Bahnstrecke Berlin–Dresden.
In Elsterwerda befindet sich ein kleiner Abschnitt des Floßkanals im Gebiet des 484 Quadratkilometer umfassenden Naturparks Niederlausitzer Heidelandschaft, dessen Kernstück, das Naturschutzgebiet Forsthaus Prösa, einen der größten zusammenhängenden Traubeneichenwälder Mitteleuropas beherbergt. Der Kanal selbst besitzt einen reichen Fischbestand. Außerdem gibt es am Kanal Vorkommen des vom Aussterben bedrohten Elbebibers, einer seltenen Unterart des Europäischen Bibers. Des Weiteren bildet er Lebensraum und Brutgebiet verschiedener Wasservögel.
An Flora sind im Wasser zahlreiche Schwimm- und Tauchpflanzen, wie unter anderem Hornblatt, Tausendblatt, Wasser- und Teichlinsen, Teichrosen und Laichkräuter zu finden. In den Uferzonen konnten bisher neben dem stellenweise sehr reichlich vorhandenen Schilf auch Busch-Nelken, Alpen-Vermeinkraut und Lungenenzian nachgewiesen werden.
== Name ==
Der Name des im Volksmund der Anliegergemeinden umgangssprachlich meist einfach nur Kanal genannten Gewässers war in der Vergangenheit und ist in der Gegenwart sehr variantenreich. In historischen Kartenwerken, Schriften und Dokumenten gibt es neben der Bezeichnung Elsterwerda-Grödel-Floßkanal eine ganze Reihe verschiedener Bezeichnungen für das Bauwerk.
Während der 1997 erschienene Jubiläumsband der Heimatvereine Elsterwerda und Gröditz unter dem Namen 250 Jahre Floßkanal Grödel-Elsterwerda herausgegeben wurde, nannte man das Gewässer 1912 im Neuen Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde, einer Fachzeitschrift für sächsische Landesgeschichte, wiederum Floßkanal Elsterwerda – Grödel. In der im Jahre 1907 bei Perthes in Gotha erschienenen Karte des Deutschen Reiches und im Wiener Friedensvertrag von 1815 (Artikel 17) wird der Kanal als Elsterwerdaer-Floßgraben bezeichnet. Alfred Hettners Geographische Zeitschrift aus dem Jahre 1898 nennt ihn Grödel-Elsterwerdaer Floßkanal. Unter diesem Namen wird er auch im 2001 erschienenen Band 63 Der Schraden der Publikationsreihe Werte der deutschen Heimat beschrieben. Die Flussmeisterei Riesa nennt den Kanal noch in der Gegenwart so. Meyers Konversations-Lexikon von 1885 und die 1902 erschienenen Petermanns Geographische Mitteilungen beschrieben ihn mit Grödel-Elsterwerdaer Kanal.
Weitere gebräuchliche Varianten waren und sind unter anderem Floßkanal Grödel-Elsterwerda, Elsterwerda-Grödeler Floßkanal, Elbe-Elster-Floßkanal, Elster-Elbe-Canal, Elbe-Elster-Kanal und auch Floßkanal.
== Historische Entwicklung und Nutzung des Floßkanals ==
=== Eine Residenzstadt braucht Holz ===
Unter dem sächsischen Kurfürsten Friedrich August I., auch August der Starke genannt, war im Raum Dresden/Meißen eine rege Bautätigkeit in Gang gekommen. August ließ seine Residenzstadt an der Elbe zu einer der prächtigsten Europas ausbauen. Neben der Dresdner Neustadt entstanden zahlreiche weitere Bauten und in Meißen die Porzellanmanufaktur. Des Weiteren verzeichnete die Stadt Dresden ein starkes Bevölkerungswachstum. Allein in den Jahren von 1648 bis 1699 stieg die Einwohnerzahl von 16.000 um ein Drittel auf 21.298. Bis zum Jahr 1755 sollte sie sich auf dann 63.209 Einwohnern noch einmal verdreifachen. Es gab deshalb einen stetig steigenden Bedarf an Holz. Da das Erzgebirge bereits weitgehend ausgebeutet und das böhmische Holz teuer war, besann man sich auf die riesigen Waldgebiete im Norden des Kurfürstentums. Hier lagen der südlich von Finsterwalde gelegene Grünhauser Forst, die Liebenwerdaer Heide, die Plessaer Heide und der Schradenwald. Diese befanden sich zwar zu einem Großteil in staatlichem Besitz, wurden bisher aber hauptsächlich zur Jagd genutzt und waren zu diesem Zeitpunkt deshalb weitgehend unberührt.
Durch dieses Gebiet flossen als größte Gewässer die Schwarze Elster und die Pulsnitz. Zwar war die Pulsnitz durch die Anlage des neuen Pulsnitzgrabens schon seit dem 16. Jahrhundert im unteren Verlauf zu Meliorationszwecken weitgehend begradigt worden, die Schwarze Elster aber floss in zahlreichen kleinen kurvenreichen Nebenarmen durch die Niederung. Ein geregelter Flößereibetrieb war hier deshalb erst unterhalb der Stadt Liebenwerda möglich, was es wiederum notwendig machte, das Holz mit insgesamt hohem Aufwand erst bis zur Elstermündung bei Jessen zu flößen und anschließend wieder die Elbe stromaufwärts zu transportieren.Am besten geeignet, den begehrten Rohstoff auf kürzestem Weg in die Residenzstadt zu bringen, schien eine noch anzulegende Verbindung zwischen der Schwarzen Elster und der Elbe. Erste Planungen für das Projekt, die beiden Flüsse zu verbinden, wurden auf den persönlichen Befehl des Kurfürsten hin bereits im Jahre 1702 unternommen. Jedoch sollten die Vorplanungen und Untersuchungen noch mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Nach ersten Bauprüfungen eines Floßgrabens wurde einige Zeit später der sogenannte Hauptfloßgraben mit einer Länge von 26 Kilometern realisiert. Der Hauptfloßgraben wurde von drei Zuflüssen gespeist. Sie begannen in den südlich von Finsterwalde gelegenen Wäldern, beim inzwischen devastierten Ort Gohra, südlich von Lichterfeld und am Mahlenzteich bei Nehesdorf. Die Zuflüsse vereinigten sich anschließend bei Sorno. Von hier aus verlief der Hauptfloßgraben über Oppelhain quer durch die östliche Liebenwerdaer und die Plessaer Heide bis an die Schwarze Elster bei Plessa und weiter bis Elsterwerda. Dieses Bauvorhaben verlief relativ unkompliziert, denn die Baumeister hatten in der Vergangenheit schon bei ähnlichen Projekten in Sachsen Erfahrungen gesammelt. Der Floßgraben wurde schließlich bereits 1743 fertig gestellt und im darauf folgenden Jahr in Betrieb genommen.Heikler wurde das Projekt im Abschnitt zwischen der Schwarzen Elster und Elbe. Der Wasserspiegel am geplanten Ausmündungsbereich in der Elbe lag höher als in Elsterwerda. In einfachen Floßgräben wurde das Holz aber in der Fließrichtung des Gewässers bewegt beziehungsweise getriftet. Deshalb musste stattdessen ein Kanal angelegt werden, der die Höhenunterschiede mittels Schleusen überwand. Erste Entwürfe dafür legte Ingenieur Johannes Müller, der mit den Voruntersuchungen beauftragt war, im Jahre 1727 vor. Wegen der zahlreichen Untersuchungen, Berechnungen und Prüfungen verschob sich der Baubeginn letztlich wieder um über ein Jahrzehnt, weil der Bau rentabel werden sollte. Außerdem gab es heftige Diskussionen über die Streckenführung; eine Linie von Prieschka nach Stehla war ebenfalls erwogen worden, stieß aber auf heftige Gegenwehr seitens nicht näher genannter einflussreicher Persönlichkeiten, die diese Strecke unter anderem für zu kostspielig hielten. Auch wurde die Streckenführung zwischen Elsterwerda und Grödel mehrmals verändert. Der Bau des Kanals begann schließlich erst, nachdem August der Starke im Jahre 1733 verstorben war, im Jahre 1742 unter dem Kurfürsten Friedrich August II.Mit der Durchführung des Baus wurde Müller selbst beauftragt, der zuvor schon mit dem Bau des Hauptfloßgrabens betraut worden war. Die Fertigstellung des Kanals war für das Jahr 1744 vorgesehen. Die Ausführung stieß allerdings auf zahlreiche Hindernisse. Die Aushubarbeiten waren sehr aufwendig, ausreichend zuverlässige Arbeitskräfte zu finden erwies sich als schwierig, die Anbindung zur Elbe und die Prösener Schleuse machten Probleme. Wegen des ungünstigen Baugrundes – die Konstrukteure hatten dort vor allem mit Schwemmsand zu kämpfen – musste diese Schleuse mehrfach erneuert werden und erst im Jahre 1767 funktionierte sie zufriedenstellend. Auf die direkte Anbindung an die Elbe verzichtete man letztlich.Nach sechs Jahren Bauzeit und nachdem er kurz zuvor geflutet worden war, passierten schließlich am 2. Dezember 1748 die zwei ersten von Bomätschern gezogenen Kähne in einer Probefahrt den fertiggestellten Kanal. Sie fand im Beisein einer staatlichen Kanalkommission und des inzwischen eingesetzten Floßmeisters Schubert statt und dauerte, mit einer Unterbrechung in Prösen, zwölf Stunden lang. Die Kosten für das Projekt beliefen sich auf insgesamt 65.437 Taler, merklich mehr als die ursprünglich für den Bau bewilligten 52.610 Taler. Hinzu kamen noch 5800 Taler für den Floßgraben.
=== Teilung des Kanals ===
Die Probleme an der Prösener Schleuse hielten an und der Kanal musste deshalb mehrmals außer Betrieb genommen werden. Doch die Versorgung mit Holz im Absatzgebiet verbesserte sich nach der Errichtung, weil auch das böhmische Holz nun billiger wurde.
Eine ganz andere Bedeutung bekam der Kanal zwei Jahrzehnte nach seiner Eröffnung. Bereits 1725 war unter Wirkung der Freifrau Benedicta Margaretha von Löwendal im Mückenberger Herrschaftsbereich ein Eisenwerk entstanden, das sogenannte Lauchhammerwerk. Damit legte sie den Grundstein für einen der ersten Industriebetriebe in der Region, der diese in der Folgezeit ganz erheblich prägen sollte. Die 1776 ohne direkte Nachkommen verstorbene Adlige vererbte ihren Besitz an ihr Patenkind Detlev Carl von Einsiedel, dem die etwa 20 Kilometer westlich gelegene Herrschaft Saathain gehörte. Dieser erkannte das wirtschaftliche Potential des Floßkanals und eröffnete 1779 im zu Saathain gehörigen Dorf Gröditz an der Röder ein weiteres Hammerwerk. Das für dessen Betrieb notwendige Wasser lieferte reichlich die Gröditz passierende Große Röder und das Werk erhielt dann auch bald die Konzession, den Kanal für den Transport von Gütern mitzunutzen.Anfang des 19. Jahrhunderts erfassten die Napoleonischen Kriege Europa. Das seit 1806 bestehende Königreich Sachsen hatte an der Seite des Verlierers Napoleon gestanden. Infolge des Wiener Kongresses kam es deshalb 1815 zur Teilung Sachsens, es musste große Teile seines Staatsgebietes abtreten. Die neue Grenze verlief in der Region entlang der Straße von Mühlberg nach Ortrand. Die an der Straße gelegenen Gemeinden fielen dabei an Preußen. Nördlich von Gröditz querte sie den Verlauf des Floßkanals und teilte ihn in einen preußischen Abschnitt im Norden und einen etwas größeren sächsischen Abschnitt im Süden. Das Eisenwerk in Gröditz war nun von seinem Stammwerk in Mückenberg durch eine Staatsgrenze getrennt und Sachsen hatte keinen Zugriff mehr auf die Wälder nördlich des Kanals. Der für das Land verhandelnde Staatssekretär Detlev von Einsiedel erreichte zwar, dass im Wiener Friedensvertrag die freie Schifffahrt und das Flößen auf dem Kanal schriftlich vereinbart wurde, aber vor allem im kleineren preußischen Abschnitt verlor der Transportweg daraufhin weitgehend seine Bedeutung für den Gütertransport. Und bei der Einrichtung der den Kanal kreuzenden Preußischen Staatschaussee Nr. 62, die als Poststraße von Berlin nach Dresden dienen sollte, wurde dieser am Holzhof in Elsterwerda kurzerhand zugeschüttet. Im Jahre 1833 wurden die Holztransporte dann ganz eingestellt.
=== Erneuerung des Kanals und seiner Bauwerke ===
Bereits 1827 hatte der Graf von Einsiedel auf sächsischer Seite eine neue Konzession in Form eines Privilegs für die Nutzung des Kanals erwirken können. Als dieses Vorrecht reichlich dreißig Jahre später auslief, wurde der Kanal im Abschnitt Gröditz–Grödel 1861 für den allgemeinen Verkehr geöffnet. Inzwischen waren zahlreiche Reparatur- und Erneuerungsarbeiten notwendig geworden. Die politische Lage erlaubte es aber inzwischen, auch den nördlichen Abschnitt wieder in Betrieb zu nehmen, und so wurden von 1865 bis 1869 die Schleusen am Kanal erneuert beziehungsweise umgebaut, so dass er schließlich auf ganzer Länge wieder schiffbar wurde.Nach dieser Wiederherstellung wurde der Kanal in Preußen ebenfalls für den allgemeinen Verkehr geöffnet. Am 8. April 1869 trat auf beiden Abschnitten eine neue Kanalordnung in Kraft. Zunächst brachte das auch den erwünschten Effekt und der auf dem Kanal erfolgende Gütertransport steigerte sich spürbar. Doch inzwischen hatte sich die Region stärker industrialisiert. Vor allem die zahlreichen neu entstehenden Braunkohlegruben brauchten schnelle und leistungsfähige Verkehrsverbindungen. Im Jahre 1875 wurden die Eisenbahnstrecken Berlin–Dresden und Elsterwerda–Riesa errichtet, die dem nachkamen. Während die Erstere den Kanal in Elsterwerda kreuzt, verläuft die Strecke in Richtung Riesa weitgehend parallel zum Kanal. Die Eisenbahn machte dem bisherigen Gütertransport auf dem Floßkanal erheblich Konkurrenz, und er büßte daraufhin bald deutlich an Bedeutung ein.Als Hauptfunktion des Kanals verblieb letztlich die Bewirtschaftung des Gröditzer Stahlwerkes. Es wurde fast nur noch der sächsische Abschnitt befahren. Aus dem Stahlwerk kamen Bauschutt und Schlacke. Auf dem Rückweg erfolgten Sand- und Lehmtransporte. Diese Rohstoffe kamen meist aus zwischen Koselitz und Radewitz gelegenen Gruben, wofür eigens Feldbahnstrecken zum Kanal angelegt wurden, auf denen Kipploren verkehrten. Außerdem diente der Kanal noch als Sammelbassin für das im Werk benötigte Kühlwasser. Schon 1912 berichtete K. Mende in einem Aufsatz, der in der heimatkundlichen Beilage „Die Schwarze Elster“ zum „Liebenwerdaer Kreisblatt“ erschien: „Durch die Gröditzer Schleuse ist ein Querdamm gezogen, der das Röderwasser im elbwärtsgelegenen Kanalstück festhält.“ Während die Pulsener Schleuse zu diesem Zeitpunkt noch in Betrieb war, wurde der nördliche Abschnitt bereits kaum mehr genutzt. Zwischen Gröditz und Prösen war er fast ganz mit Schilf überwachsen.
=== Die Vision eines Elbe-Oder-Kanals ===
Trotz der Konkurrenz durch die Eisenbahn blieben Wasserstraßen als Transportwege auch weiterhin im Blickfeld. Schon kurz nach der Errichtung des Floßkanals wurden Pläne verfolgt, ihn bis zur Spree zu verlängern. Motiv dieser Gedankenspiele war wiederum die Holzbeschaffung. Die Behörden beauftragten deshalb 1754 abermals den bestens bewährten Johann Müller zu ersten Voruntersuchungen für das Vorhaben. Noch im selben Jahr reichte er seine ersten Pläne und Kartenskizzen für das Projekt ein. Allerdings lag den Plänen die Bemerkung „Ist ein weitausstehendes Projekt, das viel Gulden kosten wird.“ des Dresdner Oberfloßinspektors Fink bei, woraufhin sie nicht weiter verfolgt wurden.Anfang des 20. Jahrhunderts griffen Fachleute die einstigen Ideen wieder auf. Es gab Pläne, einen Großschifffahrtskanal zu bauen, der die Elbe über die Schwarze Elster und die Spree mit der Oder verbinden sollte. Dieser war für Lastschiffe bis zu 1000 Tonnen, einer Länge von 80 Metern, einer Breite von 9,2 Metern und einem Tiefgang von 1,75 bis 2,00 Meter und darüber vorgesehen. In den in Erwägung gezogenen Varianten sollten auch Abschnitte des Elsterwerda-Grödel-Floßkanals und das Gebiet des Schradens mit einbezogen werden. Zwar wurde im Januar 1928 in Senftenberg, dessen Braunkohlenrevier vom Kanal mit am meisten profitiert hätte, ein Kanalbauamt eingerichtet, der Bau des Schifffahrtsweges kam aber letztlich nicht zustande und die Projekte kamen über das Planungsstadium bis zum Zweiten Weltkrieg nicht hinaus.
=== Das Ende als Verkehrsweg und der wirtschaftlichen Nutzung ===
Anfang der 1930er Jahre war das Stahlwerk so weit angewachsen, dass es notwendig wurde, seine Produktionsstätten über den Kanal hinweg zu erweitern. Deshalb wurde der ohnehin kaum genutzte Kanal im Werksbereich im Zeitraum 1934/35 kurzerhand verfüllt. In den Jahren 1940/41 erfolgte dies abermals. Und der letzte Lastkahn passierte den Kanal kurze Zeit später am 24. Juli 1942.
Damit endete die Nutzung als Verkehrsweg. Fortan führte er hauptsächlich den am Kanal gelegenen Industriebetrieben Wasser zu. Zwar gab es in den 1950er Jahren noch einmal sehr konkrete Pläne, einen Schifffahrtsweg unter Nutzung des Floßkanals bis zur Elbe zu errichten, die unter anderem auch vorsahen, am Gröditzer Stahlwerk einen Hafen anzulegen, jedoch wurde auch dieses Projekt zu den Akten gelegt.
Zur bisher letzten stärkeren Nutzung des Kanals kam es ab Ende der 1960er Jahre. Mit der Intensivierung der Landwirtschaft auf dem Gebiet der damaligen DDR diente der Kanal von der Elbe bis zum an der Kleinen Röder gelegenen Wehr noch einmal zur Bewässerung der angrenzenden Felder und Wiesen. Vom Kanal aus wurde das Wasser über riesige Beregnungsanlagen auf die umliegenden Felder ausgebracht. Die Rohrsysteme hatten insgesamt eine Länge von über 178 Kilometer. Gespeist wurden diese über am Kanal errichtete Pumpstationen. Über ein Grabensystem kam das Wasser außerdem bis in das westlich von Gröditz gelegene Spansberg, wo sich neben einem Speicherbecken weitere Pumpstationen befanden. In Grödel wurde das Wasser mit einer auf der Elbe schwimmenden, aus ungarischer Produktion stammender Pumpstation in das Bassin des Kanals gehoben. Es konnten bis zu 2,4 Kubikmeter pro Sekunde gefördert werden. Insgesamt wurden 5176 Hektar beregnet. 1989 wurden 6,2 Millionen Kubikmeter Wasser der Elbe entnommen; die maximale Tagesleistung betrug 113.200 Kubikmeter.Mit dem wirtschaftlichen Umbruch in der Wendezeit fand am Anfang der 1990er Jahre auch diese Nutzung ein Ende, denn die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften lösten sich auf und für den mit hohem Aufwand an Arbeitskräften verbundenen Betrieb der riesigen Anlage fand sich kein Betreiber mehr.
=== Auswirkungen des Kanalbaus auf die Region ===
Der Bau des Kanals verbesserte die Verkehrsanbindung der Region erheblich. Auch wenn das Projekt ursprünglich kaum dafür gedacht war und es in sommerlichen Trockenzeiten des Öfteren Streit um das dann knappe Wasser der Röder gab, so profitierten doch am Ende auch die Anliegergemeinden und die gesamte Region. Denn für die Bewirtschaftung des Kanals wurden Arbeitskräfte benötigt und größere Mengen Material oder Kaufmannsgut konnten durch den nun vorhandenen Wasserweg schnell und einigermaßen kostengünstig transportiert werden. Von der Bevölkerung wurde der Kanal bald als Fischgewässer genutzt. Nachdem die Transporte auf dem Kanal zurückgegangen waren, wurde eine Fischereigenossenschaft gegründet, die ihn streckenweise parzellierte und verpachtete. Darüber hinaus diente er unter anderem auch noch als Pferdeschwemme, zur Eisernte und als Badestelle.In Gröditz leitete die Anlage des Floßkanals die industrielle Entwicklung des Ortes ein. Die vormals nur aus einigen Häusern bestehende Gemeinde wuchs wie auch einige umliegende Gemeinden in erster Linie durch das sich hier ansiedelnde Stahlwerk, was weitere Industrieansiedlungen nach sich zog. Besaß Gröditz im Jahre 1836 erst 150 Einwohner, so waren es kurz vor der Errichtung der Eisenbahnstrecke Elsterwerda–Riesa schon 545. Das Wachstum der Gemeinde hielt weiter an und sie erhielt schließlich im Jahre 1967 das Stadtrecht. Für das darauf folgende Jahr 1968 sind in Gröditz 8100 Einwohner verzeichnet und die Bevölkerungszahl wuchs weiter bis zum Ende der 1980er Jahre bis auf über 10.000 Einwohner.Nach dem Kanalbau entstanden der Ort Langenberg und der Ort Marksiedlitz wieder, welcher zuvor wüst gefallen war.
== Die historische Infrastruktur des Kanals ==
Das am Floßkanal tätige Personal, wie zum Beispiel die auf den Holzhöfen Elsterwerda und Grödel beschäftigten Holzanweiser und -verwalter, die Schleusenzieher und die Bomätscher, unterstand dem Floßmeister. Diesem wiederum waren der Oberfloßkommissar, der Oberfloßinspektor und der Floßdirektor übergeordnet. Nach der Teilung Sachsens beziehungsweise nach Inkrafttreten der neuen Kanalordnung am 1. Mai 1869 oblag die Oberaufsicht im sächsischen Abschnitt dem Wasserbauinspektor in Riesa und im preußischen Bereich dem Bauinspektor in Herzberg. Diese hatten zudem für die Einhaltung der Kanalordnung zu sorgen, die unter anderem Kanalzins, Schleusengebühren, Schiffsabmessungen festlegte.
Das Stammholz kam hauptsächlich über verschiedene Gräben, wie den Hauptfloßgraben, die Pulsnitz sowie über die Schwarze Elster durch den Schraden zunächst zum Holzhof in Elsterwerda. Hier wurde es zwischengelagert, in Scheite gespalten und auf die Kähne geladen, die anschließend bis zu ihrem Bestimmungsort, zunächst meist dem Holzhof in Grödel, getreidelt wurden. Auf dem Grödeler Holzhof wurde die Fracht abermals zwischengelagert oder auf die auf der Elbe verkehrenden Schiffe und Kähne umgeladen.Die eigens für den Holztransport gebauten Kähne wurden von einer fünfköpfigen Mannschaft, einem Steuermann und vier Schiffsziehern, auf dem Kanal getreidelt. Sie besaßen ein Fassungsvermögen von etwa 200 Raummetern Holz, waren 26 Meter lang und etwa 3,25 Meter breit. Ihr Tiefgang lag bei 0,95 Metern. Bei der späteren Nutzung des Wasserweges für Stück- und Schüttgut kamen andere Bauformen zum Einsatz, die ein Fassungsvermögen von etwa 25 Tonnen besaßen. Diese waren nur etwa 19 Meter lang. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden für die Transporte auch Motorschiffe genutzt.
Den Kanal, für dessen Betrieb eine Wassertiefe von etwa 1,50 Meter notwendig war, speisten die drei Mündungsarme der Großen Röder – die Große Röder selbst, die Kleine Röder und die Geißlitz. Die Kleine Röder mit dem höchsten Wasserspiegel unter den dreien versorgte die Scheitelhaltung des Kanals.
Im nördlichen Teil übernahm diese Funktion zunächst auch die Pulsnitz, was allerdings weitere Probleme bei der Entwässerung der ohnehin schon sumpfigen Pulsnitzniederung im Schraden bereitete, so dass hier bald die Errichtung einer vierten Schleuse notwendig wurde. Diese Probleme gab es auch in dem Bereich, in dem der Kanal die Röder kreuzte. Hier behalf man sich ursprünglich mit drei Entwässerungsgräben für das Gelände, die mittels Düker unter dem Kanal hindurch geführt wurden, so dass keine Pumpen erforderlich waren.Die Höhenunterschiede zwischen der Pulsnitz beziehungsweise der Schwarzen Elster und der Elbe wurden zunächst mittels dreier in Holzbauweise errichteter Kammerschleusen überwunden, der Schleuse Prösen (2,80 m), der Schleuse Gröditz (2,25 m) und der Schleuse Pulsen (0,65 m) angelegt wurden. Infolge der andauernden Probleme an der Schleuse in Prösen wurde diese 1755 in Stein ausgeführt und in den Jahren 1766/67 abermals erneuert. Eine vierte Schleuse, die Schleuse Elsterwerda kam 1766 hinzu. Die Kammerschleusen besaßen eine nutzbare Länge von 42,70 Meter. Sie waren 8,70 Meter breit, die Schleusenöffnungen an beiden Seiten 5,70 Meter. Eine Schleusung dauerte in der Regel 12 Minuten.Ursprünglich war geplant, den Kanal mittels einer Doppelschleuse zur Elbe hin anzubinden, so dass die Kanalkähne als Kähne auf der Elbe hätten weiterfahren können. Gegner der Strecke Prieschka–Stehla hatten unter anderem befürchtet, dass die Schleusen bei den regelmäßig auftretenden Überschwemmungen des Flusses stark in Mitleidenschaft gezogen würden. Tatsächlich trat an der Baustelle in Grödel das vorhergesagte Problem auf. Ungewöhnlich starke Eisfahrten und ein Dammbruch bei Nünchritz richteten in der Erbauungszeit große Schäden an und sorgten für Mehrkosten. Letztlich erschienen die bautechnischen Schwierigkeiten derart gravierend, dass man den Schleusenbau nicht ausführte; stattdessen legte man unmittelbar an der Elbe ein Bassin an.
== Gegenwärtige Nutzung zu Naherholungszwecken ==
Der Floßkanal besitzt seit 1978 den Status eines Baudenkmals. Wasserwirtschaftlich ist er kaum noch von Bedeutung. Er dient heute meist der Naherholung und als Angelgewässer. Für die Gewässerunterhaltung des Kanals ist in Sachsen die Flussmeisterei Riesa verantwortlich, die im Bereich der Pulsener Schleuse auch einen Betriebshof unterhält. Hier ist er ein Gewässer I. Ordnung. In Brandenburg, wo er zur II. Ordnung gehört, ist der Gewässerverband Kleine Elster – Pulsnitz zuständig.Auf dem Gelände des Elsterwerdaer Holzhofes befindet sich inzwischen die traditionsreichste Sportstätte der Kleinstadt. Nachdem er bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum beliebten Ausflugsziel wurde, entstanden hier im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts mehrere Sportanlagen, die in der Folgezeit umfangreich erweitert und ausgebaut wurden.Um einen historischen Einblick in die Geschichte des Kanals zu erhalten, wurden 1993 an der Schleuse in Prösen Rekonstruktionsarbeiten durchgeführt und die hölzernen Schleusentore wieder errichtet. Sie waren zuvor wie bei allen anderen schon lange nicht mehr vorhanden. In unmittelbarer Nähe lag einst das 1954 wegen Baufälligkeit abgerissene Prösener Schleusenwärterhaus. An seinem ursprünglichen Standort befindet sich heute eine gastronomische Einrichtung. 2001 entstand deshalb unweit der Schleuse der Nachbau des hiesigen Schleusenwärterhäuschens, in dessen Nachbarschaft für längere Zeit eine Ausstellung zur Historie des „Floßkanals“ mit zwei Nachbauten der hier verkehrenden Lastkähne sowie einigen Schautafeln zu sehen war.
Parallel zum Kanal verlaufen mehrere streckenweise unterbrochene Radwege, zum Teil auf dem Damm. Touristisch erschlossen sind die Wege mit der Floßkanalroute, einem Radwanderweg, der den Elberadweg von Grödel aus mit dem Schwarze-Elster-Radweg verbindet. Auf einigen Uferkilometern des Gewässers ist noch der frühere Treidelpfad zu erkennen. Weitere noch wahrnehmbare Relikte der Kanalgeschichte sind verbreiterte Teilstücke für die Begegnung von Kähnen, die Überreste der Schleusen in Elsterwerda und Pulsen sowie in Grödel zwei Gewölbebrücken aus der Entstehungszeit des Kanals. Stellenweise sind auch noch die Fundamente der einst am Kanal entlangführenden Überlandleitung zu sehen, die als erste Hochspannungsleitung mit einer Betriebsspannung von über 100 kV in Europa gilt. An der sächsisch-brandenburgischen Grenze steht ein historischer Grenzstein.
Weitere Sehenswürdigkeiten in der Umgebung sind unter anderem das Elsterwerdaer Schloss, die Koselitzer Teiche, der Barockgarten Tiefenau mit einer erhaltenen Schlosskirche und der Gutspark in Grödel. Außerdem sind bei Glaubitz, Streumen und Zeithain vier landschaftsprägende Obelisken aus Sandstein erhalten geblieben, die im 18. Jahrhundert das Terrain des Zeithainer Lustlagers markierten.
== Siehe auch ==
Liste der Kulturdenkmale des Grödel-Elsterwerdaer Floßkanals
== Veröffentlichungen und Medien ==
=== Literatur (Auswahl) ===
Arbeitsgemeinschaft für Heimatkunde e. V. Bad Liebenwerda (Hrsg.): Heimatkalender-Für das Land zwischen Elbe und Elster. Nr. 54, Gräser Verlag, Großenhain 2001, ISBN 3-932913-22-1 (Beitrag von Werner Galle und Ottmar Gottschlich: Der Elsterwerdaer Holzhof, S. 83–88)
Herbert Flügel: Zur Baugeschichte des Floßkanals Elsterwerda – Grödel in: Sächsische Heimatblätter, Heft 2/1987, S. 72–77
Heimatverein Elsterwerda und Umgebung e. V., Heimatverein zur Erforschung der sächsischen Stahlwerke-Gröditzer Stahlwerke GmbH (Hrsg.): 250 Jahre Floßkanal Grödel-Elsterwerda 1748–1998, Lampertswalde 1997.
Institut für Länderkunde Leipzig, Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (Hrsg.): Der Schraden. Eine landeskundliche Bestandsaufnahme im Raum Elsterwerda, Lauchhammer, Hirschfeld und Ortrand, Landschaften in Deutschland – Werte der deutschen Heimat Bd. 63, Böhlau, Köln u. a. 2001, ISBN 3-412-10900-2.
Eberhard Matthes, Werner Galle: Elsterwerda in alten Ansichten. 2. Aufl., Europäische Bibliothek, Zaltbommel (Niederlande) 1993, ISBN 90-288-5344-8
Gerhard Richter: 250 Jahre Floßkanal Grödel–Elsterwerda in: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz e. V., Heft 3/1997, S. 49–54.
Günter Krieg: Streifzüge durch die Niederlausitz und das Elbe-Elsterland., Band 19. Der Grödel-Elsterwerdaer-Floßkanal zwischen Elbe und Elster. Selbstverlag Günter Krieg, Doberlug-Kirchhain 2003, DNB 978790715.
=== Dokumentationen (Film) ===
Hans-Georg Wosseng: Die Regenmacher von Wülknitz – Leute verändern ihr Land – das Land verändert seine Leute, Fernsehdokumentation im Auftrag des DFF über das Meliorationsobjekt im Riesaer Kanalgebiet, Produktion: DEFA-Studio für Kurzfilme, Babelsberg, 1977
== Weblinks ==
Eintrag zur Denkmalobjektnummer 09135504 in der Denkmaldatenbank des Landes Brandenburg
Internetauftritt des Elbe-Röder-Dreieck e. V, Verein zur Förderung der regionalen Entwicklung in der Region Elbe-Röder-Dreieck.
Internetauftritt der Stadt Elsterwerda
Internetauftritt der Gemeinde Röderland
== Fußnoten und Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Elsterwerda-Gr%C3%B6del-Flo%C3%9Fkanal
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Enigma-M4
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= Enigma-M4 =
Die Enigma-M4 (auch Schlüssel M genannt, genauer Schlüssel M Form M4) ist eine Rotor-Schlüsselmaschine, die im Zweiten Weltkrieg ab dem 1. Februar 1942 im Nachrichtenverkehr der deutschen Kriegsmarine zur geheimen Kommunikation zwischen dem Befehlshaber der U‑Boote (BdU) und den im Atlantik operierenden deutschen U‑Booten verwendet wurde.Im Gegensatz zur vorher verwendeten Enigma‑M3 sowie der von Heer und Luftwaffe eingesetzten Enigma I und der von den deutschen Geheimdiensten verwendeten Enigma‑G zeichnet sich die Enigma‑M4 durch vier Walzen (außer der Eintritts- und der Umkehrwalze) aus. Damit ist ihre Verschlüsselung kryptographisch deutlich stärker als die der übrigen Enigma-Varianten mit nur drei Rotoren und konnte deshalb durch die Alliierten lange Zeit nicht gebrochen werden.
== Vorgeschichte ==
Alle Teile der deutschen Wehrmacht setzten zur Verschlüsselung ihrer geheimen Nachrichten die Rotor-Chiffriermaschine Enigma ein. Allerdings kamen unterschiedliche Modelle zum Einsatz. Während Heer und Luftwaffe fast ausschließlich die Enigma I benutzten, gab es für die Marine unterschiedliche Modellvarianten der Enigma‑M, die diese zumeist als „Schlüssel M“ bezeichnete. Der Hauptunterschied bestand in der Verwendung von mehr Walzen als bei der Enigma I, bei der drei Walzen aus einem Sortiment von fünf ausgewählt werden konnten. Dies ergab 5·4·3 = 60 mögliche Walzenlagen der Enigma I.
Die Enigma‑M1 hingegen verfügte über ein Sortiment von sechs unterschiedlichen Walzen (gekennzeichnet mit den römischen Zahlen I bis VI), von denen drei in die Maschine eingesetzt wurden. Dies erhöhte die kombinatorische Komplexität auf 6·5·4 = 120 mögliche Walzenlagen. Bei der Enigma‑M2 war das Walzensortiment um eine weitere vergrößert worden, so dass nun 7·6·5 = 210 Walzenlagen möglich waren. Und bei der Enigma‑M3, die zu Beginn des Krieges von der Marine verwendet wurde, waren es acht Walzen, von denen drei eingesetzt wurden. Damit verfügte die M3 über 8·7·6 = 336 mögliche Walzenlagen. Während bei den Modellen M1 bis M3 immer nur drei Walzen in der Maschine zum Einsatz kamen, waren es bei der M4 vier Walzen, die sich nebeneinander in der Maschine befanden. Dies erhöhte die kryptographische Sicherheit der M4 im Vergleich zu ihren Vorgängermodellen ganz erheblich.
Die Bedienung wurde in der Marine-Dienstvorschrift M.Dv.Nr. 32/1 mit dem Titel „Der Schlüssel M – Verfahren M Allgemein“. Hierin wurde die bei der Enigma‑M4 zur Anwendung kommende Schlüsselprozedur genau definiert.
Ein besonders wichtiger Bestandteil des Schlüsselverfahrens, neben der korrekten Bedienung, war die Vereinbarung eines gemeinsamen kryptologischen Schlüssels. Wie bei allen symmetrischen Kryptosystemen, mussten auch bei der Enigma der Sender und der Empfänger einer verschlüsselten Geheimnachricht nicht nur über die gleiche Maschine verfügen, sondern diese auch identisch zueinander einstellen. Dazu wurden vorab geheime Schlüsseltafeln an alle befugten Teilnehmer verteilt. Um die Sicherheit innerhalb einer so großen Organisation wie der Kriegsmarine zu gewährleisten, gab es, wie auch bei Heer und Luftwaffe, viele unterschiedliche Schlüsselnetze, beispielsweise Aegir für Überwasserkriegsschiffe und Hilfskreuzer in Übersee, Hydra für Kriegsschiffe in Küstennähe, Medusa für U‑Boote im Mittelmeer, Neptun für Schlachtschiffe und Schwere Kreuzer und Triton für die Atlantik-U‑Boote. Es gab noch weitere Schlüsselnetze. Bei allen setzte die Kriegsmarine zunächst ausschließlich die Enigma‑M3 ein.
Bald wurde jedoch die Notwendigkeit erkannt, für die auf Hoher See operierenden Einheiten ein separates, besonders gesichertes Schlüsselnetz zu bilden. Im Oktober 1941 wurde mit Schreiben des Oberkommandos der Kriegsmarine (OKM) an den Befehlshaber der Schlachtschiffe die „Schlüsseltafel Neptun“ als neuer Schlüssel eingeführt und hierzu die Verwendung der Enigma‑M4 befohlen. Dies geschah bereits vier Monate vor Indienststellung der M4 für die U‑Boote. Das Schlüsselnetz Neptun wurde im Gegensatz zu Triton zu damaliger Zeit nicht gebrochen.
== Aufbau ==
Der Aufbau der Enigma‑M4 weist im Vergleich zu dem der Enigma I einige Besonderheiten auf. Der wichtigste Unterschied ist der Einsatz von vier Walzen (Rotoren) gegenüber nur drei bei den anderen Modellen. Die vier Walzen wurden aus einem Sortiment von insgesamt acht plus zwei Walzen ausgewählt. Dabei musste zwischen den auch bei der Enigma I verwendeten Walzen I bis V sowie den von der Enigma‑M3 bekannten Walzen VI bis VIII und den speziell für die Enigma‑M4 neu konstruierten beiden Walzen unterschieden werden, die eine geringere Dicke als die anderen aufwiesen und daher als „dünne“ Walzen bezeichnet wurden.
Technischer Grund für die Anfertigung von dünnen Walzen war der Wunsch der Marine, das gleiche Gehäuse wie Enigma I und Enigma‑M3 weiter verwenden zu können. Dazu musste der Platz, den bisher eine (dicke) Umkehrwalze einnahm, nun durch eine dünne Umkehrwalze und eine der neu hinzugekommenen dünnen vierten Walzen genutzt werden. Statt mit römischen Zahlen wurden die dünnen Walzen mit griechischen Buchstaben, nämlich „β“ (Beta) und „γ“ (Gamma) gekennzeichnet. Sie konnten zwar manuell jeweils in eine von 26 Drehstellungen gedreht werden, im Gegensatz zu den Walzen I bis VIII drehten sie sich während des Verschlüsselungsvorgangs jedoch nicht weiter.
Das Verdrahtungsschema der Eintrittswalze und der acht rotierenden Walzen (I bis VIII) der Enigma‑M4 war identisch zur Enigma I und M3. Besonders waren die beiden nicht rotierenden dünnen Walzen „Beta“ und „Gamma“ und die beiden ebenfalls dünnen Umkehrwalzen (UKW) „Bruno“ und „Cäsar“.
Die Verdrahtung der beiden dünnen Walzen und der Umkehrwalzen war so überlegt, dass die Kombination der Umkehrwalze (UKW) mit der dazu „passenden“ Walze (das heißt Bruno mit Beta beziehungsweise Cäsar mit Gamma) genau dieselbe involutorische Zeichenpermutation ergibt wie die Umkehrwalzen B und C (dick) der Enigma I und der Enigma‑M3 allein. Dies diente der Abwärtskompatibilität zu den früheren Systemen. Voraussetzung dafür war lediglich, dass der Spruchschlüssel von den U‑Booten so gewählt wurde, dass er mit „A“ begann. Dann befand sich die linke Walze in genau der Stellung, in der sie zusammen mit der passenden UKW so wirkte wie die entsprechende UKW der anderen Enigma-Modelle.
Tasten und Lampen waren wie seit dem Model-D in einer der QWERTZU ähnlichen Belegung angeordnet. Nur die Buchstaben P und L waren abweichend zu QWERTZU an die Ränder der unterste Reihe verschoben.
Im Unterschied zu anderen Modellen wie z. B. dem Model-D, Model-K oder dem Model-T gab es auf der Tastatur keine Unterstützung für Ziffern.
Sonderzeichen (wie etwa beim Model-G) waren auch nicht vorgesehen.
Die Marine verwendete zur Datenkompression Signalgruppen (vier Buchstaben) und Spruchphrasen aus Codebüchern wie dem Kurzsignalheften und dem Wetterkurzschlüssel, die rein aus Buchstaben bestanden.
== Bedienung ==
Zur vollständigen Einstellung des Schlüssels unterschied die Marine zwischen „äußeren“ und „inneren“ Schlüsselteilen. Zum inneren Schlüssel zählte die Auswahl der Walzen, die Walzenlage und die Ringstellung. Die inneren Schlüsseleinstellungen durften nur durch einen Offizier vorgenommen werden, der dazu das Gehäuse öffnete, die Walzen entsprechend auswählte, einrichtete und anordnete. Danach schloss er die Enigma wieder und übergab sie dem Funkmaat.
Aufgabe des Funkers war es, die äußeren Schlüsseleinstellungen vorzunehmen, also die zehn Steckerpaare dem Tagesschlüssel entsprechend in das Steckerbrett an der Frontplatte der M4 einzustecken, die Frontklappe zu schließen und danach die vier Walzen in die richtige Anfangsstellung zu drehen. Während die inneren Einstellungen nur alle zwei Tage verändert wurden, mussten die äußeren jeden Tag gewechselt werden. Der Schlüsselwechsel passierte auch auf hoher See um 12:00 D.G.Z. („Deutsche gesetzliche Zeit“), also beispielsweise bei U‑Booten, die gerade vor der amerikanischen Ostküste operierten, am frühen Morgen.
Die befohlenen Schlüssel waren auf damals streng geheimen „Schlüsseltafeln“ verzeichnet. Auch hierbei wurde zwischen inneren und äußeren Einstellungen unterschieden. Die für den Offizier bestimmte Schlüsseltafel mit den inneren Einstellungen hatte etwa folgendes Aussehen:
Schlüssel M " T r i t o n "
---------------------------
Monat: J u n i 1945 Prüfnummer: 123
------ ----------------
Geheime Kommandosache!
----------------------
Schlüsseltafel M-Allgemein
---------------------------
(Schl.T. M Allg.)
Innere Einstellung
------------------
Wechsel 1200 Uhr D.G.Z.
--------------------------
----------------------------------------------
|Monats- | |
| tag | Innere Einstellung |
----------------------------------------------
| 29. |B Beta VII IV V |
| | A G N O |
----------------------------------------------
| 27. |B Beta II I VIII |
| | A T Y F |
----------------------------------------------
| 25. |B Beta V VI I |
| | A M Q T |
----------------------------------------------
Oben sind beispielhaft nur wenige Monatstage dargestellt, wobei, wie damals üblich, die Tage absteigend sortiert sind. So kann man leicht die „verbrauchten“ Codes der vergangenen Tage abschneiden und vernichten. Ähnlich strukturiert war die andere Schlüsseltafel, die die äußeren Schlüsselteile verzeichnete.
Beispiel für den 27. Juni 1945: Innere Einstellung "B Beta II I VIII" bedeutet, der Offizier hatte zuerst als Umkehrwalze die Walze B (dünn) zu wählen. Danach musste er die nichtrotierende Griechenwalze Beta auf Ringstellung A bringen, Walze II auf Ringstellung T, Walze I auf Ringstellung Y und schließlich Walze VIII ganz rechts (als schneller Rotor) auf Ringstellung F einstellen und die Walzen in der Reihenfolge von links nach rechts einsetzen.
Mit etwas Gefühl konnte die Ringstellung auch an eingebauten Walzen vorgenommen werden.
Der Offizier sperrte den Walzendeckel ab und übergab die M4 nun an den Verschlüsseler, der die äußeren Einstellungen anhand eigener Unterlagen vornahm.
Schlüssel M " T r i t o n "
---------------------------
Monat: J u n i 1945 Prüfnummer: 123
------ ----------------
Geheime Kommandosache!
----------------------
Schlüsseltafel M-Allgemein
---------------------------
(Schl.T. M Allg.)
Äußere Einstellung
------------------
Wechsel 1200 Uhr D.G.Z.
--------------------------
----------------------------------------------------------------------
| Mo- | | Grund- |
| nats-| S t e c k e r v e r b i n d u n g e n | stel- |
| tag | | lung |
----------------------------------------------------------------------
| 30. |18/26 17/4 21/6 3/16 19/14 22/7 8/1 12/25 5/9 10/15 |H F K D |
| 29. |20/13 2/3 10/4 21/24 12/1 6/5 16/18 15/8 7/11 23/26 |O M S R |
| 28. |9/14 4/5 18/24 3/16 20/26 23/21 12/19 13/2 22/6 1/8 |E Y D X |
| 27. |16/2 25/21 6/20 9/17 22/1 15/4 18/26 8/23 3/14 5/19 |T C X K |
| 26. |20/13 26/11 3/4 7/24 14/9 16/10 8/17 12/5 2/6 15/23 |Y S R B |
Der Funkmaat musste die an der Frontplatte angebrachten doppelpoligen Steckbuchsen mit entsprechenden doppelpoligen Kabeln beschalten. In der Regel wurden genau zehn Kabel eingesteckt. Sechs Buchstaben blieben „ungesteckert“. Die Steckerverbindungen wurden bei der Marine (im Gegensatz zu den anderen Wehrmachtteilen) numerisch und nicht alphabetisch verzeichnet. In der dazugehörigen geheimen Marine-Dienstvorschrift M.Dv.Nr. 32/1 mit dem Titel „Der Schlüssel M – Verfahren M Allgemein“ war als Hilfe für den Bediener eine Umsetzungstabelle angegeben.
Nun musste der Schlüssler noch die vier Walzen in eine definierte Anfangsstellung drehen, und die Enigma‑M4 war zur Verschlüsselung oder auch Entschlüsselung von Funksprüchen bereit.
== Schlüsselraum ==
Die Größe des Schlüsselraums der Enigma‑M4 lässt sich aus den vier einzelnen Teilschlüsseln sowie der Anzahl der jeweils möglichen unterschiedlichen Schlüsseleinstellungen berechnen. Der gesamte Schlüsselraum der Enigma‑M4 ergibt sich aus den folgenden vier Faktoren:
a) die Walzenlage
Drei von acht Walzen für die rechten drei Plätze werden ausgewählt. Dazu eine von zwei Griechenwalzen für den linken Platz und eine von zwei Umkehrwalzen ganz links. Das ergibt 2·2·(8·7·6) = 1344 mögliche Walzenlagen (entspricht einer „Schlüssellänge“ von etwa 10 bit).
b) die Ringstellung
Es gibt jeweils 26 verschiedene Ringstellungen für die beiden rechten Walzen. Die Ringe der beiden linken Walzen tragen nicht zur Vergrößerung des Schlüsselraums bei, da die Griechenwalze nicht fortgeschaltet wird. Insgesamt sind 26² = 676 Ringstellungen (entspricht etwa 9 bit) relevant.
c) die Walzenstellung
Es gibt für jede der vier Walzen 26 unterschiedliche Walzenstellungen. (Die Umkehrwalze kann nicht verstellt werden.) Insgesamt sind somit 264 = 456.976 Walzenstellungen verfügbar (entspricht knapp 19 bit). Setzt man die Ringstellung als bekannt voraus, so sind davon aufgrund einer unwichtigen Anomalie des Fortschaltmechanismus (siehe auch: Anomalie) 26³ = 17.576 Anfangsstellungen als kryptographisch redundant zu eliminieren. Als relevant übrig bleiben dann 26·26·25·26 = 439.400 Walzenstellungen (entspricht ebenfalls etwa 19 bit).
d) die Steckerverbindungen
Es können bis zu maximal 13 Steckerverbindungen zwischen den 26 Buchstaben durchgeführt werden. Ausgehend vom Fall des leeren Steckerbretts (in der unteren Tabelle als Nummer Null berücksichtigt) gibt es für die erste Verbindung 26 Auswahlmöglichkeiten für das eine Steckerende und dann noch 25 für das andere Ende des Kabels. Somit gibt es für das erste Kabel 26·25 unterschiedliche Möglichkeiten es einzustecken. Da es aber keine Rolle spielt, in welcher Reihenfolge die beiden Kabelenden gesteckt werden, entfallen davon die Hälfte der Möglichkeiten. Es bleiben also 26·25/2 = 325 Möglichkeiten für die erste Verbindung. Für die zweite erhält man analog 24·23/2 = 276 Möglichkeiten. Allgemein gibt es (26-2n+2)·(26-2n+1)/2 Möglichkeiten für die n-te Steckerverbindung (siehe auch: Gaußsche Summenformel).Die Gesamtzahl der möglichen Steckkombinationen bei Verwendung von mehreren Steckern ergibt sich aus dem Produkt der Möglichkeiten für die einzelnen Steckerverbindungen. Da aber auch hier die Reihenfolge der Durchführung keine Rolle spielt (es ist kryptographisch gleichwertig, wenn beispielsweise zuerst A mit X gesteckert wird und danach B mit Y oder umgekehrt zuerst B mit Y und dann A mit X), dürfen die entsprechenden Fälle nicht als Schlüsselkombinationen berücksichtigt werden. Dies sind bei zwei Steckerverbindungen genau die Hälfte der Fälle. Das vorher ermittelte Produkt ist also durch 2 zu dividieren. Bei drei Steckerverbindungen gibt es 6 mögliche Reihenfolgen für die Durchführung der Steckungen, die alle sechs kryptographisch gleichwertig sind. Das Produkt ist also durch 6 zu dividieren. Im allgemeinen Fall, bei n Steckerverbindungen, ist das Produkt der vorher ermittelten Möglichkeiten durch n! (Fakultät) zu dividieren. Die Anzahl der Möglichkeiten für genau n Steckerverbindungen ergibt sich als
1
n
!
∏
i
=
1
n
(
26
−
2
i
+
2
)
(
26
−
2
i
+
1
)
2
=
26
!
2
n
⋅
n
!
⋅
(
26
−
2
n
)
!
{\displaystyle {\frac {1}{n!}}\prod _{i=1}^{n}{\frac {(26-2i+2)(26-2i+1)}{2}}\;=\;{\frac {26!}{2^{n}\cdot n!\cdot (26-2n)!}}}
Bei der M4 waren genau zehn Steckerverbindungen durchzuführen. Für diese ergeben sich nach der obigen Tabelle 150.738.274.937.250 (mehr als 150 Billionen) Steckmöglichkeiten (entspricht etwa 47 bit).
Der gesamte Schlüsselraum einer Enigma‑M4 mit drei aus einem Vorrat von acht ausgewählten Walzen, einer von zwei Griechenwalzen und einer von zwei Umkehrwalzen sowie bei Verwendung von zehn Steckern lässt sich aus dem Produkt der in den obigen Abschnitten a) bis d) ermittelten 1344 Walzenlagen, 676 Ringstellungen, 439.400 Walzenstellungen und 150.738.274.937.250 Steckermöglichkeiten berechnen. Er beträgt:
1344 · 676 · 439.400 · 150.738.274.937.250 = 60.176.864.903.260.346.841.600.000Das sind mehr als 6·1025 Möglichkeiten und entspricht einer Schlüssellänge von fast 86 bit.
Der Schlüsselraum ist riesig groß. Wie allerdings im Hauptartikel über die Enigma ausführlicher erläutert wird, ist die Größe des Schlüsselraums jedoch nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Sicherheit eines kryptographischen Verfahrens. Selbst eine so simple Methode wie eine einfache monoalphabetische Substitution verfügt (bei Verwendung von 26 Buchstaben wie die M4) über einen Schlüsselraum von 26! (Fakultät), das ist grob 4·1026 und entspricht ungefähr 88 bit und ist somit sogar noch etwas größer als bei der Enigma‑M4. Dennoch ist eine monoalphabetische Substitution sehr unsicher und kann leicht gebrochen (entziffert) werden.
== Entzifferung ==
Britische Kryptoanalytiker arbeiteten seit Ausbruch des Krieges im etwa 70 km nordwestlich von London gelegenen Bletchley Park an der Entzifferung der Enigma.
Das wichtigste Hilfsmittel dabei war eine spezielle elektromechanische Maschine, genannt die Turing-Bombe, die vom englischen Mathematiker Alan Turing ersonnen worden war, und mit der die jeweils gültigen Tagesschlüssel ermittelt werden konnten. Hierzu wurden „wahrscheinliche Wörter“ benötigt, also Textpassagen, die im zu entziffernden Klartext auftauchen. Die Kryptoanalytiker profitierten von der deutschen Gründlichkeit bei der Abfassung von Routinemeldungen, wie Wetterberichten, mit wiederkehrenden Mustern, welche zur Entzifferung genutzt werden konnten. Mithilfe der Turing-Bombe gelang es ab Januar 1940 zunächst die von der Luftwaffe und später auch die vom Heer verschlüsselten Funksprüche zu entziffern.Die Verschlüsselungsverfahren der Kriegsmarine, also der „Schlüssel M“, zeigte sich deutlich widerstandsfähiger gegenüber den Entzifferungsversuchen. Schon die Enigma‑M3, mit ihren nur drei (und noch nicht vier) Walzen, war schwieriger zu brechen als die von Luftwaffe und Heer benutzte Enigma I. Dies lag außer an der Verwendung eines größeren Walzensortiments (acht statt nur fünf zur Auswahl) ganz wesentlich auch an einem besonders ausgeklügelten Verfahren zur Spruchschlüsselvereinbarung, das die Marine benutzte. Den britischen Codeknackern gelang der Einbruch in den Schlüssel M erst im Mai 1941 nach Kaperung des deutschen U‑Boots U 110 mitsamt einer intakten M3-Maschine und sämtlicher Geheimdokumente (Codebücher) inklusive der wichtigen Doppelbuchstabentauschtafeln durch den britischen Zerstörer Bulldog (Bild) am 9. Mai 1941.Eine besonders schmerzliche Unterbrechung („Black-out“) für die Briten gab es dann, als am 1. Februar 1942 die M3 bei den U‑Booten durch die M4 (mit vier Walzen) abgelöst wurde. Dieses von den Deutschen „Schlüsselnetz Triton“ und von den Engländern Shark (deutsch: „Hai“) genannte Verfahren konnte zehn Monate lang nicht gebrochen werden, eine Zeit, von den U‑Boot-Fahrern die „zweite glückliche Zeit“ genannt, in der die deutsche U‑Bootwaffe erneut große Erfolge verbuchen konnte. Der Einbruch in Shark gelang erst im Dezember 1942, nachdem der britische Zerstörer Petard am 30. Oktober 1942 im Mittelmeer das deutsche U‑Boot U 559 aufbrachte.
Ein Prisenkommando enterte U 559 und erbeutete wichtige geheime Schlüsselunterlagen wie Kurzsignalheft und Wetterkurzschlüssel, mit deren Hilfe es Bletchley Park schaffte, auch die Enigma‑M4 und Triton zu überwinden. Die Entzifferung der Nachrichten dauerte aber zunächst noch mehrere Tage, was den Informationswert schmälerte.
Ab 1943 kamen die Amerikaner zu Hilfe, die unter Federführung von Joseph Desch im United States Naval Computing Machine Laboratory (NCML), mit Sitz in der National Cash Register Company (NCR) in Dayton (Ohio), ab April 1943 mehr als 120 Stück Hochgeschwindigkeitsvarianten der britischen Bombe produzierten, die speziell gegen die M4 gerichtet waren.
Amerikanische Behörden, wie die Signal Security Agency (SSA), die Communications Supplementary Activity (CSAW), und die United States Coast Guard Unit 387 (USCG Unit 387) nahmen den Briten einen Großteil der aufwendigen täglichen Schlüsselermittlung ab und konnten Triton schnell und routinemäßig brechen. Die Briten überließen die Schlüsselermittlung der M4 nun ihren amerikanischen Verbündeten und deren schnellen Desch-Bombes. Ab September 1943 dauerte die Entzifferung von M4-Funksprüchen in der Regel weniger als 24 Stunden. Allerdings war zu beachten, dass auch wenn ein Funkspruch vollständig entziffert werden konnte, nicht immer alle Teile verständlich waren, denn Positionsangaben wurden mithilfe eines besonderen Verfahrens „überschlüsselt“ und dadurch besonders geschützt. Die Kriegsmarine hatte dazu im November 1941 das sogenannte Adressbuchverfahren eingeführt.
Am 4. Juni 1944 brachte die Kaperung von U 505 erneut aktuelles Schlüsselmaterial: Kurzsignalheft, Kenngruppenheft und vor allem das sogenannte Adressbuch.
Dies war die dringend gesuchte geheime Verfahrensvorschrift zur Überschlüsselung der U‑Boot-Standorte.
Die Ausbeute an Geheimmaterial von U 505 kam der von U 110 und U 559 gleich.Während des gesamten Krieges wurden in der Hut Eight (Baracke 8) in Bletchley Park mehr als eine Million Marine-Funksprüche entziffert.
Dies umfasst den Zeitraum ab Herbst 1941 bis zur bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945, wobei, mit Ausnahme des „Blackouts“ zwischen Februar und Dezember 1942, während der meisten Zeit die Unterbrechungsfreiheit der Entzifferung gewahrt werden konnte.
== Kriegsgeschichtliche Bedeutung ==
Die Entzifferung des M4-Funkverkehrs hatte eine enorme Bedeutung für die alliierten Fortschritte in der U‑Boot-Abwehr. Die Meldungen der Boote mit genauen Positions- und Kursangaben lieferten den Alliierten ein komplettes strategisches Lagebild. Zwar verrieten sich die U‑Boote auch schon durch das bloße Absenden von Funktelegrammen, was durch Funkpeilung wie Huff-Duff von alliierten Kriegsschiffen detektiert und lokalisiert werden konnte. Und auch Radar als Mittel zur Funkortung auf See sowie ASDIC, eine frühe Form von Sonar, zur Schallortung unter Wasser war ein weiteres wichtiges taktisches Hilfsmittel zur U‑Boot-Jagd. Aber all dies erlaubte kein so vollständiges Lagebild, wie es das „Mitlesen“ der Funksprüche erbrachte.
Unmittelbare Folge der amerikanischen Entzifferungen war die Versenkung von elf der achtzehn deutschen Versorgungs-U‑Boote („Milchkühe“) innerhalb weniger Monate im Jahr 1943.
Dies führte zu einer Schwächung aller Atlantik-U‑Boote, die nun nicht mehr auf See versorgt werden konnten, sondern dazu die lange und gefährliche Heimreise durch die Biskaya zu den U‑Boot-Stützpunkten an der französischen Westküste antreten mussten.
Insbesondere zur Durchführung der Operation Overlord, der geplanten Invasion in der Normandie, war für die alliierte Führung die Kenntnis eines möglichst umfassenden, aktuellen und natürlich korrekten Lagebildes entscheidend wichtig. Nach Kaperung von U 505 unmittelbar vor dem geplanten „D-Day“, der dann zwei Tage später am 6. Juni stattfand, befürchteten sie, dass die deutschen Schlüsselprozeduren als Folge des Bekanntwerdens der Kaperung von U 505 plötzlich geändert werden könnten. So hätte der Bruch der Enigma-Schlüssel am Tag der Invasion eventuell verhindert werden können, mit möglicherweise fatalen Konsequenzen für die Invasionstruppen. Tatsächlich blieb aber alles unverändert und so konnte der Tagesschlüssel nach gewohntem Muster mithilfe des Cribs „WETTERVORHERSAGEBISKAYA“, den die britischen Kryptoanalytiker leicht erraten konnten und korrekt vermuteten, in weniger als zwei Stunden nach Mitternacht gebrochen werden und die Invasion gelang.
Viele deutsche U‑Boot-Fahrer, allen voran der ehemalige Chef des B‑Dienstes (Beobachtungsdienst) der Kriegsmarine, waren sich noch lange nach dem Krieg sehr sicher, dass „ihre“ Vierwalzen-Schlüsselmaschine „unknackbar“ gewesen ist. Als dann Anfang der 1970er-Jahre britische Informationen bekannt wurden, die klar belegten, dass das Gegenteil der Fall war, löste dies bei den Überlebenden des U‑Boot-Kriegs einen regelrechten Schock aus, denn von den rund 40.000 deutschen U‑Boot-Fahrern waren etwa 30.000 vom Einsatz nicht heimgekehrt – die höchste Verlustrate aller deutschen Waffengattungen. Die besondere kriegsgeschichtliche Bedeutung der Enigma‑M4 und ihrer Entzifferung wird durch eine Aussage des ehemaligen britischen Premierministers Winston Churchill unterstrichen: „The only thing that really frightened me during the war was the U‑boat peril.“ (deutsch: „Das einzige, wovor ich im Krieg wirklich Angst hatte, war die U‑Boot-Gefahr.“)
== Sicherheitskontrolle ==
Aufgrund verschiedener verdächtiger Ereignisse wurden auf deutscher Seite mehrfach Untersuchungen zur Sicherheit der eigenen Maschine angestellt. Ein bezeichnendes Beispiel für die deutschen Überlegungen, Vorgehensweisen, Schlussfolgerungen und daraus abgeleiteten Maßnahmen kann einem englischsprachigen, damals als TOP SECRET „ULTRA“ eingestuften, hochgeheimen Verhörprotokoll entnommen werden, das unmittelbar nach dem Krieg, am 21. Juni 1945, vom alliierten (britisch-amerikanischen) TICOM (Target Intelligence Committee) in der Marinenachrichtenschule in Flensburg-Mürwik erstellt worden ist. Es protokolliert die Aussagen des deutschen Marineoffiziers, Lt.z.S Hans-Joachim Frowein, der von Juli bis Dezember 1944 die Aufgabe erhalten hatte, im OKM/4 Skl II (Abteilung II der Seekriegsleitung) die Sicherheit der M4 zu untersuchen. Der in diesem Zusammenhang ebenfalls verhörte führende deutsche Kryptoanalytiker Wilhelm Tranow erklärte als Grund für diese Untersuchung die extrem hohe Verlustrate, unter der die deutsche U‑Boot-Waffe insbesondere 1943 und im ersten Halbjahr 1944 zu leiden hatte. Die deutsche Marineleitung konnte sich dies nicht erklären, speziell nicht, warum U‑Boote an ganz bestimmten Positionen versenkt wurden, und stellte sich erneut die Frage: „Ist die Maschine sicher?“
Zur Klärung dieser Frage wurde Frowein ab Juli 1944 für ein halbes Jahr von Skl III an Skl II abgestellt mit dem Befehl, eine gründliche Untersuchung der Sicherheit der Vierwalzen-Enigma durchzuführen. Dazu wurden ihm zwei weitere Offiziere sowie zehn Mann zugeteilt. Sie begannen ihre Untersuchungen mit der Annahme, der Feind kenne die Maschine, inklusive aller Walzen, und ihm läge ein vermuteter Klartext (Crib) von 25 Buchstaben Länge vor. Grund für die Wahl dieser relativ geringen Crib-Länge war ihr Wissen, dass U‑Boot-Funksprüche häufig nur sehr kurz waren. Das Ergebnis ihrer Untersuchung war: Dies reicht aus, um Walzenlage und Stecker zu erschließen.
Frowein war in der Lage, den britischen Verhöroffizieren seine damaligen Überlegungen und Vorgehensweisen bei der Aufklärung der eigenen Maschine detailliert zu erläutern. Obwohl weder er noch einer seiner Mitarbeiter zuvor Erfahrungen in der Kryptanalyse von Schlüsselmaschinen gesammelt hatten, beispielsweise der kommerziellen Enigma, war ihnen innerhalb eines halben Jahres, zumindest in der Theorie, der Bruch der M4 gelungen. Die entwickelten Methodiken hatten verblüffende Ähnlichkeit mit den von den Briten in B.P. tatsächlich angewandten Verfahren, was aber Frowein natürlich nicht wusste. Wie er weiter ausführte, hatte er darüber hinaus erkannt, dass seine Einbruchsmethode allerdings empfindlich gestört wurde, falls es zu einem Fortschalten der linken oder mittleren Walze innerhalb des Cribs kam. Dann wären bei der Kryptanalyse Fallunterscheidungen nötig geworden, die den Arbeitsaufwand um den Faktor 26 erhöht hätten, was als praktisch untragbar hoch für einen möglichen Angreifer erachtet wurde.
Nach Vorlage der Ergebnisse kam die Seekriegsleitung zu dem Schluss, dass zwar die M3 und selbst die M4 theoretisch angreifbar seien, aber dies dann nicht mehr der Fall sei, wenn man dafür sorgte, dass die Walzenfortschaltung (der mittleren Walze) ausreichend häufig passierte. Im Dezember 1944 wurde daher befohlen, dass ab sofort nur noch Walzen mit zwei Übertragskerben, also eine der Walzen VI, VII oder VIII, als rechte Walze eingesetzt werden durfte. Durch diese Maßnahme wurde zwar die Anzahl der möglichen Walzenlagen halbiert (von 8·7·6 = 336 auf 8·7·3 = 168), was eine Schwächung der kombinatorischen Komplexität bedeutete, gleichzeitig allerdings die Maschine gegen die erkannte Schwäche gestärkt.
Die Kriegsmarine ließ die Untersuchungsergebnisse auch den anderen Wehrmachtteilen zukommen, die weiterhin nur die im Vergleich zur M4 kryptographisch schwächere Enigma I mit ihren lediglich drei Walzen und den daraus resultierenden nur 60 Walzenlagen verwendete. Laut Froweins Aussage im TICOM-Bericht zeigte sich die Heeresführung „erstaunt über die Ansicht der Marine, die auf dieser Untersuchung fußte“ (…the Army were astonished at the Navy’s view based on this investigation).
== Chronologie ==
Im Folgenden sind einige wichtige Zeitpunkte zur Geschichte der Enigma‑M4 aufgelistet.
Zeitpunkte zur anderen Versionen siehe Enigma (Maschine):
Legende: o Keine Entzifferung # Entzifferung gelingt
Auffällig sind die drei Lücken (o) in der Entzifferungsfähigkeit der Alliierten. Die Gründe dafür sind:
Im Oktober 1941 wurde „Triton“ als ein eigenes Schlüsselnetz nur für die U‑Boote (zunächst noch mit der M3) gebildet.
Im Februar 1942 wurde die M4 für die U‑Boote eingeführt, die erst zehn Monate später im Dezember überwunden werden konnte („zweite glückliche Zeit“).
Im März 1943 gab es eine neue Ausgabe des Wetterkurzschlüssels. Ab September 1943 wurden die M4-Funksprüche in der Regel innerhalb von 24 Stunden gebrochen.
== Authentischer Funkspruch ==
Als Beispiel dient eine Mitteilung von Kapitänleutnant Hartwig Looks, Kommandant des deutschen U‑Boots U 264, die am 19. November 1942, kurz vor Ende des Black-outs mit einer Enigma‑M4 verschlüsselt wurde. Vor der Verschlüsselung übertrug der Funker den Text in Enigma-Schreibweise, die er dann Buchstabe für Buchstabe mit der M4 verschlüsselte und schließlich den Geheimtext im Morsecode sendete. Da die Enigma nur Großbuchstaben verschlüsseln kann, wurden Zahlen ziffernweise ausgeschrieben, Satzzeichen durch „Y“ für Komma und „X“ für Punkt ersetzt, Eigennamen in „J“ eingeschlossen sowie wichtige Begriffe oder Buchstaben als Schutz vor Missverständnissen durch Übertragungsfehler verdoppelt oder verdreifacht. Außerdem war es bei der Marine üblich, den Text in Vierergruppen anzuordnen, während Heer und Luftwaffe Fünfergruppen benutzten. Kurze Funksprüche sowie die in der Praxis nahezu unvermeidlichen Schreib- und Übertragungsfehler erschweren dabei Entzifferungen, die sich auf statistische Analysen stützen.
Ausführlicher Klartext:
Von U 264 Hartwig Looks – Funktelegramm 1132/19 – Inhalt:
Bei einem Angriff durch Wasserbomben wurden wir unter Wasser gedrückt. Der letzte von uns erfasste Standort des Gegners war um 8:30 Uhr in Marinequadrat AJ 9863 (Lage), Kurs 220 Grad, Geschwindigkeit 8 Knoten. Wir stoßen nach. Wetterdaten: Luftdruck 1014 Millibar fallend. Wind aus Nord-Nord-Ost, Stärke 4. Sichtweite 10 Seemeilen.Verkürzter Klartext:
Von Looks – FT 1132/19 – Inhalt:
Bei Angriff unter Wasser gedrückt, Wabos.
Letzter Gegnerstand 0830 Uhr
Mar.-Qu. AJ 9863, 220 Grad, 8 sm. Stosse nach.
14 mb, fällt. NNO 4. Sicht 10.
Transkribierter Klartext in Vierergruppen:
vonv onjl ooks jfff ttte inse insd reiz woyy eins
neun inha ltxx beia ngri ffun terw asse rged ruec
ktyw abos xlet zter gegn erst andn ulac htdr einu
luhr marq uant onjo tane unac htse chsd reiy zwoz
wonu lgra dyac htsm ysto ssen achx eins vier mbfa
ellt ynnn nnno oovi erys icht eins null
Geheimtext (mit Schreib- und Übertragungsfehlern):
NCZW VUSX PNYM INHZ XMQX SFWX WLKJ AHSH NMCO CCAK
UQPM KCSM HKSE INJU SBLK IOSX CKUB HMLL XCSJ USRR
DVKO HULX WCCB GVLI YXEO AHXR HKKF VDRE WEZL XOBA
FGYU JQUK GRTV UKAM EURB VEKS UHHV OYHA BCJW MAKL
FKLM YFVN RIZR VVRT KOFD ANJM OLBG FFLE OPRG TFLV
RHOW OPBE KVWM UQFM PWPA RMFH AGKX IIBG
Der Geheimtext konnte am 2. Februar 2006 mit den folgenden Schlüsseleinstellungen entziffert werden:
Grundstellung und Schlüssel:
Walzenlage: UKW Bruno-Beta-II-IV-I
Ringstellung: AAAV
Stecker: AT BL DF GJ HM NW OP QY RZ VX
Spruchschlüssel: VJNA
Entzifferter Text (mit Schreib- und Übertragungsfehlern, Umbrüche und Leerzeichen für Lesbarkeit):
von von j looks j hff ttt eins eins drei zwo yy qnns neun inhalt xx
bei angriff unter wasser gedrueckt y
wabos x letzter gegnerstand nul acht drei nul uhr mar qu anton jota neun acht seyhs drei y
zwo zwo nul grad y acht sm y
stosse nach x
ekns vier mb faellt y nnn nnn ooo vier y sicht eins null
Mit 232 Zeichen (Gruppenzahl 58) ist der Text ungewöhnlich lang und verwendet weder ein Kurzsignalheft noch den Wetterkurzschlüssel.
Die Wetterangaben "Luftdruck 1014 mb fallend, Wind Nord-Nord-Ost mit 4 Bft, Sicht 10 sm" hätte ein Wetterkurzschlüssel (WKS) verkürzt zu 8 Zeichen.
hrbw apeh
statt den verwendeten 44 Zeichen
eins vier mbfa ellt ynnn nnno oovi erys icht eins null
== Literatur ==
Arthur O. Bauer: Funkpeilung als alliierte Waffe gegen deutsche U‑Boote 1939–1945. Selbstverlag, Diemen Niederlande 1997, ISBN 3-00-002142-6.
Friedrich L. Bauer: Entzifferte Geheimnisse. Methoden und Maximen der Kryptologie. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Springer, Berlin u. a. 2000, ISBN 3-540-67931-6.
Ralph Erskine, Frode Weierud: Naval Enigma – M4 and its Rotors. In: Cryptologia. Band 11, Nr. 4, 1987, S. 235–244, doi:10.1080/0161-118791862063.
Stephen Harper: Kampf um Enigma. Die Jagd auf U‑559. Mittler, Hamburg 2001, ISBN 3-8132-0737-4.
OKM: Der Schlüssel M – Verfahren M Allgemein. Berlin 1940. cryptomuseum.com (PDF; 3,3 MB)
Joachim Schröder: Folgenschwerer Fund – Der „Fall“ U 110 und die sensationelle Erbeutung der „Enigma“. In: Clausewitz – Das Magazin für Militärgeschichte, Heft 1, 2015, S. 56–61.
Hugh Sebag-Montefiore: Enigma – The battle for the code. Cassell Military Paperbacks, London 2004, ISBN 0-304-36662-5.
== Weblinks ==
Details
Enigma M4 im Crypto Museum (englisch).
Schlüssel M4 Fotogalerie und Erläuterungen zur M4 und Zubehör (englisch).
The History of Hut Eight 1939 – 1945 von A. P. Mahon (englisch).
Die verschiedenen Arten von U‑Boot-Funksprüchen (PDF, 378 kB), Auszüge aus dem Buch von Arthur O. Bauer.
The pinch from U 559, Erbeutung des Wetterkurzschlüssels und des Kurzsignalhefts (englisch).Dokumente
Der Schlüssel M (PDF; 3,3 MB), Scan der Originalvorschrift von 1940 im Crypto Museum.
Doppelbuchstabentauschtafeln Kennwort: „Quelle“.
Doppelbuchstabentauschtafeln Kennwort: „Meer“.
Doppelbuchstabentauschtafel B Kennwort: „Fluß“ (authentische Schreibweise).Entzifferungen
Breaking German Navy Ciphers, moderne Entzifferung der M4 (englisch).
M4 Message Breaking Project, moderne Entzifferung der M4 (englisch).
Allied Breaking of Naval Enigma von Ralph Erskine (englisch).Exponate
Fotos, Videos und Audios
Foto einer „Griechenwalze“ Beta (β) im Crypto Museum.
Video-Interview mit Hartwig Looks (2003) zu einem Geleitzugangriff bei YouTube (4′15″).Nachbauprojekte
Nachbau einer M4.
Nachbau einer M4 (englisch).Simulationen der M4
Windows, Enigma I, M3 und M4 realitätsnah visualisiert (englisch).
MAC OS (englisch).
RISC OS (englisch).
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Enigma-M4
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Erna Wazinski
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= Erna Wazinski =
Erna Gertrude Wazinski (* 7. September 1925 in Ihlow (Oberbarnim); † 23. November 1944 in Wolfenbüttel) war eine deutsche Rüstungsarbeiterin. Sie wurde im Alter von 19 Jahren wegen angeblicher Plünderung nach dem Bombenangriff vom 15. Oktober auf Braunschweig von einer Nachbarin denunziert und vom Sondergericht Braunschweig auf Grundlage der am 5. September 1939 erlassenen Verordnung gegen Volksschädlinge (VVO) als „Volksschädling“ zum Tode verurteilt.Erna Wazinski, die erst nach Misshandlungen durch Kriminalbeamte ein Geständnis abgelegt hatte und für die zuvor zwei Gnadengesuche gestellt worden waren, starb im Strafgefängnis Wolfenbüttel unter dem Fallbeil. Der Fall kam nach dem Krieg über einen Zeitraum von 40 Jahren mehrmals wieder vor deutsche Gerichte. 1952 milderte ein Gericht das alte Strafmaß; 1991 erging aufgrund einer neuen Zeugenaussage ein Freispruch. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege am 1. September 1998 wurden alle Urteile nach der Verordnung gegen Volksschädlinge pauschal aufgehoben.Die fast vollständig erhaltenen Prozessakten liegen heute im Staatsarchiv Wolfenbüttel.
== Leben ==
Erna war das einzige Kind von Wilhelmine Wazinski, geb. Chmielewski beziehungsweise Schmielewski, und deren späterem Ehemann, dem Invaliden Rudolph Wazinski. Ihre Eltern waren beide in Ostpreußen geboren und arbeiteten um 1925 als Landarbeiter auf brandenburgischen Gütern. Ihr Vater, 24 Jahre älter als die Mutter, ehelichte sie erst nach dem Umzug der Familie nach Essen im Ruhrgebiet im Jahre 1930. 1931 zog die Familie nach Braunschweig um, wo sie in sehr bescheidenen Verhältnissen in der Langen Straße, in einem Armeleuteviertel in der Neustadt, wohnte. Bei der Sanierung dieser alten Wohngegend ab 1936 wurden viele der kleinen und verwinkelten Fachwerkhäuser abgerissen. Die Familie zog daraufhin in das Magniviertel. Die neue Wohnung war in der Langedammstraße 14, wiederum in einem alten Fachwerkhaus. Nur wenig später verstarb am 16. Februar 1938 Rudolph Wazinski, als Erna noch keine 13 Jahre alt war. Von ihrem 12. Lebensjahr an war Erna Wazinski Mitglied im Jungmädelbund, trat aber anschließend nicht dem BDM bei. Ostern 1940 wurde sie in der Petrikirche konfirmiert.Sie besuchte zunächst wohl die Mädchenschule am Südklint nahe der Langen Straße und später, nach dem Umzug in das Magniviertel, die Axel-Schaffeld-Schule (heute Georg-Eckert-Schule), bis zum regulären Ende ihrer Schulzeit 1939. Anschließend blieb sie einige Zeit zu Hause und hatte dann verschiedene Anstellungen. Unter anderem arbeitete sie ab 1942 einige Zeit bei Otto Block, der im Erdgeschoss des Wohnhauses Langedammstraße 14 einen Mittagstisch unterhielt. Block war mehrfach vorbestraft, was das Jugendamt der Stadt Braunschweig zum Anlass nahm, Erna Wazinski im Alter von 17 Jahren der Jugendfürsorgeerziehung durch Einweisung in ein Heim zuzuführen. Im August 1942 wurde sie nach Wunstorf geschickt, wo gerade ein neu eingerichtetes Aufnahme- und Beobachtungsheim eröffnet worden war. Nachdem Erna Wazinski dort von Psychiatern als „normal gefährdet“ eingestuft worden war, wurde sie in den Birkenhof überwiesen, ein evangelisches Heim in Hannover für schulentlassene Mädchen, wo sie etwa ein Jahr bleiben musste.Nach ihrer Rückkehr nach Braunschweig im November 1943 vermittelte das Arbeitsamt Erna eine Anstellung als Hausgehilfin. Im Juli 1944 wurde ihr dann eine Stelle bei der Rüstungsfirma VIGA zugewiesen. Der in der Hamburger Straße 250 angesiedelte Tochterbetrieb der Brunsviga-Werke produzierte feinmechanische Teile für Waffen und war als kriegswichtig eingestuft. Hier arbeitete Erna Wazinski bis zu ihrer Verhaftung am 20. Oktober 1944.
=== Die Tat ===
In der Nacht auf Sonntag, den 15. Oktober 1944 hatte Erna Wazinski Nachtschicht. Gegen 1:50 Uhr gab es Fliegeralarm und kurz darauf flog die Royal Air Force einen schweren Luftangriff auf Braunschweig, der einen Feuersturm verursachte und 90 % der Innenstadt zerstörte, darunter auch das Magniviertel. Innerhalb von knapp 40 Minuten wurden etwa 12.000 Sprengbomben, 200.000 Phosphor- und Brandbomben abgeworfen. Die Brände erloschen erst nach zweieinhalb Tagen. Zusammen mit ihrer Arbeitskollegin und Freundin Gerda Körner ging Erna Wazinski, während die Innenstadt niederbrannte, mehrere Kilometer zu Fuß von der Hamburger Straße ins Magniviertel, um ihre Mutter zu suchen. Gegen 4 Uhr kamen sie bei dem zerstörten Haus an. Es war bereits das vierte Mal, dass Mutter und Tochter Wazinski ausgebombt wurden und dabei den größten Teil ihrer Habe verloren. Sie konnte ihre Mutter nicht finden, nahm aber an, sie sei bei Nachbarn in Sicherheit. Später stellte sich heraus, dass Wilhelmine Wazinski im Keller des schräg gegenüber gelegenen Hauses Langedammstraße 8 überlebt hatte.Die Nacht verbrachte Erna Wazinski bei ihrer Freundin, die in der Friedrich-Wilhelm-Straße 1 wohnte. Am Morgen des 16. Oktober, die Stadt brannte noch immer, ging sie zusammen mit ihrem Freund, dem Soldaten auf Fronturlaub Günter Wiedehöft, in die Ruine des Wohnhauses, um sofern möglich noch persönliche Gegenstände zu finden. Nachdem sie etwa zwei Stunden lang Trümmer aus dem Weg geräumt hatten, barg Erna zwei Koffer, einen Rucksack und einige Kleidungsstücke, von denen nicht klar war, wem sie gehörten. Der Gesamtwert der Fundsachen belief sich auf etwa 200 Reichsmark. Erna nahm an, es handele sich um Eigentum ihrer Mutter, wie sie gegenüber ihrem Freund angab; ein Irrtum, wie sich später herausstellte. Martha F. beziehungsweise Marina Fränke, eine Nachbarin aus dem Haus Langedammstraße 8, erstattete am 18. Oktober Anzeige gegen Unbekannt, da ihr einige Gegenstände gestohlen worden seien. Als Verdächtige gab sie Erna Wazinski an. Nach den Historikern Ludewig/Kuessner lag der Grund für die Bezichtigung darin, dass der SS-Angehörige F., ein Bekannter der Nachbarin, Erna Wazinski nachgestellt habe, weswegen die Nachbarin auf die Beschuldigte „nicht gut zu sprechen“ gewesen sei.
=== Verhaftung ===
Am Freitag, dem 20. Oktober, wollte Ernas Freund sie in ihrer Notunterkunft bei Familie Körner in der Friedrich-Wilhelm-Straße 1 besuchen, traf sie jedoch nicht an, da sie noch bei der Arbeit war. Während er wartete, erschienen zwei Kriminalbeamte, die wegen der „Anzeige gegen Unbekannt“ vom 18. Oktober ebenfalls Erna Wazinski aufsuchen wollten. Während man gemeinsam wartete, wurde Günter Wiedehöft formlos über seine Freundin verhört, wobei er detailliert das Vorgefallene, inkl. der gemeinsamen Bergungsaktion, schilderte. Als Erna eintraf, musste er den Raum verlassen und vor der Tür auf dem Flur warten, während die Polizisten mit ihr sprachen. Nach kurzer Zeit hörte Wiedehöft die lauten Stimmen der Polizisten, darunter mehrfach das Wort „Volksverräterin“, sowie lautes Klatschen von Schlägen. Als alle drei den Raum verließen und Erna abgeführt wurde, sah Wiedehöft, dass sie anscheinend Schläge ins Gesicht bekommen hatte; ihre Lippen waren geschwollen, und ihre Nase blutete.Einer der Beamten sagte im Hinausgehen zu Wiedehöft, er solle so schnell wie möglich an die Front „verduften“. Da sich der 20-jährige Soldat nun selbst ebenfalls bedroht fühlte, wandte er sich an den Vater eines Bekannten, der bei der Gestapo tätig war, und bat um Hilfe. Dieser versprach, ihn „da raus zu halten“, doch könne er „für die Verbrecherin“ nichts unternehmen. Daraufhin meldete sich Wiedehöft am 23. Oktober bei seiner Einheit zurück und kam an die Ostfront. Er kehrte erst am 20. September 1949 aus der Kriegsgefangenschaft zurück.
=== Geständnis ===
Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass Erna Wazinski während der Zeit, als sie mit den zwei Polizisten allein im Raum war, ein Geständnis abgelegt hatte, auf das sich die Anklageschrift am folgenden Tag gründete. Der Inhalt dieses erzwungenen „Geständnisses“ wich in wesentlichen Punkten vom tatsächlichen Geschehen am 16. Oktober 1944 ab und stimmte fast mit der Anzeige der Nachbarin überein. Danach habe die Beschuldigte zugegeben, in einem unzerstörten Nebengebäude, in das die Nachbarin einige Gegenstände aus ihrem Eigentum in Sicherheit gebracht habe, einen Koffer geöffnet und diesem die beschriebenen Teile entnommen zu haben. Dass ihr Freund bei der Bergung dabei gewesen war, verschwieg Erna Wazinski. Auch wurden seine Anwesenheit in der Friedrich-Wilhelm-Straße während des Verhörs der Kriminalbeamten sowie die zuvor von ihm gemachten Angaben zur Sache nicht im Polizeiprotokoll erwähnt.
=== Anklage ===
Wenige Stunden später, am Samstag, dem 21. Oktober, setzte Oberstaatsanwalt Wilhelm Hirte eine knappe Anklageschrift auf, die sich auf das „Geständnis“ vom Vortag stützte. Erna Wazinski wurde darin gemäß § 1 VVO der Plünderung angeklagt und die Todesstrafe beantragt. Der Vorsitzende Richter des Sondergerichts Walter Lerche berief noch für denselben Tag die Verhandlung ein, obgleich noch ältere unverhandelte Fälle vorlagen; der Grund für die beschleunigte Verhandlung ihres Falles ist unbekannt. Auf der Richterbank saßen auch Walter Ahrens und Ernst von Griesbach. Christian von Campe war Pflichtverteidiger der Beschuldigten Erna Wazinski.
=== Prozess und Verurteilung ===
Da das Sondergerichtsgebäude in der Münzstraße durch den Bombenangriff vom 15. Oktober stark beschädigt war, fand die Verhandlung im Gefängnis Rennelberg statt, wo Erna Wazinski einsaß. Weniger als 19 Stunden nach ihrer Verhaftung wurde die Verhandlung gegen die nicht vorbestrafte Angeklagte eröffnet. Der Vertreter der Anklage, Staatsanwalt Horst Magnus, forderte auf Grundlage der Klageschrift die Todesstrafe.
Die Richter des Sondergerichts Braunschweig hatten verschiedene Möglichkeiten, die vermeintliche Tat Erna Wazinskis rechtlich zu bewerten: Nach normalem Strafrecht hätte sie als einfacher Diebstahl bewertet und in Anbetracht des geringfügigen Wertes der entwendeten Gegenstände mit einer Geld- oder geringen Gefängnisstrafe geahndet werden können. Sie entschieden jedoch, auf den viel härteren Straftatbestand des Plünderns, gemäß § 1 der Verordnung gegen Volksschädlinge (VVO), zu erkennen, der nach VVO aufgrund der Schwere der Tat mit der Todesstrafe zu ahnden war. Voraussetzung für die Verurteilung zum Tode war der zweifelsfreie Nachweis, dass sowohl die Tat selbst ausreichend schwerwiegend, als auch, dass der Täter seiner Persönlichkeit nach als „Volksschädling“ einzustufen war.
Selbst das Reichsgericht hatte Richtern nahegelegt, ganz besonders zurückhaltend bei der Anwendung der VVO gegenüber Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu sein. Trotz der Anklage, die die junge Frau als „Volksschädling“ darstellte, zeigte sich der Vorsitzende Lerche von der Angeklagten positiv überrascht und notierte, dass sie den „Eindruck eines harmlosen, ordentlichen, jungen Mädchens“ mache. Das äußere Erscheinungsbild Erna Wazinskis schien also so gar nicht zur Anklage und der Forderung nach der Todesstrafe zu passen. Der während der Verhandlung im Gerichtssaal anwesende Landgerichtspräsident Hugo Kalweit äußerte vor der Urteilsverkündung in einer Verhandlungspause gegenüber Verteidiger von Campe, dass dies kein Fall sei, in dem die Todesstrafe verhängt werden müsse. Er fügte sofort hinzu, dass dennoch wohl ein anderes als ein Todesurteil nicht zu erwarten sei.Obwohl es Entlastungszeugen gab, rief der Verteidiger sie nicht auf. Er stellte keine Anträge und anstatt angesichts der Sachlage auf ein mildes Urteil zu plädieren, stellte er das Urteil in das „Ermessen des Gerichts“. Aufgrund des „Geständnisses“, das von keiner Prozessseite angezweifelt wurde, erging schließlich das Todesurteil. Das Gericht sah die Tat als besonders verwerflich an und begründete dies folgendermaßen:
Erna Wazinskis Verteidiger zeigte unmittelbar nach Urteilsverkündung keinerlei Reaktion im Interesse seiner Mandantin. Diese wiederum reagierte mit Verblüffung auf ihr Todesurteil. Auf die Frage des Vorsitzenden Walter Lerche, ob sie noch etwas zu sagen habe, antwortete sie: „Was mache ich denn mit meiner Mutter? Ich muss doch meine Mutter ernähren.“Kein Sondergerichtsurteil hat die Braunschweiger Justiz in der Nachkriegszeit mehr und länger beschäftigt als das Todesurteil gegen Erna Wazinski, das selbst nach damaliger Rechtsprechung außergewöhnlich hart war und vom Sondergericht augenscheinlich dazu genutzt wurde, ein Exempel zu statuieren. Von 56 Anzeigen, die nach dem Bombenangriff vom 15. Oktober 1944 beim Sondergericht Braunschweig erstattet wurden, darunter allein 28 Fälle von Plünderung, die zum Teil erheblich schwerwiegender waren, kam es nur in 16 Fällen zur Anklage, darunter aber nur im Fall Wazinski wegen Plünderns. Es erging insgesamt auch nur ein einziges Todesurteil – das gegen Erna Wazinski.
=== Ermittlungen nach ergangenem Todesurteil ===
Nachdem am Samstag das Todesurteil ergangen war, forderte der Vorsitzende Richter Lerche überraschend am Wochenanfang von der Staatsanwaltschaft, nachträglich Ermittlungen zu Erna Wazinskis persönlichem Umfeld sowie ihren Lebensumständen anzustellen – eine Maßnahme, die normalerweise vor einer Verurteilung stattfindet. Der mit den „Gnadenermittlungen“ beauftragte Staatsanwalt Magnus, der am Samstag zuvor noch die Todesstrafe gefordert hatte, stieß bei seinen Untersuchungen auf positive Aussagen zur Person der Verurteilten, die aber von Oberstaatsanwalt Hirte zu deren Nachteil ausgelegt wurden, da sie mit zwei Frauen bekannt sei, die wegen Abtreibungen vorbestraft seien. Magnus schloss seine Ermittlungen zwei Tage später ab und behauptete noch 1989 in einem Interview, er habe nichts Entlastendes finden können.Befragte Arbeitskollegen im Rüstungsunternehmen VIGA betrachteten das Urteil als „zu hart“. Die Unternehmensleitung zeichnete indessen ein negatives Bild und schrieb, sie sei des Öfteren unentschuldigt dem Arbeitsplatz ferngeblieben. Das mit Abstand negativste Zeugnis stellte ihr jedoch am 26. Oktober der Direktor des Braunschweiger Jugendamtes, Evers, aus. Er schrieb unter anderem, sie „… erweckte schon als Schulkind den Eindruck einer gewissen Frühreife …“, „… Bemühungen, sie in ein geregeltes Arbeitsverhältnis zu vermitteln, setzte sie Widerstand entgegen …“, schließlich habe sie bei Herrn B. (dem Betreiber des Mittagstisches) zu arbeiten begonnen, der „im Ruf eines Zuhälters und Hochstaplers“ stehe. Evers fuhr fort, „Erna […] wurde immer dirnenhafter im Aussehen …“. Evers verwies auch auf ein psychiatrisches Gutachten aus dem Jahre 1943, wonach Erna Wazinski „im ganzen noch unreif mit erheblichen psychopathischen Zügen“ sei. Trotz dieses Gutachtens bejahte Evers in vollem Umfang ihre Einsichtsfähigkeit in ihre Handlungen. Den Abschluss bildete die Passage: „Es handelte sich bei Erna Wazinski um ein willensschwaches, triebhaftes, leichtfertiges Mädchen, das auch die jetzige Notzeit zu keinem stärkeren Verantwortungsgefühl gebracht zu haben scheint.“Erna Wazinski selbst wurde nochmals am 25. Oktober vernommen, wobei sie erstmals erwähnte, dass sie verlobt sei. Sie weigerte sich jedoch, den Namen ihres Verlobten zu nennen, und Magnus fragte weder danach noch stellte er sonstige Fragen zu diesem Thema. Auch die Mutter wurde befragt, machte jedoch angesichts der Lage ihrer Tochter unvorteilhafte Angaben, die vom Sondergericht zum Nachteil der Verurteilten ausgelegt wurden.
=== Gnadengesuche ===
Nach dem Urteil stellte Erna Wazinskis Anwalt am Dienstag, dem 24. Oktober ein Gnadengesuch, in dem er unter anderem schrieb:
Auch die Verurteilte selbst schickte an diesem Tag ein Gnadengesuch an das Sondergericht. Sie schrieb u. a.:
Oberstaatsanwalt Hirte lehnte zwei Tage später die Begnadigung mit der Begründung ab:
=== Hinrichtung ===
Wenige Tage später, Anfang November 1944, ordnete der Reichsjustizminister die Hinrichtung für den 23. November, 12:00 Uhr, im Strafgefängnis Wolfenbüttel an. Für die Vollstreckung durch Scharfrichter Friedrich Hehr wurde Erna Wazinski vom Gefängnis Rennelberg in Braunschweig in die Hinrichtungsstätte nach Wolfenbüttel überführt. Dort durfte sie kurz vor ihrer Hinrichtung einen letzten Brief an ihre Mutter schreiben (s. Bild).
Staatsanwalt Magnus, der bei der Hinrichtung anwesend war, führte auch Protokoll:
Noch am Tag der Vollstreckung wurde in Braunschweig plakatiert, dass Erna Wazinski als Volksschädling hingerichtet worden sei.
Wilhelmine Wazinski erhielt einige Tage später von Oberstaatsanwalt Hirte die Mitteilung, dass das Todesurteil an ihrer Tochter vollstreckt worden sei. Der Leichnam Erna Wazinskis wurde auf schriftliche Anweisung Hirtes von der örtlichen Polizeibehörde beigesetzt. Zwei Jahre später wurden die sterblichen Überreste Erna Wazinskis nach Braunschweig überführt und dort erneut bestattet. Die Grabstelle ist heute nicht mehr vorhanden.
== Juristische Nachspiele 1952–1991 ==
=== Wiederaufnahmeverfahren 1952 ===
Wilhelmine Wazinski, Ernas Mutter, hatte 1946 wieder geheiratet und lebte in Hamburg. Sie bevollmächtigte ihren Bekannten Otto Block, beim Landgericht Braunschweig die Überprüfung des Sondergerichtsurteils im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken. Am 5. April 1952 wurde der Fall vor der 3. Strafkammer auf Grundlage einer Verordnung aus dem Jahre 1947, nach der NS-Urteile bei grausamen oder übermäßig hohen Strafen auf ein gerechtes Strafmaß gemildert werden sollten, neu verhandelt. Während der Verhandlung wurde weder die Rechtsstaatlichkeit eines NS-Sondergerichts in Frage gestellt noch die Details der Prozessführung gegen Erna Wazinski. Wiederum ohne (vorhandene) Zeugen wie die Mutter oder den ehemaligen Freund Erna Wazinskis zu befragen und allein gestützt auf die Prozessakten des Sondergerichts, wurde das einstige Todesurteil schließlich in eine Freiheitsstrafe von neun Monaten wegen Diebstahls umgewandelt. Das bedeutete, dass Erna Wazinski erneut schuldig gesprochen war, lediglich ihre Strafe – postum – gemildert wurde.
=== Versuchtes Wiederaufnahmeverfahren 1959 ===
1959 beantragte Block die Aufhebung des Urteils vom 5. April 1952, da sich die Kammer damals die Begründung des Todesurteils von 1944 zu eigen gemacht habe. Gleichzeitig stellte Block Strafanträge gegen die Eigentümerin der angeblich gestohlenen Gegenstände, die 1944 die Anzeige gegen Unbekannt erstattet und Erna Wazinski als Verdächtige angegeben hatte, sowie gegen alle beteiligten Kriminalbeamten, Richter und Staatsanwälte. Die Verfahrenseröffnung wegen Aussageerpressung und Rechtsbeugung wurde vom Oberstaatsanwalt mit dem Hinweis abgelehnt, dass derlei seit dem 7. Mai 1955 verjährt sei.
=== Versuchtes Wiederaufnahmeverfahren 1960/61 ===
Am 1. Dezember 1960 beantragte Block erneut die Wiederaufnahme des Verfahrens. Nach umfangreichen Ermittlungen und Aussagen von Zeugen wurde der Antrag vom Landgericht mit Beschluss vom 11. Juni 1961 verworfen. Auch die Beschwerde Blocks wies der Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig (OLG) am 28. Juni 1962 mit der Begründung zurück, dass das Geständnis Erna Wazinskis gegenüber der Polizei nicht angezweifelt werden dürfe. Eine zweite Beschwerde wurde im Oktober 1962 vom 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs verworfen.
=== Wiederaufnahmeverfahren 1964 ===
1964 erhob Otto Block Amtshaftungsklage beim Landgericht Braunschweig. Die 3. Zivilkammer betrachtete das Entschädigungsbegehren für gerechtfertigt und erklärte daraufhin am 29. Juli 1964, dass das Todesurteil auch aus Sicht des „nationalsozialistischen Rechts“ ein rechtswidriges Fehlurteil gewesen sei, „… eines der grausamsten Urteile […] unverantwortlich und unmenschlich.“Gegen diesen Beschluss legte das Land Niedersachsen Berufung ein, wobei es, nach der Schilderung des ehemaligen Richters am Oberlandesgericht Braunschweig, Helmut Kramer, mit „ungeheurem juristischen Aufwand“ eine Entschädigungsleistung verweigerte und einen Vergleich ablehnte. Der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts entschied daraufhin im April 1965, dass für eine Entschädigung eine Wiederaufnahme des Verfahrens notwendig sei. Diese wiederum wurde aber am 7. Oktober 1965 von der 3. Strafkammer des Landgerichts abgelehnt. Damit befand sich Wilhelmine Wazinski juristisch betrachtet nach 13 Jahren wieder dort, wo sie mit ihrem Begehren 1952 angefangen hatte.
=== Rechtfertigung des Todesurteils durch das Landgericht Braunschweig 1965 ===
Die 3. Strafkammer rechtfertigte das 1944 ergangene Todesurteil (Aktenzeichen 12 AR 99/65 [1 Sond. KLs 231/44]). Grundlage für die 57 Seiten umfassende Entscheidung war der Umstand, dass sich die 3. Strafkammer ausschließlich an der 1944 zum Zeitpunkt der Verurteilung geltenden Gesetzeslage orientierte. Darüber hinaus stellte sie fest, dass die Verordnung gegen Volksschädlinge im Jahre 1944 bindendes Recht gewesen sei. In der Urteilsbegründung, die inhaltlich NS-Terminologie verwendete, wies der berichterstattende Richter Henning Piper (späterer Richter beim Bundesgerichtshof) auf Folgendes hin: „…Inhaltlich konnte die Volksschädlingsverordnung nicht als schlechthin unverbindliches, weil unsittliches, die Richter des Jahres 1944 nicht bindendes Gesetzesrecht angesehen werden. […] So hart der Strafausspruch […] erscheint, hatte das [Sonder]Gericht aus damaliger Schau, […], bei Vorliegen des Plündereitatbestandes keine andere Wahl, als auf die in § 1 Volksschädlingsverordnung ausschließlich vorgesehene Strafe zu erkennen.“
=== Versuchtes Wiederaufnahmeverfahren 1966 ===
Die nachfolgende Beschwerde gegen das Urteil vom 7. Oktober 1965 wurde vom Strafsenat des OLG, dem unter anderen Hans Meier-Branecke und Gerhard Eckels angehörten, im Januar 1966 abgewiesen. Auch ein weiterer Wiederaufnahmeantrag vom Sommer 1966 wurde – nachdem er sämtliche Instanzen durchlaufen hatte – am 27. Februar 1967 endgültig abgelehnt.Otto Block, der im Auftrag der kränklichen Mutter Erna Wazinskis bis zu diesem Zeitpunkt sämtliche Verfahren betrieben hatte, verzweifelte angesichts der Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen und hatte zunehmend Schwierigkeiten zwischen NS- und Nachkriegsrichtern zu unterscheiden, was schließlich zu einer Verurteilung wegen Beleidigung führte. In einem weiteren Strafverfahren gegen Block wegen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz (vom 13. Dezember 1935) erging zunächst ein Strafbefehl, welcher jedoch in der Revisionsverhandlung wieder verworfen wurde.
=== Braunschweig unterm Hakenkreuz ===
Sämtliche Rechtsmittel schienen ausgeschöpft zu sein und der Fall Erna Wazinski endgültig zu den Akten gelegt. Im Frühjahr 1980 fand jedoch die von Helmut Kramer, Pfarrer Dietrich Kuessner, Historiker Ernst-August Roloff und anderen organisierte Vortragsreihe Braunschweig unterm Hakenkreuz im Städtischen Museum statt. Ziel der Vorträge und anschließenden Diskussionen war, die unbewältigte NS-Vergangenheit in Bürgertum, Justiz und Kirche und deren Nachwirkungen in Braunschweig zu thematisieren. Eines der behandelten Themen war das Schicksal Erna Wazinskis und die juristischen Nachspiele im Nachkriegsdeutschland. Angesichts des großen Interesses an der Veranstaltung und der kontrovers geführten Diskussionen veröffentlichte Kramer 1981 die Dokumentation der Vortragsreihe sowie Zuschriften, Zeitungsartikel etc. Die Dokumentation Braunschweig unterm Hakenkreuz. Bürgertum, Justiz und Kirche – Eine Vortragsreihe und ihr Echo war eine der ersten lokalhistorischen Studien zur NS-Zeit und NS-Justizgeschichte.
=== Eröffnung Gedenk- und Dokumentationsstätte 1990 ===
1990 wurde in dem ehemaligen Hinrichtungsgebäude der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, in der auch Erna Wazinski getötet wurde, eine Gedenk- und Dokumentationsstätte eröffnet. In dem Gebäude waren von 1937 bis März 1945 mindestens 750 Menschen mit dem Fallbeil hingerichtet worden, unter ihnen zahlreiche Menschen aus dem französischen und belgischen Widerstand.
=== Wiederaufnahmeverfahren 1991 ===
Ende der 1980er Jahre recherchierte der Journalist Johannes Unger über den Fall, wozu er den bei der Hinrichtung anwesenden Staatsanwalt Horst Magnus interviewte. Seine Rechercheergebnisse flossen in das NDR-4-Radio-Feature „Gnade kann nicht gewährt werden“ – Der Fall Erna Wazinski ein, das am 19. Oktober 1989 gesendet wurde. Dadurch sowie durch die Berichterstattung in der Braunschweiger Zeitung, aufmerksam geworden, meldeten sich mehrere Zeitzeugen, darunter Günter Wiedehöft, der damalige Freund Erna Wazinskis. Erstmals sagte Wiedehöft öffentlich aus, dass er gemeinsam mit Erna Wazinski in den Trümmern des Wohnhauses nach Habseligkeiten gesucht habe und dass Erna Wazinski das Gefundene und Geborgene für ihr Eigentum beziehungsweise das ihrer Mutter gehalten habe.
Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse beantragte Helmut Kramer erneut ein Wiederaufnahmeverfahren, das am 20. März 1991 mit einem Freispruch endete – allerdings nur aufgrund der neuen Zeugenaussagen, da, so die Argumentation von 1991, dem Sondergericht die jetzt geschilderten Sachverhalte 1944 unbekannt waren. Es kam zu keiner Wertung oder Verurteilung der Arbeit der Juristen des Sondergerichts.
== Der Fall Erna Wazinski und die Evangelisch-lutherische Landeskirche Braunschweig ==
Für die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig bekam der Fall Erna Wazinski durch die Aufhebung des gegen sie ergangenen Todesurteils – und die Veröffentlichung des Ergebnisses des Wiederaufnahmeverfahrens – eine besondere Bedeutung, da Walter Lerche, 1944 Vorsitzender Richter des Sondergerichts Braunschweig und für das Todesurteil im Fall Wazinski mitverantwortlich, nach seiner 1950 erfolgten Entnazifizierung zunächst Mitglied des Rechtsausschusses der Landeskirche, 1951 zum Oberlandeskirchenrat befördert und später in der Amtszeit der 1. Generalsynode von 1949 bis 1954 zum 2. Vizepräsidenten der Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands wurde. Obwohl Lerche – wie die Öffentlichkeit erst Jahrzehnte nach seinem Tod erfuhr – als Richter am Sondergericht nachweislich an 59 Todesurteilen beteiligt war, war es ihm in der Landeskirche gelungen, bis zum hoch geachteten Amt des Präsidenten der Generalsynode aufzusteigen, ohne dass seine Sondergerichtsvergangenheit jemals von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.
Der Vorsitzende Richter der 9. Strafkammer des Oberlandesgerichts Braunschweig, Gerhard Eckels, gleichzeitig Präsident der Landessynode der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig, teilte nach dem Freispruch Wazinskis, den seine Kammer gefällt hatte, mit, dass angesichts der bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannten Verstrickungen Lerches in die Braunschweiger Sondergerichtsbarkeit eine von der Kirchenregierung eingesetzte Historische Kommission unter Leitung des Historikers Klaus Erich Pollmann die Tätigkeit Lerches am Sondergericht Braunschweig prüfen werde. Wesentliche Frage sollte dabei sein zu ergründen, wie es möglich war, dass Lerche, der in der Nachkriegszeit von der weiteren Ausübung des Richteramtes suspendiert war, eine so hohe Position in der Landeskirche erreichen konnte.Erste Ergebnisse der historischen Kommission wurden im Juli 1993 während eines Kolloquiums zur Diskussion vorgestellt. 1994 erschien der Abschlussbericht unter dem Titel Der Schwierige Weg in die Nachkriegszeit. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig 1945–1950. Der Fall Erna Wazinski fand im Bericht jedoch nur ganz am Rande Erwähnung, ohne dass auch nur ein Bezug zu Lerche und zu der Tatsache, dass der Fall der Auslöser für die Untersuchung war, angedeutet wurde. Lerches Tätigkeit als Sonderrichter bewertete die Kommission zum einen als „nicht in besonderer Weise negativ …, jedenfalls nicht mehr als alle Richter, die damals nach den Kriegsdienstverordnungen Urteile verhängten …“ Das sei laut Kommissionsbericht „… ein Indiz dafür, daß Lerche nicht als Einzelfall zu betrachten ist, auch wenn die Justiz-Spruchkammer 1946 sich in dieser Weise geäußert hat.“ Zum anderen stellt die Kommission fest: „… unter dem Vorsitz von Dr. Walter Lerche hat das Sondergericht etwa 54 Todesurteile … gefällt – Todesurteile, die größtenteils nach rechtsstaatlichen Maßstäben als Justizmorde bezeichnet werden müssen. Die Verantwortung dafür trugen Lerche und die an diesen Prozessen beteiligten Sonderrichter … Das relativiert zwar nicht die Schuld der Sonderrichter, begründet aber eine Mitschuld aller derjenigen Instanzen, die bei der Entstehung und Durchsetzung dieser Verordnung [VVO] beteiligt waren, und aller weiteren, die gegen solche inhumanen Verschärfungen des Strafrechts nicht protestiert haben.“
== Die braunschweigische Johanna. Ein deutsches Requiem ==
Nachdem der Fall Erna Wazinski erstmals 1980 einer breiten Öffentlichkeit durch die Vortragsreihe Braunschweig unterm Hakenkreuz bekannt worden war, wuchs das Interesse an der (lokal-)historischen Aufarbeitung der NS-Zeit und -Justizgeschichte in Braunschweig. Das Wiederaufnahmeverfahren und dessen Begleitumstände sowie die Einsetzung der Historikerkommission bei der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig führten schließlich dazu, dass das Schicksal Erna Wazinskis auch von Journalisten, Schriftstellern und Theatermachern aufgegriffen wurde: Adam Seide verarbeitete ihre Lebensgeschichte in seinem 1986 veröffentlichten Roman Die braunschweigische Johanna. Ein deutsches Requiem. Die Theaterfassung des Werkes wurde am 20. Februar 1999 im Staatstheater Braunschweig uraufgeführt. 1989, zum 45. Todestag Erna Wazinskis, wurde auf NDR-4 das Feature „Gnade kann nicht gewährt werden“ – Der Fall Erna Wazinski gesendet, das auf den Recherchen eines Journalisten beruht. Im Jahr darauf wurde das Feature in einer aktualisierten Fassung nochmals ausgestrahlt.
== Literatur ==
Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2003, ISBN 3-10-039309-0.
Wilfried Knauer, Niedersächsisches Justizministerium. In Zusammenarbeit mit der Presse- und Informationsstelle der Niedersächsischen Landesregierung (Hrsg.): Nationalsozialistische Justiz und Todesstrafe. Eine Dokumentation zur Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel. Steinweg, Braunschweig 1991, ISBN 3-925151-47-8.
Helmut Kramer (Hrsg.): Braunschweig unterm Hakenkreuz. Bürgertum, Justiz und Kirche – Eine Vortragsreihe und ihr Echo, Magni-Buchladen, Braunschweig 1981, ISBN 3-922571-03-4.
Helmut Kramer (Hrsg.): „Die Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5.9.1939 war geltendes Gesetz …“, Reader zum Fall Erna Wazinski, ohne Ort und Jahr.
Hans-Ulrich Ludewig, Dietrich Kuessner: „Es sei also jeder gewarnt“ – Das Sondergericht Braunschweig 1933–1945, In: Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Landesgeschichte, Band 36, Selbstverlag des Braunschweigischen Geschichtsvereins, Langenhagen 2000, ISBN 3-928009-17-6.
Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Justiz im Nationalsozialismus. Verbrechen im Namen des Volkes. Katalog zur Ausstellung. Nomos Verlag, Baden-Baden 2002, ISBN 3-7890-8178-7.
Adam Seide: Die braunschweigische Johanna. Ein deutsches Requiem. Roman. Syndikat, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-8108-0243-3, Neuauflage anlässlich der Uraufführung der Theaterfassung im Staatstheater Braunschweig am 20. November 1999: Revonnah, Hannover 1999, ISBN 3-934818-25-0 (2., erweiterte Auflage: 2002).
Bernhild Vögel: Ein kurzer Lebensweg – Der Fall Erna Wazinski. Arbeitsmaterialien für die Bildungsarbeit mit Begleitheft, hrsg. v. Bildungsvereinigung Arbeit und Leben, Braunschweig 2003. ISBN 3-932082-06-0.
== Weblinks ==
Erna.W. In: vernetztes-gedächtnis.de. Abgerufen am 23. November 2019
Erna Wazinski. In: forumjustizgeschichte.de. Archiviert vom Original am 28. August 2007; abgerufen am 23. November 2019 (mit Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 7. Oktober 1965 12 AR 99/65 (1 Sond. KLs 231/44)).
Eckart Spoo: Erna Wazinski und die „Panzertruppe“ der Justiz. In: Frankfurter Rundschau. 22. August 1990, archiviert vom Original am 18. März 2005; abgerufen am 23. November 2019 (wiedergegeben beim Forum Justizgeschichte e.V).
Eckart Spoo: Freispruch – doch Nazi Urteil ist nicht nichtig. In: Frankfurter Rundschau. 22. März 1991, archiviert vom Original am 17. Januar 2010; abgerufen am 23. November 2019 (wiedergegeben beim Forum Justizgeschichte e.V).
Helmut Kramer: Richter vor Gericht. Die juristische Aufarbeitung der Sondergerichtsbarkeit. (pdf, 811 kB) 2007, S. 133–137, 170–172; abgerufen am 23. November 2019.
Helmut Kramer: Staatsanwälte, Richter, Urteile – viele machten einfach weiter. In: Braunschweiger Zeitung. 25. Februar 2013, archiviert vom Original am 12. April 2013; abgerufen am 23. November 2019.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Erna_Wazinski
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Essener Domschatzkammer Hs. 1
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= Essener Domschatzkammer Hs. 1 =
Die Handschrift Essener Domschatzkammer Hs. 1, häufig als Großes Karolingisches Evangeliar oder Altfrid-Evangeliar bezeichnet, ist eine Pergamenthandschrift des Essener Domschatzes. Sie entstand um das Jahr 800 und befindet sich möglicherweise seit der um 850 erfolgten Gründung des Essener Frauenstifts in Essen. Das Evangeliar enthält über tausend Glossen auf Latein, Altsächsisch und Althochdeutsch.
== Beschreibung ==
Die Handschrift misst 32,5 cm Höhe und 23,0 cm Breite und ist seit der letzten Restaurierung 1987 zwischen mit grauem Wildleder bezogene und mit Stempelprägung verzierte Holzdeckel eingebunden. Sie ist vollständig erhalten und umfasst 188 Blätter aus Kalbspergament in 28 Lagen, beigebunden ist ein kleinerformatiges (17 × 23 cm) Homiliar-Fragment. Die Lagen sind größtenteils Quaternionen, bestehend aus vier gefalzten und ineinandergelegten Pergamentbögen, die acht Blätter (= 16 Seiten) ergeben. Der Schriftraum des Evangeliars misst 26,5 cm in der Höhe und 16 cm in der Breite. Der Text hat bis fol. 12v, dem Ende des Perikopenverzeichnisses, 38 Zeilen, danach 30 Zeilen. Er wurde im 10. Jahrhundert mit zahlreichen Glossen in Latein, Altsächsisch und Althochdeutsch versehen.
Einige Blätter wurden an den Rändern beschnitten, wodurch Teile einzelner Glossen verloren gingen. Auch wurden Glossen durch den Einsatz von Chemikalien, die die Lesbarkeit erhöhen sollten, beschädigt. Bei einer Restaurierung 1958 wurden einzelne Blätter falsch wieder eingebunden: das Doppelblatt 48v/49r wurde in die verkehrte Richtung gefalzt und das Doppelblatt 143v/144r in die 21. anstatt in die 22. Lage eingebunden.
Die Handschrift enthält ein Perikopenverzeichnis, in lateinischer Sprache den Brief Novum opus des Hieronymus an Papst Damasus I., die Vorrede plures fuisse des Hieronymus zu den Evangelien, die vier Vorreden zu den einzelnen Evangelien sowie den Text der Evangelien, außerdem 14 Kanontafeln, sowie von derselben Hand, die die meisten Glossen eintrug, einen unvollständigen Ordo lectorum. Das hinzugebundene Homiliar enthält Auszüge aus verschiedenen Texten des Beda Venerabilis. Der Text des Evangeliars wurde von drei verschiedenen Schreibern mit brauner Tinte angelegt, die Schrift ist eine frühe Fassung der karolingischen Minuskel. Zur Auszeichnung, das heißt: zur Hervorhebung, der verschiedenen Abschnitte wurde als Schrift eine Capitalis quadrata verwendet. Die Unziale wurde nur im Matthäus-Evangelium für die Kapitelanfänge, die Genealogie Christi und das Vaterunser verwendet. Die Überschriften sind in Gelb, Rot und Grün ausgemalt. Der Buchschmuck ist polychrom und umfasst sowohl Zierseiten, Kanontafeln, Incipit- und Initialseiten sowie Initialen von unterschiedlicher Gestaltung und Größe. Die verwendeten Farben sind Mennigerot und Kupfergrün, die gelbe Farbe wurde bisher nicht untersucht.
== Buchmalerei ==
Georg Humann schrieb 1904 in seinem Werk zu den Schätzen des Essener Münsters:
Auch später ist der Buchmalerei der Handschrift ein „barbarischer Geschmack“ oder „barbarische Großartigkeit“ bescheinigt worden.
Der Buchschmuck der Handschrift ist außergewöhnlich vielfältig und von Einflüssen mehrerer Kulturkreise durchsetzt. Auffällig sind die Zierbuchstaben, bei denen Teile durch hunde- und vogelartige Figuren ersetzt wurden. Diese Zierbuchstaben lassen sich auf Fisch-Vogel-Buchstaben der merowingischen Buchkunst des 7. und 8. Jahrhunderts zurückführen. Die Initialen weisen dagegen oft Flechtbandornamente auf, die aus Motiven des irisch-angelsächsischen Raums abgeleitet sind. Bei diesen Ornamenten weist die Essener Handschrift identisches Formengut zum sogenannten Psalter Karls des Großen (Bibliothèque Nationale ms. lat. 13159) auf, das zwischen 795 und 800 datiert werden kann. Gerds nimmt ein Entstehen im selben Skriptorium an. Die Verwendung unterschiedlicher Zierformen in einer Handschrift war in der karolingischen Buchmalerei nicht ungewöhnlich. Der ornamentale Charakter der Darstellung ist unberührt von der karolingischen Renaissance, die einen Rückgriff auf antike Vorbilder beinhaltete und der Darstellung des Menschen mehr Raum gab. Die Kanontafeln der Handschrift gestaltete der Buchmaler unterschiedlich: Arkaden sind mit Rundbögen oder Giebeln aus Bandstreifen oder Bandverschlingungen gebildet, die mit Borten aus Blattmustern versehen sind. Eine der Kanontafeln weist ein identisches Ornament als Säulenfüllung auf wie das Gundohinus-Evangeliar (Autun, Bibliothèque Municipale. Ms 3), zu dem auch Ähnlichkeiten bei den Gestaltungen der Rundbögen besteht. Unter den Zierseiten ist die Kreuzdarstellung mit dem Brustbild Christi im Schnittpunkt der Kreuzarme und den Evangelistensymbolen zwischen den Kreuzarmen besonders markant. Diese Miniatur weist in den Gesichtern besonders deutlich irische Einflüsse auf. Die niedrigen Stirnen, die in einer Linie mit der Nase gezeichneten Augenbrauen, die weit geöffneten Augen wie auch die Münder finden sich ähnlich an dem im 8. Jahrhundert entstandenen Bandkruzifix auf S. 266 des Codex Cal. sang. 51 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Die Gestaltung des Kreuzes bei Hs. 1 durch farbige Rechtecke deutet Edelsteine an, die Grundidee der Darstellung ist also eine „crux gemmata“. Die Darstellung meint daher nicht die Kreuzigung als Ereignis, sondern Christus, der durch das Kreuz „in seine Herrlichkeit einging“. Die Darstellung mit dem Brustbild Christi am Schnittpunkt der Kreuzbalken ist dabei im abendländischen Raum selten, die Essener Darstellung ist eine der spätesten Darstellungen dieses Typs. Durch das Buch, das Christus hält, ist er zugleich als Lehrer der Wahrheit charakterisiert.
== Die Glossen ==
Die insgesamt 453 altsächsischen Glossen des Evangeliars stammen aus dem 10. Jahrhundert. Sie überliefern insgesamt über 1050 volkssprachliche Einzelwörter der Zeit, das Evangeliar ist damit die zweitumfangreichste Glossierung des Altsächsischen. Die meisten Glossen wurden von einer Hand, die mit stark wechselndem Duktus schrieb, teils marginal am äußeren Rand, teilweise auch zwischen die Zeilen geschrieben (interlinear). Reichte der Platz nicht aus, benutzte die Schreiberin auch den inneren Rand. Die Glossierung folgt dabei inhaltlich einer unbekannten, verlorenen Vorlage, auf die auch die ebenfalls im Essener Skriptorium entstandene Glossierung eines ursprünglich aus dem Stift Elten stammenden Lindauer Evangeliars (Freiherr M. Lochner von Hüttenbach, Codex L, heutiger Verbleib nicht bekannt) zurückzuführen ist. Die Glossen verteilen sich ungleichmäßig auf alle vier Evangelien: 109 interlineare und 78 marginale Glossen erläutern das Matthäus-Evangelium, wogegen das Markus-Evangelium nur mit 15 interlinearen und 12 marginalen Glossen versehen ist. Von den 148 Glossen zum Evangelium nach Lukas sind 87 interlinear und 61 marginal eingeschrieben, das Johannes-Evangelium ergänzen 34 interlineare und 57 marginale Glossen. Zur Sprache der in das Pergament geritzten Griffelglossen finden sich in der Literatur unterschiedliche Angaben.
Die lateinischen Glossen sind meist Scholien und bestehen aus sprachlich vereinfachten Auszügen aus karolingischen und vorkarolingischen Evangelienkommentaren, besonders aus den Schriften Bedas. Dabei wurden die kommentierten Stellen des Evangeliumstextes mit Unzialbuchstaben versehen, die bei den Glossen wiederkehren und so die Zuordnung der Kommentierung zur kommentierten Stelle sicherstellen. Sobald die Buchstaben des Alphabets verbraucht sind, ist die nächste Kommentierung wieder als „A“ bezeichnet. Gleichzeitig mit dem Eintrag der lateinischen Glossen wurden einzelne deutsche Wörter hinter selten gebrauchten Wörtern eingetragen. In einer zweiten Bearbeitungsphase wurden die lateinischen Glossen korrigiert und teilweise ergänzt, zudem wurden weitere deutsche Ergänzungen zu den Scholien vorgenommen. In diesem Bearbeitungsabschnitt wurden die lateinischen Glossen auch an ihrem Ende ergänzt. Diese Glossierungen nehmen Bezug auf das Ende der lateinischen Glosse, in zahlreichen Fällen handelt es sich um vollständige deutsche Halbsätze, die den Schluss der lateinischen Glosse paraphrasieren und fortführen. Hellgardt kommt zum Eindruck einer Vorform einer deutsch-lateinischen Mischsprache, wie sie als klerikaler Soziolekt bei Notker dem Deutschen oder Williram vorkommt.
== Geschichte ==
Nach der kunsthistorischen Einordnung ist das Evangeliar um 800 entstanden, wo, ist jedoch unsicher. Das Skriptorium, in dem die Handschrift entstand, konnte bisher nicht identifiziert werden. Aufgrund des Schriftbildes und des Zusammentreffens kontinentaler und insularer Einflüsse im Buchschmuck wird der Entstehungsort in Nordwestdeutschland oder Nordostfrankreich vermutet. Unbekannt ist auch, wie und wann die Handschrift nach Essen gelangte. Aufgrund der Lokalisierung der Handschrift in Gebiete, wo der Heilige Altfrid, der spätere Gründer des Stifts Essen, ausgebildet wurde, der hohen Qualität der Handschrift sowohl in textlicher wie künstlerischer Hinsicht und des Umstandes, dass ein Evangeliar zur liturgischen Grundausstattung einer Kirche gehörte, wird angenommen, dass das karolingische Evangeliar von Altfrid selbst seiner Gründung überlassen wurde. Katrinette Bodarwé wies allerdings darauf hin, dass die Handschrift keinen Eintrag der zu Beginn des 10. Jahrhunderts in Essen tätigen Bibliothekarshand „A“ aufweist, möglicherweise also doch nicht als Gründungsgeschenk nach Essen gelangte.Ein am oberen Rand von fol. 143r stehender Eintrag „Iuntram prb“ („Guntram presbiter“) könnte von einem früheren Besitzer stammen. Die Inhaltsangabe „PLENARIVM“ auf fol. 2r der sogenannten Bibliothekarshand „B“ wurde in Essen um 1200, vielleicht auch erst in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, eingetragen. Davor fehlt jeder direkte Besitznachweis der Handschrift.
Die Glossen des Evangeliars weisen charakteristische Merkmale im Schriftbild auf, die für das Skriptorium des Essener Frauenstifts typisch sind. Die Schreiberin wirkte auch an dem im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts in Essen entstandenen Sakramentar Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Essen D2 mit, so dass der Aufenthalt der Handschrift Hs. 1 bereits im späten 10. Jahrhundert in Essen sicher ist. Etwa in diesem Zeitraum wurde das Evangeliar erstmals neu gebunden, Georg Humann stellte 1904 fest, dass die vorletzte Lage falsch sortiert war und das als v. 60 ein schmaler Pergamentstreifen mit Notizen in der Handschrift der Glossen mit eingebunden worden war. Möglicherweise war das Evangeliar bereits 946, als die Stiftskirche Essen abbrannte, nicht mehr als liturgisches Buch in Gebrauch, sondern diente bereits als Schulbuch zur Unterrichtung der Sanktimonialen. Während alle aktuellen liturgischen Schriften nach dem Stiftsbrand vom Essener Skriptorium neu erstellt werden mussten, blieben einige Bücher wie das Evangeliar (falls es nicht erst nach dem Brand nach Essen gelangte) oder die Sakramentarshandschrift Hauptstaatsarchiv Düsseldorf D1, die nicht mehr in liturgischem Gebrauch war, erhalten, mutmaßlich, weil sie getrennt von den in Benutzung befindlichen Handschriften aufbewahrt wurden. Die Verwendung als Schulbuch belegen auch die Federproben, die besonders zahlreich auf den Vorsatzblatt vorgenommen wurden, dort finden sich neben Strichen und Schraffuren Versanfänge wie „Scribere qui nescit, nullum putat esse laborem.“ („Wer das Schreiben nicht kennt, glaubt nicht, dass es Arbeit ist“) und Einzelwörter wie „Proba“ („Test“). Diskutiert wird, dass das Evangeliar neben dieser Nutzung noch in liturgischer Benutzung war. Das Theophanu-Evangeliar (Essener Domschatzkammer Hs. 3), das Äbtissin Theophanu um 1040 mutmaßlich zur prunkvollen Inszenierung der Osterliturgie schenkte, weist fast identische Abmessungen wie das Karolingische Evangeliar auf, Gass nimmt daher an, das Theophanu-Evangeliar habe das Karolingische Evangeliar als Prunkevangeliar in der Stiftsliturgie abgelöst.Gegen Ende des 11. Jahrhunderts schwand das Interesse des Damenkonvents an seinen Kodexbeständen, aus denen die Kanoniker des Stifts eine eigene Bibliothek für Ausbildungszwecke zusammenstellten. In diesem Zusammenhang entstand der Besitzeintrag der Bibliothekarshand „B“. Durch die Aufnahme in die Kanonikerbibliothek blieb die Handschrift erhalten, während andere Essener Bücher zu Pergamentmakulatur verarbeitet wurden. In der nur den maximal zwanzig Kanonikern zugänglichen Bibliothek geriet das Evangeliar in Vergessenheit. Keines der Essener Schatzverzeichnisse der frühen Neuzeit verzeichnet die Handschrift. Als das Stift Essen 1802 aufgelöst und wertvolle Handschriften von den neuen preußischen Herren nach Düsseldorf verbracht wurden, blieb das Karolingische Evangeliar aus unbekannten Gründen in Essen, möglicherweise wurde die Handschrift nicht gefunden.
Erst 1880 wurde das Evangeliar im Pfarrarchiv des Münsters entdeckt. Bereits im folgenden Jahr veröffentlichte Georg Humann einen ersten Aufsatz mit Textauszügen, Zeichnungen und einer kolorierten fotografischen Abbildung des Kreuzes mit den Evangelistensymbolen v. 29v. Beachtung fanden besonders die Glossen, den künstlerischen Wert der Zeichnungen maß man am Zeitgeschmack, auch wenn man sie als charakteristische Beispiele vorkarolingischer Buchmalerei erkannte.
Im August 1942 wurde das Evangeliar, das in der Münsterbibliothek aufbewahrt worden war, nach Marienstatt im Westerwald in das dortige Zisterzienserkloster evakuiert und entging dadurch dem Bombenangriff, bei dem am 5. März 1943 die Münsterbibliothek zerstört wurde. 1949 wurde die Handschrift nach Essen zurückgebracht. Nach der Öffnung der Domschatzkammer 1958 für das Publikum war das Evangeliar im Handschriftenraum der Schatzkammer untergebracht. Da dieser das ehemalige sectarium des Stifts ist, befindet sich die Handschrift an ihrem historischen Aufbewahrungsort. Nach der Neueröffnung der Domschatzkammer am 15. Mai 2009 ist die Handschrift aus konservatorischen Gründen nicht mehr Teil der Dauerausstellung.
Aufgrund ihrer Bedeutung und ihres guten Zustands wurde die Handschrift mehrfach für Ausstellungen ausgeliehen, zuletzt im Jahr 2014 für die Sonderausstellung Karls Kunst zum 1200. Todesjahr Karls des Großen in Aachen.
== Restaurierung ==
Die Handschrift wurde mehrfach restauriert. Nachdem sie bei ihrer Evakuierung im Zweiten Weltkrieg gelitten hatte, beauftragte die Pfarrgemeinde St. Johann Baptist, der die Handschrift nach der Aufhebung des Stiftes gehörte, 1956/57 den Restaurator Johannes Sievers am Hauptstaatsarchiv Düsseldorf mit der Restaurierung. Dieser nahm die Handschrift auseinander und heftete sie neu, teilweise fehlerhaft. Die illuminierten Seiten, die besonders schutzbedürftig erschienen, beklebte Sievers nach dem damaligen Stand der Technik mit Mipo-Folie auf PVC-Basis. Von dieser Maßnahme waren 96 Seiten betroffen.
Die Folgen der Restaurierung waren verheerend. Die Folie verschloss das Pergament luftdicht. Durch den fehlenden Zutritt von Luftfeuchtigkeit begann das Pergament zu verhornen. Zudem verfälschte die hochglänzende Folie die eher matten Farben der Buchmalerei. Langfristig wurde die Folie braun und brüchig. Eine Ablösung der schädigenden Folie ohne Zerstörung der Handschrift galt lange Zeit als unmöglich. Versuche an anderen Handschriften, die vergleichbar beklebt worden waren, ergaben, dass die pastösen Farbschichten der Malerei stärker an der Folie als am Pergament hafteten und wie Abziehbilder abgezogen worden wären. In anderen Fällen gelang zwar das Abziehen der Folien, die Rückstände der Klebeschicht führten jedoch zum Verkleben der Seiten zu einem massiven Buchblock.
1985 fand die Domschatzkammer Essen mit Otto Wächter, dem Leiter des Instituts für Restaurierung an der Österreichischen Nationalbibliothek einen Experten, der eine Ablösung der Folien für möglich hielt. Die Handschrift wurde daher im Januar 1986 nach Wien gebracht, wo Wächter sie zerlegte. Die einzelnen Pergamentblätter legte Wächter dann in ein Bad aus vier Teilen Ethanol und einem Teil Essigsäureamylester, dem er, falls der Lösungseffekt nicht ausreichte, noch einen Teil Butylacetat zusetzte. Nach einem Bad von 20 bis 30 Minuten Dauer konnte Wächter die Folien vorsichtig abziehen. Anschließend ließ er das Pergament trocknen, wodurch Rückstände der Klebeschicht erkennbar wurden. Diese entfernte Wächter durch Betupfen und vorsichtiges Rotieren mit einem in Essigsäureamylester getauchten Baumwolllappen, bis keinerlei klebrige Rückstände mehr wahrnehmbar waren. Dieser Arbeitsschritt zog sich teilweise über mehrere Tage für eine Seite, da die Klebereste nur im trockenen Zustand erkennbar waren. Das zweite restauratorische Problem war Grünspanfraß, der durch das in der Buchmalerei verwendete Kupfergrün verursacht wurde. Grünspanfraß tritt bei Buchmalerei auf, wenn die einzelnen Farbpartikel nur von wenig Bindemitteln der Farbe umschlossen werden. Von der Restaurierung saurer Papiere war zudem bekannt, dass magnesiumverbindungshaltiges Papier nicht von Grünspanfraß betroffen wird. Wächter bestrich daher alle Stellen der Handschrift, bei denen Grünspan als Farbstoff benutzt worden war, von beiden Seiten des Pergamentblattes mit einer Magnesiumbicarbonatlösung, die er trocknen ließ. Anschließend pinselte er eine Lösung von 20 Gramm Methylcellulose auf ein Liter Wasser auf. Dabei machte er sich die auch beim Einsatz von Cellulosen in Waschmitteln ausgenutzte Fähigkeit, sich zwischen Schmutzpartikel und Stoff zu setzen, zu Nutze. Wächter lagerte auf diese Weise die Kupfergrünpartikel in einen Puffer aus Magnesiumsalzen. Anschließend verschloss er die Stellen, an denen sich das Kupfergrün bereits durch das Pergament gefressen hatte, mit Goldschlägerhaut. Erschwert wurde die Restaurierung dadurch, dass die Pergamentblätter der Handschrift weder gepresst noch gespannt werden durften, da dieses zu einer Beschädigung der ins Pergament geritzten Griffelglossen hätte führen können. Nach Abschluss der Restaurierung wurde die Handschrift, die einen Holzdeckel unbekannten Alters hatte, der sicher nicht ursprünglich war, nach dem Vorbild erhaltener karolingischer Bucheinbände neu gebunden, wobei für die Stempelprägung des Einbandes der Einband einer in der Wiener Nationalbibliothek vorhandenen, ursprünglich Salzburger Handschrift als Vorbild diente.
== Literatur ==
Georg Humann: Die Kunstwerke der Münsterkirche zu Essen. Schwann, Düsseldorf 1904, S. 37–81.
Gerhard Köbler: Sammlung aller Glossen des Altsächsischen (= Arbeiten zur Rechts- und Sprachwissenschaft. Bd. 32). Arbeiten zur Rechts- und Sprachwissenschaft Verlags-GmbH, Gießen 1987, ISBN 3-88430-053-9, S. 95–109.
Alfred Pothmann: Das Karolingische Evangeliar. Bericht von der Restaurierung der frühmittelalterlichen Handschrift. In: Münster am Hellweg. Mitteilungsblatt des Vereins für die Erhaltung des Essener Münsters. Bd. 40, 1987, S. 13–15.
Das Essener Evangeliar. Zehn Faksimiles aus der Handschrift Hs 1 der Domschatzkammer zu Essen. Mit einer Einführung von Alfred Pothmann. Verlag Müller und Schindler u. a., Stuttgart u. a. 1991.
Ernst Hellgardt: Philologische Fingerübungen. Bemerkungen zum Erscheinungsbild und zur Funktion der lateinischen und altsächsischen Glossen des Essener Evangeliars (Matthäus-Evangelium). In: Eva Schmitsdorf, Nina Hartl, Barbara Meurer (Hrsg.): Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Splett zum 60. Geburtstag. Waxmann, Münster u. a. 1998, ISBN 3-89325-632-6, S. 32–69.
Isabel Gerds: Das karolingische Evangeliar Hs. 1 des Essener Domschatzes. Eine Studie zur Ornamentik. Kiel 1999 (Kiel, Christian-Albrechts-Universität, unveröffentlichte Magisterarbeit).
Gerhard Karpp: Die Anfänge einer Büchersammlung im Frauenstift Essen. Ein Blick auf die importierten Handschriften des neunten Jahrhunderts. In: Günter Berghaus, Thomas Schilp, Michael Schlagheck (Hrsg.): Herrschaft, Bildung und Gebet. Gründung und Anfänge des Frauenstifts Essen. Klartext-Verlag, Essen 2000, ISBN 3-88474-907-2, S. 119–133.
Katrinette Bodarwé: Sanctimoniales litteratae. Schriftlichkeit und Bildung in den ottonischen Frauenkommunitäten Gandersheim, Essen und Quedlinburg (= Institut für Kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen. Quellen und Studien. Bd. 10). Aschendorff'sche Verlagsbuchhandlung, Münster 2004, ISBN 3-402-06249-6.
Rolf Bergmann, Stefanie Stricker: Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. Band 1: Teil A. Verzeichnis der Handschriften, Teil B. Einleitung, Teil C. Katalog Nr. 1–200. de Gruyter, Berlin u. a. 2005, ISBN 3-11-018272-6.
Babette Tewes: Essener Evangeliar. In: Peter van den Brink, Sarvenaz Ayooghi (Hrsg.): Karl der Große – Charlemagne. Karls Kunst. Katalog der Sonderausstellung Karls Kunst vom 20. Juni bis 21. September 2014 im Centre Charlemagne, Aachen. Sandstein, Dresden 2014, ISBN 978-3-95498-093-2, S. 246–249 (m. Lit.).
== Weblinks ==
Karolingisches Evangeliar auf den Seiten der Domschatzkammer Essen
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Essener_Domschatzkammer_Hs._1
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Filialkirche Kleinsöding
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= Filialkirche Kleinsöding =
Die Filialkirche Kleinsöding, oft auch einfach Sebastianikirche genannt, ist eine römisch-katholische Filial- und Wallfahrtskirche in der zur Gemeinde Söding-Sankt Johann gehörenden Ortschaft Kleinsöding in der Weststeiermark. Die zu Ehren des heiligen Sebastian geweihte Kirche gehört zum Seelsorgeraum Voitsberg in der Diözese Graz-Seckau und ist der Pfarre Mooskirchen unterstellt. Als Wallfahrtskirche spielt sie nur noch eine lokale Rolle für Kleinsöding und die umliegenden Ortschaften.
Ihre Geschichte führt bis in den Beginn des 16. Jahrhunderts zurück, als sie als Pestheiligtum errichtet wurde. Die Ursprünge der Kirche sind dabei eng mit den Ausbrüchen der Pest im 15. Jahrhundert verbunden, die Teile des Umlandes fast vollständig entvölkerte. Überlebende Bauern legten einen Schwur ab, im Laufe ihres Lebens den sogenannten Kühzins zu entrichten. Dabei versprachen sie, den Gegenwert einer Kuh zu spenden. Das so aufgekommene Geld finanzierte den Kirchenbau. Durch erneute Pestepidemien im 17. Jahrhundert entwickelte sich die Kirche zum wichtigsten Pestheiligtum in der Weststeiermark. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden eine Sakristei und die Kreuzkapelle angebaut und die Kirche selbst barockisiert. In den nachfolgenden Jahrhunderten nahm die Bedeutung als Wallfahrtsort aber ab. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befindet sich das Bauwerk im Besitz der Gemeinde, die seither auch für die Erhaltung zuständig ist. Vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche Instandhaltungs- und Sanierungsarbeiten an der Bausubstanz und am Kircheninventar durchgeführt.
Die Filialkirche von Kleinsöding ist eine im Kern spätgotische und nachträglich barockisierte Saalkirche. Der Kirchturm ragt im Nordwesten über das Langhaus auf und im Südosten ist an den Chorschluss die von außen zugängliche Kreuzkapelle angebaut. Der Hochaltar aus farbig gefasstem Sandstein sowie die beiden Seitenaltäre wurden um 1630 aufgestellt. Die Seitenaltäre wurden dabei aus den Flügeln eines älteren Flügelaltares neu zusammengestellt und zeigen geschnitzte Relieftafeln mit Szenen aus dem Leben Marias.
Das gesamte Bauwerk steht unter Denkmalschutz.
== Lage ==
Die Kirche steht im östlichen Teil der Gemeinde Söding-Sankt Johann auf einer kleinen Anhöhe, die auch als Kirchenriegel bekannt ist, zentral in der Siedlung Sankt Sebastian etwa 700 Meter westlich des Dorfes Kleinsöding. Sie befindet sich auf einer Seehöhe von rund 350 Metern, am nördlichen Ufer der Kainach im mittleren Kainachtal, auch als Kainachboden bekannt. Etwa 50 Meter nördlich der Kirche verläuft die Packer Straße (B 70). Etwa 600 Meter westlich befindet sich der Zubringer zu der Autobahnabfahrt Mooskirchen der Süd Autobahn (A2). Die Kirche liegt an einem von der Packer Straße nach Südosten abzweigenden Weg und hat wie das direkt nordwestlich von ihr gelegene ehemalige Mesnerhaus die Adresse Kirchenweg 1.
Auf dem Kirchenvorplatz steht das Kriegerdenkmal der Gemeinden Groß- und Kleinsöding, das an die Gefallenen und Vermissten beider Weltkriege erinnert.
== Geschichte ==
=== Ursprünge und Bauzeit ===
An der Stelle der heutigen Kirche befand sich vermutlich bereits in der Antike ein Kulthügel, und es gibt die Legende von einem dortigen Heidentempel. Später sollen Pestopfer auf diesem Hügel begraben worden sein. Es gibt zwar Aussagen von Anwohnern, die über Funde von Knochen berichten, aber es konnten bisher keine archäologischen Belege für einen Tempel oder ein Pestgrab erbracht werden. Die Bewohner der Gegend von Kleinsöding wurden spätestens ab dem 12. Jahrhundert von der 1136 erstmals urkundlich erwähnten Pfarre Mooskirchen aus seelsorgerisch versorgt. Als ab 1348 die Pest den heutigen Bezirk Voitsberg befiel, wurden die Dörfer Hardekk und Mukkaw bei Muggauberg sowie das bei Södingberg gelegene Reuner Dorf Sedinge vollständig entvölkert. Als um 1480 die Krankheit erneut die Weststeiermark heimsuchte und die Bevölkerung stark dezimierte, schworen 135 der überlebenden Bauern der Umgebung, für die Errichtung eines zu Ehren des sogenannten Pestheiligen Sebastian geweihten Gotteshauses während ihres Lebens den Wert einer Kuh zu spenden. Diese Spende wird als Kühzins bezeichnet und die Bauern spendeten jedes Jahr, bis der Gegenwert einer Kuh entrichtet worden war. Falls das Spendenziel nicht zu Lebzeiten erreicht worden war, wurde es vererbt, und die Nachkommen waren verpflichtet, es zu erfüllen. Das so zusammengebrachte Geld reichte aus, um bei Kleinsöding eine größere Kirche zu errichten.Vor dem Neubau der Kirche soll an deren späterem Standort eine romanische Jagdkapelle der Schlossherren von Söding gestanden haben. Diese musste dem Neubau weichen. Die Kirche wurde laut dem Geistlichen Personalstand der Diözese Seckau im Jahr 1508 erbaut, wozu Sebastian von Rollau den Auftrag gegeben habe. Wahrscheinlich bezieht sich diese Annahme aber nur auf den Bau des Chores, der bis zur Fertigstellung der Kirche als Kapelle genutzt wurde. In dieser Kapelle befand sich bereits eine aus Sandstein gefertigte Statue des heiligen Sebastian. Sie soll von Mönchen, die aus dem spanischen San Sebastian vertrieben worden und zum Riedlhof oder Riederhof bei Berndorf gekommen waren, aufgestellt worden sein. In den nachfolgenden Jahren stieg die Zahl der Wallfahrer stetig an. Mit dem so eingebrachten Geld konnten bis 1562 das an den Chor angebaute Kirchenschiff mit flacher Holzdecke und bis 1564 der Bau des Kirchturms finanziert werden. Auf die Errichtung des Kirchenschiffs weist unter anderem ein mit Jahreszahl und Zeichen des Baumeisters versehener Stein am Torbogen des Turmportales hin. Zu den Stiftern der Kirche dürften auch die auf Schloss Rollau ansässigen Rollauer gehört haben, da die Kirche als ihre Grablege diente.
=== Die Zeit vom 16. bis in das 19. Jahrhundert ===
Pestausbrüche, die 1584/85 das Kainachtal und 1634, 1679/80 sowie von 1713 bis 1716 den Bezirk Voitsberg heimsuchten, hatten zur Folge, dass immer mehr Wallfahrer zu der Kirche pilgerten. Im 17. Jahrhundert erreichten die Wallfahrten ihre Blütezeit und die Sebastianikirche entwickelte sich zum bedeutendsten Pestheiligtum der Weststeiermark. Um 1630 wurde der Hochaltar der Kirche aufgestellt und die bereits in der Kirche befindliche Sebastiansstatue wurde als Altarbild daraufgesetzt. Ab 1665 trat die auf Schloss Groß-Söding ansässige Familie Keller von Kellersperg als Wohltäter der Kirche in Erscheinung. Im Jahr 1676 wurde das spätgotische Bauwerk barockisiert, das bisher flach gedeckte Kirchenschiff eingewölbt und eine Empore eingebaut. Auch die Sakristei und die von außen zugängliche Kreuzkapelle an der Außenseite des Chors entstanden bei der Umgestaltung. Als einziger der Mooskirchner Pfarrer wurde M. Simon Schoper 1694 auf seinen testamentarischen Wunsch hin unter dem Fronbogen, neben der vermutlich von ihm gestifteten lebensgroßen Sebastiansfigur, in der Kirche begraben.Noch von 1711 bis 1880 wurde ein Zinsverzeichnis über die Entrichtung des Kühzinses geführt, was darauf schließen lässt, dass Nachfahren der ursprünglichen Stifter noch immer für den Erhalt der Kirche spendeten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden Personen aus zwölf verschiedenen Pfarren als Stifter aufgeführt. Der in Mooskirchen tätige Dechant Alois Wagl verfasste 1799 eine mehrbändige Pfarrchronik und beschreibt darin auch die damalige Einrichtung der Kirche.Um 1800 wurde das Altarbild des Hochaltares, die Sebastiansstatue, durch eine Figur der Anna selbdritt ersetzt. Um die Figuren des Hochaltars während des Fünften Koalitionskrieges zu schützen, wurden sie 1809 mit einem Bretterverschlag umgeben. Die Franzosen unter dem Kommando des Marschalls Auguste Frédéric Louis Viesse de Marmont nutzten zwischen dem 25. Juni und dem 15. Dezember 1809 die Kirche als Magazin. Ebenso missbrauchte ein Regiment von Ulanen, das sich vom 27. Juli bis zum 14. August 1813 in der Gegend niederließ, die Kirche als Magazin. Als die Pfarrkirche Ligist in der Mitte des 19. Jahrhunderts umgebaut wurde, kam einiges des dortigen Kircheninventares wie die beiden Figuren seitlich des Hochaltares nach Kleinsöding. Auch das Tabernakel kam nach Kleinsöding, erwies sich aber als zu groß für den Hochaltar und wurde deshalb auf der Empore aufgestellt.In der Zeit nach der Schaffung der freien Ortsgemeinde Kleinsöding im Jahr 1850 ging die Sebastianikirche durch einen Vergleich mit dem Pfarrer von Mooskirchen in den Besitz der Gemeinde über. Der Pfarrer behielt aber das Aufsichtsrecht über die Kirche und sie blieb weiterhin der dortigen Pfarre unterstellt. Die Gemeinde führte mit Hilfe der Kirchenpröpste eigene Kirchenrechnungen. Durch einen Blitzschlag brannte am 14. April 1874 der Dachstuhl des Kirchturms und auch die Orgel wurde durch das Feuer beschädigt. Der Brand konnte von der Bevölkerung aber schnell gelöscht werden, so dass keine größeren Schäden entstanden. 1876/77 wurden der Chor und das Langhaus neu ausgemalt, dabei wurden frühere Dorn- und Weintraubenverzierungen sowie die Sonnenuhr an der Südseite des Langhauses übertüncht. Bei einer Renovierung im Jahr 1890 wurde ein Fresko des heiligen Sebastian an der südlichen Außenwand des Langhauses ebenfalls übermalt. Im Rahmen dieser Renovierung wurden alte Fenster der Grazer Franziskanerkirche gespendet. In den 1880er-Jahren wurde eine Turmuhr eingebaut.
=== Seit dem 20. Jahrhundert ===
Unter dem von 1921 bis 1925 in Mooskirchen tätigen Kaplan Josef Radl kam es von 1924 bis 1926 zu einer umfassenden Renovierung der Kirche, die er teilweise selbst bezahlte. Er verfasste bis 1925 auch eine Historie der Kirche, die als Radl-Chronik bekannt ist.Mit der Zusammenlegung der Gemeinden Kleinsöding und Großsöding zur Gemeinde Söding im Jahr 1958 ging die Kirche in den Besitz der neuen Gemeinde über. In den nachfolgenden Jahrzehnten wurden umfangreiche Reparatur- und Renovierungsarbeiten durchgeführt. So wurden 1961 der linke und 1978 der rechte Seitenaltar restauriert, 1970/71 die Fassade erneuert und von 1978 bis 1983 die Innenseite und Teile der Ausstattung renoviert. 1979 riefen die Bewohner von Söding die Kirchengemeinschaft St. Sebastian als uneigennützige Vereinigung zur Erhaltung der Kirche ins Leben. Am Hochaltar wurden 1991/92 Restaurierungsarbeiten vorgenommen. In den Jahren 1998 und 1999 erfolgten erneut größere Renovierungsarbeiten an der Bausubstanz und dem Kircheninventar.Seit der steiermärkischen Gemeindestrukturreform im Jahr 2015 gehört die Kirche der Gemeinde Söding-Sankt Johann. Da es durch die Witterung immer wieder zu Schäden an den Dachziegeln kam und die Reparaturarbeiten sich als immer kostenintensiver erwiesen, wurde nach Rücksprache mit dem Bundesdenkmalamt im März 2019 im Gemeinderat die Neudeckung des Kirchendaches beschlossen. Die Gemeinde selbst brachte dabei den Großteil der finanziellen Mittel auf, der restliche Betrag wurde von der Kirchengemeinschaft St. Sebastian, der Pfarre Mooskirchen sowie dem Bundesdenkmalamt gestellt. Bereits im April 2019 begannen die Arbeiten, in deren Verlauf sich herausstellte, dass der Dachstuhl der Kreuzkapelle einsturzgefährdet war, so dass er ebenfalls erneuert werden musste. Der Putz der Außenwände wurde im Rahmen der Dachdeckarbeiten mit einer Grundierung aus Sinterwasser gefestigt und anschließend mit Kalkmilch und einem farbigen Schattenstrich neu eingefärbt. Diese Farbgebung entspricht laut einem restauratorischen Befund einer früheren. Auch das Kriegerdenkmal vor der Kirche wurde saniert.
== Architektur ==
=== Außenbeschreibung ===
Die im Kern spätgotische und nachträglich barockisierte einschiffige Saalkirche mit an den Chor angebauter Kreuzkapelle und Sakristei ist nach Südosten ausgerichtet.Die Außenwände von Kirche und Turm sind einfach gehalten und werden durch gemalte Fensterrahmen und Eckquaderungen gegliedert. Die Fassade ist seit einer Renovierung im Jahr 2019 mit weißer Kalkmilch getüncht, während die gemalten Verzierungen in Grau gehalten sind. Das Langhaus, der Chor sowie die Sakristei haben ein mit Ziegeln gedecktes, über alle Anbauten verlaufendes Walmdach. Die Kreuzkapelle hat ein ebenfalls ziegelgedecktes Zeltdach. Alle Dachflächen wurden 2019 mit Taschenziegeln aus Ton neu gedeckt. Das Hauptportal der Kirche ist an der Nordwestseite des Turmes; ein profiliertes Rundbogenportal bildet die Mitte der Westseite des Langhauses. Die westliche Portalseite des Langhauses hat von Norden nach Süden ein vergittertes Rechteckfenster in einer runden Wandnische links des Seitenportals sowie zwei größere Rechteckfenster oberhalb und südlich des Seitenportals, mit einer aufgemalten Sonnenuhr zwischen ihnen. An der nordöstlichen Fassade des Langhauses sind zwei vermauerte aufgemalte Spitzbogenfenster mit Laibung zu erkennen. Im Nordwesten des Langhauses jeweils angrenzend an den Kirchturm belichten zwei kleine vergitterte Rechteckfenster sowie zwei darüber liegende kleine Rundbogenfenster den Emporenbereich. Auch die südwestliche Chorwand hat ein vergittertes Rundbogenfenster. An der südlichen und südöstlichen Seite des Chorschlusses befindet sich jeweils ein spitzbogiges Maßwerkfenster. Die Sakristei weist an ihrer Südostseite sowohl im Erd- als auch im Obergeschoss je ein und an ihrer Ostseite jeweils drei übereinander liegende vergitterte Rechteckfenster auf. Die nordöstliche Sakristeimauer hat eine Tür und darüber ein vermauertes Rechteckfenster.Der 1564 fertiggestellte viergeschossige Kirchturm mit rechteckigem Grundriss ist im Nordwesten dem Langhaus vorgestellt und hat ein Zeltdach. Auf eine kupferne Turmkugel auf der Spitze des Turmes ist ein Kreuz mit zwei Querbalken aufgesetzt. Die vier Geschosse sind durch steinerne Kaffgesimse der Turmfassaden hervorgehoben. An der nordöstlichen Seite des Turmes gelangt durch drei vergitterte Rechteckfenster Licht in das Innere der oberen Geschosse. Im obersten Geschoss ist auf der südwestlichen, der nordwestlichen sowie der nordöstlichen Seite das Ziffernblatt der Turmuhr angebracht. Darüber befindet sich auf allen vier Seiten des Turmes je ein Spitzbogenfenster. Das spitzbogige Portal der Nordwestseite führt in die Turmhalle, von der man in das Langhaus gelangt. Rechts vom Portal steht in einer überdachten Wandnische eine aus Aflenzer Sandstein gefertigte Figur des heiligen Sebastian. Bei dieser Figur soll es sich um das ursprüngliche Hochaltarbild handeln. Über dem Turmportal ist ein aus dem 16. Jahrhundert stammendes Relief angebracht, das je nach Interpretation entweder zwei Grabwächter oder die Bogenschützen darstellt, die der Legende nach auf den heiligen Sebastian schossen.An der südöstlichen Außenwand des Chorschlusses steht die 1676 angebaute Kreuzkapelle. Sie ist nur von außen durch ein Rundbogenportal, das mit einem schmiedeeisernen Gitter verschlossen werden kann, zugänglich. Bei einem halbrunden Fenster über dem Portal weist die aufgemalte Inschrift „1676“ auf das Baujahr hin. Sowohl auf der nordöstlichen als auch auf der südwestlichen Seite hat die Kreuzkapelle je ein Rechteckfenster und ein darüber liegendes halbrundes Fenster.
=== Innenbeschreibung ===
Das einschiffige und fünfjochige Langhaus wird von einem Stichkappentonnengewölbe überspannt. Im dritten Joch befindet sich ein Heiliggeistloch. Im Nordwesten des Langhauses befindet sich die dreiachsige gemauerte und von einem auf Säulen ruhenden Kreuzgratgewölbe unterspannte Orgelempore. Ein verstäbtes Spitzbogenportal mit gerauteten Basen führt unter der Empore von der Turmhalle in das Langhaus. Über eine Stiege im Westen des Langhauses gelangt man auf die Orgelempore. Von der Empore wiederum gelangt man durch ein Schulterbogenportal in die oberen Geschosse des Kirchturmes. Die Fenster im Langhaus sind barockisiert.
Der dreijochige Chor wird durch einen niedrigen, eingezogenen Fronbogen vom Langhaus getrennt. Wie das Langhaus überspannt auch den Chor ein Stichkappentonnengewölbe. Der Chor hat einen Dreiachtelschluss mit zwei einfachen gotischen, zweibahnigen Maßwerkfenstern. Die im 17. Jahrhundert im Osten an den Chor angebaute Sakristei ist im Erdgeschoss tonnengewölbt. Eine Tür führt vom Chor in die Sakristei, von wo eine Stiege in das Obergeschoss führt. Im flach gedeckten Obergeschoss der Sakristei ermöglichen zwei halbrunde Öffnungen einen Blick in den Chorraum.
== Ausstattung ==
=== Chorbereich ===
Der Hochaltar aus farbig gefasstem Aflenzer Sandstein wurde um 1630 aufgestellt. Er hat im Mittelteil des Aufbaus durchbrochene Nischen. In der unteren Nische steht eine Figur der Anna selbdritt, deren Darstellung der Maria nachträglich überarbeitet wurde. An den Seiten der Nische ist jeweils ein Mensch oder Engel mit gekreuzten Armen dargestellt. In der Nische darüber, in der Krönung des Altars, steht eine Statue des heiligen Florian, die von zwei Reiterfiguren flankiert wird. Die linke Reiterfigur zeigt den heiligen Martin, wie er seinen Mantel für einen Bettler zerteilt. Die rechte Reiterfigur stellt den heiligen Georg und die betende Prinzessin aus seiner Heiligenlegende dar. Den oberen Abschluss des Altares bildet die Figur des heiligen Rochus, links und rechts daneben zwei Statuen der heiligen Petrus und Paulus. Alle diese Figuren kamen vermutlich erst nachträglich auf den Hochaltar, vorher standen wahrscheinlich eine Sebastiansfigur in der Hauptnische und eine Marienstatue in der Krönung. Die Figur des Sebastian wurde in die Nische neben dem Turmportal gebracht. Das Tabernakel ist in Weiß gefasst und mit Gold verziert. Die Säulen des Altares zieren die Darstellungen von menschlichen Gesichtern.Auf beiden Seiten des Hochaltars, an der Wand des Chorschlusses, stehen zwei größere, aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammende Figuren. Sie wurden in der Mitte des 19. Jahrhunderts von der Pfarrkirche Ligist hierher verbracht und dienen als Altarwächter. Die linke Figur zeigt den heiligen Oswald, die rechte den heiligen Pankratius. Neben diesen beiden Figuren ist an den Wänden des Chorschlusses auf jeder Seite des Hochaltares noch jeweils eine Engelsfigur angebracht. Die Wand des Chorschlusses hinter dem Hochaltar ist mit einem gemalten Baldachin gestaltet.An der nordöstlichen Chormauer, neben der Tür zur Sakristei, steht ein kleiner Tabernakelaltar, der auch als Joglischer Altar bekannt ist. Er stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde ursprünglich vom Bauern Scherzvater für die als fromme Joglin bekannte Bäuerin vulgo Feldpeter für deren Hofkapelle gefertigt. Nach dem Tod der Bäuerin wurde der Altar in die Sebastianikirche gebracht. Unter einem Baldachin steht als Altarfigur die heilige Maria. Der obere Abschluss enthält das Marienmonogramm. Über dem Altar hängt ein Bild des Herzens Mariä. Ein 1889 gestiftetes Bild des heiligen Wendelin als Hirte hängt links vom Altar. An der Mauer zwischen der Sakristeitür und dem Fronbogen ist ein Kruzifix mit einer Figur der betenden Maria. Ein hölzernes Chorgestühl steht an der südöstlichen Chormauer. Über dem Chorgestühl hängt ein Bild des Herzens Jesu. Rechts neben dem Chorgestühl ist ein Stein mit der Grabinschrift des Pfarrers Simon Schoper eingemauert. Auf beiden Seiten des Chores hängen insgesamt sechs der 14 von Gerd Linke 1988 gemalten Kreuzwegbilder der Kirche. Die Fenster im Chor sind mit farbigen, teilweise floralen Ornamenten gestaltet.Im Chor setzt sich das 1923 auch im Langhaus aufgemalte Schriftband fort, auf dem steht: „bittet für uns. Dass du die Früchte der Erde geben und erhalten wollest, wir bitten dich erhöre uns. O Herr! Du wollest allen Wohltätern dieser Kirche um deines Namens willen das ewige Leben geben.“ Das in Blau ausgemalte und mit goldenen Sternen verzierte Chorgewölbe ist eine Darstellung des Himmels. Nur die Grate der Stichkappen sowie die aufgemalten Gurtbögen sind farblich anders gehalten und mit floralen Mustern verziert. Über dem Hochaltar ist das Monogramm IHS aufgemalt. Die Chorseite des Fronbogens ist marmoriert und trägt im Scheitel die Jahreszahl „1876“.Unter dem Fronbogen steht auf einem beweglichen Podest eine lebensgroße, im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts angefertigte Statue des heiligen Sebastian. Darüber sind am Fronbogen zwei große, in der gleichen Zeit von dem Grazer Bildhauer Johann Baptist Fischer gefertigte Engelsfiguren angebracht. Unter dem Fronbogen steht der Ambo aus Holz. Auf der rechten, der südlichen Seite des Fronbogens brachte 1924 der Bildhauer Josef Guggi eine Tafel mit dem Wappen der Herren von Roll zu Rollau an. An der nördlichen Seite des Fronbogens hängt ein Christuskopf.
=== Langhaus ===
Die beiden Seitenaltäre wurden aus Teilen eines spätgotischen dreiteiligen Flügelaltars gefertigt, welcher der Überlieferung nach aus der Pfarrkirche Hitzendorf stammen soll. Der Flügelaltar soll zwischen 1510 und 1525 in Hitzendorf aufgestellt worden sein und kam wie das ursprüngliche Hauptbild sowie einer der beiden Altarflügel im Zuge der barocken Neugestaltung dieser Kirche um 1630 nach Kleinsöding. Dort wurden sie in ihre heutige Form gebracht, mit gesprengeartigen Aufsätzen sowie Seitenwangen und Schleierbrettern versehen, die Predellen entfernt und an die beiden Enden des Fronbogens gestellt. Beide Altäre zeigen geschnitzte Reliefs mit Szenen aus dem Leben Marias. Der linke Seitenaltar entstand aus dem alten Hauptbild des Hitzendorfer Flügelaltars und zeigt drei Reliefs. Das große Relief stellt den Tod Mariens dar. Darüber befinden sich zwei Darstellungen der Flucht nach Ägypten sowie der Darstellung Jesu im Tempel. Die Reliefs werden seitlich von Teilen der geschnitzten Wurzel Jesse gerahmt. Der rechte Seitenaltar entstand aus einem der Altarflügel und zeigt vier Reliefs. Sie zeigen die Verkündigung des Herrn, Heimsuchung Mariä, die Geburt Christi sowie die Anbetung durch die Heiligen Drei Könige.Die Kanzel wurde 1876 von zwei aus Hitzendorf stammenden Bildhauern und Vergoldern an der nördlichen Langhausmauer aufgestellt. Den Korb zieren gemalte Darstellungen der vier Evangelisten. Auf dem Schalldeckel stehen zwei kleine Engel mit Posaune sowie zwei Steintafeln mit den Zehn Geboten. Im Dachboden über der Kanzel hat sich an der Wand eine lateinische Inschrift mit einer Anrufung an den heiligen Sebastian erhalten. Diese war bis zur Einwölbung der Kirche im Jahr 1676 von Langhaus aus sichtbar.An der nördlichen Langhausmauer, unter der Orgelempore, steht eine Statue der Madonna von Lourdes, die links von einem Bild des Herzens Mariens und rechts von einem Bild des Herzens Jesu flankiert wird. Über der Statue ist die Inschrift „Ich bin die Unbefleckte Empfängnis“ aufgemalt. An dieser Mauer hängt zwischen der Orgelempore und der Kanzel eine vom Bildhauer Josef Guggi am 19. Jänner 1924 aufgehängte Grabtafel, welche die in der Kirche begrabenen Personen aufführt. Über dieser Grabtafel ist ein Bild einer Rosenkranzmadonna angebracht. An der Wand neben dem Aufgang zur Kanzel ist ein Bild der Kreuzigung Christi angebracht. An der südlichen Langhausmauer hängt ein Bild einer Mondsichelmadonna. Auf beiden Seiten des Langhauses hängen insgesamt sieben der vierzehn von Gerd Linke 1988 gemalten Kreuzwegbilder der Kirche.Wie der Chor so haben auch die Wände des Langhauses ein 1923 aufgemaltes Schriftband, dessen Inhalt an der nördlichen Wand hier „Von Pest, Hunger und Krieg, erlöse uns, o Herr. Hl. Sebastian und Hl. Rochus“ lautet und sich dann im Chor fortsetzt. An der südlichen Langhausmauer hat das Schriftband den Inhalt „Von Blitz und Ungewitter, erlöse uns o Herr. Christus höre uns, Christus erhöre uns.“. Das in Blau ausgemalte und mit goldenen Sternen verzierte Gewölbe ist eine Darstellung des Himmels. Wie im Chor so sind auch hier die Grate der Stichkappen sowie die aufgemalten Gurtbögen farblich anders gehalten und mit floralen Mustern verziert. Das Heiliggeistloch enthält eine Christusdarstellung. Der Fronbogen ist auf der Langhausseite marmoriert mit aufgemalten Steinblöcken an der Laibung. Den Scheitel des Bogens ziert ein gemaltes Kreuz. Die Orgelempore hat eine ausgemalte Brüstung und die Laibungen der Gewölbebogen, auf denen sie ruht, sind marmoriert. Über der Orgelempore erinnert eine Inschrift an den Bau des Langhauses im Jahr 1562. Die Fenster im Langhaus sind einfach gehalten und weisen keine Verzierungen auf.
=== Kreuzkapelle ===
In der Kreuzkapelle steht der Kreuzaltar mit einem Kruzifix, das von zwei Statuen der heiligen Rochus und Sebastian flankiert wird, alle wurden um 1676 gefertigt. Vor dem Kruzifix steht eine Marienfigur. Ursprünglich bildete das Kruzifix zusammen mit zwei hochgotischen Figuren der Maria und des Apostels Johannes eine Kreuzigungsgruppe. Die beiden Figuren wurden aber in der Nacht auf den 6. Februar 1968 aus der Kapelle gestohlen und gelten seither als verschollen.
== Orgel ==
Die Orgel, ein barockes Brüstungspositiv, wurde um 1690 der Überlieferung nach von einem Südtiroler Orgelbauer aufgestellt. Philipp Fischer baute 1867 die Orgel um und erweiterte sie auf sechs Register. Eine Inschrift auf dem Windkasten verweist auf diesen Umbau. 15 der alten Prospektpfeifen mussten im Ersten Weltkrieg 1917 als „Metallspende“ abgeliefert werden. Zu Pfingsten 1923 wurde die verstimmte Orgel, es funktionierten nur mehr zwei der Register einwandfrei, repariert und gereinigt. Die Zimmermannsarbeiten führte Kirchenpropst Stadler durch. 1980 wurde die zu dieser Zeit bereits seit 18 Jahren defekte Orgel von dem Grazer Orgelbauer Krenn restauriert. Es haben sich Teile der barocken Orgel erhalten und auch einige der etwa 300 Orgelpfeifen stammen noch aus dem 17. Jahrhundert.Der aus Mooskirchen stammende Orgelbauer Gottfried Gschier reinigte, reparierte und stimmte die Orgel 2004 neu. Eine erneute Reinigung und Sanierung der Orgel führte im September 2020 Ulrich Aschermann durch.
== Glocken ==
Im Kirchturm hängen drei Glocken. Die älteste dieser Glocken wurde 1710 von Florentin Streckfuß in Graz gegossen und 1711 aufgezogen. Eine 1794 von Salesius Feltl gegossene Glocke wurde ursprünglich von Marianna Gräfin von Saurau für die Pfarrkirche Sankt Johann ob Hohenburg gestiftet. Im Jahr 1923 wurde sie nach Kleinsöding verkauft und am 29. April jenes Jahres geweiht und aufgezogen. Die Florianiglocke aus Zinnbronze wurde am 24. Mai 1985 gegossen und am 30. Juni dieses Jahres geweiht und aufgezogen.Im 17. Jahrhundert bestand das Geläut aus mindestens drei Glocken, von denen eine 1675 von Lorenz Selner gegossen worden war. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde das Geläut um die von Florentin Streckfuß stammende Glocke erweitert. Drei alte Glocken wurden 1860 eingeschmolzen und durch drei von Johann Feltl in Graz neu gegossene Glocken ersetzt. Am 25. Mai 1860 wurden eine 798 Kilogramm schwere Glocke mit Abbildungen des heiligen Sebastian und der Mutter Anna sowie eine 215 Kilogramm schwere Glocke mit Abbildungen der Apostel Simon Petrus und Paulus aufgezogen. Die dritte Glocke von Feltl folgte am 25. Mai 1861. Im Jahr 1917 mussten zwei der Glocken zu Kriegszwecken abgenommen werden, wobei nur die ältesten wegen ihres historischen Wertes verschont blieben. Darunter fiel auch eine wahrscheinlich vor 1600 gegossene 2000 Kilogramm schwere, als Jockl bekannte Glocke. Sie wäre als sogenannter Kunstguss von der Ablieferung ausgenommen gewesen, aber die Nachricht erreichte die Gemeinde erst, nachdem die Glocke bereits zerschlagen worden war. Auch die von Salesius Feltl gegossene Glocke hätte ursprünglich abgeliefert werden sollen, aber ein Bauer bezahlte den zuständigen Soldaten ein Fass Bier, damit sie eine kleinere Glocke abnahmen. Am 20. Jänner 1942 wurden die beiden 1711 und 1794 gegossenen Glocken abgenommen, aber nicht abgeliefert und konnten 1945 wieder aufgezogen werden. Die 1675 von Lorenz Selner gegossene Glocke wird in der Literatur zwar als nach dem Zweiten Weltkrieg im Kircheninventar vorhanden genannt, existiert dort aber nicht mehr.Das aktuelle Geläut umfasst folgende drei Glocken:
== Kirchliches und Brauchtum ==
Die Sebastianikirche ist seit ihrem Bau Filial- und Wallfahrtskirche der Pfarre Mooskirchen. Im 17. Jahrhundert entwickelte sie sich zum bedeutendsten Pestheiligtum der Weststeiermark, verlor aber nach dem Rückgang der Pestausbrüche an Bedeutung. Am 9. November 1618 scheinen mit Gregor Gruebpauer und Sebastian Függerle die ersten urkundlich belegten Kirchenpröpste auf und am 14. August 1684 wird mit Michael Strasser der erste urkundliche nachweisbare Mesner genannt. Mit Barbara Mayer wird am 26. Jänner 1694 auch erstmals eine Mesnerin erwähnt. Zumindest im 19. Jahrhundert wurden mehrere jährliche Märkte bei der Kirche abgehalten, bis in das 21. Jahrhundert erhielten sich aber nur jene zum Sebastianitag (20. Jänner) und am Sonntag nach Peter und Paul (29. Juni). Am 20. Jänner sowie am drauf folgenden Sonntag wird jeweils eine Messe gelesen. Am Markustag (25. April) zieht eine Prozession von der Pfarrkirche Mooskirchen nach Kleinsöding. Drei Tage vor Christi Himmelfahrt wird in der Kirche eine Bittprozession abgehalten.Zumindest seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden Hochzeiten und Taufen in der Kirche gefeiert. Auch dient sie immer wieder als Räumlichkeit für Chor- und Orchesterkonzerte. So gibt es etwa seit 1970 ein Weihnachtssingen. Im Jahr 1979 wurde die uneigennützige Kirchengemeinschaft St. Sebastian mit dem Ziel der Erhaltung der Sebastianikirche gegründet. Seit den 1980er-Jahren veranstaltet die Kirchengemeinschaft im Sommer das sogenannte Riegelfest mit eigenen Gottesdienst bei der Kirche.Im 21. Jahrhundert gibt es noch immer Zuzug von Wallfahrern. So pilgern am Margarethentag (20. Juli) die Bewohner von Berndorf bei Hitzendorf zur Sebastianikirche. Falls der 20. Juli ein Sonntag ist, wird die Wallfahrt verschoben. Diese Wallfahrt geht wahrscheinlich bis in die Pestzeit zurück, die nur sieben Bewohner von Berndorf überlebt haben sollen. Ursprünglich führte sie von Hitzendorf über die Kapelle bei Berndorf und dann weiter nach Kleinsöding, mittlerweile ist aber Berndorf der Ausgangspunkt der Wallfahrt. Es gibt jedoch auch Wallfahrer aus anderen Ortschaften. So pilgern am Ostermontag die Bewohner von Sankt Bartholomä und am Pfingstdienstag die Einwohner von Sankt Johann ob Hohenburg zu der Kirche. Über die Ursrpünge dieser Wallfahrten ist nichts bekannt.Als Dank für die Erlösung von der Pest wird seit dem 17. Jahrhundert am Ostersonntag die sogenannte Maschta abgehalten, eine Marterprozession zur Pfarrkirche nach Mooskirchen. Maschta ist im örtlichen Dialekt die Bezeichnung für Marter, im Sinne von Schmerz, Folter und Martyrium. Neben den Bewohnern von Kleinsöding ziehen auch die Bewohner von Großsöding, Fluttendorf und Stögersdorf nach Mooskirchen. Nur Bewohner des jeweiligen Ortes gehen in der Prozession mit und aus jedem Haus soll zumindest eine Person anwesend sein; dabei dürfen nur die Männer die überlieferten Maschtalieder singen. Jede dieser vier Gruppen trägt ein mit zehn oder zwölf Kerzen bestücktes und mit blauen oder violetten Tüchern behangenes Marterkreuz vor sich her.
== Wappen ==
Das am 18. Februar 1985 verliehene und von Heinrich Purkarthofer entworfene Gemeindewappen, das bis zur Zusammenlegung von Söding mit Sankt Johann-Köppling im Rahmen der steiermärkischen Gemeindestrukturreform am 1. Jänner 2015 Gültigkeit hatte, nimmt indirekt Bezug auf die Filialkirche von Kleinsöding. Die Blasonierung lautet: „In Schwarz zwei goldene Pfeile schräg gekreuzt mit einer brennenden goldenen Kerze, bewinkelt von kreuzständigen goldenen Lilien.“ Die zwei Pfeile weisen auf den Märtyrertod des heiligen Sebastian hin. Die Kerze verweist auf den Volksbrauch des Wachsopfers und das mit Kerzen behängte Vortragekreuz, das bei der Prozession und dem Maschtasingen von der Filialkirche nach Mooskirchen getragen wird.Auch das am 17. Juni 2021 verliehene neue Gemeindewappen von Söding-Sankt Johann nimmt indirekten Bezug auf die Filialkirche. Die Blasonierung dieses Wappens lautet: „In rotem Schild pfahlweise ein silberner Kreuzstab, um den sich ein Spruchband schlingt, unterlegt von zwei mit einer goldenen brennenden Kerze schräg gekreuzten goldenen Pfeilen, balkenweise beseitet von je drei silbernen Getreidehalmen, von denen jeweils die äußeren gekrümmt sind.“ Wie bereits im alten Gemeindewappen weisen auch im neuen Wappen die beiden Pfeile sowie die Kerze auf den Kirchenpatron und den mit der Kirche verbundenen Volksbrauch hin.
== Literatur ==
Gemeinde Söding-Sankt Johann (Hrsg.): Söding. Von drei kleinen Bauerndörfern zur Gemeinde Söding. Gemeinde Söding-Sankt Johann, Söding-Sankt Johann 2016, S. 28–65.
Bundesdenkmalamt (Hrsg.): Dehio Steiermark (ohne Graz). 2. Auflage. Berger, Horn/Wien 2006, ISBN 3-85028-439-5, S. 528.
== Weblinks ==
Klein-Söding (A-Stmk) St. Sebastian Einzel+Vollgeläute. www.youtube.com, abgerufen am 11. März 2022.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Filialkirche_Kleins%C3%B6ding
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Hochwasser in Würzburg
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= Hochwasser in Würzburg =
Hochwasser in Würzburg treten beinahe jährlich auf. Der Main kann dabei nach langanhaltenden Niederschlägen oder nach der Schneeschmelze hohe Wasserstände erreichen. Bei einem Jahrhundert-Hochwasser reicht der Main in Würzburg bis an das Rathaus und überflutet eine Altstadtfläche von etwa 25 Hektar; das Wasser kann sogar fast bis zum Dom hinaufgelangen. Zum Schutz vor einem solchen und 2009 vollendet.
== Hochwasserentwicklung ==
Der Main ab Mündung der Regnitz lässt sich in mehrere Abschnitte unterteilen, in denen die Hochwasser etwa gleichbleibende Abflüsse haben. Der erste Abschnitt endet bei der Einmündung der Fränkischen Saale in Gemünden am Main. Der zweite erstreckt sich von der Fränkischen Saale bis zur Taubermündung, der dritte von der Tauber- bis zur Kinzigmündung, der vierte von der Kinzig- bis zur Niddamündung und der letzte von dort bis zur Mündung des Mains in den Rhein in Mainz. Würzburg liegt im ersten Abschnitt, wo auf einer Fließstrecke von beinahe 200 Kilometern keine größeren Nebenflüsse gegeben sind.
Die Hochwasser in Würzburg werden überwiegend durch die Abflüsse des Mains oberhalb der Regnitzmündung und der Regnitz geprägt. Eine nach dem Zusammenfluss aufgebaute Hochwasserwelle erreicht etwa 36 Stunden später Würzburg. Diese Hochwasserwelle kann durch Zwischengebietseinflüsse verändert werden. Pegelstände über 7 Meter werden als Hochwasser wahrgenommen.Der Main kann dem sogenannten pluvio-nivalen Abflussregime zugerechnet werden. Dieses ist typisch für Mittelgebirgsregionen. Der Main ist geprägt durch ein sommerliches Minimum und zwei winterliche Maxima. Das erste Wintermaximum wird durch Niederschläge am Winteranfang im November/Dezember hervorgerufen. Zu diesem Hochwassertyp zählen die Ereignisse von 1882.
In den Mittelgebirgen werden dann im Hochwinter die Niederschläge in Form von Schnee gebunden. In der frühjährlichen Tauperiode im Februar/März fließt dieser gebundene Schnee ab. Durch das Zusammentreffen mit Frühlingsniederschlägen kann dieses zweite Maximum besonders stark ausfallen, wie 1784 und 1845. Verstärkend kommt dann noch hinzu, dass der Untergrund entweder gefroren oder wassergesättigt und somit nicht aufnahmefähig ist.
Infolge von vermehrten Warmlufteinbrüchen im Winter, die die Schneedecke schon im Hochwinter abschmelzen lassen, bildet sich dann oft nur ein einziges, dafür aber ein breites Abflussmaximum. Die Wasserstände können sich durch den sogenannten Eisstand in wenigen Tagen beträchtlich erhöhen, ohne dass in diesem Zeitraum Niederschlag gefallen ist. Diese Hochwasser werden überwiegend durch Westwetterlagen, die häufigste Großwetterlage Deutschlands, verursacht. Ausführlichere Informationen über die Eisverhältnisse des Mains in Würzburg siehe Pegel Würzburg.
Seltener treten extreme Hochwasser, wie 1342, im Sommer auf. Diese Hochwasser werden nach tagelangem Regen auf bereits gesättigten Böden ausgelöst.
== Quellenlage ==
Anhand der Aufzeichnungen von Historikern aus früheren Jahrhunderten, die den Hochwasserablauf, die Eisverhältnisse und die verursachten Schäden schildern, und der an Gebäuden am Main angebrachten Hochwassermarkierungen konnten einige der höchsten Wasserstände der letzten etwa 700 Jahre rekonstruiert werden. Besonders hervorzuheben sind die Ausarbeitungen von Franz Seberich (1958) und Heinz Schiller (1989), die anhand der überlieferten Wasserstände die Hochwasser der letzten 700 Jahre ermittelt haben.
Für die Hochwasserereignisse in Würzburg gibt auch das unter Denkmalschutz stehende Maintor in Eibelstadt, das etwa zehn Kilometer oberhalb von Würzburg liegt, einen guten Anhaltspunkt. An diesem Tor sind, über die Jahrhunderte verteilt bis zurück in das Jahr 1546, 27 historische Hochwasserstände eingemeißelt.
In Würzburg befinden sich Hochwassermarkierungen bis zum 17. Jahrhundert zurück, so an der Innenseite des aus dem Jahr 1584 stammenden, auch Schwanentor genannten Spiegeltores und am Portal zum Roten Bau des Rathauses. An der heute abgebrochenen Bäckerei Götz in der Karmelitenstraße befanden sich ebenfalls Markierungen. Durch diese Markierungen, die allerdings nicht immer absolut genau sind, lassen sich die einzelnen Wasserstände errechnen. Verschiedene Umstände, wie Stauung, Strömung und Wellenschlag beeinflussten die Messungen. Für das gleiche Hochwasser können demnach unterschiedliche Werte vorliegen.
Von großer Bedeutung sind die Markierungen am Portal des Rathauses aus den Jahren 1682, 1784 und 1845. An gleicher Stelle wurde 2004 vom Umweltamt der Wasserstand von 1342, der durch die Quellenlage recht genau zu ermitteln war, ergänzt. Der Hochwasserstand von 1845 ist durch die Pegelmessung bekannt, so dass die Wasserstände der anderen Hochwasser berechnet werden konnten.
Der 1769 in Schlüsselfeld geborene Würzburger Carl Gottfried Scharold, Churfürstlicher Pfalzgraf, berichtete 1805 in der Würzburger Stadtchronik über mehrere Hochwasser der letzten 400 Jahre, namentlich die Ereignisse von 1306, 1342, 1442, 1451, 1546, 1633 und 1682.
Des Weiteren gab er mehrere Hochwasser aus dem 18. Jahrhundert an, die alle über dem Pflaster des Bronnbacher Hofes gemessen worden waren. Anhand des bekannten Wasserstandes von 1784 konnten die anderen Höchststände ermittelt werden. So liegen Angaben für die Hochwasser von 1682, 1740, 1744, 1764, 1782, 1784 und 1805 vor.
Der Würzburger Magister Lorenz Fries berichtete in einer um 1546 erschienen Würzburger Chronik über mehrere Hochwasser in Würzburg.
== Hochwasserstände ==
Die Abflussverhältnisse und die daraus resultierenden Wasserstände änderten sich im Laufe der Zeit. Durch den Eingriff des Menschen veränderte sich das Bettvolumen (Breite und Tiefe) des Mains. Durch den stetigen Ausbau des Mains erhöht sich der Abfluss bei gleichem Wasserstand. Bei gleichem Hochwasserscheitel wie in früheren Jahren kann heute mehr Wasser abfließen. Um die Hochwasser besser miteinander vergleichen zu können, wird deshalb heute neben der Höhe des Wasserstandes auch die Menge des abfließenden Wassers gemessen.
Das Hochwasser vom 21. August 1820 erreichte bei einem Abfluss von 1350 m³/s einen Wasserstand am Pegel von 720 Zentimetern. Etwa 180 Jahre später und nach vielen baulichen Änderungen im und am Fluss, erreichte das Hochwasser vom 6. Januar 2003 bei gleichem Abfluss von 1350 m³/s einen Pegelstand von 648 Zentimetern. Das Hochwasser vom 17. Januar 2011 erreichte bei einem etwas höheren Abfluss von 1368 m³/s einen Pegelstand von 642 Zentimetern. Dementsprechend hat die Anzahl der hohen Wasserstände abgenommen.
Bedingt durch die baulichen Änderungen im Würzburger Bereich, basieren die historischen Jährlichkeitsangaben nur auf dem Abfluss, da die damaligen Wasserstände deutlich höher waren als heute und so zu verfälschten Jährlichkeiten führen würden. Alle Angaben ab 1823 stammen vom Pegel Würzburg; davor resultieren sie aus Hochwassermarkierungen und historischen Berichten.
Ausführliche Angaben über die Änderungen der Abflussverhältnisse und die Jährlichkeiten siehe Pegel Würzburg.
Als hundertjährliche Abflussereignisse werden Abflussmengen von 2000 m³/s und mehr charakterisiert. Das geschah in den Jahren 1342, 1442, 1451, 1546, 1595, 1682, 1784 und 1845. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert lagen die Abflussmengen unter 2000 m³/s.
== Hochwasserereignisse ==
=== 1306 ===
Von diesem Hochwasser gibt es keine Berichte über die Höhe des Wasserstandes, es muss aber eine große Höhe erreicht haben. Aus einem Ablassgesuch von 1322 geht hervor, dass die Alte Mainbrücke bei diesem Hochwasser schweren Schaden genommen hat. Die Reparaturen der Brücke zogen sich über einen längeren Zeitraum hin und waren bis zum Hochwasser 1342 noch nicht beendet.Einen Bericht über das Hochwasser gibt Scharold:
=== Juli 1342 ===
Das Hochwasser von 1342 ist das herausragende Hochwasserereignis in Mitteleuropa. Es wird beinahe in jeder Abhandlung über Hochwasser ausführlich beschrieben. Dieses Ereignis hinterließ an allen mitteleuropäischen Flussgebieten große Schadensbilder. Auf vielen agrarisch genutzten Flächen und im Wald wurden bis zu 14 Meter tiefe Schluchten in die Landschaft gerissen und Erosionsrinnen geschaffen, die auch heute noch teilweise landschaftsbestimmend sind. In bodenkundlichen und morphologischen Arbeiten wurde dies erkannt. Die Zerstörung der gesamten Ernten verursachte anschließend eine Hungersnot.Dieses Hochwasser, auch Magdalenenhochwasser genannt, da es am St.-Magdalenentag auftrat, war in Würzburg und am Main das bisher größte. Die Hochwasserwelle traf am frühen Vormittag des 21. Juli 1342 in Würzburg ein. Statistisch ist dieses Hochwasser nicht mehr erfassbar; es wird so eingestuft, dass es seltener als ein 1000-jährliches Hochwasser eintritt.
In den Quellen wird von hohem Schaden und mehreren hundert Toten im Einzugsbereich des Rheins berichtet. In Würzburg zerstörte das Hochwasser die Alte Mainbrücke und viele Häuser.
Das Hochwasser von 1342 ist noch unzureichend erforscht. Topographische Veränderungen an Flüssen, die bisher auf weit zurückliegende geologische Zeiten datiert wurden, werden jetzt vermehrt diesem Hochwasser zugeschrieben.
==== Verlauf ====
Es handelte sich um ein Sommerhochwasser. Die meisten großen Hochwasser am Main liegen jedoch in der besonders gefährdeten Zeit vom 1. November bis 30. April. Dieses Hochwasser wurde durch eine sogenannte Vb-Wetterlage, ähnlich wie beim Oderhochwasser 1997, verursacht. Dabei wird ein Bodentief mit Wasser aufgeladen, das sich über dem warmen Mittelmeer im Golf von Genua und über der Adria befindet. Es umgeht die Alpen im Osten, um so nach Norden zu gelangen, ohne sich in den Alpen abzuregnen und führt zu extremen Niederschlägen, die teilweise mehrere Tage anhalten.
Nach einem schneereichen kalten Winter hatte die Schneeschmelze im Februar bereits ein erstes, eher unbedeutendes Hochwasser ausgelöst. Ein feuchter Frühsommer sorgte für einen langanhaltenden hohen Wasserstand am Main. Der Sommer selbst war auch ungewöhnlich nass. Der Boden war noch vom feuchten Frühjahr gesättigt. Im Sommer fiel innerhalb von nur zwei Tagen in weiten Gebieten ungefähr die Hälfte der üblichen Niederschläge eines Jahres, die eine Überschwemmungskatastrophe in Mitteleuropa auslöste, wie sie sich in Höhe und Ausmaß der Schäden später nicht mehr ereignete.
==== Wasserstand ====
Über dieses Ereignis existiert keine Markierung in oder bei Würzburg. In den historischen Aufzeichnungen wird berichtet, dass das Wasser bis an die erste steinerne Säule an den Domgreden reichte. Anhand dieser Angabe lag der Grenzwert des Wasserstandes bei vorsichtig abgeschätzten 950 bis 1030 Zentimetern. Dies entspricht einem Abfluss von 3050 bis 3600 m³/s. Die Domgreden waren ein hallenartiger Vorbau des Doms zur Domstraße hin, der aus einer mit drei Rundbogen abgeschlossenen Halle und einem Obergeschoss bestand. Der Domwächter nutzte das Obergeschoss als Wohnung, die Halle diente als Markt. Dieser Vorbau war um 1200 errichtet worden und wurde 1644 abgebrochen.An der Wand des Vorbaues befand sich nachstehende Inschrift über das Ereignis von 1342:
„Anno milleno tercento quandrante secundo
Accedit Herbipoli, quod Magnus ilico cum vi
Pontem confregit multos hominisque coegit
Casis exire, si non voluere perire.
Praxis in festo talis fluvii menor esto
Navibus hi portus quando fuere gradus“Dieser lateinische Vers gibt den Praxedistag, Sonntag den 21. Juli, den heutigen St.-Magdalenentag, als Tag des Hochwassers an. Des Weiteren geht aus dem Vers hervor, dass das Wasser bis nahe an den Fuß der jetzigen Domtreppe reichte.Der Fuß der heutigen Domtreppe liegt auf 175,3 Meter über Normalnull. Wie groß die Halle selbst war, ist nicht bekannt. Die Greden werden bei drei Rundbogenstellungen kaum länger als 25 Meter gewesen sein. Im Bereich der damaligen ersten Säule liegt die heutige Straßenoberfläche bei etwa 174,8 Meter über Normalnull. Vermutlich lag das Gelände in diesem Bereich damals einen halben Meter niedriger, wobei man zu einem Wasserstand von 174,3 Metern über Normalnull kommt, was dem heutigen Pegel von 1000 Zentimetern entspricht. Zu einem weiteren, durch die zerstörte Brücke bedingten Aufstau dürfte es nicht gekommen sein, da sich der Dom in der verlängerten Brückenachse befindet.
==== Historische Berichte ====
Am Hof zum Großen Löwen in der Dominikanergasse war eine Gedenktafel zum Hochwasser angebracht. Diese Tafel befindet sich inzwischen im Mainfränkischen Museum – die Übersetzung des Textes lautet:
In den gesammelten Texten von Weikinn findet sich eine Beschreibung des Hochwassers:
Zu diesem Hochwasser gibt es in Würzburg in der Chronica de episcopus Maguntinus einen Bericht:
Ein ausführlicher Bericht stammt von dem Würzburger Michael de Leone, der Augenzeuge des Ereignisses war:
Ein Bericht über das Hochwasser und die Zerstörung der Alten Mainbrücke findet sich bei Fries:
Scharold schildert das Ereignis folgendermaßen:
=== Juli 1442 ===
Auf den Tag genau 100 Jahre nach dem zerstörerischen Jahrtausendhochwasser kam es in Würzburg am 21. Juli 1442 zu einem erneuten starken Hochwasser. Bei diesem Hochwasser wurde die Alte Mainbrücke stark beschädigt. Wegen fehlender Informationen, wie weit das Wasser in die Stadt eingedrungen ist, gibt es zu diesem Hochwasser keine Höhenangaben. Anhand der überlieferten Schäden ist ein Abfluss von etwa 2500 m³/s anzunehmen, was einem Wasserstand von etwa neun Metern entspricht. An der Alten Mainbrücke, die als steinerne Brücke 1342 zerstört worden war, wurden später fast alle Brückenjoche aus Holz errichtet, die bei Hochwasser leichter weggespült werden konnten.
Die Existenz dieses Hochwassers wird teilweise angezweifelt, da es um das gleiche Datum wie das 1342er-Hochwasser auftrat. In der Geschichte der Alten Mainbrücke ist allerdings eine teilweise Zerstörung aus dem Jahre 1442 überliefert. Es dauerte nach dem Hochwasser bis 1474, bis die Alte Mainbrücke wiederhergestellt wurde.
Fries schildert zu diesem Ereignis:
Eine ähnliche Schilderung des Ereignisses gibt Scharold:
=== Januar 1546 ===
Ein großes Hochwasser ereignete sich am 24. Januar 1546. In Berichten wird geschildert, dass das Wasser bis zum Schoderhaus auf dem Marktplatz reichte, was einer Höhe von etwa 860 Zentimetern entspricht. Das deutet auf einen Abfluss von etwa 2200 bis 2300 m³/s hin und würde eine Jährlichkeit von etwa 200 entsprechen. Seberich gibt dieses Hochwasser nur mit einer Höhe von 690 Zentimetern bei einem Abfluss von etwa 1200 m³/s an. Eine vorhandene Hochwassermarke am Maintor in Eibelstadt, die zwischen den Markierungen von 1909 und 1948 liegt, deutet einen Wasserstand von etwa 700 bis 750 Zentimetern in Würzburg an.Scharold schildert über dieses Hochwasser:
=== 1573 ===
1573 scheint es zwei Hochwasser gegeben zu haben. Über diese Hochwasser gibt es nur wenige Berichte. Seberich gibt, nur mit Jahresangabe, eine Wasserhöhe von 760 Zentimetern, bei einem Abfluss von etwa 1650 m³/s an. Dies entspricht etwa einem 50-jährlichen Hochwasser. Bei einem Hochwasser Anfang 1573 hat die Alte Mainbrücke starke Schäden davongetragen.
Über dieses Hochwasser gibt es einen Bericht von Bürgermeister Heinrich Wilhelm vom 15. Januar 1573, der dieses Ereignis schilderte:
In Eibelstadt am Maintor existiert eine Marke vom 16. Mai 1573. Dies bedeutet für Würzburg einen Wasserstand von etwa 750 Zentimetern und könnte sich auf das von Seberich genannte Ereignis beziehen.
=== März 1595 ===
In den ersten drei Monaten des Jahres 1595 ereigneten sich mehrere Hochwasser am Main. Ihnen voraus ging ein sehr kalter und harter Winter. Anfangs herrschte eine trockene, strenge Kälte, die den ganzen Main zufrieren ließ, so dass auch die Mühlen stillstanden. Danach fiel sehr viel Schnee. Durch einen plötzlichen Warmlufteinbruch kam es im Januar zu einem Eisaufbruch, der sich im Februar und März zu großen Hochwassern entwickelte. Für Würzburg sind keine genauen Daten der einzelnen Hochwasserwellen bekannt. Im März erreichte das Wasser einen Höchststand von 840 Zentimetern bei einem Abfluss von 2000 bis 2200 m³/s. Dies entspricht einem 100- bis 200-jährlichen Hochwasser.
Ausführliche Informationen über dieses Ereignis liegen aus Nürnberg vor, das von der Pegnitz, einem Nebenfluss des Mains durchflossen wird. Am 24. Januar 1595 traf in Nürnberg die Warmluft ein und zwei Tage später schwoll die Pegnitz zum ersten Mal an. Durch den Eisabgang und den Eisstau kam es zu erheblichen Schäden. Am 5., 8. und 10. März ereigneten sich drei Hochwasser. Diese hatten, obwohl zeitlich eng beieinander liegend, unterschiedliche Auslöser. Das erste wurde durch die Schneeschmelze im Flachland und einen erneuten Eisgang ausgelöst. Der einsetzende Dauerregen führte zur Schneeschmelze in den Bergen und zu den Hochwassern am 8. und 10. März. Die Hochwasserwellen vereinigten sich in Bamberg mit den Wellen vom Obermain.
=== Januar 1633 ===
Das Hochwasser am 25. Januar 1633 reichte laut den Berichten bis zur Schustergasse hoch, die 172,5 m über Normalnull liegt, was einen Pegelstand von 800 Zentimetern und einem Abfluss von etwa 1900 m³/s entspricht. Dies entspricht einem 50- bis 100-jährlichen Hochwasser.
Scharold schildert über dieses Hochwasser:
=== Januar 1682 ===
Das Hochwasser wurde durch intensive Niederschläge innerhalb von zwei Wochen im Januar ausgelöst und verursachte einen Eisabgang am Main. Das Hochwasser begann in Würzburg am 25. Januar in der Nacht zu steigen und erreichte am 27. Januar den Höchststand. Es war nach 1784 das zweithöchste durch Markierungen überlieferte Hochwasser in Würzburg. Am Main führte es zu den höchsten Markierungen überhaupt und wird nur von dem Hochwasser von 1784 übertroffen. Unterhalb von Wertheim, wo die Tauber in den Main mündet und der Untermain beginnt, liegen die Markierungen noch teilweise über denen von 1784.
Die Hochwassermarke am Rathausportal zeigt eine Höhe von 173,18 Metern über Normalnull und damit 29 Zentimeter mehr als 1845 an. Im Vergleich zu dem per Pegel registrierten Hochwasser von 1845 hatte das Hochwasser einen Pegelstand von 863 Zentimetern, bei einem Abfluss von 2250 m³/s. Es handelte sich um ein 100- bis 200-jährliches Hochwasser.
Eine Schilderung des Hochwassers gibt Scharold:
=== September 1732 ===
Ende September ereignete sich ein Hochwasser zu einer sehr ungewöhnlichen Jahreszeit. Laut den Berichten gab es sehr starke Niederschläge am 29. und 30. September 1732. Diese verursachten ein sehr schnell steigendes Hochwasser. Über dieses Hochwasser gibt es für Würzburg keine Angaben über den Wasserstand, auch nicht in der näheren Umgebung. Im flussabwärts gelegenen Wertheim zählt dieses Ereignis zu einem der schlimmsten Hochwasser in der Geschichte der Stadt. Die Hochwassermarkierungen liegen dort weit über denen von 1845 und nur knapp unterhalb der von 1784 und 1682.In den gesammelten Texten von Weikinn findet sich eine Schilderung über das Hochwasser:
=== Februar 1784 ===
Ende Februar 1784 ereignete sich am Main, wie auch an vielen anderen Flüssen in Mitteleuropa, ein extremes Hochwasser. Dieses nach 1342 zweithöchste Hochwasser wird im mittleren Maingebiet als 300- bis 500-jährliches Ereignis eingestuft. Die Hochwassermarke am Rathausportal zeigt eine Höhe von 173,83 Metern über Normalnull und damit 94 Zentimeter mehr als 1845 an. Im Vergleich zu dem am Pegel registrierten Hochwasser von 1845 hatte das Hochwasser von 1784 einen Pegelstand von 928 Zentimetern, bei einem Abfluss von 2600 m³/s.
==== Schäden ====
Ein Warmlufteinbruch nach langer Frostperiode verursachte durch Regen, Schneeschmelze und Eisbruch im gesamten mitteleuropäischen Raum Hochwasser. An allen größeren Haupt- und Nebenflüssen erfolgte der Eisgang zeitgleich. Erschwerend kam hinzu, dass sich durch zeitweise herrschende Tauphasen mehrere Eisdecken übereinander geschoben hatten, die dann wieder festgefroren waren. Dieses Hochwasserereignis wird als eine der größten Umweltkatastrophen der frühen Neuzeit in Mitteleuropa angesehen. Das Hochwasser verwüstete ganze Talzüge, unzählige Brücken wurden zerstört.
Das Wasser stieg in Würzburg so hoch, dass die neue Kaserne geräumt werden musste. Die Soldaten wurden gegen den Willen der Stadt Würzburg in bürgerliche Häuser einquartiert. Die Schäden am Eigentum der Menschen waren beträchtlich. Die Regierung erließ eine Weisung an alle am Main liegenden Ämter und Klöster, dass alle Funde von Mobilien und Gerätschaften, die nicht der Obrigkeit gemeldet wurden, als Diebstahl eingestuft werden sollten.
Das Wasser bereitete besondere Probleme in Kirchen und Klöstern. Die Kirche Sankt Burkhard auf der linken Mainseite wurde stark beschädigt. Alle Grabplatten wurden aufgerissen, die Kirchenstühle ineinander verschoben und es wurde viel Unrat in die Kirche geschwemmt. Nach dem Hochwasser ließ die geistliche Regierung des Hochstifts alle Kirchen, in die Wasser eingedrungen war, schließen. Darunter fielen die Burkharder Kirche, die Kirche der Karmeliter (Reuerkirche), die Pleicher Kirche und das Barbarakloster. Der Gottesdienst der Burkharder Kirche wurde bis zum 16. Mai 1784 in der Kirche des Deutschen Ordens (heute Deutschordenkirche) ausgerichtet. Über die Karmelitenkirche wurde berichtet, dass das Wasser die Leichname aus den Gräbern gespült hatte. Die weltliche Regierung sah darin eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung. Professoren der medizinischen Fakultät der Universität Würzburg untersuchten nach dem Ablaufen des Wassers die betroffenen Kirchen und rieten allen Einwohnern, an ungefährlichen Plätzen behutsam Tannenholzfeuer anzulegen und die Häuser mit Wacholdersträuchern auszuräuchern. Daraufhin empfahl die Regierung das Feuer nur in gewöhnlichen Herdstellen anzulegen und riet von der Verwendung von Schießpulver ab. Anfang April wurden die Pleicher Kirche und die Karmelitenkirche wieder geöffnet. Aber auch danach bereitete die Feuchtigkeit in den Kirchen Probleme, weshalb angeblich auch Gottesdienstbesucher ohnmächtig wurden.
Zu Schäden kam es auch im Keller des Sankt Burkardischen Rückermainamtes, das mit Wasser vollgelaufen war. Im Keller wurden Kelter umgestürzt, zwei Fuder Wein in einem Fass gingen zugrunde. Vier Fässer mussten mit Eisen gebunden werden, weil durch das lang anhaltende Wasser die hölzernen Reifen abgesprungen waren.
Beschädigt wurden in Würzburg auch die Brückenbögen und Brückenpfeiler der Alten Mainbrücke, die untere Mainmühle, das Wehr und die Kranenkaimauer. Für diese Schäden forderte die Hofkammer als Abschlag 5000 Gulden von den Holzhändlern. Diese seien dafür verantwortlich gewesen, weil die sogenannten Holländerstämme unkontrolliert auf dem Main geschwommen seien und dadurch viel Schaden angerichtet hätten.
In der Stadt wurden verschiedene Gebäude, das Pflaster und Straßen und Wege durch das Wasser ruiniert und unbrauchbar. Die Augustinerschanz wurde ebenfalls zerstört. Die Versorgung der Bevölkerung mit Brot bereitete zeitweise Probleme, da in der Stadt viele Backöfen unter Wasser standen und die Main- und die Kanalmühle schwere Schäden aufwiesen. Die Behebung der Schäden kostete der Stadt viel Geld und zog sich zum Teil über Jahre hin. Selbst im Jahr 1788 weigerte sich die Stadt noch, durch das Wasser angehäufte Steine unter dem Wehr auf ihre Kosten zu beseitigen.
Das Hochwasser verursachte am Main auch eine geomorphodynamische Wirkung. Es kam in einzelnen Regionen, wie bei Gambach, zu Erosion und Hangabrutschungen durch Unterspülung. Vergleichbare Beschreibungen sind auch aus dem Rhein-, Mosel-, Saar-, Weser- und Odergebiet überliefert.
Letztendlich kam die Stadt noch glimpflich davon; es liegen keine Berichte über Todesopfer vor, die Sachschäden beliefen sich allerdings auf mehrere Tausend Gulden. Unter der Teilnahme des Bischofs wurde am 18. März 1784 in der Marienkapelle ein Dankfest abgehalten.
In anderen Regionen, wie in Bamberg, kamen beim Einsturz einer Brücke 36 Menschen zu Tode. In Köln am Rhein starben über 1000 Menschen, 600 Schiffe und hunderte Häuser wurden zerstört.
==== Verlauf ====
Im gesamten europäischen Raum war der Winter 1783/84 äußerst schneereich und sehr kalt. Die Frostperiode hielt im Würzburger Raum insgesamt 13 Wochen an. Die Kälte begann im Dezember 1783 und es froren daraufhin fast alle Gewässer in Mitteleuropa zu. Der Große Belt war schon so stark zugefroren, dass man mit Schlitten und Wagen von Dänemark nach Schweden fahren konnte. Um den 26./27. Dezember trat bei den Temperaturen eine kurze Besserung ein, sie fielen jedoch bis zum Jahresende erneut stark. Diese extreme Kälte hielt bis Mitte Januar 1784 an. Von Mitte Januar bis zum 21./22. Februar wurde diese Kaltphase immer wieder von kurzen Phasen mit etwas milderen Temperaturen unterbrochen. In diesem Zeitraum fiel auch häufig Schnee.
Der Winter war von Dezember bis Februar sehr schneereich. Vom 24. Dezember 1783 bis zum 21. Februar beobachtete man beispielsweise in Mannheim 29 Schneefallereignisse, die teilweise tagelang anhielten. Der Schnee wuchs in manchen Regionen auf mehr als 1,5 Meter Höhe an, wobei am 27. und 28. Dezember 1783 im Rhein-Neckar-Raum etwa 45 Zentimeter Schnee fielen.
Der Februar brachte viel Schnee und Eis. In Würzburg türmte sich der Schnee so hoch, dass der Bischof Franz Ludwig von Erthal 100 Dukaten aus seinem Eigentum gab, um das Eis und den Schnee aus der Stadt schaffen zu lassen. Der Bischof beauftragte auch die Hofkammer, die Hofpferde zum Wegschaffen bereitzustellen. Dem vorausgegangen war eine Ermahnung der Regierung an die Bevölkerung, keinen Unrat aus den Häusern in den Schnee zu schütten, da der Müll mit Schnee und Eis eine gefährliche Mischung bildete.
Um den 23. Februar brachte ein plötzlicher Warmlufteinbruch die enormen Schneemassen, die sich im Winter angesammelt hatten, zum Schmelzen. Diese Warmluft wurde durch ein blockierendes Hoch über Osteuropa, das in Mitteleuropa eine meridional orientierte Zirkulation zur Folge hatte, ausgelöst. Die Veränderung der Großwetterlage führte in Mainfranken wie auch in weiten Teilen Europas warme Luftmassen aus westlichen und südlichen Richtungen heran. Der Winter war vorher überdurchschnittlich lange vom Großwettertyp Hoch Mitteleuropa und Ost geprägt, wobei sehr kalte Luftmassen aus nördlichen und östlichen Richtungen herangeführt worden waren. Der Warmlufteinbruch wurde infolge großräumiger Aufgleitbewegungen von hohen Niederschlägen geprägt.
Bedingt durch die rasche und starke Erwärmung, die von heftigen Regenfällen begleitet war, kam es am 27. und 28. Februar 1784 zum Bruch und Aufstau des Eises am Main in Würzburg. Verursacht durch die enormen Schmelzwassermassen, den Eisstau und die starken Niederschläge begann nun der Main sehr schnell zu steigen. Der höchste Wasserstand wurde am 29. Februar erreicht. Die Hochwasserwelle hielt bis zum 1. März 1784 an. In Würzburg wurden während des Hochwassers die gefährdetsten Plätze beleuchtet und Viertelmeister, und Bürgerschaft hielten am Wasser nächtliche Wache. Der Bischof begutachtete persönlich die Brücke. Das Eis begann am 27. Februar gegen zwölf Uhr zu brechen und staute sich oberhalb der Alten Mainbrücke auf. Die Eisschollen, Holländerbäume und das Gehölz richteten erhebliche Schäden an der Brücke an. Das Wasser stieg am 29. Februar bis vier Uhr an und erreichte den Kürschnerhofbogen beim Regierungsgebäude.
Nach diesem Warmlufteinbruch trat kurze Zeit, bedingt durch die erneute Änderung der Großwetterlage, erneut Kälte ein, die Niederschläge ließen nach, und der Mainpegel sank wieder rasch ab. Das blockierende Hoch hatte sich aufgelöst, und die vorherigen Wetterlagen konnten sich wieder etablieren. Es strömte wieder Kaltluft aus nördlichen und östlichen Richtungen nach Mitteleuropa.
==== Spenden ====
Der Bischof rief nach der Flut zu Spenden auf. Aus christlichen Motiven bat er die Bevölkerung um Hilfe, wobei er sich auch selbst beteiligen wollte, er könnte aber nicht alles alleine finanzieren. Er ließ der Stadt 400 Exemplare seines Aufrufs zur Verteilung geben, mit dem Titel:
Die Pfarrer wurden aufgefordert, Spenden zu sammeln und ein Verzeichnis aller Spender zu erstellen. An diese wurde ein nummerierter Schein ausgegeben, auf dem die Höhe der Spende sowie der Name des Spenders vermerkt waren. Zum Schluss der Spendenaktion sollten die Spenden im Wochenblatt veröffentlicht werden. Die Stadt Würzburg trug 400 Gulden bei, wobei jeweils 100 Gulden vom Wasserzollamt, von der Getreidestiftung, vom Bürgerspital und von der Brücknerschen Stiftung kamen. Mehr konnte die Stadt nach eigenen Aussagen nicht aufbringen. 200 Gulden spendete ein Teil des Personals der Hofkammer, 100 Gulden kamen vom Ritterstift Sankt Burkhard.
==== Einstufung ====
Dieses Hochwasser wird aus hydrographischer Sicht am Main dem Normaltyp zugeordnet, da es zu diesem regelmäßig, vor allem im Winter infolge lang anhaltender Niederschläge, verbunden mit der Schneeschmelze, kommt. Die Jährlichkeit wird für Würzburg mit 412 Jahren angegeben. Im mittleren Maintal, von der Regnitz-Einmündung bei Bamberg bis zur Einmündung der Fränkischen Saale bei Gemünden wird eine Wiederkehrzeit von etwa 400 Jahren geschätzt. In diesem Bereich sind die Hochwassermarkierungen von 1784 die höchsten. Im Bereich zwischen der Fränkischen Saale und der Tauber wird bereits eine Wiederkehrzeit von 250 Jahren angegeben. Für den Unterlauf von der Taubereinmündung bis zur Mündung in den Rhein liegt die Jährlichkeit bei 150 Jahren. In diesem Bereich liegen die Markierungen des Hochwassers von 1682 noch über denen des Jahres 1784. Für das gesamte Maingebiet, von der Regnitzmündung bis zur Mündung in den Rhein, wird ein durchschnittlicher Wert von 200 Jahren, nach denen sich eine vergleichbare Flutwelle einstellen kann, angegeben.
==== Historische Berichte ====
Im Würzburger Ratsprotokoll ist das Ereignis wie folgt geschildert:
Eine sehr ausführliche Beschreibung findet sich in der Chronik des mainaufwärts gelegenen Kitzingen:
Im benachbarten Wiesenbronn wird in der Chronik der Familie Hüßner ebenfalls über dieses Hochwasser berichtet:
=== März 1845 ===
Das Hochwasser vom März 1845 ist das höchste der letzten 200 Jahre und seit Beginn der Pegelmessungen am Main. Verursacht wurde es wiederum durch Eisabgang. Der Winter war sehr streng und dauerte vom Dezember 1844 bis Ende März 1845. Der Main war auf ganzer Länge zugefroren, und selbst am Rhein konnten Fuhrwerke den Fluss überqueren. Das Hochwasser wurde durch einen Wetterumschwung, der mildere Luft herbeiführte und das Eis der Flüsse in Bewegung setzte, ausgelöst. Dieser Prozess begann am Rhein bereits Ende Februar und Anfang März. Das Eis setzte sich dort langsam in Bewegung und bildete an engen Flussstellen Eisbarrieren.
Der Main war am 23. März, einem Sonntag, noch so fest zugefroren, dass in Aschaffenburg eine Kegelbahn und Fischbäckereien auf dem Eis eingerichtet werden konnten. Das Tauwetter begann dann am 27. März mit starken Regenfällen. Dabei brach das Eis auf, und der Main trat schnell über das Ufer. In Würzburg wurde der höchste Wasserstand am 30. März erreicht. Dieser betrug am Pegel 834 Zentimeter bei einem Abfluss von 2170 m³/s. Das 100- bis 200jährliche Hochwasser hielt bis Anfang April an, bis das Eis abgeschmolzen war und sich die Lage wieder normalisierte. Sehr ähnlich lief ein zeitgleiches Elbhochwasser ab.
=== Dezember 1882 ===
Das Hochwasser von 1882 zeichnete sich mehr durch seine extreme zeitliche Länge als auch durch seine Höhe aus. Es erreichte Ende November und Ende Dezember zwei Höchststände. 1882 war ein besonders nasses Jahr. Von Oktober bis Dezember fiel fast doppelt so viel Niederschlag wie in anderen Jahren. Ende November schmolz bei starken Regenfällen eine vorhandene Schneedecke weg und verursachte ein Hochwasser, das in Würzburg am 28. November einen ersten Höhepunkt erreichte. Erneute starke Niederschläge verursachten zum Ende des Jahres eine neue Hochwasserwelle, die in Würzburg ihren Höhepunkt am 29. Dezember erreichte. Das Hochwasser dauerte bis zum Anfang des Jahres 1883 an.
Der Pegelstand betrug am 28. November 728 Zentimeter bei einem Abfluss von 1460 m³/s. Das zweite Hochwasser war am 29. Dezember mit einem Pegelstand von 749 Zentimetern und einem Abfluss von 1670 m³/s noch etwas höher. Die Jährlichkeit beider Hochwasser wird mit 20 bis 50 Jahren angegeben.
=== Februar 1909 ===
Im Februar 1909 ereignete sich das größte Hochwasser seit 1845. In Würzburg dauerte es vom 6. bis zum 8. Februar und stand die Domstraße hinauf bis oberhalb des Vierröhrenbrunnens. In den letzten Tagen im Januar gingen starke Schneefälle voraus. Anfang Februar ging der Schneefall in Regen und ein fünf Tage anhaltendes Tauwetter über. Durch das Schmelzwasser trat der Main über die Ufer. Der höchste Wasserstand wurde mit einem Pegelstand von 760 Zentimetern am 7. Februar 1909 erreicht, bei einem Abfluss von 1800 m³/s. Dies entspricht einem 50- bis 100-jährlichen Hochwasser.
=== Januar 1920 ===
Der Winter 1919/1920 brachte seit Oktober und November starke Schneefälle in den Mittelgebirgsregionen. Tauwetter ließ Ende Dezember 1919 den Main das erste Mal über die Ufer treten. Nach dem Jahreswechsel fiel der Pegel wieder recht schnell, bedingt durch eine Hochdrucklage mit trockener Kälte. Einsetzendes Tauwetter im Januar 1920, das mit starkem Regen und Sturm kam, ließen den Main erneut sehr schnell steigen. Am 16. Januar 1920 wurde in Würzburg der höchste Wasserstand erreicht. Dieser betrug am Pegel 721 Zentimeter bei einem Abfluss von 1540 m³/s. Dies entspricht einem 20- bis 50-jährlichen Hochwasser.
=== Februar 1970 ===
1970 ereignete sich das letzte größere Hochwasser in Würzburg, das Teile der Altstadt überflutete. Das Hochwasser wurde durch Tauwetter in den Mittelgebirgen ab dem 20. Februar und starke Niederschläge ausgelöst. In Süddeutschland fielen vom 21. bis zum 23. Februar bis zu 70 Liter pro Quadratmeter auf den noch gefrorenen Boden. In den Mittelgebirgsregionen lagen verbreitet mehr als 50 Zentimeter Schnee, die bei dem Tauwetter wegschmolzen. Dies verursachte eine Hochwasserwelle, die Würzburg am 25. Februar 1970 erreichte. Der Wasserstand hatte eine maximale Höhe von 669 Zentimetern, bei einem Abfluss von 1390 m³/s. Dies entspricht einem 10- bis 20-jährlichen Hochwasser. Starker Frost, der am 25. Februar einsetzte, ließ die Wasserstände wieder rasch zurückgehen.
=== Januar 2003 ===
Im Januar 2003 ereignete sich in Würzburg das höchste Hochwasser seit 1970, das allerdings, bedingt durch den seit Mitte der 1980er-Jahre fertiggestellten provisorischen Hochwasserschutz, nur wenige Schäden anrichtete. Das Hochwasser, das durch starke Niederschläge auf gesättigten Böden ausgelöst wurde, erreichte am 6. Januar 2003 Würzburg und hatte einen Wasserstand von 648 Zentimeter, bei einem Abfluss von 1350 m³/s. Es handelte sich um ein 10- bis 20-jährliches Hochwasser.
==== Verlauf ====
Der Dezember 2002 war in Nordbayern, bedingt durch eine ausgeprägte Luftmassentrennung, durch viele Regentage geprägt. In Nordbayern blieben viele Wetterstationen an nur vier Tagen niederschlagsfrei. Die Böden waren dadurch bereits wassergesättigt, und der Main führte mit seinen Nebenflüssen bereits stark erhöhte Wasserstände. Vom 20. bis 24. Dezember und vom 26. Dezember bis zum 4. Januar 2003 gab es ergiebige Dauerregenphasen. Dabei fielen in den meisten Regionen Nordbayerns mehr als 100 Liter pro Quadratmeter. Die stärksten Niederschläge fielen dabei im Einzugsgebiet der flussabwärts in den Main mündenden Fränkischen Saale, die dabei ein starkes Hochwasser mit einer Jährlichkeit von 100 bis 200 verursachte. Die Nebenflüsse des Mains begannen ab dem 2. Januar zu steigen. Am 4. Januar traf die Hochwasserwelle des Obermains bei Bamberg auf die Scheitelwelle der dort mündenden Regnitz. Die Scheitelwelle, die bis Schweinfurt zunächst eine Jährlichkeit von 20 bis 50 aufwies, erreichte dann am 6. Januar 2003 Würzburg.
=== Januar 2011 ===
Im Januar 2011 ereignete sich in Würzburg mit einem Pegelstand von 6,42 Metern das zweithöchste Hochwasser seit 1970. Vom Abfluss her war es sogar das stärkste seit 1970. Dank dem im Jahr 2008 fertiggestellten Hochwasserschutz gab es nur wenige Schäden im Stadtgebiet. Das Hochwasser wurde durch starke Niederschläge und die dadurch bedingte Schneeschmelze ausgelöst. Im Einzugsgebiet des Mains war es der kälteste Dezember seit 1969 und einer der schneereichsten Wintermonate seit etwa 100 Jahren. Die Schneedecke, die in den Niederungen flächendeckend eine Höhe von 30 bis 50 Zentimeter hatte, schmolz bei einem Wärmeeinbruch und zeitweise starken Niederschlägen innerhalb von wenigen Tagen bis auf Reste weg.
== Hochwasserschutz ==
Die Stadt Würzburg wurde in den letzten Jahrhunderten des Öfteren von verheerenden Hochwassern heimgesucht. Diese reichten mehrmals bis zum Rathaus, aber auch vereinzelt bis zum Dom hinauf. Bei einem Hochwasser der Jährlichkeit 100 werden im rechtsmainischen Altstadtbereich zwischen der Friedensbrücke und der Ludwigsbrücke, einem städtebaulich und denkmalpflegerisch sehr sensiblen Bereich, eine Fläche von etwa 25 Hektar überflutet. In diesem Bereich leben rund 3000 Menschen. Die linksmainischen und die Gebiete auf der rechten Mainseite liegen größtenteils höher und sind deswegen nicht besonders hochwassergefährdet.
Es ist nicht möglich, Hochwasser oberhalb von Würzburg durch Speicherbecken zurückzuhalten oder abzuflachen. Dies ist bedingt durch die Größe des Einzugsgebietes und die damit verbundenen großen Abflüsse im Falle eines Hochwassers. Aufgrund der vorhandenen Bebauung des Uferbereiches und der vielfältigen Nutzung des Mains ist eine Vergrößerung des Abflussprofils, die einen Einfluss auf den Wasserstand hätte, nicht möglich. Als einzige realisierbare Möglichkeit, den rechtsmainischen Altstadtbereich vor Hochwassern zu schützen, verbleibt nur die Abschottung durch einen funktionsfähigen Hochwasserschutz.
Der erste provisorische Hochwasserschutz stammt aus dem Jahre 1983 und war bis zu einem Pegel von etwa 650 bis 670 Zentimetern ausgelegt. Bis zum Jahre 2008 wurde ein Schutz der Altstadt vor einem 100-jährlichen Hochwasser, das einem Pegelstand von 835 entspricht, errichtet. Ein solches ist zuletzt 1845 aufgetreten.
=== Geschichte ===
Für den Altstadtbereich, der eine Uferlänge von etwa 1,5 Kilometer umfasst, wurden bereits nach dem Zweiten Weltkrieg beim Wiederaufbau der Stadt zwei Abschnitte des Hochwasserschutzes errichtet. Diese halten einem etwa 100-jährlichen Hochwasser stand. Der erste Abschnitt, Stadtbalkon genannt, eine stellenweise begehbare Stützmauer, befindet sich unweit der Ludwigsbrücke und hat eine Länge von etwa 300 Metern. Der zweite Abschnitt ist eine Häuserzeile am Unteren Mainkai. Die mainseitigen Wände der Häuserzeile wurden wasserdicht ausgeführt.
Enorme Schäden im Stadtgebiet verursachte das Hochwasser von 1970. Infolge dieses 20-jährlichen Ereignisses beantragte die Stadt Würzburg, vertreten durch das Wasserwirtschaftsamt Würzburg, beim Freistaat Bayern den Bau eines Hochwasserschutzes, um den gesamten rechtsmainischen Altstadtbereich zwischen der Friedensbrücke und der Ludwigsbrücke vor Hochwasser zu schützen.
Mit den Bauarbeiten unter der Trägerschaft des Freistaates wurde 1971 begonnen. Mit dem Bau des Kaufhauses Hertie (heute Wöhrl) wurde Ende der 1970er-Jahre eine etwa 160 Meter große Baulücke der Altstadt geschlossen. Das Kaufhaus wurde im Rahmen der erforderlichen Hochwasserschutzmaßnahmen mit Untergrundabdichtung und Schutztoren versehen.
Beim Bau des Congress-Zentrums (CCW) wurde 1986 ebenfalls ein Hochwasserschutz in das Gebäude integriert. Das Herzstück des Würzburger Hochwasserschutzes ist das 1988 fertiggestellte, aus 14 Pumpen bestehende Pumpwerk. Es befindet sich unterhalb des CCW-Parkplatzes am ehemaligen Viehhofgelände und dient bei Hochwasser als Binnenentwässerung. Es hat eine Gesamtleistung von 4000 Litern pro Sekunde und pumpt bei Hochwasser das anfallende Regenwasser aus dem Kanalnetz in den Main.
Im Bereich des Alten Kranen folgte 1990 der Hochwasserschutz. Beim heutigen Haus des Frankenweins, dem ehemaligen Zollgebäude, wurde beim Wiederaufbau 1990 des Weinkellers und der Gaststätte zum Main hin eine Dichtwand aus sich überlappenden Bohrpfählen errichtet. Mit Aluminiumdammbalken können die drei Torbögen der angrenzenden Kranengarage im Hochwasserfall verschlossen werden.
Die Lücke bei der Karmelitenstraße wurde 1993 mit einer 15 Meter langen Hochwasserschutzmauer verkürzt. Die verbliebene Straßenöffnung wird seit 1998 bei Bedarf mit drei Meter langen Stahlstützen und 2,5 Meter langen Aluminiumdammbalken verschlossen. Überlappende Bohrpfähle wurden zur Gründung und Untergrundabdichtung bis zum Fels abgeteuft.
Der Hochwasserschutzabschnitt im Bereich des Alten Kranen wurde von 1997 bis 2001 als letzter offener Abschnitt verwirklicht und am 11. Oktober 2001 eingeweiht. Dieser 200 Meter lange Hochwasserschutz am Kranenkai wurde gemeinsam mit dem Ausbau der Straßenbahnlinie 2/4 errichtet. Die Projektierung dieses Abschnittes geht auf einen städtebaulichen Ideenwettbewerb im Jahr 1984 zurück.
Dieser Hochwasserschutz entstand unter Berücksichtigung der denkmalpflegerischen und städtebaulichen Sichtweise. Es ist ein zuverlässiger Schutz, gewährt eine optimierte Verkehrsführung und gestaltet den Übergangsbereich von der Stadt zum Fluss optisch ansprechend.
Die Durchfahrt bei der Kranenbastion und die Zufahrt zum Parkplatz an der Friedensbrücke können mit Dammbalken verschlossen werden. Die überwiegend brüstungshohe Hochwasserschutzmauer kann mit Dammbalken um bis zu einem Meter erhöht werden und reicht bis zum anstehenden Fels in fünf Meter Tiefe. Zum Hochwasserschutz gehört auch eine Dränage, die das ansteigende Grundwasser zu einer Pumpstation leitet, die dann das Wasser aus dem geschützten Gebiet heraus hinter dem Hochwasserschutz in den Main pumpt.
Um den angestrebten Schutz vor einem 100-jährlichen Hochwasser zu gewährleisten, musste auch die letzte, 280 Meter lange Lücke zwischen der Reibeltgasse und dem Kaufhaus Wöhrl geschlossen werden. Der Hochwasserschutzabschnitt wurde Ende 2004 begonnen und 2009 fertiggestellt. Zu den vorgesehenen Baumaßnahmen in den nächsten Jahren zählt auch die Sanierung der bestehenden Schutzmauer am Unteren Mainkai und am Stadtbalkon. Am Stadtbalkon sollen auch die vorhandenen Kellerfenster mit beweglichen Verschlüssen ausgestattet werden. Die Binnenentwässerung oberhalb der Alten Mainbrücke und in der Kärnergasse muss weiter ausgebaut werden. Dort sollen eine Dränageleitung mit den entsprechenden Pumpstationen gelegt und weitere Anpassungsmaßnahmen im Kanalnetz durchgeführt werden.
Die verbliebene Lücke im baulichen Hochwasserschutz für die Innenstadt wurde geschlossen und gleichzeitig die stadträumlichen Vorzüge der Lage am Main gestärkt. Das Konzept basiert auf einer kleinen aber bedeutsamen Verlagerung der Verkehrsführung im zentralen Bereich des einen Kilometer langen Uferabschnittes. Die daraus entstandene Platzanlage bietet nicht nur einen beeindruckenden Blick auf die Marienfeste, sondern unterstützt die stadträumlichen Verweilqualitäten mit Baumpflanzungen und gastronomischen Angeboten. Eine durchgängige Uferpromenade schließt im Norden an die historische Silberstiege der alten Mainbrücke an und führt im Süden zu den neuen Schiffsanlegern. Die Konzeption der Hochwasserschutzfunktion reagierte auf die unterschiedlichen stadträumlichen, konstruktiven und bauhistorischen Gegebenheiten. Der nördliche bauliche Hochwasserschutz verläuft linear vor der bestehenden Bebauung. Der so entstandene Zwischenbereich wurde entsprechend den Anforderungen von Anliegern und Denkmalschutz individuell gestaltet. Die südlich anschließende Platzanlage erhielt eine Kombination aus baulichem und mobilem Hochwasserschutz, dessen Elemente in die Platzgestaltung integriert wurden.
=== Betrieb ===
Der Entwässerungsbetrieb (EBW) der Stadt, der die Anlagen der Binnenentwässerung betreut, ist für die Sicherstellung des Hochwasserschutzes und den rechtzeitigen Aufbau der mobilen Schutzvorrichtungen zuständig. Um einen reibungslosen Ablauf im Hochwasserfall zu gewährleisten, wird der Hochwasserschutz einmal jährlich übungsweise aufgebaut.Für den Aufbau der etwa 1000 Dammbalken mit einem Gesamtgewicht von 35 Tonnen und einem Gewicht von jeweils 27 Kilogramm und der 75 Stützen, 75 bis 350 Kilogramm schwer, bleiben dem EBW etwa 36 Stunden Zeit. Der Aufbau richtet sich nach dem zu erwartenden Höchststand der Hochwasserwelle.
=== Kosten ===
Seit Beginn der Arbeiten im Jahr 1971 wurden bis zum Jahresende 2003 etwa 7,5 Millionen Euro für den Hochwasserschutz ausgegeben. Der Freistaat Bayern trug hiervon 4,5 Millionen Euro. Die Stadt und die Stadtwerke, die nur im Bereich des Kranenkais beteiligt waren, übernahmen die verbleibenden drei Millionen Euro. Für den noch ausstehenden Baubereich werden höhere Kosten als die bisher ausgegebenen 7,5 Millionen Euro angenommen. Die Kosten für den vollständigen Hochwasserschutz und die weiteren Baumaßnahmen belaufen sich auf etwa 20 Millionen Euro, wobei der Freistaat Bayern 67 Prozent übernommen hat.
== Literatur ==
Franz Seberich: Die alte Mainbrücke zu Würzburg. Mainfränkische Hefte, Heft 31, Buchdruckerei Karl Hart, Volkach vor Würzburg, Würzburg 1958.
Martin Schmidt: Hochwasser und Hochwasserschutz in Deutschland vor 1850. Kommissionsverlag Oldenbourg Industrieverlag München, München 2000, ISBN 3-486-26494-X.
Heinz Schiller: Ermittlungen von Hochwasserwahrscheinlichkeiten am schiffbaren Main und überregionaler Vergleich der Ergebnisse. in Informationsberichte des Bayerischen Landesamtes für Wasserwirtschaft, München 1989.
Rüdiger Glaser: Historische Hochwässer im Maingebiet – Möglichkeiten und Perspektiven auf der Basis der Historischen Klimadatenbank Deutschland (HISKLID). in Erfurter Geographische Studien, Band 7, 1998.
Bayerisches Landesamt für Wasserwirtschaft (Hrsg.): Spektrum Wasser 1 – Hochwasser – Naturereignis und Gefahr. Universitätsdruckerei und Verlag Dr. C. Wolf & Sohn GmbH & Co. KG, München 2004, ISBN 3-930253-93-3.
Wasser- und Schifffahrtsdirektion Süd (Hrsg.): 175 Jahre Pegel Würzburg – Daten und Fakten. Böhler Verlag, Würzburg 1999.
Rüdiger Glaser: Klimageschichte Mitteleuropas – 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. Primus Verlag, Darmstadt 2001, ISBN 3-89678-405-6.
Carl Gottfried Scharold: Stadtgeschichte Würzburg. Würzburg 1818, Beiträge zur Chronik von Würzburg, S. 151–153.
== Weblinks ==
Wasserstandsgrafik Würzburg vom Hochwassernachrichtendienst Bayern (www.hnd.bayern.de)
Hochwasser am Pegel Würzburg bei Wuerzburg.de
HochwasserAktionsplan Main
Hochwasserschutz Würzburg beim Wasserwirtschaftsamt Aschaffenburg
Entwässerungsbetrieb Würzburg (EBW)
Alte Fotos vom Hochwasser 1970
Main-Hochwasser in Neustadt, Rothenfels, Hafenlohr und Marktheidenfeld
Viele Bilder und weitere Informationen zum Thema Hochwasser in Würzburg (private Homepage)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hochwasser_in_W%C3%BCrzburg
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Anwerbepolitik der Bundesrepublik Deutschland
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= Anwerbepolitik der Bundesrepublik Deutschland =
Durch die Anwerbepolitik der Bundesrepublik Deutschland wurden ab Mitte der 1950er-Jahre Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben und vermittelt. Die Bundesregierung verfolgte diese Politik bis wenige Jahre nach der ersten Ölkrise von 1973. Die hierfür grundlegenden Anwerbeabkommen wurden in den Jahren von 1955 bis 1968 mit Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien geschlossen. Auf Basis dieser Vereinbarungen gewährte Deutschland den ausländischen Arbeitnehmern einen zeitlich befristeten Aufenthalt im Land zum Zweck der Erzielung von Erwerbseinkommen. Mit weiteren Staaten wurden Anwerbeabkommen geschlossen, die der Erweiterung beruflicher Kenntnisse dienen sollten. Die Angeworbenen wurden Gastarbeiter genannt, wobei dieser Begriff ab den 1960er Jahren nach faktischem Wegfall der zeitlichen Befristung auch als Bezeichnung für Arbeitsmigranten im Allgemeinen populär wurde. Insgesamt kamen von 1955 bis 1973 etwa 14 Millionen Gastarbeiter in die Bundesrepublik, 11 bis 12 Millionen kehrten in ihre Herkunftsländer zurück. Am 23. November 1973 trat ein von der sozialliberalen Koalition verhängter Anwerbestopp in Kraft.
== Verlauf ==
=== Erstes Anwerbeabkommen mit Italien ===
Der Anstoß zu einer Vereinbarung, die Anwerbung von Italienern für die Erwerbsarbeit in der Bundesrepublik zu beginnen, kam aus Italien. Bernhard Ehmke, zuständiger Ministerialrat im Bundesarbeitsministerium, umriss am 9. November 1954 in einer Besprechung die Lage: „Intensiver… Drang des Auslandes, in der deutschen Wirtschaft Arbeitskräfte unterzubringen. [Kein Ministerbesuch vergeht,] bei dem diese Frage nicht Punkt 1 ist.“ Er nannte besonders Italien und Spanien. Insbesondere in Italien war die hohe Arbeitslosigkeit und die Sorge vor kommunistischen Unruhen zunehmend zu einem innenpolitischen Problem geworden. Nach einem Jahr italienischen Drängens setzte ein Bündnis aus Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, Auswärtigem Amt und Franz Josef Strauß als Bundesminister für besondere Aufgaben bei Bundeskanzler Konrad Adenauer durch, dass auf die italienischen Bitten einzugehen sei. Die Bündnispartner verfolgten dabei jeweils eigene Interessen. Der Bundeswirtschaftsminister sorgte sich um das Außenhandelsdefizit Italiens, das einen weiteren Absatz deutscher Güter in Italien bedrohte. Das Auswärtige Amt verfolgte die Verbesserung der Beziehungen nach der zuletzt zwischen beiden Seiten konfliktreichen Kriegszeit. Strauß wollte mit dem Eingehen auf die italienischen Bitten den Forderungen nach Lohnerhöhungen seitens deutscher Gewerkschaften entgegentreten. Bundesarbeitsminister Anton Storch dagegen hatte zunächst eine ablehnende Haltung und „hatte zwar in Anbetracht anhaltender Arbeitslosigkeit zunächst noch die öffentliche Meinung einschließlich der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften hinter sich, unterlag aber schon bald dem vom Auswärtigen Amt bereits während der Verhandlungen mit Italien generierten Primat der Außenpolitik.“ Einer der Gründe, die für ein Einlenken Storchs genannt werden, ist, dass Ehrhard das Abkommen mit Italien als „prophylaktisch“ darstellte: Es diene vor allem dafür, im eventuellen Fall eines Arbeitskräftemangels schnell Arbeitskräfte heranziehen zu können. Den Ausschlag für den Abschluss habe gegeben, dass sich im Herbst 1955 tatsächlich ein unerwarteter Bedarf an Arbeitskräften in der Landwirtschaft abgezeichnet habe; Storch habe daraufhin selbst auf einen baldigen Abschluss gedrängt.
Am 20. Dezember 1955 wurde in Rom das erste Anwerbeabkommen geschlossen. Italien hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mit Belgien, Frankreich, der Schweiz, Großbritannien, Luxemburg, den Niederlanden und der Tschechoslowakei bilaterale Anwerbeabkommen geschlossen. Laut dem Historiker Roberto Sala orientierten sich die italienischen Behörden beim Abschluss dieser Abkommen am historischen Beispiel der Anwerbung von Italienern in das nationalsozialistische Deutschland, bei dem sämtliche Modalitäten der Anwerbung auf diplomatischer Ebene ausgehandelt und festgeschrieben wurden.Das deutsch-italienische Abkommen legte fest, dass die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (Vorläufer der Bundesagentur für Arbeit) in Italien gemeinsam mit der italienischen Arbeitsverwaltung Arbeitskräfte auswählen und anwerben solle.Eine Umfrage des Allensbacher Instituts vom März 1956 ergab, dass 55 % der befragten bundesrepublikanischen Bürger sich „dagegen“ aussprachen, „daß italienische Arbeiter nach Deutschland geholt werden“ „Dafür“ waren 20 %, „unter Umständen dafür“ waren 6 %. „Noch nicht davon gehört“ hatten 18 %. Von den 55 % ablehnenden Antworten gab die große Mehrheit (41 %) als Begründung an, es gebe genügend deutsche Arbeitskräfte.Bei der Anwerbung war der ökonomische Aufschwung der Nachkriegszeit von wesentlicher Bedeutung. Anfang der 1950er stieg die Industrieproduktion stark an, und nicht zuletzt durch die Gründung der Bundeswehr 1955 und die Wiedereinführung der Wehrpflicht (1956–57) sanken die Arbeitslosenzahlen merklich. Insbesondere in der Landwirtschaft und im Bergbau wuchs der Arbeitskräftebedarf. Die Zahl der Anwerbungen blieb jedoch in den ersten Jahren gering. Erst nachdem 1960 die Arbeitslosigkeit unter ein Prozent gefallen war und es mehr offene Stellen als Arbeitslose gab, also Vollbeschäftigung vorlag und die Industrien ihren Bedarf auch nicht mehr durch Zuwanderer aus Osteuropa und der DDR decken konnten, nahm die Zahl der Anwerbungen erstmals deutlich zu.
=== Nachfolgende Anwerbeabkommen ===
In den folgenden Jahren wurden nach dem Abkommen mit Italien vom 20. Dezember 1955 weitere Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und den Entsendeländern zur Reduzierung von deren Leistungsbilanzdefizit gegenüber der Bundesrepublik Deutschland geschlossen: im März 1960 mit Spanien und mit Griechenland, am 30. Oktober 1961 mit der Türkei, danach mit Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien.
Der Anwerbung lagen folgende Prinzipien zugrunde:
staatliche Vermittlung (wobei parallel dazu andere Wege bestanden),
das Inländerprimat (nur in den Bereichen durften Arbeitskräfte angeworben werden, in denen inländische Arbeitskräfte fehlten),
die Tarifgleichheit (die angeworbenen Arbeitskräfte waren nach den gleichen Tarifen zu entlohnen wie Inländer mit vergleichbaren Tätigkeiten),
das Rotationsprinzip (zu Beginn galten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse nur für ein Jahr),
eine permanente Kontrolle (Ausweisung von Vertragsbrüchigen, Verhinderung einer „kommunistischen Infiltration“).
Bei der Anwerbung spielten neben ökonomischen Gründen auf bundesdeutscher Seite auch außenpolitische Motive eine Rolle. Die Initiative ging hierbei von den Entsendeländern aus. Dass in der Praxis sehr viele Arbeitsmigranten vermittelt wurden, wird demgegenüber weitgehend auf den Druck der Arbeitgeber und die Umsetzung durch die Behörden zurückgeführt.Auf Initiative der spanischen Diplomatie entstand das Abkommen mit Spanien, wobei die bundesdeutsche Regierung sich davon mehreres versprach. Einerseits bestand die Erwartung, dort Arbeitskräfte anwerben zu können, die dort aufgrund des wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesses arbeitslos würden, nachdem auf Basis des Stabilitätsplans von 1959 – dem Plan de Estabilización – die franquistische Wirtschaftspolitik durch einen Wirtschaftsliberalismus ersetzt worden war. Andererseits ging es außenpolitisch darum, die Annäherung Spaniens an Westeuropa zu stützen.Es folgte ein Abkommen mit Griechenland, das sich seit 1955 darum bemüht hatte. Auch beim Anwerbeabkommen mit der Türkei ging die Initiative vom Entsendeland aus. Anton Sabel, Präsident der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, äußerte am 26. September 1960 gegenüber dem Arbeitsministerium, arbeitsmarktpolitisch sei eine Vereinbarung mit der Türkei in keiner Weise notwendig. Allerdings könne er nicht beurteilen, „wie weit sich die Bundesrepublik einem etwaigen solchen Vorschlag der türkischen Regierung verschließen kann, da die Türkei ihre Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beantragt hat und als NATO-Partner eine nicht unbedeutende politische Stellung einnimmt.“ Die Wirtschaftshistorikerin Heike Knortz weist darauf hin, dass die Türkei ihre NATO-Mitgliedschaft ebenso wie ihren Wirtschaftsaustausch mit Deutschland als Argumente für ein Anwerbeabkommen einbrachte. Der Historiker Johannes-Dieter Steinert führt den Erfolg der Bewerbung der Türkei auf ihre Rolle als NATO-Mitglied zurück, sieht aber für ein direktes Eingreifen anderer NATO-Partner keine Anhaltspunkte.Der Journalist Heribert Prantl bezeichnet das Abkommen mit der Türkei und die nachfolgenden Anwerbeabkommen als eine indirekte Folge des Mauerbaus, da durch den Stopp des Zustroms von Menschen aus dem Osten ab August 1961 von dort keine neuen Arbeitskräfte kamen, die in der Industrie hätten eingesetzt werden können. Dieser Einschätzung widerspricht der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser; zwischen dem Mauerbau und der Anwerbung türkischer Arbeitnehmer gebe es keinen Zusammenhang, weil ganz unterschiedliche Sektoren des Arbeitsmarktes betroffen gewesen seien, insbesondere bezogen auf das Qualifikationsniveau.Anfang der 1960er lehnte die Bundesregierung bereits zahlreiche Anfragen nach Anwerbeabkommen aus außereuropäischen Staaten ab. Die Abkommen mit der Türkei (1961), Marokko (1963) und Tunesien (1965) sahen verschärfte Bedingungen vor: Die Anwerbung war auf zwei Jahre beschränkt; die Gesundheitsprüfung diente bei Menschen aus der Türkei und Tunesien nicht nur zur Überprüfung der Arbeitsfähigkeit, sondern auch dem Seuchenschutz. Für türkische Arbeitsmigranten wurde mit Wirkung zum 30. September 1964 die Befristung, die zuvor auf Wunsch der Bundesrepublik sowie der Türkei eingeführt worden war, aufgehoben. Die Zahlen der Arbeitsmigranten aus Marokko und Tunesien blieben im Vergleich zur Türkei gering: Marokkaner und Tunesier zogen vielfach eine Auswanderung nach Frankreich vor. In Deutschland arbeiteten die meisten marokkanischen Arbeiter im Steinkohlenbergbau, andere in der metallverarbeitenden Industrie, dem Baugewerbe und der Landwirtschaft. Das Anwerbeabkommen mit Marokko beruhte vor allem auf dem Interesse deutscher Arbeitgeber des Bergbaus an marokkanischen Bergarbeitern aus der Rif-Region; auf diplomatischer Ebene ging es auch um eine engere Anbindung an den Westen.Außerdem schloss die Bundesrepublik Abkommen mit Südkorea für die Anwerbung von Bergarbeitern (1963) und Krankenschwestern (1971), wobei sowohl wirtschaftliche als auch außenpolitische Motive eine Rolle spielten.Am 10. September 1964 wurde der Portugiese Armando Rodrigues de Sá als millionster Gastarbeiter in Deutschland feierlich begrüßt. Zu diesem Zeitpunkt waren insgesamt 78 % der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland männlich, 22 % weiblich. Der Anteil der Frauen stieg dort im Zeitraum von 1960 bis 1973 von 15 % auf rund 30 %. Der Anteil der Erwerbstätigen war im Jahr 1970 unter ausländischen Frauen (55 %) deutlich höher als unter westdeutschen Frauen (29 %).In den 1960er Jahren erhielten die Gastarbeiter zumeist als un- oder angelernte Arbeiter einen Arbeitsplatz in der Industrie. Dabei arbeiteten sie vor allem in Bereichen, in denen schwere und schmutzige Arbeit verrichtet werden musste und wo das Schichtsystem, serielle Produktionsformen mit niedrigen Qualifikationsanforderungen (Fließbandarbeit) sowie der Akkordlohn den Arbeitsalltag bestimmten. Zu Beginn wurden vor allem ungelernte Arbeitskräfte angeworben, später auch Facharbeiter. Man spricht auch von einer Unterschichtung der Arbeitswelt, da Migranten vor allem unbeliebte und schlecht bezahlte Arbeiten übernahmen und einheimische Arbeitnehmer in einer Art Fahrstuhleffekt höher bezahlte Stellen erreichen konnten. Nach allgemeiner Auffassung trugen die angeworbenen Arbeitskräfte aus dem Ausland erheblich zum deutschen „Wirtschaftswunder“ bei.
Für die Unternehmen als Nachfrager von Arbeitskräften hatte die Rekrutierung von Gastarbeitern finanzielle Vorteile, weil aus ihrer Perspektive deutsche Arbeiter dieselben Arbeitsplätze nur mit erheblichen Lohnzugeständnissen angenommen hätten. Die zusätzlichen Arbeitskräfte fungierten als eine mobile Arbeitskraftreserve, zugespitzt auch als „industrielle Reservearmee“ bezeichnet. Im Umkehrschluss hatte die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften somit Einfluss auf das Lohnniveau von deutschen Anbietern von Arbeitskraft, insbesondere im Niedriglohnbereich. Frauen wurden meist für den Niedriglohnsektor oder für die damaligen Leichtlohngruppen angeworben.Um Widerstände in den Herkunftsländern gegen die Anwerbung von Frauen ins Ausland zu überwinden, wurden Frauen möglichst nur in Gruppen angeworben, wurden Arbeitsplätze und Unterkünfte vom Arbeitsamt vorab auf moralische Zuträglichkeit überprüft und wurde eine intensive Betreuung angestrebt, vorzugsweise durch die Caritas oder den Katholischen Mädchenschutz. Viele zogen dorthin, wo bereits Verwandte oder der Ehepartner lebten. Mütter zählten nicht zur vorrangigen Zielgruppe der Anwerbung, und kinderreiche Mütter wurden im Rahmen des Ermessens nicht angenommen. Schwangere hatten zwar prinzipiell Anspruch auf Mutterschutz und Kündigungsschutz, den Anspruch auf gleichberechtigte sozialstaatliche Teilhabe sprach die Bundesanstalt jedoch Arbeitgebern gegenüber nicht offen an. Ab 1969/1970 setzten die Anwerbekommissionen bei der Auswahl Schwangerschaftstests ein. Insgesamt war und blieb die Arbeitsmigration trotz gegenteiliger Bemühungen eng mit der Familienmigration verknüpft.Die Abkommen mit Italien, Spanien, Griechenland und Portugal enthielten jeweils eine Klausel zum Familiennachzug, die eine wohlwollende Prüfung eines Antrags auf Familiennachzug seitens der bundesdeutschen Behörden in Aussicht stellte. Die Abkommen mit der Türkei, Marokko, Tunesien und Jugoslawien enthielten hingegen keine solche Klausel. Bei dem Abkommen mit Portugal (1964) drängte das Innenministerium zunächst ebenfalls auf einen Ausschluss des Familiennachzugs, setzte dies aber nicht durch.
Die Möglichkeit des Familiennachzugs wurde in den Jahren 1965/1966 durch Beschlüsse der Innenministerkonferenz weiter geregelt. Sie bestand für Ehegatten und minderjährige Kinder bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, wurde zunächst aber nur wenig genutzt. Viele ausländische Arbeitskräfte „pendelten“ vielmehr, indem sie nach ihrem Aufenthalt in der Bundesrepublik wieder in ihr Herkunftsland zurückkehrten, um danach eine erneute Beschäftigung in Deutschland aufzunehmen. Die Innenministerien von Bund und Ländern vertraten im Vergleich zu anderen Ministerien eine restriktivere Position. Sie entwickelten Pläne, um den Aufenthalt im Land durch einen Rückkehrzwang und durch Hürden beim Familiennachzug zu begrenzen – ähnlich wie dies im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik geregelt gewesen war. Angesichts des wirtschaftlichen Interesses an der Arbeitsmigration setzten sie diese Pläne in den 1960er-Jahren jedoch nicht gegenüber anderen beteiligten Ressorts durch.Im Zuge der Rezession 1966/1967 kehrten viele Gastarbeiter in ihre Heimat zurück, da ihre Verträge nicht verlängert wurden. Etwa 100.000 jugoslawische Arbeitskräfte kamen von 1961 bis 1968 auf der Basis privater Verträge mit Arbeitgebern nach Deutschland. Nachdem die Bundesrepublik im Januar 1968 wieder diplomatische Beziehungen mit Jugoslawien aufgenommen hatte – 1957 waren die Beziehungen wegen der Hallstein-Doktrin abgebrochen worden –, wurde mit diesem Land im selben Jahr ein Anwerbeabkommen geschlossen. Dies geschah aus außenpolitischen Erwägungen und trotz ausdrücklicher Vorbehalte des Bundesarbeitsministeriums. Ab 1970 bildeten die Türken die größte Gruppe von Ausländern in der Bundesrepublik.Im November 1972 beendete ein Rundschreiben des Auswärtigen Amtes an deutsche Konsulate die Möglichkeit, ohne Einbeziehung der Anwerbekommission mit einem Arbeitsvisum einzureisen („zweiter Weg“). Im Jahr 1973, zur Zeit der Ölkrise und der damit verbundenen Wirtschaftsflaute, wurde ein Anwerbestopp von Gastarbeitern verhängt.
=== Anwerbestopp 1973 ===
Am 23. November 1973 verfügte die Regierung Brandt II durch einen Erlass des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) aus Anlass der aktuellen Energie- und Wirtschaftskrise einen Anwerbestopp, unterzeichnet von Bundesarbeitsminister Walter Arendt. Der Erlass beendete die Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer aus allen Anwerbestaaten mit Ausnahme Italiens und ordnete zugleich eine restriktive Praxis bei der Neuerteilung von Arbeitserlaubnissen an. Laut Abelshauser war für den Stopp nicht allein die konjunkturelle Krise relevant, also die Ölkrise von 1973 und ihre Folgen, sondern auch eine sich abzeichnende strukturelle Krise – die ersten Anzeichen einer „Krise der standardisierten Massenproduktion“, welche „der Nachfrage nach ungelernten Industriearbeitern dauerhaft die Grundlage entzog“. Andere sehen einen wesentlichen Grund für den Anwerbestopp darin, dass die Regierung sich der sozialen und politischen Kosten der Anwerbeprogramme stärker bewusst geworden sei. Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps waren etwa 2,6 Millionen ausländische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik beschäftigt. Danach hielt die Zuwanderung auf einem niedrigen Niveau weiter an. Es handelte sich nunmehr weitgehend um nachziehende Ehepartner und Kinder.Mit einer Weisung zur Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer vom 13. November 1974 nahm die Bundesanstalt für Arbeit bestimmte Branchen vom Anwerbeverbot aus. Es handelte sich dabei um die Branchen Bergbau, Fisch- und Konservenindustrie, Torfindustrie und Hotel- und Gaststättengewerbe. Da das Übereinkommen mit Südkorea in Artikel 1 vorsah, im Zusammenhang mit der Anwerbung „die beruflichen Kenntnisse der koreanischen Bergarbeiter zu erweitern und zu vervollkommnen“, wurde die Anwerbung koreanischer Bergarbeiter als „technische Entwicklungshilfe“ eingestuft und musste daher nicht unterbrochen werden. Aus Südkorea wurden über den offiziellen Anwerbestopp hinaus bis 1977 weiterhin Bergarbeiter, Krankenschwestern und Krankenpflegehelferinnen angeworben.Ab dem 1. Dezember 1974 galt eine Arbeitsmarktzugangssperre: Bereits in der Bundesrepublik lebende Ausländer konnten von da an keine Arbeitserlaubnis mehr für eine erstmalige Beschäftigungsaufnahme erhalten. Ausnahmen galten diesbezüglich nur für bestimmte jugendliche Familienangehörige ausländischer Arbeitskräfte sowie in Bereichen mit hohem Arbeitskräftebedarf.Der „Anwerbestopp“ (1973) bedeutete für in Deutschland beschäftigte Arbeitsmigranten, dass ihnen nunmehr die Möglichkeit versperrt war, unter Kündigung des Arbeitsverhältnisses in die Heimat zurückzukehren und später wieder eine Arbeit in Deutschland aufzunehmen. Dieser Umstand, verstärkt durch eine Reduzierung des Kindergelds für nicht in Deutschland lebende Kinder (1975), führte in den 1970ern zu einem verstärkten Nachzug von Familienangehörigen, obwohl die Politik zunächst weiterhin an der dem „Rotationsmodell“ zugrunde liegenden Idee festhielt, dass der Aufenthalt von Gastarbeitern nur für eine beschränkte Zeit erfolgen solle. Da auf diesem Hintergrund das Thema einer Integrationspolitik von Seiten der Politik weitgehend ausgeklammert wurde, beschränkte sich die öffentliche Diskussion vornehmlich auf arbeitsmarkt- und verteilungspolitische Gesichtspunkte. Ungeachtet dieser Situation entwickelte sich die in den 1950er Jahren amtlich organisierte Arbeitswanderung gegen Ende der 1970er Jahre real zu einer „Einwanderungssituation“. Zum 1. Oktober 1978 ermöglichte eine Neuregelung des Aufenthaltsrechts („Verfestigungsregelung“) ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen unter bestimmten Bedingungen nach fünf Jahren ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalts den Zugang zur unbefristeten Aufenthaltserlaubnis und nach acht Jahren zur Aufenthaltsberechtigung. Das Rotationsmodell, das „offiziell und offen“ ohnehin zu keinem Zeitpunkt praktiziert worden war, spielte gegen Ende der 1970er Jahre keine Rolle mehr; stattdessen setzte eine kontroverse Diskussion um die endgültige Rückkehr der ursprünglich Angeworbenen in ihre Heimatländer ein.
=== 1980er: Rückkehrförderung, beginnende Integration, Mauerfall ===
Im Jahr 1980 erreichten parallel dazu die Asylbewerberzahlen mit 92.918 Anträgen für 107.818 Personen einen ersten Höchststand. Es kam zu wachsender Arbeitslosigkeit und einem steigenden Ausländerzuzug; in Debatten in Politik und Medien wurden Arbeitsmigration und Asyl als „Ausländerthema“ vermengt und ideologisiert. Die Bundesregierung führte 1980 eine Visumpflicht für Türken ein. Zugleich bedeuteten die Beschlüsse 2/76 und 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei eine größere Freizügigkeit zur Erbringung wirtschaftlicher Dienstleistungen und für den Aufenthalt von Familienangehörigen. Gesellschaftlich wurde in Deutschland die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Italien, Spanien, Griechenland und Portugal als notwendige Folge der europäischen Integration angesehen, nicht aber die Zuwanderung aus der Türkei. Helmut Kohl, der 1982 Bundeskanzler wurde, richtete die Ausländerpolitik auf drei Schwerpunkte aus: die Aufrechterhaltung des Anwerbestopps, die Einschränkung des Familiennachzugs und die Förderung der Rückkehrbereitschaft. Laut Protokollen der britischen Regierung hielt Kohl es für nötig, über die folgenden vier Jahre „die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren“. Mit dem umstrittenen Rückkehrhilfegesetz (RückHG) zur finanziellen Förderung der Rückkehrbereitschaft ausländischer Arbeitnehmer versuchte die Bundesregierung 1983/84 eine Entlastung des Arbeitsmarktes zu erzielen, der von zunehmender Arbeitslosigkeit gekennzeichnet war.
Eine im Jahr 1984 durchgeführte Umfrage unter 2.000 Menschen, bei der Mehrfachnennungen möglich waren, die Rückkehrhilfe beantragten, zeigte, dass für alle außer den türkischen Rückkehrern die Arbeitsplatzprobleme der wesentlichste Grund für die Rückkehr war. Etwa die Hälfte der befragten türkischen Arbeitnehmer nannten Heimweh und Arbeitsplatzprobleme und jeder Dritte von ihnen gesundheitliche Probleme. Ausländerfeindlichkeit nannten rund 10 Prozent der Spanier und Griechen sowie jeder Vierte der Jugoslawen und Türken als Motive für die Rückkehr. Im Jahr 1984 bildeten türkische Staatsangehörige etwa 40 % der aus Deutschland fortziehenden Ausländer, hauptsächlich als Folge des Rückkehrhilfegesetzes; zuvor hatten sie 1976 und 1977 jeweils ein Viertel aller Fortzüge von Ausländern aus Deutschland dargestellt.Mitte der 1980er Jahre wurde viel für die Integration von Ausländern getan. Nach dem Mauerfall kam es jedoch für Einwanderer der ersten Generation verstärkt zu Erfahrungen gesellschaftlicher Ablehnung und einer wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheit. Ereignisse wie die Ausschreitungen in Hoyerswerda, in Rostock-Lichtenhagen, in Mölln und in Solingen sowie die einsetzende Asyldebatte beförderten die Befürchtung einer Ausgrenzung als Ausländer.
=== Ausblick ===
Die Zeitspanne der Anwerbepolitik wird heute als eine von mehreren Phasen in der Geschichte der bundesdeutschen Zuwanderungspolitik aufgefasst, auch „Anwerbephase“ genannt. Für Nicht-EU-Bürger gilt der Anwerbestopp nach Maßgabe der einschlägigen ausländerrechtlichen Bestimmungen de facto bis heute, wenngleich er durch andere Möglichkeiten wie den Familiennachzug, die Aufenthaltserteilung zum Zweck des Studiums und die Öffnung legaler Zuzugswege für Fachkräfte teilweise relativiert wurde. In den 1980er Jahren traten Griechenland (1981), Portugal (1986) und Spanien (1986) der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei, mit der Folge der Arbeitnehmerfreizügigkeit für ihre Bürger. Ende der 1980er Jahre schloss die Bundesregierung Werkvertragsarbeitnehmerabkommen mit mittel- und osteuropäischen Staaten und der Türkei, wie sie heute mit Bosnien und Herzegowina, mit Nordmazedonien, mit Serbien und mit der Türkei bestehen (§ 29 BeschV).
Durch die Anwerbestoppausnahmeverordnung (ASAV) vom 17. September 1998 und § 9 der Arbeitsgenehmigungsverordnung (ArGV) zu arbeitsgenehmigungsfreier Beschäftigung vom 17. September 1998, die Green-Card-Offensive (2000), das Aufenthaltsgesetz (2005) mit den dazu ergangenen Rechtsverordnungen und die Beschäftigungsverordnung (2013) wurden eng umgrenzte Möglichkeiten der Arbeitskräftezuwanderung für qualifizierte Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten geschaffen.
Die Anwerbestoppausnahmeverordnung wurde 2008 durch das Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente (ArbMINAG) grundlegend geändert. Im Abschlussbericht der Hochrangigen Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung von 2011 wurde betont, dass die Regelungen, die Fachkräftezuwanderung ermöglichten, formal Ausnahmen zum grundsätzlich geltenden Anwerbestopp waren. Die Konsensgruppe forderte, diese Systematik durch eine Neufassung des Aufenthaltsgesetzes umzukehren, um deutlich zu machen, dass Zuwanderung nach Deutschland explizit gewünscht und gefördert werde. Dieser „Paradigmenwechsel“ sei „unverzichtbar, um eine Einladungs- und Willkommenskultur bei uns zu entwickeln“. Die Anwerbestoppausnahmeverordnung wurde zum Ende 2011 aufgehoben.
Weitere Möglichkeiten der Arbeitskräftezuwanderung für qualifizierte Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten schuf das zum 1. März 2020 in Kraft tretende Fachkräfteeinwanderungsgesetz (allgemeiner siehe auch: Bundesdeutsche Ausländerpolitik).
Bis heute gelten in den Anwerbeabkommen geregelte sozial- und aufenthaltsrechtliche Vergünstigungen für Arbeitnehmer aus den Anwerbestaaten und ihre Familienangehörigen fort.
Eine Regelung, der zufolge Kinder unter 16 Jahren aus den (ehemaligen) Anwerbestaaten von der Visum- und Aufenthaltserlaubnispflicht befreit waren, wurde im Januar 1997 durch eine Eilverordnung des Bundesinnenministeriums widerrufen.Zur Arbeitsmigration im Allgemeinen siehe die Kapitel: „Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Wiedervereinigung“ und „Entwicklungen nach der Wiedervereinigung und politische Debatte“ des Artikels „Arbeitsmigration“
== Zwischenstaatliche Übereinkünfte ==
=== Anwerbeabkommen der Bundesrepublik: Südeuropa und Mittelmeer-Anrainerstaaten ===
Die folgenden Vereinbarungen wurden mit Staaten getroffen, die zu Südeuropa zählen oder an das Mittelmeer angrenzen. Als Muster diente das erste Abkommen mit Italien:
1955: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien (Kabinett Adenauer II / Antonio Segni)
1960: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Spanien (Kabinett Adenauer III / Francisco Franco)
1960: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Griechenland (Kabinett Adenauer III / Konstantinos Karamanlis)
1961: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei (Kabinett Adenauer III / Cemal Gürsel)
1963: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Marokko (Kabinett Adenauer V / Hassan II.)
1964: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Portugal (Kabinett Erhard I / Américo Tomás)
1965: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Tunesien (Kabinett Erhard I / Habib Bourguiba)
1968: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien (Kabinett Kiesinger / Mika Špiljak)Die Abkommen kamen häufig auf Initiative der Herkunftsländer zustande, die ihren Arbeitsmarkt entlasten und von Devisenerträgen profitieren wollten; für die Bundesrepublik bedeuteten sie einen volkswirtschaftlich gewünschten Zustrom an Arbeitskräften, insbesondere weil nach dem Mauerbau 1961 kaum noch Übersiedler aus der DDR kamen. Die Abkommen sollten eine staatliche Regulierung der Arbeitsmigration in Bezug auf Volumen und auf Qualifikation der Arbeitsmigranten gewährleisten.Für Ausländer gab es neben dem ersten Weg, der Anwerbung (Einreise und Prüfung durch die Anwerbungskommission), auch andere Wege, um für eine Erwerbstätigkeit in die Bundesrepublik zu kommen. Der zweite Weg war die Einreise mit einem konsularischen Sichtvermerk auf Grund eines existierenden Arbeitsangebots, wobei die Erteilung des Sichtvermerks eine Bewilligung durch die deutsche Polizei und die deutschen Arbeitsämter erforderte, die unter anderem prüften, ob ein geeigneter deutscher Arbeiter für die offene Stelle vorhanden war (Prinzip des Inländerprimats). Dieser Weg war durch einen Ratsbeschluss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OEEC) von 1953 untermauert, nach dem kein Arbeitnehmer daran zu hindern sei, einen Arbeitsvertrag direkt in der Bundesrepublik abzuschließen. Der dritte Weg war die Einreise mit einem Touristenvisum, um dann eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu beantragen.Durch drei Verordnungen vom August 1961, vom März 1964 und vom Oktober 1968 wurde die Freizügigkeit der Arbeitskräfte in der EWG eingeführt. In der Folge brauchten EWG-Arbeiternehmer ab dem 1. Januar 1962 keinen Sichtvermerk mehr zur Einreise, sondern es reichte ein Personalausweis. Das Anwerbeabkommen war von da an für italienische Arbeitnehmer weniger wichtig. (Siehe hierzu: Artikel „Italiener in Deutschland“, Abschnitt „Geschichte“.)
=== Weitere Anwerbeabkommen der Bundesrepublik ===
Neben den bereits genannten Anwerbeabkommen gab es Anwerbeabkommen mit weiteren Staaten. Anfang der 1950er traf die Bundesregierung bilaterale Abkommen mit Österreich (1951), Belgien (1952), Spanien (1952) und Schweden (1953), die der Vervollkommnung von Berufs- und Sprachkenntnissen dienen sollten und auf wenige hundert Gastarbeitnehmer jährlich beschränkt waren (Österreich 500, Belgien 150, Spanien 150 und Schweden 250 pro Jahr). Außerdem vereinbarte sie zwecks Anwerbung von Bergleuten Programme zur befristeten Beschäftigung mit Südkorea, Japan und Chile, die – ebenso wie die Abkommen mit Marokko und Tunesien – im Wesentlichen auf zeitlich befristete Beschäftigungsprogramme zielten. Die Anwerbung aus Japan und Chile sowie die Anwerbung männlicher Arbeitskräfte aus Korea dienten dem Bergbau. Hintergrund der Anwerbung aus Japan waren zum einen der Arbeitskräftemangel, zum anderen die Rationalisierungsmaßnahmen im japanischen Bergbau in den 1950er Jahren. Mit Japan wurde im Jahr 1957 durch Notenwechsel eine auf drei Jahre befristete Beschäftigung von 500 japanischen Bergmännern in der Bundesrepublik vereinbart; hierfür wurden die Arbeitnehmer von ihren Stammbetrieben in Japan beurlaubt. Die Anwerbung aus Japan kam in den 1960ern im Zuge der Anwerbung anderer Gastarbeiter zum Erliegen. In den Jahren 1963 und 1971 wurden Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Südkorea geschlossen: Das Abkommen von 1963 regelte die Anwerbung von Bergmännern und das Abkommen von 1971 die Anwerbung von Krankenschwestern und Krankenpflegehelferinnen. Die gesetzliche Grundlage für die Anwerbung südkoreanischer Bergleute waren drei Bekanntmachungen der Bundesregierung aus den Jahren 1964, 1970 und 1971. Bei der Anwerbung koreanischer Krankenschwestern und Krankenpflegehelferinnen lag anders als bei den übrigen Anwerbeabkommen die Verantwortung für die Auswahl der Arbeitskräfte nicht bei einer deutschen Behörde, sondern bei einer Organisation vor Ort, der Korean Overseas Development Corporation (KODCO).
=== Vergleichbare Anwerbeabkommen anderer Staaten ===
Vergleichbare Anwerbeprogramme führten auch andere europäische Staaten durch, etwa Belgien und die Niederlande. Bilaterale Abkommen über die Anwerbung stellten einen gewissen Schutz für die Auswanderer dar. Sie gaben den Entsendestaaten außerdem die Möglichkeit, über die Beteiligung ihrer Arbeitsämter die Auswanderung zu steuern – etwa indem im Inland benötigten Fachkräften zunächst eine Stelle im eigenen Land angeboten wurde.Eine innereuropäische Arbeitsmigration begann schon 1945/46, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, vor allem aus Italien. Mehrere Staaten schlossen bilaterale Verträge mit Italien ab, nach denen Arbeitskräfte von dort angeworben werden konnten. Aus der Bundesrepublik Deutschland wurden Arbeitskräfte ins außereuropäische Ausland angeworben: Australien schloss 1952 eine Wanderungsvereinbarung mit der Bundesrepublik ab, die eine Anwerbung von deutschen Arbeitskräften über die deutschen Arbeitsämter ebenso wie über eine Direktbewerbung bei den australischen Vertretern in der Bundesrepublik erlaubte.Eine 1953 veröffentlichte OEEC-Studie verglich die Anwerbepraktiken der verschiedenen Staaten. Sie ähnelten sich darin, dass bilaterale Abkommen der Massenanwerbung einer großen Zahl vergleichbar qualifizierter Fachkräfte dienten, wohingegen Einzelanwerbungen vor allem der Anwerbung höher qualifizierter Arbeitskräfte dienten.Zu Vertragsarbeitern in der DDR und zu Gastarbeitern in anderen Staaten (Österreich, Schweiz) siehe: Artikel „Gastarbeiter“, Abschnitt „Situation in der DDR“ und darauf folgende Abschnitte
=== Europäische Abkommen zur sozialen Sicherheit ===
Auf europäischer Ebene wurden am 11. Dezember 1953 vier Interimsabkommen geschlossen, die Deutschland unterzeichnete:
ein Abkommen über Alters-, Hinterbliebenen- und Invalidenrenten (SEV-Nr. 012),
ein Abkommen über Sozialversicherungsleistungen im Falle von Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und Arbeitslosigkeit sowie Familienleistungen (SEV-Nr. 013),
zwei Zusatzprotokolle (SEV-Nr. 012A und 013A), die den persönlichen Gegenstandsbereich der beiden Abkommen auf Flüchtlinge ausdehnen.Diese Interimsabkommen wiesen noch einige Lücken auf, insbesondere für Menschen, die in mehr als zwei Staaten tätig gewesen waren. Zugleich mit den Interimsabkommen wurde das Europäische Fürsorgeabkommen (SEV-Nr. 014) geschlossen, das eine Gleichbehandlung der Bürger der Unterzeichnerstaaten mit Inländern vorsieht und ein weitgehendes Verbot, sie nur deswegen auszuweisen, weil sie sich in Not befinden. Dieses Ausweisungsverbot gilt, wenn der Hilfsbedürftige sich bereits fünf Jahre – bzw. zehn Jahre, falls er älter als 55 Jahre ist – im Inland aufgehalten hat. Dabei werden Zeiten, in der er Fürsorgeleistungen in Anspruch genommen hat, nicht mitgezählt. Auch hierzu wurde ein entsprechendes Zusatzprotokoll (SEV-Nr. 014A) abgeschlossen.
== Rechtsgrundlagen in der Bundesrepublik Deutschland ==
Gesetzliche Grundlage für die Aufnahme der Arbeitsmigranten bildeten zwei Verordnungen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Weltwirtschaftskrise, die eine verstärkte staatliche Intervention in den Arbeitsmarkt ermöglichten:
die Ausländerpolizeiverordnung (APVO) vom 22. August 1938, die die Gewährung von Aufenthaltserlaubnissen und den Erlass von Aufenthaltsverboten regelte: Das Bundesinnenministerium setzte die APVO im Jahr 1951 vorrangig aufgrund der Interessen der Landesinnenministerien an einer Kontrolle und Überwachung des Grenzverkehrs wieder in Kraft – mit der Änderung, dass eine unrichtige Angabe über die „Rassenzugehörigkeit“ nun nicht mehr als Grund für ein Aufenthaltsverbot galt. Die Inkraftsetzung geschah ohne Beteiligung des Parlaments, ebenso wie dies später beim Anwerbestopp der Fall war.
die Verordnung über ausländische Arbeitnehmer (VOüAA) vom 23. Januar 1933, die als Fortentwicklung zweier vorangegangenen Verordnungen der 1920er Jahre der Zentralisierung der staatlichen Verfügungsmacht zur Kontrolle über die Ausländerbeschäftigung diente: Die VOüAA wurde 1952 nach Diskussionen in den zuständigen Arbeitsverwaltungsbehörden und weitgehend ohne inhaltliche Überprüfung wieder in Kraft gesetzt. Da die VOüAA noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten erlassen worden war, blieb dabei unberücksichtigt, dass der Erlass vom Präsident der Reichsarbeitsverwaltung Friedrich Syrup stammte, der danach in verantwortlicher Position mit der Organisation der NS-Zwangsarbeit befasst gewesen war.Später bildete das Ausländergesetz (AuslG) vom 28. April 1965 die Grundlage. Dieses wurde weitgehend ohne konträre Debatten verabschiedet und trat in weiten Teilen am 1. Oktober 1965 in Kraft.
Von besonderer Bedeutung ist des Weiteren der 1973 erlassene Anwerbestopp. Zehn Jahre später sollte das Rückkehrhilfegesetz vom 28. November 1983 die Ausreise von arbeitslosen Arbeitsmigranten aus Deutschland fördern.
== Nichtstaatliche Akteure und Positionen ==
=== Parteien ===
Die Anwerbeprogramme wurden ab 1955 bis 1969 unter von den Unionsparteien angeführten Regierungen beschlossen. Um religiöse und kulturelle Heterogenität zu vermeiden, sollten die Abkommen gemäß den Vorstellungen von Bundesarbeitsminister Theodor Blank (CDU) auf europäische Staaten beschränkt sein. Später wurde davon abgewichen und dabei zur Bedingung gemacht, dass der Aufenthalt von Nicht-Europäern auf zwei Jahre begrenzt würde. Diese Einschränkung wurde wenige Jahre später aufgehoben. Der Anwerbestopp von 1973 wurde hingegen von SPD und FDP beschlossen, nachdem ab etwa 1972 einige Politiker der sozialliberalen Koalition – darunter Bundeskanzler Willy Brandt, Arbeitsminister Walter Arendt, Innenminister Hans-Dietrich Genscher und Wirtschaftsminister Helmut Schmidt – begonnen hatten, sich öffentlich Gedanken darüber zu machen, wie die Arbeitsmigration in die Bundesrepublik begrenzt werden könnte. Die Union sprach sich derweil gegen den Stopp aus: Sie befürwortete eine stärkere Regulierung, aber Fortführung der Anwerbepolitik.Die CDU erklärte sich in ihrem Grundsatzprogramm von 1978 als „zur sozialen Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in unsere Gesellschaft sowie zur Erhaltung ihrer kulturellen Eigenständigkeit und der Förderung ihrer Kontakte zum Heimatland“ verpflichtet. Familien sollten sich die Möglichkeit zur Rückkehr offenhalten können, und es seien Maßnahmen zu treffen, um eine gesellschaftliche Isolation der Kinder zu vermeiden.Im September 1979 veröffentlichte Heinz Kühn (SPD) als Leiter des im Jahr zuvor gegründeten Amtes des Ausländerbeauftragten der Bundesregierung ein Memorandum zur Situation der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien, in welchem er die Bundesrepublik als faktisches Einwanderungsland bezeichnete, die politische Verantwortung des Aufnahmelandes gegenüber den Arbeitsmigranten anerkannte und eine konsequente Politik der Integration skizzierte und einforderte. Die sogenannte Ausländerpolitik der SPD/FDP-Bundesregierung blieb jedoch weiterhin auf Konzepte zur sozialen Integration auf Zeit ausgerichtet.Im Ergebnis ihrer Koalitionsgespräche erklärten Union und FDP am 1. Oktober 1982: „Deutschland ist kein Einwanderungsland. Es sind daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden.“ Am Anwerbestopp hielten sie ausdrücklich fest. Ab 1982 machte Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) sich dafür stark, das Nachzugsalter für Kinder aus Nicht-EWG-Staaten – womit er sich ausdrücklich auf Nachzug aus der Türkei bezog – von 16 auf sechs Jahre zu senken. Er stieß dabei auf Widerstand innerhalb der Union, insbesondere seitens Arbeitsminister Norbert Blüm, und hatte damit letztlich keinen Erfolg. Außenpolitisch hatte auch die Türkei Druck ausgeübt, um eine Absenkung dieser Altersgrenze zu verhindern. Die Union verlangte in ihrem Wahlprogramm von 1986, dass „die Zahl der Ausländer nicht weiter zunimmt“ und plädierte darin zugleich erstmals ausdrücklich für eine Integration der in Deutschland lebenden Ausländer. Die FDP trug in den 1980er Jahren als Koalitionspartner die restriktive Politik der Union weitgehend mit. Die Ausländerbeauftragte Liselotte Funcke (FDP) trat im Juli 1991 unter Hinweis auf die mangelnden Ressourcen ihres Amtes zurück, um einen Anstoß für eine Grundsatzdiskussion zu geben; Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP) wurde im November als ihre Nachfolgerin eingesetzt. Ende 1991 strich die CDU die Aussage „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ aus ihrem Dresdner Manifest.
Die 1980 gegründete Partei Die Grünen sprach sich für eine liberale Ausländer- und Migrationspolitik aus. Angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Ausländer nach Jahren legalen Aufenthalts keine Rechtssicherheit über ihre langfristige Perspektive in Deutschland hatten, vertraten Die Grünen die Auffassung, dass „Einwanderer möglichst umfassend die gleichen Rechte und Pflichten wie deutsche Staatsangehörige erlangen sollten“, um dem Verfassungsgrundsatz der Gleichheit aller Bürger zu entsprechen – insbesondere die Gleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt, die freie politische Betätigung, die umfassende soziale Absicherung und die Chancengleichheit in der Ausbildung betreffend. Sie brachten 1984 einen gemeinsam mit betroffenen Ausländern erarbeiteten Gesetzentwurf für ein Niederlassungsrecht in den Bundestag ein.
=== Arbeitgeber ===
Anfang der 1950er Jahre herrschte ein Arbeitskräftemangel in der Bundesrepublik, vor allem in der Landwirtschaft und im Bergbau. Unternehmerverbände äußerten sich teils skeptisch gegenüber einer Anstellung von Ausländern. Nachdem die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 1955 für das Folgejahr einen zusätzlichen Arbeitskräftebedarf von 800.000 Menschen veranschlagt hatte, berichteten wirtschaftsnahe Medien über konkrete Vorteile von Anwerbemaßnahmen für Arbeitgeber. So verpflichteten Anwerbeabkommen sie zwar, ihren Arbeitern eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, doch seien die Standards niedrig und eine Unterbringung in Baracken ausreichend. Später sprachen sich Unternehmer stärker als alle anderen gesellschaftlichen Gruppen für Anwerbungen aus. Bergleuten wurden von vornherein die Sprachkenntnisse vermittelt, die notwendig waren, um sie unter Tage einsetzen zu können.Das Rotationsprinzip, nach dem Gastarbeiter auf Zeit nach Deutschland kommen und anschließend mit Ersparnissen und neu erworbenen technischen Kenntnissen wieder zurückkehren sollten, wurde zwar zu Beginn der Anwerbungen umgesetzt, wurde aber im Laufe der Zeit fallen gelassen, da die Wirtschaft auf die bereits eingearbeiteten Kräfte nicht verzichten wollte und viele Arbeitsmigranten bereitwillig blieben.In den verschiedenen Großunternehmen wurde die Anwerbung sehr unterschiedlich gehandhabt. So warb das Volkswagenwerk Wolfsburg lange Zeit ausschließlich männliche Arbeitskräfte aus Italien an und unterschied deutlich zwischen einer Stammbelegschaft einerseits und einer Randbelegschaft andererseits, welche weitgehend aus Arbeitsmigranten und deutschen weiblichen Arbeitskräften bestand. Das Werk kompensierte eine zunehmende Fluktuation der Italiener, die Mitte der 1970er Jahre bei jährlich 60 % lag, durch stetige Neuanwerbungen, bei denen die Hilfe des Vatikan bemüht wurde. Andere Unternehmen hingegen – beispielsweise die Ford-Werke in Köln – gingen mit der Zeit zu unbefristeten Arbeitsverträgen über.
=== Arbeitsmigranten ===
Insgesamt kamen von 1955 bis 1973 etwa 14 Millionen Gastarbeiter in die Bundesrepublik. Nach dem Anwerbestopp verstärkte sich der Familiennachzug aus der Türkei auch deshalb, weil die Arbeitsmigranten befürchteten, es könnten in Zukunft strengere Regelungen zur Familienzusammenführung erlassen werden. Einerseits blieb für die Gastarbeiterfamilien die Haltung zum Aufnahmestaat im Allgemeinen ambivalent; andererseits führte der wahrgenommene Wandel in den ehemaligen Heimatländern zur Erfahrung von Fremdheit in diesen Familien.Türkische Arbeitsmigranten stammten meist aus strukturschwächeren Regionen, oft aus dörflichen Verhältnissen, und kamen in einer städtischen Umgebung an. Zwischen der Freizügigkeit und Konsumorientierung in Deutschland und den traditionell geprägten Erziehungsvorstellungen der eingewanderten Familien konnte es zu Konflikten kommen.Von den 1950er bis in die 1970er Jahre kamen 11.000 Krankenschwestern aus Südkorea in die Bundesrepublik. Da es in ihrem Heimatland die Kategorie der Hilfsschwester nicht gab, hatten die Koreanerinnen teils einen Qualifikationsvorsprung vor ihren deutschen Kolleginnen. Langfristig blieben etwa 30 % der koreanischen Arbeitsmigrantinnen in Deutschland, 70 % zogen weiter oder nach Südkorea zurück. Nach der Rückkehr wurde südkoreanischen Krankenschwestern, die ihre Ausbildung in Deutschland abgeschlossen hatten, eine Anerkennung ihre Abschlüsse durch das US-amerikanisch geprägte Ausbildungssystem Südkoreas versagt. In Deutschland kämpften Krankenschwestern 1978 und Bergarbeiter 1979/1980 politisch für ein Bleiberecht und engagierten sich außerdem transnational für eine Demokratisierung Südkoreas.Laut einer repräsentativen Untersuchung war ein Großteil der im Herbst 1968 im Bundesgebiet beschäftigten ausländischen Arbeitskräfte verheiratet (71 % der Männer und 64 % der Frauen; aus Anwerbestaaten: 72 % der Männer und 74 % der Frauen). Die Mehrzahl der verheirateten Männer und der weitaus größte Teil der verheirateten Frauen lebten mit ihren Ehepartnern im Bundesgebiet (54 % der verheirateten Männer und 90 % der verheirateten Frauen; aus Anwerbestaaten: 58 % und 92 %). Während deutsche verheiratete Frauen und Mütter, sofern sie erwerbstätig waren, häufig gemäß dem Zuverdienermodell in Teilzeit arbeiteten, ging man bei Gastarbeiterinnen auch dann, wenn sie Kinder hatten, von Vollzeit-Arbeitskräften aus.Der Anteil derjenigen, die in Gemeinschaftsunterkünften lebten, verringerte sich mit der Zeit von etwa zwei Drittel (1962) auf 23 % (1972), 10 % (1980) und 6,6 % (1985).In den Jahrzehnten nach dem Anwerbestopp stieg die Anzahl der ausländischen Selbständigen von etwa 40.000 (Anfang der 1970er) auf etwa 220.000 (1993); viele von ihnen arbeiteten im Gastgewerbe. Beruflich selbständig machten sich vor allem Italiener, Griechen und Türken. Im Bereich des Handwerks waren Ausländer zunehmend in handwerksähnlichen Berufen tätig, für die im Gegensatz zu den Handwerksberufen keine Meisterprüfung oder Ausnahmegenehmigung erforderlich war. Im Jahr 1993 gab es bundesweit insgesamt 16.100 ausländische Betriebsinhaber in diesem Bereich, darunter vor allem Flickschneider (9.300 ausländische Betriebsinhaber) und Speiseeishersteller (2.100 ausländische Betriebsinhaber).
=== Gewerkschaften ===
In den Gewerkschaften gab es unterschiedliche Haltungen zur Anwerbung. Einerseits vertraten sie oft restriktive Positionen zur Migration. Andererseits war aus Sicht einiger Gewerkschaften eine regulierte Anwerbung mittels Abkommen einem weniger kontrollierten Zugang von Arbeitsmigranten vorzuziehen. Anfang der 1970er Jahre übten die Gewerkschaften angesichts steigender Arbeitslosigkeit gemeinsam mit Arbeitgeberverbänden und der staatlichen Arbeitsverwaltung zunehmend Druck auf die Bundesregierung aus, die Anwerbungen zu beenden, und nach dem Anwerbestopp von 1973 verhinderten sie dessen Lockerung.Von Anbeginn der Anwerbeabkommen warben Gewerkschaften um Arbeitsmigranten als Mitglieder, der DGB und IG Metall führten eigene Abteilungen für die „Ausländerarbeit“ ein. Die Interessen der Gewerkschaften blieben jedoch weithin auf einheimische Arbeitnehmer fokussiert, vor allem auch in Krisenzeiten, in denen die Befürchtung einer Konkurrenz um Arbeitsplätze in den Vordergrund rückte. Nach der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 1972 konnten erstmals auch Ausländer aus Nicht-EWG-Ländern in Betriebsräte gewählt werden. In den 1970er Jahren waren ausländische Arbeitnehmer zwar in einem vergleichbaren Ausmaß wie ihre deutschen Kollegen in Gewerkschaften organisiert, sie blieben in den Entscheidungsstrukturen aber unterrepräsentiert. Unter anderem wurden Arbeitsmigranten von den Gewerkschaften oft kurzfristige Interessen und mangelnde sprachliche und berufliche Kenntnisse unterstellt.Im Jahr 1973 beteiligten sich 300.000 Beschäftigte an ungefähr 400 nicht genehmigten Streiks, die oft die Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter betrafen. Als der wichtigste Arbeitskampf seitens der Arbeitsmigranten gilt der wilde Streik von 1973 in den Ford-Werken in Köln, in dem vor allem türkische Arbeitsmigranten streikten. Ebenfalls 1973 setzten sich Arbeiterinnen, vorwiegend Migrantinnen, im Vergaser-Unternehmen Pierburg in Neuss durch Streiks mit Erfolg gegen Leichtlohngruppen ein, unterstützt von der IG Metall, die sich mit den Streikenden solidarisch erklärte.Die Rolle der Gewerkschaften im In- und Ausland bei der Anwerbung sowie die betriebliche und gewerkschaftliche Organisation der Gastarbeiter sind bisher nur wenig untersucht.
=== Wohlfahrtsverbände ===
Ab den 1950er und 1960er Jahren boten die Wohlfahrtsverbände eine Ausländersozialberatung an, die eine Beratung zu alltagspraktischen Fragen wie Recht und Wohnungssuche ebenso wie Übersetzungsdienste und Rückkehrberatung umfasste. Gemäß dem Rotationsprinzip ging es dabei wenig oder gar nicht um eine soziale, berufliche und sprachliche Integration. Die Beratung wurde je nach Nationalität von verschiedenen Verbänden übernommen: Für Italiener, Spanier, Portugiesen und katholische Jugoslawen (vor allem Kroaten) von der Caritas, für Griechen von der Diakonie, für andere (vor allem Türken und Jugoslawen) von der Arbeiterwohlfahrt (AWO).Ab 1984 traten vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) erlassene Grundsätze in Kraft, die die Ausländersozialberatung und die fachliche Qualifikation der Berater regelten. Diejenigen Dienste, „die vorhandenen allgemeinen öffentlichen oder freien Versorgungsinstanzen obliegen oder aufgrund gesetzlicher Vorgaben einzurichten sind“, sollten nicht mehr von den Sozialberatern ausgeführt werden. Die Beratung zielte fortan darauf, „die Ausländer in die Lage zu versetzen, ihr Leben selbständig zu gestalten“ und „zwischen den Ausländern und den vorhandenen allgemeinen Dienstleistungsangeboten und Maßnahmen in öffentlicher und freier Trägerschaft zu vermitteln“. Übersetzungstätigkeiten, Beratungsdienste für andere Institutionen sowie Steuer- und Rechtsberatung waren von da an ausgeschlossen. Die Ausländersozialberatung wurde 1998/1999 zur Migrationsberatung (MBE) umgestaltet und auf eine Integration ausgerichtet.
== Statistik ==
Aufgrund der Freizügigkeitsregelungen der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft oder ohne besondere Vertragsgrundlage (Österreich, Schweiz, Großbritannien, USA) lebten und arbeiteten ausländische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik. Zahlenmäßig spielten diese Arbeitnehmer nur eine geringe Rolle gegenüber denen, die aufgrund von Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik Deutschland einreisten.
Anfang der 1970er Jahre lag die Zahl der beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer deutlich über zwei Millionen.Insgesamt kamen von 1955 bis 1973 etwa 14 Millionen Gastarbeiter in die Bundesrepublik; ungefähr 11 bis 12 Millionen kehrten in ihre Heimatländer zurück. Viele blieben entgegen ihrer ursprünglichen Absicht.
=== Südeuropa und Mittelmeer-Anrainerstaaten ===
Insgesamt wurden durch die Auslandsdienststellen der Bundesanstalt 2,39 Millionen Arbeitskräfte in die Bundesrepublik vermittelt. Dies stellt nur einen Teil des Neuzugangs der ausländischen Arbeitskräfte dar, zumal die Gesamtzahl auch Zugänge aus Nicht-Anwerbestaaten umfasst. Auch aus den Anwerbestaaten konnten Arbeitnehmer zudem auf anderen Wegen legal zuwandern (zweiter Weg: mit entsprechendem Sichtvermerk; dritter Weg: mit einem Touristenvisum und Hoffnung auf Arbeitsaufnahme und auf nachträgliche Legitimierung des Aufenthalts).
=== Weitere Staaten ===
Aufgrund des bilateralen Programms zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Südkorea kamen insgesamt knapp 8.000 koreanische Bergleute und über 11.000 Krankenschwestern nach Deutschland.Im Ruhrgebiet arbeiteten zwischen 1957 und 1965 insgesamt 436 japanische Bergleute als Gastarbeiter.
== Wirkungsgeschichte ==
=== Alterssicherung ===
Eine 2013 veröffentlichte Studie stellte fest, dass die Altersarmut unter Ausländern über 65 Jahren 2011 bei 41,5 % lag. Dies wird teils darauf zurückgeführt, dass viele ehemalige Gastarbeiter niedrige Einkommen erhielten.Statistisch betrachtet sind unter türkischen Migranten die finanzielle Unterstützung durch Söhne und die informelle Pflege durch Töchter stärker ausgeprägt als in der allgemeinen Bevölkerung.
=== Nachkommen ===
Auf den Umgang mit Migrantenkindern waren Schulen nur wenig vorbereitet. In den 1950er und 1960er Jahren war ihre Zahl noch gering, so dass noch keine auf sie abgestimmten bildungspolitischen und pädagogischen Anstrengungen unternommen wurden. Zu Beginn der Anwerbungsprogramme wurden Kinder der Gastarbeiter typischerweise in separaten Klassen – sogenannten Ausländerklassen – unterrichtet und blieben vom Regelunterricht ausgeschlossen. Die Bundesländer entwickelten unterschiedliche Ansätze zur Beschulung der Kinder. Diese reichten von Berliner Modell eines gemeinsamen Unterrichts aller Kinder, gegebenenfalls ergänzt durch muttersprachlichen Unterricht, zum bayerischen Modell eines getrennten Unterrichts, bei dem ein Übergang aus einer muttersprachlichen Klasse in die Regelklasse nur bei ausreichenden Deutschkenntnissen und auf Antrag möglich war (siehe hierzu auch: „Ausländerpädagogik“ der 1960er bis 1980er Jahre).
Die Nachkommen der Gastarbeiter sind in Deutschland einem erhöhten Druck zur Anpassung ausgesetzt, der sich unter anderem in der Forderung niederschlägt, dass Kinder noch vor der Einschulung über gute Deutschkenntnisse verfügen sollen. In den ersten Jahrzehnten fehlte eine frühzeitige Sprachförderung; lediglich im Rahmen von Modellprojekten – etwa in dem 1972 initiierten „Denkendorfer Modell“ der Fortbildungsstätte der baden-württembergischen evangelischen Landeskirche Kloster Denkendorf – wurden diese Kinder gezielt gefördert. Schüler ausländischer Staatsangehörigkeit besuchen überproportional häufig die Haupt- und Förderschulen. Sprachdefizite und fehlende Unterstützungsmöglichkeiten seitens der Eltern wurden häufig als Lerndefizite interpretiert und zum Anlass genommen, Kinder von Einwanderern auf Sonderschulen zu verweisen (siehe auch: Artikel „Kinderarmut in den Industrienationen“, Abschnitt „Entkommen aus der Armutsfalle“). Teils räumten Schulsysteme Migrantenkindern Ausnahmen vom Fremdsprachenunterricht ein, ohne dass ihnen jedoch die Herkunftssprache als Fremdsprache angerechnet wurde, so dass ihnen die Möglichkeit, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben, verschlossen blieb. Einige Migrantenorganisationen gründeten Privatschulen, um den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Der griechische Staat finanzierte auf Grundlage bilateraler Abkommen in den 1970er und 1980er Jahren griechische Schulen in Deutschland, deren Abschlüsse in den meisten Bundesländern allerdings nicht als gleichwertig anerkannt wurden und die vielmehr auf ein Studium an griechischen Hochschulen vorbereiten sollten.Schwierigkeiten, die mit den nachfolgenden Generationen verbunden sind, gerieten in der Bildungspolitik erstmals in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, als nach dem Anwerbestopp der Kindernachzug zunahm. Eine Reihe dieser wahrgenommenen Probleme werden – etwa unter dem Gesichtspunkt der Bildungsbenachteiligung – bis in die Gegenwart genauer analysiert und diskutiert. Beispielsweise fanden sich für Nordrhein-Westfalen erhebliche regionale Unterschiede in den Anteilen der Überweisungen ausländischen Schüler auf Förderschulen sowie in den Schwerpunkten der sonderpädagogischen Förderung, was auf regionale Benachteiligungen nichtdeutscher Schüler deutete, die als institutionelle Diskriminierung interpretiert werden.Ansätze zur Lösung sind insbesondere eine Förderung bei der schulischen Bildung. Die „Ausländerpädagogik“ entwickelte sich ab den 1980ern zu einer interkulturellen Pädagogik, die eine von allen zu praktizierende distanzierte Reflexion von kulturellen Prägungen vorsieht.Eine Neuregelung des Ausländerrechts von 1991 und eine Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1993 erleichterten Ausländern der ersten und zweiten Generation den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Ab 2000 konnten durch das neu eingeführte „Optionsmodell“ im Staatsangehörigkeitsgesetz zahlreiche ab 1990 in Deutschland geborene Nachkommen von Gastarbeitern die deutsche Staatsbürgerschaft durch Geburt erlangen. Ab dem Mikrozensus 2005 wurden Menschen mit Migrationshintergrund als eigene Kategorie erfasst.
Um die Wende zum 21. Jahrhundert bildete die Gruppe der ehemaligen Gastarbeiter und ihrer Nachkommen den größten Teil der Bürger mit Migrationshintergrund in Deutschland. Weil diese Gruppe eine so große und kulturell sichtbare Einwanderergruppe ist, ist in der Forschung vom „Mythos der Rückkehr“ oder sogar von der „Illusion der Rückkehr“ gesprochen worden. Dies berücksichtigt nicht, dass eine große Mehrheit der Migranten tatsächlich zurückkehrte.In Deutschland ausgebildete Kinder türkischer Gastarbeiter haben auf Basis des Beschlusses ARB 1/80 einen bleibenden Rechtsanspruch auf den Aufenthalt zur Ausübung einer Beschäftigung in Deutschland. Studien, die in Deutschland unter Verwendung türkisch klingender Namen durchgeführt wurden, zeigten in den 2010er-Jahren eine Diskriminierung aufgrund des Namens bei der Arbeitssuche und auf dem Wohnungsmarkt auf. Die Türkische Gemeinde in Deutschland betonte anlässlich des 60. Jahrestags des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, dass „die Leistung der ersten Generation“ türkischstämmiger Menschen in Deutschland weiterhin nicht wertgeschätzt werde und dass Defizite bei der Integration bis heute Wirkung zeigten.Die koreanische Community in Deutschland ist zu einem hohen Grad vernetzt. Ihre Netzwerke, die unter anderem auf Geselligkeit und Alltagshilfen ausgerichtet sind, haben zugleich die Niederlassungen koreanischen Firmen in Deutschland erleichtert und koreanischen Auslandsstudierenden Hilfen im Alltag gewährt. In der zweiten Generation der Deutsch-Koreaner haben 70 % Abitur oder einen Hochschulabschluss.
=== Situation in den Herkunftsländern ===
In den Herkunftsländern stellte sich die Frage, wie damit umzugehen wäre, wenn einmal viele Gastarbeiter zugleich zurückkehren sollten. Die Wirtschaft war auf ihre Ankunft nicht vorbereitet, und die Herkunftsländer zeigten sich an ihrer Reintegration wenig interessiert. Jugoslawien warb zwar um rückkehrende Facharbeiter, nicht aber um die zahlreichen Hilfsarbeiter; im Gegenteil wurde befürchtet, dass diese, nachdem sie im Gastland Wohlstand und Luxus trotz oft unwürdiger Lebensbedingungen kennengelernt hatten, das Heer der Arbeitslosen vergrößern und sozialen Unfrieden schüren würden. In Spanien war unter Franco die freie Bildung von Interessengruppen und Vereinigungen gesetzlich untersagt, so dass sich Rückkehrer kaum untereinander unterstützen konnten. Griechenlands Wirtschaft galt zwar als stark genug, im Falle einer plötzlichen Rezession in der Bundesrepublik 30.000 bis 35.000 Rückwanderer aufzunehmen, doch bestand wenig Interesse an ihnen. Umgekehrt hatten auch die Arbeitgeber im Gastland keine Veranlassung, sich in der Verantwortung zu sehen, ihre Arbeiter auf eine eventuelle spätere Selbständigkeit im Heimatland vorzubereiten, und es fehlte an gezielter technischer Hilfe. In vielen Fällen blieben die Gastarbeiter im Ausland, weil sie nicht genügend Geld hatten ansparen können.In Ausnahmefällen gelang eine Unternehmensgründung mit angespartem Startkapital oder durch Zusammenarbeit in Form einer Kooperative. Zu nennen ist die türkische Arbeitnehmergesellschaft Türksan, durch die das im Gastland erarbeitete Kapital im Heimatland zur Schaffung eigener Arbeitsplätze investiert werden sollte und die – unterstützt von der deutschen und der türkischen Regierung – letztendlich zur Gründung einer Teppichfabrik führte. Andere türkische Arbeitnehmergesellschaften (Türkyap, Türksal, Birsan) hatten weniger Erfolg.Vom 28. November 1983 bis zum 30. Juni 1984 gewährte das Rückkehrhilfegesetz zeitweilig die Möglichkeit einer finanziellen Hilfe bei der Rückkehr. Wer nicht Bürger eines EG-Staates war und mit dessen Herkunftsstaat kein bilaterales Sozialversicherungsabkommen bestand, was für Menschen aus Korea, Marokko, Portugal, Tunesien und der Türkei zutraf, musste hierfür seine Rentenansprüche aufgeben: Der Arbeitnehmeranteil wurde zinslos ausbezahlt, der Arbeitgeberanteil verblieb bei der deutschen Rentenkasse. Zudem wurde er von Rechts wegen grundsätzlich von einem Daueraufenthalt im Bundesgebiet ausgeschlossen. Das Wiedereingliederungshilfegesetz vom Februar 1986 gestattete die Nutzung eines deutschen Bauspardarlehens im Herkunftsland.
== Rezeption und Kritik ==
Die Bezeichnung Gastarbeiter für Arbeitsmigranten wurde bereits Anfang der 1970er Jahre von einigen Soziologen als euphemistisch angesehen.Bei der rückblickenden Bewertung der Anwerbepolitik in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland wurden unterschiedliche Faktoren in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung genommen. Der Soziologe Friedrich Heckmann richtete beispielsweise den Blick auf Verschiebungen des sozialen Status sowie der Verbesserung der Qualifikation bei den deutschen Arbeitnehmern. Nach seiner Darstellung sei für deutsche Arbeitnehmer aufgrund der von Gastarbeitern besetzten Stellen, für die keine besonderen Qualifikationsanforderungen notwendig waren, der Aufstieg in qualifiziertere und beliebtere Positionen mit ermöglicht worden. Hedwig Richter und Ralf Richter kritisierten, dass nicht zuletzt die unkritische Zusammenarbeit von Sozialwissenschaftlern mit politischen Institutionen zu einem „Opfer-Plot“ in der Geschichte der Arbeitsmigration geführt habe, wobei die Migranten zu passiven Opfern stilisiert würden, ohne ihre Motive zu berücksichtigen. Das verhindere eine sachliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Maßnahmen zur Integration seien auch deshalb oft wirkungslos geblieben, weil mangelnde Initiative der Migranten und ihr „Eigensinn“ diesen entgegen gestanden hätten. Dabei müsse allerdings zwischen Gruppen und Phasen des Aufenthaltes differenziert werden. Speziell bei italienischen Gastarbeitern der ersten Generation habe ein „Transfer süditalienischer politischer und kultureller Strukturen ins deutsche Unternehmen und in die deutsche Kommune“ stattgefunden.Laut Reinhold Weber und Karl-Heinz Meier-Braun sind aufgrund der Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften zahlreiche Deutsche in bessere berufliche Positionen gelangt: so seien 2,3 Millionen Deutsche vor allem aufgrund der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer von Arbeiter- in Angestelltenpositionen aufgestiegen. Ausländer hätten auf schlechte Beschäftigungssituationen stärker als Deutsche mit Selbständigkeit reagiert. Zudem wurde, so Weber und Meier-Braun, die Rentenversicherung von den ausländischen Arbeitnehmern lange Zeit geradezu „subventioniert“: Den von den ausländischen Arbeitnehmern in die Rentenversicherung bezahlten Beträgen habe nur rund ein Zehntel an Leistungen gegenübergestanden.Am 31. August 2021 überreichten Bundeskanzlerin Angela Merkel, Integrationsstaatsministerin Annette Widmann-Mauz und Bundespräsident a. D. Christian Wulff als Vorsitzender des Stiftungsrats der Deutschlandstiftung Integration vier Menschen den Talisman der Deutschlandstiftung Integration: Anka Ljubek, Hoai Nam Duong, Yang-Hee Kim und Zeynep Gürsoy erhielten die Auszeichnung stellvertretend für die Menschen der ersten Einwanderungsgeneration aus den verschiedenen Anwerbeländern. Die Preisträger waren im Rahmen von Anwerbeabkommen der Bundesrepublik und der DDR nach Deutschland gekommen, waren dort langjährig berufstätig gewesen und hatten Kinder und Enkel, die in Deutschland in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, im Sozialwesen oder im Kulturbereich tätig waren.
In der Schlagermusik wurde das Thema der Gastarbeiter aufgegriffen von Conny Froboess (Zwei kleine Italiener, 1962), Udo Jürgens (Griechischer Wein, 1974) und Karel Gott (Das Mädchen aus Athen, 1978). Türken erschufen in Deutschland eine neue Musikrichtung, die heute Gurbet Türküleri genannt wird. In den 1970er und 1980er Jahren wurden deutsch-türkische Themen im Kino aufgegriffen, meist in Form problemorientierter Filme; ab den 1990er-Jahren setzte eine vielfältigere Produktion sogenannter deutsch-türkischer Filme ein (siehe hierzu: Deutsch-türkisches Kino).
=== Kritik an der Vorgehensweise der Politik ===
Die Wirtschaftshistorikerin Heike Knortz sprach von einem Mangel an Diskussion und Transparenz während der politischen Anbahnung der Gastarbeiter-Anwerbung. Der Außenpolitik habe zu dieser Zeit nur ein regierungsinternes Gegengewicht gegenübergestanden, ein kritisches Gegengewicht seitens der Zivilgesellschaft habe gefehlt. Über zugrunde liegende außenpolitischen Motive habe nur die Schweizer Presse, nicht aber die inländische Presse berichtet. Als deutlich wurde, dass die Annahme eines vorläufigen Aufenthalts nicht der Realität entsprach, habe sich das Auswärtige Amt seiner Verantwortung entzogen. Zugleich habe es nicht auf den Abschluss weiterer Anwerbeabkommen verzichten wollen.
=== Mangelnde Aufklärung der Öffentlichkeit über politische Hintergründe ===
Der Historiker Johannes-Dieter Steinert berichtet, dass zunächst versucht worden war, das das durch einen Notenwechsel bestätigte Anwerbeabkommen mit der Türkei geheim zu halten, um keinen Präzedenzfall zu schaffen, der weitere Anfragen nach Anwerbeabkommen hätte nach sich ziehen können. In diesem Kontext seien Marokko, Tunesien, Algerien, Syrien und Ägypten häufig genannt worden, ferner auch Thailand, Somalia, Singapur und die Philippinen. Die Gesellschaft war, so Steinert, „nicht oder nur unzureichend über die Hintergründe und Ziele der deutschen Wanderungspolitik informiert“. Die Anwerbepolitik blieb Verschlusssache, und dies habe „wesentlich zu den bis heute anhaltenden Problemen beigetragen“. Steinert spricht von einer damaligen „abstrusen Angst, über Fragen der Wanderungs- und Integrationspolitik offen und öffentlich zu diskutieren“. Der mangelnde politische Wille sei in den 1950erm durch den „beruflich-sozial tendenziell deklassierenden“ Begriff „Gastarbeiter“ kaschiert worden. Auch die ausländischen Arbeitnehmer verblieben in permanenter Unsicherheit darüber, wie lange ihr Aufenthalt verlängerbar sein würde.
=== Kritik an der ökonomischen Begründung der Anwerbung ===
Während die in den 1960er und 1970er Jahren entwickelte ökonomische Begründung der Anwerbung aus dem Arbeitskräftemangel in der deutschen Industrie lange Zeit für den öffentlichen Diskurs bestimmend war, wird in der jüngeren Forschung dargestellt, dass die Hauptprofiteure die Unternehmen in bestimmten Wirtschaftszweigen gewesen seien. So heißt es in einem Aufsatz des WSI von 2014: „Aus ihrer Sicht weiteten Gastarbeiter das Arbeitsangebot aus, dämpften den Lohnanstieg und sorgten mit ihren niedrigen Stundenlöhnen dafür, dass das wirtschaftliche Wachstum bei hohen Gewinnen aufrechterhalten werden konnte. Allerdings konnten so auch unrentable Unternehmen weitergeführt werden. Investitionen in arbeitssparende Maschinen wurden vernachlässigt. Der Strukturwandel wurde vertagt, und als er dann doch einsetzte, waren die Arbeitsplätze der Ausländer überproportional betroffen.“ Knortz hebt hervor, dass es der Regierung nicht gelang, Rationalisierungen als Alternative zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zu stimulieren. Abelshauser betont, dass die Anwerbung vor allem auf die Massenproduktion ausgerichtet war, dass aber die Stärke der deutschen Wirtschaft vielmehr weiterhin in der „nachindustriellen Maßschneiderei von Maschinen und Anlagen“ liege, was vor allem einen Bedarf an hoch qualifizierten Facharbeitern bedeute.
=== Kritik an den sozialen Folgen ===
Die oftmals katastrophale soziale Situation von Gastarbeitern in Deutschland wurde besonders durch die 1985 erschienene Undercover-Recherche Ganz unten von Günter Wallraff ins öffentliche Bewusstsein gerückt.
Aus den in Deutschland verbliebenen Gastarbeitern bildete sich eine dauerhafte Unterschicht im Arbeits- und Wohnungsmarkt. Auch im Alter sind diese am unteren Rand der Gesellschaft überrepräsentiert und „erhalten deutlich niedrigere Renten als die Deutschen, tragen ein extrem hohes Armutsrisiko und wohnen bescheiden.“Die Kultur und Sprache der Gastarbeiter wurden in Deutschland von Beginn an marginalisiert, auch mit akademischer Unterstützung wie etwa durch die Verfasser des Heidelberger Manifests von 1981, die vor einer angeblichen „Überfremdung“ der deutschen Sprache und des „Volkstums“ warnten. Auch die Mehrsprachigkeit der Nachkommen von Gastarbeitern wird bis heute kaum wertgeschätzt: "Migrationssprachen werden nicht als kulturelles oder wirtschaftliches Kapital wahrgenommen, selten sind sie positiv konnotiert, der Mehrheitsbevölkerung, wenn überhaupt, nur als „Integrationshemmnis“ ein Begriff."
=== Zitat ===
Im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration wird – auch übertragen auf Deutschland – häufig der Schweizer Schriftsteller Max Frisch zitiert, der 1965 unter dem Titel „Überfremdung“ ein Vorwort zu Dialogen des Dokumentarfilms „Siamo Italiani“ von Alexander J. Seiler verfasste. Darin heißt es bezogen auf die Schweiz und die dort tätigen Italiener:
Ähnliches hatte Ernst Schnydrig, der Vorsitzende der Deutschen Caritas, bereits im Jahr 1961 geäußert: „Wir wollten Arbeitskräfte importieren – und es kamen Menschen.“ Frisch wird auch in Deutschland im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration zitiert, beispielsweise um zu betonen, dass man deren menschlichen Aspekte lange Zeit außer Acht gelassen habe.
== Siehe auch ==
Wie geht man als Arbeiter nach Deutschland?
Hellas-Express
Ausländerprogramm der ARD
== Literatur ==
Marcel Berlinghoff: Das Ende der „Gastarbeit“. Europäische Anwerbestopps 1970–1974. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012, ISBN 978-3-506-77668-6.
Aytaç Eryılmaz, Cordula Lissner (Hrsg.): Geteilte Heimat. 50 Jahre Migration aus der Türkei. Klartext Verlag, Essen 2011, ISBN 978-3-8375-0640-2.
Aytaç Eryılmaz, Mathilde Jamin (Hrsg.): Fremde Heimat – eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei. Klartext, Essen 1998, ISBN 3-88474-653-7 (deutsch und türkisch).
Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. Beck, München 2001, ISBN 3-406-47477-2.
Karin Hunn: „Nächstes Jahr kehren wir zurück…“. Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik. Wallstein, Göttingen 2005, ISBN 3-89244-945-7.
Heike Knortz: Diplomatische Tauschgeschäfte. „Gastarbeiter“ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953–1973. Böhlau Verlag, Köln 2008, ISBN 978-3-412-20074-9.
Hedwig Richter, Ralf Richter: Der Opfer-Plot. Probleme und neue Felder der deutschen Arbeitsmigrationsforschung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Nr. 1, Oldenbourg, München 2009, S. 61–97 (PDF; 485 kB).
Roberto Sala: „Gastarbeitersendungen“ und „Gastarbeiterzeitschriften“ in der Bundesrepublik (1960–1975) – ein Spiegel internationaler Spannungen. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 366–387.
== Weblinks ==
Migrationsmuseum Rheinland-Pfalz: Dauerausstellung zur Arbeitsmigration
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Anwerbepolitik_der_Bundesrepublik_Deutschland
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Frankfurter Stadtbefestigung
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= Frankfurter Stadtbefestigung =
Die Frankfurter Stadtbefestigung war ein System von Verteidigungsanlagen der Stadt Frankfurt am Main, das vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert bestand. Um das Jahr 1000 entstand eine erste Stadtmauer, die im Wesentlichen das Gelände der Königspfalz Frankfurt einschloss. Im 12. Jahrhundert dehnte sich die Siedlung auf das Gebiet der heutigen Altstadt aus. Zu ihrem Schutz wurde die sogenannte Staufenmauer errichtet. Ab 1333 entstand nördlich der Altstadt die Neustadt, die mit einem zusätzlichen Mauerring mit fünf Stadttoren umzogen wurde. Die im 15. Jahrhundert angelegte Frankfurter Landwehr erstreckte sich um das gesamte Territorium der Freien Reichsstadt. Ab 1628 wurde die mittelalterliche Stadtmauer unter Stadtbaumeister Johann Wilhelm Dilich zu einer Sternschanzenfestung ausgebaut.
Frankfurt hielt sich seit der Niederlage in der Kronberger Fehde im Jahre 1389 konsequent aus militärischen Konflikten heraus und stützte sich auf ein Netz diplomatischer Beziehungen innerhalb und außerhalb des Reiches. Dadurch mussten sich die Stadtbefestigungen – soweit überliefert – in den fast acht Jahrhunderten ihres Bestehens nur einmal, nämlich im Juli 1552 während des Fürstenaufstandes, in einer Belagerung bewähren.
Ab dem 18. Jahrhundert waren die Befestigungsanlagen militärisch nutzlos und standen der Entwicklung der Stadt im Wege. Nicht zuletzt deswegen wurden sie 1806 bis 1818 geschleift. Sie bilden heute mit den Wallanlagen einen Grüngürtel um die Innenstadt. Noch erhalten sind sieben Türme, darunter der Eschenheimer Turm, ein etwa 200 Meter langes Stück der Staufenmauer, Reste der Landwehr sowie ein erst 2009 wieder aufgedecktes, 90 Meter langes Stück einer Kasematte der barocken Sternschanzenfestung.
== Die erste Stadtmauer ==
=== Königspfalz Frankfurt ===
Frankfurts älteste Befestigungsanlagen entstanden zum Schutz der 822 erstmals urkundlich erwähnten karolingischen Pfalz. Ihre Lage war lange Zeit nicht genau bekannt. Bis in die 1930er Jahre galt sie als Vorgängerbau des heutigen Saalhofs. Heinrich Bingemer konnte 1936 durch Grabungen beweisen, dass der Saalhof erst der Stauferzeit entstammte, und vermutete deshalb, dass die karolingische Pfalz weiter östlich lag. Tatsächlich stieß man 1953 bei archäologischen Grabungen im innersten Altstadtkern, die nach der Zerstörung der Altstadt durch die Luftangriffe auf Frankfurt am Main im Zweiten Weltkrieg möglich geworden waren, westlich des Doms im Keller der einstigen Goldenen Waage auf die Reste der Pfalz.Die Pfalz lag auf dem Domhügel, einer hochwassergeschützten Anhöhe im Osten der Altstadt. Er war ursprünglich eine Insel zwischen dem südlich verlaufenden Main und der nördlich gelegenen Braubach, einem bereits im ersten christlichen Jahrtausend verlandeten und im Mittelalter kanalisierten Seitenarm. Südlich des Domhügels befand sich die Furt, der Frankfurt nicht nur den Namen, sondern überhaupt seine Existenz verdankt. Zwischen dem Domhügel und dem westlich davon gelegenen Karmeliterhügel zog sich eine sumpfige Niederung quer über den heutigen Römerberg zum Main hinab.
Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein galt als unstrittig, dass das karolingische Frankfurt nicht nur den Domhügel, sondern auch den Karmeliterhügel umfasste, also das südwestliche Viertel des heutigen Stadtteils Altstadt. Diese Annahme stützte sich auf die bereits genannte These, dass die Pfalz ein Vorgängerbau des Saalhofs war, und so genau in der Mitte der ersten Befestigung gelegen hätte. Entsprechend zeigt es dann auch ein Plan des Geographen Christian Friedrich Ulrich aus dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, in dem die angeblich ältesten Stadtgrenzen und zugleich der mutmaßliche Verlauf der ältesten Stadtmauer eingetragen war.
Die Mauer wäre demnach vom Ufer etwas oberhalb der heutigen Alten Brücke nach Norden den Wollgraben entlang bis zum späteren Dominikanerkloster verlaufen. Von dort hätte sie nach Westen dem Verlauf der heutigen Braubachstraße und Bethmannstraße gefolgt und wäre kurz vor dem westlichen Ende der heutigen Weißfrauenstraße wieder Richtung Süden zum Main hin abgeknickt, wo sie am Ufer entlang wieder am östlichen Ausgangspunkt angeschlossen hätte.
=== Erkenntnisse der Archäologie ===
==== Geschichte der Grabungen ====
Als 1827 bei der Erbauung des Dompfarrhauses am nördlichen Domplatz, später auch in den Kellern mehrerer Häuser im westlichen Altstadtgebiet vermeintliche Reste der Mauer zum Vorschein kamen, sah man die von Ulrich vorgegebene Vorstellung der frühmittelalterlichen Befestigung noch bestätigt. Erst beim Durchbruch der Braubachstraße durch die Altstadt 1904 bis 1906 konnten jedoch planmäßig umfangreiche Grabungen auf wissenschaftlicher Grundlage durchgeführt werden. Dem vom Historischen Museum beauftragten Architekten Christian Ludwig Thomas war es möglich, in über 50 Grabungsschächten entlang der neuen Straße den nördlichen und nordwestlichen Zug der Mauer nachzuweisen.Erst nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten sich in den Jahren 1953 bis 1955 wieder Archäologen mit der Stadtmauer im Bereich des einstigen Hauptzollamtes (heute Haus am Dom). Der Nachweis über Teile des südlichen (also entlang des Mains) und ein kleines Stück des westlichen Verlaufs unter der Saalgasse konnte im Zuge der Untersuchungen von Otto Stamm auf dem Gebiet des Saalhofs in den Jahren 1958 bis 1961 erbracht werden. Die bisher letzte auf die Mauer gerichtete Grabungen fand 1976 erneut auf dem Grundstück des Dompfarrhauses statt. Untersuchungen zwecks Nachweises des südöstlichen und östlichen Verlaufs gab es bisher nicht. Auch erlaubte die vermutlich durch die Bautätigkeit des Mittelalters im Bereich des Römerbergs stark gestörte und durch den Bau der Tiefgarage in den 1970er Jahren schließlich vernichtete Stratigraphie nur sehr spärliche Rückschlüsse auf den Verlauf an dieser Stelle.
==== Befunde und heutiger Forschungsstand ====
Das deutlichste Bild zeichnen die Befunde vom Erscheinungsbild und der Zusammensetzung der Mauer. Sie war im Mittel etwa zwei Meter dick wie hoch, auf der südlichen Schauseite zum Main betrug die Dicke – wohl aus rein psychologischen Gründen – sogar drei Meter, in den Befundkatalogen wird sie hier deshalb oft als „Dreimetermauer“ aufgeführt. Das Verteidigungswerk bestand aus Geröllen, grob behauenen Bruchsteinen, teils aber auch besser gearbeiteten Werkstücken aus Basalt und Vilbeler Sandstein, die wohl dem Abbruch römischer Hochbauten entstammten. Das Material war recht unbeholfen und überhaupt nur auf den Schauseiten planmäßig in einem fischgrätenartigen Verbund aufeinandergeschichtet, der Mörtel von äußerst geringer Qualität, im Grunde nur mit Pflanzenfasern und Tierhaaren vermischter Lehm. Laut Thomas war die Fundamentierung so mangelhaft, dass die Mauer noch zu Zeiten, als sie nicht vom Zivilisationsschutt überdeckt war, um bis zu 30 Zentimeter aus der Lotrichtung kippte. Stellenweise deckte er auch spätere Reparaturen mit besserem Mörtel auf, was die Bedeutung der Mauer dokumentiert, wollte man sie doch offenbar trotz ihrer schwerwiegenden baulichen Mängel erhalten.
Bezüglich der Datierung ergeben die Befunde alleine schon ein weniger eindeutiges Bild. Thomas datierte die Mauer noch aufgrund im näheren Umfeld gefundener Zivilisationsreste, vor allem aber sogenannter Pingsdorfer Keramik, die man in dieser Zeit für karolingisch hielt, in das 9. Jahrhundert und schrieb die Bauherreneigenschaft Ludwig dem Deutschen zu. Bei der Grabung 1976 konnte eine Becherkachel aus grober Glimmerware in einer Grube unter der Mauer geborgen werden. Becherkacheln kommen gegen Ende des 10. Jahrhunderts auf, und auch die bereits genannte Pingsdorfer Keramik wird heute tendenziell erst in die Zeit ab 900 gesetzt, so dass zumindest die bisher gemachten archäologischen Befunde eher für eine Stadtmauer der späten ottonischen denn der karolingischen Epoche sprechen. Dazu kommt allerdings noch eine Urkunde aus dem Jahr 994, die die Stadt erstmals als castello, also Burg bezeichnet, was die Existenz einer Stadtmauer zu diesem Zeitpunkt nahelegt und sich hervorragend mit dem Ergebnis der archäologischen Untersuchungen deckt.
Der Verlauf der Mauer ist aufgrund der zahlreichen Grabungen der Jahrhundertwende und der für archäologische Verhältnisse damals noch luxuriösen Situation, in völlig ungestörten Kulturschichten graben zu können, im Nordwesten am besten dokumentiert. Die Verteidigungsanlage erstreckte sich in einer nahezu geraden Linie vom Hainer Hof nördlich der Kannengießergasse bis hin zu einer von Thomas aufgedeckten, 1,10 Meter breiten Toranlage im Bereich der Borngasse. Von hier erstreckte sie in gerade Richtung weiter zum Steinernen Haus und knickte dann wider Erwarten scharf Richtung Römerberg ab.
Die Funde einer in Ost-West-Richtung verlaufenden Mauer am nördlichen Samstagsberg legen die Existenz einer weiteren Toranlage nahe, wo man noch heute den Römerberg verlässt und in den Alten Markt Richtung Dom eintritt. Zieht man von hier eine Verbindung mit den Funden im Bereich des Saalhofs, so muss die in Ost-West-Richtung verlaufende Mauer hier eine nahezu rechtwinklige Wendung beschrieben und als gerade Linie Anschluss an die stärkere Mauer am Mainufer gesucht haben. Die von Thomas bemerkte starke Störung des Bodens unter dem Römerberg macht es aber genauso gut möglich, dass das genannte Ost-West-Stück einer späteren Zeit angehörte, und die Mauer direkt in einem Viertelkreis Anschluss von ihrem nordwestlichen Verlauf, dessen südwestlichstes Stück Otto Stamm unter der Saalgasse fand, an das südliche Stück suchte. Letzteres ist archäologisch nur bis auf Höhe des Geistpförtchens nachgewiesen. Auch ihre Gleichzeitigkeit mit der ottonischen Stadtmauer ist durchaus umstritten.Mutmaßlich folgte die „Dreimetermauer“ auch östlich des Geistpförtchens weiter dem natürlichen Verlauf des Flusses, dessen Ufer damals etwa auf Höhe der südlichen Saalgasse lag, und verlief östlich des Doms, etwa auf mittlerer Ausdehnung der Kannengießergasse, wieder bei verringerter Breite in Nord-Süd-Richtung, um sich dem belegten Verlauf an der heutigen Braubachstraße anzuschließen.
Den Anfang des 20. Jahrhunderts noch überraschenden archäologischen Befund konnten erst die Ausgrabungen der Nachkriegszeit erklären. Genau in der Mitte des von der Mauer umschlossenen Geländes befand sich die Pfalz mit den zugehörigen Wirtschaftsgebäuden und dem Vorgängerbau des Doms, der 852 geweihten Salvatorkirche. Das karolingische Frankfurt war also deutlich kleiner gewesen, als man früher angenommen hatte, und wurde nach dem heutigen Kenntnisstand auch erst von der nachfolgenden Dynastie der Ottonen um das Jahr 1000 befestigt.
== Die Staufenmauer ==
Zu Beginn des 11. Jahrhunderts war die karolingische Königspfalz bereits baufällig geworden. Vermutlich zwischen 1018 und 1045 fiel sie einem Brand zum Opfer, das Gelände wurde rasch überbaut. Erst der 1138 zum König gewählte Konrad III. ließ mit dem Saalhof wieder eine Königsburg am Main errichten. Die um die Burg gelegene Siedlung entwickelte sich nach der Mitte des 12. Jahrhunderts allmählich zu einer kleinen Stadt. Mit der später so genannten Ersten Stadterweiterung griffen die Siedlungsgrenzen über den inzwischen verlandeten oder zugeschütteten nördlichen Mainarm hinaus. Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrhunderts wurde die vergrößerte Siedlung mit einer neuen Stadtmauer umgeben, der Staufenmauer. Sie umschloss ein Gebiet von etwa 0,5 Quadratkilometern, die heutige Frankfurter Altstadt.
Die neue Stadtmauer nahm am Mainufer etwas oberhalb der Brücke ihren Anfang, zog sich nach Norden den Wollgraben entlang bis zum späteren Dominikanerkloster und von dort in weitem Bogen nordwestlich zur Bornheimer Pforte an der Fahrgasse. Von hier verlief sie in westlicher Richtung den heutigen Holzgraben entlang zur Katharinenpforte, von dort im Bogen über den Kleinen und den Großen Hirschgraben nach Südwesten und knickte kurz vor dem westlichen Ende der heutigen Weißfrauenstraße Richtung Süden zum Main hin ab. Am Ufer entlang verlief die Mainmauer.Die Erweiterung fiel in etwa zusammen mit der Einführung der Armbrust in der Folge der Kreuzzüge, weswegen die Befestigung vor allem in die Höhe wuchs. Auf der etwa sieben Meter hohen und zwei bis drei Meter dicken Mauer aus Bruchsteinen verlief ein Wehrgang, zur Außenseite war ein trockener Graben vorgelagert. Die Stadtmauer hatte drei Haupttore, von West nach Ost die Guldenpforte, am westlichen Ende der Weißadlergasse; die Bockenheimer Pforte (später Katharinenpforte genannt) zwischen Holz- und Hirschgraben; und die Bornheimer Pforte am nördlichsten Punkt der Fahrgasse.Das Aussehen der Guldenpforte wurde nur durch den Belagerungsplan von 1552 als runder, schmuckloser Turm mit kegelförmigem Dach überliefert. Die Katharinenpforte bestand aus zwei einfachen Gebäuden, der äußeren Pforte und einem stärkeren, viereckigen Innenturm mit hohem Schieferdach, Dacherker und Laterne. Dieser Turm stand am Südende der heute als Katharinenpforte bezeichneten Straße, die ihren Namen nach der 1354 von Wicker Frosch gestifteten Katharinenkirche erhielt. Auf älteren Darstellungen erkennt man den romanischen Baustil des Tores an Größe und Form der Fenster sowie im Erdgeschoss an der rundbogigen Durchfahrt mit ihrer typischen, unverputzten Bogenstellung.Noch im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Katharinenpforte mehrfach aufwändig renoviert, um ein darin befindliches Gefängnis weiter nutzen zu können. Offenbar war das Gebäude mit seinen äußerst massiven Mauern für diesen Zweck besonders geeignet. Die aus heutiger Sicht prominenteste Gefangene dürfte Susanna Margaretha Brandt gewesen sein, das historische Vorbild für Goethes Gretchen. Sie verbrachte hier die Zeit von ihrer Festnahme am 2. August 1771 bis zur Hinrichtung am 14. Januar 1772.
Die Bornheimer Pforte war eine Doppelpforte: der östliche Torbogen war größer und für Fuhrwerke gedacht, der westliche von etwa halber Breite für Fußgänger. Sie verfügte über einen einfachen viereckigen Turm mit hohem Schieferdach. Bereits seit 1433 diente sie ebenso wie ihr westliches Pendant als Gefängnis. 1719 wurde sie beim Großen Christenbrand schwer beschädigt.Neben den vorgenannten Haupttoren gab es sieben kleinere Durchlässe: die Mainzer Pforte an der Alten Mainzer Gasse, die Fischerfeldpforte östlich der Brücke am Main, westlich der Brücke die Fischerpforte an der Großen Fischergasse, das Metzgertor südlich des Leinwandhauses, die Heilig-Geist-Pforte auf mittlerer Länge der Saalgasse, die Fahrpforte am späteren Fahrtor, die Holzpforte am südlichen Ende der Karpfengasse (Nord-Süd-Verbindung ungefähr zwischen den heutigen Straßen Fahrtor und Am Leonhardstor, nach dem Zweiten Weltkrieg aufgegeben) sowie die Leonhardspforte an der 1219 gestifteten Leonhardskirche. Die Nebenpforten wurden ob ihrer geringen Größe im Volksmund oft als Pförtchen verniedlicht. Ihr Aussehen ist nicht überliefert, da sie bereits Mitte des 15. Jahrhunderts und somit fast ein Jahrhundert vor den ersten bildlichen Gesamtdarstellungen der Stadt wieder starke bauliche Veränderungen erfuhren.
Die Staufenmauer wurde auch nach der Zweiten Stadterweiterung von 1333 unterhalten. Bester Beleg hierfür waren zwei noch in der Mitte des 14. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, als die Stadt bereits eine neue Befestigung erhielt, auf der Mauer errichtete Rundtürme. Der nach einem hier befindlichen Wirtschaftshof des Bartholomäusstifts benannte Fronhofturm stand am Ende der Predigergasse (Ost-West-Verbindung ungefähr zwischen heutigem östlichen Domplatz und Kurt-Schumacher-Straße, nach dem Zweiten Weltkrieg aufgegeben), der nach den benachbarten Dominikanern benannte Mönchsturm etwa auf der Mitte einer gedachten Linie zwischen dem Chor der Dominikanerkirche und dem Steinernen Haus in der Judengasse. Die Türme sollten aller Wahrscheinlichkeit nach als Verteidigung für die gefährdete Mauerecke am Fischerfeld dienen.
Erst Ende des 16. Jahrhunderts riss man größere Stücke ab, wie es auf dem Vogelschauplan von Matthäus Merian aus dem Jahr 1628 gut zu erkennen ist: 1583 fiel ein großes Stück südwestlich der Katharinenpforte, 1589 gab es einen Durchbruch am nördlichen Ende der Fahrgasse und 1590 einen ebensolchen bei der Öffnung der Hasengasse zur Zeil hin. Im selben Jahr wurde auch die Guldenpforte abgerissen, kurz nach 1765 die Bornheimer Pforte, 1790 die Katharinenpforte, 1793 der Fronhofturm und 1795 schließlich weite Teile des Mönchsturms. Letzterer hatte, als Pulverturm benutzt, beim Großen Judenbrand 1711 beinahe zu einer Katastrophe geführt, doch ein Übergreifen der Flammen konnte gerade noch verhindert werden, und der Turm blieb in der Konsequenz ab diesem Zeitpunkt unbenutzt. Die Uhr der Bornheimer Pforte, die die Nachbarschaft bereits 1603 erbeten hatte, kam 1778 auf den Turm des nahen, seinerseits 1886 abgerissenen Zeughauses an der Konstablerwache. Die Glocke erhielt 1776 die im selben Jahr niedergebrannte Johanniskirche in Bornheim als Notbehelf.Nach der Entfestigung des frühen 19. Jahrhunderts war bis etwa 1880 zusammenhängend noch ein etwa 600 Meter langes Stück der Staufenmauer an der westlichen Rückseite der Judengasse bis hinauf zur Fahrgasse erhalten. Binnen weniger Jahre fielen mehr als 500 Meter davon beim Durchbruch der Battonnstraße sowie beim Bau eines Schulhauses am Dominikanerkloster. Die Fundamente des Mönchturms wurden 2011 archäologisch ergraben und sollen nun im Belag der Straße kenntlich gemacht werden.
== Die spätmittelalterliche Stadterweiterung ==
Am 17. Juli 1333 gestattete Kaiser Ludwig IV. die Zweite Stadterweiterung, die das bisherige Stadtgebiet verdreifachte. Es sollte noch vier Jahrhunderte dauern, bis die Stadtbevölkerung von damals 9000 Menschen so weit angewachsen war, dass die vor der Staufenmauer gelegene Neustadt komplett bebaut war. Dennoch begann man bereits kurz nach der Stadterweiterung mit dem Bau einer neuen Stadtmauer um die dünn besiedelte Vorstadt, der sich in mehreren Abschnitten über mehr als 100 Jahre hinzog.
Die Arbeiten liefen im Jahr 1343 von zwei Seiten an: im Westen am Weißfrauenkloster und am Bockenheimer Tor, im Osten am Allerheiligentor. Der Bau schritt zunächst nur langsam und, soweit aus den mittelalterlichen Baumeister- und Rechenmeisterbüchern nachvollziehbar, kaum nach einem Gesamtkonzept voran. Einzig bei der Verstärkung der Mainfront in den 40er und 50er Jahren des 15. Jahrhunderts lässt sich so etwas wie ein Programm verfolgen. Die Einführung und rasche Entwicklung der Feuerwaffen sorgte ab diesem Zeitpunkt offenbar für eine gewisse Beschleunigung der Arbeiten, so dass die gesamte Befestigungslinie Anfang des 16. Jahrhunderts vollendet war.
Wie schon ihr Vorgängerbau nahm die Befestigung oberhalb der Alten Brücke ihren Anfang, zog sich bis zum Dominikanerkloster nach Norden, dann nach Osten und folgte von hier weiter der Linie des heutigen Anlagenrings. Von Osten nach Westen sind dies die Lange Straße, die Seilerstraße, die Bleichstraße, die Hochstraße und schließlich die Neue Mainzer Straße bis hinab zum Schneidwall. Am Verlauf der Mainmauer änderte sich nichts. Erstmals bezog man auch die südlich des Mains gelegene Vorstadt Sachsenhausen in den Schutz der Mauer ein.
Die Mauer war sechs bis acht Meter hoch und an der Mauerkrone etwa 2,5 bis drei Meter dick. Um Material zu sparen, legte man in die Innenseite der Mauer – wie schon die Staufenmauer – etwa einen Meter tiefe Blendbögen. Auf der Mauer verlief ein durchgehender Wehrgang mit einer etwa zwei Meter hohen Brüstung, die von Zinnen und Schießscharten unterbrochen war. Man erreichte ihn entweder durch schmale und steile Holztreppen, oder durch steinerne Wendeltreppen, sogenannte Schnecken.
Der mit Platten belegte Wehrgang war zum Teil mit einem verschieferten Satteldach überdeckt, der Rest ohne Dach an verschiedenen Stellen mit kleinen Häuschen besetzt, das Verteidigern und Wächtern zum Aufenthalt diente. Das bekannteste dieser Gebäude war das um 1350 erbaute Salmensteinsche Haus im Bereich der heutigen Rechneigrabenstraße. Es inspirierte im 19. Jahrhundert die Architekten des Rathausneubaus, so dass der kleinere Rathausturm Kleiner Cohn im Dachbereich eine exakte Kopie des Hauses darstellt. Er hat nach seiner Beschädigung im Zweiten Weltkrieg allerdings bis heute nur ein flaches Notdach.
Vor und hinter der Mauer verliefen zwei jeweils drei bis vier Meter breite Zwinger, vor dem äußeren Zwinger ein acht bis 10 Meter breiter nasser Graben mit einer weiteren niedrigen Mauer davor. Neben dem Main speisten verschiedene kleinere Gewässer den Graben mit Wasser. Die Frankfurter Fischerzunft bewirtschaftete auch die Fischerei im Graben. Der Rechneigrabenweiher in der Obermainanlage und der Bethmannweiher im Bethmannpark sind heute noch bestehende Reste des Grabens.Zur Verstärkung der Mauer dienten insgesamt 55 Türme, davon 40 auf der nördlichen Mainseite und 15 in Sachsenhausen. Sie entstanden überwiegend erst im 15. Jahrhundert. Die meisten dieser Türme waren rund und sprangen nach außen nur wenig über die Mauer hervor. Der Wehrgang der Stadtmauer ging durch die Türme entweder hindurch, oder wurde um sie herumgeführt.
=== Tore ===
Durch die Landmauer führten nur an wenigen Stellen Tore: im Westen das Galgentor, im Nordwesten das Bockenheimer Tor, im Norden das Eschenheimer Tor, im Nordosten das Friedberger Tor und im Osten das Allerheiligentor. Auf der Sachsenhäuser Seite gab es hingegen nur ein Tor, das im Süden gelegene Affentor; die im Osten gelegene Mühlpforte sowie die im Südwesten gelegene Oppenheimer Pforte waren schon vor 1552 wieder eingegangen, wie es auf dem Belagerungsplan ersichtlich ist.
Die Torbauten bestanden aus zwei etwas stärkeren Tortürmen beiderseits des Wassergrabens und einem Zwinger dazwischen. Um die Tore besser verteidigen zu können, waren sie in den meisten Fällen gegeneinander versetzt angeordnet, nur das Bockenheimer und das Eschenheimer Tor besaßen geradlinige Durchfahrten. Über eine Öffnung im Torgewölbe konnte man im Notfall Erde und Steine in den Durchgang schütten und das Tor unpassierbar machen.
Das Galgentor war trotz seines abschreckenden Namens das bedeutendste, da der Verkehr von und nach Mainz hindurchführte. Auch die Kaiser pflegten bei ihrer Wahl durch das Galgentor in die Stadt einzuziehen. Sein 1381 bis 1392 erbauter, viereckiger Torturm war daher besonders repräsentativ gestaltet: an der Außenseite befanden sich unter gotischen Baldachinen die Statuen des Heiligen Bartholomäus und Karls des Großen neben einem auf einem Löwen stehenden Reichsadler. 1808 wurde die gesamte Anlage mit Turm und vorgelagerter Brücke abgerissen.Als eines der ersten fertiggestellten Befestigungswerke der neuen Stadtmauer wurde der Turm des Bockenheimer Tors 1343 bis 1346 erbaut. Zunächst als Rödelheimer Pforte bezeichnet, ging die spätere Bezeichnung erst im Verlauf des 15. Jahrhunderts von der Katharinenpforte auf sie über. Nachdem das Tor 1480 und 1494 durch Blitzschlag stark beschädigt worden war, wurde es 1496 neu aufgebaut und durch den Maler Hans Fyoll verziert. 1529 sicherte man es durch ein vorgelagertes Rondell, 1605 wurde die alte Pforte geschlossen und daneben eine neue gebaut. Der Abbruch erfolgte 1808, nachdem bereits 1763 der damalige Stadtbaumeister auf die große Baufälligkeit hingewiesen hatte.
Der bedeutendste Turm war der 1400 bis 1428 errichtete und bis heute erhaltene Eschenheimer Turm hinter dem gleichnamigen Stadttor. Er war bereits der zweite Turm an dieser Stelle. Der Grundstein zu seinem Vorgängerbau war 1346 gelegt worden. Das Vorwerk mit der zweibogigen steinernen Brücke wurde bereits 1806 abgerissen. Dagegen fand der Turm trotz mehrerer Versuche, ihn im 19. Jahrhundert als Verkehrshindernis und Beleidigung des ästhetischen Empfindens der Biedermeierzeit doch noch abzureißen, immer wieder prominente Fürsprecher, darunter den Großherzog Karl Theodor von Dalberg, zu dessen Ehren der Turm im 19. Jahrhundert den Namen Karlstor trug.Urkundlichen Nachrichten zufolge bestand das Friedberger Tor bereits 1346, sein Turm wurde aber erst 1380 erbaut. Er war rechteckig und mit einem hohen, abgewalmten Satteldach mit Laterne bekrönt. Sein Vorbau fiel bereits der verbesserten Befestigung des 17. Jahrhunderts zum Opfer, der allein stehende, bis zuletzt von einem Türmer bewohnte Turm erst 1812.
Das Allerheiligentor führte in der ersten Zeit den Namen Rieder Pforte nach den etwa eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt liegenden Riederhöfen. In historischen Dokumenten findet es sich zeitweise auch als Hanauer Tor erwähnt. Erst als 1366 in der Nähe die Allerheiligenkapelle errichtet wurde, ging dieser Name langsam auf das Tor über. Das genaue Erbauungsdatum des repräsentativen Torturms schwankt in der historischen Quellen zwischen den 1340er und den 1380er Jahren, sein Abriss erfolgte 1809.Das Sachsenhäuser Tor wurde bereits seit dem Ende des 14. Jahrhunderts Affentor genannt. Für diesen Namen gibt es verschiedene Erklärungen, Johann Georg Battonn zufolge erhielt es seinen Namen von einem in der Nähe befindlichen Eckhaus zum Affen. In seiner ganzen Gestalt war es wesentlich gedrungener als die nördlich des Mains gelegenen Bauten. Oberhalb des Tors befand sich ein viereckiger Turm, dessen genaues Erbauungsdatum nicht mehr nachvollzogen werden kann. Nach 1552 wurde das Tor auf zwei Seiten mit Rondellen versehen, nach 1769 erhielt das Dach ein barockes Türmchen zur Aufnahme der Schlaguhr des abgebrochenen Sachsenhäuser Brückenturms. Es wurde 1809 vollständig abgerissen.
=== Mainufer und Brückentürme ===
Besonders wichtig für den Schutz der Stadt war die Verteidigung des Mainufers. Auf der flussabwärts gelegenen Seite bewachten mit dem Mainzer Turm am Nordufer und dem Ulrichstein am Südufer zwei mächtige Verteidigungswerke den Zugang zur Stadt. Flussaufwärts verhinderte das sumpfige Fischerfeld den direkten Zugang eines möglichen Angreifers zur Stadtmauer, während das Sachsenhäuser Ufer zwischen der Stadtmauer und der Mainbrücke durch eine Mauer mit fünf starken Türmen gesichert war.
Die Alte Brücke selbst wurde durch zwei Brückentürme geschützt. Ihre Tore wurden nachts geschlossen, so dass bei Nacht niemand die Brücke überqueren konnte. Bereits im Jahre 1306 berichteten Urkunden erstmals von den Türmen, die durch Hochwasser und Eisgang am 1. Februar desselben Jahres zerstört wurden. Offenbar baute man sie aber in kürzester Zeit wieder auf. Im Juli 1342 fiel der weniger massiv gebaute Sachsenhäuser Brückenturm erneut einem Hochwasser zum Opfer, wurde von 1345 bis 1380 aber umgehend neu erbaut.
Den Frankfurter Brückenturm bezeichnete man seit 1342 urkundlich auch als alten Brückenturm, weswegen davon ausgegangen werden kann, dass seine Erbauung zwischen 1306 und 1342 fiel. Er diente als Gefängnis, und 1693 wurde die Folter aus der Katharinenpforte hierher verlegt. Der viereckige Turm hatte ein sehr steil abgewalmtes Schieferdach mit großen Dachgauben und eine spitzbogige Durchfahrt im Erdgeschoss. Während die Ecken Quader zeigten, waren die Flächen verputzt und zu allen Zeiten repräsentativ gestaltet. Die Form der Gestaltung war im Laufe der Jahrhunderte allerdings den Wandelungen des Zeitgeschmacks unterworfen.
Der Sachsenhäuser Brückenturm hatte ebenfalls einen viereckigen Grundriss und eine spitzbogige Durchfahrt im Erdgeschoss, erinnerte im Dachbereich aber an gotische Patrizierbauten der Zeit. Er besaß hier einen mit polygonalen Ecktürmchen besetzten Wehrgang, der über ein Rundbogenfries auskragte. Den oberen Abschluss bildeten vier Spitzhelme und ein abgewalmtes Schieferdach. Malerischen Schmuck hatte er, soweit noch nachvollziehbar, zu keiner Zeit. Er wurde 1769 abgebrochen. Nach seinem Vorbild entstand Anfang des 20. Jahrhunderts der Lange Franz, der größere Turm des neuen Rathauses.
Auf der nördlichen Mainseite verlief schon seit der Stauferzeit zwischen der Alten Brücke und dem Mainzer Turm eine geschlossene Mauer, die nur durch sechs Tore passierbar war. Am nächsten zur Brücke lag die zuletzt 1449 umgebaute Fischerpforte. Ihr Turm wurde schon vor der Belagerung von 1552 abgebrochen, so dass sein Aussehen nicht überliefert ist. Der übriggebliebene Turmstumpf zeigte über der Durchgangsöffnung einen giebelartig ansteigenden Zinnenkranz. Zwischen der Pforte und dem Brückenturm lag ein gemauertes, dreieckiges Bollwerk mit zahlreichen Schießlöchern und einem Erker. Die Errichtung dieser zusätzlichen Verstärkung fällt wohl in das Jahr 1520, der genaue Abbruch der Anlage ist nicht mehr festzustellen.Das Richtung Westen anschließende, zuletzt 1456 bis 1457 umgebaute Metzgertor lag am Ausgang des Metzgerviertels neben dem Schlachthaus. Ihr viereckiger Turm zeigte in den unverputzten Ecken Quader, hatte eine spitzbogige Durchfahrt und drei Obergeschosse mit je zwei schmalen rechteckigen Fenstern. Das steil abgewalmte Satteldach trug zur Mainseite einen hohen Erker. Tor und Turm wurden im Oktober 1829 abgerissen, als man einen Freihafen errichten und das dahinter gelegene Leinwandhaus in ein Lager umwandeln wollte.Südlich des Heilig-Geist-Spitals an der Saalgasse lag die 1454 erbaute Heilig-Geist-Pforte. Ihr viereckiger Torturm war etwas niedriger als der des benachbarten Metzgertors und hatte über der spitzbogigen Durchfahrt nur zwei Obergeschosse mit rechteckigen Fenstern. An der Vorderseite des Satteldaches befand sich aber ebenso ein großer Erker. Der Turm wurde 1797 an den Handelsmann Siebert auf Abbruch verkauft, als er die nördlich anstoßenden Häuser in der Saalgasse neu errichtete und dabei die Pforte überbaute.Den Hauptzugang am Mainufer markierten der 1456 vollendete Rententurm und das 1460 fertiggestellte Fahrtor des Stadtwerkmeisters und Steinmetzen Eberhard Friedberger. Während der Rententurm bis heute als Teil des Historischen Museums vollständig erhalten ist, wurde das Fahrtor 1840 abgerissen. Einzig sein bildhauerisch reich gestalteter Erker ist noch an der westlichen Außenseite des Museums zu sehen, eine Kopie befindet sich an der Südseite des Rathausneubaus.
Die Holzpforte erhielt 1456 ihre endgültige Gestalt. Der spitzbogige Durchgang hatte nur eine geringe Höhe und war wohl nur für Fußgänger bestimmt. Der sich darüber erhebende Turm hatte auch nur ein Obergeschoss, aber ein sehr steiles Satteldach mit polygonalem Erker und Spitzhelmabschluss. Direkt über dem Tor befand sich ein weiterer gotischer Erker mit Maßwerkverzierungen und der eingehauenen Jahreszahl 1456. Als Besonderheit war er für Kommunikations-, aber auch Verteidigungszwecke nach unten hin offen. Das Pförtchen wurde 1840 abgebrochen.Als westlichster Zugang vom Mainkai in die Stadt folgte das ebenfalls 1456 umgebaute Leonhardstor. Es war wie die Holzpforte ein einfaches Bauwerk mit nur einem Obergeschoss. Dies lag wohl darin begründet, dass es vom bereits 1388 bis 1391 erbauten, mächtigen Leonhardsturm flankiert wurde, in dem die Stadt bis in das 17. Jahrhundert hinein wichtige Dokumente lagerte. Mit seinen vier Obergeschossen, von denen das oberste über einen Rundbogenfries auskragte, und dem kegelförmigen Dach mit vier Erkern erinnerte das Bauwerk entfernt an den Eschenheimer Turm. Der seinerzeit sehr zum Widerwillen des Leonhardsstifts errichtete Turm wurde 1808, die Pforte 1835 abgebrochen.
Die Mainzer Pforte schloss die Mainfront ab und eröffnete zugleich die Westfront der Landmauer. Die geringe Breite des hier über den Stadtgraben führenden Steges lässt schon auf frühesten Abbildungen erkennen, dass er wohl immer nur dem reinen Personenverkehr diente. Das ursprünglich romanische Torgebäude aus der Zeit der ersten Stadterweiterung wurde 1466 bis 1467 neu errichtet. Der sie südlich flankierende, erstmals 1357 erwähnte Mainzer Turm stand auf einer Ecke der Mainmauer und westlichen Stadtmauer. Er war als massiver, runder Turm mit einem über ein Rundbogenfries auskragenden Zinnenkranz und offenem Wehrgang ausgeführt. Das oberste, achteckige Geschoss trug ein glockenförmiges Dach mit Laterne. 1519 und 1520 wurden das Mainzer Bollwerk nach allen Himmelsrichtungen durch Rondelle nochmals verstärkt, wohl wegen der Fehdedrohung von Franz von Sickingen. Nach den hier betriebenen Schneidmühlen, die ihr Wasser über einen Mühlengraben vom Main erhielten, nannte der Volksmund dieses mächtigste Bollwerk der Stadtbefestigung auch Schneidwall.Das Schaumaintor am Sachsenhäuser Ufer erhielt seinen Namen, nachdem man es vergrößert hatte, um den Verkehr von der eingegangenen Oppenheimer Pforte aufnehmen zu können; zuvor hatte es ebenfalls den Namen Mainzer Pforte geführt. Ihrem Schutz diente der 1391 erstmals urkundlich erwähnte Ulrichstein, ein starker Rundturm mit einem erkerbesetzten, kegelförmigen Helm. Beim Abzug der Schweden 1635 wurde er schwer beschädigt. Seine Ruine blieb noch nach Abbruch des Schaumaintors 1812 stehen und musste erst 1930 dem Straßenverkehr weichen.
=== Militärische Bedeutung ===
Die Stadtmauer war kurz nach ihrer Fertigstellung im 16. Jahrhundert militärisch und technisch bereits wieder veraltet. Sie war als mittelalterliche Verteidigungsanlage für den Kampf mit Hieb- und Stichwaffen, Bogen und Armbrust konzipiert. Seit dem 14. Jahrhundert aber revolutionierten Feuerwaffen, vor allem die Kanone die Belagerungstechnik. Spätestens die Erstürmung von Konstantinopel 1453, bei der die stärkste Stadtmauer der Welt mithilfe gewaltiger Kanonen überwunden werden konnte, markierte hier eine Zeitenwende.
Ihre größte Bewährungsprobe erlebte die Frankfurter Stadtbefestigung im Juli 1552. Während des Fürstenaufstandes belagerten protestantische Truppen unter Führung Moritz von Sachsens drei Wochen lang die ebenfalls protestantische, aber kaisertreue Stadt, die durch Truppen des katholischen Kaisers unter Führung des Obersten Konrad von Hanstein erfolgreich verteidigt wurde. Hanstein ließ dazu in kürzester Zeit die Stadtbefestigung auf einen zeitgemäßen Stand bringen, provisorische Bastionen aufschütten und die gotischen Turmhelme des Bockenheimer und des Friedberger Tores abwerfen, um nicht der eigenen Artillerie im Weg zu stehen.
Mit dem Abschluss des Passauer Vertrages endete die Belagerung. Es war die größte militärische und diplomatische Leistung der Frankfurter Geschichte. Die Stadt hatte ihr lutherisches Bekenntnis und zugleich ihre Privilegien als Messeplatz und als Wahl- und Krönungsort der Römischen Kaiser erfolgreich verteidigt. Ab 1562 wurden fast alle Kaiser in Frankfurt nicht nur gewählt, wie schon vorher üblich, sondern auch feierlich gekrönt.
== Die Landwehr ==
Mitte des 14. Jahrhunderts, zur Zeit der Zweiten Stadterweiterung, besaß Frankfurt schon einen ansehnlichen Landbezirk. Dazu gehörten rechtsmainisch im Uhrzeigersinn das Riederfeld, das Friedberger Feld und das Galgenfeld, die etwa das Gebiet der heutigen Stadtteile Ostend, Nordend, Westend, Gallus, Gutleutviertel und Bahnhofsviertel umfassten. Linksmainisch erstreckte sich der Besitz auf das Dorf Sachsenhausen mit seiner Feldmark entlang des Mains und auf dem Sachsenhäuser Berg. 1372 erwarb die Stadt von Kaiser Karl IV. für 8800 Gulden das Reichsschultheißenamt, wodurch die Stadt zur Freien Reichsstadt wurde, sowie für weitere 8800 Gulden den Frankfurter Stadtwald, ein 4800 Hektar großes Gebiet des Reichsforstes Dreieich. Darüber hinaus besaß Frankfurt das Dorf Dortelweil an der Nidda und Rechte an den Reichsdörfern Sulzbach und Soden. 1367 erwarb die Stadt Burg und Dorf Bonames, 1376 Niedererlenbach und 1400 den Hof Goldstein.
=== Die Schlacht bei Eschborn ===
Trotz des von Karl IV. verkündeten Landfriedens waren die Frankfurter Besitzungen ständig bedroht, vor allem durch die Interessen der Cronberger Ritter sowie der Herren von Hanau, die die aufstrebende Reichsstadt Frankfurt in die Schranken weisen wollten. 1380 vereinigten sich die Ritter im Löwenbund, denen sich die Städte im Zweiten Rheinischen Städtebund entgegenstellten. Der Frankfurter Versuch, mit militärischer Gewalt seine Position zu sichern, verlief jedoch nicht erfolgreich. In der am 14. Mai 1389 ausgetragenen Schlacht bei Eschborn erlitt die Stadt eine vernichtende Niederlage gegen Cronberg und seine Verbündeten, die Hanauer, Hattsteiner und Reifenberger. 620 Bürger, darunter einige Patrizier und sämtliche Bäcker, Metzger, Schlosser und Schuhmacher der Stadt, gerieten in Gefangenschaft. Um die Gefangenen auszulösen und die Kriegsgegner zu Verbündeten zu machen, musste Frankfurt seine Ultima Ratio einsetzen. In einer großen Kraftanstrengung brachte die Stadt bis zum 1. März 1393 ein Lösegeld von 73.000 Gulden auf, außerdem ernannte sie den Ritter Hartmut von Cronberg zum Amtmann aller städtischen Dörfer, mit Sitz in Bonames und einem Jahresgehalt von 184 Gulden.
=== Der Bau der Landwehr um die Stadt ===
Anfang 1393 tauchte zum ersten Mal der Plan einer Landwehr um die Stadt auf. 1396/1397 baute man die Landwehr von den Riederhöfen im Osten zum Knoblauchshof im Norden der Stadt. Auf jedem der Höfe errichtete die Stadt zudem eine hölzerne Warte. Die Bauarbeiten erregten das Missfallen der Nachbarn in Vilbel und Hanau, deshalb sicherte sich der Rat ab, indem er am 13. Januar 1398 ein Privileg vom römisch-deutschen König Wenzel erwarb, in dem dieser der Stadt erlaubte, zu ihrem Schutz in und um Frankfurt und Sachsenhausen so weit sie wollten, Gräben, Landwehren und Warten anzulegen. Noch im selben Jahr nahm der Rat den Landwehrbau wieder auf und vollendete den nordwestlichen Bogen zwischen Knoblauchshof und dem am Main gelegenen Gutleuthof.
Die neue Landwehr zog sich in einem Umkreis von etwa drei bis vier Kilometern um die Stadt. Ihr Verlauf entsprach in etwa den politischen Grenzen der Freien Reichsstadt. Sie bestand aus einem Gebück aus undurchdringlichen Hecken mit einem vorgelagerten Graben. Der westliche Teil der Landwehr wurde später nach und nach um einen weiteren Graben ergänzt.
Die zwischen der Stadtmauer und der Landwehr gelegene Gemarkung bestand weitgehend aus landwirtschaftlich genutzten Flächen. Unmittelbar vor der Stadt lagen Gärten und Weinberge, die Außenbezirke etwa entlang des heutigen Alleenrings wurden nach einer seit alters her überlieferten Flurverfassung auf der Grundlage der mittelalterlichen Dreifelderwirtschaft genutzt. Dazu zog sich ein Kranz von befestigten Höfen um die Stadt. Ein Teil des Geländes war mit Sommergetreide bestellt, ein Teil mit Wintergetreide, während der dritte Teil brach lag. Dazwischen lagen kleinere Waldstriche und Fluren wie das Knoblauchsfeld und das für die Wasserversorgung der Stadt wichtige Friedberger Feld, von dem seit 1607 eine hölzerne Wasserleitung zum Friedberger Tor führte.
=== Die Sachsenhäuser Landwehr ===
1413 begann der Bau der Sachsenhäuser Landwehr im Süden der Vorstadt. 1414 entstanden mit der Galgenwarte und der Sachsenhäuser Warte die ersten steinernen Bauten der Landwehr. Diese Maßnahmen riefen einen weiteren mächtigen Gegner der Reichsstadt auf den Plan. Werner von Falkenstein, Erzbischof von Trier, Herr von Königstein und Graf im Hain, sah durch den Bau der Sachsenhäuser Landwehr und der Warten seine Lehnsrechte über den Wildbann Dreieich beeinträchtigt. Der Rat berief sich jedoch auf das Privileg König Wenzels und rief den deutschen König und späteren Kaiser Sigismund um Hilfe an. Sigismund nahm die Galgenwarte persönlich in Augenschein und bestätigte die Frankfurter Privilegien. Trotzdem ließ Erzbischof Werner im Frühjahr 1416 die Sachsenhäuser Warte und die Sachsenhäuser Landwehr zerstören. König Sigismund, der zu dieser Zeit in London war, mahnte den Bischof zum Frieden, den Rat zur Geduld, bis er zur Entscheidung nach Deutschland käme. Erst nach Werners Tod 1418 ließ der Rat die Landwehr 1420 bis 1429 wiedererrichten und vollenden. 1434 bis 1435 entstand die Bockenheimer Warte, 1470/71 eine neue Sachsenhäuser Warte.
=== Ausbau der Landwehr im 15. Jahrhundert ===
1425 erwarb die Stadt das östlich von Sachsenhausen gelegene Dorf Oberrad, das 1441 in die Landwehr einbezogen wurde.
1446 gab Frank der Reiche von Cronberg vor, dass die von ihm erworbene Burg Rödelheim baufällig sei, und begann seinerseits mit Befestigungsarbeiten an dieser Festung, obwohl diese innerhalb des Frankfurter Burgenprivilegs lag. Dagegen protestierten die Frankfurter und verlangten beim Kaiser den Abriss der Cronberger Burg. Frank der Reiche einigte sich schließlich 1447 mit den Stadtoberen auf deren finanzielle Beteiligung an der Burg und ein Öffnungs- und Wegerecht.
1474 gelang es dem Rat nach langen Bemühungen, auch Bornheim aus dem alten Gerichtsverband der Grafschaft Bornheimerberg herauszulösen und zu erwerben. Um das Dorf in die Landwehr einzubeziehen, waren erhebliche diplomatische Vorbereitungen erforderlich, da man Widerstand vor allem von dem Hanauischen Landesherrn Philipp I. von Hanau-Münzenberg befürchtete. Der Rat ließ sich sein Landwehrprivileg deshalb ausdrücklich bestätigen, ohne Bornheim darin zu erwähnen.
Am 23. und 24. Juli 1476 zogen etwa 1500 Frankfurter Bürger und Einwohner der Frankfurter Dörfer auf das Feld vor Bornheim, um gemeinsam den vorher abgesteckten Graben der Landwehr auszuheben. Auch alle 42 Ratsherren waren bei den Arbeiten zugegen. Auf dem Knoblauchshof und der Günthersburg hatte der Rat Geschütze aufstellen und Reisige postieren lassen, um die Arbeiten zu schützen. Mit dem Bau der neuen Bornheimer Landwehr wurde der zwischen Frankfurt und Bornheim gelegene Teil der Landwehr entbehrlich.
1478 wurde die Bornheimer Landwehr mit dem Bau der Friedberger Warte vollendet. Die bisherige Warte am Knoblauchshof zwischen Eschersheimer und Eckenheimer Landstraße wurde aufgegeben, da sich auch die Verkehrsströme änderten. Der Verkehr nach Vilbel lief nunmehr über die Friedberger Warte, derjenige nach Ginnheim und Eschersheim über die Bockenheimer Warte.
Nur an den fünf größten Ausfallstraßen war die Landwehr passierbar. Diese Durchlässe waren durch Warttürme geschützt: An der Mainzer Landstraße die Galluswarte, an der Bockenheimer Landstraße die Bockenheimer Warte, an der Friedberger Landstraße die Friedberger Warte und an der Darmstädter Landstraße die Sachsenhäuser Warte.
Dem Schutz der Stadtgrenze an der Hanauer Landstraße dienten die beiden Riederhöfe. Wer diese Grenze passieren wollte, hatte drei Eiserne Schläge zu passieren. Trotz eines Vertrages von 1481 kam es zu dauernden Grenzstreitigkeiten mit den Hanauern, die das Reichskammergericht bis zu dessen Auflösung beschäftigten. Am 26. März 1605 verwüsteten Hanauische Truppen mit 300 Mann den äußeren Riederschlag und traktierten die Frankfurter Wächter übel, die mit knapper Not noch Warnsignale mit Horn und Büchse geben konnten. Aus dem Jahr 1675 wird berichtet, dass Frankfurt einen hanauischen Grenzpfosten ausgehoben, das Hanauer Wappen davon abgenommen, den Stock in Stücke gesägt und letztere klein gehauen habe. Erst 1785 wurde die Grenzziehung endgültig in einem Vertrag geregelt.
Die Eschersheimer Landstraße war seit 1462 nicht mehr durchgängig passierbar. Der Eiserne Schlag am Durchgang durch die Landwehr blieb normalerweise verschlossen. Nur die Niederurseler Müller sowie die Schultheißen der Frankfurter Dörfer besaßen einen Schlüssel. Pläne zum Bau einer neuen Warte wurden nie ausgeführt. Erst 1779 erhielten die Eschersheimer auf ihre Bitten hin ebenfalls einen Schlüssel für den Eisernen Schlag.
Im 16. Jahrhundert wurde der militärische Nutzen der Landwehr mehrmals erprobt. 1517 überfiel Franz von Sickingen während der Herbstmesse innerhalb der Landwehr vor dem Galgentor einen Geleitzug und nahm den Frankfurtern sieben Frachtwagen weg. Im Schmalkaldischen Krieg schlugen die Truppen des Schmalkaldischen Bundes, welche Frankfurt verteidigten, vom 28. bis 30. August 1546 mehrere Angriffe kaiserlicher Truppen auf die Landwehr an der Galgenwarte, der Bockenheimer und der Friedberger Warte zurück.
Bei der Belagerung Frankfurts im Juli 1552 zeigte sich die Landwehr jedoch den Angriffen nicht gewachsen. Bereits beim ersten Ansturm durchbrachen die Truppen des Kurfürsten von Sachsen die Landwehr an der Friedberger Warte, zerstörten die Galgenwarte und die Sachsenhäuser Warte, raubten 3000 Stück Vieh und schlugen ihr Lager unmittelbar vor der Stadtmauer auf. Daran erinnern noch heute die Straßenbezeichnungen Im Sachsenlager und Im Trutz Frankfurt im Westend.
Obwohl die Landwehr und die zerstörten Warten nach dem Abzug der Alliierten wieder aufgebaut wurden, spielten sie in den Kriegen des 17. und 18. Jahrhunderts keine Rolle mehr. 1785 begann der allmähliche Abbau der Befestigungen, der sich bis 1810 hinzog.
== Die barocke Stadtbefestigung ==
Nach der erfolgreich bestandenen Belagerung von 1552 vergingen über 50 Jahre, in denen Frankfurt von kriegerischen Bedrohungen verschont blieb und keinen Anlass hatte, eine Verstärkung seiner Befestigungen in Angriff zu nehmen. Auch Mahnungen einiger kriegserfahrener Persönlichkeiten, die Stadt besser zu schützen, vermochten den Rat nicht zu größeren Maßnahmen zu bewegen.
Dass Frankfurt so glimpflich davongekommen war, lag allerdings nicht an seiner Befestigung, die damals schon rückständig war. Ausschlaggebend war eher die entschlossene Verteidigung durch zahlreiche Geschütze, denen die mangelhafte Feuerleitung der Belagerer nichts entgegenzusetzen hatte. Die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts brachte den damals so genannten Pulvergeschützen den endgültigen Durchbruch. Sie machten steinerne Befestigungsanlagen des Mittelalters obsolet, erforderten für Verteidigungszwecke aber auch die Errichtung von Werken, die sich zu Geschützaufstellungen eigneten, sogenannten Basteien oder Rondellen. Mit diesen wurde die bestehende mittelalterliche Stadtmauer auch in Frankfurt am Main bereits während und auch noch nach der Belagerung von 1552 punktuell verstärkt. Zusätzlich hatte man die provisorischen Schutten aus der Zeit der Belagerung verfestigt und stellenweise ausgebaut, z. B. am sogenannten Judeneck südlich des Allerheiligentors.
Doch letztlich hätte dies im Ernstfall nicht mehr ausgereicht, die gesamte Stadtmauer wirksam zu verteidigen. Durch die zahlreichen Kriege in Italien hatte sich schon zu Ende des 15. Jahrhunderts eine neue Befestigungslehre herausgebildet. Die Erfahrungen lehrte, dass geradlinige Werke der Verteidigung besser dienten als halbrunde. Nach einigen Zwischenstufen sah man fünfeckige Bastionen, auch als Bollwerke bezeichnet, als Idealform, die durch Zwischenwälle (Kurtinen) miteinander verbunden wurden.
=== Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges ===
Mit den Unruhen in Böhmen nahm 1618 der Große Krieg seinen Anfang. Doch erst mit dem Tode Kaiser Matthias' 1619 spitzte sich die politische Lage dramatisch zu. Dies veranlasste im selben Jahr den Rat, sich mit dem kurpfälzischen Ingenieur Adam Stapf in Verbindung zu setzen, der in Mannheim beim Festungsbau tätig war. Er legte der Stadt einen auf 149.000 Gulden Ausführungskosten veranschlagten Plan vor. Nach diesem sollten 13 nördlich, fünf südlich des Mains gelegene hohle Bastionen angelegt werden. Um weiter Kosten zu sparen, war geplant, anstelle von Kurtinen die alte Zwingermauer von hinten mit Erde aufzuschütten und so als Brustwehr zu nutzen. Der Rat lehnte mit Verweis auf die zu hohen Kosten umgehend ab, fühlte sich aber in Anbetracht der wachsenden Bedrohung bereits 1621 veranlasst, wieder mit Stapf in Kontakt zu treten.
Der mittlerweile in Heidelberg tätige Ingenieur legte umgehend einen neuen Entwurf vor. Danach sollte die mittelalterliche Befestigung unberührt bleiben, und in etwas Abstand von der Stadt eine ganz neue Befestigungsanlage mit 13 Bastionen und 12 Kurtinen entstehen. Die Kosten für die Ausführung schätzte Stapf auf 159.600 Gulden. In der Sitzung vom 10. Mai 1621 vertrat der Rat der Stadt jedoch die Ansicht, dass der Krieg wohl bald beendet sein werde und man das weitläufige Werk wegen der enormen Kosten daher besser unterlassen solle.
Schon bald wurde klar, dass der Krieg auch Frankfurt erreichen konnte: In der Schlacht bei Höchst am 20. Juni 1622 standen sich in unmittelbarer Nähe der Stadt über 40.000 Soldaten der protestantischen Union und der katholischen Liga gegenüber. Nach dem Rückzug der protestantischen Truppen sah sich die Reichsstadt zur Großzügigkeit gegenüber dem katholischen Sieger genötigt. Um ihr lutherisches Bekenntnis und die kaiserlichen Privilegien gleichermaßen zu wahren und die Kriegsfurie vor den Toren zu halten, begann die Stadt eine Politik der wohlwollenden Neutralität nach allen Seiten, ohne feste Bündnisse. Obwohl die wichtigste Waffe in diesem Strategiespiel das gut gefüllte Stadtsäckel war, wollte man zur Sicherheit auch militärische Stärke demonstrieren.
Noch im selben Jahr wurde Eberhard Burck, Ingenieur und Baumeister in Gießen, auf zunächst zwei Jahre für den Ausbau der Befestigung eingestellt. Als Wallmeister stellte der Rat zudem auf seine Empfehlung hin Steffan Krepel von Forchheim für zunächst ein Jahr in seine Dienste. Nach Burcks offenbar auf Kostenersparnis getrimmten Plan sollte Frankfurt sechs, Sachsenhausen nur drei Bastionen erhalten, als Kurtinen sollte wie in Stapfs ersten Entwurf die alte Zwingermauer dienen. Im Januar 1624 verlangte Burck einen Recompens für seinen Entwurf, und Krepel beschwerte sich, dass er nichts verdiene, weil mit dem Werk kein Anfang gemacht werde. Letztlich kam einzig ein Vorschlag Burcks zur Ausführung, die Ostseite Sachsenhausens mit einem Rondell zu sichern. Wegen weiterer Verzögerungen seitens des Rates kam es Mitte 1624 zum Streit, der mit der Entlassung Burcks unter Zahlung von 125 Talern Abfindung im Februar 1625 endete.
=== Die Beauftragung Johann Wilhelm Dilichs ===
Die Absicht des Rates, die Stadtbefestigung auszubauen, hatte sich mittlerweile herumgesprochen. So bot der damals in Kassel tätige, berühmte Festungsbaumeister Johann Wilhelm Dilich mit einem Brief vom 16. Dezember 1624 seine Dienste an. Gleichzeitig reichte er einen kommentierten Entwurf ein, in dem er vor allem betonte, dass er die alte Stadtmauer keinesfalls für stark genug halte, um als Zwischenmauer für die zu errichtenden Bastionen zu dienen. Wegen einer vermeintlichen Beruhigung der Kriegsgeschehnisse ging der Rat abermals nicht darauf ein. Als im Juni 1625 die Armee Wallensteins Böhmen Richtung Franken und Hessen verließ, brachte der Stadtschultheiß, Johann Martin Baur von Eysseneck, den in Frankfurt gebürtigen Johann Adolf von Holzhausen als Festungsbaumeister ins Gespräch, der in Mannheim Kapitän gewesen war.
Der Rat stellte Kapitän von Holzhausen umgehend in seine Dienste und beauftragte ihn mit der Sicherung des Friedberger Tores, das schon lange als schwächste Stelle der Stadtverteidigung gesehen wurde. Das Gelände stieg hier an, und das Tor stand an einem ausspringenden Winkel der Stadtmauer, zu dem ein Damm über den Stadtgraben führte. Dies wäre im Ernstfall nicht flankierbar gewesen. Holzhausen reichte einen Entwurf zur Errichtung eines Ravelins, also einer eigenständigen Bastion vor dem Stadttor ein. Ende Juli 1626 wurde mit der Arbeit begonnen, doch schon bald zeigten sich Missstände, resultierend aus der mangelnden Sachkenntnis des Kapitäns. Wie schon von Dilich vermutet war die Zwingermauer zu schwach, um dahinter eine Brustwehr aufzuschütten. Nun waren Teile der Mauer nach der Aufschüttung in den Stadtgraben gestürzt. In der anderen Richtung hatte die Erde südlich angrenzende Gärten unter sich begraben, deren Besitzer sich beschwerten.
Der Rat wandte sich nach einem Hinweis des Buchdruckers Clement Schleich aus Wittenberg nun an Dilichs Vater, den kurfürstlich-sächsischen Ingenieur Wilhelm Dilich. Er traf mit seinem Sohn im Januar 1627 ein, um sich ein Bild von der Lage zu machen. In seinem Gutachten verwarf er wie sein Sohn jegliche Einbeziehung der alten Stadtbefestigung und empfahl, ähnlich wie schon Stapf, eine regelmäßige Zirkularbefestigung mit etwas Abstand von der Stadt. Von der Planung her wäre dies die einfachste Variante gewesen, da alle Bastionen und die verbindenden Kurtinen von gleicher Dimension gewesen wären. Für die Stadt hätte es aber zusätzlich zu den immer noch erheblichen Kosten den Erwerb von Feldgütern bedeutet. Dies lehnte der Rat ab und ließ sich vier weitere Varianten mit einem enger an die Stadt gelegten Befestigungskranz vorlegen. Auch diese waren den Stadtoberen allesamt zu teuer, und so rüsteten sich Vater und Sohn Anfang April wieder für die Abreise.
Als Mitte 1627 das von Holzhausen errichtete Ravelin vollends in sich zusammenstürzte, rief der offenbar verzweifelte Festungsbaumeister den Rat an, doch Johann Wilhelm Dilich mit der Aufgabe zu betrauen. Bis Dilich im Oktober eintraf, richtete Holzhausen allerdings noch mehr Schaden als Nutzen an, indem er die Erde des zusammengefallenen Werkes auf Höhe des Pestilenzhauses hinter der Stadtmauer aufschütten ließ. Abermals wurden hierdurch mehrere Gärten schwer beschädigt.
Dilich, der sich in den Wintermonaten einen Überblick verschafft hatte, wurde am 8. Januar 1628 als Ingenieur und Stückmajor in städtische Dienste berufen. In der Ratssitzung am 22. Februar kam es zu einer äußerst kontroversen Debatte über seine Pläne, die Verteidigungsanlagen wesentlich zu erweitern. Trotz einer letztlich erneut ablehnenden Haltung, gab es weiter das Problem des auf 3000 Karren Erde geschätzten, missratenen Werks von Holzhausen dies- und jenseits der Stadtmauer. Mehr aus Ausweglosigkeit denn Entschlossenheit erteilte man Dilich die Erlaubnis, die alte Stadtmauer mit der Erde des zusammengefallenen Ravelins an ihren schwächsten Stellen im Norden der Stadt mit zwei Bollwerken vor dem Eschenheimer Tor und dem Friedberger Tor zu verstärken. Um das Vorhaben politisch abzusichern, erklärte Stadtschultheiß Johann Martin Baur von Eysseneck bei der Grundsteinlegung am 16. Juni 1628 feierlich, dass sich die neue Befestigung nicht gegen Kaiser und Reich richte, sondern lediglich dem Schutze der kaisertreuen Stadt diene.
Weitere falsche Sparsamkeit auf Seiten des Rates führte Mitte 1629 abermals zum Zusammensturz größerer Teile der im Bau befindlichen Anlage. Durch die Ansicht, dass das Friedberger Tor zuerst gesichert werden müsse, war Dilich gezwungen, das erste Bollwerk dort zu erbauen, anstatt die Befestigung an der tiefsten Stelle der Stadt am Mainufer zu beginnen, wie es die Ableitung des Wassers erfordert hätte. Um die Feldgüter zu schonen, sollte er ferner auf dem alten, völlig versumpften Graben zu bauen, was zu statischen Problemen und letztlich zum Zusammenbruch führte. In der nachfolgenden Untersuchung schoben sich Dilich, der auf seine Empfehlung hin eingestellte Mannheimer Wallmeister Nikolaus Mattheys und die ausführenden Werkleute gegenseitig die Schuld daran zu. So habe der Wallmeister etwa mehr der Bierhütte als des Walles zugesprochen, die Handwerker hätten Dilich angeschnarcht. Letztlich wurde nur Mattheys entlassen und durch den Mainzer Johann Zimmermann ersetzt. Den Handwerkern war keine Schuld nachzuweisen, und auch an Dilich hielt der Rat fest.
Abermals wurde ein Gutachter, nun der Ulmer Festungsbaumeister und Mathematiker Johannes Faulhaber hinzugezogen. Er stellte die im Grunde bereits bekannten, aber auch neue konstruktive Fehler fest, korrigierte zu deren Abhilfe Dilichs Pläne und brüskierte denselben offen vor dem Rat, sein Vater habe es besser gemacht, doch wolle der Sohn nichts mehr lernen und bei seiner eigenen Meinung bleiben. Faulhaber konnte sich diese Kritik allerdings leisten, lieferte er doch durch algebraische Rechnungen und ein Papiermodell den schlagkräftigen Beweis für die Richtigkeit seiner Ausführungen. Letztlich folgte Dilich nach Faulhabers Abreise im März 1630 dessen Empfehlungen, wodurch die Arbeiten ab diesem Zeitpunkt gute Fortschritte machten. Bereits im Juni waren die Schäden durch den Zusammenbruch wieder hergestellt.
Zeitweise arbeiteten bis zu 600 Mann an dem Festungsbau. 1631 bekam Dilich den Darmstädter Baumeister Matthias Staudt als Assistenten zugewiesen. Die Bürgerschaft musste eine außerordentliche Schatzung, das heißt eine Sondersteuer, für den Festungsbau aufbringen und wurde außerdem zu Arbeitsleistungen verpflichtet. Auch die Lehrer des Städtischen Gymnasiums mussten mit Hand anlegen; eine Bittschrift beim Rat, in der sie um Befreiung von der Schanzarbeit nachsuchten, da sie Tag und Nacht meditieren und neben ihrer kärglich bezahlten Lehrtätigkeit auch noch negociieren, also Handelsgeschäften nachgehen müssten, um ihren Lebensunterhalt zu fristen, wurde abschlägig beschieden. Während Dilich als Ingenieur ein städtisches Gehalt von 448 Gulden jährlich bezog, bekamen die Gymnasiallehrer nur 50.
=== Der Festungsbau ===
Dilich wandte eine aus den Niederlanden stammende Weiterentwicklung der italienischen Bauweise an, die niederländische Festungsbaukunst. Die alten Mauern ließ er bestehen, hob aber etwa 30 Meter vor den bestehenden Anlagen neue Gräben aus, deren Aushub er nutzte, um einen neuen Wall vor der Mauer aufzuwerfen. Teilweise schüttete er dabei die alten Gräben vor der Mauer zu, teilweise legte er einen neuen Graben vor dem alten an. Der Vorteil gegenüber der italienischen Methode war, dass die Wälle wegen der Gräben nicht erstiegen werden, und Geschützkugeln in Erdwällen (gegenüber den Steinwällen der italienischen Manier) keinen großen Schaden durch herumfliegende Trümmer und Splitter anrichten konnten. Eine Handzeichnung Dilichs zeigt seine Konstruktionsweise: Von innen nach außen zogen sich der an der Innenseite der Mauer entlanglaufende Zwinger, die Stadtmauer mit dem Wehrgang, davor der aufgeschüttete Wall, die befestigte Brustwehr, an deren Fuß die Faussebraye mit einer weiteren Brustwehr, dann die Escarpe, der nasse Graben, die Contrescarpe und schließlich ein teilweise mit Palisaden besetztes Glacis. Von den fünfeckigen Bastionen aus konnte man mit Geschützen das Glacis und die Mauerfronten bestreichen.
Allerdings wurde so, wie z. B. eine Gesamtansicht von Matthäus Merian aus dem Jahr 1645 zeigt, nur vom Eschenheimer Tor bis kurz vor dem Allerheiligentor gebaut. Durch die schlechten Erfahrungen, die man beim Bauen auf dem alten Stadtgraben gemacht hatte, wurde alsbald die Linie der neuen Werke um etwa 15 Meter weiter nach außen verschoben. Dadurch blieb letztlich die gesamte mittelalterliche Stadtmauer mit ihrem Graben dahinter erhalten. Dies hatte andererseits den Vorteil, dass die Verteidigungsanlagen in diesem Bereich beidseitig von Wasser umgeben und nur noch durch die wenigen Brücken der Landtore zu erreichen waren.
Im Dezember 1631 sollte Dilich aus Geldmangel die Arbeiten auf Anweisung des Rats vorerst einstellen lassen. Nachdem am 20. November die Schweden unter König Gustav II. Adolf in Frankfurt einmarschierten, brachten sie die Arbeiten jedoch bald wieder in Schwung. Der schwedische Stadtkommandant, Oberst Vitzthum, ließ seine Soldaten an den Schanzarbeiten teilnehmen. Ab Mai 1632 entstanden drei weitere Bollwerke: Dasjenige am Breiten Wall wurde auch Schwedenbollwerk genannt, weil es von den schwedischen Soldaten errichtet wurde. Die zu Frondiensten verpflichteten Bauern aus den Frankfurter Dörfern erbauten das Bauernbollwerk am Eschenheimer Tor, das Frankfurter Stadtmilitär das Bockenheimer Bollwerk am Bockenheimer Tor.
Nachdem sich die Kunde verbreitete, die kaiserliche Armee rücke an, wurde noch im August des Jahres mit weiteren drei Bollwerken begonnen. Auf Druck der Schweden beschloss der Rat, dass hierfür täglich zwei Quartiere der Bürger sowie 150 jüdische Einwohner herangezogen werden sollten. Auch auf die Organisation wirkte sich nun die Anwesenheit des Militärs aus: durch einen Trommler wurden die Bürger früh morgens im jeweiligen Quartier, das an der Reihe war, vor das Haus des Bürgerkapitäns berufen. Unter Trommelschlag und Vorantragen einer Fahne zog man dann zur Arbeitsstelle. Viele reichere Bürger schickten, um nicht selbst arbeiten zu müssen, Knechte oder Mägde, die zum Klang der Trommel Tänze aufführten. Dies missfiel den schwedischen Militärs, doch der Rat verbot es nicht, um das Gesindlein lustig und willig zur Arbeit zu erhalten.
Der weitere Ausbau der Festungsanlagen zog sich bis lange nach dem Westfälischen Frieden hin. Das Ausheben der Gräben und die grundsätzliche Verfertigung der Bollwerke und Kurtinen war schon um 1645 weitestgehend abgeschlossen. Die nachfolgenden Jahre befasste man sich hauptsächlich mit dem Anlegen der äußeren Futtermauer des Grabens und dem Aufschütten der Feldbrustwehr. Gerade Letzteres zog sich mit den Mitteln der Zeit enorm. Nachdem Dilich 1660 gestorben war, setzte der Stückmajor Andreas Kiesser die Arbeit fort. 1667, also nach 49 Jahren, waren die Arbeiten im Wesentlichen abgeschlossen. Nördlich des Maines zogen sich nun insgesamt 11 Bastionen um die ganze Stadt, während das viel kleinere Sachsenhausen mit fünf Bastionen befestigt wurde. Erstmals wurde auch das Fischerfeld in die Stadtbefestigungen einbezogen.
Die 11 Bastionen hießen von Ost nach West: Fischerfeldbollwerk (1632 begonnen), Allerheiligen oder Judenbollwerk (am Allerheiligentor, 1632 begonnen), Schwedenschanze oder Breitwallbollwerk (1632 begonnen), Pestilenzbollwerk (am Klapperfeld, wo sich damals das Pestilenzhaus und heute das Landgericht Frankfurt am Main befindet, 1631 begonnen), Friedberger Bollwerk (am Friedberger Tor, 1628 begonnen), Eschenheimer Bollwerk (am Eschenheimer Tor, 1631 begonnen), Bauernbollwerk (1632 begonnen), Bockenheimer Bollwerk (am Bockenheimer Tor, 1632 begonnen), Jungwallbollwerk (1632 begonnen), Galgenbollwerk (1635 begonnen) und Mainzer oder Schneidwallbollwerk (1635 begonnen, 1663 bis 1664 aufgrund schwerster konstruktiver Schäden fast komplett neu erbaut).
Um Sachsenhausen zogen sich das Tiergartenbollwerk am östlichen Mainufer (1635 begonnen), das Hohe Werk an der Südostecke (1648 begonnen, 1665 in seine endgültige Form gebracht), das Hornwerk am Affentor (1631 bis 1635 zunächst als Demi-lune errichtet, 1665 bis 1666 in seine endgültige Form gebracht), das Oppenheimer Bollwerk westlich der einstigen Oppenheimer Pforte (keine genauen Angaben vorhanden, wohl um 1635 als Demi-lune erbaut und später verstärkt) und das Schaumainkaibollwerk (1639 zunächst als Demi-lune begonnen und beendet, 1667 in seine endgültige Form gebracht) am Schaumainkai.
Da die Bastionen teilweise direkt vor den alten Ausfahrten der Landtore aufgeschüttet wurden, mussten auch diese verändert oder neu gebaut werden. Zusammenfassend ist hierbei auffällig, dass die Neubauten, weitestgehend im Stil des frühen Barock, eher schlicht ausfielen. Eine mögliche Erklärung ist, dass die reinen Ingenieurarbeiten der Bastionierung das Stadtsäckel so belasteten, dass für aufwändige, repräsentative Torbauten schlicht das Geld fehlte. Das Galgentor blieb in seiner mittelalterlichen Form behalten und erhielt bald die Bezeichnung Altes Galgentor, nachdem 1661 bis 1662 das Neue Galgentor weiter südlich zwischen Galgenbollwerk und Mainzer Bollwerk angelegt worden war. Den Zugang ermöglichte eine Zugbrücke über den neuen Stadtgraben.
Am Bockenheimer Tor, das bereits 1605 verändert worden war, änderte sich nichts, für den Zugang wurde hier schlicht die Brücke über den neuen Stadtgraben verlängert. Obgleich mangels einer davor errichten Bastion nicht zwingend nötig, erhielt auch das Eschenheimer Tor 1632 bis 1633 neue Torbauten, die insgesamt wohl noch die repräsentativsten waren. Diese trugen sehr bewegte Volutengiebel, die Fenster hatten, ebenso wie die Tore, reiche Profilierungen, von denen das vorderste zwischen antikisierenden Akroteria einen Reichsadler zeigte. Dagegen ging das Alte Friedberger Tor aufgrund der direkt davor errichteten, gleichnamigen Bastion ein und blieb nur als Mauerturm erhalten. Das Neue Friedberger Tor, in seinem strukturellen Aufbau wohl am ehesten mit dem Galgentor zu vergleichen, wurde 1628 bis 1630 am nordöstlichen Ende der Vilbeler Gasse (heutige Vilbeler Straße) errichtet. Schließlich verlegte man das Allerheiligentor mittels eines 1636 errichteten Neubaus ebenfalls nach Norden, nachdem der alte Torbau nur noch einen Zugang zum gleichnamigen Bollwerk bildete.
=== Folgen des Dreißigjährigen Krieges ===
Der Nutzen der Befestigungen für Frankfurt ist schwer zu bewerten. Ihr Bau nahm die städtischen Finanzen stark in Anspruch. Trotz der Festungsanlagen wurde Frankfurt 1631 bis 1635 von schwedischen Truppen besetzt. Die ganze Zeit latent vorhandene Spannungen gipfelten am 1. August 1635 im Versuch schwedischer Truppen, die Stadt von Sachsenhausen aus unter ihre Kontrolle zu bringen.
Daraufhin ließ der Rat seinerseits die kaiserlichen Truppen unter Freiherr Guillaume de Lamboy auf der nördlichen Mainseite herein. In beiden Stadtteilen verschanzt, kam es zu schweren Gefechten, die erhebliche Schäden anrichteten. Unter anderem wurde die Brückenmühle und nahezu die gesamte Löhergasse in Sachsenhausen zerstört. Einzig der Einsicht Vizthums, der alsbald mit Lamboy in Verhandlungen trat, ist es wohl zu verdanken, dass die Katastrophe, ein die ganze Stadt zerstörender Großbrand, gerade noch abgewendet werden konnte. Am 10. August wurden den Schweden als Ergebnis der Gespräche ein Abzug mit militärischen Ehren Richtung Gustavsburg gewährt.
Besonders schwere Verwüstungen hinterließen die Pestjahre 1634 bis 1636. 1634 starben 3512 Menschen, 1635 3421 und 1636 sogar 6943 in Frankfurt. Die Stadtbevölkerung lag seit dem Mittelalter nie höher als 10.000 bis 13.000 Menschen, so dass die hohe Sterblichkeit nur durch die Menschen aus dem Umland zu erklären ist, die sich vor den Schrecken des Krieges in die Stadt geflüchtet hatten. Trotz aller Belastungen behielt Frankfurt, im Gegensatz zu anderen süddeutschen Städten wie Mainz oder Nürnberg, seine politische Bedeutung und erholte sich nach dem Krieg rasch wieder von seinen wirtschaftlichen Folgen.
=== Planungsfehler und Bauschäden ===
Noch während der laufenden Bauarbeiten, vor allem aber gegen Ende des 17. und im 18. Jahrhundert traten immer wieder Schäden an einzelnen Befestigungsanlagen auf, die kostspielig repariert werden mussten. So verzeichneten die städtischen Rechenbücher auch nach 1667 kaum ein Jahr, in denen der Posten Fortifikationsbau nicht wenigstens auf mehrere tausend, nicht selten aber auch weit über zehntausend Gulden kumulierte. Der Notwendigkeit von Reparaturen lagen fast immer Fehler zu Grunde, die bei ihrer Erbauung gemacht worden waren. Rücksicht auf die zum Festungsbau nötigen Feldgüter sowie falsche Sparsamkeit waren die Ursache, dass die Bauvorhaben nicht mit der nötigen Großzügigkeit, sondern kleinlich und noch dazu an falscher Stelle ausgeführt wurden.
So ist einer der Hauptfehler in den frühen Jahren zu suchen, dass mit dem Bau der barocken Befestigung nicht an der tiefsten Stelle des Stadtgebietes am unteren Mainufer begonnen wurde, wo man das zufließende Wasser leicht hätte ableiten können. In der Folge wurden die Fundamente fast aller Bollwerke auf viel zu feuchtem Grund gelegt, was zu Bauschäden führte, vor allem aber kaum noch vollständig reparabel war. Dazu kam die offenbar mangelnde fachliche Kenntnis aller Beteiligten, was die prinzipielle Stärke der Fundamentierungen anging. Schließlich wurde während der Anwesenheit schwedischer Truppen mit zu großer Geschwindigkeit gebaut.
Darüber hinaus drückte der Rat den von den Ingenieuren geforderten Betrag immer wieder herab, so dass die sorgfältige handwerkliche Ausführung unweigerlich litt. Unter den Ratsherren gab es zudem offenbar im ganzen 17. Jahrhundert keine einzige Person mit den nötigen Kompetenzen, die Qualität der Arbeiten zu beurteilen. Die häufige Anrufung von Gutachtern ist ein Zeugnis dafür. Allerdings fiel keinem der Gutachter, von denen Faulhaber zweifellos der fähigste war, der grundlegende Fehler der ganzen Anlage auf. Die Schultern der Bastionen standen senkrecht zum Zwischenwall, bildeten mit diesen also einen rechten, anstatt eines stumpfen Winkels. Dadurch wäre im Ernstfall das gegenseitige Bestreichen der Gräben vor deren Spitzen nicht möglich gewesen. Ebenso fehlerhaft war die Erbauung von Kämmen vor den Spitzen der Bollwerke anstatt vor der Mitte der Zwischenwälle. Die hierdurch entstandenen toten Winkel hätten wie schon 1552 einen Beschuss beispielsweise vom Mühlberg oberhalb von Sachsenhausen oder der Höhe des Affensteiner Feldes im heutigen Westend erlaubt, ohne dass dagegen eine Verteidigung aus der Stadt heraus möglich gewesen wäre.
Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts verlor die Stadtbefestigung aufgrund des raschen militärischen Fortschritts endgültig ihren militärischen Wert. Stattdessen begann die Stadtbevölkerung, die öffentlich zugänglichen Wälle als Naherholungsgebiet zu nutzen. Um 1705 wurden die ersten Lindenbäume an den Wallanlagen gepflanzt und ab dem Jahr 1765 führte eine durchgehende Allee (Lustallee) um Frankfurt und Sachsenhausen herum.
Während des Siebenjährigen Krieges wurde die Stadt von französischen Truppen besetzt und mit erheblichen Kontributionen belegt. Auch in den Koalitionskriegen bot die Stadtbefestigung keinen Schutz mehr, sondern erwies sich sogar als gefährlich, da eine verteidigte Stadt sich der Gefahr einer Beschießung ausgesetzt sah.
== Der Abriss der Stadtbefestigung im 19. Jahrhundert ==
=== Besetzung der Stadt und erste Schritte bis 1806 ===
Im Oktober 1792 besetzten französische Truppen die Stadt, die jedoch am 2. Dezember wieder vertrieben werden konnten. Doch selbst die Vertreibung war bezeichnend für die Nutzlosigkeit der Befestigung, konnten die verbündeten Hessen und Preußen doch fast ungehindert das Friedberger Tor erstürmen. 1795 und 1796 zogen erneut feindliche Truppen vor die Stadt. Die französische Beschießung der von österreichischen Truppen verteidigten Stadt am 13. und 14. Juli 1796 richtete große Schäden an, die erst 1721 durch einen Großbrand zerstörte Judengasse wurde erneut zu einem Drittel vernichtet.
Daraufhin beschloss der Senat der Stadt 1802 die Ausarbeitung von Plänen zur Schleifung der Befestigungsanlagen. Der Anstoß zur Beseitigung der Befestigung kam allerdings von außen, wenn auch sicher nicht ganz uneigennützig. Die französische Regierung hatte nämlich durch den Frankfurter Gesandten in Paris auf die Entfestigung als Mittel hingewiesen, um die Stadt in künftigen Kriegen vor der Zweckentfremdung als Waffenplatz und Stützpunkt zu schützen. Zwar hatte man Frankfurt wie den verbleibenden sechs Reichsstädten auf dem Reichsdeputationstag in Regensburg Neutralität im Kriegsfall zugesichert. Im Senat ging dennoch die Angst um, dass diese Empfehlung bei einem Kriegsausbruch zur Forderung gemacht werden könne, was schließlich der Auslöser für erste Maßnahmen war.Wie schon fast zwei Jahrhunderte zuvor zogen sich die Planungen für die Entfestigung über einen langen Zeitraum, und der Senat ließ eine Vielzahl von Modellen durchrechnen. Viele sahen nur ein Abtragen der Bollwerke unter Erhalt der Stadtmauer des 14. Jahrhunderts zur Civil-Verwahrung vor. Ebenso wie schon bei der frühneuzeitlichen Befestigung waren auch jetzt wieder die aus Sicht der Politiker viel zu hohen Kosten der Hauptgrund, wieso ein Gesamtplan nicht zu Stande kam. 1804 begann man nach fast 20 Monaten der Diskussionen dennoch mit dem Abriss, doch wurden die Arbeiten mit 50 bis 60 Tagelöhnern nur halbherzig betrieben. Ein Gutachten des Sommers 1805 konstatierte, dass man bei fortgesetzter Arbeitsgeschwindigkeit mit wenigstens weiteren neun Jahren für die komplette Entfestigung zu rechnen habe.
=== Fürstprimas Dalberg und die Beauftragung Guiolletts ===
Erst nach der erneuten Besetzung Frankfurts durch französische Truppen im Januar 1806 kam wieder Bewegung in das Projekt. Gleichzeitig fiel ein Aufruf des Senats an die Bürgerschaft, sich an der Demolierung zu beteiligen, auf unerwartet fruchtbaren Boden, wohl auch in Anbetracht der Gefahr durch den akuten österreichisch-französischen Krieg. Nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches im August 1806 verlor die Freie Reichsstadt Frankfurt ihre Unabhängigkeit. Sie wurde dem Territorium des Fürstprimas Carl Theodor von Dalberg zugeschlagen.
Im Auftrag Dalbergs verfasste Jakob Guiollett eine Denkschrift Bemerkung über die Schleifung hiesiger Festungswerke, die am 5. November 1806 erschien. Darin schlug er vor, den Frankfurter Festungsgürtel zu demolieren und anstelle der Bollwerke eine Promenade und einen englischen Landschaftsgarten neu anzulegen, der heute als Wallanlagen bekannt ist. Am 5. Januar 1807 ernannte ihn der Fürstprimas zum Fürstlichen Commissarius bei dem fortzusetzenden hiesigen Festungsbau-Demolitions-Geschäfte.Guiollett zog den Aschaffenburger Schlossgärtner Sebastian Rinz für die Planung der Arbeiten heran. In den folgenden Jahren entstanden nacheinander die Bockenheimer Anlage (1806), Eschenheimer Anlage (1807), Friedberger Anlage (1808/1809) und die Taunus- und Gallusanlage (1810). Besonders aufwendig war die Demolierung des mächtigen Mainzer Bollwerks, die sich von 1809 bis 1818 hinzog. Auf dem Gelände entstanden 1811 die Untermainanlage und die Neue Mainzer Straße. 1812 schloss Rinz die Arbeiten mit der Obermainanlage ab. Sämtliche Befestigungsanlagen bis auf den Sachsenhäuser Kuhhirtenturm und den Eschenheimer Turm wurden niedergelegt, lediglich einige der Tore am Mainufer aus dem 15. Jahrhundert, darunter das mächtige Fahrtor, blieben zunächst bestehen. Sie wurden erst 1840 abgerissen, als man das Mainufer um zwei Meter aufschüttete.
Die Bürger empfanden die Demolierung der alten Mauern als Signal einer Zeitenwende. Catharina Elisabeth Goethe schrieb am 1. Juli 1808 begeistert an ihren Sohn: Die alten Wälle sind abgetragen, die alten Tore eingerißen, um die gantze Stadt ein Parck, man glaubt, es sey Feerrey. Die alten Perücken hätten so was bis an Jüngsten Tag nicht zuwege gebracht. Eher wehmütig äußerte sich die wesentlich jüngere, bereits unter dem Einfluss der Romantik stehende Bettina von Arnim: So manchem Frankfurter Bürgerskind wird's gangen sein wie mir, daß es ihm kalt und unheimlich ist, als wär' ihm die Woll' abgeschoren mitten im Winter.1813 verwüsteten die französischen Truppen auf ihrem Rückzug nach der verlorenen Völkerschlacht von Leipzig die gerade erst angelegten Wallanlagen. Der inzwischen zum Präfekturrat für das großherzogliche Departement Frankfurt und zum Maire von Frankfurt ernannte Guiollett ließ die Anlagen durch Stadtgärtner Rinz umgehend wiederherstellen. Nachdem die Freie Stadt Frankfurt 1816 ihre Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, schützte sie ihren neuen Grüngürtel 1827 durch eine Wallservitut gegen Bebauung.
Anstelle der demolierten Tore errichtete 1807 bis 1812 Stadtbaumeister Johann Georg Christian Hess klassizistische Torbauten mit schmiedeeisernen Gittern, die noch bis 1864 jeden Abend verschlossen wurden. Dabei errichtete man nicht alle Tore vollständig neu. Beim Galgentor und beim Eschenheimer Tor wurden, wie zeitgenössische Bilder erkennen lassen, die frühbarocken Vorpforten mit einbezogen. Dennoch riss man die meisten schon bis Ende des 19. Jahrhunderts wieder ab.
=== Heute noch erhaltene Teile ===
Die Wallanlagen sind aufgrund des Wallservituts bis heute im Wesentlichen unangetastet geblieben und prägen noch immer das Frankfurter Stadtbild. Acht der ehemals 11 Bollwerke sind noch im Straßenverlauf des Anlagenrings erkennbar, lediglich das zuerst demolierte Galgenbollwerk und die beiden direkt am Mainufer gelegenen halben Bastionen, das Fischerfeldbollwerk und das Mainzer Bollwerk verschwanden ganz. Als einzige Bauwerke der verschwundenen Festungsanlagen sind noch der Rechneigrabenweiher in der Obermainanlage, der Albert-Mangelsdorff-Weiher in der Bockenheimer Anlage und der Erdhügel des ehemaligen Junghofbollwerks in der Taunusanlage zu erkennen. Auf diesem Hügel stand seit 1896 ein Reiterstandbild Kaiser Wilhelm I. von Clemens Buscher, das 1941 als Metallspende des Deutschen Volkes eingeschmolzen wurde. Seit 1948 befindet sich hier das Beethoven-Denkmal, das letzte Werk Georg Kolbes.
Bei Tiefbauarbeiten in der Bockenheimer Anlage wurden im Jahr 2008 Sockelreste der Stadtmauer wiederausgegraben, die einem städtischen Bauvorhaben weichen müssen. Im September 2009 wurde bei Ausschachtungsarbeiten an der Bleichstraße ein etwa 90 Meter langer Abschnitt einer Kasematte aus dem 17. Jahrhundert wiederentdeckt und freigelegt, die mutmaßlich zur Friedberger Bastion gehört hatte.
Reste der Mainmauer wurden in die Kaimauer zwischen Obermainbrücke und Alter Brücke einbezogen, die verwendeten Teile sind an den darin befindlichen Schießscharten zu erkennen. Beim Bau des Hochkais unterhalb der Untermainbrücke verwendete man Steine des ehemaligen Mainzer Bollwerks. An den ehemaligen Sachsenhäuser Festungsring erinnert heute nur noch der Kuhhirtenturm. Auf der anderen Mainseite hat sich als einziger Turm der landwärts gewandten Befestigung der Eschenheimer Turm sowie am Main der Rententurm am Fahrtor erhalten. Die klassizistischen Torbauten des frühen 19. Jahrhunderts sind bis auf die beiden Affentorhäuser in Sachsenhausen aus dem Stadtbild verschwunden.
Nach den Straßendurchbrüchen und Abrissen des 19. Jahrhunderts war von der Staufenmauer noch ein bis zur Fahrgasse reichender Rest von etwa 75 Metern mit 15 Blendbögen erhalten. Er gehörte zu einem Abschnitt, der nach dem Großen Christenbrand von 1719 erneuert worden war. Die dort entstandenen barocken Neubauten nutzten ihn als Brandmauer, so dass das Mauerstück nicht öffentlich zugänglich war. Die Bürgerhäuser am Einhornplatz in der Fahrgasse, kurz vor ihrer Überkreuzung mit der Töngesgasse bildeten mit der Mauer jedoch winzige Hinterhöfe, die auch durch ein kompliziertes System von Durchfahrten und Durchgängen zugänglich, jedoch selbst den meisten Historikern unbekannt waren. Erst nach der Zerstörung der Altstadt 1944 wurde der hier befindliche Mauerabschnitt freigelegt und ist bis heute erhalten. Der dahinter gelegene, An der Staufenmauer genannte Straßenabschnitt mit Zweckbauten der 1950er Jahre soll nach Plänen mehrerer Fraktionen im Frankfurter Römer in naher Zukunft im Hinblick auf die historische Bedeutung des Ortes neu gestaltet werden.
Auch die Häuser zwischen der Fronhofstraße und dem Wollgraben sowie zwischen der Fahrgasse und Hinter der schönen Aussicht zeigten in ihren Grundrissen noch bis zum Zweiten Weltkrieg den über 700 Jahre alten Mauerverlauf an, obwohl sie fast sämtlich im klassizistischen Stil neu erbaut worden waren. Vermutlich hatte man die Parzellen bei der Bebauung des Fischerfelds Anfang des 19. Jahrhunderts aufgrund althergebrachter Besitztumsverhältnisse nicht verändert. Durch den historischen Straßengrundriss ignorierenden Wiederaufbau und den Durchbruch der Kurt-Schumacher-Straße ist auch dieser Verweis auf die Staufenmauer restlos verschwunden. Ein weiteres Überbleibsel der Befestigungsanlage ist noch am Liebfrauenberg in der Westfassade der Liebfrauenkirche zu erkennen.
Von der nordmainischen Landwehr sind heute keine Spuren mehr erkennbar, von der Sachsenhäuser Landwehr sind zwischen Wendelsweg und Viehweg noch Gräben und Wälle vorhanden. Darüber hinaus erinnern noch drei Straßen, der Sachsenhäuser, der Oberräder und der Bornheimer Landwehrweg an die einstigen Befestigungsanlagen. Außerdem haben sich noch die vier Warten im Stadtbild erhalten, deren Türme seit den 1880er Jahren als Entlüftungsschächte für die Frankfurter Schwemmkanalisation dienen. Zwei von ihnen, die Friedberger Warte und die Sachsenhäuser Warte, sind der Öffentlichkeit durch gastronomische Nutzung zugänglich.
Das romanische Herrenhaus des Großen Riederhofs war im frühen 20. Jahrhundert einer der ältesten noch erhaltenen Profanbauten Frankfurts, der nach neuerer vergleichender Forschung wahrscheinlich zeitgleich mit dem Saalhof, vielleicht sogar unter den gleichen Baumeistern, um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstand. Auf Betreiben Emil Padjeras hatte man kurz nach 1900 noch die geplante Straßenführung der Hanauer Landstraße geändert, um seinen Abriss zu verhindern, was in jener Zeit eine absolute Seltenheit darstellte. Das Haus brannte bei den Luftangriffen 1944 aus, die Ruine wurde nach dem Krieg abgerissen. Heute erinnert nur noch das gotische Torgebäude an der Hanauer Landstraße sowie der Straßenname An den Riederhöfen im Ostend an die Hofanlage. Sie markieren die einstige östliche Ausdehnung der Landwehr.
== Siehe auch ==
Geschichte von Frankfurt am Main
== Literatur ==
Architekten- & Ingenieur-Verein (Hrsg.): Frankfurt am Main und seine Bauten. Selbstverlag des Vereins, Frankfurt am Main 1886 (Digitalisat – Internet Archive).
Friedrich Bothe: Geschichte der Stadt Frankfurt am Main. Verlag Wolfgang Weidlich, Frankfurt am Main 1977. ISBN 3-8035-8920-7.
Elmar Brohl: Festungen in Hessen. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Festungsforschung e. V., Wesel, Schnell und Steiner, Regensburg 2013 (= Deutsche Festungen 2), ISBN 978-3-7954-2534-0, S. 73–76.
August von Cohausen: Beiträge zur Geschichte der Befestigung Frankfurts im Mittelalter. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst. Band 12, Selbstverlag des Vereines für Geschichte und Alterthumskunde, Frankfurt am Main 1869.
Walter Gerteis: Das unbekannte Frankfurt. 8. Auflage. Verlag Frankfurter Bücher, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-920346-05-X.
Andrea Hampel: Frühneuzeitliche Festungsbauwerke in Frankfurt am Main – Ausgrabungsergebnisse bis zur Entfestigung 1806. In: Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hrsg.): Denkmalpflege & Kulturgeschichte 3/2020, S. 11–17.
Rudolf Jung: Die Niederlegung der Festungswerke in Frankfurt am Main 1802–1807. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst. Band 30, Selbstverlag des Vereines für Geschichte und Alterthumskunde, Frankfurt am Main 1913.
Fried Lübbecke: Das Antlitz der Stadt. Nach Frankfurts Plänen von Faber, Merian und Delkeskamp. 1552–1864. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1952.
Ernst Mack: Von der Steinzeit zur Stauferstadt. Die frühe Geschichte von Frankfurt am Main. Knecht, Frankfurt am Main 1994. ISBN 3-7820-0685-2.
Emil Padjera: Die bastionäre Befestigung von Frankfurt a. M. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst. Band 31, Selbstverlag des Vereines für Geschichte und Alterthumskunde, Frankfurt am Main 1920.
Eduard Pelissier: Die Landwehren der Reichsstadt Frankfurt am Main. Topographisch-historische Untersuchung. Völcker, Frankfurt am Main 1905.
Martin Romeiss: Die Wehrverfassung der Stadt Frankfurt am Main im Mittelalter. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst. Band 41, Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1953.
Heinrich Schüßler: Frankfurts Türme und Tore. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1951.
Christian Ludwig Thomas: Die erste Stadtmauer von Frankfurt a. Main. In: Bericht über die Fortschritte der römisch-germanischen Forschung. Band 1, Verlag von Joseph Baer, Frankfurt am Main 1904.
Christian Ludwig Thomas: Der nordwestliche Zug der ersten Stadtmauer von Frankfurt a. M. In: Einzelforschungen über Kunst- u. Altertumsgegenstände zu Frankfurt am Main. Band 1 (mehr nicht erschienen), Verlag von Joseph Baer, Frankfurt am Main 1908.
Magnus Wintergerst: Franconofurd. Band I. Die Befunde der karolingisch-ottonischen Pfalz aus den Frankfurter Altstadtgrabungen 1953–1993. Archäologisches Museum Frankfurt, Frankfurt am Main 2007, ISBN 3-88270-501-9 (Schriften des Archäologischen Museums Frankfurt 22/1).
Carl Wolff, Rudolf Jung: Die Baudenkmäler in Frankfurt am Main. Zweiter Band. Weltliche Bauten. Völcker, Frankfurt am Main 1898 (Digitalisat [PDF]).
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
== Weblinks ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter_Stadtbefestigung
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Geschichte Rostocks
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= Geschichte Rostocks =
Die Geschichte Rostocks ist stark von der geografischen Lage der Stadt an der Unterwarnow nahe der Mündung in die Ostsee geprägt. Um 1165 als Rozstoc erstmals erwähnt, war bereits früher dort ein slawischer Handelsplatz in ein überregionales Seehandelsnetz eingebunden. Ab dem späten 12. Jahrhundert entwickelte sich eine deutsche Siedlung, der 1218 das lübische Stadtrecht bestätigt wurde und die rasch wuchs, so dass bald drei selbstständige Teilstädte existierten, die sich in den Jahren 1262 bis 1265 vereinigten. Rostock wurde zum Zentrum der Herrschaft Rostock und war seit Mitte des 13. Jahrhunderts Mitglied der Hanse. Während der Blüte der Hansestadt, die ihren Höhepunkt im 15. Jahrhundert erreichte, wurden repräsentative Profan- und Kirchenbauten im Stil der Backsteingotik errichtet und 1419 die Universität gegründet. Als mecklenburgische Landesstadt, der nie der Schritt zur Freien Stadt gelang, ist die Geschichte Rostocks von einem ständigen Gegen- und Miteinander mit den mecklenburgischen Herzögen geprägt. Dabei standen vor allem die wirtschaftlichen Interessen der Stadt den politischen und militärischen der Landesherren gegenüber. 1531 führte der Rat der Stadt offiziell die Reformation ein.
Mit dem Niedergang der Hanse, dem Dreißigjährigen Krieg und einem Stadtbrand im Jahre 1677 sank Rostock in die Rolle einer Provinzstadt zurück, blieb jedoch das geistige und wirtschaftliche Zentrum Mecklenburgs. Die Industrialisierung setzte in Rostock relativ spät ein. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Rostock und Warnemünde ab Mitte der 1930er Jahre mit den Heinkel- und Arado Flugzeugwerken zu Zentren der Rüstungsindustrie und in dieser Folge auch erste Ziele des Luftkriegs im Zweiten Weltkrieg, der die Stadt schwer in Mitleidenschaft zog. In der DDR war Rostock Bezirksstadt und wurde systematisch ausgebaut. Seit der Deutschen Wiedervereinigung ist Rostock mit über 208.000 Einwohnern (2018) größte Stadt des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern und als eines der vier Oberzentren des Landes mehr als doppelt so groß wie die Landeshauptstadt Schwerin. Im Jahr 2018 feierte die Stadt ihr 800-jähriges Jubiläum, im Jahr 2019 das 600-jährige Bestehen der Universität.
== Name ==
Die slawischen Kyzziner vom Stammesverband der Wilzen hatten um 600 dort Siedlungen. Sie nannten das Auseinanderfließen der Warnow rastokŭ. Dieser altpolabische Name lässt sich übersetzen in auseinander für roz und Fluss für tok.Der Name hat sich im Laufe der Jahrhunderte nur leicht verändert; um 1165 wurde erstmals Rozstoc erwähnt. Die Burg wurde 1171 Urbs Rozstoc, das Castrum 1182 Rostoch genannt. Weitere Varianten: 1189: Rotstoc und Rotstoch, 1218 Rozstoc, 1219 Roztoc, 1240 Rostok und um 1366 schließlich Rostock. Dort wo die Warnow, früher Varnowa in die Ostsee mündet, liegt folgerichtig Warnemünde. Varna bzw. varn bedeutet Krähe, bzw. Rabe.
Historisch wurde Rostock auch bei seinen gräzisierten oder latinisierten Namen genannt: Rhodopolis bzw. Rostochium.Ab 1990 trug die Stadt den Namenszusatz Hansestadt. Am 18. März 2016 wurde durch das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommerns der Namenszusatz Hanse- und Universitätsstadt genehmigt. Laut Beschluss der Bürgerschaft führt Rostock diesen Namenszusatz ab dem 1. Januar 2018.
== Mittelalter ==
=== Vor- und Frühgeschichte ===
Die Vorgeschichte Mecklenburgs ist bis zur Mitte des ersten Jahrtausends unserer Zeit durch germanische Besiedlung geprägt. Im Zuge der Völkerwanderung wanderten etwa ab dem 6. und 7. Jahrhundert slawische Stämme in den südlichen Ostseeraum, das Gebiet um die Unterwarnow bevölkerten die Kessiner. Rechts der Warnow, zwischen dem heutigen Dierkow und Gehlsdorf, sind ab dem 8. Jahrhundert Handwerker- und Handelsplätze archäologisch belegt. Neben zahlreichen Funden handwerklicher Erzeugnisse hat man Reste von Block- und Flechtwerkhäusern gefunden, die bis zu acht Metern lang und ähnlich breit waren. Aus Skandinavien sowie dem fränkischen Raum und der Eifel stammende Gegenstände beweisen, dass die Dierkower Siedlung ein (See-)Handelsort von überregionaler Bedeutung gewesen sein muss.
=== Slawische Fürstenburg und Heinrich der Löwe ===
Spätestens im 12. Jahrhundert existierte in den Niederungen des rechten Warnowufers eine slawische Fürstenburg der zum Stamm der Liutizen gehörenden Kessiner mit einer frühstädtischen Marktsiedlung. Noch in Quellen des 13. Jahrhunderts wurde dieser Handwerker- und Handelsplatz als Wendische Wik bezeichnet.
Die wohl früheste überlieferte Erwähnung Rostocks findet sich in der isländischen Knýtlinga-Saga (um 1260), in der von der Landung Knuts des Großen (994/995–1035) bei Raudstokk berichtet wird, womit allerdings auch die Odermündung gemeint sein könnte.
Als erster sicherer Beleg Rostocks gilt daneben die Chronik Gesta Danorum des Dänen Saxo Grammaticus (um 1200). Andere frühe Chroniken sind die Slawenchroniken von Helmold von Bosau (um 1170) und von Arnold von Lübeck (um 1210).
Saxo Grammaticus berichtet, wie 1160 der Abodritenfürst Niklot im Abwehrkampf gegen den Sachsenherzog Heinrich den Löwen südlich von Rostock bei der Burg Werle fiel. Niklots Söhne Pribislaw und Wertislaw wurden zeitweise aus dem Abodritenland vertrieben. Im folgenden Jahr zerstörte der mit den Sachsen verbündete dänische König Waldemar I. die slawische Fürstenburg Rostock (urbs roztoc).
1167 unterwarf sich Pribislaw Heinrich dem Löwen und wurde daraufhin von ihm mit einem großen Teil Westmecklenburgs belehnt, jedoch ohne die Grafschaft Schwerin. So konnte er einen beträchtlichen Teil der Herrschaft seines Vaters zurück erlangen und errichtete um 1170 die Burgen Mecklenburg, Ilow und Rostock neu. Allmählich entwickelte sich Rostock zu einem zweiten Schwerpunkt des Landes Mecklenburg neben der nahegelegenen Burg Kessin.
Nach einer gemeinsamen Pilgerfahrt von Heinrich und Pribislaw 1172 nach Jerusalem vermählte Heinrich eine seiner Töchter mit Pribislaws Sohn Borwin I. (1178–1227).
Während Pribislaw seine Herrschaft durch ein hohes Maß an Weitsicht sicherte, entwickelte sich später zwischen seinem Sohn Borwin I. und Nikolaus I., dem Sohn Wertislaws, ein Konflikt um die Herrschaftsnachfolge, die bis zum offenen Krieg führte. Ein Siegel aus dieser Zeit zeigt Nikolaus als Fürsten von Rostock (nicolaus de roztoc), als reitenden Krieger mit Schwert.
=== Deutsche Siedlung und Stadtwerdung ===
Nachdem 1160/61 die Fürstenburg Rostock zerstört worden war, wurden die Burg und ein Handwerkerwiek wahrscheinlich rechts der Warnow wieder aufgebaut. Noch im 12. Jahrhundert hatten sich aber auch auf dem hochgelegenen linken Warnowufer Handwerker und Kaufleute niedergelassen, darunter Holsteiner, Sachsen, Westfalen, Dänen und Slawen. Diese Siedlung auf dem Hügel um die spätere Petrikirche und den Alten Markt bildete den Ausgangspunkt der Stadtwerdung Rostocks. Die erste urkundliche Erwähnung Rostocks stammt von 1189, als Nikolaus den Mönchen des 1186 gegründeten Klosters Doberan Zollfreiheit auf dem Rostocker Markt gewährte. Die Erwähnung einer Clemens-Kirche mit deutschem Priester weist dabei auf die Christianisierung der Siedlung hin.Nach der Bestätigung des lübischen Stadtrechts durch Heinrich Borwin I. vom 24. Juni 1218 folgte eine Erweiterung der Siedlung nach Süden mit der Nikolaikirche als Mittelpunkt. 1232 wird die Marienkirche erstmals urkundlich als Pfarrkirche einer selbstständigen Siedlung erwähnt, die sich westlich, jenseits eines Warnowzuflusses („Grube“), an die ältere Stadt anschloss und über einen eigenen Markt und ein Rathaus verfügte. Nach einer neuerlichen Ausdehnung in Richtung Westen über die „Faule Grube“ als weitere natürliche Begrenzung entstand um 1252 die Neustadt als dritte eigenständige Siedlung, deren Mittelpunkt die Jakobikirche war. Von 1262 bis 1265 vereinigten sich die Siedlungen. Der mittlere Siedlungskern wurde zum Verwaltungszentrum der Stadt, in dem der Stadtrat und das Gericht ihren Sitz hatten und das Rathaus nach Lübecker Vorbild erbaut wurde.
Während die „Wendische Wyk“ ihren Niedergang erlebte und Fürst Nikolaus das Kind seinen Besitz rechts der Warnow 1286 an die Stadt verkaufte, die an der aufgelassenen Burgstelle eine Ziegelei einrichtete, wuchs der städtische Bereich auf der linken Warnowseite bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts so rasant an, dass der beanspruchte Raum bis in das frühe 19. Jahrhundert nicht mehr erweitert werden musste.
Auch die beiden Stadtbrände von 1250 und 1265 konnten diesen Aufschwung nicht bremsen. Gestärkt wurde die Stellung Rostocks durch den Erwerb von Rechten, wie das Fischereirecht auf der Unterwarnow, und den Kauf der Rostocker Heide, die als riesiger Stadtforst den enormen Holzbedarf deckte und Platz für die umfängliche Schweinemast Rostocks bot.
Gleichzeitig entwickelte sich die Stadt zum Zentrum der Herrschaft Rostock. Die Straßennamen „Amberg“ an der Petrikirche und „Burgwall“ bei der Marienkirche scheinen darauf hinzuweisen, dass befestigte landesherrliche Höfe in der Stadt angelegt wurden. Die dänische Lehnshoheit über Mecklenburg, die Waldemar II. 1214 Kaiser Friedrich II. abgerungen hatte, endete 1227 nach der Schlacht bei Bornhöved und dem Tod Heinrich Borwins II. 1229 wurde das Land durch die mecklenburgische Hauptlandesteilung unter dessen Söhnen aufgeteilt und Heinrich Borwin III. wurde Territorialherr über die Herrschaft Rostock.
Der rasche Aufstieg Rostocks zur bedeutendsten Stadt Mecklenburgs ging im 13. Jahrhundert mit dem Schwinden der Landes- und Stadtherrschaft der Herren von Rostock einher, während gleichzeitig im Deutschen Reich die Macht des Königs zur Zeit des Interregnums 1254–1273 auf einem Tiefpunkt angelangt war. Der Vogt verlor zunehmend an Einfluss gegenüber dem Stadtrat, der aus einem exklusiven Kreis ratsfähiger Geschlechter der wohlhabenden Kaufmannschaft gebildet wurde. Ab 1289 sind Bürgermeister nachweisbar.
Während die Burgwälle der landesherrlichen Burgen in und um Rostock abgetragen wurden, errichtete Rostock eine sieben Meter hohe und bis zu einem Meter breite steinerne Stadtmauer, die eine Fläche von ungefähr 1 km² umschloss. In drei Metern Höhe konnten, falls erforderlich, hölzerne Wehrgänge angelegt werden. Zur Stadtbefestigung gehörten 22 Stadttore, von denen heute noch das Steintor, das Kröpeliner Tor, das Mönchentor und das Kuhtor existieren. Wie sehr Rostock auf den Seehandel ausgerichtet war, ist daran zu erkennen, dass mehr als die Hälfte der Stadttore auf die Hafenanlagen an der Unterwarnow führte.
=== Hansestadt ===
Mit dem Erwerb des Seehafens bei Warnemünde (Hohe Düne) 1264 und der Hundsburg bei Schmarl 1278 erlangte Rostock den angestrebten freien Zugang zur zwölf Kilometer entfernten Ostsee. Bereits 1251 hatte Rostock vom dänischen König Abel die gleichen Handelsprivilegien wie zuvor schon Lübeck erhalten, und noch bevor sich die drei Siedlungen zu einer Stadt vereinigt hatten, schloss Rostock 1259 ein Bündnis mit den Ratsherren der Städte Lübeck und Wismar.
Der Rostocker Landfrieden 1283 zwischen Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald, Stettin, Demmin und Anklam gegen einige Fürsten, wie den Markgrafen von Brandenburg, markiert den Beginn des Wendischen Quartiers innerhalb der Hanse.
1323 hatten die Bemühungen, das Städtchen (oppidum) Warnemünde ganz zu erwerben, endlich Erfolg. 1325 erhielt die Stadt das Münzrecht von Heinrich II. und wurde zeitweilig Mitglied des Wendischen Münzvereins. Darüber hinaus erlangte Rostock 1358 die volle Gerichtsbarkeit. Damit stand Rostock an der Schwelle zur freien Stadt, der letzte Schritt dazu sollte jedoch nie gelingen. Die Hansestadt war auf dem Gipfel ihrer Autonomie und ihrer sowohl wirtschaftlichen als auch kulturellen Blüte angelangt, zumal die innerstädtischen Auseinandersetzungen zwischen den Erhebungen von 1314 (siehe: Bernhard Kopman) und 1408 ruhten und die Herzöge von Mecklenburg dieser Zeit Förderer der Stadt waren. Mit etwa 14 000 Einwohnern um 1410 wurde Rostock in Norddeutschland nur von Lübeck, Hamburg und Bremen übertroffen.
Von erheblicher Bedeutung für den hanseatischen Handel Rostocks waren die Rigafahrer und der Heringshandel der Schonenfahrer auf der Schonischen Messe auf der Halbinsel Skanör-Falsterbo in Schonen, wo Rostock eine eigene Vitte unterhielt. Hinsichtlich des Handels mit Norwegen konzentrierten sich die Rostocker Wiekfahrer im Gegensatz zu den Lübecker Bergenfahrern weniger auf das Kontor Bryggen in Bergen, als vielmehr auf die Kontrolle der Niederlassungen (Faktoreien) in Oslo und Tønsberg. Große Bedeutung hatte daneben anfangs die Gotlandfahrt nach Visby, weniger ausgeprägt waren dagegen die Verbindungen zum Hansekontor in Brügge und dem Londoner Stalhof im Westen sowie dem Peterhof in Nowgorod im Osten. Das einzige eigene Produkt, das Rostock in beträchtlichem Umfang ausführte, war Bier.
An allen bedeutsamen Unternehmungen der Hanse, wie dem ersten und zweiten Krieg mit Dänemark, war Rostock maßgeblich beteiligt. Mitunter handelte die Stadt aber auch gegen die Politik der Hanse, etwa als sie nach 1376 aus Gefolgschaftspflicht gegen das mecklenburgische Herzogshaus gemeinsam mit Wismar die Vitalienbrüder im Kaperkrieg gegen Dänemark unterstützte. 1390 öffneten die beiden mecklenburgischen Hansestädte sogar die eigenen Häfen für „alle, die das Reich Dänemark schädigen wollen“. 1393 schreckten die „Rostocker und Wismarer Vitalienbrüder“, offensichtlich unter der Führung mecklenburgischer Adliger, nicht einmal davor zurück, die norwegische Stadt Bergen zu überfallen, scheinen dabei aber das Hansekontor verschont zu haben.Unter den wendischen Städten, dem Kern der Hanse, nahm Rostock neben Stralsund die Rolle der bedeutendsten Stadt hinter Lübeck ein. Häufig fanden Hansetage an der Warnow statt, und Rostocker Ratsherren übernahmen oft wichtige diplomatische Missionen für die Hanse. Besonders der langjährige Bürgermeister Arnold Kröpelin († um 1394) tat sich hier hervor. Wenngleich Rostock des Öfteren zwischen den Interessen der Hanse und Rücksichtnahme auf den mecklenburgischen Fürsten lavieren musste, nahm die Stadt bis zum letzten Hansetag 1669 eine führende Rolle in dem Städtebündnis ein.
=== Krisen, Auseinandersetzungen und Unruhen ===
Seit Ende des 13. Jahrhunderts führte die soziale Ausdifferenzierung der Stadt zu Krisen und Machtkämpfen zwischen den Patrizierfamilien und der übrigen Stadtbevölkerung. Im 15. und 16. Jahrhundert kam es wiederholt zu Unruhen und Aufständen gegen den Stadtrat. Wiederkehrende Forderungen waren die Zusammenfassung der bürgerlichen Rechte in Bürgerbriefen und die Mitbestimmung der Handwerker bei der Zusammensetzung des Rates. Die erste gedruckte Rostocker Stadtchronik von Peter Lindenberg berichtete Ende des 16. Jahrhunderts von sechs großen „Tumulten“. Die Schwäche der Herren von Rostock weckte zudem das Interesse der benachbarten Fürsten an der blühenden Stadt.
Zu ersten innerstädtischen Auseinandersetzungen, in deren Folge die üblicherweise lebenslang amtierenden Ratsherren abgesetzt und durch neue aus dem gleichen Kreis ratsfähiger Familien ersetzt wurden, kam es 1286/87. Schwerer waren die Aufstände der Bürgerschaft gegen den Rat zwischen 1298 und 1314. Durch Kriegshandlungen des letzten Herrn von Rostock, Nikolaus, genannt „das Kind“, gegen den Markgrafen von Brandenburg und andere Fürsten wurde auch die Stadt in Mitleidenschaft gezogen, in der die aufgebrachte Bürgerschaft einige Ratsherren vertrieb. Nikolaus sah sich nunmehr gezwungen, sein Land unter den Schutz und die Lehensherrschaft des Königs Erich von Dänemark zu stellen. Die Stadt verweigerte sich jedoch dem König, der die Machtprobe durch Sperrung der Ostseezufahrt für sich zu entscheiden versuchte. Die Rostocker erstürmten eine Doppelturmanlage in Warnemünde, verbrannten diese und errichteten – unter anderem mit Steinen des dafür abgerissenen Turms der Petrikirche – selbst einen gewaltigen Turm, der 1312 nach langer Belagerung wiederum fiel. Als der Stadtrat zu kapitulieren bereit war, brach ein von den Handwerkern ausgelöster Aufstand los. Einige Ratsherren wurden getötet, andere verbannt. In dieser Situation gelang Heinrich II., dem „Löwen von Mecklenburg“ 1314 die Einnahme Rostocks. Noch im gleichen Jahr starb Nikolaus, und die Herrschaft Rostock fiel als dänisches Lehen an Heinrich. Nach dem Tod sowohl König Erichs als auch des Markgrafen Waldemar von Brandenburgs vereinigten er und sein Sohn Albrecht II. das Land Mecklenburg allmählich wieder und förderten Rostock als ihre wichtigste Stadt.
Nach weiteren Aufständen in den Jahren 1408/16 und 1427/39 kam es 1487 bis 1491 zur Rostocker Domfehde. Anlass war die Einrichtung eines gemeinhin als „Dom“ bezeichneten Kollegiatstiftes an der Jakobikirche, mit der Herzog Magnus II. die Finanzierung der Universität und seine Machtposition innerhalb der Stadt sichern wollte. Am Tag der Weihe des Stifts, dem 12. Januar 1487, wurde der eben eingesetzte Stiftspropst Thomas Rode auf offener Straße brutal umgebracht, die anwesenden Fürsten mussten aus der Stadt fliehen. Erst 1491 endete der von Handwerkern getragene Aufstand mit der Hinrichtung des Anführers Hans Runge und dreier weiterer Aufständischer.
=== Universität und Wissenschaft ===
Sichtbares Zeichen der Bedeutung Rostocks war 1419 die Gründung der Universität – der ältesten Universität Nordeuropas. Damit hatte Rostock im gesamten Hanseraum für zwei Jahrhunderte eine führende Rolle in der Wissenschaft erlangt. Sowohl die Landesherren Johann IV. bzw. Heinrich IV., die gemeinsam mit dem Bischof von Schwerin Papst Martin V. um die Genehmigung einer Universitätsgründung ersuchten, als auch der Stadtrat, der die finanzielle Grundlage bereitstellte, verfolgten mit der Gründung das Ziel, ihre jeweilige Machtposition zu festigen, waren aber auf gegenseitige Unterstützung angewiesen. Wie zu dieser Zeit üblich, wurden zunächst nur die Artistenfakultät, Jura und Medizin eingerichtet. 1433 folgte mit der Theologie die angesehenste der klassischen Vier Fakultäten. Nach der Verhängung von Bann und Interdikt über die Stadt verließ die Universität von 1437 bis 1443 Rostock in Richtung Greifswald, wo 1456 offiziell eine eigene Universität gegründet wurde. Spätere Spannungen zwischen Stadt bzw. Landesherren und Universität hatten zwei weitere Auszüge 1487 nach Wismar und Lübeck und 1760 nach Bützow zur Folge.Bereits 1476 wurde eine erste Buchdruckerei von den Brüdern vom Gemeinsamen Leben im Michaeliskloster gegründet. Zur Blüte kam das Druckwesen unter Ludwig Dietz, der unter anderem 1518 eine niederdeutsche Ausgabe des Narrenschiffs von Sebastian Brant herausbrachte.
An allen vier Pfarrkirchen gab es Schulen, von denen die Lateinschule der Marienkirche die bedeutendste war. Seit 1260 ist eine Apotheke in Rostock nachweisbar. Die Marienkirche verfügte 1379 über die berühmte Astronomische Uhr, deren Werk noch heute funktioniert.
=== Kirchen und Klöster ===
Als Kirche der Mittelstadt entwickelte sich St. Marien zur Haupt- und Ratskirche Rostocks, deren Kirchenpatronat jedoch beim Landesherrn lag. Der für Rostock zuständige Bischof hatte seinen Sitz in Schwerin. Neben den vier Pfarrkirchen gab es verschiedene Klöster in Rostock: Um 1240 bzw. 1256 waren die Bettelorden der Franziskaner und der Dominikaner in die Stadt gekommen und hatten das Katharinen- und das Johanniskloster erbaut.
1283 starb die dänische Königin Margarete Sambiria im Zisterzienserkloster zum Heiligen Kreuz, dessen Stiftung man ihr zuschrieb. Darüber hinaus entstanden das Heilig-Geist- und das St.-Georg-Hospital als Stiftungen. Sowohl die Klöster als auch die Hospitäler verfügten als mächtige Grundherrschaft über zahlreiche Dörfer im Umland.
Im 14. und 15. Jahrhundert kamen das sogenannte Michaeliskloster der Brüder vom gemeinsamen Leben, das Kartäuserkloster Marienehe außerhalb der Stadt, das Gertrudenhospital vor dem Kröpeliner Tor sowie einige andere Stiftungen hinzu.
In geringer Zahl sind seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Juden in Rostock nachweisbar. In der Zeit des Schwarzen Todes um 1350 wurden diese nach angeblichen Brunnenvergiftungen aus der Stadt vertrieben.
== Frühe Neuzeit ==
=== Reformation ===
Die Reformation ging in Rostock von der Petrikirche in der ärmlichen östlichen Altstadt aus, an der Joachim Slüter seit 1523 als Kaplan wirkte. Von hier setzten sich die Lehren Martin Luthers vergleichsweise langsam durch, da die Römisch-Katholische Kirche mit dem Rat, der Universität, dem Kollegiatstift von St. Jakobi, dem Dominikanerkloster St. Johanni und dem Herzog von Mecklenburg-Güstrow, Albrecht VII. starke Gegenkräfte mobilisieren konnte. Landesherrliche Unterstützung erhielt Slüter dagegen von Albrechts Bruder Heinrich V., dem Herzog von Mecklenburg-Schwerin. Slüter hielt seine Predigten in niederdeutscher Sprache und zog solche Massen an, dass er unter freiem Himmel predigen musste, weil der Kirchenraum die Zuhörer nicht mehr fasste. Auch ein 1525 bei Ludwig Dietz erschienenes Gesangbuch hatte er in der Volkssprache verfasst. Neben Slüter wirkten der Stadtsyndikus und Universitätsprofessor Johann Oldendorp, der Prediger Valentin Korte und während eines kurzen Aufenthalts Ulrich von Hutten entscheidend an der Durchsetzung der Reformation mit.
Überraschend änderte der lange widerspenstige Rat im April 1531 seine Haltung und erklärte die reformatorische Lehre in allen vier Hauptpfarrkirchen für verbindlich. Bereits ein Jahr später verstarb Slüter. Sein früher Tod schürte den Verdacht, von Papisten ermordet worden zu sein. Auch nach der Ratsordnung von 1531 blieben die Universität sowie die Klöster zum Heiligen Kreuz, St. Johanni und die Kartause in Marienehe der alten Lehre treu. Der Rat veröffentlichte am 3. Januar 1531 einen Erlass, mit dem er den evangelischen Prädikanten das Predigen ausdrücklich gestattete und Missstände im katholischen Klerus kritisierte. Die katholischen Geistlichen waren zur Mitarbeit an einer neuen Kirchenordnung eingeladen, reagierten aber nur zögerlich und unzureichend, sodass zu Ostern Anfang April 1531 in ganz Rostock die Feier der heiligen Messe untersagt, aber noch für fünf Monate geduldet wurde. Ein Ratsbeschluss vom 29. April 1531 verbot allen Ordensleuten, den Habit außerhalb der Klöster zu tragen. Ab September 1531 waren die Bettelordenskirchen in der Stadt geschlossen, die Klöster wurden inventarisiert und standen unter strikter Kontrolle des Stadtrates. Die Unruhen von 1534 (unten) entstanden auch aus der Sorge, dieser könne sich daran bereichern.
Im Juni 1549 setzte Johann Albrecht I. auf dem Sternberger Landtag den lutherischen Glauben für alle Landstände durch und löste 1552 fast sämtliche mecklenburgischen Klöster auf. In Rostock widersetzte sich das Nonnenkloster zum Heiligen Kreuz noch lange der Reformation, bis es zum Damenstift der stadtbürgerlichen Oberschicht umgewandelt wurde. Die Kartause Marienehe wurde 1552 gewaltsam aufgehoben.
Die 1534 vom Rat aufgelöste Schule der Brüder vom Gemeinsamen Leben im Michaeliskloster war ein Jahr später auf der Basis des lutherischen Glaubens wieder erlaubt worden. 1580 wurde in den Räumen des Johannisklosters die Große Stadtschule eingerichtet, die unter der Leitung von Nathan Chyträus aufblühte.
=== Auseinandersetzungen um die bürgerliche Repräsentation ===
Während der Grafenfehde 1534 kam es in verschiedenen Hansestädten, so auch in Rostock, erneut zu Unruhen. Wie 1427/28 wurde von der antirätlichen Opposition ein Bürgerrat eingerichtet, der sich aus 64 Kaufleuten und Handwerkern zusammensetzte und vom Stadtrat anerkannt werden musste. Als der Krieg 1535 mit einer Niederlage gegen Dänemark endete, wurden die alten Verhältnisse ohne nennenswerte Gegenwehr wiederhergestellt, in Zukunft sollte der Rat sich aber in allen strittigen Fällen Bürgerausschüssen gegenübersehen.
Das Verhältnis zwischen der Stadt und den mecklenburgischen Herzögen war seit der Grafenfehde zunehmend gestört, da die Ambitionen Albrechts VII. auf die dänische Krone mit der Niederlage katastrophal geendet und das Land hoch verschuldet hatten. Bereits 1523 hatten sich die Landstände zusammengeschlossen und traten den Landesherren selbstbewusst gegenüber. Dabei nahm Rostock als finanzstärkste Stadt des Herzogtums mit ihrem riesigen Grundbesitz im Umland eine führende Rolle in der Landständischen Union ein. Besonders die Universität war häufig Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Stadt und Landesherrn.
1562 bis 1565 wurde ein Sechzigerrat dem Stadtrat gleichberechtigt zur Seite gestellt und trotzte diesem erneut einen Bürgerbrief ab. Am 28. Oktober 1565 hielt der mit dem Rat verbündete Johann Albrecht I. mit bewaffneten Kräften Einzug in Rostock, nachdem die Stadt ihm den formalen Huldigungseid verweigert hatte. Er löste die Sechziger auf und vernichtete den Bürgerbrief. Anfang 1566 marschierte auch sein zuvor mit dem Sechzigerrat verbündeter Bruder Ulrich ein. Die beiden Landesherren einigten sich, rissen das Steintor und die südliche Stadtmauer nieder und errichteten im heutigen Rosengarten eine Festung vor der Stadt. Erst mit den Rostocker Erbverträgen von 1573 (Erster Rostocker Erbvertrag) und 1584 wurde der schwelende Konflikt zwischen Stadt und Landesherrn beigelegt. Rostock erkannte insbesondere hinsichtlich der Gerichtsbarkeit und der Steuerzahlung die landesherrliche Oberhoheit des Herzogs an. Rostocks Bemühungen, die Reichsunmittelbarkeit zu erlangen, waren damit endgültig gescheitert, das Steintor konnte jedoch wieder aufgebaut und die herzogliche Festung geschleift werden.
1583/84 wurde neben dem weiterhin von ratsfähigen Patriziern gestellten Rat ein neuer Bürgerausschuss eingerichtet, das Hundertmänner-Kollegium, das sich aus 40 Brauherren, 20 weiteren Kaufleuten und 40 Handwerkern zusammensetzte. Als Hauptausschuss der Hundertmänner wurde Ende des 16. Jahrhunderts ein Sechzehnerrat eingeführt. Nach mehreren Jahrhunderten voller Unruhen war mit dem Hundertmänner-Kollegium erstmals langfristig eine innere Befriedung der Stadt erreicht. Anders als bei früheren Bürgerausschüssen gelang es den Landesherren kaum noch, den Rat und das Kollegium gegeneinander auszuspielen, wenngleich die Zusammenarbeit beider Gremien nicht immer spannungsfrei verlief.
=== Spätblüte des hansischen Rostock um 1600 ===
Rund 14 000 Einwohner, gut 800 Giebelhäuser und etwa 250 bis 300 Brauhäuser waren Ende des 16. Jahrhunderts Ausdruck eines Wohlstands, der selbst die mittelalterliche Blütezeit übertraf. Zahlreiche mecklenburgische Adelsfamilien hatten Residenzen in Rostock oder wohnten ganz in der Stadt und wurden mitunter Ratsherren und sogar Bürgermeister. Rostock, dessen Wirtschaft völlig vom Seehandel und dem Brauwesen bestimmt war, zog zahlreiche Zuzügler aus ganz Norddeutschland an. Besonders angesehen waren die Universitätsprofessoren, zunehmenden Einfluss erlangten aber auch diejenigen Bürger, die an der Universität studiert hatten. Besonders der juristisch ausgebildete Stadtsyndikus spielte neben dem Bürgermeister eine immer größere Rolle.
Ärmere Bevölkerungsteile lebten in über 1000, meist in Fachwerkbauweise oder als Bretterverschläge errichteten Buden, die unterste soziale Schicht in ebenso vielen Kellern. Auch zwischen den Stadtteilen gab es ein soziales Gefälle: In der Mittelstadt war die Dichte der Steinhäuser am größten, gefolgt von der Neustadt, in der Altstadt existierten die meisten Buden. Innerhalb der Teilstädte waren wiederum die Marktplätze die bevorzugten Wohngegenden, während an der Peripherie die ärmeren Schichten wohnten.
Das geistige und politische Zentrum bildete die Achse zwischen Rathaus und Neuem Markt sowie der Universität am Hopfenmarkt, die durch die Blutstraße miteinander verbunden waren. Die Marien- und die Jakobikirche lagen jeweils unweit der beiden Märkte.
=== Dreißigjähriger Krieg ===
Während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648), der unwiderruflich das Ende der Hanse herbeiführte, wurde Rostock besetzt, litt aber weit weniger als andere mecklenburgische Städte und besonders die Dörfer. Zunächst war Mecklenburg kaum vom Krieg betroffen und mehr mit neuen Streitigkeiten des herzoglichen Brüderpaares Adolf Friedrich I. und Johann Albrecht II. beschäftigt, die 1621 zur zweiten mecklenburgischen Hauptlandesteilung in die Herzogtümer Schwerin und Güstrow führten. Mit dem Kriegseintritt Dänemarks griff der Krieg jedoch auf Norddeutschland über, und da Rostocks Bierexport vor allem nach Skandinavien ging, war die Stadt besonders betroffen. 1627 erreichten die Kriegshandlungen Mecklenburg, so dass Rostock seine Neutralität nicht länger bewahren konnte. Bis 1628 vermochte sich die reiche Stadt, die ab 1624 durch den niederländischen Festungsbaumeister Johan van Valckenburgh aufgefestet worden war, noch mit der enormen Summe von 140.000 Reichstalern von kaiserlichen Besetzungen freikaufen, doch als Wallenstein nach der Absetzung der beiden Herzöge im Januar für seine Verdienste von Kaiser Ferdinand II. das Herzogtum Mecklenburg und das Bistum Schwerin sowie den Titel „General des Baltischen und ozeanischen Meeres“ erhielt, zwang er Rostock durch das bewährte Mittel einer Blockade Warnemündes in die Knie.
Wie schon früher bei drohenden Kriegshandlungen zeigte sich der Rat relativ schnell bereit einzulenken, während die seit 1625 zur militärischen Verteidigung in 13 Fahnen organisierte Bürgerschaft zum Widerstand entschlossen war. Schließlich gelang es dem Rat, relativ glimpfliche Kapitulationsbedingungen auszuhandeln. Rostock wurde von einem 1000 Mann starken Heer besetzt und zur Garnisonsstadt Wallensteins, in Warnemünde wurde eine Schanze angelegt, um den Hafen behaupten zu können. Damit war ganz Mecklenburg in Wallensteins Hand, und es brachen vorübergehend ruhige Zeiten für die Stadt an. Da Wallenstein bemüht war, negative Kriegsauswirkungen von seinem Herzogtum möglichst fernzuhalten, konnte Rostock sogar von der neuen Situation profitieren. Als Gustav II. Adolf von Schweden im Juli 1630 in Pommern landete, spitzte sich die Lage auch in Rostock zu. Zur Katastrophe wäre es beinahe gekommen, als der Jurist Jakob Varmeier am 1. Februar 1631 den kaiserlichen Stadtkommandanten ermordete, doch dem Theologieprofessor und Rektor der Universität Johann Quistorp gelang es, durch diplomatisches Geschick die Rache des Militärs abzuwenden.
Am 16. Oktober 1631 endete die kaiserliche Besatzung von Rostock und die „Schwedenzeit“ begann. Gustav Adolf setzte die angestammten mecklenburgischen Herzöge wieder ein. Für Rostock blieb auch dieser Machtwechsel ohne größere Folgen, so erlebte etwa die Universität trotz der unruhigen Zeiten eine Blüte. Waren das Land und die Dörfer Mecklenburgs Gewalt und Plünderungen der Soldateska wehrlos ausgesetzt, boten die Rostocker Stadtmauern vielen Flüchtlingen Schutz. Der Seehandel Rostocks ging allerdings drastisch zurück. Am schwersten traf die Stadt ein von den mecklenburgischen Herzögen den Schweden zugebilligter Zoll vor Warnemünde.
Einen Wendepunkt markierte die vernichtende Niederlage der Schweden in der Schlacht bei Nördlingen. Die Kaiserlichen errangen immer mehr Siege, und am 30. Mai 1635 kam es zum Frieden von Prag. Mecklenburg konnte sich in der Folge aus dem Bündnis lösen, was in den Jahren von 1635 bis 1638 eine Verschlechterung der Lage in Rostock darstellte. Verhandlungen über den Warnemünder Zoll wurden zunächst ausgesetzt, dann aber wurde er verdoppelt, um so weitere Zahlungen von Rostock zu erzwingen. 1637/38 mussten die Schweden in Mecklenburg vor dem kaiserlichen General Matthias Gallas in Richtung Pommern zurückweichen. Die Rostocker ersuchten sowohl diesen Feldherrn als auch den Kaiser, der Rostock unter seinen Schutz nahm, um die Eroberung der Schanze und die Übergabe zur Demolierung. Sie wurde am 11. März 1638 von den Sachsen unter Graf Vitzthum, der dabei sein Leben verlor, eingenommen. Die Lage für Rostock hatte sich dabei aber nur weiter verschlechtert. Nachdem die Schweden den Ort Warnemünde verloren hatten, erhoben sie ihren Zoll von Schiffen aus, die vor Warnemünde lagen. In der Schanze residierte nun der kaiserliche Kommandant und verlangte dort eine eigene Abgabe. Erst als die Dänen unter Christian IV. eingriffen, eigene Schiffe vor die Warnowmündung legten und so jede Zolleinnahme verhinderten, mussten die Schweden abziehen und war der Zoll somit vorübergehend aufgehoben.
Schwedische Versuche, die Schanze zurückzuerobern, konnten in der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober 1638 von den Kaiserlichen abgewehrt werden. Die Rostocker begannen die Schanze zu schleifen, um ein Festsetzen der Schweden in Zukunft zu erschweren, doch diese zogen am 26. Oktober wieder in die Schanze ein. Sie wurde instand gesetzt und verstärkt, der Zoll in alter Höhe wieder aufgenommen. Erst mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges zogen sich die Schweden 1648 auch aus Warnemünde zurück, erhoben aber weiterhin Zoll.
=== Niedergang und der Stadtbrand von 1677 ===
Im Vergleich mit den an Schweden gefallenen Städten Stralsund, Wismar und Greifswald hatte Rostock nach dem Westfälischen Frieden 1648 schlechtere Verbindungen für den Handel mit Skandinavien. Der Schwedenzoll, Satisfaktionszahlungen Mecklenburgs an die schwedische Krone und der Zusammenbruch des hansischen Handelsnetzes – der Hansetag von 1669 war der letzte des alten Handelsbündnisses – hatten Rostock treffen, aber nicht ruinieren können.
In diese Phase der Stagnation fiel eine plötzliche Katastrophe mit Langzeitwirkung: Am 11. August 1677 brach von einem Backhaus in der Altstadt ausgehend ein verheerender Stadtbrand aus, der, von ungünstigen Winden ausgeweitet, zwei Tage anhielt, bis es endlich zu regnen begann. Fast die gesamte Altstadt und ein beträchtlicher Teil der nördlichen Mittelstadt fielen den Flammen zum Opfer. Insgesamt war ein Drittel sämtlicher Gebäude der Stadt zerstört worden – etwa 700 Häuser und Buden. Besonders schwer wog, dass das Zentrum des Rostocker Brauwesens in den zum Hafen führenden Straßen zerstört worden war. Die Zahl der Brauhäuser sank von knapp 200 auf unter 100, die Einwohnerzahl, die Ende des 16. Jahrhunderts 14.000 betragen hatte, ging auf 5.000 zurück.
=== Nordischer Krieg und Siebenjähriger Krieg ===
Der Große Nordische Krieg 1700–1721 brachte eine weitere Verschlechterung der Handelsverbindungen mit sich und führte zu Plünderungen durch dänische und schwedische Truppen. Auch der Siebenjährige Krieg zeichnete die Stadt, die von 1758 bis 1762 brandenburgisch besetzt war. Darüber hinaus nutzten die absolutistischen Fürsten die Schwäche Rostocks aus und sicherten sich in dieser Zeit langfristig mit den Landesherrlichen Erbverträgen von 1755 und 1788 ihre Macht. Seit 1702 zeitweise Residenz der Herzöge, war Rostock endgültig zu einer mecklenburgischen Landstadt geworden.
Die Universität versank im 18. Jahrhundert in die Bedeutungslosigkeit und hatte zudem noch mit einer von 1760 bis 1789 bestehenden herzoglichen Universität im benachbarten Bützow zu konkurrieren, die Friedrich von Mecklenburg-Schwerin dort gegründet hatte.
Erst Ende des 18. Jahrhunderts begann langsam der Wiederaufstieg Rostocks. Der Seehandel blühte mit Getreidetransporten wieder auf.
Vor allem trug dazu die Blockade Großbritanniens durch das revolutionäre Frankreich bei, da sich die Rostocker damit den von der französischen Konkurrenz verlassenen britischen Markt erschließen konnten. Im Stadtbild wurden endlich die letzten Baulücken geschlossen, die seit dem Stadtbrand als Brachen leergestanden hatten.
Auch kulturell blühte Rostock wieder auf: 1786 wurde ein Theaterbau errichtet, seit 1711 erschien die Rostocker Zeitung, und seit 1784 wirkte die aufklärerische „Societät“.
Trotz des Aufschwungs kam es in den 1790er Jahren zu einer Reihe von Unruhen durch die Handwerker, ausgelöst vor allem durch Teuerungen bei Lebensmitteln. Die bekannteste dieser Auseinandersetzungen mit Plünderungen und Zerstörungen im Oktober 1800 wurde als „Rostocker Butterkrieg“ bekannt.
== 19. Jahrhundert ==
=== Franzosenzeit und Befreiungskriege ===
Beide mecklenburgischen Herzogtümer nahmen zunächst nicht an den Koalitionskriegen gegen Frankreich teil, sondern zahlten lediglich Kontingentsersatzzahlungen an Preußen. Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt zogen erst flüchtende preußische Soldaten, dann die französische Armee plündernd und zerstörend durch das Land.
Am 29. November 1806 wurde Mecklenburg von dem französischen General Michaud besetzt, Rostock musste Einquartierungen, Erniedrigungen, Restriktionen und Kontributionszahlungen über sich ergehen lassen. Besonders die Kontinentalsperre gegen England traf die Seehandelsstadt hart. Erst als Mecklenburg am 22. März 1808 dem Rheinbund beitrat räumten die französischen Besatzungstruppen das Herzogtum und Rostocks Seehandel erfuhr eine Wiederbelebung, wenn er auch weitgehend auf den Ostseeraum beschränkt blieb. Schon am 17. August 1810 kehrten die Franzosen jedoch nach Rostock zurück und mit ihnen die Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens der Rostocker Bürger. Als die französische Armee 1812 zum Russlandfeldzug aufbrach, führte sie ein Kontingent von etwa 2000 mecklenburgischen Soldaten mit sich. Nach der Niederlage der Grande Armée in Russland verließen am 26. März 1813 die letzten Soldaten der französischen Garnison Rostock.
Als erste deutsche Staaten verließen die beiden mecklenburgischen Herzogtümer am 25. März 1813 den Rheinbund und riefen ihre Untertanen zu den Waffen. Mehrere hundert Rostocker Bürger nahmen in der regulären mecklenburgischen Armee oder in Freikorps an den Befreiungskriegen teil. Zu den herausragenden Persönlichkeiten der Befreiungskriege gehörte der in Rostock geborene preußische Generalfeldmarschall Blücher, der entscheidend an der Schlacht von Waterloo beteiligt war, in der Napoleon geschlagen werden konnte.
=== Biedermeier, Vormärz, 1848er-Revolution und Restauration ===
Im 18. und 19. Jahrhundert kam Rostock in den Ruf einer soliden aber behäbigen Provinzstadt, in der neue Entwicklungen langsam und mit Verzögerungen eintraten.
Das Bürgertum gestaltete das gesellschaftliche Leben zunehmend selbstbewusst und gründete nach dem „Geselligkeitsverein“ (Societät, 1784) die „Philharmonische Gesellschaft“ (1819) und den „Rostocker Kunstverein“ (1841), die Turnbewegung erhielt 1827 einen Platz an der Wallstraße. Zum bürgerlichen Selbstbewusstsein trug – neben ihrem wirtschaftlichen Erfolg – auch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1845 und der Ausbau des Bildungswesens bei.
Die mecklenburgische bürgerlich-liberale Opposition der Märzrevolution gegen den politisch von adligen Gutsbesitzern dominierten Ständestaat sammelte sich um die Redaktion der Mecklenburgischen Blätter, die von Anfang 1847 bis zu Beginn des Jahres 1848 vom Universitätsprofessor Karl Türk in Rostock herausgegeben wurden. Daneben war die 1711 gegründete Rostocker Zeitung Sprachrohr der Liberalen.
In den untersten Schichten der Gesellschaft führten Verelendung, Arbeitslosigkeit und Missernten zu einer unruhigen Stimmung, die in Rostock – anders als in anderen deutschen Städten – von dem im November 1848 gegründeten Arbeiterverein jedoch nicht radikalisiert wurde.
Am 9. März 1848 diskutierten eintausend Rostocker Bürger im Hotel „Sonne“ am Neuen Markt die liberalen Forderungen nach einer Demokratisierung des bestehenden politischen und wirtschaftlichen Systems und verabschiedeten eine Petition, die sechs Tage später in schärferer Form wiederholt wurde. Am 2. April wurde das Rostocker Reformkomitee in Güstrow von 173 Delegierten aller mecklenburgischen Reformvereine zu ihrem Zentralkomitee bestimmt. Am 26. April trat auf Druck der revolutionären Kräfte ein außerordentlicher Landtag in Schwerin zusammen, der Wahlen für den 3. Oktober durchsetzte. 14 Rostocker Abgeordnete nahmen am 31. Oktober an der konstituierenden Sitzung des neuen Landtags teil. Abgeordneter für Rostock in der Frankfurter Nationalversammlung war Johann Friedrich Martin Kierulff. Auch innerhalb der Stadt wurde das alte Ratssystem demokratisch reformiert. Bei den Ratswahlen am 29. Januar 1849 erzielten vier Handwerker die besten Ergebnisse, erst dahinter folgten Advokaten und Kaufleute. Unter den 48 Abgeordneten der Stadtverordnetenversammlung befanden sich erstmals auch drei Handwerksgesellen und zwei Arbeiter. Nach 30 Monaten setzte der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin jedoch das alte Hundertmännergremium wieder ein, die Landesverfassung wurde abgeschafft, gegen die Presse mit Zensur und Ausweisung kritischer Redakteure vorgegangen. Im Frühjahr 1853 wurden schließlich 14 Rostocker Demokraten wegen Hochverrats zu langen Zuchthausstrafen verurteilt, darunter Friedrich Dornblüth, Karl Türk, Julius und Moritz Wiggers. Bis 1918 galten die politischen Verhältnisse in Mecklenburg als die Rückständigsten in ganz Deutschland.
=== Industrialisierung ===
Der Seehandel Rostocks wuchs im 19. Jahrhundert stetig an und blieb die wirtschaftliche Triebfeder der Stadt. Mitte des 19. Jahrhunderts verfügte Rostock über die größte Handelsflotte im Ostseeraum, deren Schiffe zumeist in heimischen Werften gebaut wurden. Das Ausfuhrvolumen des Getreidehandels erreichte 1845 erstmals 50.000 Tonnen.Die dennoch leeren Stadtkassen entschieden über den Abriss zahlreicher alter Gebäudekomplexe: So gab der Rat in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts unter anderem die mächtige fünfschiffige Kirche des Heiligen-Geist-Hospitals und das ehemalige Dominikanerkloster St. Johannis zum Abriss frei. Seit 1830 begann Rostock erstmals über das Gebiet der mittelalterlichen Stadtmauergrenzen hinauszuwachsen, deshalb wurden auch große Teile der Stadtbefestigung abgetragen. Die Wälle und Gräben aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges wurden eingeebnet und zur Wallstraße. Fast alle Straßen wurden gepflastert und mit Bürgersteigen versehen, außerhalb der Stadt Chausseen als Überlandstraßen ausgebaut.
Anschluss an das deutsche Eisenbahnnetz erhielt Rostock 1850 mit der Verbindung nach Bützow-Kleinen, 1859 war dann über Güstrow und Neubrandenburg die Verbindung an die Strecke Stralsund-Neubrandenburg-Berlin hergestellt und seit 1870 führte eine Strecke von Hamburg nach Stettin. Die positiven Impulse wurden jedoch deutlich von den Einbußen überlagert, die der Rostocker Hafen durch die Schiene zu verzeichnen hatte.
Der Zunftzwang hemmte bis 1869 die Effektivität der Wirtschaft erheblich. Vor allem die Tabak- und Zigarrenhäuser der Stadt entwickelten im Manufaktur- oder Verlagssystem Ansätze industrieller Produktion, erfolgreich waren darüber hinaus besonders die Brennereien wie Krahnstöver, Lorenz oder Lehment. Erst die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte der Stadt mit der Gewerbefreiheit und der umfassenden Industrialisierung einen neuen Reichtum.
Der erste deutsche Schraubendampfer wurde 1852 auf der Schiffswerft und Maschinenfabrik von Wilhelm Zeltz und Albrecht Tischbein fertiggestellt. Aus dem Unternehmen entstand 1890 als erster industrieller Großbetrieb Mecklenburgs die Actien-Gesellschaft „Neptun“ Schiffswerft und Maschinenfabrik in Rostock, die heutige Neptun Werft GmbH. Andere wachsende Wirtschaftszweige waren die chemische Industrie, vor allem die Fabriken des Friedrich Witte, der Landmaschinenbau sowie das Bauwesen und Dienstleistungsunternehmen.
Warnemünde entwickelte sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu einem der bedeutendsten Seekurorte in Deutschland. 1834 wurden dort die ersten Bäder errichtet, die für Damen und Herren noch getrennt waren. Dieser Bäderstandort entwickelte sich vor allem durch die günstigen Verkehrsverbindungen mit dem Zug nach Berlin und der Fähre nach Gedser weiter.
=== Kaiserreich ===
Die beiden mecklenburgischen Großherzogtümer waren am 21. August 1866 dem Norddeutschen Bund beigetreten und 1869 wurde Mecklenburg Mitglied des Deutschen Zollvereins. Als letzte deutsche Städte hatten Rostock und Wismar 1864 das Münzrecht aufgegeben. Auch das Rostocker Bürgerrecht hörte auf zu existieren und erstmals seit 1350 konnten sich wieder Juden in der Stadt ansiedeln. Zwischen der Reichsgründung 1871 und dem Gründerkrach 1873 erlebte auch Rostock einen Höhepunkt der dynamischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, allerdings blieb Rostock insgesamt in seiner Entwicklung hinter den meisten deutschen Städten vergleichbarer Größe zurück.
Die Industrialisierung sorgte dafür, dass Rostock um etwa 1000 Einwohner pro Jahr wuchs. Hatte die Stadt 1806 noch 12.756 Einwohner, waren es 1900 54.713, so dass die Stadt in westliche Richtung um das Arbeiterviertel Kröpeliner-Tor-Vorstadt und südlich um das Villenviertel der Steintor-Vorstadt erweitert wurde. Bebauungspläne lagen für die bis dahin wild wachsenden Vorstädte erst seit den späten 1880er Jahren vor. Mit der Heiligen-Geist-Kirche in der westlichen Vorstadt entstand in den Jahren 1905 bis 1908 der erste Rostocker Kirchenbau seit dem Mittelalter. Die rasante Wirtschafts- und Einwohnerentwicklung zwang in allen Bereichen zur umfassenden Modernisierung der Infrastruktur der Stadt.
Politisch blieb die Wahl des Rates auf eine relativ kleine Gruppe von Bürgern beschränkt. Das Reichstagsmandat des Wahlbezirks Rostock/Bad Doberan fiel regelmäßig wechselnd an Vertreter der Nationalliberalen Partei (NLP) und der Deutschen Fortschrittspartei. Unter der Arbeiterschaft war 1872 eine Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gegründet worden und die Sozialdemokratie gewann zunehmend an politischem Gewicht. 1890 wurde erstmals der 1. Mai gefeiert und 1898–1906 sowie ab 1912 hatte Joseph Herzfeld das Reichstagsmandat für den fünften mecklenburgischen Wahlkreis inne. Seit 1892 verfügte die SPD mit der Mecklenburgischen Volks-Zeitung über eine eigene Zeitung. Die Rostocker Zeitung blieb die Stimme der Liberalen, der Rostocker Anzeiger war seit 1881 die Zeitung der bürgerlichen Kreise und bestimmte bald die Medienlandschaft Mecklenburgs.
Massenhaft entstanden Vereine, die auf nahezu allen Feldern des öffentlichen Lebens aktiv waren. Um kulturelle Angelegenheiten bemühten sich besonders der Rostocker Kunstverein von 1841 und der Verein für Rostocker Altertümer von 1883. In großer Zahl wurden Gesangs- und Sportvereine gegründet. Von öffentlicher Seite wurde das Kulturleben maßgeblich durch das Theater geprägt, das auch Musiktheater und Orchester einschloss.
== 20. Jahrhundert ==
=== Erster Weltkrieg und Novemberrevolution ===
Während des Ersten Weltkriegs gingen Rohstoffe und Lebensmittel zu einem großen Teil an die Front, so dass mit jedem Monat Not und Entbehrungen zunahmen, Krankheiten wie Typhus waren die Folge des Mangels. Der gesamte Landstrich nördlich der Bahnstrecke Wismar-Rostock-Ribnitz wurde zum militärischen Sondergebiet erklärt, so dass auch das Betreten Warnemündes nur noch mit einem speziellen Ausweis möglich war. Ab 1917 kam es trotz drastischer Strafandrohungen zu Unruhen und Streiks. Im November wurden in der politisierten Atmosphäre innerhalb nur weniger Tage Ortsgruppen der Deutschen Vaterlandspartei, des Liberalen Vereins, der Fortschrittlichen Volkspartei, aus der ein Jahr später die sehr einflussreiche Deutsche Demokratische Partei hervorging, und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), von der sich später die Kommunistische Partei Deutschlands abspaltete, mit zum Teil mehreren hundert Mitgliedern, gegründet. Am 30. Januar 1918 fand im Gewerkschaftshaus „Philharmonie“ eine Frauenkundgebung für den Frieden statt.
Zwei Tage nachdem Marineeinheiten am 3. November 1918 in Kiel Kriegsschiffe in ihre Gewalt gebracht hatten, liefen Torpedoboote mit roter Flagge und Kieler Matrosen an Bord in Warnemünde ein. Schon einen Tag später gründeten 1500 Matrosen, Infanteristen und Landsturmleute einen Soldatenrat, dem sich die Arbeiter der Neptunwerft, der Munitionsfabrik R. Dolberg und anderer Betriebe solidarisch erklärten und am 7. November einen Arbeiterrat bildeten. Am 14. November dankte der mecklenburgische Großherzog ab, auf den öffentlichen Gebäuden Rostocks wehten nun rote Fahnen. In Mecklenburg dominierte klar die reformerische Richtung der SPD, die eine parlamentarische Demokratie anstrebte und Gewalt ablehnte. Radikale Kräfte der USPD und des Spartakusbundes, die die Novemberrevolution mit Räterepublik und Klassenkampf fortsetzen wollten, konnten sich dagegen nicht durchsetzen.
Ende Dezember 1918 fanden Kommunalwahlen sowie Wahlen zum Verfassungsgebenden Landtag und zur Weimarer Nationalversammlung statt. Auch für die Stadt wurde – erstmals in allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl sowie mit aktivem und passivem Frauenstimmrecht – eine verfassungsgebende Versammlung gewählt. Stärkste Kraft der Bürgervertretung wurde die SPD mit 31 Mandaten vor der DDP (23), der DVP (10) und der USPD (2). Mit den Umwälzungen im Deutschen Reich und im neuen Freistaat Mecklenburg-Schwerin verloren die Städte endgültig ihre politische Souveränität.
=== Weimarer Republik ===
Die Zeit der Weimarer Republik war auch in Rostock von wirtschaftlichen Krisen, Massenarbeitslosigkeit, Inflation und einer Zersplitterung der politischen Parteien geprägt, Demonstrationen und Streiks waren an der Tagesordnung. Impulse für die Wirtschaft konnte vor allem der Flugzeugbau in Warnemünde mit den beiden Anfang der 1920er Jahre gegründeten Unternehmen von Heinkel und Arado geben. Mit dem Flugplatz Hohe Düne, die unter dem Tarnnamen „Seeflug GmbH“ tätige Pilotenschule der Reichsmarine, einer privaten Flugschule und einer Nachtpost-Fluglinie der Junkers Luftverkehr AG war der Ort zum Zentrum der Flugzeugindustrie geworden.
Wichtigstes Industrieunternehmen blieb die Neptun-Werft. Die Zahl der Rostocker Dampfer erreichte 1921 mit 18 Schiffen ihren Tiefstand. 1933 arbeiteten 51,75 % der Berufstätigen im Bereich Handel und Verkehr. Die Verarbeitende Industrie und der Hafen stellten sich ganz auf den Export von Landwirtschaftserzeugnissen ein.
Um der allgemeinen Wohnungsnot zu begegnen, wurde die Kröpeliner-Tor-Vorstadt erweitert und vor den Toren der Stadt entstanden fünf neue Siedlungen: Die Gartenstadt, Stadtweide, Reutershagen, Brinckmansdorf und der Ausbau des Industriegebietes Bramow mit Wohnhäusern. Um 1928 wurden mit dem Hansaviertel und anderen Vierteln weitere Wohnsiedlungen erschlossen.
Dem Kapp-Putsch 1920, der in Mecklenburg von Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck geleitet wurde, waren die Arbeiterparteien mit einer Arbeiterwehr und Generalstreik begegnet. Unterstützt wurden sie dabei von der DDP.
Etwa ab dem Krisenjahr 1923 radikalisierte sich sowohl das linke wie das rechte politische Spektrum. Seit Dezember 1922 war die Deutschvölkische Freiheitspartei zum Sammelbecken rechtsradikaler Kräfte in Mecklenburg geworden, die in Rostock das Parteiblatt Mecklenburger Warte herausgab.
Getarnt als National-Soziale Vereinigung entstand am 5. März 1924 in Rostock die erste Ortsgruppe der NSDAP Mecklenburgs. Aus wahltaktischen Gründen schlossen sie sich zunächst der DVFrP an, seit Anfang 1925 erfolgte dann der Aufbau einer eigenständigen Parteiorganisation. Im November 1930 zog die NSDAP mit 16 Abgeordneten als zweitstärkste Fraktion nach der SPD in die Bürgervertretung ein. Im Januar des darauffolgenden Jahres konnten die Nationalsozialisten einen ersten und im Oktober bereits einen zweiten Stadtrat in den Rat wählen lassen.
Bei den Landtagswahlen im Juni 1932 entfielen in Rostock 40,33 % der abgegebenen Stimmen auf die Nationalsozialisten. Die Kreisleitung sorgte für entsprechende Propaganda, deren Höhepunkte zwei Wahlveranstaltungen mit Adolf Hitler als Redner darstellten. In der Folgezeit verstärkte sich aggressiv und demonstrativ die Präsenz der Nationalsozialisten auf Rostocks Straßen. Kurz darauf kamen erste Verhaftungen und Hausdurchsuchungen dazu, um aktiv politische Gegner einzuschüchtern. Besonders aus den Reihen der SA kam es zu Ausschreitungen und willkürlichen Übergriffen jenseits aller gesetzlichen Grundlagen.
=== Zeit des Nationalsozialismus ===
Am Vorabend der Reichstagswahl 1933 wurden 21 Rostocker Kommunisten in „Schutzhaft“ genommen. Zwar durften alle Parteien zur Wahl antreten, doch schränkten Presseverbot, Hausdurchsuchungen sowie Demonstrations- und Kundgebungsverbote den Wahlkampf der Linksgruppierungen erheblich ein. Die NSDAP wurde in Rostock mit 35,5 % stärkste Partei, jedoch erst im Verband mit der deutschnationalen Kampffront Schwarz-Weiß-Rot (20,3 %) meinte eine Mehrheit von rund 56 % der Rostocker Wähler sich mit dem nationalsozialistisch-konservativen Kabinett unter Hitler arrangieren zu können. Bei dieser letzten, schon nicht mehr freien Wahl, konnte die SPD mit 30,8 % ihr Ergebnis vom November halten, die KPD erzielte 8,7 % der Stimmen.
Mit der Gleichschaltung der Länder mit dem Reich wurden sämtliche KPD-Mandate aufgehoben und die Stadtverordnetenversammlung auf der Grundlage der jüngsten Reichstagswahlergebnisse neu zusammengesetzt. Da einige bürgerliche Parteien die Wahlinszenierung über die Besetzung der zugewiesenen Mandate boykottierten und die DVP und der Christlich-Soziale Volksdienst ihre Mandate auf die NSDAP übertrugen, setzte sich der neue Stadtrat aus 15 Abgeordneten der NSDAP, 12 der SPD und 8 der Kampffront Schwarz-Weiß-Rot zusammen.
Auf Grund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wurden 31 Ämter mit politisch zuverlässigen Personen neu besetzt. Besonders betroffen war die Feuerwehr, aus deren Dienst 14 Sympathisanten der SPD oder KPD entfernt wurden. Aus dem Polizeidienst wurden fünf Beamte entlassen. Da es der NSDAP an geeigneten Verwaltungsfachleuten mangelte, erhöhte sich die Zahl der Betroffenen bis November 1939 nur auf 39. Aus dem gleichen Grund konnte der konservative Oberbürgermeister Robert Grabow zunächst nicht ersetzt werden, bis Walter Volgmann im April 1935 sein Amt übernahm. Gleichzeitig beseitigte die Deutsche Gemeindeordnung die Stadtverordnetenversammlung als kommunales Entscheidungsorgan.
Am 16. März 1933 wurden alle sozialdemokratischen Verbände Mecklenburgs sowie diesen nahestehende Einrichtungen und Vereine verboten, vier Tage später mehrere Funktionäre verhaftet. Inhaftierungen prominenter Gewerkschaftsführer folgten am 2. Mai 1933. Nach dem reichsweiten Verbot der SPD am 22. Juni 1933 bestand der Stadtrat ausschließlich aus Nationalsozialisten.
Die deutschlandweit organisierte Bücherverbrennung der Werke bürgerlich-humanistischer, marxistischer und jüdischer Autoren am 10. Mai 1933 fand in Rostock auf dem Vögenteichplatz statt. Vor der Universität stand ein sogenannter Schandpfahl, an dem Studenten Beispiele angeblich zersetzender Literatur angeschlagen hatten.
Der Auftakt zum „Judenboykott“ erfolgte in Rostock bereits am 30. März 1933 mit der Postierung von SA-Leuten vor jüdischen Geschäften und setzte sich am Folgetag mit einer Großkundgebung auf der Reiferbahn fort. Der Boykott von insgesamt 57 Rostocker Geschäften, Arztpraxen und Anwaltskanzleien wurde mit Einschüchterung und Gewalt durchgesetzt. Im Jahre 1938 erreichte die Judenverfolgung eine neue Dimension. Maßnahmen wie erhöhte Steuerforderungen und Löschung aus dem Handelsregister zwangen jüdische Geschäftsinhaber zur Aufgabe ihrer Unternehmen. Die Verdrängung jüdischer Unternehmen fand Mitte 1939 ihren Abschluss. In Rostock wurden im Rahmen der „Polenaktion“ am 28. Oktober 1938 insgesamt 37 Juden verhaftet und nach Polen abgeschoben. Im Zuge des von den Nationalsozialisten entfesselten Pogroms brannte am 10. November 1938 die Synagoge in der Augustenstraße. Dem Brandanschlag folgte unmittelbar eine Welle der Gewalt. SA- und SS-Trupps besetzten Häuser, Wohnungen und Geschäfte, zerstörten Einrichtungsgegenstände und tyrannisierten jüdische Bürger. 64 von der Gestapo verhaftete Juden wurden in die Strafanstalt Altstrelitz eingewiesen, wo sie erschwerten Haftbedingungen ausgesetzt waren. Die Auswanderung der restlichen Juden unterstützte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Arnold Bernhard mit den Erträgen aus dem Zwangsverkauf des Synagogengrundstücks.
Bis Ende der 1930er Jahre stabilisierten sich die Lebensverhältnisse. Die militärische Aufrüstung brachte Rostock als wichtigen Standort der Rüstungsindustrie einen deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Das am 3. Dezember 1934 eingeweihte und ursprünglich für 2100 Arbeitskräfte geplante Stammwerk der Firma Heinkel beschäftigte 1941 etwa 15.000 Arbeiter und Angestellte, die Zahl der Beschäftigten im Flugzeugwerk Arado in Warnemünde war von 100 im Jahr 1933 auf 3.500 in den Jahren 1937/38 angewachsen. Die Neptunwerft, die 1933 lediglich 90 Arbeitskräfte beschäftigte und kurz vor dem Ruin gestanden hatte, bot 1938 wieder 1800 Arbeitsplätze.1935 hatte Rostock erstmals 100.000 Einwohner und konnte sich damit Großstadt nennen, im Mai 1939 lag die Einwohnerzahl bereits bei 121.192. Um auf diesen enormen Zuwachs zu reagieren, förderte die Stadt insbesondere mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen den Wohnungs- und Straßenbau. Die Stadterweiterung erfolgte in erster Linie Richtung Westen, wo auch die Heinkel-Werke angesiedelt waren. Außerhalb der Stadt entstanden die Siedlungen Dierkow und Reutershagen.
=== Zweiter Weltkrieg ===
Der durch Rekrutierungen verursachte Personalmangel in den Rüstungsbetrieben wurde durch Dienstverpflichtungen der einheimischen Bevölkerung und durch ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene kompensiert, von denen im Oktober 1943 etwa 14.500 unter katastrophalen Bedingungen in 19 Lagern lebten. Noch schlimmer waren die Verhältnisse für rund 2000 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Ravensbrück, die in den Heinkel-Werken zum Einsatz kamen.
Als Zentrum der Rüstungsindustrie des Dritten Reichs wurde Rostock schon 1940 Ziel von Luftangriffen der Royal Air Force. Besonders schwere Flächenbombardements mit Brandbomben im Rahmen der Area bombing directive trafen die Stadt in den Nächten vom 23. auf den 24. und vom 26. auf den 27. April 1942, bei denen gleichermaßen die Rüstungsbetriebe und die Innenstadt das Ziel waren. Die Heinkel- und die Arado-Werke sowie eine U-Boot-Werft wurden schwer getroffen. In der mittelalterlichen Innenstadt brannten die Nikolaikirche, die Jakobikirche und die Petrikirche mit nahezu der gesamten Ausstattung der drei Gotteshäuser aus. Desgleichen blieben vom Steintor, dem Kuhtor und dem Petritor lediglich die Umfassungsmauern erhalten. An administrativen Gebäuden wurden u. a. das Landratsamt, das Amts- und das Oberlandesgericht, das Post- und Telegrafenamt, das Stadttheater, ferner zwei Kliniken, acht Schulen sowie Versorgungseinrichtungen wie das Gas- und Wasserwerk zerstört bzw. schwer beschädigt. Ganze Straßenzüge, insbesondere nördlich und nordöstlich des Neuen Marktes bis zur Grubenstraße, aber auch an vielen anderen Ecken der Innenstadt, wurden ausgelöscht. Allein bei den vier Angriffen im April 1942 kamen 221 Menschen ums Leben, 30.000–40.000 wurden obdachlos. Zu diesem Zeitpunkt war Rostock die am schwersten zerstörte Stadt Deutschlands. Besonders betroffen war die historische Innenstadt. Am Ende des Krieges waren hier von den 10.535 Wohnhäusern 2611 vollständig zerstört, weitere 6.735 beschädigt. Das waren 47,7 % der Wohnungen und 42,2 % der wirtschaftlich genutzten Gebäude.
Gegen Regime- und Kriegsgegner wurde mit äußerster Härte vorgegangen: Allein 1942 endeten von 78 Sondergerichtsverfahren 19 mit der Todesstrafe. Ebenso verfiel der Todesstrafe, wer sich nach herrenlosen Gegenständen bückte, also „plünderte“. Von den bei Kriegsbeginn noch 70 in Rostock lebenden Juden, die jetzt keine Möglichkeit mehr hatten, Deutschland zu verlassen, überlebten nur 14. Die meisten waren 1942 und 1943 in die Konzentrationslager Auschwitz und Theresienstadt deportiert und dort ermordet worden.
=== Kriegsende ===
Im Frühjahr 1945 wurde Rostock von fliehenden Wehrmachtsangehörigen und westwärts ziehenden Flüchtlingstrecks überflutet. Ab Ende März 1945 wurde durch die NSDAP-Kreisleitung verfügt, dass alle arbeitsfähigen Rostocker vor den Toren der Stadt Gräben ausheben und Panzersperren bauen sollten, um Rostock zu einer Festung auszubauen. An den Brücken über die Warnow wurden Sprengladungen montiert. Auch alle lebenswichtigen Betriebe wurden zur Sprengung vorbereitet. Über Funk wurden die Rostocker jeden Abend zum Durchhalten bis zum Äußersten aufgerufen. Angst und Chaos herrschte in der Stadt, die am 30. April in einem Tumult mündete, als Rostocker Bürger Lebensmittellager und -geschäfte plünderten, um sich mit Vorräten zu versorgen. Die Angst vor der Roten Armee war nach der Zerstörung der Städte Friedland, Demmin, Neubrandenburg, Penzlin und Malchin groß und führte in der Folge zur Flucht vieler Rostocker in Richtung Westen, teils auf dem Land- aber auch auf dem Seeweg. Viele Größen aus Politik und Wirtschaft nutzten die Ausfahrt der letzten elf Schiffe am 30. April und 1. Mai zur Flucht. Etliche NSDAP-Funktionäre nahmen sich das Leben, darunter Oberbürgermeister Volgmann und sein Stellvertreter Robert Grabow. Der NSDAP-Kreisleiter Otto Dettmann wurde durch die Alliierten später bei Wismar erschossen aufgefunden. Der mit ihm geflohene Polizeichef Sommer entkam nach Hamburg.
In den Mittagsstunden fuhren Panzer der 65. Armee der 2. Weißrussischen Front über die Tessiner Straße in die Stadt. Die Ausflugsgaststätte am Weißen Kreuz wurde von Panzern zerstört, weil sie mit einer Hakenkreuzfahne beflaggt war. Als das erste Fahrzeug die Mühlengrabenbrücke passierte, wurde die Sprengladung darunter gezündet und ein Panzer zerstört. Daraufhin begann der Beschuss der angrenzenden Stadtgebiete, wobei ein Munitionszug explodierte. Die Sprengung der Petribrücke wurde durch einen Feuerwehrmann in letzter Minute verhindert. Da der Weg über den Mühlendamm zerstört war, zogen die Einheiten über den Verbindungsweg und die Petribrücke nahezu kampflos in die Stadt ein.
=== Nachkriegszeit und DDR ===
Bei Kriegsende waren nur noch 69.000 Menschen in Rostock verblieben. Durch Kriegsheimkehrer und den Zustrom Vertriebener, von denen Rostock in den ersten Jahren nach dem Krieg 33.000 aufnahm, stieg die Einwohnerzahl bis 1950 jedoch wieder auf den Vorkriegsstand. Die Überreste der weitgehend zerstörten Flugzeugwerke fielen als Reparationen an die Sowjetunion. Die Neptun-Werft wurde wieder aufgebaut und in Warnemünde entstand 1945/46 die Warnowwerft. Beide Werften führten anfangs fast ausschließlich Reparationsaufträge durch.
Viele Gebäude, darunter das Stadttheater, waren nach den Kriegszerstörungen nicht mehr zu retten, andere, wie die Jakobikirche und das Petritor, wurden aus ideologischen oder städteplanerischen Motiven abgerissen. 1949 begann man mit dem Wiederaufbau des nahezu vollständig zerstörten Stadtgebiets zwischen Marienkirche und Grubenstraße, wobei die historischen Straßenzüge nur teilweise rekonstruiert wurden.
Bei der ersten freien Wahl in der Sowjetischen Besatzungszone, der Kommunalwahl am 15. September 1946, erhielt die SED 48,87 %, die LDPD 27,7 %, die CDU 20,5 % und der Frauenausschuss 1,98 % der Stimmen. Wie wenig kommunale Selbstverwaltung gegenüber der beherrschenden Stellung der sowjetischen Militäradministration und den Machtansprüchen der Kommunisten möglich war, zeigt die Verhaftung des Rostocker Oberbürgermeisters Albert Schulz, der zwar der SED angehörte, aber der SPD entstammte und die Zwangsvereinigung mit der KPD ablehnte. Ideologische und ökonomische Repressionen wie die Einrichtung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) oder die besonders Warnemünde treffende Aktion Rose sowie die massenhafte Flucht in den Westen führten zu Unzufriedenheit, die auch in Rostock am 17. Juni 1953 in Streiks und Demonstrationen der Arbeiter mündete.
Seit 1952 war Rostock durch die Verwaltungsreform Bezirksstadt. Die Stadt wurde systematisch aufgewertet, etwa mit der ab 1955 ausgerichteten Ostseewoche, die nach der Leipziger Messe die wichtigste Großveranstaltung der DDR mit internationalem Akzent wurde. Mit der Langen Straße in der Innenstadt und einem Neubaugebiet in Reutershagen im Stil des sozialistischen Klassizismus wurden ab 1953 die ersten Prestigeprojekte des Wiederaufbaus in Angriff genommen. Um auch im Fußball erstklassig zu sein, wurde 1954 kurzerhand aus dem kleinen sächsischen Ort Lauter der dortige Erstligaverein an die Warnow delegiert und spielte dort unter dem Namen Empor Rostock, woraus 1965 Hansa Rostock hervorging.
In den Folgejahren entwickelte sich die Stadt zum Schiffbau- und Schifffahrtszentrum der DDR und erlangte nicht zuletzt dadurch eine wachsende Bedeutung innerhalb der DDR. Neben den Werften entstanden 1949 das Dieselmotorenwerk, 1950 das spätere Fischkombinat und 1952 die Deutsche Seereederei Rostock (DSR). Infolge des Krieges und der deutschen Teilung verfügte die DDR zunächst über keinen bedeutenden Seehafen und musste auf Hamburg und Stettin ausweichen. So entstand zwischen 1957 und 1960 der Überseehafen Rostock. Auch die Hochschullandschaft folgte der maritimen Ausrichtung: Die Universität eröffnete 1951 einen Fachbereich für Schiffbau, später eine Technische Fakultät. Die Ingenieurschule für Schiffbautechnik Warnemünde wurde mit der Seefahrtschule Wustrow zusammengeschlossen.
Der wirtschaftliche Aufschwung ließ viele Zuwanderer nach Rostock strömen. Bis 1988 wuchs die Stadt auf über 250.000 Einwohner an. Auf der grünen Wiese entstanden im Nordwesten, im Nordosten und im Süden immer mehr der neuen Stadtteile in industrieller Plattenbauweise. Zuerst baute man auf Arealen, die planerisch bereits in den 1930er Jahren für den Wohnungsbau vorgesehen waren. In den Jahren von 1959 bis 1965 entstanden so die Ortsteile Reutershagen mit 9.772 Wohnungen und die Südstadt mit 7.917 Wohnungen. Danach folgte eine Ausweisung von Baugebieten, die nicht mehr direkt an das innere Stadtgebiet angrenzten. Im Nordwesten, zwischen dem bebauten Stadtgebiet Rostocks und Warnemünde, entstanden in den Jahren 1965 bis 1974 die Großwohnsiedlungen Lütten Klein mit 10.631 Wohnungen und Evershagen mit 8.732 Wohnungen, es folgten 1974 bis 1976 Lichtenhagen mit 6.925 Wohnungen, 1976 bis 1979 Schmarl mit 4908 Wohnungen und Groß Klein mit 8.200 Wohnungen in den Jahren 1979 bis 1983. Um den Schwerpunkt der Stadtentwicklung mehr in die Mitte Rostocks zurückzuführen, wurden die nächsten Gebiete im Nordosten der Stadt geplant. Von 1983 bis 1989 entstanden so die Siedlungen Dierkow mit 7.530 Wohnungen und Toitenwinkel mit 6.549 Wohnungen. Insgesamt wurden in der Zeit der industriellen Bauweise 54.000 Wohnungen gebaut, in der mehr als die Hälfte aller Rostocker lebten.
Jedoch konnte die Entwicklung der Infrastruktur und von Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten kaum mithalten. Außerdem wurden viele Altbauten in der Innenstadt dem Verfall preisgegeben. Die nördliche Altstadt, wo die Kriegsschäden nur dürftig repariert worden waren, wurde Anfang der 1980er Jahre nahezu komplett abgerissen und einige Jahre später durch Plattenbauten ersetzt. Immerhin wurden dabei Elemente norddeutscher Giebelbauweise berücksichtigt.Unzureichende Investitionen führten, wie vielerorts in der DDR, auch in Rostock zu einer sichtbaren Stagnation der Wirtschaft und zu Versorgungslücken. Fehlende politische Freiheiten und Einflussmöglichkeiten ließen die Unzufriedenheit weiter wachsen. Dennoch erreichten die 1989 aufkeimenden Demonstrationen – im Gegensatz zum Süden der Republik – erst relativ spät eine größere Öffentlichkeit. Während der Umbruchszeit 1989 waren die Rostocker Kirchen Anlaufstellen oppositioneller Kräfte, die sich in der Marienkirche zu Mahngottesdiensten unter der Leitung von Pastor Joachim Gauck versammelten. Die erste Donnerstagsdemonstration fand am 19. Oktober statt. Ende November wurde dann auch in Rostock ein Runder Tisch gebildet, um aktiv den politischen Umbruch mitzugestalten.
=== Deutsche Einheit ===
Mit der politischen Wende 1989 und der deutschen Wiedervereinigung 1990 erlebte die Stadt wichtige Veränderungen. Am deutlichsten war zunächst ein starker Bevölkerungsrückgang um ungefähr 50.000 Einwohner, der erst knapp 15 Jahre später zum Stillstand kam. Gleichzeitig verloren viele Menschen, wie in der ganzen Region, Arbeitsplätze, neue konnten aufgrund fehlender wirtschaftlicher Strukturen nicht schnell genug entstehen.
Als ein Tiefpunkt dieser Zeit müssen die ausländerfeindlichen Ausschreitungen von Lichtenhagen im August 1992 gewertet werden. Vom 22. bis 26. August 1992 kam es zu gewalttätigen Übergriffen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter, das mit Molotowcocktails in Brand gesteckt wurde. Die Ausschreitungen von Lichtenhagen, an denen sich mehrere hundert teilweise rechtsextreme Randalierer und bis zu 3.000 applaudierende Zuschauer beteiligten, waren die massivsten fremdenfeindlich motivierten Übergriffe der deutschen Nachkriegsgeschichte. Eine gesellschaftliche Antwort Rostocks darauf war die Initiative „Bunt statt Braun“.
Seit 1990 wurde viel in der Stadt gebaut: Der Historische Stadtkern wurde unter anderem aus Mitteln der Städtebauförderung und dem Programm zum Städtebaulichen Denkmalschutz gründlich saniert. Gebäude, die vor dem Verfall standen, wurden gerettet. Die Infrastruktur wurde erneuert und als ein wichtiges, sichtbares Zeichen für den Neuanfang erhielt St. Petri seinen neu errichteten Turmhelm, der mit Städtebauförderungsmitteln, Mitteln der Kirche und aus Spendengeldern vieler Rostocker Bürger finanziert worden ist. Ein behutsamer Umbau und Rückbau in den Plattenbaugebieten (vor allem in den Ortsteilen Dierkow, Toitenwinkel, Evershagen, Groß Klein und Schmarl) wurde zusammen mit Verbesserungen des Wohnumfelds im Rahmen der Programme „Aufwertung“, „Stadtumbau-Ost“ und „Die Soziale Stadt“ durchgeführt, um unter anderem einem Leerstand von Wohnungen entgegenzuwirken.
Die 1990er Jahre waren von einer wirtschaftlichen Konsolidierung, aber auch von emotionalen Auseinandersetzungen mit der Politik des Landes und des Bundes um Kürzungen der Finanzierung vor allem in der Wissenschaft und in der Kultur geprägt. So war die Universität gezwungen, traditionsreiche Fakultäten zu schließen. Die Stadt war hoch verschuldet und kämpfte um ihre Verwaltungsautonomie. Daher wurden einige umfangreiche strukturelle Reformen in der Stadt, aber auch der Verwaltung des Landes Mecklenburg-Vorpommern unternommen, die zu mehr Effizienz führen sollen.
Eine wichtige Rolle für die stärkere Identifizierung der Bevölkerung mit ihrer Stadt errang die jährliche maritime Großveranstaltung Hanse Sail.
== 21. Jahrhundert ==
2003 richtete Rostock die Internationale Gartenschau (IGA) aus. Die Finanzierung endete mit einem erheblichen Verlust für die Stadt, die mit zum Rücktritt 2004 des verantwortlichen Bürgermeisters Arno Pöker (SPD) beitrug. Die Dominanz der SPD in der Stadt ging vorerst verloren, die beiden folgenden Bürgermeister waren parteilos, so zuerst Roland Methling, der die Verschuldung erfolgreich begrenzen konnte. Überregional bekannt wurde Claus Madsen, der erste Bürgermeister einer deutschen Großstadt dänischer Nationalität. Seine Haltung in der Corona-Epidemie vertrat er offensiv in mehreren Talk-Shows. Für Rostock blamabel war seine Absage der zweiten IGA 2025 aus finanziellen Gründen und Planungsverzögerungen, bevor er als Wirtschaftsminister nach Schleswig-Holstein wechselte. Seine Nachfolgerin wurde 2022 Eva-Maria Kröger (Linke), die ihren Erfolg auch mit dem Verzicht auf Prestigebauprojekte errang. Ungelöst blieben die Finanzierung des Neubaus der Spielstätte für das Volkstheater sowie des Landesmuseums für Archäologie, um dessen Ansiedlung Rostock sich erfolgreich im Wettbewerb gegen Konkurrenten durchgesetzt hatte.
In den Blickpunkt der internationalen Öffentlichkeit geriet Rostock Anfang Juni 2007 mit dem Weltwirtschaftsgipfel der G8 im westlich gelegenen Seebad Heiligendamm. Ein großer Teil der Begleitveranstaltungen fand in Rostock statt, so der Alternativgipfel und zahlreiche Demonstrationen. Am Rande der Auftaktdemonstration am 2. Juni kam es zu Ausschreitungen radikaler Autonomer des Schwarzen Blocks, bei denen nach offiziellen Angaben rund 1000 Personen verletzt wurden, vorwiegend durch Steinwürfe und den Einsatz von Wasserwerfern. Als bedeutendes Segelrevier wurde Warnemünde bei der gemeinsamen Bewerbung mit Leipzig um die Austragung der Olympischen Sommerspiele 2012 aufgewertet, auch wenn die Kandidatur misslang. Die Gewalttätigkeiten der Fans von Hansa Rostock brachten die Stadt aber immer wieder negativ in die Schlagzeilen.
Wirtschaftlich gelang eine Konsolidierung, die auch vom Boom des Schiffsbaus (Genting-Konzern) und Betriebs (AIDA) von Kreuzfahrtschiffen in Rostock begünstigt wurde. Liebherr und Centogene sind erfolgreiche Ansiedlungen. In der Corona-Epidemie wurde diese günstige Phase unterbrochen. Die Umstrukturierung der Bundesmarine brachte für Rostock einen Zugewinn an Personal: Das Flottenkommando wurde aus Schleswig-Holstein 2012 hierher als neues Marinekommando verlegt. Die Werft wird von der Bundesmarine weiterbetrieben.
== Dokumentationen ==
Der Wiederaufbau in Rostock wurde 1967 in einem Schulbuch Komm, sing mit für Musik für die 1. bis 4. Klasse dokumentiert mit: "Zur gleichen Melodie singen Rostocker Kinder: 1. Wer will fleißige Arbeiter sehn, der muß zu unserm Hafen gehn. Stein auf Stein, Stein auf Stein, der Hafen wird bald fertig sein. 2. „Wer will fleissige Arbeiter sehn, muß zu unsern Werften gehn. Hämmern, Schweißen, noch ein Griff, wieder fertig ist ein Schiff.“ 3. „Wer will fleißige Arbeiter sehn, muß sich unsre Stadt ansehn. Überall, wohin man schaut, überall wird aufgebaut.“
== Literatur ==
Karsten Schröder: In deinen Mauern herrsche Eintracht und allgemeines Wohlergehen. Eine Geschichte der Stadt Rostock von ihren Ursprüngen bis zum Jahr 1990. Ingo Koch, Rostock 2003, ISBN 3-929544-68-7.
Geschichtswerkstatt Rostock e. V., Thomas Gallien (Redaktion): Landeskundlich-historisches Lexikon Mecklenburg-Vorpommern. Hinstorff, Rostock 2007, ISBN 978-3-356-01092-3.
Ernst Münch, Ralf Mulsow: Das alte Rostock und seine Straßen. Redieck & Schade, Rostock 2006, ISBN 3-934116-57-4.
Ernst Münch, Wolf Karge, Hartmut Schmied: Die Geschichte Mecklenburgs. Hinstorff, Rostock 2004, ISBN 3-356-01039-5.
Helge Bei der Wieden, Roderich Schmidt (Hrsg.): Handbuch der historischen Stätten Deutschlands. Band 12: Mecklenburg/Pommern (= Kröners Taschenausgabe. Band 315). Kröner, Stuttgart 1996, ISBN 3-520-31501-7.
Verein für Meklenburgische Geschichte und Alterthumskunde: Meklenburgisches Urkundenbuch. 24 Bände. Schwerin 1863–1913. (Nachtragsbände 1936 und 1977)
Harald Hückstädt, Erik Larsen, Reinhart Schmelzkopf, Hans-Günther Wenzel: Von Rostock nach See. Die Geschichte der Rostocker Dampfschifffahrt 1850 bis 1945. Oceanum Verlag, Wiefelstede 2011, ISBN 978-3-86927-074-6.
Walter Kempowski: Deutsche Chronik. Neun Romane. 1971–1984. (In den autobiografisch geprägten Romanen verarbeitete Kempowski die Rostocker Stadtgeschichte des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts literarisch)
Frank Betker: Einsicht in die Notwendigkeit!. Kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945–1994). (= Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung. Band 3). Stuttgart 2005, ISBN 3-515-08734-6. (mit Fallstudie Rostock und Halle/Saale)
Arno Krause: Bezirk Rostock. In: Götz Eckardt (Hrsg.): Schicksale deutscher Baudenkmale im zweiten Weltkrieg. Band 1, Henschelverlag, Berlin 1978, S. 57–75. (Rostock)
== Weblinks ==
Hans Ulrich Römer: Das Rostocker Patriziat bis 1400. In: Mecklenburgische Jahrbücher. Band 96, 1932, S. 1–84.
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Rostocks
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Geschichte der First Nations
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= Geschichte der First Nations =
Die Geschichte der First Nations, der in Kanada lebenden und nicht ganz zutreffend als Indianer bezeichneten ethnischen Gruppen, reicht mindestens 12.000 Jahre zurück. Der Begriff First Nations ist relativ jung und bezeichnet die kanadischen Ureinwohner, jedoch ohne die Métis und die Inuit. Die offizielle Bezeichnung von staatlicher Seite ist Indians, die Selbstbezeichnung der weit über 600 als Stämme bezeichneten Gruppen ist ganz überwiegend First Nation, seltener Nation oder Indian Band.
Ihre Geschichte ist vor allem in den früheren Phasen durch starke Anpassung an die natürliche Umgebung gekennzeichnet. Dementsprechend werden (nach Alfred Kroeber) in Nordamerika zehn Kulturareale unterschieden, von denen sich fünf zumindest partiell auf dem Gebiet des heutigen Kanada finden: Die Subarktis, die Zentral-Kanada bis zur Nordwestküste und zur Küste von Labrador umfasst, die (Nord-)Westküste am Pazifik, dann das Plateau, also vor allem das Fraser-Plateau, schließlich Prärien und Plains, also die trockenen Graslandschaften östlich der Rocky Mountains, sowie das nordöstliche Waldland um die Großen Seen bis nach Neufundland.
Die Geschichte der indianisch-europäischen Kontakte setzt im Norden Amerikas mit der Jagd auf Fische und Wale sowie dem Handel mit Pelzen ein. Die sich aus der Ausbeutung der Naturschätze ergebenden Konflikte dauern bis heute an. Anfangs dienten Forts und Ansiedlungen nur der Sicherung des Handels, daher blieb die Zahl der Siedler gering. Dazu kamen erste Missionsversuche. Auch wenn die französische und britische Kolonialpolitik vergleichsweise weniger gewalttätig als die der USA war, so hat sie doch die Kulturen radikal verändert. Das gilt umso mehr für das seit 1867 zunehmend souveräne Kanada, das seit den 1970er Jahren seine Politik der erzwungenen Assimilation und kulturellen Auslöschung aufgibt, um einer Haltung der Multikulturalität den Vorrang einzuräumen.
== Abgrenzung ==
Die Geschichte der First Nations ist für die Phase der europäischen Vorherrschaft und derjenigen Kanadas sinnvoll von derjenigen der USA abzutrennen, weil die beiden Staaten und ihre Gesellschaften ein sehr unterschiedliches Verhältnis zu ihren Ureinwohnern entwickelt haben. Problematisch ist diese Vorgehensweise allerdings für die davor liegenden Epochen, denen man in einem räumlich und zeitlich weiter gefassten Überblick zumindest über die Geschichte der nordamerikanischen „Indianer“ – für diese riesige Gruppe von heute weit über 1200 indigenen Völkern gibt es ansonsten keine übergreifende Bezeichnung – besser gerecht wird. Dabei wird sich eine gewisse räumliche und zeitliche Unschärfe der Abgrenzung nicht vermeiden lassen.
== Einleitender Überblick ==
=== Grundzüge bis etwa 1500 ===
Archäologisch fassbare und häufig bis in die Gegenwart reichende, kulturell zusammenhängende Gruppen wurden häufig als „Völker“ oder „Stämme“ identifiziert, die sich oftmals auf einen gemeinsamen Ahnen zurückführten, einen gemeinsamen Dialekt sprachen, und vor allem als genetisch zusammenhängend verstanden wurden. Sie verband aber vor allem eine gemeinsame Lebensweise, die weniger genetisch bedingt, als durch Handelsnetzwerke, verbindende kosmologische Ansichten, durch Heiratskontakte und damit Austausch kultureller Elemente, aber auch durch Beziehungen der führenden Gruppen aufrechterhalten wurde.
Auf dem nordamerikanischen Halbkontinent herrschte von Beginn menschlicher Besiedlung an bis in das 19. Jahrhundert hinein ein ausgeprägter Nomadismus vor, der nur im Süden der USA und am Mississippi von Sesshaftigkeit abgelöst wurde. Dazu kam entlang der Küsten und einiger Binnengewässer eine jährliche Abfolge saisonaler Wanderungen, die Vegetationsphasen und Tierwanderungen folgten. Daher gab es unter den First Nations nie eine Form der, offenbar an Sesshaftigkeit gebundenen, Priesterherrschaft, wie sie für die Hochkulturen Südamerikas und mancher Gegenden der USA nachweisbar ist. Auf dem Gebiet des heutigen Kanada herrschte bei allen Völkern der Schamanismus vor, der vor allem durch die Kontaktaufnahme mit Ahnen oder sonstigen Mächten in psychischen Ausnahmesituationen gekennzeichnet ist.
Mythen bestimmten die Weltordnung. So beruhten die indigenen Religionen nicht auf einer Heilsgeschichte, sondern auf der Heiligkeit von Orten, Ritualen oder dazugehörigen Gegenständen, von Wesen, Mächten, Wissen und Geschichten, Tänzen und Musik, die sich im Besitz von Verwandtschaftsgruppen befanden. Religionen waren daher orts- und verwandtschaftsspezifisch und besaßen keinerlei universellen Geltungsanspruch. Außerdem gab es nur eine unscharfe Vorstellung von der Zugehörigkeit eines bestimmten Gebietes zu einem bestimmten Stamm, zumal selbst die Vorstellung von festgefügten Stämmen eher von Europäern herangetragen wurde. Stattdessen stand die Verwandtschaft bei weitem im Vordergrund, die bis heute für weiträumige, übergreifende Beziehungen sorgt, so dass ein Individuum Vorfahren aus mehreren „Stämmen“ hatte. Daher dominiert bis heute die Vorstellung kollektiver Rechte (allerdings durch inzwischen lange Übung zunehmend auf den Stamm bezogen) über Individualrechte.
Die typischen Hervorbringungen dauerhafter Sesshaftigkeit, auch die Viehzucht, fehlten also weitgehend. Männer waren wohl schon früh mit der Jagd assoziiert, Frauen mit dem Sammeln und Pflücken, dem Schneiden und Ausgraben von nahrhaften Pflanzenteilen. Damit entfiel auch die Notwendigkeit der Bewässerung und der Regulierung von Flussläufen, was größere organisatorische Zusammenballungen unnötig machte. Diese wurden eher von gemeinsamen Ritualen oder Kriegszügen auf begrenzte Dauer ausgelöst. Doch kam es, beispielsweise an den Großen Seen, zu weiträumigen und dauerhaften Bündnissystemen und Siedlungen.
Rudimentäre Anfänge eines Schriftsystems lassen sich zwar zeigen, doch spielten eher symbolbeladene (Kunst-)Werke eine herausragende Rolle. Übergreifende Sprachen entstanden nur in Form von Händlersprachen, wie dem Chinook, die jedoch nur regional Bedeutung erlangten. In den Plains diente eine Gebärdensprache der Überbrückung der Verständigungsgrenzen zwischen den zahlreichen Sprachen und Dialekten. Das für andere Kulturgebiete so wichtige Rad spielte, wie in ganz Amerika, keine erkennbare Rolle. Auch Metallbearbeitung lässt sich nur für Kupfer nachweisen (allerdings schon sehr früh), daher war die seltene Substanz von hohem Wert und als Tauschgut sehr begehrt.
Der Wigwam aus einem Gerüst gebogener Äste, das mit Rinde oder geflochtenen Matten bedeckt wird, stellt eine an die Lebensweise angepasste, mobile Behausung der Jäger dar, die leicht zu zerlegen und wieder aufzubauen ist. Ähnliches gilt für das Tipi, das ledergedeckte Stangenzelt der Bisonjäger der Prärie. Im Winter dauerhaft bewohnte Häuser errichteten die Völker der Nordwestküste aus Holzplanken, im östlichen Waldland vor allem aus Holz und Lehm, gedeckt mit Grasdächern.
=== Europäischer Einfluss (16. bis 19. Jahrhundert) ===
Die koloniale Phase ab Ende des 15. Jahrhunderts begann zunächst an der Ostküste mit zunehmendem Handel, der bald in gewaltsame Konflikte umschlug, vor allem, wenn Siedler das Land beanspruchten oder wenn Konflikte zwischen den Stämmen auf solche zwischen den europäischen Staaten trafen. Die Folge waren regelrechte Koalitionskriege, mehrfach als Nebenschauplätze europäischer Kriege. Dazu kamen Versuche der Indigenen, den Handelskontakt zu monopolisieren, wobei sich um die Forts immer wieder neue Stämme bildeten, von denen manche den Namen des Forts noch heute tragen. Während der gesamten Epoche kam es immer wieder zu schweren Epidemien (Pocken, Masern, Grippe, Tuberkulose usw.), gegen die die Indigenen praktisch keine Immunabwehr besaßen. Waren die Indianer erst in eine Abhängigkeit geraten, versuchten die Eroberer, sie in für Siedler ungünstige Gebiete abzudrängen oder – wie in Kanada meistens – sie in Reservate (reserves) zusammenzudrängen und an die eigenen Vorstellungen einer gesitteten Lebensweise anzupassen.
In der Hauptsache waren es sieben europäische Mächte, die in dieser Weise auftraten: Spanien (1769 bis 1810 an der Westküste), Frankreich (etwa 1604–1763), England bzw. Großbritannien (1607–1867 bzw. 1931) und Russland (1741–1867, v. a. Alaska), in geringerem Ausmaß die Niederlande (1624–1664 um New York bzw. Nieuw Amsterdam), Schweden (1638–1655 am Delaware) und – in Grönland – Dänemark (ab 1721). Letztlich entlud sich der Konflikt zwischen Franzosen und Briten im Rahmen des Siebenjährigen Krieges, während mögliche Konflikte der Kolonialmächte an der Westküste untereinander mit dem Verkauf von Fort Ross 1841 und Alaska 1867 auf dem Verhandlungswege entschärft wurden, ebenso wie der „Beinahe-Krieg“ Großbritanniens mit Spanien (1789–1794).
Eine Sonderrolle spielten die USA, die 1803 Louisiana erwarben (Louisiana Purchase), und sich 1812 bis 1814 einen Krieg mit den Briten und Franzosen sowie ihren indianischen Verbündeten in Kanada lieferten (Britisch-Amerikanischer Krieg). Dabei etablierte sich eine erste Grenzziehung, die jenseits der Großen Seen ab 1846 entlang des 49. Breitengrads den Kontinent zerschnitt (Oregon-Kompromiss). Schon im spanisch-britischen Konflikt an der Pazifikküste hatten die USA eine gewisse Rolle gespielt. Im Norden trennte zudem der Erwerb des russischen Alaska durch die USA im Jahr 1867 die Zonen sehr unterschiedlicher Indianerpolitik voneinander ab.
Während die französische Kolonialpolitik vor allem von Handelsinteressen dominiert war und die Siedlung eher der Ausbildung von Handelsdrehscheiben diente, war die der Briten anfangs eher von Siedlungsinteressen und religiösen Auseinandersetzungen zwischen protestantischen Machtgruppen gekennzeichnet.
In Kanada spielte im Gegensatz zu den USA die Landnahme durch Siedler eine geringe Rolle, sieht man einmal von den wenigen Ballungsräumen ab. So übernahm im Norden und Westen die Krone die administrative Kontrolle der indigenen Völker durch die monopolistische Hudson’s Bay Company, deren Geschäftsinteressen ein friedlicheres Einvernehmen mit und zwischen den Indianern nahelegten. Erst die Zuwanderung zahlreicher Goldsucher (vor allem aus den USA) veranlasste Großbritannien, als Gegengewicht eine eigene Zuwanderung zu fördern. Einheirat in indigene Gemeinschaften schuf dabei bei matrilokalen Ethnien, also bei Gruppen, bei denen das Paar am Wohnort der Frau lebte, neue Führungsschichten innerhalb dieser Stämme, die dennoch Zugang zur Welt der „Weißen“ hatten.
=== Kanada, Assimilationsversuche ===
Im ehemals französischen Gebiet dominiert bis heute die französische Sprache, die zudem eigene Mischsprachen wie bei den Innu (Montagnais-Naskapi-Indianer) Labradors hervorgebracht hat. Die dortigen Indianer sprechen sie (häufig neben Englisch) und sind zudem meist katholisch. Weiter im Westen hängt es von zahllosen Zufällen ab, welches Bekenntnis durch die Missionare durchgesetzt wurde. Daneben entstanden eklektische Formen, die mitunter zum Mittel des Widerstands wurden. Sonderformen gibt es bis heute, die aber ein ausgesprochen regionales Substrat gewissermaßen nur überlagert haben und häufig als eine Wiedererweckung der traditionellen Spiritualität auftreten.
Der Phase der Missionierung und Einweisung in Reservate (bis ca. 1840 bzw. 1880) – im Gegensatz zu den USA gab es aber wohl nie Forderungen, die Indigenen auch physisch zu vernichten – folgte eine mehrere Generationen umfassende Epoche, in der durch ökonomische Marginalisierung, gewaltsam durchgesetzte Verbote zentraler Elemente der Kultur und schließlich durch Zwangseinweisung aller Kinder in eigens dafür eingerichtete, internatartige Schulen (vgl. Residential Schools), die gesamte Kultur ausgelöscht werden sollte. Die letzten Versuche endeten in den 1980er Jahren. Ob die überwiegend noch laufenden Verhandlungen um Verträge zwischen Kanada bzw. den Provinzen und den Stämmen letztlich nur ein weiterer Schritt zur Auflösung der eigenständigen Identität sein werden, oder diese im Gegenteil stützen, ist noch nicht absehbar.
Die Assimilation der Ureinwohner ist weit vorangeschritten. Die meisten beherrschen ihre ursprüngliche Sprache nicht mehr, und viele Sprachen werden nur noch von wenigen Menschen gesprochen. Viele Ureinwohner wohnen in Städten und haben den Zugang zu ihrer Kultur mehr oder weniger verloren. Dennoch gibt es starke Bemühungen um wirtschaftliche Erholung gepaart mit Ansätzen zur Neubelebung – vor allem in den Reservaten, in denen noch immer auf ein enormes kulturelles Wissen zurückgegriffen werden kann. Sprache und Rituale werden wieder gepflegt, in einigen Stämmen wird die Wiederherstellung der eigenen Gesellschaftssysteme thematisiert und die Forderung nach Selbstregierung, sowie freiem, nur an Traditionen gebundenen Zugriff auf die Ressourcen der natürlichen Umgebung erhoben. Zudem gibt es Ansätze, mit allen indigenen Völkern, die sich durch die Kolonialepoche in einer ähnlichen Situation befinden, Kontakt aufzunehmen. Gegen den Widerstand der kanadischen Regierung, aber auch derjenigen der USA, Australiens und Neuseelands, verabschiedete die UNO am 13. September 2007 die Deklaration der Rechte indigener Völker, in der nicht nur die Beseitigung jeder Benachteiligung indigener Völker sowie das Recht auf Mitsprache in sie betreffenden Angelegenheiten gefordert wird, sondern auch das Recht „anders zu bleiben“ (to remain distinct). Am 19./20. Februar 2008 veranstalteten die AFN und der British Columbia First Nations Leadership Council im Chief Joe Mathias Centre bei der Squamish First Nation in North Vancouver ein Symposium mit dem Titel „Implementing The United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples“ (Die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker umsetzen). Die Regierung Justin Trudeau hat im Mai 2016 mitgeteilt, dass sie die Deklaration mit sofortiger Wirkung unterzeichnet; ihre Inhalte sollen in die Verfassung des Landes aufgenommen werden.
== Eigenständige Entwicklung ==
=== Von den ersten Spuren bis zur archaischen Phase ===
Die ältesten Spuren menschlichen Lebens im Norden des Kontinents finden sich in Alaska. Sie reichen rund 12.000 bis 14.000 Jahre zurück und stehen kulturell in Beziehung zu nordostasiatischen Kulturen. Die mehr als zehn Jahrtausende anhaltende Kaltphase davor erlaubte wohl keinen Aufenthalt. Außerdem dürfte der riesige Eisblock, der Alaska und den Yukon nach Süden abriegelte, die Ausbreitung der Bewohner in diese Richtung verhindert haben. Zudem lässt sich nachweisen, dass der so genannte eisfreie Korridor zwischen Rocky Mountains und Hudson Bay erst um 13.000 v. Chr. nach und nach von Süden nach Norden entstand.Genetische Untersuchungen scheinen einerseits eine Abstammung aller indianischen Völker aus einer Wurzel zu belegen, andererseits, dass sie sich entlang der Küste relativ schnell ausgebreitet haben, und erst von dort ins Binnenland gewandert sind. Dies untermauern klimageschichtliche Untersuchungen. Andere Untersuchungen deuten eher darauf hin, dass die Besiedlung des Kontinents annähernd gleichzeitig von zwei unterschiedlichen Gruppen von Beringia her erfolgte, die zwischen 15.000 und 13.000 v. Chr. stattfand. Die Autoren vermuten, dass eine Gruppe der Westküstenroute folgte, die andere dem eisfreien Korridor. Genetische Untersuchungen an 92 Individuen aus der Zeit vor 8600 bis 500 Jahren in Südamerika und Mexiko belegten 2016, dass die Küstengruppe sich ab 14.000 v. Chr. binnen 1400 Jahren bis nach Chile ausbreitete. Außerdem ließ sich zeigen, dass die Vorfahren der Zuwanderer den Kontakt zur sibirischen Bevölkerung zwischen 23.000 und 16.400 v. Chr. verloren.Einige der ältesten Artefakte wurden im Yukon-Gebiet entdeckt, in den beiden Bluefish-Höhlen. Diese frühe arktische Kultur – je nach Schwerpunktsetzung als Sibirisch-amerikanische paläo-arktische Tradition, als Beringian tradition oder als Denali complex bezeichnet – war mehrere Jahrtausende isoliert und breitete sich erst unter günstigeren Bedingungen an der Küste entlang weiter südwärts aus, möglicherweise auch entlang des Yukon, wohl entlang der besagten eisfreien Zone. In der Charlie Lake Cave, einer Höhle nahe Fort St. John im Norden British Columbias fanden sich Werkzeuge aus der Zeit ab etwa 10.500 v. Chr. Zu dieser Zeit wanderten von Süden Bisonherden (B. bison antiquus) in das entstehende Grasland ein, mit ihnen Jäger, die Speerspitzen vom Clovis-Typ verwendeten, die etwa denen vom Indian Creek oder von Mill Iron in Montana ähneln. Diese Funde legen eine Süd-Nord-Wanderung nahe. In der Charlie-Lake-Höhle fanden sich zudem zwei beerdigte Raben – einer mit Beigaben –, die vor 9000 bzw. 10.000 Jahren beigesetzt wurden. Auch an den Vermilion Lakes bei Banff im oberen Bow Valley (8900 v. Chr.) und an der Niska Site – mit site werden Fundstätten bezeichnet – im südwestlichen Saskatchewan (8000 bis 9000 v. Chr.) fanden sich vorarchaische, auch paläo-indianisch genannte Überreste. Ähnlich alte Funde konnten in Québec erst 2003 gemacht werden, in Neuschottland 1996 bei Debert. Die ältesten menschlichen Überreste im Norden wurden 1996 entdeckt und auf ca. 7800 v. Chr. datiert. Sie stammen aus der drei Jahre zuvor entdeckten On Your Knees Cave auf Prince of Wales Island.
Die Zeit nach dieser Frühphase wird häufig als archaische Phase bezeichnet und in zwei Abschnitte geteilt. Dies sind die frühe (ca. 8000 bis 6000 v. Chr.) und die mittlere archaische Phase (ca. 6000 bis 4000 v. Chr.). Danach unterscheidet man archaische im Westen und Plano-Phase im Osten. Dazu gehören Kulturen am Ohio, um Niagara und in Süd-Ontario. Die Zahl der Funde ist jedoch gering, da die Landschaft immer noch starken Veränderungen unterworfen war, was kulturelle Relikte meist zerstörte. Vermutlich folgten die Plano-Leute Karibu-Herden ostwärts, immer an der Vereisungsgrenze entlang. Ohne sie war im Nordwesten kein menschliches Leben möglich. Esker boten hier mitunter vorzügliche Wege durch die unwegsame Landschaft. Um 7500 v. Chr. erreichten auch Archaic-Leute aus dem Westen das südliche Ontario. Dort fanden sich Speerschleudern, eine technologische Neuerung, die vermutlich um 8000 v. Chr. in den südlichen USA ihren Ausgang nahm.Eine Projektilspitze aus Neuengland wird auf 6000 bis 5000 v. Chr. datiert. Sie gehört wohl der gleichen Kultur an, wie die in Vermont (John's Bridge Site, ca. 6000 v. Chr.), wo bereits Bohrer und vor allem Hausspuren auftauchten. Dabei sind die küstennahen Kulturen archäologisch nicht leicht abzugrenzen. Schwerpunkte waren der untere Sankt-Lorenz-Strom und die Großen Seen. Die ersten größeren Monumente stellen Grabhügel dar, die Burial Mounds. Offenbar hatte sich eine mehr oder minder gefestigte Hierarchie innerhalb dieser Gesellschaften entlang des Eriesees, am südlichen Huronsee, am Ontariosee sowie am Sankt-Lorenz-Strom oberhalb des heutigen Québec entwickelt. Ob es sich hierbei um eine zusammenhängende Kulturregion handelte (auch Proto-Laurentian genannt), kann nur vermutet werden. Ihre Artefakte reichen von etwa 5500 v. Chr. bis 1000 v. Chr.
Deutlich unterscheidbar und einer ganz anderen Umgebung ausgesetzt war die Gruppe der Plano-Kulturen, deren Name sich von den Great Plains ableitet. Der Name ist zu eng gefasst, denn die Kulturen umfassen den riesigen Raum zwischen den küstenfernen Gebieten British Columbias und den Nordwest-Territorien sowie dem Golf von Mexiko. Kurz vor 8000 v. Chr. zeigt sich ein Wechsel im Waffensystem, der für diese Kulturen kennzeichnend ist. Die Spitzen der Projektile werden nicht mehr in gespaltene Schäfte eingespannt, sondern in den Schaft eingetieft. Es war zugleich die Phase, in der ausgedehnte Wälder partiell Graslandschaften wichen. Das Rohmaterial einiger Steinwerkzeuge und -waffen stammte aus weit im Süden gelegenen Gebieten.
Die frühen Plano-Kulturen umfassten das Gebiet zwischen dem North Saskatchewan River und dem Fuß der Rocky Mountains, bis hinein nach British Columbia zum Peace River. Manitoba lag immer noch unter einem riesigen Eissee, doch entwickelten sich erste, Siedlungskammern ähnliche Refugia und bewohnbare Erhebungen, die über die Eisgrenze hinausragten (Nunatuks bzw. Nunataker), wie etwa in Süd-Alberta (Agate Basin culture). In einer dieser Refugia fand man südlich von Calgary im Jahr 2001 kleine Pferde, die offenbar um 8000 v. Chr. gejagt wurden.
Über einen schmalen Korridor südlich der Eisgrenze gelangten neue Techniken nach Westen. Erst später teilte sich der riesige Kulturraum erkennbar in zwei Großräume auf, die Frühe Shield- und die Frühe Plains-Kultur. Am South Fowl Lake an der Grenze zwischen Ontario und Minnesota wurden Kupferfunde gemacht, die auf eine Metallbearbeitung bereits um 4800 v. Chr. hindeuten. Reichere Funde bietet erst die Mittlere Shield-Kultur (4000 bis 1000 v. Chr.).
Im Westen wurde die wohl mindestens bis 9000 v. Chr. zurückreichende Besiedlung durch die Frühe Plateaukultur überlagert. Dabei ist umstritten, ob es sich um eine Einwanderung über den Fraser River handelte oder aus dem Landesinnern – ein Leichnam vom Gore Creek, etwa 8500 Jahre alt, deutet darauf hin. Die mögliche Zuwanderung von der Küste dürfte um 4250 v. Chr. eingesetzt haben. Es scheint aber keinen Zusammenhang mit den anwachsenden Lachswanderungen an der Westküste zu geben.
Die Küstenkulturen (Southwestern und Northwestern Coastal culture) an der Westküste lassen sich mindestens bis 8000 v. Chr. nachweisen. Dabei ist unklar, aus welcher Richtung die Besiedlung erfolgte, wobei sie auch durchaus aus einer gemeinsamen Wurzel stammen könnten. Die Linguistik tendiert eher zu einer Einwanderung aus dem Norden. Schon der älteste Fund auf Vancouver Island, die Bear Cove, weist eine sehr starke Orientierung auf die Jagd von Meeressäugern wie Delfine und Robben hin. Auffällig ist die Aufteilung in eher meerwärts orientierte Gruppen mit hochseetauglichen Fahrzeugen, und solche, die sich auf die relativ bequeme Jagd auf Lachse verlegten. Viele küstennahe Überreste wurden jedoch vom Meer verschlungen, das seit 6000 v. Chr. um 10 bis 15 m angestiegen ist. Diese Überschwemmung von Siedlungskammern dürfte den Druck erhöht haben, ins Binnenland abzuwandern. Dabei nahm die Nordwestküste eine etwas andere Entwicklung. Auch hier hat der ansteigende Meeresspiegel Spuren zerstört, abgesehen von Haida Gwaii. Diese Inselgruppe wurde spätestens um 7500 v. Chr. besiedelt, und trägt mit den Haida eine der ältesten ortskonstanten Bevölkerungen der Welt. Noch ältere Siedlungsspuren weist das ostwärts nahe der Küste gelegene Dundas Island mit der Fundstätte Far West Point auf, das datierte Funde von 9690 ± 30 BP aufweist, und damit die ältesten an der britisch-kolumbianischen Küste.
Der älteste nachweisbare Handel, der mit Obsidian, reicht über 10.000 Jahre zurück und basierte auf einer Lagerstätte am Mount Edziza (2787 m) in Nord-British-Columbia.Im Nordwesten ist die Fundlage so widersprüchlich, dass bisher alle Ansätze, verschiedene Kulturen zu bestimmen, gescheitert sind. Der äußerste Norden einschließlich Grönland ist erst um 2500 v. Chr. punktuell besiedelt worden, der Norden Ontarios erst um 2000 v. Chr.
=== Von etwa 4000 bis 1000 v. Chr. ===
Ab 2500 v. Chr. lassen sich im Westen Siedlungen anhand zahlreicher Muschelhügel (shell middens) nachweisen, dazu erste Anzeichen einer sozialen Differenzierung. Siedlungsspuren weisen auf Hausverbände hin, die sich saisonal zur Jagd zu stammesartigen Gruppen verbanden. In den Plains lassen sich Häuser und Dörfer fassen. Anscheinend wurde die Jagd mit Pfeil und Bogen aus Asien kommend im Norden verbreitet. Sie nahm ihren Weg zügig von Nordwesten, wo sie lange verharrte, bis an die Ostküste, um dann in einem Bogen den äußersten Westen zu erreichen.Begräbnisstätten finden sich auch an der Ostküste, wie etwa ein Friedhof im Nordwesten Neufundlands (Port au Choix), der zwischen 2400 und 1300 v. Chr. in Gebrauch war und 56 Tote barg. Die dortigen Grabhügel stellen die frühesten Monumentalbauwerke Kanadas dar. Die dieser Kultur zugerechneten Gruppen werden als Maritime Archaic People (dabei wird eine frühe – 6000 bis 4000 v. – und eine mittlere Periode – 4000 bis 1000 v. Chr. unterschieden) bzw. als Red Paint People bezeichnet, was auf den Gebrauch roten Ockers zurückgeht. Zwischen 2000 und 1500 v. Chr. kühlte Labrador erheblich ab, wovon die nördlichen Küstenkulturen im heutigen Kanada stark betroffen waren. Die vor 4000 v. Chr. in Zentrallabrador ansässigen Gruppen räumten das Gebiet. Um 2250 v. Chr. zogen Inuit, die um 3000 v. Chr. aus Asien kommend Nordamerika erreicht hatten, bis in diese Gegenden südwärts, und auch Jäger aus dem Inland erreichten die Küsten. Das Gebiet nördlich des Sankt-Lorenz-Stroms scheint aufgegeben worden zu sein. Um 2000 bis 1700 v. Chr. scheinen zudem Völker aus dem Süden bis Neubraunschweig nordwärts gezogen zu sein (Susquehanna Archaic People), doch vielleicht wurden hier auch nur Techniken nordwärts weitergereicht.
An den Großen Seen stiegen die Wasserspiegel, die Bedingungen für die Fische verbesserten sich. Dort lassen sich nun Hunde nachweisen, die beerdigt wurden, wie beispielsweise ein Fund am Huronsee zeigt. Die Middle Great Lakes-St. Lawrence-Kultur (oder Laurentian Archaic) hatte ihr Zentrum um das Gebiet des heutigen Québec und in Ontario, und reichte bis 4000, vielleicht bis etwa 5500 v. Chr. zurück. Das Ottawa-Tal gilt als ein Zentrum der Kupferproduktion, ein Metall, das für Pfeilspitzen, Ahlen usw. gebräuchlich war. Offenbar wurden auch heilige Plätze, zunächst wohl Beerdigungsstellen, gepflegt, Verbrennung ist nachweisbar. Parodontose, Arthritis bei den Älteren und Knochenbrüche waren die häufigsten Erkrankungen. Wahrscheinlich drangen Völker von Süden her vor, doch ist das Laurentian, ähnlich wie der Middle Archaic complex archäologisch anfangs schwer zu fassen. Hier ist etwa ein halbmondförmiges Messer, das Ulu, kennzeichnend. Dichtere Bevölkerung und komplexere Kulturen bewirken jedoch eine Zunahme von Funden und eine größere Eindeutigkeit der Zuordnung. Andererseits wird die Region landwirtschaftlich genutzt, so dass zahlreiche Funde, die aus gepflügter Erde stammen, nicht zeitlich zuzuordnen sind, wie etwa um die Niagarafälle.
Die Kulturen des kanadischen Schilds entwickelten sich erst um 6000 v. Chr. aus den Plano-Kulturen des südwestlichen Keewatin-Distrikts und des Ostens von Manitoba, mit einem folgenden Expansionsvorgang, der rund vier Jahrtausende andauerte. Die Cree, Ojibwa, Algonkin, Innu und Beothuk, die in den frühen europäischen Schriftquellen fassbar sind, gehen wohl auf diese Gruppen der Shield-Kultur zurück. Um 2000 v. Chr. bestanden hier bereits komplexe Begräbnisrituale mit kupfernen Beigaben, Werkzeugen und Ocker, Handelsbeziehungen reichten bis nach Dakota. Da die Siedlungen nicht von großer Kontinuität waren, sind Fundschichtungen sehr selten. Erkennbar sind dennoch jahreszeitliche Wanderzyklen von jahrtausendelanger Kontinuität.
Die Plainskulturen sind schwer fassbar und so muss man sich auf Waffentypen beziehen. Doch sind deren Aussagemöglichkeiten oftmals vage. Änderungen in den Projektilspitzen weisen möglicherweise auf Verdrängung der Wälder durch Graslandschaften und entsprechende Beutetiere hin. An der Cactus Flower-Ausgrabungsstätte in Alberta fand sich eine röhrenförmige Pfeife, die ca. 4700 Jahre alt ist. Zahlreiche Pfeilspitzen stammen aus Chalzedonstätten am Knife River in North Dakota. Insgesamt lassen sich zwischen etwa 6000 v. Chr. und der Zeitenwende in ihrer Gesamtheit fünf gravierende Veränderungen konstatieren: Die Trockenphasen wurden milder, die noch heute existierende Bisonart setzte sich durch, Hunde wurden als Trage- und Zugtiere eingesetzt und erhöhten damit die Mobilität, das Tipi setzte sich durch, und schließlich gestattete die Kochtechnik mit heißen Steinen die Herstellung von Pemmikan, was wiederum das Überdauern von Mangelphasen erleichterte.Die Mittlere Plateau-Kultur zwischen Rocky Mountains und pazifischem Küstengebirge entwickelte um 2500 v. Chr. das so genannte Pit House, das teilweise in die Erde eingegraben wurde. Zugleich basierte die Ernährung zunehmend auf Lachs, wenn auch die gesamte Bandbreite von Muscheln bis Skunks nicht verschmäht wurde. Die heutigen Salish-Stämme lassen sich mit dieser Kultur eng in Verbindung bringen. Ausnahmen in diesem Gebiet sind die Nicola als Eyak-Athapaskisch-Sprecher und die Kootenay. Als wichtigste kulturelle Veränderung gilt der Übergang von der Nichtsesshaftigkeit zu einer Halbsesshaftigkeit mit festen Winterdörfern und sommerlichen Wanderzyklen, entsprechend den Jagd- und Sammelerfordernissen, sowie dem Besuchen von Orten mit hoher ritueller Relevanz um 2000 v. Chr.
Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich an der Westküste, deren Kulturen sich zunehmend regional differenzierten (vgl. Küsten-Salish). Die Gesellschaftshierarchie prägte sich deutlicher aus, einige Gruppen hatten besseren Zugriff auf Ressourcen, Reichtum wurde angehäuft und der Handel nahm zu. Lachs, Kerzenfisch und Schalentiere wurden zu den wichtigsten Lebensmitteln, dementsprechend tauchen zahlreiche als shell middens bezeichnete Hügel auf, in denen auch weniger dauerhafte Artefakte überdauerten. Gegen Ende der Epoche lassen sich erstmals Plankenhäuser nachweisen. Die Salish waren jedoch nicht nur Jäger und Sammler, sondern spätestens seit 1600 v. Chr. auch Bauern – wie man von den Katzie seit 2007 weiß.Im Gegensatz dazu hielt sich am Yukon und am Mackenzie mit ihren riesigen Einzugsgebieten eine Kultur weiträumiger Jagd mit extremer Beweglichkeit kleiner Gruppen. Daher ist die archäologische Quellenlage sehr dünn. Die häufig zu findende Mutmaßung über Invasoren aus den Plains um 4000 v. Chr. lässt sich wohl leichter mit dem Vordringen der Speerschleuder (Atlatl) erklären, die andere Projektilspitzen erforderte. Zwischen 5000 und 2000 v. Chr. gab es eine Südwanderung der Inuitkulturen. Auf die regionale Kultur gehen wohl die Athabasken-Sprachen zurück.
=== Bis zu den ersten Kontakten mit Europäern (um 1500) ===
Die drei auffälligsten Veränderungen in der Zeit ab etwa 1000 v. Chr. sind die klimatische Stabilisierung etwa auf dem heutigen Niveau sowie die Einführung zweier neuer Techniken. Die eine, die Herstellung von Tongefäßen, erreichte das Gebiet des heutigen Kanada wohl auf dem langen Weg von Südamerika über Florida. Die andere, Pfeil und Bogen, kam aus Europa oder Asien und wurde wohl erstmals von Paläo-Eskimos eingesetzt. Durch das Aufkommen dieser beiden Techniken bestehen zudem andere Möglichkeiten, aus archäologischen Funden Erkenntnisse über diese Zeit zu gewinnen.
==== Der Osten: Woodland-Perioden ====
Die ethnischen Gruppen, die hinter den Artefakten der jüngeren Kulturphasen standen, dürften die Vorfahren der heutigen Mi'kmaq, Maliseet (in Kanada Welastekwíyek, Leute vom Sankt-Lorenz-Strom) und Passamaquoddy (die in Kanada nicht als First Nation anerkannt werden) sein. Aus archäologischer Perspektive liefern zahlreiche Keramikgefäße bereits aus der Zeit vor 500 v. Chr. einen erheblichen Zuwachs an Merkmalen und Funden. Damit endet an der Ostküste die archaische Phase, die von den Woodland-Perioden abgelöst wird. Dabei unterscheidet man Gefäße anhand ihrer Verzierungen in solche, die durch eine Art Stempel aufgebracht wurden, im Norden und solche, die durch Eindrücken eines Bandes erzeugt wurden, im Süden (etwa zwischen Trois-Rivières und Québec). Im besser erforschten Neubraunschweig zeigt sich, dass die Sesshaftigkeit in der kalten Jahreszeit (in den shell midden sites) sich durchgesetzt hatte, manche Dörfer waren wohl schon ganzjährig bewohnt. Die Bedeutung von Schalentieren nahm deutlich zu, obwohl einige Funde zeigen, dass sie bereits sehr viel früher von hoher Bedeutung waren. Von der rund 1700 km entfernten Adena-Kultur übernahm die Region teilweise die Beerdigungspraktiken, partizipierte jedoch auch selbst an ihrer Entwicklung, wie der Fundort Miramichi River zeigt, der bis in historische Zeit den Mi'kmaq als heilig galt. Damit würde ihre mündliche Tradition 2500 Jahre zurückreichen.
Die Frühe oder Anfängliche Woodland-Periode erstreckt sich auch an den Großen Seen und dem Sankt-Lorenz-Strom von etwa 1000 v. Chr. bis 500 n. Chr. Die Bezeichnung bezieht sich auf die Verbreitung von Tonwaren, einer vorher nicht bekannten Technik. Auf diese Kultur gehen wohl die Irokesen zurück, aber auch einige der Algonkin-Stämme. Lange wurde der Übergang von einer Jäger- und Sammlergesellschaft zu einer Gartenbaugesellschaft zu stark betont. Dennoch nahm die Bedeutung des Kürbisses immer mehr zu. Es zeigte sich aber, dass Kürbisse bereits um 4000 v. Chr. in Maine angepflanzt wurden. Dennoch zeigen sich Aspekte grundlegender Veränderungen. Zwischen Ontariosee und Eriesee sowie New York brachten einzelne Gruppen die Feuerstein-Fundstätten unter ihre Kontrolle. Mit eigens hergestellten Grundformen handelten sie sehr weiträumig. Diese Onondaga-Feuersteine wurden von 1000 bis 500 v. Chr. vor allem für die neue Waffe gebraucht, die aus Pfeil und Bogen bestand. Zudem breiteten sich die aus dem Ohiotal kommenden Burial Mounds, zahlreiche Erdhügel, die die Verstorbenen bargen, aus. Schließlich entwickelte man eine Reusentechnik, mit der man auch in Stromschnellen Fische fangen konnte.
==== Der kanadische Schild ====
Die Kulturen auf dem kanadischen Schild werden in eine westliche und eine östliche Kulturgruppe geteilt, die beide auf die Mittlere Schild-Kultur zurückgehen. Dabei unterschieden sich die beiden Gruppen nur in ihren Werkzeugen, weniger in ihrer Lebensweise, wenn auch der östliche Zweig Tongefäße erst sehr spät übernahm. Dies kann aber auch darauf zurückgeführt werden, dass die tonlosen Gebiete eher Schweifgebiete von Jägergruppen waren. Auch hier zeigen sich bis nach Zentral-Labrador die Einflüsse der Adena-Kultur. Ihre typischen Mounds erscheinen ebenfalls in der westlichen Schild-Kultur (Laurel), beispielsweise am Rainy River im Süden Ontarios, der im Rahmen der Manitou Mounds Provincial Park Reserve inzwischen unter Denkmalschutz steht. Rätselhaft bleiben bisher die aus Flussgeröll aufgehäuften Hügel, die vielleicht Schamanen als Rückzugsstätten dienten. Da Felsmalereien, von denen ähnliches angenommen wird, bisher nicht datierbar sind, lassen sich Fragen nach ihrer Funktion kaum beantworten.
Kanus aus Birkenholz waren hier das Haupttransportmittel für Güter und Menschen. Auf ihnen dehnten die Gruppen ihre Schweifgebiete in frühere Plain-Gebiete west- und südwestwärts aus, die zwischen 1500 und 500 v. Chr. erheblich feuchter und waldreicher wurden. Damit verschwanden dort die Bisonherden. Auch der Fernhandel mit Chalzedon aus Oregon und Obsidian aus Wyoming hing vom Flusstransport ab. Die einzigen bekannten menschlichen Überreste stammen von 39 Individuen aus zwei als Mound bezeichneten Grabhügeln, Smith Mound 3 und 4 im Norden von Minnesota. Es könnte sein, dass die Stämme der nördlichen Algonkin-Kultur im südlichen Manitoba, in Minnesota und im angrenzenden Ontario genetisch von ihnen abstammen. Wahrscheinlich kam es aufgrund der Domestizierung von Wasserreis zu einer herausgehobenen Schicht von Landbesitzern, die sich auch kulturell vom Rest der Bevölkerung absetzten. Der Süden Ontarios war in die Fernhandels-Beziehungen der Hopewell-Kultur eingebunden. Im Umfeld des Ontariosees wurde hochreines Kupfer gefunden, das als Werkstoff für Schmuck im ganzen Osten Nordamerikas verbreitet wurde.
==== Plains und Prärien ====
Die späte Plains-Kultur lebte in hohem Maße von Büffeln (Amerikanischer Bison), wobei Pemmikan immer wichtiger wurde. Ortsnamen wie Head-Smashed-In Buffalo Jump oder Old Women’s Buffalo Jump weisen auf die Treibertechnik bei der Büffeljagd hin, doch sind solche Plätze selten. Dabei scheinen die Prärien bis etwa 650 v. Chr. zugunsten von Wäldern geschrumpft zu sein. In dieser Zeit, spätestens ca. 500 v. Chr., löste der Bogen die Speerschleuder ab, die jedoch noch längere Zeit nebeneinander existierten. Neben Büffelfleisch waren, wie ein Fund am Pelican Lake zeigt, Elche, Biber, Hecht, Zander, aber auch Wurzeln, von großer Bedeutung. Hier kommen Mounds nur in den beiden Dakotas vor. In Montana ließen sich Zeltdörfer von beachtlichen Dimensionen (100 ha) und rund tausendjähriger Nutzungsdauer nachweisen, die Steinringe um die Tipis nutzten. Fernhandel mit Obsidian, Feuerstein und anderen Materialien war weit verbreitet und reichte westwärts bis zum Fraser River und dem Pazifik. Offenbar gab es heilige Plätze, an denen Schamanen metaphysische Mächte beschworen. Es gibt Hinweise darauf, dass zumindest manche der Verstorbenen vor der Grablegung auf Gerüsten getrocknet wurden. Auch ließ man Verstorbene in Zelten zurück. Einige Funde zeigen relativ große Menschen, die allerdings oftmals an Arthritis und anderen Krankheiten litten.
==== Plateau ====
Die späte Plateau-Kultur war durch Kleinräumigkeit gekennzeichnet – entsprechend der Landschaft. An dem Wechsel zwischen Winterdörfern und Sommerlagern hatte sich nichts geändert. In Erdlöchern wurden Vorräte angelegt, heiße Steine dienten zum Backen und Kochen, der Lachs lieferte den Löwenanteil des Nährwerts. Tierförmige Schnitzereien scheinen zugenommen zu haben, ebenso der Handel mit den Küstenvölkern, allerdings hauptsächlich am mittleren Fraser und am Thompson. Die Dörfer wurden deutlich größer und die Bevölkerung nahm zu, doch waren manche dieser Großdörfer nur kurzzeitig bewohnt, andere über tausend Jahre lang (z. B. Keatly Creek Site). Kennzeichnend ist das Pit House, wobei dies bei den Kootenay infrage gestellt wurde. Bei ihnen wurde der Einfluss der Plainskulturen erst mit der Einführung des Pferdes stärker. Dieser Haustyp hat extensivere Bevorratung ermöglicht und so die Ernährung besser gesichert (ab ca. 2000 v. Chr.). Eyak-Athapaskisch-Sprecher, wie Chilcotin und Dakelh sind vielleicht erst um 500 südwärts gewandert.
Die späte Plateauphase wird wiederum in drei Phasen unterteilt, die Shuswap horizon (2500 bis 500 v. Chr.); Plateau horizon (500 v. Chr. bis 800 n. Chr.) und Kamloops horizon (800 bis 1800) genannt werden. Pfeil und Bogen tauchten erst sehr spät auf. Bei den Behältern mit menschlichen Köpfen handelte es sich wohl um zeremonielle Kunstwerke. Auch entwickelte sich eine Gesellschaft, die auf Familienverbänden, stammesübergreifenden Verwandtschaften und einer Hierarchisierung basierte. Der Zugriff auf Ressourcen hing am Ansehen, das zunehmend erblich wurde.
==== Westküste ====
Die Küstenkultur am Pazifik näherte sich der Ausprägung, die die Europäer Ende des 18. Jahrhunderts vorfanden. Sie wurde bereits zwischen 500 v. und 500 n. Chr. annähernd erreicht. Die erbliche Ranggesellschaft war dabei von Süden nach Norden strenger, die Hierarchie steiler. Eine Schicht führender Familien beherrschte den Handel, den Zugang zu Ressourcen und die politische und spirituelle Macht. Die einfachen Stammesangehörigen mussten dabei keineswegs die Masse der Menschen stellen, ebenso wenig wie die Sklaven, die meist Kriegsgefangene waren.An vielen Stellen ist es äußerst wahrscheinlich, dass lokale Funde bestimmten Stämmen derselben Region zugeordnet werden können, wie etwa den Tsimshian, die spätestens 2000 v. Chr. um den späteren Prince Rupert Harbour lebten. Regionale Differenzierungen liegen dabei etwa zu den Gruppen um die Straße von Georgia und das Frasertal vor. Dort lassen sich Locarno Beach-Komplex und Marpole-Komplex, die auf Lachsfang basieren (vgl. Küsten-Salish) oder Yuquot unterscheiden, das auf eine Kultur der Hochseejagd, insbesondere der Wale hinweist. Im Norden sind Namu, Prince Rupert und Haida Gwaii maßgebliche Fundorte, dazu kommen Fundstellen am Fraser River, die noch stärker auf Lachsfang hinweisen. Auch hier tauchen erstmals Begräbnishügel auf. Erst um 400 n. Chr. erreichte der Bogen diese Region.
Auch hier wurden die Dörfer zahlreicher und offenbar größer, außer denen an der Straße von Georgia. Die heutigen Küsten-Salish lassen sich auf die Marpole-Kultur zurückführen, vermutlich aber erheblich weiter zurück. Sie war bereits von der gleichen sozialen Differenzierung, von Plankenhäusern, in denen mehrere Familien lebten, von Lachsfang und -konservierung, reichen Schnitzwerken von mitunter monumentalen Ausmaßen, komplexen Zeremonien und wohl auch schon Potlatches gekennzeichnet. Am Hoko River in Washington zeigen sich die später von Europäern beschriebenen Formen der Winterbevorratung. In Namu zeigt sich bereits 7000 v. Chr. eine Vielzahl kultureller Elemente der späteren Küsten-Salish und ihrer nördlichen Nachbarn, wie der Nuu-chah-nulth. Dabei zeigt sich vor allem am Hoko River im Unterschied zum nicht sehr weit entfernt gelegenen Musqueam Northeast, dass sich die kulturellen Differenzen zwischen relativ nahe beieinander lebenden Gruppen eher im Bereich vergänglicher „Künste“, wie der Korbflechterei niederschlagen, als im Bereich der viel früher überlieferten (Stein-)Waffentechnik, die tendenziell auf immer gleiche Bedürfnisse vergleichsweise einförmig und träge reagiert – aber sie stellt mit Abstand die Hauptmasse der Funde.
Zwischen 500 und 1000 n. Chr. änderten sich erneut die Begräbnissitten. Die Toten erhielten nun immer öfter ihre letzte Ruhestätte in Bäumen, Pfählen, Grabhäusern und Höhlen. Um 500 bis 700 n. Chr. tauchten vermehrt befestigte Dörfer auf – vor allem im Süden mit ausgehobenen Wassergräben, weiter im Norden mit Palisaden. Diese kriegerische Phase erstreckte sich bis in die Zeit des ersten Kontakts mit Europäern, durch den sie weiter gesteigert wurde.
==== Der Nordwesten ====
Besonders schwach erforscht ist die Frühgeschichte des nordwestlichen Binnenlands, wo die Sprachgruppe der Athabasken dominierte. Mit ihnen verbinden sich einige Fundstellen im Entwässerungsgebiet des Mackenzie ab ca. 700 v. Chr. Der Taye Lake-Komplex lässt sich zwischen 4000 und 1000 v. Chr. fassen, während der Taltheilei-Komplex vermutlich auf Zuwanderung aus British Columbia und dem Yukongebiet zurückgeht, eine Wanderung, die bis über die Hudson Bay hinausreichte und möglicherweise die Vorgänger der Inuit dort verdrängte.
Mit den Athabasken verbinden sich Fundstellen im Entwässerungsgebiet des Mackenzie ab 1000 v. Chr. bis ca. 700 n. Chr. Der Taye Lake-Komplex im Yukongebiet datiert auf 4000 bis 1000 v. Chr. Dabei nimmt man an, dass die als Old Chief Creek bezeichnete Phase am nördlichen Yukon dieser nahestand und die späteren Gwich'in hervorbrachte, die Taye-Lake-Phase am südlichen Yukon hingegen die Tutchone. Kennzeichnend sind lanzenförmige Projektilspitzen, zweischneidige Messer, sowie die Abwesenheit von microblades genannten, winzigen Klingen. Ob die beiden archäologischen Hauptgruppen mehr darstellen als Gedankenkonstrukte, ist angesichts der extrem schwachen Fundlage jedoch ungewiss.
== Europäischer Einfluss ==
Um 1000 n. Chr. kam es zwar zu einer Ansiedlung von isländischen Siedlern Grönlands auf Neufundland, doch diese war nur von kurzer Dauer. Weiter im Norden, auf Baffin Island, kam es anscheinend schon mehrere Jahrhunderte früher zu Kontakten, die sich nicht auf bloßen Handel zurückführen lassen. Alltagsobjekte weisen auf längere Aufenthalte hin. Die Isländer nannten die Bewohner Skraelinger, wobei unklar ist, ob es sich um Beothuk oder um Inuit der Dorset-Kultur handelte. In den Quellen heißen die entdeckten Gebiete Helluland, Markland und Vinland, wohl Gebiete am Clyde River, in Süd-Labrador und auf Neufundland. Offenbar tauschten Wikinger und die regionalen Gruppen bereits zu dieser Zeit Pelze gegen Metallwaren und Stoffe.
=== Kontakte ohne Kolonien im Osten (1497–1604) ===
Mi'kmaq und Beothuk waren wahrscheinlich die ersten, die Kontakt mit Europäern hatten, wobei letztere seit 1829 als ausgestorben gelten. Aller Wahrscheinlichkeit nach liefen schon im 15. Jahrhundert Fischer aus dem Baskenland und England die Fischgründe um Neufundland an, und noch zwischen 1530 und 1600 zerlegten Basken in der Red Bay an der Küste Labradors Wale. Der erste Europäer, dessen Landung in Nordamerika in den Quellen greifbar ist, war Giovanni Caboto (bekannt als John Cabot). Er landete 1497 an einer nicht sicher bestimmbaren Stelle an der Ostküste und nahm drei Mi'kmaq nach England mit. Spätestens ab 1501, als der Portugiese Gaspar Corte-Real 59 Beothuk entführte, die mit dem untergehenden Schiff ertranken, hatten neben besagten Beothuk die Mi'kmaq häufiger Kontakt mit spanischen, französischen, britischen und irischen Fischern, die die Küste jeden Sommer aufsuchten. Um 1578 zählte man jeden Sommer nahezu 400 Fischerboote an der kanadischen Ostküste.
Ab 1519 begann der Pelzhandel und die Küstenstämme tauschten Pelze gegen europäische Produkte, vor allem Metallwaren wie Messer, Äxte, Beile und Kessel. Bezeichnend für dieses Tauschinteresse ist der Bericht Jacques Cartiers, der 1541 in der Chaleur-Bucht ankerte, wo sein Schiff von einer großen Zahl Mi'kmaq-Kanus umringt wurde, deren Besatzung mit Biberpelzen winkte. Dieser Stamm wurde 1564, 1570 und 1586 von ihnen unbekannten Krankheiten heimgesucht. Die Stämme der Ostküste begannen sich zu verändern, bald sollten sie wegen der Handelskontakte Krieg untereinander führen. Cartier hatte auch am oberen St. Lorenz Pelze bei den Irokesen eingetauscht (1534/35) und lange Zeit florierte der Handel trotz fehlender Infrastruktur im Sinne von Handelsstützpunkten. Ein Fluss- und Wegenetz, auf dem Indianer Handel betrieben, existierte schon sehr lange. Sie handelten mit Kupfer, Walrosselfenbein, verschiedenen Steinarten für Werkzeuge, Waffen und Schmuck, auf weiträumigen Pfaden mit dem butterartigen Fett des Kerzenfischs, Hundehaardecken usw.
=== Der Osten – Erste Kolonien, Kriege, Epidemien, Pelze (1604–1763) ===
Ein Vierteljahrhundert vor der ersten dauerhaften Kolonie erhielt im Jahr 1578 der Bretone Troilus de Mesgouez, Marquis de la Roche (1540–1606) einen entsprechenden Auftrag, doch scheiterte sein Schiff 1584 im Sturm. 1598–1603 errichteten Sträflinge eine kurzlebige Kolonie auf Sable Island, wo sie bereits Überreste einer älteren Kolonie vorfanden. 1604 errichtete eine Flottenexpedition, an der auch Samuel de Champlain teilnahm, die erste Siedlung auf Saint Croix Island an der Mündung des St. Croix River. Sie wurde jedoch ein Jahr später nach Port Royal verlegt. Bald folgten weitere befestigte Anlagen wie Fort La Tour am Saint John River, wo nun auch die Maliseet europäische Waren ertauschten. Doch die Verlagerung der Kolonie nach Port Royal ins Gebiet der Mi'kmaq hatte Folgen. Bereits 1607 kam es zu einem Krieg zwischen den Penobscot unter ihrem Sagamore Bashabes, der durch französische Waffen große Macht erlangt hatte, und den Mi'kmaq. Dieser Tarrantiner-Krieg, der Ausdruck ihrer Rivalität im Pelzhandel war, dauerte acht Jahre. Die siegreichen Mi'kmaq zogen weiter nach Massachusetts, steckten sich dabei aber mit einer verheerenden Epidemie an, die zwischen 1616 und 1619 rund 4.000 der 10.000 Mi'kmaq tötete. Andere Stämme waren noch härter betroffen. Wie der Pequot-Krieg von 1637 zeigte, waren die südlichen Kolonien zudem eine ernste Gefahr für die nackte Existenz, denn erstmals wurde hier ein ganzer Stamm gezielt ausgelöscht.
1608 gründete Champlain die Stadt Québec. 1613 mussten sich die Händler von Port Royal ins nördlichere Tadoussac zurückziehen, weil Engländer ihre Kolonie niedergebrannt hatten. Im selben Jahr kam es zu einer blutigen Auseinandersetzung mit den Beothuk, die von den Mi'kmaq, die mit den Franzosen verbündet und von ihnen mit Gewehren ausgestattet waren, besiegt wurden.
Bald schickte man Coureurs des bois (Waldläufer) aus, die unter den Indianern lebten, während die Handelsagenten ihre Forts zu Tauschzentren ausbauten. Dabei spielten die wenigen befahrbaren Flüsse, wie der Ottawa, eine wichtige Rolle. An ihnen beanspruchten Stämme wie die Kichesipirini bereits um 1630 ein Zwischenhandelsmonopol. Außerdem kamen bereits um 1660 große Mengen von Pelzen aus dem Gebiet des Oberen Sees und von den Lakota. 1669 lieferte eine Station an der James Bay erste Pelze nach London, ein Handel, aus dem die Hudson’s Bay Company hervorging. Die Rivalität zwischen Franzosen und Engländern eskalierte. 1686 versuchten Franzosen den Handelsposten niederzubrennen. Wenige Jahre später stießen Franzosen bis an den Golf von Mexiko vor und gründeten die Kolonie Louisiana. Zwar scheiterte die Suche nach der Westgrenze des Kontinents, doch wurden Kontakte zu Indianern bis an den oberen Mississippi, kurzzeitig sogar bis nach Santa Fe im spanischen Gebiet hergestellt. Weiterhin dominierten die Handelsgesellschaften das Geschehen, jedoch führte der Siebenjährige Krieg in Nordamerika (1754–1763) das Ende der französischen Epoche herbei. Mit Erfolg verlangten die in Kanada verbleibenden Franzosen, ihre Konfession behalten zu dürfen, womit zahlreiche von katholischen Missionaren bekehrte Indianer ebenfalls katholisch blieben. Außerdem setzte sich auf der Ebene der Mission die Konkurrenz uneingeschränkt fort und trägt noch heute zu einem konfessionellen Flickenteppich bei vielen First Nations bei. Die Verbindungen zwischen französischen Männern und indianischen Frauen waren so zahlreich, dass ihre Nachkommen eine eigene Nation bildeten, die Métis.
=== Fernwirkungen ===
Währenddessen veränderten Pferde (Mustangs), die aus europäischen, vor allem spanischen Beständen stammten, die Kultur der Prärie radikal. Die Möglichkeit, beritten und damit vergleichsweise bequem Büffel zu jagen, sorgte zum einen dafür, dass mehr Indianer in die Prärie zogen, zum anderen erlaubte das Pferd die Besiedlung und Durchquerung bisher zu menschenfeindlicher Gebiete. Dazu nutzten sie spezielle Tragegestelle, so genannte Travois, die die Pferde ziehen konnten. Großräumige Wanderungen wurden möglich, ebenso Kriege.
Mächtige Stämme des Ostens stießen ganze Völkerwanderungen an, die Stämme wie die Dakota westwärts trieben. Der Pelzhandel mit den Franzosen führte zu einer Konföderation mit den Anishinabe, die von 1679 bis 1736 bestand. Danach wurden die Dakota von ihren ehemaligen Bundesgenossen aus den nördlichen Gebieten vertrieben und ein Teil fand bis 1780 eine neue Heimat im heutigen südlichen Minnesota. Ein Teil spaltete sich in Lakota und Nakota auf. Besonders die Lakota stiegen dank französischer Gewehre und Pferde aus dem Süden zu einem mächtigen Stamm auf, der 1765 die Black Hills eroberte.
Der Pelzhandel sorgte auch um die Großen Seen für Rivalitäten und für Waffen, mit denen man sie austragen konnte. Doch wurden die Irokesen, die sich um 1570 in einer Stammesliga verbanden, schon früher zu Feinden der Wyandot und der Algonkin, die mit den Franzosen verbündet waren. Missionare unterhielten dort von 1639 bis 1649 die Missionsstation Sainte-Marie-au-pays-des-Hurons. Zwischen 1640 und 1701 vernichteten die fünf, später sechs Stämme der Irokesenliga die Wyandot, Tionontati und Erie mit Arkebusen, die sie durch den niederländischen Pelzhandel erhalten hatten. Erst als die Niederländer, seit 1623 mit einer Pelzhandelsstation namens Fort Orange vertreten, sich zurückzogen – wohl deshalb, weil die Biberpopulationen nach 1640 südlich der Großen Seen zusammenbrachen –, ebbten die Auseinandersetzungen ab. Dennoch setzten die Irokesen weitere Wanderungen nach Westen in Gang und die französischen Siedlungen waren stark gefährdet. Daher mussten alle Franzosen zwischen 16 und 65 fortan Waffendienst leisten, Montreal war zeitweise völlig isoliert. 1682 erfolgte die Gründung von St. Louis. Erst 1701 unterzeichneten Engländer und Franzosen sowie 39 Häuptlinge einen Friedensvertrag (Großer Friede von Montreal).
Auch bei den in Ohio lebenden Fox wurden die Franzosen, die ihren Pelzhandelsweg Richtung Mississippi kontrollieren wollten, in lokale Feindseligkeiten gezogen, die sie zu ihren Gunsten ausnutzten. 1701 gründeten sie Fort Pontchartrain du Détroit. 1722 belagerten die Fox das Fort, doch die mit den Franzosen verbündeten Stämme wie Wyandot und Ottawa, vernichteten die Fox und die Mascouten fast vollständig.
Mit dem Franzosen- und Indianerkrieg (1754–1763), den sowohl Franzosen als auch Engländer mit zahlreichen indianischen Verbündeten führten, verlor Frankreich die Herrschaft in Nordamerika, zuerst 1758 im Ohiotal, dann 1761 in Québec. Daran änderte auch die kurzlebige Herrschaft über Louisiana von 1800 bis 1803 nichts.
== Englische Kolonialherrschaft (ab 1756/63) ==
Nachdem Großbritannien die alleinige Kolonialherrschaft in Kanada übernommen hatte, war für wenige Jahrzehnte der gesamte Osten Nordamerikas britisches Gebiet. Doch wurde in der Königlichen Proklamation von 1763 den Kolonisten die Siedlung jenseits der Appalachen untersagt. Das Verbot wurde allerdings zunehmend ignoriert und brachte Siedler und Kolonialmacht in einen Interessengegensatz. Dazu kam es 1763 bis 1766 zum größten Indianeraufstand. Sein Anführer war Pontiac (eigentlich Obwandiyag), ein Abkömmling der Ottawa, deren Häuptling er 1755 wurde, und der Anishinabe (von denen heute Teilstämme in Kanada leben). Seine Niederlage öffnete den Siedlern das Land am Ohio und seinen Nebenflüssen bis zum Oberen See. Mit der Unabhängigkeit der USA stand den Siedlern auch nicht mehr die Proklamation von 1763 im Weg.
Im verbliebenen Kolonialgebiet im Norden präsentierte sich die Lage anders. Hier hatte die königliche Proklamation ein den Indianern reserviertes Gebiet geschaffen, das sich zwischen den Großen Seen bis Ruperts Land erstreckte, das der Hudson’s Bay Company unterstand. Zwischen deren Gebiet und der Provinz Québec gehörte auch eine Pufferzone zwischen Neufundland und Lake Nipissing zum Indianerreservat. Doch bereits im Québec Act von 1774 wurde diese Pufferzone eingezogen und von den Indianern erwartet, ihre Rechte auf das Land in großem Umfang aufzugeben, um der Besiedlung durch Europäer Platz zu machen. Sie wurden jedoch als Vertragspartner und Verbündete angesehen, und das Land wurde ihnen in Verträgen abgekauft. Dabei durfte nur die Krone als Käuferin auftreten. Den Impuls zu diesem Gesetz hatte die Sorge gegeben, die in den späteren USA entstandene Unruhe könne auf Québec und seine französischsprachige Bevölkerung übergreifen, die immer noch die Mehrheit bildete.
Mit der Festigung der britischen Kontrolle wurde diese Politik langsam durch die einer Assimilierung der Indianer ersetzt. Nach dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und dem Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812 bis 1814 wurden die Indianer in Kanada (zu dieser Zeit noch Quebec genannt) von denen in den USA getrennt. Dazu gehörten vor allem die Gebiete am oberen Mississippi und am Ohio, die 1774 mit dem Quebec Act an Quebec gegangen waren. Die Gebiete der Mi'kmaq, der Abenaki und Anishinabe, der Seneca und Ottawa, später (1846) der Blackfoot usw. bis hin zu einigen Küsten-Salish-Gruppen am Pazifik wurden zerschnitten. Stämme wie die Mohawk waren aus dem Blickwinkel Londons wichtige Verbündete im Kampf gegen die amerikanischen Rebellen, nachdem sie aus den USA hatten fliehen müssen.
Die Erschließungs- und Besiedlungsbemühungen richteten sich nun wieder – unter völlig verschiedenen Interessenlagen, Bedingungen und mit verschiedenen Mitteln – nach Westen. Ende des 18. Jahrhunderts geriet durch Forschungsexpeditionen und im Verlauf eines Wettlaufs zwischen Spanien, Russland – die russische Handelsgesellschaft unterhielt ihr südlichstes Fort im späteren Fort Ross in Kalifornien (1812–1841) – und Großbritannien, die Pazifikküste in den Blickpunkt. Auch dort führte der Pelzhandel mit seinen enormen Gewinnmöglichkeiten zu einem sprunghaften Anstieg des Handels mit Fischotter- und Biberpelzen. In den Jahren 1790/94 einigte man sich mit Spanien darauf, keine Handelskolonien einzurichten. Doch moderne Waffen und die Reichtümer aus dem Pelzhandel veränderten sowohl die Strukturen innerhalb der Stämme, als auch die regionalen Machtverhältnisse. Einigen Häuptlingen wie Maquinna oder Wickaninnish gelang es, ein Handelsimperium an der Westküste von Vancouver Island zu errichten. Den Stämmen der Kwakwaka'wakw und der Haida weiter im Norden fielen auf ihren Raubzügen zahlreiche Sklaven in die Hände, während die Stämme der Küsten-Salish schon ab 1775 unter schweren Epidemien, vor allem Pocken, zu leiden hatten (siehe Pockenepidemie an der Pazifikküste Nordamerikas ab 1775).
Mit der fast vollständigen Ausrottung der Pelztiere verließen die Händlerschiffe wieder die Region und zogen weiter nordwärts. Sie kehrten erst in den 1820er Jahren zurück, denn die Hudson’s Bay Company errichtete einige Forts am Columbia River, dann in Oregon und im späteren British Columbia, und gründete schließlich 1843 Victoria. Sie war es, die auch im Binnenland zahlreiche Forts unterhielt, vor allem seitdem sie 1821 zwangsweise mit der North West Company vereinigt worden war. Schließlich erhielt sie auch noch eine Lizenz für das Nordwestliche Territorium, das größte Gebiet und die größte Zahl an Völkern, die jemals einer privaten, monopolistischen Handelsgesellschaft unterstellt wurden. Mit dem Grenzvertrag von 1846, der den Kontinent entlang des 49. Breitengrades zerschnitt und die Indianer dem britischen Einflussbereich bzw. den USA zuwies, wurden zahlreiche Stammesgebiete zerschnitten, Handel und Wanderungen zunehmend erschwert.
Die Hudson’s Bay Company bemühte sich unter Gouverneur James Douglas, nachdem sie schon Oregon und Washington hatte räumen müssen, die britische Herrschaft im Norden gegen die massive Zuwanderung von Goldsuchern durchzusetzen. Tausende zum Teil völlig skrupellose Glücksritter zogen Richtung Klondike und in die Cariboo-Goldgebiete. Die First Nations entlang der Route nach Norden litten vor allem unter den eingeschleppten Krankheiten, wie Pocken (vor allem 1862), aber auch unter der rücksichtslosen Vorgehensweise der vor allem aus Kalifornien kommenden Durchreisenden. Douglas schloss hingegen 14 Verträge mit Stämmen auf Vancouver Island, die bis heute gültig sind. 1858 wurde die Insel Kronkolonie, dann 1866 mit British Columbia vereinigt.
Doch bereits 1857 verließ die Provinz Kanada die seit 1763 verfolgte Linie der Anerkennung der Indianernationen als prinzipiell gleichberechtigte Vertragspartner mit dem Gesetz zur stufenweisen Zivilisierung, womit erstmals die Regierung bestimmte, wer „Indianer“ war, und das Ziel vorgegeben wurde, Indianer möglichst zu assimilieren.
== Grundlegende kulturelle Missverständnisse ==
Die unerwartete Begegnung und die unerklärliche Fremdheit, ihre technologische Überlegenheit, später ihr erstaunlich großes Menschenreservoir führten oftmals dazu, dass man die Weißen für übernatürliche Wesen hielt. So lag es nahe, wie es anscheinend die Nuu-chah-nulth bei der Begegnung mit James Cook taten, ihnen, den menschenfressenden übernatürlichen Wesen, zur Beschwichtigung Leichenteile anzubieten und dazu die Geste des Essens zu vollführen. Genauso baten sie, um sich vor den übernatürlichen Kräften in den „schwimmenden Häusern“ schützen zu können, hölzerne Ahnensymbole mitbringen zu dürfen.
Die überwiegend friedliche Reaktion kann dabei nicht einfach als Zustimmung zu den aufgedrängten Zivilisationsprogrammen gedeutet werden. Sie war eher selektiv, oft auch eine Form kulturellen Widerstands. Dazu passen Revitalisierungsbewegungen, in denen eine Abkehr von der als Bedrohung empfundenen Überfremdung durch die Kolonisten an den Tag gelegt, zugleich aber Teile ihres Wertsystems integriert wurden.
In den Epidemien (v. a. Pocken, aber auch Masern und Grippe, vor allem der spanischen Grippe) sahen viele einen gewaltigen Schadenzauber der Fremden, und zugleich erschütterte er das Vertrauen in die eigene Religion. So verstärkte sich der Heil(ung)saspekt im indigenen Zeremonialismus, das Christentum wurde als eine Form der religiösen Heilung betrachtet und zeremoniell angereichert. Den Kolonisten war das massenhafte Sterben der Indianer eine Art ihnen gewogenen Schicksals, wenn nicht ein Fingerzeig Gottes.
Selbst die Vertragsverhandlungen mit ihrer fast protokollarischen Abfolge von Reden, dem Austausch von Wampums, Geschenken und schließlich der Besiegelung von Verträgen, deuteten die Vertragspartner völlig verschieden. Während für Europäer das Zeremoniell nur dem Zweck diente, einen Vertrag zu erlangen, so war für die Indigenen das Zeremoniell selbst die politische Handlung. Folgerichtig bedeutete ihnen der Inhalt auf dem Papier wenig, abgesehen davon, dass für sie oftmals Stammesbesitz gar nicht veräußerlich war und oft gar kein Konzept dieser Art von Eigentumsvorstellung an Boden bestand. Dies wiederum wurde als fehlende Vertragstreue gedeutet. Ähnliche Konflikte entstanden im Zusammenhang mit der Eigentumsfrage überwiegend aus kulturellen Missverständnissen.
== Kanada (seit 1867/71) ==
Seit dem British North America Act und der Gründung der Kanadischen Konföderation 1867 wurden die Verträge nicht mehr mit Großbritannien, sondern mit der kanadischen Bundesregierung ausgehandelt. Im Vergleich mit den Indianerkonflikten in den USA gab es in Kanada relativ wenig Blutvergießen. Allerdings waren Indianer durch den Rückgang der Büffelherden (vor allem zwischen 1875 und 1879), die ihre Nahrungsgrundlage bildeten, oft gezwungen, ihr Land gegen geringe Gegenleistung zu veräußern. Dieses Land sollte an Siedler vergeben werden, um die vor allem in Großbritannien geworben wurde.
=== Verträge, Indianergesetz, Reservate, Widerstand (etwa 1871–1930) ===
1871 bis 1875 wurden mit den betroffenen Indianern der Prärie die ersten fünf der elf so genannten Numbered Treaties (nummerierte Verträge) ausgehandelt, in denen sie Landrechte aufgaben. Als Gegenleistung erhielten sie Reservate als Lebensraum, Entschädigungen und vor allem Jagd- und Fischereirechte in den abgetretenen Gebieten. Dazu sollten Hilfen bei der Umstellung auf Landwirtschaft kommen.Im Indian Act von 1876 wurde definiert, wer als „Indianer“ angesehen wurde, und Indianer zu Schutzbefohlenen des Staates erklärt. Zudem wurden die Stämme den Entscheidungen der Indian Agents unterworfen, die ihnen in den folgenden Jahren Reservate zuwiesen. Dabei hing es von zahllosen Zufällen ab, wie „großzügig“ diese Reservate ausfielen. So konnte die einer Familie zugewiesene Fläche zwischen kaum 20 ha und mehreren hundert Hektar differieren.
Der Indianeragent und Vizegouverneur von Saskatchewan, Manitoba und der Nordwest-Territorien, Edgar Dewdney (1879/81–1888), sollte die nach Kanada geflohenen Sioux unter Sitting Bull (Tatanka I-yotank) zwingen, Kanada zu verlassen. Um Fort Walsh in Saskatchewan lagerten zahlreiche Cree und Assiniboine. Noch schlechter ging es den Blackfoot. 1881 ermutigte Häuptling Big Bear die Indianer von Vertrag Nummer 4 und Nummer 6, sich in den Cypress Hills zu versammeln. Doch Dewdney verweigerte Vertragsverbesserungen und der Hunger zwang sie zum Rückzug.
Schließlich begann unter seiner Regie und mit Hilfe der Kirchen die Einrichtung von Schulen für die Indianerkinder außerhalb der Reservate. So begann eine Politik der zwangsweisen Eingliederung in die kanadische Kultur. Bald wurden Internate (Residential Schools) eingerichtet, in die indianische Kinder zwangsweise verbracht wurden, wo sie bei Strafe ihre eigene Sprache nicht mehr sprechen durften, um sie von ihrer angestammten Kultur und ihrer Familie zu entfremden. Dabei kam es von Seiten der sich in der Regel rassisch, kulturell und sozial höherwertig ansehenden Lehrpersonen vielfach zu sexuellen und anderen körperlichen und psychischen Übergriffen an den Schülern und zur Indoktrination der allein maßgebenden Werte der Europäer.
Dewdney verfolgte daneben das Ziel, Lebensmittel nur gegen Arbeit auszuteilen. Doch im harten Winter 1884/85 fürchtete man gewaltsame Ausbrüche, und tatsächlich rebellierten die Métis im März 1885. Der Vizegouverneur ließ Tabak und Lebensmittel austeilen, um zu verhindern, dass sich Indianer der Nordwest-Rebellion anschlossen. Wandering Spirit (1845–1885) führte jedoch am 2. April eine Cree-Schar zum Frog Lake, wo neun Männer getötet wurden, unter ihnen der Indian Agent. Nach dem Aufstand, dessen letzte Kampfhandlung die Schlacht am Loon Lake am 3. Juni 1885 war, wurden die Bestrebungen nach größerer Autonomie unterdrückt, die Schulen weiter ausgebaut, die Kontrollen verschärft und Aufständische hart bestraft. Wandering Spirit und sieben weitere Indianer wurden hingerichtet. Außerdem sollten individuelle Farmen das „Indianersystem“ nun endgültig unterminieren. Als Dewdney 1888 Innenminister wurde, führte er noch bis 1892 das Amt des superintendent general of Indian affairs.
Die Indianer versuchten zunehmend, sich auf der Ebene der aufgezwungenen Mächte zu wehren, nicht mehr durch passiven Widerstand oder kleine Scharmützel, wie im Chilcotin-Krieg von 1863/64 oder in den größeren Gefechten unter Häuptling Big Bear. So reiste etwa Squamish-Häuptling Joseph Capilano 1906 nach London, um König Eduard VII. eine Petition zu überreichen.
Dennoch erleichterten Ergänzungen zum Indianergesetz (1905 und 1911) die Enteignung von Reservaten. Rund die Hälfte des Reservats der Blackfoot wurde 1916/17 verkauft. Der Widerstand der Kainai, die zu den Blackfoot gehören, wurde durch Hunger gebrochen. In British Columbia kam es zwischen 1915 und 1920 zu Reservatsverkleinerungen (s. McKenna-McBride-Kommission) und die Provinzregierung genehmigte immer wieder Enteignungen für Straßenbauten, Industrieanlagen, Stromleitungen, Stauseen usw. Dabei wies sie zahlreiche Unterhändler ab, die nach Victoria gekommen waren. Um diese Zeit wurden letztmals zwei neue Numbered Treaties ausgehandelt, da auf den Gebieten im Westen Kanadas Gold und andere Rohstoffvorkommen entdeckt wurden. Die William Treaties von 1923 bezogen sich auf Gebiet in Ontario. Schließlich musste jeder, der für längere Zeit sein Reservat verlassen wollte, einen Pass bei sich führen. 1930 gestattete das Natural Resources Transfer Agreement den Zugriff der Provinzen auf Kronland. Doch dabei sollten den Indianern weiterhin alle Rechte auf Jagd, Fallenstellerei und Fischfang zur Selbstversorgung zustehen. Dies sollte ganzjährig und auf unbesetztem Kronland, genauso wie überall da gelten, wo die Indianer Zugangsrechte hatten.Die Politik der Assimilierung sollte, wie es der Dichter und Leiter des Indianerministeriums (1913–1931) Duncan Campbell Scott 1931 ausdrückte, erst enden, „wenn die Indianer in die Zivilisation voranschreiten und schließlich als ein separates und andersartiges Volk verschwinden, nicht durch Rassenauslöschung sondern durch schrittweise Angleichung an ihre Mitbürger“. Sie wurde bis in die späten 1960er Jahre fortgeführt. In der Fassung des Indian Act von 1927 wurde Indianern verboten, eine politische Organisation zu bilden, um ihre Interessen zu vertreten. Die Residential Schools bestanden bis etwa 1970, die letzte wurde 1996 geschlossen.
=== Kampf um gleiche Rechte (seit dem Ersten Weltkrieg) ===
==== Vorrang der Stammesräte, Abtrennung von Métis und Inuit ====
Bereits während des Ersten Weltkriegs kam es zu regionalen Versuchen, den Widerstand gegen Reservatsverkleinerungen organisatorisch zusammenzufassen, ohne dass es, wie in den USA, bereits zu pan-indianischen Organisationsversuchen kam (Brotherhood of North American Indians). So entstanden 1916 die Allied Tribes of British Columbia (ATBC), eine aus 16 Stammesgruppen bestehende Verbindung der Indian Rights Association mit den Interior Tribes of British Columbia, um sich gegen die Beschlüsse der McKenna-McBride-Kommission zur Wehr zu setzen. Doch mit dem Verbot von 1927, Geldmittel zur Finanzierung von Gerichtsverfahren zu beschaffen, löste sich die Organisation wieder auf. 1919 gründete der Mohawk-Häuptling und Kriegsveteran Frederick Ogilvie Loft (1861–1934) analog zur League of Nations (Völkerbund) die League of Indians in Canada in Ontario. Ihr gelang es sogar zeitweilig Indianer des Westens einzubeziehen, obwohl das zuständige Ministerium versuchte, Loft seinen Status als Status-Indian zu entziehen.Im Dezember 1926 entstand als Reaktion auf die Erschwerung von Grenzübertritten zwischen Kanada und den USA die Six Nations Defense League, die spätere Indian Defence League of America. Die von dem Tuscarora-Häuptling Clinton Rickard initiierte Organisation setzt sich bis heute für die Stämme ein, deren traditionelles Gebiet durch die Grenze zerschnitten worden ist.Auch nach 1945 scheiterten Versuche, wie die North American Indian Brotherhood, die 1946 entstand, an mangelnder Unterstützung und Repression (v. a. in Saskatchewan), dazu kamen Organisationsprobleme, und die Bruderschaft zerfiel nach 1950 in regionale Fraktionen. Dagegen entstanden mit dem Dakota Ojibway Tribal Council (1974) und bei den Nisga’a die ersten Stammesräte (tribal councils), eine Organisationsform, die inzwischen das ganze Land erfasst hat.
==== Verstärkter Assimilationsdruck ====
Obwohl Untersuchungen die zerstörerischen Folgen der Assimilationspolitik feststellten, forderten angesehene Anthropologen wie Diamond Jenness 1947 verstärkte Bemühungen, die als Unmündige behandelten dem euro-kanadischen Lebensstil zuzuführen. Ende der 1940er Jahre machte Saskatchewan hierin den Anfang. Einfügung in die Erwerbsarbeit und Abwanderung in die Metropolen galten als fortschrittliche Ziele, auch gegen den Widerstand der Ureinwohner. Dazu gehörte aber auch die Gewährung von Rechten, zunächst des Wahlrechts auf Provinzebene (British Columbia 1947, Manitoba 1952, Ontario 1954), für Statusindianer, die nicht im Reservat lebten 1950 auch auf Bundesebene. 1951 wurden die Verbote von Potlatch und Sonnentanz aufgehoben. 1960 durften alle Indianer erstmals an Wahlen des kanadischen Unterhauses teilnehmen, ein Recht, das die US-Indianer bereits seit fast 40 Jahren besaßen. 1969 forderte der damalige Minister of Indian Affairs, Jean Chrétien, die Aufhebung des Indianergesetzes und die Einziehung aller Reservate. Die weltweite Dekolonialisierung entzog der Regierung den argumentativen Boden für die Aufrechterhaltung kolonialer Muster, doch wehrten sich die Ureinwohner gegen die ersatzlose Streichung ihrer Rechte.
1961 entstand der National Indian Council, der immerhin drei der vier Hauptgruppen der Indianer vertrat, die Vertrags- und Statusindianer (treaty and status), die Nicht-Status-Indianer – von ihnen zählte man im Jahr 2007 über 126.000, während es sechs Jahre vorher nur 104.000 waren – und die Métis – bei denen man knapp 300.000 bzw. 291.000 zählte. Oberste Priorität hatte die Einheit der genannten Völker. Doch 1968 sprengten die divergierenden Interessen die Organisation und es entstanden, als Vertreter der Vertrags- und Status-Indianer, die National Indian Brotherhood, während die beiden anderen Gruppen sich im Native Council of Canada verbanden. Hieraus ging der Congress of Aboriginal Peoples, (CAP) hervor, der sich als Sprecher der Nicht-Status-Indianer, aber auch der außerhalb der Reservate lebenden (Off-Reserve Indians) und der verstreuten Indianer einschließlich der Métis sieht. In dieser Zeit wurden weiterhin Forderungen nach vollständiger Assimilation laut.
1962 kritisierte erstmals eine Gruppe von Anthropologen das Konzept der Assimilierung (Dunning). Die von Harry Hawthorne in Regierungsauftrag durchgeführte Studie von 1966/67 forderte ihre Rücknahme, die Hawthorne schon 1958 gefordert hatte. Allerdings forderte er eine Integration in Form aller Rechte und Pflichten eines nichtindigenen Kanadiers plus bestimmte indigene Rechte (Citizen plus genannt). Eine Doppelstrategie sollte die Reservatsindianer unterstützen, die städtischen integrieren. Die Häuptlinge Albertas unterstützten ihn ab 1970. Nach dem Scheitern Trudeaus in der Indigenenpolitik setzte ein Richtungswechsel ein. Den Stämmen wurden mehr Rechte eingeräumt, als erstes wurden die Schulen in ihre Hände gegeben (ab 1971).
==== Landansprüche, Versammlung der First Nations ====
1973 gelang es erstmals Indianern, genauer gesagt Frank Calder von den Nisga’a, vor dem Obersten Gerichtshof Kanadas Landansprüche durchzusetzen, die 2000 in einen Vertrag umgesetzt wurden. Der Gerichtshof erklärte die Bestimmungen der königlichen Erklärung von 1763 für weiterhin bindend. Dazu kam eine erfolgreiche Kampagne gegen die Diskriminierung von Ehen zwischen indianischen Frauen und nichtindianischen Männern. Die Indianerinnen und ihre Kinder verloren laut Indianergesetz ihren Status als Indianer. Heirateten Indianer jedoch Nichtindianerinnen, so verloren die Männer nicht ihren Status. Dies wurde 1985 dahingehend geändert, als auch die Indianerinnen und ihre Kinder den Status auf Antrag behalten konnten. Ihre Kinder behielten diesen Status jedoch nur, wenn sie wiederum registrierte Indianer heirateten. Diese Bestimmungen sorgen einerseits dafür, dass diese als „Bill C-31 Indians“ bezeichnete Gruppe nach zwei Generationen weitgehend verschwunden sein wird, andererseits widerspricht die Entscheidung Grundrechten, wie der Oberste Gerichtshof im Juni 2007 befand (McIvor Decision). Die Bezeichnung „C-31“ geht darauf zurück, dass 1985 die entsprechende Gesetzesvorlage die Bezeichnung „Bill C 31“ trug. Sie sorgte für etwa 117.000 Wiedereintragungen in die Listen der anerkannten Indianer. Im April 2009 entschied der Oberste Gerichtshof von British Columbia, dass alle Diskriminierungen aus dem Indian Act innerhalb eines Jahres zu entfernen seien, Anfang Juni sagte der Leiter des zuständigen Ministeriums die Umsetzung zu.Auch innerhalb der Indianerorganisationen zeigte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, dass die Rollenverständnisse zwischen den Geschlechtern sich zu ändern begannen. Agnes Fontaine, die Mutter Phil Fontaines, wurde 1952 als erste Frau Kanadas zum band councillor gewählt. Weitere Kampagnen brachten Bildungs-, Gesundheits- und Wirtschaftsprobleme in das Bewusstsein der kanadischen Öffentlichkeit. Dazu trug auch die First Nations University of Canada bei, die aus dem 1976 gegründeten Saskatchewan Indian Federated College hervorging, und einige private Bildungsinstitute.
Die Bewegung für die Rechte der First Nations nahm in den späten 1970er Jahren einen Aufschwung, als die kanadische Regierung eine von Großbritannien unabhängige Verfassung plante. Aus der Befürchtung heraus, dass die Rechte der First Nations übergangen würden, gingen 1979 über 300 Indianer nach London, um dagegen zu protestieren.
Doch Ende der 1970er Jahre zeigten sich innerhalb der politischen Organisationen ausgeprägte Regionalisierungstendenzen. Es bildete sich 1982 eine neue, den Bedürfnissen der zahlreichen Gruppen besser angepasste Gesamtvertretung der indianischen Völker Kanadas, die Versammlung der First Nations. Sie vertrat nicht mehr so sehr die Regionen, sondern mehr die führenden politischen Kräfte der Stämme und ihrer Organisationen. Überspitzt gesagt, ist sie das Koordinationsbüro der Häuptlinge, die wiederum von ihren Stämmen auf sehr verschiedene Weise bestimmt werden. Im Verfassungsgesetz von 1982 wurden die Rechte der First Nations zwar anerkannt, sie selbst waren jedoch erst ab 1983 am Verfassungsprozess beteiligt. Sektion 35 der Verfassung legte 1982 fest, dass die Rechte der First Nations, ob sie nun einen separaten Vertrag hatten oder nicht, Gültigkeit haben. Doch es war und ist die Unsicherheit im Detail, die Investitionen und wirtschaftliche Entwicklung behindern. Insofern sind die Vertragsverhandlungen für die Rechtssicherheit von größter Bedeutung.
Dr. David Ahenakew wurde 1982 zum ersten National Chief to the Assembly of First Nations gewählt. Dennoch kam der Prozess kaum voran. Es wurden mehrere Konferenzen mit dem Premierminister, den Provinzen und den Vertretungen der Ureinwohner abgehalten (allein vier First Ministers Conferences on Aboriginal Rights von 1983 bis 1987). Trotz einer Verbesserung der Beziehungen lehnten die Regierungen von Kanada und der Provinzen, allen voran Saskatchewan, British Columbia und Neufundland, letztendlich das Recht der First Nations auf eine eigene Regierung ab. Dennoch erreichten die Frankokanadier für ihr Gebiet Sonderrechte, die anderen Nationen schwerlich vorenthalten werden konnten (Meech-Lake-Vereinbarung im Jahr 1987, Charlottetown-Vereinbarung, abgelehnt durch ein Referendum am 28. Oktober 1992) – jedenfalls nicht auf Dauer. Die Landansprüche erhielten den gleichen Verfassungsschutz wie die abgeschlossenen Verträge, und Ontario, Manitoba, Neubraunschweig unterstützten den Anspruch auf Selbstregierung. Zur genauen Bestimmung der Landansprüche wurde 1991 die in Ottawa ansässige Indian Claims Commission eingesetzt.
Übernational gelang eine gewisse Form der Anerkennung durch das Freihandelsabkommen mit den USA, dazu kam harsche Kritik seitens der UNO mit Blick auf die Politik gegenüber Ureinwohnern. Gegen den Widerstand der kanadischen Regierung, aber auch derjenigen der USA, Australiens und Neuseelands, verabschiedete die UNO am 13. September 2007 eine Resolution, in der nicht nur die Beseitigung jeder Benachteiligung gefordert wird, oder das Recht auf Mitsprache in sie betreffenden Angelegenheiten, sondern auch das Recht „anders zu bleiben“ (to remain distinct). Den kanadischen Botschafter störten vor allem die Passagen, die Boden und Rohstoffe betreffen und in denen Mitspracherechte gefordert werden. Gerade bei der Rohstoffgewinnung wird auf indigene Rechte – trotz der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs – keine Rücksicht genommen, vor allem auf der Ebene der Provinzen, wie die Inhaftierung des Häuptlings der Ardoch Algonquin in der Provinz Ontario im Februar 2008 zeigte. Australien und Neuseeland revidierten inzwischen ihre Position, Kanada folgte im November 2010.
=== Aufstände und Selbstregierung, erste Verträge von Nation zu Nation (seit etwa 1990) ===
Vom 11. Juli bis zum 26. September 1990 kam es zu einem Aufstand der Mohawk nahe der Stadt Oka in Québec. Diese Oka-Krise hatte sich an Auseinandersetzungen mit Bürgern der Stadt entzündet. Nach Ablauf eines Jahres veröffentlichte eine Kommission einen Bericht, der die Existenz der Probleme der First Nations bestätigte. Dazu gehörten hauptsächlich Armut, schlechte Gesundheit, Alkohol- und Drogenprobleme, das Auseinanderbrechen von familiären Strukturen und eine hohe Selbstmordrate. Die Kommission empfahl der Regierung, eine faire und dauerhafte Grundlage der Koexistenz mit den First Nations zu schaffen, darunter materielle Unterstützung zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse und die Schaffung eines eigenen Parlaments zur Vertretung ihrer Interessen. Offenbar war die Oka-Krise die erste gewaltsame Auseinandersetzung, die auch in den nationalen Medien eine Rolle spielte. Frühere Auseinandersetzungen, wie am Fraser in British Columbia um 1970 füllten nur die lokalen Blätter. 1995 kam es wieder zu Unruhen, diesmal in Ontario. Bei der Ipperwash-Krise kam Dudley George ums Leben, ein Angehöriger der Ojibwa.
1990 war die kanadische Regierung unter Brian Mulroney in Bedrängnis, da es Probleme mit den französischsprachigen Gebieten gab, die sich beim Verfassungsprozess übergangen fühlten. Daher suchte Mulroney die Unterstützung der First Nations und versprach die Einrichtung einer Kommission, die als Erasmus-Dussault commission bekannt wurde. Sie schlug 1996 die Selbstregierung der Indianer vor. Die Regierung sollte auf einer nation-to-nation basis verhandeln. Außerdem schlug sie vor, mit bis zu 2 Milliarden kanadischer Dollar eine Angleichung der Lebensverhältnisse an den Landesdurchschnitt zu forcieren.
1993 kam es in British Columbia zu ersten Vertragsverhandlungen mit den First Nations, von denen als erste die Nisga’a im Norden der Provinz einen endgültigen Vertrag erhielten. Im Territorium Yukon nahmen die meisten Stämme nach 1973 Verhandlungen mit den Regierungen in Whitehorse und Ottawa auf, die zu komplizierten Verträgen führten. Darin fanden sich Regelungen zum Siedlungsland, das den Stämmen zustehen sollte, vielfach erhielten sie Jagdrechte im gesamten traditionellen Gebiet, in einem kleineren Gebiet wurden sie an der Nutzung der Oberfläche, in einem noch kleineren auch an den Bodenschätzen beteiligt. Allerdings sollte bei deren Ausbeutung auf indianische Arbeitskraft zurückgegriffen werden. Innerhalb des engeren Stammesgebiets besteht eine eigene Gesetzgebung, im Territorium eine verbesserte Repräsentation. Auch flossen nun Schutzgebiete und historische Stätten in die Regelungen ein, hinzu kam die Förderung der regionalen Kulturen (dazu exemplarisch).
Anfang 1998 entschuldigte sich die kanadische Regierung formell bei den Ureinwohnern für die Art und Weise, wie sie sie in der Vergangenheit behandelt hatte. Auch die Kirchen haben sich für die Verhältnisse in den Residential Schools entschuldigt, eine Entwicklung, die jüngst auch die Vereinigten Staaten erfasst hat. Im Januar 2007 ernannte die Anglikanische Kirche von Kanada erstmals einen Bischof für alle Indigenen. Am 11. Juni 2008 entschuldigte sich Premierminister Stephen Harper, vier Monate nach der Regierung Australiens, für die individuellen und kulturellen Folgen des Schulsystems.Dennoch setzte sich der Streit um die Rechte der Indianer fort. 1999 bis 2001 kam es in Neubraunschweig zu Ausschreitungen beim Streit um die Frage, ob die Mi'kmaq der Burnt Church First Nation auch außerhalb der Saison Hummer fangen dürfen. Diese Fischereifrage ist äußerst kompliziert und bis heute ungelöst. Im November 2009 klagten die Ahousaht, Ehatteshaht, Mowachaht/Muchalaht, Hesquiaht und Tla-o-qui-aht auf Vancouver Island auf Zulassung zum kommerziellen Fischfang (Ahousaht Indian Band And Nation v. Canada Attorney General, 2009 BCSC 1494).Ebenso grundsätzlich war die Frage, die 1995 im so genannten Gustafsen Lake Standoff in British Columbia gewalttätig aufgeworfen wurde. Hier ging es um Landansprüche der Shuswap am besagten See unweit 100 Mile House. Bei der einmonatigen Belagerung der Besetzer wirkten 400 Polizisten und fünf Hubschrauber mit, ein Mensch kam ums Leben. Einer der Besetzer, James Pitawanakwat, floh in die USA und erhielt dort – als erster und einziger Indianer – politisches Asyl. Im Urteil warf Janice Stewart vom Distriktsgericht in Oregon der kanadischen Regierung die Okkupation von niemals abgetretenem Land vor. Dass diese Frage keineswegs gelöst ist, zeigte zuletzt die Caledonia-Landbesetzung in Ontario, die im Februar 2006 bekannt wurde und Anfang 2008 immer noch andauerte, oder die Grassy-Narrows-Blockade, die seit 2002 besteht und erste Erfolge zeitigt.
Auch heute noch sind die Lebensverhältnisse vielfach prekär. 2005 erreichte die Trinkwasserkrise der Kashechewan First Nation nationales Medieninteresse, als eine Bakterienverseuchung in ihrer Wasserversorgung entdeckt wurde.
Ende 2005 lud Premierminister Paul Martin, zum ersten Mal seit den Verfassungsgesprächen in den 1980er Jahren, die Vertreter der First Nations zu einer First Ministers-Konferenz ein. Kurz vor seiner Abwahl als Premierminister versprach Martin im Abkommen von Kelowna, innerhalb der nächsten fünf Jahre fünf Milliarden Dollar zur Verbesserung der Lebensbedingungen der First Nations, Métis und Inuit zur Verfügung zu stellen. Von der konservativen Regierung unter Stephen Harper wurde das Abkommen jedoch fallen gelassen, in den Haushalten von 2006 und 2007 waren lediglich 150 bzw. 300 Millionen Dollar vorgesehen.
Andererseits sind die Vertragsverhandlungen zwischen Kanada und den Provinzen auf der einen Seite und den First Nations auf der anderen an einigen Stellen vorangekommen. In British Columbia wird dabei ein sechsstufiger Vertragsprozess verfolgt, den einige wenige Stämme bereits absolviert haben. So warten die seitens der Lheidli T'enneh in der Region Prince George und der Tsawwassen im Lower Mainland um Vancouver angenommenen Verträge nur noch auf die Ratifizierung durch das Parlament. Auch von den Nuu-chah-nulth-Stämmen haben sich fünf zu den Maa-nulth First Nations zusammengefunden und sich 2007 mit großer Mehrheit für einen Vertrag entschieden.
Dagegen wehren sich die benachbarten Ditidaht, genauso wie die Songhees und die Semiahmoo gegen die Abmachungen der Tsawwassen. Andere Stämme, wie die Kwakiutl oder einige Stó:lō-Stämme sind aus dem Vertragsprozess wieder ausgestiegen, weil erstere darin einen Bruch des Vertrags mit James Douglas sehen, oder andere darin eine schleichende Enteignung erkennen. Zwar sollen die Stammesgebiete erheblich vergrößert werden, doch wird ihr Besitz individualisiert. Bei den ärmeren Stämmen besteht damit die Gefahr, dass ihr traditionelles Gebiet Stück für Stück verkauft wird. Seitdem David Vickers, Richter am Obersten Gerichtshof, den Xeni Gwet'in Ende 2007 im Nemiah Valley westlich des Williams Lake rund die Hälfte ihres traditionellen Territoriums von 4.000 km² zugestanden hat, steht der gesamte Verhandlungsprozess wohl vor seinem Ende. Die Mi'kmaq auf Neufundland fanden hingegen 2011 Anerkennung, so dass dort mit der Qalipu Mi’kmaq First Nation der zahlenmäßig größte Stamm Kanadas entstand.
Letztlich ist die Regierung nie davon abgerückt, die Indianer zu individualisieren und zu assimilieren. Daher sind zwar alle Verbrechen gegen die Ureinwohner anerkannt worden, jedoch wurde der Versuch, eine ganze Kultur auszulöschen, nie verurteilt. Teile der kanadischen Bevölkerung scheinen hingegen die Ureinwohner als Teil ihrer eigenen, komplexen Kultur anzunehmen, viele glauben, dass gerade dies das Besondere an der kanadischen Kultur sei.
=== Verträge und ihre Folgen: die Cree im Norden Québecs (seit 1975) ===
Die Cree mit ihren 135 Stämmen stellen die größte Gruppe unter den First Nations dar und umfassen rund 200.000 Menschen. Das gigantische Baie-James-Wasserkraftprojekt mit Stauseen von über 15.000 km² betrachteten die rund 7000 Cree und 4500 Inuit, die an der Bucht und in der Region Nord-du-Québec lebten, als Bedrohung ihrer auf Jagd und Fallenstellerei beruhenden Lebensweise in ihrem rund eine Million km² umfassenden Gebiet. Ein Aufsehen erregender Prozess mündete 1975 in das Abkommen der Baie James und des Quebecer Nordens. 1984 wurden die Cree aus der Vormundschaft des Indianerministeriums formal entlassen, und sie besitzen seitdem alle Rechte der kanadischen Verwaltungseinheiten.
1991 unterzeichneten die Cree und Inuit einen Vertrag, der Kanada die Nutzung der Wasserkraft zugestand – gegen Kompensationszahlungen und Selbstverwaltungsrechte in einem Teil des Konventionsgebiets. Innerhalb eines Kerngebiets (etwa 1,3 % der Fläche, also ca. 14.000 km²), dem Gebiet ihrer neun Siedlungen, erhielten die Cree das alleinige Nutzungsrecht. In weiteren Gebieten hatten sie exklusive Jagd- und Fischrechte. Doch in rund 85 % des Vertragsgebiets haben sie nur einige Jagdprivilegien. Dazu bieten sich Beschäftigungsmöglichkeiten in der Verwaltung und in der Wirtschaft, in Gesundheitswesen, Umweltschutz bis zum Betrieb der Fluggesellschaft Air Creebec. Das Schulsystem vermittelt Sprache und Kultur der Cree.
Bei allen Fortschritten zeigt sich jedoch ein Problem: Die Zersplitterung und Individualisierung schreitet voran, eine neue Führungsschicht ist entstanden, die die Verwaltung dominiert. Daneben gehen immer weniger der traditionellen Jagd nach, während die Jungen weder in der einen noch in der anderen Gruppe vertreten sind. Dazu kommt, dass das Baie-James-Wasserkraftprojekt kritischer betrachtet wird. Der 2005 gewählte Grand Chief of the Crees of Quebec, Matthew Mukash, fordert die Förderung von Windkraftanlagen.
=== Trends ===
Es ist eine Vielzahl von Faktoren, die die Eigenständigkeit der Indianerkulturen bedroht. Zum einen sind dies Geschehnisse, die in der Vergangenheit liegen, die ihre Kultur unwiderruflich verändert und ihr zum Teil die materiale und Wissens-Grundlage entzogen haben. Zum anderen ist es weiterhin die ökonomisch motivierte Umwandlung ihrer natürlichen Umgebung (vor allem die Waldzerstörung, aber auch die Bedrohung der Fischbestände), zum anderen Armut und zugleich die Bildung neuer Eliten, und paradoxerweise mit beidem zusammenhängend, die Abwanderung gerade der Jüngeren und die Abhängigkeit der Verbliebenen von Staat und Industrie.
Drei markante Veränderungen der letzten Jahre sind dabei zum einen die Unterschutzstellung erheblicher Teile der alten Stammesgebiete als Provinzparks und Nationalparks, aber auch unter eigene Verwaltung, wie bei den Cree. Damit entsteht über Selbstverwaltung und Tourismus für viele Reservatsbewohner eine Verdienstmöglichkeit, die weder die Ressourcen im bisherigen Ausmaß zerstört, noch von staatlicher Wohlfahrt abhängig hält. Eine zweite Veränderung betrifft die kurz vor dem Durchbruch stehenden Verhandlungen zwischen diversen Stämmen und der kanadischen Regierung. So standen 2006 allein in British Columbia 57 First Nations in 47 verschiedenen Verhandlungen. Diese Stämme repräsentieren zwei Drittel der Bevölkerung der First Nations in der Provinz. Diese Verträge werden die Stammesgebiete zwar vergrößern, aber der bisher unverkäufliche Boden wird privatisiert. Damit würde er erstmals veräußerlich, was angesichts der Armut zahlreicher Gemeinschaften einer langsamen Auszehrung gleichkommen könnte. Damit kommt ein drittes Konzept ins Spiel, das vor allem die Tla-o-qui-aht seit 2005 vorangetrieben haben. Ihr Konzept zielt auf eine minutiöse Rekonstruktion der traditionellen Gesellschaft unter Zuhilfenahme aller Quellen, und auf ihre Wiederherstellung ab (vgl. Wiederherstellung der traditionellen Gesellschaft). Nomadische Gruppen, die schon dadurch kaum Beachtung fanden, dass sie nicht als Stämme anerkannt waren, wie die Kitcisakik in Québec, wurden in den letzten Jahren zur Sesshaftigkeit überredet, ihre Kinder werden weit außerhalb ihres Gebietes unterrichtet.
Dagegen stehen nach wie vor die teils wirtschaftlichen, teils humanitären Argumente für eine Integration der First Nations durch Privatisierung des Landeigentums. Dabei wird einerseits mit Ressourcenverschwendung argumentiert, andererseits mit der Frage, ob die Subventionierung gerade der meist ländlichen Gebiete nicht ökonomisch sinnlos sei, da die Städte die Motoren der modernen Wirtschaft seien. Zum dritten wird jede Form kollektiven Landeigentums mit dem in Nordamerika leicht verfangenden Vergleich mit den sozialistischen Systemen abgelehnt.
Eine Art Zwischenposition vertreten die Indianer, die innerhalb des Systems als Individuen aufsteigen, dabei aber ihre Herkunft nicht vergessen. Der erste indianische Vizegouverneur Kanadas, der Cree James Bartleman aus Ontario (2002–2007), wandte beispielsweise der Jugend seine Aufmerksamkeit zu und sammelte für die Schulen über eine Million gebrauchte Bücher, förderte Schreib- und Lesefähigkeit und brachte ihre Probleme verstärkt ins öffentliche Bewusstsein.
Die Frage, wovon die im Reservat lebenden Indianer leben werden, führt in den USA seit Jahrzehnten zu Kontroversen zwischen den staatlichen Institutionen, wirtschaftlichen Interessengruppen und sogar zwischen den Stämmen. Dies hängt damit zusammen, dass die dortigen Indianer seit 1988 Glücksspiel unter steuerlich günstigen Bedingungen betreiben dürfen. Die zahlreichen Casinos – allein in Kalifornien betreiben 60 der 109 anerkannten Stämme diese Mischung aus Entertainment, Tourismus und Glücksspiel – machen sich mittlerweile gegenseitig Konkurrenz. Noch ist die Situation in Kanada anders. Nur wenige Stämme betreiben ein Casino, doch 2008 kam es um das in Alberta seit dem 1. Januar 2008 gültige Rauchverbot zu ersten Auseinandersetzungen, hinter denen sich sehr grundsätzliche Fragen verbergen. Denn die Cree lehnen dieses Verbot ab und ziehen sich dabei auf die Rechtsposition zurück, ihr Reservat sei Bundesgebiet und unterliege daher nicht der Provinzgesetzgebung. Das River Cree Casino and Resort der Enoch Cree, direkt neben der Einkaufs-Mall von Edmonton gelegen, steht dabei seit Anfang 2008 im Mittelpunkt. Es wurde erst 2006 eröffnet und ist das erste von einer First Nation in Alberta betriebene Casino, genau in der Nachbarschaft des 1980 eröffneten ersten Casinos der Provinz. Auch hier sind bei Ausweitung der Betriebsgenehmigungen auf andere Stämme Konflikte analog zu denen in den USA absehbar.Die Frage, wer als Statusindianer Anerkennung findet, entscheidet nach wie vor das Department of Indian Affairs and Northern Development auf der Grundlage des Indianergesetzes. Seit 2007 versucht die Union of Ontario Indians, die 42 Stämme vertritt, durchzusetzen, dass die Stämme im Rahmen ihrer Selbstbestimmung festlegen, wer ein Indianer sei. Dazu wurde ein eigenes Bürgerschaftsgesetz entwickelt. Der Aufsicht durch das Department haben sich die Cree im Norden Quebecs, die Nisga’a Nation, die Tlicho First Nation in den Nordwest-Territorien und die meisten Gruppen im Yukon-Territorium entzogen.Seitdem im Laufe der Zwischenkriegszeit der Bevölkerungsrückgang gestoppt und in den 1960er Jahren die Kindersterblichkeit in den Reservaten drastisch zurückgegangen ist, steigt die Zahl der Indianer deutlich schneller, als die der übrigen kanadischen Bevölkerung. Damit erhalten Gesichtspunkte wie Bildung und Chancen, aber auch Teilhabe innerhalb der ethnischen Gruppen schnell wachsende Bedeutung, denn der Anteil der Jungen ist inzwischen sehr hoch. Die Zahl der Suizide allerdings – in den Medien wurde insbesondere der Stamm der Attawapiskat im Norden Ontarios bekannt – veranlasste die Bundesregierung 2016 dazu, die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker (Resolution 61/295 vom 13. September 2007), der mit Ausnahme von Kanada, den USA, Australien und Neuseeland alle Mitglieder zugestimmt hatten, in die Verfassung einzuarbeiten. Obwohl entsprechende Vorgaben bereits 2010 anerkannt wurden, sollen sie nunmehr rechtlich bindend werden.Dies gilt auch für den Zwang zu Konsultationen im Zusammenhang mit der Ausbeutung von Rohstoffen. Bereits die hohen Rohstoffpreise der Jahre ab 2007 zeigten, dass die First Nations im Besitz enormer Reichtümer sind. In Verbindung mit der zunehmenden Eigenständigkeit hat dies zur Folge, dass die Außenwirtschaftskontakte intensiviert werden. So finden sich die nördlichsten Stämme in Verbänden der arktischen Völker wieder. Im November 2008 besuchte eine Delegation mehrerer First Nations China, um eigenständig Kooperationen zu vereinbaren. Im Juni 2007 traf König Tuheitia Paki von den neuseeländischen Māori, genauer der aus 127.000 Menschen bestehenden Tainui-Stammesvereinigung, eine Delegation der Squamish und Nisga’a in Vancouver.Ein großes soziales Problem der First Nations ist das Verschwinden von Frauen und Mädchen aus ihrem sozialen Umfeld, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Die Regierung Justin Trudeau hat 2016, erstmals durch eine Bundesregierung, Schritte unternommen, um vergangene Fälle aufzuarbeiten und für die Zukunft Lehren daraus zu ziehen, mit dem Ziel, die Opferzahlen zu minimieren.
== Forschungsgeschichte ==
Peter Jones (1802–1856), ein Methodist und mütterlicherseits Angehöriger der Mississauga, auch Sacred Feathers genannt, schrieb bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ein Überblickswerk über die Ojibwa (History of the Ojebway Indians, 1861 publiziert). Weitere Laien, wie der Anglikaner Edward Francis Wilson (1844–1915) in Sault Ste. Marie und Charles M. Tate in British Columbia sammelten zahlreiche ethnologische Beobachtungen, so wie viele Missionare, wie etwa der Oblate Adrien-Gabriel Morice, umfangreiche Werke über die Sprachen veröffentlichten. Außerhalb Kanadas fand sich dabei ein erheblich größeres Interesse, als innerhalb des Landes. Sieht man vom Ethnologen aus Toronto Daniel Wilson (1816–1892) ab, stammten die meisten aus Europa. Hingegen war die Geschichte der Indigenen in einem beklagenswerten Zustand, wie etwa das 1915 erschienene Chronicles of Canada, The Dawn Of Canadian History, A Chronicle of Aboriginal Canada zeigt.Franz Boas und seine Schüler verhalfen der ethnologischen Forschung, die in Amerika eher als anthropology angelegt ist, zum Durchbruch. Der Neuseeländer Diamond Jenness befasste sich während des Ersten Weltkriegs mit Ojibwa- und Carrier-Gruppen. Der Franzose Marcel Giraud befasste sich umfassend mit den Métis. Zu diesen grundlegenden Arbeiten sind die von Marius Barbessu von der Université Laval zu rechnen.
Alfred G. Bailey aus Neubraunschweig kann als erster Ethnohistoriker gelten, der die historischen Quellen mit dem Blick eines Ethnologen auswertete. Eine weitere Wurzel der Geschichte der First Nations war die Militärgeschichte, wie sie etwa F. G. Stanley zur Nordwest-Rebellion der Métis verfasste, der en passant die Einflüsse der Métis auf die Frontiergesellschaft und von dort auf die allgemeine Gesellschaftsentwicklung untersuchte. Sieht man von Robert Allens His Majesty's Indian Allies ab, so wurde dieser Zweig jedoch kaum vertieft, im Gegensatz zu den USA.
Erst mit dem starken Anwachsen der Größe und Rolle der kanadischen Universitäten in den 1960er Jahren kam es zu zahlreicheren Forschungsvorhaben, vor allem im Bereich der Archäologie, wie etwa durch Bruce Trigger. Erst jetzt wurden die Indianer nicht mehr als eine „untergehende Rasse“ betrachtet, und auch die klassifikatorischen Aspekte herrschten nicht länger vor. Erste Kritik an der zerstörerischen Regierungspolitik wurde laut.
Cornelius Jaenen (Friend and Foe, Neufrankreich) und Robin Fisher (Contact and Conflict, British Columbia bis 1890) befassten sich mit der Frage der Kulturkontakte, Daniel Francis und Toby Morantz (zum Pelzhandel), Jennifer S. H. Brown (Strangers in Blood, Frauen im Pelzhandel) oder Sylvia Van Kirk (Many Tender Ties) setzten sich mit dem Pelzhandel auseinander, ebenso wie A. J. Ray (Indians in the Fur Trade), der erstmals die Indianer in den Mittelpunkt stellte. In den 1980er Jahren kam es zur Betonung der Rolle der Indianer und der Frauen in Handel und Mission, zu Untersuchungen zur Indianerpolitik und zur Reaktion der Betroffenen (Gerald Friesen: A Narrow Vision zur Rolle des Bürokraten D. C. Scott). Ebenfalls zu Westkanada schrieben Sarah Carter zur verfehlten Agrarpolitik (Lost Harvests) und Katherine Pettipas (Severing the Ties that Bind) zu staatlichen Versuchen, die jährlichen Treffen der Prärieindianer zu unterbinden. Hinzu kamen Studien zur Unterdrückung des Potlatch, wie die von Douglas Cole und Ira Chaikin (An Iron Hand upon the People) und zur Rechtsgeschichte.In den 1990er Jahren entstanden erste Zusammenschauen, wie die von J. R. Miller (Skyscrapers Hide the Heavens) und Olive Dickason (Canada's First Nations). Allgemeine Geschichten Kanadas begannen nun nicht mehr mit den so genannten „Vikings“ der Zeit um 1000, sondern mit der ersten fassbaren Besiedlung des Landes. Damit kam der Archäologie größte Bedeutung zu, aber auch Linguistik und Genetik spielen eine große Rolle.
Der Kampf um politische Rechte und die Verfassungsstreitigkeiten, die indianische Gruppen als politische Parteiungen und Lobbyisten erscheinen ließen, führten jedoch dazu, dass die Historiker in der öffentlichen Wahrnehmung durch Rechtswissenschaftler und Politologen verdrängt wurden. Zudem forderten die indigenen Gruppen ihre Wahrnehmung und Mitarbeit bei historischen Projekten, vor allem aber die ihres eigenen Bildes der Geschichte und ihrer eigenen Überlieferungsformen, sowie ihres Wissens. Die Beschäftigung mit der mündlichen Überlieferung in Form der oral history kam dieser Entwicklung weiter entgegen.
Das Canadian Museum of Civilization brachte das archäologische Standardwerk von James Wright (A History of the Native People of Canada. Archaeological Survey of Canada) 1995 heraus. 2003 folgte Larry J. Zimmerman mit American Indians: The First Nations: Native North American Life, Myth and Art, der die ethnologischen, historischen und religiösen Aspekte stärker zu verbinden suchte. Das Sujet begann auf die Forschung stärker zurückzuwirken. Erst 1999 erschien eine Enzyklopädie der kanadischen Völker (Encyclopedia of Canada's Peoples) durch die 1976 gegründete Multicultural History Society of Ontario.Das Internet ermöglicht inzwischen nicht nur zahlreichen First Nations eine eigene Geschichtsdarstellung zu publizieren (s. Liste der in Kanada anerkannten Indianerstämme), sondern auch eigene Quellensammlungen, wie die First Nations Digital Document Source, die allerdings vorrangig der Frage der Landansprüche dient.
== Museen, Archive, Bibliotheken ==
Archiv der Hudson’s Bay Company in Winnipeg
Bibliothèque et Archives Canada, insbes. die Bereiche Patrimoine autochtone und Premières Nations (Das Erbe der Indigenen – Die First nations)
British Columbia Archives in Victoria
Canadian Canoe Museum in Peterborough (Ontario)
Canadian Museum of Civilization in Gatineau bei Ottawa
Glenbow Museum in Calgary
McCord Stewart Museum in Montréal
Museum of Anthropology in Vancouver
Museum of Northern British Columbia (British Columbia)
National Museum of the American Indian in Washington, D.C.
Nicola Valley Museum and Archives in Merritt (British Columbia)
Northern Life Museum in Fort Smith (Nordwest-Territorien)
Peabody Museum of Archaeology and Ethnology in Cambridge (Massachusetts)
Musée Pointe-à-Callière in Pointe-à-Callière (Montreal)
Royal Alberta Museum in Edmonton
Royal British Columbia Museum in Victoria
Royal Ontario Museum in Toronto
Sainte-Marie-au-pays-des-Hurons bei Midland (Ontario)
Smithsonian Institution in Washington, D.C.
X̲á:ytem in Mission (British Columbia)
== Siehe auch ==
Residential School, ein früheres diskriminierendes Schulsystem
Verschwundene indigene Frauen in Kanada
== Literatur ==
Timothy G. Baugh, Jonathon E. Ericson: Prehistoric Exchange Systems in North America Plenum Press, New York 1994
John Borrows: Recovering Canada: The Resurgence of Indigenous Law, University of Toronto Press, Toronto 2002
Robert Choquette: The Oblate Assault on Canada's Northwest, University of Ottawa Press, Ottawa 1995
Olive Patricia Dickason: Canada's First Nations: a History of Founding Peoples from Earliest Times. University of Oklahoma Press, Toronto 1992
Olivia Patricia Dickason: A Concise History of Canada's First Nations, University of Oklahoma Press 1992, Oxford University Press, Toronto 2008; wieder ebd. 2010
Jo-Ann Episkenew: Beyond Catharsis. Truth, Reconciliation, and Healing In and Through Indigenous Literature.
dt. Jenseits der Katharsis. Wahrheit, Versöhnung und Heilung in und durch indigene Literatur. Dissertation, Universität Greifswald 2006
David S. Koffman: The Jews’ Indian. Colonialism, Pluralism, and Belonging in America. Rutgers University Press, 2019
Wolfgang Lindig, Mark Münzel: Die Indianer, Band 1: Nordamerika, Deutscher Taschenbuch Verlag, dtv, München 1994, ISBN 3-423-04434-9
David J. Meltzer: First Peoples in a New World: Colonizing Ice Age America, University of California Press, 2009
James Rodger Miller: Skyscrapers Hide the Heavens: A History of Indian-White Relations in Canada, überarb. Aufl., University of Toronto Press, 1991
Harald Moll: First Nations, First Voices. Die Rechtsstellung indigener Völker Kanadas unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse in British Columbia. (Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel), Duncker & Humblot, Berlin 2006, ISBN 978-3-428-11766-6
Claudia Notzke: Aboriginal Peoples and Natural Resources in Canada, Captus Press, 1994 ISBN 1895712033
Daniel N. Paul: First Nations History. We were not the Savages, 3. Aufl., Fernwood, 2006 ISBN 978-1-55266-209-0
William C. Sturtevant: Handbook of North American Indians, Smithsonian Institution (Hg.), voraussichtlich 20 Bde., Washington (D.C.) seit 1978
Bruce Trigger: The Historians' Indian. Native Americans in Canadian Historical Writing from Charlevoix to the Present, in: Canadian Historical Review 67, 3, 1986 S. 315–342
James Wright: A History of the Native People of Canada. Archaeological Survey of Canada. 3 Bde., Hull: Canadian Museum of Civilization 1995, 1999, ISBN 0-660-15951-1, ISBN 0-660-15952-X, von Bd. 3 ist Part 1: Maritime Algonquian, St. Lawrence Iroquois, Ontario Iroquois, Glen Meyer/Western Basin, And Northern Algonquian Cultures, im April 2004 erschienen, ISBN 0-660-19175-X
Larry J. Zimmerman: American Indians: The First Nations: Native North American Life, Myth and Art. Duncan Baird Publishers, 2003 ISBN 1-904292-74-7
== Weblinks ==
Charles C. Mann: North America’s Native nations reassert their sovereignty: ‘We are here’, in: National Geographic, 14. Juni 2022
J. V. Wright: A History of the Native People of Canada, Website des Canadian Museum of Civilization in Gatineau, Kanada
Indigenous-French Relations, collections canada
E. A. Allen: The Prehistoric World: or, Vanished Races, Kap. 12: The Prehistoric Americans, Website des National Institute of Technology Calicut (Memento vom 8. Mai 2012 im Internet Archive), archive.org, 8. Mai 2012
Vikings. The North Atlantic Saga – Ausstellung der Smithsonian Institution zu den Wikingern und ihrer Entdeckung
Canada in the making: Aboriginals: Treaties and relations, Teil von Early Canadiana Online, einem Projekt der kanadischen Hochschulen u. a. Institute (englisch)
First Nation Profile vom kanadischen Minister des Ministeriums für indianische und nördliche Angelegenheiten
A journey to a new land – pädagogisch orientierte Website der Simon Fraser University in Vancouver
Website der Indian Claims Commission
Website der amerikanischen Indian Claims Commission Decisions
Specific Claims – Justice at Last, Indian and Northern Affairs Canada
Canadian Native Law Cases vom Native Law Centre an der University of Saskatchewan für die Zeit von 1763 bis 1978
First Nations Digital Document Source
Arndt Reuning: Knochen, Gene, Totempfähle. Wer waren die ersten Siedler in der Neuen Welt?, Deutschlandfunk 31. Mai 2009
David S. Koffman: Suffering & Sovereignty: Recent Canadian Jewish Interest in Indigenous Peoples and Issues, Canadian Jewish Studies - Études juives canadiennes, 25, 2017 ISSN 1198-3493 (Vorstudie zu seinem Buch von 2019) doi:10.25071/1916-0925.40013
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_First_Nations
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Orgellandschaft Südniedersachsen
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= Orgellandschaft Südniedersachsen =
Die Orgellandschaft Südniedersachsen umfasst das Gebiet der Landkreise Goslar, Göttingen, Hameln-Pyrmont, Hildesheim, Holzminden und Northeim sowie die Stadt Salzgitter.Über 70 historische Orgeln vom 17. bis 19. Jahrhundert sind in der südniedersächsischen Orgellandschaft vollständig oder in Teilen erhalten. In Einbeck, Herzberg am Harz, Hildesheim und Göttingen entstanden einflussreiche Orgelwerkstätten mit teils langer Familientradition. Hinzu traten Einflüsse aus den benachbarten Regionen wie Hamburg, Thüringen, Ostwestfalen und Hessen. In der Moderne zeichnet sich der Kulturraum durch zahlreiche Restaurierungen und Rekonstruktionen historischer Instrumente aus, die durch einige überregional bedeutende Neubauten unterschiedlichster Stilrichtungen ergänzt werden.
Schwerpunkt dieses Artikels bilden die historischen Instrumente, die noch ganz oder teilweise erhalten sind. Nähere Details zu einzelnen Werken finden sich in der Liste von Orgeln in Südniedersachsen.
== Gotik und Renaissance ==
Die ersten Orgeln sind im 14. Jahrhundert in größeren Stadtkirchen nachweisbar. In Hildesheim ist als erster Orgelbauer Conrad von Bernstorp namentlich greifbar, der im Jahr 1382 den Auftrag für einen Orgelneubau in St. Michael erhielt. Möglicherweise hatte er auch die Orgel im Hildesheimer Dom von 1367 geschaffen. Diese spätmittelalterlichen Instrumente verfügten über ein Blockwerk, das nur den vollen Orgelklang, aber noch keine Scheidung der einzelnen Pfeifenreihen (Register) ermöglichte. Erst mit der Erfindung der Spring- und Schleifladen im 15. Jahrhundert konnten Einzelregister angesteuert werden. Um 1600 baute Meister Henning Hencke (* um 1550; † vor 1620) drei neue Orgelwerke in Hildesheim: St. Lamberti (1590), St. Michaelis (1599) und St. Godehard (1612–1617). Ab 1612 begann er mit dem Neubau einer zweimanualigen Domorgel, die anscheinend im Jahr 1617 von Meister Conrad Abtt mit über 30 Registern vollendet wurde. Michael Praetorius führt in seiner Organographia (Syntagma musicum, Band 2, 1619) die damalige Disposition an (II/P/23) und weist auf die neuartige Konstruktion des Balgwerks „mit einer einzigen Falten“ hin.Während alle diese Orgeln später ersetzt wurden, blieb der Prospekt der Orgel von Hans Scherer dem Älteren in der Hildesheimer St.-Georgi-Kirche von 1585 in Burgdorf erhalten. Das Instrument ist ein frühes Beispiel für den norddeutschen Werkaufbau, bei dem über verschiedene Klaviaturen (Manuale und Pedal) verschiedene Werke, die in separaten Gehäusen aufgestellt waren, angespielt werden können. Im Hamburger Prospekt fand dieser Werkaufbau seine klassische Gestalt. Das Hauptwerk der Burgdorfer Orgel bildet den oberen Teil, während das Brustwerk unmittelbar über dem Spieltisch angebracht ist, flankiert von zwei freistehenden Pedaltürmen. In der Emporenbrüstung befindet sich das Rückpositiv in verkleinerter Gestalt des Hauptwerks, deren Gehäuse durch einen runden Mittelturm und spitze Ecktürme gegliedert werden, zwischen denen zweigeschossige Flachfelder angebracht sind. Profilierte Gesimse, korinthische Säulen, Akanthus-Schleierwerk in den Pfeifenfeldern, aufsteigende Flammenornamente zwischen den Frontpfeifen im Pedal und bekrönendes Schnitzwerk auf dem Rückpositiv verzieren die Orgel reichlich.Im Zeitalter der Gotik und der Renaissance erfüllte die Orgel im Gottesdienst eine ausschließlich liturgische Funktion. Sie übernahm im Wechsel mit dem Chor oder dem Vorsänger die Aufführung von Teilen der Liturgie, wurde aber nicht zur Begleitung des Gemeindegesangs eingesetzt. In den katholischen Kirchen wurde diese Tradition auch nach Einführung der Reformation fortgeführt, während sie in den evangelischen Kirchen an Bedeutung verlor.
== Barock ==
Der norddeutsche Orgelbau erlebte im Zeitalter des Barock einen Höhepunkt und erstreckte seinen Einfluss auch auf Südniedersachsen. Das Werkprinzip, das bereits in der Renaissance entwickelt wurde, fand seine klassische Form in der Aufstellung räumlich getrennter Werke. Vielfach blieben die repräsentativen barocken Prospekte erhalten, auch wenn im Laufe der Zeit Register oder das ganze Innenwerk ersetzt wurden. Kleinere Orgeln folgten dem „mitteldeutschen Normaltyp“, der sich durch einen fünfteiligen symmetrischen Prospekt mit drei Pfeifentürmen auszeichnet, die durch zwei Flachfelder verbunden werden. Klangliches Rückgrat einer Barockorgel bildet das Plenum, das auf einem Prinzipalchor basiert und von Flöten- und Zungenregister ergänzt wird.
Das Klangkonzept im Barock war der neuen Verbindung von Orgel und Gemeindegesang geschuldet. Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde die Orgel für die gemeindliche Liedbegleitung verwendet. In den evangelischen Kirchen führte dies zu zahlreichen Orgelneubauten, selbst in kleinen Dorfkirchen. Auf katholischer Seite entstanden im Zuge der Gegenreformation repräsentative Werke, besonders in größeren Stadtkirchen und den Klosterkirchen.
In Göttingen wohnte Jost Sieburg, der einer Orgelbauerfamilie entstammte und dessen Tätigkeitsgebiet sich über Bremen bis nach Groningen erstreckte. Sein Bruder Johann(es) Just Sieburg baute 1617 bis 1620 eine Orgel in der Göttinger Jakobikirche. Nach deren Wegzug ließen sich Orgelbauer aus Thüringen und Hessen in Göttingen nieder, wie beispielsweise Jost Friedrich Schäffer, der Vater von Johann Friedrich Schäffer, und Christoph Weiß, dessen Prospekt in Hann. Münden, St. Blasius in umgebauter Form erhalten ist. Der Magdeburger Heinrich Herbst der Ältere schuf für Hildesheim eine neue Orgel in St. Paulus (1658) und vollendete 1667 in St. Andreas das Werk von Hans Hinrich Bader aus Unna, der einen westfälischen Einfluss nach Hildesheim brachte. Ab 1661 baute Bader eine weitere Orgel in der Heilig-Kreuz-Kirche. 1686 schuf Herbst eine kleine Orgel für Hoheneggelsen.Um 1700 entwickelte sich Einbeck zum bedeutendsten Orgelzentrum in Südniedersachsen, was dem Auftreten von Andreas Schweimb zu verdanken ist. Schweimb stammte aus Dedeleben und schuf in verschiedenen rekatholisierten Hildesheimer Feldklöstern Orgeln, die an das Niveau von Arp Schnitger heranreichten. Wohl auf ihn geht die Orgel in Brevörde, St. Urban (um 1690) zurück, die ursprünglich möglicherweise für Höxter gebaut war. Das Werk in Greene (Kreiensen), St. Martini (1687) hat mehrere eingreifende Erweiterungen und Umbauten erfahren, präsentiert aber noch den Prospekt von Schweimb. Ein ähnliches Schicksal hat sein Werk in Langenholzen (1692) erfahren. Um 1870 disponierte Heinrich Vieth Schweimbs Orgel in Heiningen, St. Peter und Paul von 1698 um. Seine Orgel in Lamspringe, St. Hadrian und Dionysius (1691–1696) wurde zwar 1876 und 1959 von Philipp Furtwängler & Söhne eingreifend umgebaut, enthält aber noch 15 originale Schweimb-Register ganz und vier teilweise. Die große Orgel in Salzgitter-Ringelheim, St. Abdon und Sennen wurde um 1700 von Schweimbs Nachfolger Johann Jacob John vollendet; 13 Register von Schweimb sind bis heute erhalten. Sie zählt zu den wenigen großen Klosterorgeln Südniedersachsens. Auch das begonnene Werk in Kloster Riechenberg (1696) wurde von John fortgeführt. Im Gegensatz zum Orgeltypus norddeutsch-niederländischer Prägung verzichteten Schweimb und John auf das Rückpositiv, setzten, anders als Schnitger, weiterentwickelte Springladen ein und erweiterten den Manualumfang von C, D und Dis bis e3.Johann Georg Müller (um 1670–1750) aus Sankt Andreasberg begründete 1692 in Hildesheim eine Orgelwerkstatt und baute für die St.-Magdalenen-Kapelle 1733 ein Werk, dessen Prospekt erhalten ist. Sein Sohn Johann Conrad Müller (1704–1798) führte die Werkstatt bis zu seinem Tod fort. Von Vater und Sohn ist die Orgel in Almstedt (1746), von Johann Conrad stammen die unverändert erhaltene kleine Orgel in der Gutskapelle Welsede (1735) und die Werke in Schmedenstedt und Schellerten (1769) sowie Vöhrum (1778).Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erstreckte sich der Einfluss der Schnitger-Schule auch auf das Gebiet Südniedersachsens. Johann Matthias Naumann war ein Meistergeselle von Arp Schnitger, der 1702 dessen große Orgel in Zellerfeld vollendete, die über 55 Register verfügte. Die Disposition ist bei Johann Hermann Biermann in seiner Organographia Hildesiensis specialis von 1738 überliefert. Naumann machte sich in Hildesheim selbstständig, wo er im Dom einen Orgelumbau vornahm (1703–1706) und von 1712 bis 1717 in St. Lamberti einen großen Neubau durchführte (III/P/47). Für Groß Förste, St. Pankratius schuf er 1708/09 und für die Neuwerkkirche Goslar 1725/26 Orgelneubauten. Von Hildesheim aus führte auch der Schnitger-Geselle Andreas Müller die Bauweise seine Lehrmeisters fort. Christian Vater war ein weiterer Meistergeselle Schnitgers, der sich eng an dessen Stil anlehnte. Seine Gehäuse sind aber viel einheitlicher gestaltet und zeichnen sich durch einen regelmäßigen Wechsel von Pfeifentürmen und doppelgeschossigen Flachfeldern aus. Auch die Pedaltürme sind durch Flachfelder mit dem Hauptwerk verbunden, sodass breit angelegte Prospekte entstehen. In seinen späteren Werken findet sich nur noch selten ein Rückpositiv. Vaters kleine Orgel in Hohenrode (1749) stand ursprünglich in Gestorf und wurde 1824 überführt. In Kloster Marienrode schuf er in den Jahren 1749 bis 1752 ein Werk, dessen Registerbestand heute noch zur Hälfte auf ihn zurückgeht, während von seinem Instrument in Brunkensen (1721) nur noch der Prospekt erhalten ist. Johann Heinrich Gloger und sein Sohn Johann Wilhelm Gloger, Bruder von Dietrich Christoph Gloger, standen im Einflussbereich Schnitgers und bauten um 1732 für die ehemalige Klosterkirche in Marienstein ein zweimanualiges Werk. Die Arbeiten von Johann Heinrich Gloger in Northeim, St. Sixti zogen sich von 1721 bis 1732 hin. Der Prospekt von Christian Hartig und über ein Dutzend Register Glogers blieben trotz späterer Umbauten bewahrt.
== Klassizismus ==
Der südniedersächsische Kulturraum wurde während der Zeit des Klassizismus stark durch Orgelbauer aus Nordhessen geprägt. In Gottsbüren entstand im 17. Jahrhundert ein Orgelbauzentrum, dessen bedeutendster Vertreter Johann Stephan Heeren war. Heeren baute in Löwenhagen (1772), Wahmbeck (1787), Varlosen (1791), Lenglern (1795), Erbsen (Adelebsen) (1797–1800) und Adelebsen (um 1800, zusammen mit Johann Dietrich Kuhlmann) einmanualige Dorforgeln. Sie sind dem „mitteldeutschen Normaltyp“ zuzurechnen, der sich bereits im Barock herausgebildet hatte. Dieser zeichnet sich durch einen fünfachsigen Prospektaufbau aus, der auf einem Prinzipal in Vierfuß- oder Achtfußlage basiert. Die Basspfeifen sind im hohen runden oder polygonalen Mittelturm aufgestellt, die Pfeifen der mittleren Tonlage in den etwas niedrigeren runden oder spitzen Außentürmen und die Diskantpfeifen in den ein- oder zweigeschossigen Flachfeldern zwischen den drei Türmen. Charakteristisch für Heerens Bauweise ist der breite Rundturm in der Mitte, der von niedrigeren Rundtürmen an den Seiten flankiert wird. Über den Flachfeldern zwischen den Türmen sind bekrönende Vasen oder Urnen angebracht. Im Göttinger Raum war Heeren für die Pflege und Reparatur zahlreicher Instrumente zuständig.Nahezu baugleich ist die Prospektgestaltung von Johann Wilhelm Schmerbach dem Mittleren, dessen Familienbetrieb im nordhessischen Frieda ansässig war. Einige seiner Orgeln wie in Mengershausen (1798) und Niedergandern (1811) sind mit seitlichem Ankanthus-Schleierwerk verziert. Heerens Schwiegersohn und Nachfolger Johann Dietrich Kuhlmann führte die Familientradition fort und baute die Werke in Hemeln (vor 1820), Barterode (1825) und Scheden (1829). Wie bei Heerens Orgel in Erbsen verwendete Kuhlmann in Barterode massive Schleierbretter als oberen Abschluss der Pfeifenfelder, bekrönte aber die niedrigen Flachfelder mit flachgeschnitzten Leiern und gestaltete seine Mitteltürme in der Regel schlanker.
Einer der wenigen in Südniedersachsen ansässigen Orgelbauer des Klassizismus war August von Werder. Er war kein gelernter Orgelbauer, sondern hatte von einem Tischler, der auch Orgeln reparierte, das Tischlerhandwerk erlernt. Aufgrund seines handwerklichen Geschickes und seines Interesses wandte er sich dem Orgelbau zu und schuf kleine, einmanualige Werke, die in klanglicher Hinsicht noch in spätbarocker Tradition standen. Architektonisch weisen von Werders Werke bereits erste Kennzeichen der Romantik auf: Statt der drei traditionell hervortretenden Türme wird ein flächiger Prospekt bevorzugt, der vor 1850 noch die klassische fünfachsige Gestaltung aufweist, bei späteren Werken aber durch ein großes rundbogiges Mittelfeld geprägt wird. Von seiner Werkstatt in Höckelheim aus war er im Gebiet von Northeim und Göttingen tätig. Bei seinen erhaltenen Werken in Holzerode (1840), Wöllmarshausen (1843), Obernjesa (1844), Bremke (Gleichen) (1848), Settmarshausen (1849), Esebeck (um 1850) und in Berka (Katlenburg-Lindau) (1852) liegt die Zahl der Register zwischen neun und elf.
== Romantik ==
Die Romantik brachte Veränderungen in der Klangästhetik mit sich, die zu entsprechenden Veränderungen im Orgelbau führten. So wurde im südlichen Niedersachsen wie auch sonst in Deutschland das traditionelle Werkprinzip aufgegeben und der flächige Verbundprospekt ohne hervortretende Pfeifentürme bevorzugt. Statt der räumlich getrennten Werke hielten das Hinterwerk und das Schwellwerk Einzug, um größere dynamische Abstufungen zu ermöglichen. Bei den Klangfarben wichen die Aliquot- und Zungenstimmen stärker grundtönigen Labialregistern, insbesondere in der Achtfuß-Tonlage. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzten sich die pneumatische Orgeltraktur und die neogotische oder neoromanische Prospektgestaltung durch.
Aus den benachbarten Regionen prägten verschiedene Orgelbauer die Orgellandschaft Südniedersachsen. Der hannoversche Hoforgelbauer Ernst Wilhelm Meyer baute 1839 in Groß Hilligsfeld eine Orgel, sein Sohn Eduard Meyer 1845 eine in Klein Berkel. Die Orgelwerkstatt in Gottsbüren wurde im 19. Jahrhundert von Balthasar Conrad Euler fortgeführt, der in Dransfeld (1843–1845), Uslar (1845), Vahlbruch (1845), Hillerse (1848) und Nörten-Hardenberg (1848) mit neuen Orgeln beauftragt wurde.
Um 1829 ließ sich Johann Andreas Engelhardt in Herzberg am Harz nieder und wirkte ausgehend vom Harz bis in die Regionen von Braunschweig und Hannover. Er stammte aus Lossa (Finne) und war vom mitteldeutschen Orgelbau in seiner sächsisch-thüringischen Ausprägung beeinflusst. Klanglich stehen seine Werke noch weitgehend in der Tradition des ausgehenden Barocks, leiten aber auch zum Klassizismus und zur Frühromantik über. Insgesamt gingen über 100 Orgelneubauten aus seiner Werkstatt hervor. Engelhardt hat das südliche Niedersachsen nachhaltig geprägt, so durch neue Werke in Osterode am Harz, St. Jacobi (1841), Oker (1841), Westerode (1843), Dorste (um 1850), Wollershausen (1851), Osterhagen (1854), Scharzfeld (1855), Bad Lauterberg (1859) und Lucklum, Kommendekirche (1861). Seine größte erhaltene Orgel mit 36 Stimmen steht in Herzberg, St. Nicolai, und datiert von 1845. Von seinem Sohn Gustav Carl Engelhardt ist die Orgel in Gladebeck (1861/62) erhalten.
Demgegenüber war Philipp Furtwängler, der in Elze eine Orgelwerkstatt begründete, fortschrittlicher geprägt und stand in starker Konkurrenz zu Meyer. Von seinen zahlreichen Werken im Stil der Romantik seien Dassel (1845), Sudheim (1864) und Markoldendorf (1869) genannt. Nach dem Erlöschen der Firma wurde sie 1883 unter dem Namen P. Furtwängler & Hammer neu gegründet und nach Hannover verlegt. Dort stieg man auf die pneumatische Kegellade um und wandte sich ab 1893 der Röhrenpneumatik und der Taschenlade, ab 1907 auch der elektro-pneumatischen Traktur zu. Die Firma gehört zu den führenden Vertretern des spätromantischen Orgelbaus, die Orgeln in großer Anzahl produzierte.Im Bereich des Bistums Hildesheim wirkten Heinrich Schaper und August Schaper. Während der Vater bei seinen 52 Orgelneubauten ausschließlich die traditionelle mechanische Schleiflade einsetzte, führte sein Sohn den Bau der Kegellade in der Firma ein. Die meisten ihrer romantischen Werke wurden später umdisponiert und prägen die Kulturregion bis heute. Im Jahr 1864 erbaute Carl Heyder, der ein Schüler des berühmten Johann Friedrich Schulze war, seine Orgel in Langenholtensen. Kleinere Heyder-Orgeln mit je sieben Registern entstanden 1861 in Unterbillingshausen und 1871 in Stockhausen (Friedland). Ein anderer Schüler Schulzes war Carl Giesecke, der ab 1844 in Göttingen wirkte und als weltweiter Zulieferant von Zungenstimmen bekannt wurde. Er schuf Orgeln in Oldenrode (um 1850), Stöckheim (1859/60) und Weende (Göttingen) (um 1860). Louis Krell unterhielt ab 1868 seine Werkstatt in Duderstadt und baute 1884 ein Instrument in Lonau, 1879 eins in Gieboldehausen und 1882 eins in Lindau (Eichsfeld).
== 20. und 21. Jahrhundert ==
Im 20. Jahrhundert ging der südniedersächsische Orgelbau in der allgemeinen Entwicklung des deutschen Orgelbaus auf. Einige Firmen expandierten und blieben in ihrem Wirkungskreis nicht mehr auf eine Region beschränkt, da konfessionelle und geografische Grenzen ihre Bedeutung verloren. Dies führte deutschlandweit zu einer stärkeren stilistischen Angleichung.
Obwohl Furtwängler & Hammer vorwiegend dem romantischen Orgelbau verpflichtet waren, führte die Zusammenarbeit mit Christhard Mahrenholz zu einem zeitweisen Interesse an der Orgelbewegung. Eines der ersten Beispiele dieser Art ist die Orgel der Pfarrkirche St. Marien (Göttingen) von 1925/26, ein späteres das Werk in Bad Sachsa (1955/56). Prominentester Vertreter der Orgelbewegung war Paul Ott, der sich vor allem durch – dem Kenntnisstand der Zeit entsprechende – Restaurierungen historischer Orgeln in Norddeutschland einen Namen machte. In Göttingen schuf er große Werke mit drei oder vier Manualen in der St. Johannis-Kirche (1954–1960), in St. Albani (1964) und in der St.-Jacobi-Kirche (1964–1966) mit mechanischer Spiel- und Registertraktur und neobarocker Disposition.Der Ott-Schüler Rudolf Janke entwickelte die Bauweise seines Lehrmeisters weiter und legte größeren Wert auf eine sorgfältige Intonation. Stärker als Ott war er den traditionellen Handwerkstechniken und Klangkonzepten verpflichtet und prägte die Orgellandschaft nachhaltig durch zahlreiche Orgelneubauten und durch eine konsequente Restaurierungspraxis. Etliche durch Ott unter Annahme eines erniedrigten Winddrucks restaurierte Orgeln wurden von Janke zurückrestauriert. Hinter historischen Prospekten entstanden neue Werke beispielsweise in Katlenburg (1967), Meinersen (1984) und Wiershausen (1987). Bei ganz neuen Werken baute Janke keine historisierenden Stilkopien, sondern schuf moderne Prospekte, wie in der Kreuzkirche (1965, mit einem einzigen solitären Pedalturm) und Christophorus-Kirche in Göttingen (1967, mit konkaven Gehäusedecken), der Corvinuskirche (1967, mit Spiegelprinzipal im Rückpositiv) und Apostelkirche in Northeim (1971, mit geflammten Kupferpfeifen in Pedal), Helmstedt (1968, mit spanischen Trompeten), der Lutherkirche in Holzminden (1968–1970) und der Martin-Luther-Kirche in Hildesheim (1994).Bedeutende Neubauten entstanden durch Rudolf von Beckerath im Jahr 1966 in Hildesheim, St. Andreas, in norddeutscher Orgeltradition mit ihrem Werkprinzip und im selben Jahr in Hameln, St. Nikolai. Mit über 40 Registern, einem Schwellwerk und elektrischen Koppeln ermöglicht das Instrument in Hameln die sachgemäße Darstellung symphonischer Orgelmusik. Jürgen Ahrend, ein weiterer Schüler von Ott, baute 1977 ein Werk im Stil des norddeutschen Barock für St. Servatius (Duderstadt), das sein größter Neubau in Niedersachsen war und internationale Bekanntheit erlangte. In Hildesheim entstanden ein dreimanualiges Werk für St. Michael von Gerald Woehl (1999), für den Hildesheimer Dom ein sechsmanualiges Werk von Romanus Seifert (2010) unter Wiederverwendung der bisherigen Orgel von Breil/Klais (1989). Ebenfalls von Romanus Seifert wurde in St. Magdalenen (2010) eine neue Orgel gebaut, die auch zu Schulungszwecken dient.
== Literatur ==
Hans Martin Balz: Göttliche Musik. Orgeln in Deutschland. Konrad Theiss, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-8062-2062-9 (230. Veröffentlichung der Gesellschaft der Orgelfreunde).
Karl Heinz Bielefeld: Orgeln im Umland von Göttingen. Pape Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-921140-25-3.
Karl Heinz Bielefeld: Orgeln und Orgelbauer in Göttingen. Pape Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-921140-75-8.
Johann Hermann Biermann: Organographia Hildesiensis Specialis von 1738. Hrsg.: Uwe Pape. Georg Olms, Hildesheim 2008, ISBN 978-3-487-13695-0 (Nachdruck mit einem Anhang von Uwe Pape).
Cornelius H. Edskes, Harald Vogel: Arp Schnitger und sein Werk (= 241. Veröffentlichung der Gesellschaft der Orgelfreunde). 2. Auflage. Hauschild, Bremen 2013, ISBN 978-3-89757-525-7.
Ernst Palandt: Hildesheimer Orgelchronik 1962. Hildesheimer Orgelbauwerkstatt, Hildesheim 1962.
Uwe Pape: Orgelbauwerkstätten und Orgelbauer in Deutschland von 1945 bis 2004. Pape Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-921140-66-8.
Winfried Topp, Uwe Pape: Norddeutsche Orgelbauer und ihre Werke 2: Peter Tappe / Martin Haspelmath. Pape Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-921140-57-9.
Harald Vogel: Orgelgeschichte in Südniedersachsen. In: Harald Vogel, Günter Lade, Nicola Borger-Keweloh (Hrsg.): Orgeln in Niedersachsen. Hauschild, Bremen 1997, ISBN 3-931785-50-5, S. 72–81.
Karl Wurm: Orgeln in Südniedersachsen. In: Harald Vogel, Günter Lade, Nicola Borger-Keweloh (Hrsg.): Orgeln in Niedersachsen. Hauschild, Bremen 1997, ISBN 3-931785-50-5, S. 82–91.
== Weblinks ==
Musik in Kirchen Südniedersachsens
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Orgellandschaft_S%C3%BCdniedersachsen
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Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft
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= Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft =
Das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft war ein von der Volkskammer, dem Parlament der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), am 9. März 1972 beschlossenes Gesetz zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. Mit seiner Verabschiedung wurde in der DDR für den Schwangerschaftsabbruch in Abkehr von der zuvor geltenden indikationsbasierten Regelung eine grundlegende Neufassung der Gesetzeslage in Form einer Fristenlösung eingeführt. Nach dieser erhielten Frauen das Recht, innerhalb von zwölf Wochen nach dem Beginn einer Schwangerschaft über deren Abbruch eigenverantwortlich zu entscheiden. Für den beteiligten Arzt bestand gemäß dem Gesetz die Pflicht zur Beratung der Schwangeren über die medizinische Bedeutung des Eingriffs und über die künftige Anwendung schwangerschaftsverhütender Methoden und Mittel.
Das Gesetz traf in der DDR auf Kritik und Ablehnung durch die Kirchen beider Konfessionen sowie durch Teile der Ärzteschaft, zu einer öffentlichen Diskussion in nennenswertem Umfang kam es allerdings nicht. Bis zur politischen Wende von 1989 war die Beschlussfassung über das Gesetz jedoch die einzige Abstimmung in der Geschichte der Volkskammer, die nicht einstimmig ausfiel, da es 14 Gegenstimmen und acht Enthaltungen gab. Die mit dem Gesetz geschaffene Rechtslage in der DDR, mit der erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte für den Schwangerschaftsabbruch eine Fristenregelung in Kraft trat, beeinflusste in der Folgezeit auch die Debatte über die Novellierung des § 218 StGB und die daraus resultierenden Gesetzesinitiativen in der Bundesrepublik Deutschland sowie die Neuregelung des § 218 StGB nach der deutschen Wiedervereinigung.
== Entstehung und Inhalt ==
=== Rechtliche Entwicklung ===
Gesetzliche Grundlage zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland war bis 1943 das 1871 verabschiedete Reichsstrafgesetzbuch mit den §§ 218–220, deren Strafandrohung in einer 1926 beschlossenen Neufassung abgemildert worden war. Das Reichsgericht hatte den Bestimmungen des Strafgesetzbuches, die ein generelles Verbot des Schwangerschaftsabbruchs ohne definierte Indikationen darstellten, in einer Entscheidung vom 11. März 1927 außerdem eine strenge medizinische Indikation als richterrechtlich formulierte Ausnahme hinzugefügt. Entsprechend diesem Urteil galt das Vorliegen einer „gegenwärtigen, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Gefahr für die Schwangere“ als Rechtfertigungsgrund in Form eines übergesetzlichen Notstands. Im Dritten Reich änderte sich die Auffassung zur normativen Basis des Verbots des Schwangerschaftsabbruchs grundlegend, da nicht mehr primär die Tötung des werdenden oder ungeborenen Lebens als Begründung im Vordergrund stand. Vielmehr galt nun ein Sachentzug gegenüber dem Vater und dem Staat sowie ab 1943 eine „Beeinträchtigung der Lebenskraft des deutschen Volkes“ als Grundlage der Strafbarkeit. Darüber hinaus betraf das strikte Verbot mit Ausnahme der medizinischen Indikation nur rassenhygienisch erwünschte Schwangerschaften. Bei Eltern, die im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie als „erbkrank und minderwertig“ galten, wurde hingegen auch eine eugenische Indikation erlaubt und sogar befürwortet. Ab 1943 galt für Abtreibung die Todesstrafe, wenn „die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt“ wurde. Für andere Fälle von Abtreibung wurde die Zuchthausstrafe bis zu 15 Jahren wieder eingeführt. Gegen die Schwangere konnte sie allerdings nur in, im Gesetz nicht definierten, besonders schweren Fällen verhängt werden, gegen Dritte blieb in minder schweren Fällen Gefängnisstrafe möglich.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde diese Rechtslage in den einzelnen Ländern der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1948 durch neue Regelungen mit erweiterten Indikationsmodellen ersetzt. Diese enthielten aufgrund der Kriegsfolgen eine kriminologische Indikation bei Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung oder einem sexuellen Missbrauch, so zum Beispiel in Thüringen durch das „Gesetz über Unterbrechung der durch ein Sittlichkeitsverbrechen verursachten Schwangerschaft“ vom 29. August 1945, sowie mit Ausnahme des Gesetzes von Sachsen-Anhalt auch eine soziale Indikation bei vorliegender oder drohender sozialer Notlage, in Thüringen beispielsweise durch das „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“" vom 18. Dezember 1947. In Mecklenburg wurde 1947 auch die embryopathische Indikation eingeführt. Darüber hinaus wurde das Strafmaß gegenüber den zuvor geltenden gesetzlichen Bestimmungen erheblich verringert. Rund ein Jahr nach Gründung der DDR trat dann am 27. September 1950 das Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau in Kraft, mit dem in § 11 eine einheitliche Regelung der Indikationen für einen Schwangerschaftsabbruch eingeführt wurde. Ein Schwangerschaftsabbruch war laut § 11 nur nach medizinischer oder embryopathischer Indikation zulässig, „wenn die Austragung des Kindes das Leben oder die Gesundheit der schwangeren Frau ernstlich gefährdet oder wenn ein Elternteil mit schwerer Erbkrankheit belastet ist“ und die Erlaubnis einer Kommission vorlag, die sich aus Ärzten, Vertretern der Organe des Gesundheitswesens und des Demokratischen Frauenbundes zusammensetzte.
Ziel des Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau war neben der Förderung der Gleichberechtigung der Frauen und der Steigerung ihrer Erwerbstätigkeit insbesondere die Geburtenförderung als Teil der Bevölkerungspolitik. Die mit dem Gesetz ab 1950 in der DDR geltende Rechtslage führte in den folgenden Jahren einerseits zu einer der geringsten Raten an genehmigten Schwangerschaftsabbrüchen weltweit, andererseits zu einem Anstieg der Zahl illegaler Schwangerschaftsabbrüche und dazu, dass Frauen zu Schwangerschaftsabbrüchen bis zum Bau der Berliner Mauer auf Ärzte in West-Berlin auswichen. Im März 1965 kam es, ohne Änderung des Gesetzestextes, durch eine interne Rundverfügung des Ministeriums für Gesundheitswesen zur Erweiterung der Anwendung des § 11 um eine kriminologisch und eine soziale Indikation. Die anderen Fälle des Schwangerschaftsabbruchs blieben weiterhin verboten und strafbar, die strafrechtlichen Bestimmungen der Ländergesetze galten zunächst weiter und wurden 1968 durch die §§ 153–155 des Strafgesetzbuches der DDR abgelöst.
Mit dem 1972 beschlossenen Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft wurde dann die indikationsbasierte Rechtslage vollständig durch eine Fristenregelung abgelöst. Auch nach der Verabschiedung des Gesetzes und dessen Verkündung im Gesetzblatt der DDR am 15. März 1972 blieben die §§ 153–155 des StGB-DDR vollumfänglich und unverändert in Kraft, da eine Schwangerschaftsunterbrechung strafrechtlich als unzulässig galt, wenn sie „entgegen den gesetzlichen Vorschriften“ vorgenommen wurde. Die konkrete Definition der Voraussetzungen für die Zulässigkeit war damit, anders als im § 218 des deutschen Strafgesetzbuches, nicht Teil der Bestimmungen des StGB-DDR, sondern erfolgte durch die entsprechenden Gesetze von 1950 beziehungsweise 1972. Gründe für die Neuregelung von 1972 waren, wie schon bei der Ausweitung der Indikationen im Jahr 1965, vor allem die hohe Dunkelziffer illegaler Schwangerschaftsabbrüche, die zunehmenden Forderungen nach Selbstbestimmung der Frauen sowie die Verjüngung und die Zunahme des Frauenanteils unter den Ärzten in der DDR. Für die Wahl des Zeitpunkts spielte darüber hinaus möglicherweise ein „Wettlauf“ mit den Reformbemühungen der sozialliberalen Koalition in der Bundesrepublik Deutschland eine Rolle. Sowohl im rechtshistorischen Kontext als auch im internationalen Vergleich war insbesondere die Anerkennung der Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch als Recht der Frau ein Novum; lediglich in der ein Jahr später beschlossenen Regelung in Dänemark ist eine vergleichbare Formulierung zu finden.Mit dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990 wurden § 1 Abs. 1, § 4 Abs. 2 und § 5 des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft aufgehoben.
Vollständig außer Kraft trat das Gesetz 1993 nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur bundeseinheitlichen Neuregelung der Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch.
=== Bestimmungen ===
Laut der Präambel des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft, das aus fünf Paragraphen bestand, galt die Möglichkeit, über die Schwangerschaft und deren Austragung selbst zu entscheiden, als Erfordernis der „Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf, Ehe und Familie“ und damit als Beitrag zum Erreichen dieses Ziels im Rahmen der Frauen- und Familienpolitik der DDR. Gemäß § 1 Abs. 1 wurde demzufolge Frauen „zusätzlich zu den bestehenden Möglichkeiten der Empfängnisverhütung das Recht übertragen, über die Unterbrechung einer Schwangerschaft in eigener Verantwortung zu entscheiden“, um die Anzahl, den Zeitpunkt und die zeitliche Aufeinanderfolge von Geburten zu bestimmen.
Dementsprechend war laut § 1 Abs. 2 eine schwangere Frau berechtigt, die Schwangerschaft innerhalb von zwölf Wochen nach deren Beginn „durch einen ärztlichen Eingriff in einer geburtshilflich-gynäkologischen Einrichtung“ abbrechen zu lassen. Für den beteiligten Arzt bestand gemäß § 1 Abs. 3 die Pflicht, „die Frau über die medizinische Bedeutung des Eingriffs aufzuklären und über die künftige Anwendung schwangerschaftsverhütender Methoden und Mittel zu beraten“.
Der Abbruch einer länger als zwölf Wochen bestehenden Schwangerschaft war gemäß § 2 an die Entscheidung einer Fachärztekommission gebunden und nur bei einer Gefährdung für das Leben der Frau oder beim Vorliegen anderer schwerwiegender Umstände zulässig.
Gemäß § 3 Abs. 1 war der Schwangerschaftsabbruch unzulässig, wenn die Frau an einer Krankheit litt, die im Zusammenhang damit zu schweren gesundheitsgefährdenden oder lebensbedrohenden Komplikationen führen konnte.
Gemäß § 3 Abs. 2 war der Schwangerschaftsabbruch unzulässig, wenn der letzte Schwangerschaftsabbruch weniger als sechs Monate zurücklag, es sei denn, dass die Fachärztekommission eine Ausnahmegenehmigung erteilte.Vorbereitung, Durchführung und Nachbehandlung eines zulässigen Schwangerschaftsabbruches waren nach § 4 Abs. 1 „arbeits- und versicherungsrechtlich dem Erkrankungsfall gleichgestellt“.
Darüber hinaus wurde durch § 4 Abs. 2 mit der Verabschiedung des Gesetzes die Abgabe ärztlich verordneter Mittel zur Empfängnisverhütung an sozialversicherte Frauen unentgeltlich.
Die Bestimmungen zum Inkrafttreten des Gesetzes und zu den Auswirkungen auf andere Gesetze, insbesondere die Aufhebung der zuvor bestehenden Einschränkungen der Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs, waren in § 5 enthalten.
== Wahrnehmung ==
=== Reaktionen in der DDR ===
Der am 23. Dezember 1971 bekanntgegebene gemeinsame Beschluss des Ministerrats der DDR und des Politbüros des ZK der SED zum geplanten Gesetz kam unerwartet, öffentliche Diskussionen gab es vorher und in der Folgezeit kaum. Vertreter beider Konfessionen der Kirchen in der DDR äußerten noch vor der Verabschiedung des Gesetzes ihre Ablehnung. So betonte die katholische Kirche in einem am 9. Januar 1972 von allen Kanzeln verlesenen Hirtenbrief, dass es die Aufgabe jedes Staates sei, das werdende Leben besonders zu schützen, dass Gewissensfreiheit für das medizinische Personal gelten müsse und dass die sonstige Gesetzgebung in der DDR der Situation von Schwangeren und Kindern in umfangreicher Weise Sorge tragen würde, so dass eine einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigende Notlage schwerlich gegeben sein könne. Die acht evangelischen Bischöfe in der DDR brachten in einem wenige Tage später veröffentlichten „Wort der Bischöfe der evangelischen Landeskirchen in der DDR“, das sich insbesondere an die einzelnen Mitglieder der Kirchen und „an alle, die es hören wollen“ richtete, ihre „tiefste Bestürzung“ und ihre Ablehnung des Gesetzesvorhabens zum Ausdruck. Protest kam außerdem von freikirchlichen Gruppierungen wie beispielsweise den Siebenten-Tags-Adventisten, deren Gemeinschaft eine entsprechende Stellungnahme veröffentlichte und in ihren Gemeinden verbreiten ließ. Auch von Ärzten sowie von Mitgliedern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) gab es Kritik, die jedoch nicht die breite Öffentlichkeit erreichte. Helmut Kraatz, einer der bedeutendsten Gynäkologen in der DDR, äußerte sich zwar einerseits positiv zur Neuregelung, da sie „Kurpfuschern den Boden entzog“, bezeichnete aber andererseits den Schwangerschaftsabbruch auch als die „für Frau und Gynäkologen unangenehmste Methode der Familienplanung“.
Der Entwurf des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft entstand in gemeinsamen Beratungen des Verfassungs- und Rechtsausschusses, des Ausschusses für Gesundheitswesen und des Ausschusses für Arbeit und Sozialpolitik der Volkskammer. Bei der Abstimmung in der Volkskammer am 9. März 1972, die durch Handzeichen erfolgte, kam es nach Redebeiträgen des Volkskammerpräsidenten Gerald Götting, des Ministers für Gesundheitswesen Ludwig Mecklinger und der Abgeordneten Hildegard Heine vom Ausschuss für Gesundheitswesen zum ersten und einzigen Mal vor der politischen Wende von 1989 zu einem nicht einstimmigen Ergebnis; 14 Abgeordnete der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands – rund ein Viertel der Fraktionsmitglieder – stimmten gegen das Gesetz und acht Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Der Anteil der Gegenstimmen an der Gesamtzahl der Abgeordneten in der Volkskammer, die über eine Einheitsliste der Nationalen Front mit feststehender Sitzverteilung gewählt wurde, lag bei weniger als drei Prozent. Die uneinheitlichen Meinungen innerhalb der CDU zum Gesetzesvorhaben sowie das geplante abweichende Stimmverhalten der betreffenden Abgeordneten waren der Führung der Partei um ihren Vorsitzenden Gerald Götting im Vorfeld bekannt und über Albert Norden, Mitglied im Politbüro des Zentralkomitees der SED, rund einen Monat vor der Beschlussfassung der SED-Führung mitgeteilt worden. Dementsprechend ging Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger, Mitglied der SED, in seinen Ausführungen zur Begründung des Gesetzes auch auf die Bedenken in kirchlichen Kreisen ein.Zuvor hatte es in der DDR lediglich in einigen Kommunalparlamenten, wie beispielsweise 1968 beim Abriss der Ruine der Potsdamer Garnisonkirche und der Sprengung der Leipziger Universitätskirche, vereinzelt Gegenstimmen in Abstimmungen gegeben. Eine offizielle Stellungnahme der CDU zum Gesetz und zum Verhalten ihrer Abgeordneten erfolgte nicht; von kirchlichen Amtsträgern beider Konfessionen wurde das nicht einstimmige Ergebnis begrüßt. In der Berichterstattung des Neuen Deutschlands, als landesweites Zentralorgan der SED die wichtigste Tageszeitung in der DDR, wurde der Ausgang der Abstimmung als „absolute Mehrheit“ bezeichnet und betont, dass „Recht und Würde der Frau voll garantiert“ seien. Das Ergebnis nutzte die SED propagandistisch zur Aufwertung der Volkskammer und als Beleg für die Freiheit, welche die Abgeordneten bei ihrer Stimmabgabe, insbesondere auch bei allen anderen einstimmig gefassten Beschlüssen, besitzen würden. Die staatlichen Behörden tolerierten in der Folgezeit die Ablehnung der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen in den in der DDR bestehenden Krankenhäusern in katholischer oder evangelischer Trägerschaft. Das Katholische Krankenhaus in Heiligenstadt in der katholisch geprägten Region Eichsfeld musste allerdings seine gynäkologische Abteilung an eine staatliche Klinik abgeben, da es andernfalls in der Stadt keine Möglichkeit für einen Schwangerschaftsabbruch gegeben hätte. Eine organisierte Lebensrechtsbewegung existierte in der DDR nicht, entsprechende Protestaktivitäten blieben marginal und auf Einzelpersonen beschränkt, vor allem auf Christen in sozialen und medizinischen Berufen.
=== Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland ===
Das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft und insbesondere das Abstimmungsergebnis in der Volkskammer trafen auch in der westdeutschen Medienlandschaft auf großes Interesse. So berichtete beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am Tag nach der Abstimmung unter der Überschrift „Totenstille in der Volkskammer. Erstmals Neinstimmen im Plenarsaal“. Die Kommentare zur Bedeutung der Abstimmung fielen unterschiedlich aus. Während sie in der Süddeutschen Zeitung als „bemerkenswerter Vorgang“ bezeichnet wurde, der möglicherweise zu einer Entzerrung des in der Bundesrepublik vorherrschenden Bildes der Volkskammer als „Zustimmungsmaschine der SED“ führen müsse, wurde in der FAZ die Vermutung geäußert, dass das Stimmverhalten der abweichenden CDU-Abgeordneten nach Absprache mit der SED erfolgt sei. Der Evangelische Pressedienst betrachtete die Zulassung der Neinstimmen als Zeichen dafür, dass die DDR den Schwangerschaftsabbruch zwar freigeben, jedoch nicht propagieren würde.Die Neufassung der Rechtsgrundlagen zum Schwangerschaftsabbruch in der DDR setzte in der Bundesrepublik zudem die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt und Justizminister Gerhard Jahn in ihren Bestrebungen zu einer Reform des § 218 StGB unter Druck. Dadurch kam es im Juni 1974 zur Verabschiedung einer mit der neuen Rechtslage in der DDR vergleichbaren Fristenlösung anstelle der ursprünglich geplanten begrenzten Indikationsregelung. Die Neuregelung wurde allerdings nach einer Verfassungsklage der Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie von fünf Landesregierungen im Februar des folgenden Jahres vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt und im Juni 1976 durch ein Modell mit vier verschiedenen Indikationen ersetzt, bei der zusätzlich zu den bereits vorher zulässigen Ausnahmen die soziale Indikation neu aufgenommen wurde. Nach der deutschen Wiedervereinigung entstand mit dem Gesetz über Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und Beratung vom 27. Juli 1992 eine Fristenregelung mit Beratungspflicht und Indikationen als bundeseinheitliche Neuregelung der gesetzlichen Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch, die einen Kompromiss aus der Fristenlösung der DDR und dem Indikationsmodell in der Bundesrepublik darstellte. Diese Novellierung trat nach einer Beanstandung durch das Bundesverfassungsgericht 1993 in geänderter Form in Kraft, schließlich erfolgte 1995 eine Neuregelung durch den Gesetzgeber.
== Auswirkungen ==
Die Zahl der genehmigten Schwangerschaftsabbrüche in der DDR, die 1962 und damit drei Jahre vor der Ausweitung der Indikationsregelung von 1950 bei 860 gelegen hatte, stieg unmittelbar nach der Einführung der Fristenlösung zunächst deutlich auf rund 119.000 im Jahr 1972, nahm jedoch bereits bis 1976 wieder auf etwa 83.000 ab. Demgegenüber standen vor der Neuregelung 70 bis 80 Frauen pro Jahr, die durch unsachgemäß durchgeführte Abtreibungen verstarben. Unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes waren die Krankenhäuser in der DDR aufgrund unzureichender Ausstattung oft überfordert, in der Frauenklinik der Charité in Berlin erfolgte beispielsweise die Durchführung des Eingriffs anfangs in mehreren Schichten. In späteren Jahren bestanden in nahezu allen Krankenhäusern in der DDR Spezialabteilungen für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen. Die durch die Neuregelung verursachte Zunahme der Schwangerschaftsabbrüche sowie die zeitgleich eingeführte kostenlose Abgabe schwangerschaftsverhütender Mittel führten durch den daraus resultierenden Geburtenausfall zu einer bis zum Ende der 1970er Jahre anhaltenden Bevölkerungsabnahme in der DDR und wirkten sich in den folgenden Jahren entsprechend auf die Altersstruktur aus.Staatlicherseits wurde aufgrund dieser Entwicklung ab den frühen 1970er Jahren, teilweise zeitgleich mit dem Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft, eine Reihe von geburtenfördernden sozialpolitischen Maßnahmen beschlossen, zu denen insbesondere Regelungen zur Verbesserung der Situation von Familien mit Kindern und von berufstätigen Müttern zählten. Dies betraf beispielsweise subventionierte Mieten für Familien mit geringem Einkommen, eine reduzierte Wochenarbeitszeit bei vollem Lohn und ein höherer Urlaubsanspruch für Frauen mit mindestens drei Kindern, die Verlängerung der bezahlten Freistellung nach einer Geburt von zwei auf drei Monate sowie für junge Ehepaare die Einführung eines zinslosen Darlehens in Höhe von 5000 Mark mit langer Laufzeit, auf dessen Rückzahlung bei der Geburt von Kindern Abschläge gewährt wurden. Ab dem Beginn der 1980er Jahre lag die Zahl der Geburten wieder über den Sterbezahlen; 1990 wurden rund 74.000 Abtreibungen vorgenommen. Aufgrund einer im Vergleich zur Bundesrepublik höheren Geburtenrate war die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche bezogen auf die ausgetragenen Schwangerschaften in beiden Ländern zum Ende der 1980er Jahre vergleichbar mit etwa drei Geburten pro Schwangerschaftsabbruch.
Nach der politischen Wende in der DDR wurde das „Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft“ in den Entwurf des Runden Tisches für eine neue DDR-Verfassung aufgenommen. Für den neu entstandenen Unabhängigen Frauenverband, der bei den Volkskammerwahlen im März 1990 in einem Wahlbündnis mit der Grünen Partei in der DDR antrat, war die Beibehaltung der geltenden Fristenregelung ein bestimmendes Thema. Die CDU warb im Wahlkampf einerseits mit der ablehnenden Haltung ihrer 14 Abgeordneten bei der Abstimmung von 1972, führte andererseits aber auch in ihrem Wahlprogramm aus, dass „Abtreibungsverbote und Strafandrohungen … keine Lebenshilfe“ seien. Mit Ausnahme der neugegründeten Deutschen Sozialen Union (DSU) unterstützten Politiker aller in der neugewählten Volkskammer vertretenen Parteien einschließlich der CDU eine Beibehaltung der Fristenregelung, die als Forderung auch in die Koalitionsvereinbarung der neugebildeten Regierung aus dem CDU-geführten Wahlbündnis Allianz für Deutschland, der SPD und dem liberalen Bund Freier Demokraten aufgenommen wurde. Kurt Wünsche von der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD), der von Januar bis August 1990 als DDR-Justizminister unter den Ministerpräsidenten Hans Modrow und Lothar de Maizière fungierte, regte die Aufnahme des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in eine neu zu verabschiedende gesamtdeutsche Verfassung oder den Fortbestand unterschiedlicher Rechtslagen an.Eine kontroverse öffentliche Debatte zu den Spätfolgen des Gesetzes von 1972 löste im Februar 2008 Wolfgang Böhmer aus, damaliger Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt und zu DDR-Zeiten Chefarzt der Gynäkologie in einem evangelischen Krankenhaus in Wittenberg, indem er im Nachrichtenmagazin Focus die in der DDR geltende Rechtslage zu Schwangerschaftsabbrüchen in Zusammenhang mit einer „leichtfertigen Einstellung zu werdendem Leben“ und Kindstötungen in den neuen Bundesländern brachte. Seine Aussagen zum Zusammenhang zwischen Schwangerschaftsabbrüchen in der DDR und der Häufigkeit von Kindstötungen im Osten Deutschlands, die er einige Tage später in einem Interview in der Zeitung Die Welt relativierte, wurden von Politikern aller Parteien überwiegend abgelehnt. Im Bezug auf seine Äußerungen zur DDR-Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch gab es allerdings auch differenzierte Kommentare von Psychiatern und Politikwissenschaftlern sowie Zustimmung von einigen betroffenen Frauen, von Kirchenvertretern und von Lebensrechtsinitiativen wie der CDU-Organisation Christdemokraten für das Leben.
== Literatur ==
Kirsten Thietz: Ende der Selbstverständlichkeit? Die Abschaffung des § 218 in der DDR. Dokumente. Basis Druck Verlag, Berlin 1992, ISBN 3-86-163013-3.
G58: Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft. 1972. In: Matthias Judt (Hrsg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Reihe: Forschungen zur DDR-Gesellschaft. Ch. Links Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-86-153142-9, S. 210/211.
Michael Schwartz: »Liberaler als bei uns?« Zwei Fristenregelungen und die Folgen. Reformen des Abtreibungsstrafrechts in Deutschland. In: Udo Wengst, Hermann Wentker: Das doppelte Deutschland: 40 Jahre Systemkonkurrenz. Reihe: Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung. Band 720. Ch. Links Verlag, Berlin 2008, ISBN 3-86-153481-9, S. 183–212.
== Weiterführende Veröffentlichungen ==
Christa Mahrad: Schwangerschaftsabbruch in der DDR: Gesellschaftliche, ethische und demographische Aspekte. Reihe: Europäische Hochschulschriften. Serie XXXI: Politikwissenschaft. Band 111. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-82-040251-9.
== Weblinks ==
»Es war eine einsame Entscheidung…« Das »Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft« der DDR vom 9. März 1972. DRA-Spezial 10/2006 des Deutschen Rundfunkarchivs, online (PDF-Datei, ca. 396KB)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_%C3%BCber_die_Unterbrechung_der_Schwangerschaft
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Goetz-Höhle
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= Goetz-Höhle =
Die Goetz-Höhle ist eine Abriss-Spaltenhöhle in Thüringen. Sie liegt am westlichen Stadtrand von Meiningen am Dietrichsberg in der Mitte des Berghangs zur Werra hin. Die Höhle ist ein Natur- und Bodendenkmal und gilt als die größte Höhle dieses Typs in Deutschland. Sie ist auch die einzige erschlossene und begehbare Kluft- und Spaltenhöhle in Europa. Entstanden sind die Klüfte und Spalten vor etwa 25.000 Jahren durch eine Abrutschung des Hanges zur Werra hin, die noch andauert.
Entdeckt wurde die Höhle von dem Meininger Kaufmann Reinhold Goetz im August 1915. Nach der Erschließung, die sich mit Unterbrechungen über mehrere Jahre hinzog, wurde sie am 21. April 1934 als Schauhöhle eröffnet. Von 1970 bis 2000 ruhte der Führungsbetrieb nach Schließung der Höhle wegen angeblicher sicherheitstechnischer Mängel. Am 22. April 2000 wurde die Höhle nach einer grundlegenden Sanierung wiedereröffnet. Sie ist auf einer Länge von 420 Metern in vier parallelen Spalten und drei Etagen begehbar, wobei etwa die Hälfte des Führungsweges aus künstlich angelegten Stollen quer zu den Spalten besteht.
== Geschichte ==
=== Entdeckung ===
Der Meininger Kaufmann Reinhold Goetz war seit Jahren damit beschäftigt, dort einen Berggarten, dem romantischen Zeitgeschmack entsprechend, mit großen Terrassen, Aussichtspunkten und einer künstlichen Burgruine zu gestalten. Beim Abbau von Gesteinen stieß er im August 1915 auf eine größere Öffnung im Muschelkalk des Dietrichsberges. Er untersuchte sie, drang weiter in den Berg ein und fand heraus, dass die Öffnung zu einer parallel zum Berghang verlaufenden Spalte führte, der heutigen Hauptspalte 2.
=== Erschließung ===
Bis zum Jahre 1917 wurde dort ein Stollen angelegt, bei dem es sich der Beschreibung nach um den heute als Ausgang benutzten Stollen handelte. Im April 1917 fand Goetz in einer Felsspalte, der heutigen Hauptspalte 3, etwa 20 Meter vom Eingang entfernt, im Höhlenlehm eingebettete tierische und menschliche Knochen. Beim weiteren Vortrieb der Stollen wurden die Hauptspalten 3 und 4 angefahren. Erstmals erforscht wurde die Höhle vom Thüringer Höhlenverein im Jahre 1922. Der Ausgangsstollen wurde bis zum Jahre 1925 ausgebaut. Von da an besichtigten Freunde der Familie und andere Interessierte die Höhle. Am 31. Dezember 1925 verstarb Reinhold Goetz und die Erschließungsarbeiten wurden eingestellt. In den folgenden Jahren wurde es um die Goetz-Höhle ruhig.
Im Jahre 1932 erwähnte der Landesgeologe Heß von Wichdorf in Die Thüringer Höhlen die Spalten im Dietrichsberg. Er bezeichnete sie als die bedeutendsten Zerreißungsklüfte in Thüringen. Diese Erkenntnisse hatte er bei einem Besuch im Oktober 1931 gewonnen. Am 23. April 1932 besichtigten Mitglieder des Thüringer Höhlenvereins, der Meininger Oberbürgermeister Hermann Keßler und andere Vertreter der Stadt sowie Höhlenfreunde des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins die Höhle. Die Leitung hatte Heß von Wichdorf, der die geologischen Verhältnisse und die Entstehung erläuterte. Er wies auch darauf hin, die Erschließung baldmöglichst fortzusetzen.
Im Mai 1932 begann der weitere Ausbau der Höhle. Martha Goetz, die Witwe des Entdeckers, die die weiteren Erschließungsarbeiten überwiegend finanzierte, wurde unterstützt vom Thüringer Höhlenverein und von dem in Meiningen beheimateten Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsverein. Der Bergingenieur Hermann Bender aus Blankenburg (Harz) hatte die technische Leitung, Erich Marquardt, Studienrat am Gymnasium Bernhardinum Meiningen unterstützte ihn dabei. Die Arbeiten führten Arbeitsdienstverpflichtete aus Meiningen und Umgebung und sechs bergbaukundige Arbeiter aus dem Ruhrgebiet aus. Insgesamt waren über 20 Arbeiter unter Anleitung von Bergleuten und Geologen mit dem Ausbau beschäftigt.Zur Anlage des Hauptzugangsstollens wurde ein Schacht 22 Meter tief abgeteuft. Beim Ausbau vom Inneren des Berges nach außen wurden die Hauptspalte, die heutige Spalte 1, und kleine Nebenspalten entdeckt. Für die weitere Höhlenerschließung war der ebenerdige Zugangsstollen von großer Bedeutung. Er diente als Zugang für die Arbeiter, die vorher nur über den Schacht einfahren konnten, und zum Transport des Abraums aus der Höhle, der bis dahin mit einer Handhaspel durch den Schacht nach oben befördert werden musste. 7000 Kubikmeter ausgeräumtes Material wurden zu einer Terrasse aufgeschüttet. Im März 1934 wurden Treppen aus Eichenholz zur Überwindung der Höhenunterschiede und eine elektrische Beleuchtung eingebaut. Damit waren die Erschließungsarbeiten beendet. Der Meininger Oberbürgermeister Johann Meister weihte die Höhle am 21. April 1934 feierlich ein. Auch die Höhlenbaude war damals entstanden.
Im Jahre 1938 kaufte die in Meiningen ansässige Familie Breede die Höhle und den darüberliegenden Berggarten. Sie organisierte in den folgenden Jahren die Höhlenführungen. Am 30. Oktober 1940 wurde die Goetz-Höhle durch eine Verordnung des Landrats nach dem Reichsnaturschutzgesetz als Naturdenkmal geschützt. Aufgrund der Funde von Menschen- und Tierknochen wurde die Goetz-Höhle am 20. August 1955 als Bodendenkmal erklärt. Im Jahre 1956 erfolgte eine einstweilige Unterschutzstellung als Geologisches Naturdenkmal, da Unklarheiten über die Gültigkeit alter Landratsverordnungen in der DDR bestanden. Im selben Jahr pachtete die Familie Neumann die Höhle.
=== Zwangsschließung ===
Am 24. Juli 1970 fand die vorerst letzte Führung in der Höhle statt. Sie wurde danach mit dem Hinweis auf drohende Firstabbrüche geschlossen. Die Höhlenbaude blieb geöffnet. Die Eigentümer der Höhle erhielten keine amtliche Erklärung zur Schließung, auch gibt es darüber keinerlei schriftliche Nachweise. Die Höhlenein- und -ausgänge wurden zugemauert. Dass die genannten Sicherheitsmängel tatsächlich bestanden, ist unwahrscheinlich. Als Grund für die Schließung der Höhle wird die Nähe zur innerdeutschen Grenze vermutet. Da die Höhle im Privatbesitz war, hatten die Behörden keine Möglichkeit, sie zu kontrollieren. Weder den Denkmalbehörden noch den Eigentümern, die zu diesem Zeitpunkt teilweise in Westdeutschland lebten, gelang es, eine Aufhebung der Schließung zu erwirken.
Am 11. August 1983 schützte der Rat des Kreises Meiningen mit Beschluss Nummer 510/73/83 die Höhle als Geologisches Naturdenkmal (GND). Die Höhle erscheint in den Jahren 1981 und 1989 nicht mehr in den Listen Bodendenkmale im Kreis Meiningen, was vermutlich mit der Schließung im Jahre 1970 zusammenhängt. Aktuell wird die Höhle im Denkmalbuch des Freistaates Thüringen geführt.
Nach der Wiedervereinigung blieb die Höhle zunächst geschlossen. Da Schutzwürdigkeitsgutachten und Behandlungsrichtlinien bei dem Beschluss von 1983 gefehlt hatten, veranlasste die Untere Naturschutzbehörde des Kreises Meiningen zu Beginn der 1990er-Jahre ein Schutzwürdigkeitsgutachten. Das Thüringische Landesamt für archäologische Denkmalpflege (TLAD) in Weimar begann 1994 mit einer Neubearbeitung des archäologischen Fundmaterials. Im Dezember 1995 ergriffen neun engagierte Meininger die Initiative zur Wiedereröffnung. Aus dem Gutachten von 1996 eines Unternehmens für Bergsicherung aus Ilfeld gehen keinerlei Sicherheitsrisiken hervor, so dass die Höhle jederzeit wieder hätte öffentlich genutzt werden können. Die Eigentümer, eine Erbengemeinschaft mehrerer Familien und einzelner Personen, signalisierten die Verkaufsabsicht.
=== Wiedereröffnung ===
Ein achtseitiges Gutachten der Bergsicherung Ilfeld vom 1. März 1996 über den technischen Zustand der Höhle und die notwendigen Sanierungsarbeiten und Investitionen kam zu dem Ergebnis, dass einer Wiedereröffnung der Goetz-Höhle nichts im Wege stand. Am 13. September 1996 wurde der Verein Goetz-Höhle e. V. mit 42 Mitgliedern gegründet, mit dem Hauptziel, die Goetz-Höhle wieder zu eröffnen. Das deutsche Bergrecht schreibt vor, dass eine untertägige Schauhöhle nur genutzt werden darf, wenn der Eigentümer des darüber befindlichen Grundstücks damit einverstanden ist. Die Übertagefläche der Goetz-Höhle, die sich ebenfalls im Besitz der Erbengemeinschaft befand, beträgt etwa 21.000 Quadratmeter. Mit Notarvertrag vom 26. April 1996 wurde die Liegenschaft mit der Goetz-Höhle erworben. Die Bergsicherung Ilfeld veranschlagte die Kosten der Sanierungsmaßnahmen auf etwa 1,6 Millionen Euro.
Um die späteren Eintrittsgelder möglichst niedrig zu halten, wurde nach Fördermitteln zur Finanzierung der Erschließungskosten gesucht. Eine Zusage des Wirtschaftsministeriums in Erfurt wurde jedoch wegen einer Haushaltssperre widerrufen. Das Landesarbeitsamt beteiligte sich später an der Finanzierung der ersten Ausbaustufe mit etwa einer Million Euro. Das Thüringische Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Weimar, die Stadt Meiningen sowie mehrere Geschäftsleute und Privatpersonen trugen ebenfalls dazu bei. Von Juni 1999 bis Januar 2000 konnten alle Maßnahmen für die Aufnahme des Schauhöhlenbetriebs abgeschlossen werden.Der Haupt- und Sondierungsplan des zuständigen Bergamts Bad Salzungen von 1999 sah vor, sämtliche technischen Einrichtungen zu ersetzen, da diese in der beinahe dreißigjährigen Ruhephase nicht instand gehalten worden waren. Zudem war eine fachgerechte bergmännische Sicherung der künftig als Besucherstrecke vorgesehenen Höhlenteile und der notwendigen Nebenstrecken nötig. Der Eingang, der jahrzehntelang als Bierkeller genutzt worden war, musste wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt werden, die alten Holztreppen und Beleuchtungsanlagen mussten ersetzt werden. Stützelemente, Drahtnetze gegen Steinfall und Geländer im Bereich tiefer Spalten wurden für den sicheren Besucherverkehr eingebaut, der Außenbereich der Höhle, wie Wege, Treppen und Böschungen, wurden besucherfreundlich gestaltet.Der Thüringer Höhlenverein e. V. unterstützte die Arbeiten des Goetz-Höhlen-Vereins. Anfang des Jahres 2000 wurde die Höhle mit der angeschlossenen Höhlenbaude verpachtet. Der erste Probebetrieb der Höhle fand am 19. Februar, die festliche Wiedereröffnung am Karsamstag, dem 22. April 2000 statt. Bis zum Jahresende wurden 14.554 Besucher in der Schauhöhle gezählt.
=== Höhlenbetrieb ===
Im Jahre 2009 wurde eine Effektbeleuchtung mit Leuchtdioden (LED) zur farblichen Ausleuchtung einzelner Höhlenpartien eingebaut. Die neue Beleuchtung kostete etwa 25.000 Euro. Im September 2009 fand das erste Höhlenfest statt. Eine zweite Ausbaustufe der Höhle ist vorgesehen. Zwingend notwendig ist die Errichtung eines neuen Eingangsbauwerkes, da die alte Höhlenbaude nicht mehr den heutigen Anforderungen entspricht. Ab 2012 war die Höhle wegen Schließung der Baude nur selten der Öffentlichkeit zugänglich, bis im Mai 2014 neue Pächter Höhle und Baude wiedereröffneten. Sie machten auch den von Goetz angelegten romantischen Berggarten wieder zugänglich. Zwei Jahre später gaben diese den Betrieb leider wieder auf, und die Baude mit Gastronomie blieb geschlossen. Höhlenführungen waren nur noch mit Anmeldung möglich. Seitdem stand die Höhle zum Verkauf.Im Februar 2020 verkaufte der Goetz-Höhlen-Verein Höhle und Baude an den Unternehmer und Brauereibesitzer Volker Reich. Dieser beabsichtigt mit der bereits erfolgten positiven Sicherheitsbegutachtung durch das zuständige Landesamt Umwelt, Bergbau und Naturschutz eine umfangreiche Sanierung der Anlage. Gemeinsam mit der Stadt will der neue Besitzer eine „Erlebniswelt Höhle“ mit Attraktionen auch für Kinder und eine bessere Vermarktung sowie Erreichbarkeit für die Besucher schaffen. Am 3. Juli 2021 fand die Wiedereröffnung der Goetz-Höhle und der Baude „Zur Spalte“ statt.
== Geologie ==
=== Entstehung ===
Die Abrissspaltenhöhle verläuft durch Gesteine des Unteren Muschelkalks. Geologisch ist die Höhle der südthüringisch-fränkischen Scholle, der Heldburger Scholle und einem Teil der Meininger Mulde zuzuordnen. Sie liegt im sogenannten Meininger Triasland, auch Meininger Kalkplatten genannt, einem ausgedehnten Muschelkalkplateau zwischen dem Werratal bei Meiningen und dem Grabfeld. Dieser Typ von Höhlen ist in Thüringen vor allem in den Tälern der Werra und der Ilm verbreitet; etwa 150 sind davon bekannt, die Goetz-Höhle ist die größte davon. Eine ähnlich große Spalte weist der nicht erschlossene Enzianerdfall bei Arnstadt mit 56 Meter Tiefe auf.Die Bildung der Höhle ist auf mehrere Ursachen zurückzuführen. Am Hang stehen gut geklüftete Kalk- und Kalkmergelsteine des Unteren Muschelkalks über dem relativ wasserundurchlässigen Oberen Buntsandstein (Röt) an, der vorwiegend tonig-schluffig ausgebildet ist. Außerdem führte die Bildung des Werratales im Pleistozän zu einem erosiven Anschnitt der Muschelkalkbasis. 34 Meter unter dem Niveau des Eingangsstollens der Höhle liegt die Oberkante des Röts. Das versickernde Wasser von Niederschlägen und das Grundwasser stauen sich an der Muschelkalkbasis, auf die im Liegenden Rötgestein folgt, und weichen sie auf.
Die Auflast des etwa 100 Meter starken Kalksteinpakets des Unteren Muschelkalks bewirkte im Bereich der Goetz-Höhle Bruch- und Gleitvorgänge in den Gesteinen des Röts. Dadurch kam es zum talwärtigen Abriss und zur Verkippung der großen Kalksteinkluftkörper. Das rutschende Gesteinspaket des Unteren Muschelkalks zerbrach in Einzelschollen und es bildeten sich überwiegend hangparallele Spalten. Schichtneigungen von nur einem Grad in Talrichtung unterstützten diesen Vorgang, der durch hangparallele grabenartige Einbrüche an der Geländeoberfläche angezeigt wird. Am Hang des Dietrichsberges kippten die Einzelblöcke staffelartig vor- und nebeneinander. So bildeten sich vier hangparallele Haupt- und zwanzig Nebenspalten. Die am weitesten talwärts liegenden Blöcke rutschten am stärksten ab. In der Goetz-Höhle war die horizontale Gleitbewegung größer als der vertikale Versatz.
=== Beschreibung ===
Der Höhleneingang befindet sich auf einer Höhe von 328 und der Höhlenausgang auf 361 Meter über Normalnull. Das Tal der Werra liegt auf etwa 290 Meter über Normalnull und ist im Meininger Raum etwa 160 Meter tief in das umgebende Gelände eingeschnitten. Die Höhle hat vier parallele Hauptspalten, die teilweise eine Höhe von über 50 Meter erreichen, nach oben hin geschlossen und unten mit bis zu drei Meter Breite am weitesten geöffnet sind. Die Spalte 1, auch Geburtstagsspalte genannt, da sie am Geburtstag des Entdeckers Goetz entdeckt wurde, ist an beiden Enden aus Sicherheitsgründen zugemauert. Die Spalte ist von Mauer zu Mauer etwa zwölf Meter lang, drei Meter breit und neun Meter hoch. Die Spalte 2 ist etwa 40 Meter lang und aufgrund von Kluftsprüngen ein bis zweieinhalb Meter breit. Die Höhe beträgt etwa 30 Meter, wobei 20 bis 25 Meter einsehbar sind. Die Spalte 3, auch Große Klamm genannt, ist 50 Meter hoch und über 40 Meter lang. Ursprünglich war sie etwa 65 Meter hoch; um sie begehbar zu machen, wurde der Boden um 15 Meter aufgefüllt. Die Spalte 4, Kleine Klamm genannt, ist zwischen 30 und 45 Meter hoch und knapp 10 Meter lang.
Die vier Spalten sind teilweise in drei Etagen begehbar, wobei 33 Meter Höhe mit sieben Treppen und 164 Stufen zu überwinden sind. Erschlossen sind die Spalten durch mehrere Querschläge in allen drei Etagen, der Eingangsstollen hat eine Länge von 110 Metern. Andere Höhlen dieses Typs, die nicht erschlossen sind, sind nur über senkrecht in die Tiefe führende Schächte für Höhlenforscher begehbar. Der Führungsweg beträgt etwa 420 Meter (nach anderen Angaben auch 450, 464 und 480 Meter) und geht etwa zur Hälfte über natürliche Spalten und künstlich angelegte Stollengänge, sogenannte Querschläge. In der mittleren Etage wurde als Querschlag eine von West nach Ost verlaufende Kluft genutzt.
=== Führungsweg ===
Im Eingangsstollen, der im vorderen Teil aus Kalksteinmauerwerk besteht, führen zwei Türen in die Höhle. Auf dem Weg zur Spalte 1 befindet sich hinter der ersten Biegung im rechten unteren Wandbereich die erste natürliche Kluftöffnung. Die Kluft reicht etwa fünf Meter in nordnordöstliche Richtung. Die Spalte 1, die erste von vier Hauptspalten, die bei der Führung zu sehen sind, wird anschließend erreicht. Nach vier Metern folgt eine hohe Spalte, der Kamin. Dieser natürliche Hohlraum ist 15 Meter lang, bis 1,5 Meter breit und bis 15 Meter hoch. Vom Kamin aus sind die Wände des Ganges auf einer Länge von 16 Metern gemauert. Hier wurden beim Vortrieb des Stollens stark zerrüttetes Gestein und mehrere Klüfte angefahren. Bei der bergeinwärts folgenden Weggabelung geht es geradeaus zu den Spalten 3 und 4, der Führungsweg wendet sich jedoch nach links, der Spalte 2 folgend. Dort befindet sich der Kleine Dom, eine Felsenhöhle, in der Fledermäuse überwintern. In der Spalte befinden sich zahlreiche gemauerte Streben aus der Erschließungszeit, die das Abrutschen loser Blöcke verhindern sollen. Die berg- und talseitigen Wandpartien der Spalte haben ein unterschiedliches Höhenniveau. Die talseitigen Gesteinspakete sind weiter bergab gerutscht als die hangseitigen. Dadurch wurden die ursprünglich horizontal lagernden Schichten staffelartig gegeneinander versetzt. Die Spalte wird im Verlauf des Weges immer breiter und erreicht zuletzt eine Breite von drei Metern. Die einsehbare Höhe beträgt etwa 20 bis 25 Meter.
Im weiteren Verlauf der Spalte wird der große Dom erreicht, der größte Spaltenbereich der Höhle. Dort wird wegen der guten Akustik Musik über Lautsprecher eingespielt. Der hintere Teil der Spalte ist gesperrt. Dieser zehn Meter lange Bereich heißt Gnomengrotte, da dort mit etwas Phantasie verschiedene Märchengestalten und andere Formen zu erkennen sind. Vor dem abgesperrten Bereich geht es nach rechts in einen Querschlag. Dieser wurde wie der Eingangsstollen während der Erschließung angelegt. Er streicht an mehreren Klüften vorbei, bis am Ende des Querschlages die Große Klamm in der Spalte 3 erreicht wird. Diese Spalte beginnt recht schmal und weitet sich dann. Sie ist bei einer Höhe von über 30 Metern nicht völlig einsehbar. Auch dort ist ein Versatz an den berg- und talseitigen Wandpartien zu beobachten. Diese Spalte weist mit zwei Metern den größten Kluftsprung der Höhle auf. Nach dem Kluftsprung wird wieder der Eingangsstollen erreicht. Rollstuhlfahrer können dort hinausgelangen. Der große Rundweg führt links über den Eingangsstollen in den Berg, wobei weitere Klüfte angefahren werden. Von der Spalte 4 geht es über eine Treppe zwölf Meter aufwärts zur mittleren Etage. Der Eingangsstollen reicht noch weitere neun Meter in den Berg hinein. Dieser Abschnitt diente als Suchstollen für weitere Spalten; allerdings wurden keine weiteren entdeckt. Die Treppe führt an einem Plateau vorbei, über eine zweite Treppe geht es weiter nach oben.
Der Weg führt von Spalte 4 durch einen Streckenabschnitt nach Osten und trifft dort wieder auf die große Klamm der Spalte 3. Von einer Brücke sieht man zwölf Meter frei nach unten. Zwei weitere Treppenläufe an der Kehre führen zur oberen Etage, wo im weiteren Verlauf die Spalte 2 erreicht wird. Von dort kann man in der Tiefe die Felsenhöhle sehen. Auf dem Weg zur Kapelle wird ein Kluftsprung passiert. Über eine sechs Meter hohe Treppe in der Kapelle gelangt man zur Kanzel. In westlicher Richtung geht es durch einen weiteren Querschlag zur Großen Klamm der Spalte 3 zurück. Über eine Treppe kommt man zu einem künstlich angelegten Plateau, Kehre genannt. Dort ist die erste Tropfsteinbildung in Form von Wandsinter zu sehen. Im weiteren Wegverlauf sind die Wände der Kluftspalte großflächig versintert. Über zwei weitere Treppen, die letzten der Höhle, geht es nochmals 13 Meter nach oben, zur oberen Etage.Links befindet sich der Ausgangsstollen, rechts geht der Führungsweg zur Totenkopfspalte weiter. Der Weg führt erneut durch einen Stollenabschnitt, der jedoch nicht bergmännisch exakt angefahren ist und eine wechselnde Breite aufweist. In der Totenkopfspalte, einer Kluft mit abweichender Richtung gegenüber den anderen Klüften, wurden menschliche Skelettteile gefunden. Bis zur Schließung im Jahre 1970 wurde dort den Besuchern ein beleuchteter Totenschädel gezeigt. Anschließend wird ein kurzer Stollenabschnitt, leicht ansteigend, mit daraufstoßenden Spalten bis zum Endpunkt der oberen Etage begangen. Im Stollen geht es zurück in Richtung Höhlenausgang. Nach der Überquerung der großen Klamm zweigt wenige Meter vor dem Ausgang nach Südwesten ein dritter kurzer Seitenstollen ab. Dort baute Goetz Material für seinen Berggarten oberhalb der Höhle ab, was schließlich zur Entdeckung der Höhle führte. Von diesem Seitenstollen aus ging es bergeinwärts in den heutigen Ausgangsstollen, von dem aus die Höhle erschlossen wurde. Außerhalb der Höhle sind links die große Abraumhalde und die Terrasse zu sehen, die von den Erschließungsarbeiten zeugen.
== Flora und Fauna ==
=== Tierwelt ===
Die Tierwelt der Höhle wurde bereits mehrmals erforscht. So fanden am 4. Oktober 1996, 14. Mai 1999 und 22. April 2000 Begehungen durch Zaenker sowie am 14. und 28. Januar 2001 durch Bellstedt statt. Bei den Tieren werden drei Gruppen unterschieden. Die höhlenfremden Tiere geraten zufällig in die Höhle, weil sie sich dorthin verirren. Sie gehen bald zugrunde, da die Höhle nicht ihr eigentlicher Lebensraum ist. Eine weitere Gruppe sind die Höhlenfreunde (Troglophilen), die ihr gesamtes Leben in der Höhle verbringen. Sie können aber auch in der Außenwelt existieren. Die dritte Gruppe werden Troglobionten bezeichnet und haben im Laufe der Evolution Eigenschaften entwickelt, die ihnen ein dauerhaftes Leben in der Höhle ermöglichen. In der Goetz-Höhle wurden Tiere aller drei Gruppen gefunden.In kleinen Wasserbecken im hinteren Teil der Höhle gibt es kleine, meist nur bis zu einem Millimeter große, weiße und augenlose Springschwänze (Collembola), die zu den Troglobionten zählen. In der Goetz-Höhle als einziger Höhle im Thüringer Raum existiert der seltene Tausendfüßer Brachychaeteuma bagnalli. Zu den troglophilen Höhlentieren gehören die Keller-Glanzschnecke Oxychilus cellarius und die Mauerassel Oniscus asellus. Bemerkenswert sind die sechs Arten von Spinnentieren, darunter die troglophilen Spinnenarten Lepthyphantes pallidus und Nesticus cellulanus. Die Baldachinspinne Lepthyphantes pallidus hat eine Körpergröße von nur zwei Millimetern. Hygrophil (feuchtigkeitsliebend) sind die Höhlenspinne Nesticus cellulanus und die Herbstspinne Metellina merianae. Im oberen Höhleneingang halten sich in trockeneren Wandbereichen zwei Trichterspinnen auf, die Hausspinne Tegenaria atrica und Tegenaria silvestris.Im Sommer lebt im Eingangsbereich der Höhle die langbeinige Stelzmücke Limonia nubeculosa. Im Winter überwintern regelmäßig die Weibchen von Stechmücken Culex pipiens in der Höhle. Weiterhin gibt es Pilzmücken (Mycetophilidae), Trauermücken (Sciaridae) und Wintermücken (Trichoceridae), seltener die Schmetterlingsmücken (Psychodidae). Kleine schwarze Fliegen aus der Familie der Sphaeroceridae (Dungfliegen) übersommern im feuchten Eingangsbereich. An einigen feuchten Stellen der Höhlendecke halten sich die glasig-durchsichtigen und augenlosen Larven einer speziell angepassten Pilzmückenart auf. Ganzjährig leben in der Höhle Buckelfliegen (Phoridae) und die troglophile Triphleba antricola. Zwei Schmetterlingsarten, der Höhlenspanner Triphosa dubitata und die Zackeneule Scoliopteryx libatrix, sind typische Höhlenüberwinterer.In der Höhle konnten mehrere Fledermausarten nachgewiesen werden, die überwiegend in den oberen Ausgangsstollen einfliegen, wo ihre Aktivitäten durch Radarsensoren erfasst werden. Die Fledermäuse halten von Oktober bis März in der Höhle ihren Winterschlaf und zählen zu den höchstentwickelten Höhlenbewohnern. An Fledermausarten konnten bisher das Große Mausohr (Myotis myotis), das Braune Langohr (Plecotus auritus) und die Kleine Bartfledermaus (Myotis mystacinus) bestimmt werden. Diese halten sich meistens in großen Höhen der Spalten oder in versteckten Ecken und Nischen auf und sind meist kaum sichtbar.
=== Lampenflora ===
In der Goetz-Höhle hat sich seit der Wiedereröffnung im Jahre 2000 eine ausgeprägte, als Lampenflora bezeichnete Pflanzengemeinschaft im Schein der Lampen entwickelt. Im Licht können sich vor allem Algen, Moose und Farnpflanzen ansiedeln. Meist handelt es sich jedoch um Kümmerformen, die ohne künstliche Beleuchtung in absoluter Dunkelheit nicht überleben könnten. Die Pflanzen sind nicht gleichmäßig verteilt, der Zufall bestimmt, welche Sporen mit dem Sickerwasser von der Erdoberfläche durch Klüfte in die Höhle gelangen. Zur Verbreitung der Pflanzen tragen auch die Höhlenbesucher bei. Mit abnehmendem Abstand zum Leuchtmittel, also mit zunehmender Lichtstärke und Wärmeabstrahlung, geht die Grünzone allmählich in einen Moosgürtel über. Bei manchen Lampen konnte sich aufgrund der Trockenheit keine oder nur eine geringe Lampenflora ausbilden.
=== Archäologische Funde ===
In der Höhle machte Goetz bei den Erschließungsarbeiten in den 1910er-Jahren bereits Funde. Während der weiteren Erschließungsarbeiten durch seine Witwe von 1932 bis 1934 wurden weitere Objekte gefunden. Ein Teil davon wurde zunächst 1934 in zwei Schauvitrinen bei der Eröffnung vor der Höhle ausgestellt. 1958 gelangte ein Teil der Funde in die Meininger Vorgeschichtssammlung. Der Bestand aus dem Meininger Museum befindet sich heute im Steinsburgmuseum bei Römhild. Der Inhalt der Schaukästen ist im Besitz des Thüringischen Landesamts für Archäologische Denkmalpflege (TLAD) in Weimar.
Die meisten Funde stammen aus der Knochenspalte. Es handelt sich um die Knochen von acht menschlichen Skeletten, Knochen und Zähne von Braunbären, Dachsen, Wisenten, Maulwürfen, Wühlmäusen und Eichhörnchen. Keramische Scherben oder Reste von Bekleidung wurden nicht gefunden.
== Tourismus ==
Zu erreichen ist die Höhle über die durch Meiningen führende Bundesstraße 19 sowie von den Autobahnanschlussstellen Meiningen-Nord und -Süd der A 71. Bei der Höhle befinden sich die Höhlenbaude „Zur Spalte“ mit Gastronomie, eine WC-Anlage und das Kassenhäuschen mit Informationen über die Höhle. Nach vielen Monaten Schließzeit wurde am 3. Juli 2021 die Höhle mit Baude nach umfangreicher Sanierung wiedereröffnet.
Die Führungen gehen über gut gangbare Wege und Treppen in die einzelnen Spalten. Eine Führung dauert etwa 45 Minuten. Dabei wird eine Strecke von annähernd 480 Metern zurückgelegt, drei Ebenen mit einem Höhenunterschied von etwa 33 Metern werden auf 164 Treppenstufen überwunden. In der Höhle herrscht ständig eine Temperatur von etwa acht Grad Celsius bei einer Luftfeuchtigkeit von über 80 Prozent. Vom Höhlenausgang führt ein Weg mit Treppen zurück zur Höhlenbaude. Neben der normalen Führung wird auch eine ebenerdige Besichtigung angeboten, um die Höhle für mobilitätseingeschränkte Personen zugänglich zu machen. Spezialführungen sind die „Gruselführung“ für Erwachsene und die „Märchenführung“ für Kinder. In den Jahren 2006 bis 2010 gab es im Jahresdurchschnitt 8376 Besucher.
== Siehe auch ==
Liste der Schauhöhlen in Deutschland
== Literatur ==
Redaktion Angela Nestler et al., Textbeitrag Ronald Bellstedt et al.: Goetz-Höhle Meiningen. Hrsg.: Thüringer Landesanstalt für Geologie, Weimar. Resch DRUCK GmbH, Meiningen 2001, ISBN 3-9806811-2-2.
Redaktion Ina Pustal, Textbeitrag Ronald Bellstedt et al.: Thüringen Untertage: Ein Exkurs zu Schauhöhlen, Besucherbergwerken und GeoMuseen. Hrsg.: Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie, Jena. Druckhaus Gera, Gera 2005, ISBN 3-9806811-4-9.
Ulrich Völkel: Höhlen, Grotten, Schaubergwerke in Thüringen: Eine Wanderung unter Tage, über Tage, aber nicht alltäglich. RhinoVerlag, Ilmenau 2007, ISBN 978-3-939399-03-2.
Stephan Kempe, Wilfried Rosendahl: Höhlen – Verborgene Welten. Primus Verlag, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-89678-611-1.
Goetz-Höhle Meiningen e. V. (Hrsg.): Goetz-Höhle Meiningen – Deutschlands größte begehbare Kluft- und Spalthöhle. Resch Druck GmpH, Meiningen 2000.
Erich Marquardt: Die Goetzhöhle in Meiningen. In: Städtisches Verkehrsamt Meiningen (Hrsg.): Theaterstadt Meiningen und Umgebung. Primus Verlag, Stuttgart 1937.
Erich Marquardt (Hrsg.): Die Goetzhöhle zu Meiningen – Ein Führer für die Besucher und Freunde. Reußnersche Hofbuchdruckerei GmbH Meiningen/Thür., Meiningen 1935.
A. A.: Goetz-Höhle Meiningen – Einzige Klufthöhle Deutschlands. Reich’s Druckanstalt, Meiningen 1935.
== Weblinks ==
goetzhoehle.com Offizielle Webseite
Goetz-Höhle bei Lochstein.de
Goetz-Höhle bei Thueringen.info
MDR Thueringen Journal Beitrag: Goetz-Höhle Meiningen, 15. April 2017.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Goetz-H%C3%B6hle
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Großer Speicher
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= Großer Speicher =
Der Große Speicher war ein historischer Patrizierhof in der nordwestlichen Altstadt von Frankfurt am Main. Die um einen annähernd viereckigen Innenhof gruppierten Häuser lagen zum Westen an der Rosengasse (ab 1918 Schüppengasse), zum Osten an der Rotkreuzgasse, beides heute nicht mehr existierende Parallelstraßen von und zwischen dem Großen Hirschgraben und dem Kornmarkt. Die Nordseite mit einem ummauerten Garten und die Südseite zur Schüppengasse (ab 1899 Bethmannstraße) waren durch angrenzende Häuser verbaut. Die Hausanschrift war zuletzt Schüppengasse 2 bzw. Rotkreuzgasse 1.
Die im Kern nur vage in die Gotik zu datierende Hofanlage erfuhr Ende des 16. Jahrhunderts durch einen niederländischen Einwanderer einen Umbau in Formen der Hochrenaissance. Sie war damit der früheste dokumentierte Bürgerbau der Stadt, der diesen Stil rezipierte und über Jahrhunderte kaum Umbauten erfuhr. Kurz bevor die daraus erwachsende Bedeutung des Großen Speichers für die Frankfurter Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, zerstörten tiefgreifende spätklassizistische Umbauten große Teile des bauzeitlichen Zustands.
Im Rahmen der Altstadtsanierung der 1930er Jahre wurden die wenigen noch erhaltenen Reste des Hofs sorgfältig abgetragen, um ihn später an anderer Stelle wieder errichten zu können, wozu es aufgrund des Kriegsgeschehens nicht mehr kam. Am einstigen Standort des Gebäudes befindet sich heute der denkmalgeschützte ehemalige Bundesrechnungshof, der dort in der direkten Nachkriegszeit errichtet wurde. Die eingelagerten Teile haben bis heute größtenteils in städtischen Depots überdauert.
== Geschichte ==
=== Etymologie, Quellenlage und topographische Einordnung ===
Die Bezeichnung Großer Speicher entstammt offensichtlich dem 18. Jahrhundert. In den Quellen findet sich selbst die Nennung als Speicher nicht vor dem 16. Jahrhundert, zuvor ist meist von einem „Hof“ die Rede. Das dem Hausnamen beigefügte Attribut wurde eingeführt, um eine Abgrenzung zu zwei nahe gelegenen Häusern zu erreichen, deren ältere Bezeichnungen ebenfalls erst im 18. Jahrhundert durch die Bezeichnungen als Mittlerer Speicher (Schüppengasse 2 / Bethmannstraße 16) und Kleiner Speicher (Schüppengasse 4 / Bethmannstraße 18) abgelöst wurden. Worauf sich das Wort Speicher derweil bezieht, bleibt unklar. Da mittelalterliche Häusernamen mangels eines Systems an Hausnummern meist Besonderheiten eines Hauses oder seines Besitzers zur Abgrenzung von anderen Gebäuden heranzogen, kann nur spekuliert werden, dass der Hof, womöglich nach einem Umbau, durch einen besonders eigentümlichen Speicher im Sinne einer Lagerstätte hervorragte.
Über die Geschichte des Gebäudes ist in Anbetracht seiner Bedeutung für die Stadtgeschichte vergleichsweise wenig bekannt. Eine bis in die Neuzeit nachverfolgbare Besitzerhistorie ist im Gegensatz zu anderen wichtigen Baudenkmälern der Stadt wie z. B. der Goldenen Waage am Dom oder dem Salzhaus am Römerberg nicht überliefert. Ferner sind viele Dokumente, die heute darüber möglicherweise Aufschluss geben könnten, insbesondere die aus der reichsstädtischen Zeit stammenden Baumeisterbücher, mit der Zerstörung des Frankfurter Stadtarchivs Anfang 1944 untergegangen.
Von 1902 existiert eine relativ umfangreiche Monographie, die sich jedoch hauptsächlich mit der – damals schon stark veränderten – Architektur des Gebäudes auseinandersetzt, und in gedruckter Form auch wichtige Bauaufnahmen überliefert hat. Für (damals) zurückliegende Zeiträume greift sie vielfach auf die einzige Quelle zurück, die das Gebäude im annähernd bauzeitlichen Zustand beschreibt, nämlich die Texte und Bilder des Frankfurter Malers Carl Theodor Reiffenstein. Sie dokumentieren akribisch die Veränderung der Stadt seit seinen frühesten Kindheitserinnerungen aus dem Jahr 1824 bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1893, etwa bis 1885.
Andererseits lässt die Tatsache, dass die Monographie vom damaligen Leiter des Stadtarchivs, Rudolf Jung, mitverfasst wurde, zunächst annehmen, dass ohnehin nur eine geringe Überlieferung vorhanden war – hatte er bei seiner Arbeit doch uneingeschränkten Zugriff auf die damals riesigen Archivbestände (vgl. dazu jedoch Rezeption im 19. Jahrhundert). Ein Bild des rein äußerlichen Zustands der Anlage kurz vor ihrem Abriss liefern schließlich die für Treuners Altstadtmodell in den 1930er Jahren angelegten Skizzenbücher, die im Historischen Museum erhalten sind.
Wie weit die Geschichte des Großen Speichers zurückgereicht haben mag, lässt sich trotz des Mangels an Quellen relativ exakt festlegen. Der Stadtgeschichtsschreiber und -topograph Johann Georg Battonn bemerkte Anfang des 19. Jahrhunderts zur Rotkreuzgasse:
Die „Andaue“, also Antauche, früher auch Schüppe genannt, war nichts anderes als die Braubach, ein bereits im ersten christlichen Jahrtausend verlandeter Nebenarm des Mains, der im Altstadtbereich ungefähr der heutigen gleichnamigen Straße folgte. Ab dem heutigen Paulsplatz verlief sie entlang der danach benannten Schüppengasse – seit ihrer südseitigen Verbreiterung 1899 Bethmannstraße. Einer direkt südlich davon gelegenen ersten Stadtmauer, die wohl im 10. Jahrhundert entstand, diente sie als natürlicher Graben. In staufischer Zeit entwickelte sich die Stadt ab dem 12. Jahrhundert über diese Grenzen hinaus und wurde bis spätestens 1200 mit einer weiteren Stadtmauer, der heute noch in Resten erhaltenen Staufenmauer umgeben.Nach dem Bau der Staufenmauer hatte der ehemalige Graben der ersten Befestigungsanlage keine militärische Bedeutung mehr und konnte nun als innerstädtischer Kanal gleichermaßen wirtschaftlich wie auch zur Kanalisation der Abwässer genutzt werden. Aus diesem Grunde ließen sich die Weißgerber mit ihren übel riechenden Betrieben entlang der Schüppengasse nieder. Die dort lange Zeit nur lose und mehr von ausgedehnten Höfen und Gärten geprägte Bebauung war bereits daran zu erkennen, dass das gesamte Gebiet zwischen Großen Kornmarkt, dem späteren Großen Hirschgraben, der Schüppengasse und der Weissadlergasse im 14. und 15. Jahrhundert, urkundlich erstmals 1307, als „valle rosarum“ oder „Rosental“ bezeichnet wurde.
Das Rosental durchschnitten zwei Gassen, die bereits genannte Rotkreuzgasse im Osten, und die Rosengasse im Westen. Erst Ende des 16. Jahrhunderts wurde die durch nachgelagerte Befestigungen sinnlos gewordene Staufenmauer in diesem Gebiet abgerissen und der davor gelegene Stadtgraben, der Hirschgraben, aufgefüllt und in die gleichnamige Straße umgewandelt. Bis dahin stellte die Rosengasse den Zwinger der staufischen Mauer dar, der 1350 von Baldemar von Petterweil als „hic proximus muro opidi“ beschrieben wurde. Dieser Zustand ist auf dem Belagerungsplan der Stadt von 1552 trotz der in dem Gebiet nur sehr undeutlich gezeichneten Straßenverläufe noch gut zu erkennen. Erst 1918 erhielt sie den Namen der 1899 verschwundenen Schüppengasse, der Name der Rosengasse verschwand.
Die Rotkreuzgasse, die bis ins 17. Jahrhundert hinein Dietrichsgasse hieß, fand ebenfalls schon in Petterweils Aufzeichnungen Erwähnung. Battonn vermutete in einer dort bereits 1273 erwähnten Hofstätte des namensgebenden Gerichtsboten Dietrich einen Vorgängerbau des Großen Speichers, ohne dafür jedoch in seinem Urkundenauszug einen Beleg zu liefern, dass es sich tatsächlich um ein Gebäude an exakt dieser Stelle handelte. Unabhängig davon ist die Einteilung des Rosentals in Querstraßen, die die spätere Parzellierung vorgaben, bereits für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts urkundlich nachvollziehbar.
=== Vorgeschichte ===
Am südlichen Rand des Rosentals wurde, rein aus der zuvor in Grundzügen geschilderten Entwicklungsgeschichte der Niederstadt geschlossen, wohl im 14. Jahrhundert erstmals ein Vorgängerbau des späteren Großen Speichers errichtet. Die frühesten schriftlichen Quellen, die sich auf das Gebäude beziehen, stammen allerdings erst vom Anfang des 15. Jahrhunderts. 1412 beschrieb ein Zinsbuch Einnahmen von einem „Hof mit Garten“, der sich im Besitz eines Lutz zum Wedel befand. Ausdrücklich wurde auch die Brücke über den noch immer offenen Stadtgraben erwähnt.Laut der älteren Literatur, die allerdings keinen Quellennachweis erbringt, war das Gebäude bereits im 14. Jahrhundert im Besitz der Familie. Im Häuserverzeichnis von 1433–1438 findet sich ein Eintrag, der es im Besitz des Heinrich Weiss zum Wedel ausweist. Somit kann als bewiesen gelten, dass der Hof im 15. Jahrhundert über mehrere Generationen in der bekannten Frankfurter Patrizierfamilie vererbt wurde, obwohl er in seiner damaligen Form nicht mehr fassbar ist.
Eine Bauherreneigenschaft lässt sich derweil nicht zuschreiben, obgleich die Errichtung einer Hofanlage dieser Größe nur jemand aus den Reihen des Stadtadels bzw. -patriziats stemmen konnte, zu denen die Familie Wedel klar zu zählen war. Ende des 15. oder Anfang des 16. Jahrhunderts müssen die Gebäude durch Verkauf oder – unter den Geschlechtern der städtischen Oberschicht häufige – familiäre Verbindungen in den Besitz der nicht minder um die Stadt verdienten Patrizierfamilie Knoblauch gekommen sein. Mit diesem Eintrag aus dem Jahre 1509 über Bedezahlungen Siegfried Knoblauchs als Besitzer eines zum Hof gehörigen Gartens sind die Schriftzeugnisse über den Vorgängerbau aber bereits erschöpft.Das Rosental entwickelte sich derweil zum spätmittelalterlichen „Rotlichtbezirk“ der Stadt. Neben den zwei von der Stadt unterhaltenen Bordellen in der Kleinen Mainzer Gasse am äußersten westlichen Ende der Altstadt entstanden vor allem ab der Mitte des 15. Jahrhunderts zunehmend privat betriebene Einrichtungen dieser Art. Um dem Einhalt zu gebieten, wurde mit dem Rosental, was abermals seinen abgeschiedenen und vorortartigen Charakter belegt, ein dedizierter Bereich ausgewiesen, in dem sich die Prostituierten zukünftig aufzuhalten hatten. So belegten die städtischen Bedebücher im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts die Anwesenheit von Dutzenden Gewerbetreibenden in der Rosen- und Schüppengasse. Erst das völlige Verbot der Prostitution in der Stadt im Zuge der Reformation im Jahre 1560 setzte dem florierenden Gewerbe ein offizielles Ende, wenngleich es natürlich selbst bis ins 20. Jahrhundert nie völlig, und auch nicht aus diesem speziellen Stadtteil verschwand.
Im 16. Jahrhundert wechselte der also inmitten des „Rotlichtviertels“ stehende Große Speicher durch Heirat in den Besitz des Frankfurter Patriziergeschlechts Glauburg. 1526 ehelichte der damals 23-jährige Johann von Glauburg (1503–1571) die gleichaltrige Anne Knoblauch, die Tochter des Besitzers Johann Knoblauch. Über das Gebäude verfügen konnte Johann wohl erst in den 1530er Jahren, denn noch 1529 wird es urkundlich als „Johann Knoblauchs Speicher“ bezeichnet.
Um 1540 muss die Familie einen Um- oder Neubau des Hofs durchgeführt haben, dessen Umfang allerdings unbekannt ist. Der einzige Hinweis darauf war die Jahreszahl 1542, die sich am Giebel des in Fachwerk errichteten Nordbau-Obergeschosses an der Rotkreuzgasse befand. Erst 1550 ist eine Bautätigkeit am Großen Speicher urkundlich dokumentiert. Trotz der guten Wiedergabe der städtischen Topographie ist das Gebäude selbst auf dem Belagerungsplan der Stadt von 1552, im Gegensatz zum Plan von Matthäus Merian aus dem Jahr 1628, nicht mit Sicherheit zu erkennen.
Johann von Glauburg war nicht nur ein geschickter Außenpolitiker, der die Reichsstadt erfolgreich durch den Schmalkaldischen Krieg und die Belagerung von 1552 manövrierte, sondern vermittelte auch im Inneren im wirtschaftlichen Konflikt mit den erstmals 1554 in die Stadt geflohenen reformierten Niederländern und Engländern. In ihm fanden die durch neue Branchen und ihre calvinistische Auffassung erfolgreichen Einwanderer einen Fürsprecher, die sich den verständnislosen alteingesessenen Kaufleuten und Zünften gegenübersahen. Als 1585 der spanische Statthalter Alessandro Farnese Antwerpen eroberte, setzte ein nie da gewesener Flüchtlingsstrom in die Stadt am Main ein.
Allein 70 Kaufleute und 30 Goldschmiede aus Antwerpen ließen sich auf einmal in Frankfurt nieder, bis 1589 waren es fast tausend, bis Mitte des nachfolgenden Jahrzehnts noch einmal so viele. Anfangs wohnten sie, wo sie gerade Platz finden konnten, und somit über die ganze Stadt verteilt. Da sie zur Ausübung der von ihnen importierten Gewerbe und Handwerke jedoch weder Raum fanden und erhielten, siedelten sie nach und nach in die westliche Niederstadt über, wo noch viel freies Baugelände vorhanden war und sich außerdem die ihnen anfänglich überlassene Weißfrauenkirche befand.
So wurde das von der Alten Mainzer Gasse, der Schüppengasse, dem Großen Kornmarkt, dem Großen Hirschgraben und dem Roßmarkt gebildete Stadtviertel ihr bevorzugtes Quartier. Im einstigen Rosental, wo ein Häuserverzeichnis noch 1509 gerade einmal knapp 20 Häuser und den Hof mit Garten gezählt hatte, glich sich die Bebauungsdichte nun der des übrigen Altstadtkerns an.
=== Erwerb durch Franz de le Boë ===
Unter den „welschen“ Zuwanderern war auch der Seidenfärber und Seidenbereiter namens Franz de le Boë aus Lille im französischsprachigen Teil Flanderns, das seit 1555 zu den spanischen Niederlanden gehörte und heute auf französischem Staatsgebiet liegt. Am 16. Oktober 1585 kaufte er von den Glauburgschen Erben für 2.200 Gulden den Hof nebst Garten. Offenbar hegten auch die Nachfahren von Johann von Glauburg Sympathien für die Zuwanderer, denn andernorts verdienten sich die Patrizier, deren Vermögen in Grundstücken und Immobilien in der ganzen Stadt angelegt war, in jenen Zeiten der Wohnungsnot ein Vermögen. Die Preise explodierten und überstiegen bald nie gekannte 10.000 Gulden für ein einzelnes Haus.
Der neue Besitzer des Großen Speichers ließ diesen 1587 bis 1590 nach seinen Vorstellungen einer gereiften Renaissance umgestalteten, die sich noch immer merklich von denen der Bürger der konservativen Reichsstadt unterschied. Derweil entwickelte sich die politische Situation zu Ungunsten der Zuwanderer. Nachdem ihnen 1593 mit der Anstellung von Cassiodorus Reinius ein zweiter französisch-lutherischer Prediger genehmigt worden war, verbot der Rat die Anstellung eines weiteren Geistlichen. Hintergrund waren zweifellos Befürchtungen, dass die Gewährung der kirchlichen Gleichstellung auch eine politische und damit eine schwere Gefährdung der Herrschaft des Patriziats über die Stadt zur Folge haben könne.
Die Stadtvorderen lebten bereits seit Generationen nur noch von Renten und Immobilien ihrer Vorväter und drohten nun, von den Zuwanderern finanziell überflügelt zu werden. Damit hätten sie die einzige Grundlage ihrer Herrschaft eingebüßt. Auch in anderer Hinsicht war der Rat nicht unbelastet, hatte er doch trotz eines bereits 1561 ausgesprochenen Verbots das kirchliche Gemeindeleben vor dem Hintergrund der Steuerkräftigkeit der neuen Gemeinde mehr als drei Jahrzehnte stillschweigend geduldet.
Als der Rat 1596 schließlich den Pachtvertrag über das für Gottesdienste genutzte Haus Zur großen Einung an der Seckbächer Gasse kündigte, war es den Reformierten genug. Unter der Führung des Anton de Ligne, welcher ein Vetter des früh verstorbenen Noe du Fay und Schwager des René Mathie war, nahmen sie Verhandlungen mit der gräflichen Regierung zu Hanau auf. Diese wurden bereits am 1. Juni 1597 durch einen Vertrag mit Graf Philipp Ludwig II. erfolgreich beendet, der ihnen in der zu gründenden Hanauer Neustadt weitgehende kommunale und kirchliche Autonomie nach dem Vorbild von Frankenthal einräumte.
Für Frankfurt war die nun einsetzende Abwanderung von über der Hälfte der Zugezogenen, also mehr als tausend Menschen, ein schwerer Schlag. Erkennbar wird dies schon daran, dass von den 47 wallonischen Familienvätern, welche sich im Jahr 1600 in Hanau niederließen, nicht weniger als 32, und von den 47 flämischen Hausvätern 10, insgesamt also fast die Hälfte, zuvor bekannte Frankfurter Kaufleute gewesen war. Darunter war auch Franz de le Boë und sein Schwiegersohn David le Conte, nahezu alle Zuwanderer aus Valenciennes, Tournai, Mons und Lille hatten die Stadt verlassen.Offenbar behielten viele dennoch ihre Grundstücke und Häuser in der Stadt, da diese der Hauptabsatzmarkt für die in der Hanauer Neustadt hergestellten Waren blieb, von der zweimal jährlichen Frankfurter Messe noch ganz abgesehen. Nur so ist auch zu erklären, wieso die Witwe de le Boë nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1604 den Großen Speicher für 5.000 Gulden an die Eheleute Godin weiterverkaufen konnte, dem Namen nach zu urteilen ebenfalls reformierte Flüchtlinge. Nach dem Besitzerwechsel an die Familie Godin verschwindet die Geschichte des Großen Speichers für Jahrhunderte wieder im Dunkeln. Sie wird nur kurz durch ein Protokoll des städtischen Kuratelamtes aus dem Jahre 1766 erhellt, wonach sich der Große Speicher im Jahre 1741 im Besitz des Bierbrauers Nikolaus Peter Dillenburger befand.
=== Wiederentdeckung und Rezeption im 19. Jahrhundert ===
Anfang des 19. Jahrhunderts verfiel die Frankfurter Altstadt in einen Dornröschenschlaf, der aus der Schaffung neuer, klassizistischer Stadtviertel vor den Toren der Stadt, dem enormen Bedeutungsverlust des Altstadtareals durch den Wegfall der Wahl- und Krönungsfeierlichkeiten mit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs und schließlich auch dem langsamen Wegbrechen des klassischen Messgeschäfts resultierte. Der weitaus größte Teil der einstigen Patrizierhäuser ging nun in bürgerliche Hände über. Als infolge der Industrialisierung die Bevölkerungszahl ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts stark anstieg und auch das traditionell dort ansässige Handwerk in der Bedeutungslosigkeit versank, verkamen große Teile der Altstadt zu einem Armenquartier, wo oft über zehn Haushalte in einem Gebäude ansässig waren, das ursprünglich für eine Familie geplant und erbaut worden war. Dies betraf auch das Viertel um die Schüppengasse, die abermals als Straßenstrich in Verruf geriet.Um 1850 befand sich der Große Speicher im Besitz des Bierbrauers J. J. Jung. Zwecks Einrichtung eines Brauhauses mit Restaurant und Kegelbahn ließ er zwischen 1858 und 1863 die historischen Innenräume stark verändern und drei von vier Hofflügeln teils deutlich aufstocken, was das Erscheinungsbild nachhaltig beeinträchtigte. Noch 1853 hatte Carl Theodor Reiffenstein, der im 19. Jahrhundert akribisch den Wandel der Frankfurter Altstadt und ihres Umlandes sowohl schriftlich dokumentierte als auch zeichnete, wie folgt charakterisiert:
Reiffensteins Beschreibung kann als Beginn der neuzeitlichen Rezeption der Hofanlage gesehen werden, wobei zur Zeit seiner Beschreibung noch die gesamten reichen Fassaden unter Putz lagen, den gleichermaßen Brandschutzbestimmungen und klassizistische Bestrebungen des 18. Jahrhunderts gebracht hatten. Erst 1880 entfernte der Architekt Otto Lindheimer die Verkleidung im Auftrag des damaligen Besitzers H. S. Langenbach, so dass der gesamte prachtvolle Schnitzschmuck wieder sichtbar wurde. Lindheimer zählte es in dem ersten großen architekturgeschichtlichen Werk Frankfurts, Frankfurt am Main und seine Bauten, 1886 dann auch zu den wenigen bedeutenden Frankfurter Renaissancebauten.Im 1891 erschienenen Tafelwerk Denkmäler Deutscher Renaissance war das Gebäude neben dem Salzhaus am Römerberg als einziges Frankfurter Bürgerhaus aufgeführt. Auch die an Privatbauten sehr arme erste Auflage von Dehios Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler erwähnte 1905 den Großen Speicher ausdrücklich.In der kaiserzeitlichen Begeisterung für die neu entdeckte „deutsche Renaissance“ war jedoch lange Zeit tabu, dass der Große Speicher, wie alle überdurchschnittliche Pracht entfaltenden Bürgerbauten der Stadt, gar nicht von Einheimischen, sondern von Zuwanderern erbaut worden war. Noch die Monographie im 1902–1914 erschienenen und bis heute maßgebliche Standardwerk zur Geschichte der bürgerlichen Frankfurter Architektur, Die Baudenkmäler in Frankfurt am Main, verweigerte die Zuschreibung an de le Boë.
Ähnlich wie bei der Goldenen Waage, wo das Werk in einer Form, hinter der eigentlich nur Absicht vermutet werden kann, geschichtliche Details klitterte und die Herkunft des Bauherren aus Tournai verschwieg, war auch dort nur die Rede von „der Blüthezeit der deutschen Renaissance“ und dem „gediegenen Kunstsinn der wohlhabenden Bürger“, der Bauten wie den Großen Speicher entstehen ließ. Da das Werk, wie bereits erwähnt (s. Quellenlage), vom damaligen Leiter des Stadtarchivs mitverfasst wurde, der Zugriff auf sämtliche Quellen hatte, ist schwer vorstellbar, dass die wahren Auftraggeber tatsächlich unbekannt waren.
Erst 1921 erfolgte durch den Frankfurter Rechtsanwalt und Historiker Alexander Dietz in seiner Frankfurter Handelsgeschichte die korrekte Zuschreibung, er nahm dabei aber – objektiv falsch – weiterhin die einheimischen Frankfurter Bauherren in Schutz:
=== Niedergang, Altstadtsanierung und die heutige Situation ===
Nach dem Ersten Weltkrieg ging die Wirtschaft im Großen Speicher ein – die Genehmigung zur Nutzung als Brauhaus war schon 1879 wieder entzogen worden – und die Gebäude verfielen weiter. Adressbücher berichten von verschiedenen einfachen Handwerksbetrieben, die dort in den Zwischenkriegsjahren ansässig, jedoch kaum der immer noch großen Bedeutung der Hofanlage angemessen waren.
Eine vermeintlich neue Blütezeit begann 1935, als ein Wirt die Erlaubnis erhielt, im Großen Speicher eine Altdeutsche Bierstube einzurichten. Zur gleichen Zeit, als die selbst im nationalen Vergleich außergewöhnlich gut erhaltene Altstadt touristisch entdeckt wurde, waren bereits Planungen für eine umfangreiche Sanierung derselben im Gange, die im nationalsozialistischen Deutschland in vielen großen Städten unter dem Begriff der Altstadtgesundung staatlich unterstützt wurden.
Dabei handelte es sich allerdings in den seltensten Fällen um das, was heute im denkmalpflegerischen Sinne unter Sanierung verstanden wird. Im Grunde hatte sich der Umgang mit der Altbausubstanz seit den Straßendurchbrüchen der Kaiserzeit kaum weiterentwickelt – in den Planungen war somit meist die Rede von sogenannten Ausräumungen, also Totalabrissen ganzer Straßenzüge, um entweder breiteren Zufahrtsstraßen, Parkplätzen oder angepassten Neubauten Platz zu machen.Block XVII des 1936 nach einem zuvor erfolgten Architektenwettbewerb präsentierten Altstadtgesundungsplans betraf das Areal des Großen Speichers, wörtlich:
Außerhalb des städtischen Schriftverkehrs wurde die anstelle des Gebiets geplante, 16 Meter breite Eckermannstraße jedoch als „neue Zufahrt zum Main“ beworben, die „Sanierung durch Abbruch“ also öffentlich durchaus anders dargestellt. Der Große Speicher und Haus Heydentanz, ein in der Blütezeit des mittelrheinischen Fachwerkstils erbautes Gebäude südlich davon, standen bereits damals unter Denkmalschutz. Auch der Wert der rund 70 übrigen von der Maßnahme betroffenen Häuser als ein weitgehend unverändertes Ensemble der Zeit vor allem vor 1750 war bekannt, wie der Frankfurter General-Anzeiger in einem Artikel am 5. November 1937 schrieb. Gleichzeitig konstatierte man nüchtern:
Widerstand gegen diese radikalen Pläne gab es vom Bezirkskonservator aus Wiesbaden sowie von Seiten des Kunsthistorikers Fried Lübbecke, dem Vorsitzenden des Bundes tätiger Altstadtfreunde. Sie konnten die Abbrüche letztlich nicht verhindern, aber eine Sicherung als wertvoll erachteter Bauteile, sowie eine Überarbeitung der Pläne für die zu errichtenden Neubauten erreichen. 1938 wurden die Abbrüche durchgeführt und Neubauten im angepassten Stil errichtet, die in der Weißadlergasse teils heute noch erhalten sind. Zeitgleich kamen Pläne für einen Wiederaufbau des Großen Speichers in der Metzgergasse an der Stelle des dort abgebrochenen Schlachthauses auf, wie der Frankfurter General-Anzeiger am 10. Juni 1938 berichtete:
Auch der Wiederaufbau an dieser Stelle war keinesfalls unumstritten – auf ersten Rekonstruktionsskizzen wirkte der Große Speicher an der gewaltigen Brandmauer als winziges Häuschen. Ein nicht mehr zuordenbarer Zeitungsartikel von H. T. Wüst, wohl um 1938, bemerkte dazu, „dass dies für einen geschickten Architekten jedoch kein Problem sei, dennoch solle das Hochbauamt die Aufgabe nicht unterschätzen, denn was die Vergangenheit an diesem Bauwerk gesündigt habe, das solle durch die gewissenhafte Behandlung dieses altstädtischen Kulturgutes wieder gut gemacht werden.“ Zur Ausführung der Pläne kam es aufgrund des Kriegsgeschehens ohnehin nicht mehr.
In den Bombenangriffen des März 1944, die die gesamte Frankfurter Altstadt mit allen Neubauten in der Eckermannstraße zerstörten, wurden auch die steinernen Reste des Großen Speichers im Depot vernichtet, einzig die hölzernen Teile der Fassade blieben aufgrund von Auslagerung verschont. Nach dem Krieg wurde auf dem ehemaligen Areal des Großen Speichers 1954–1955 durch die Architekten F. Steinmeyer und W. Dierschke der Bundesrechnungshof in für die Altstadt unmaßstäblichen Formen errichtet.
Das Gebäude steht seit dem Wegzug der Behörde im Jahr 2000 leer, eine Umnutzung oder gar Neubauten an der Stelle scheiterten bisher am Denkmalschutzstatus. Auch das ursprüngliche Straßennetz an dieser Stelle ist durch die im Sinne einer autogerechten Stadt geschaffene Horizontale in Form der Berliner Straße völlig untergegangen. Das ehemals geplante Wiederaufbaugebiet des Großen Speichers südlich des Doms ist heute mit großformatigen Wohnbauten der 1950er Jahre überformt, die gleichermaßen die ursprüngliche Parzellierung wie Straßenstrukturen negieren.
2008 wurde anlässlich der geplanten Rekonstruktion einiger bedeutender Frankfurter Bürgerhäuser auf dem Areal des ab 2010 abgerissenen Technischen Rathauses die Dokumentation Spolien der Frankfurter Altstadt veröffentlicht. Sie zeigt erstmals fotografisch die bis heute in städtischen Depots erhaltenen Fassadenteile des Gebäudes. Sie stammen sämtlich vom Fachwerkteil des Nordbaus, sechs von elf Hermen, Teile des Brustriegels, eine Konsole sowie alle geschnitzten Teile des Zwerchhauses sind noch vorhanden, geschätzt etwa 60 % der bildhauerisch bearbeiteten Originalsubstanz. Da vieles ähnlich gestaltet war, ist davon auszugehen, dass die abgenommenen Teile 1938 bewusst gewählt wurden, um anhand von Fotografien und Analogien ein späteres Nachschnitzen der übrigen Teile bei einer Rekonstruktion zu ermöglichen. Dies wäre – theoretisch – auch heute noch möglich, da gute Aufmaße und Fotografien des Nordbaus den Krieg ebenfalls überstanden haben.
== Architektur ==
=== Äußeres ===
Die Hofanlage bedeckte ein Grundstück von annähernd quadratischem Grundriss, der in der Länge etwa 21,5 Meter und in der Breite ungefähr 23 Meter maß. Vier zweigeschossige Flügel umschlossen einen Innenhof von rund 12,5 Metern Länge und 9,5 Metern Breite. Sie hingen nur an der Nordwestecke nicht zusammen, wo ein nördlich etwas aus der Parzelle herausragender Garten von der Form eines hochkant stehenden Rechtecks eingestellt war. Seine Zugehörigkeit zum Hof machte eine hohe umgebende Mauer deutlich, die Erschließung erfolgte durch eine Pforte im Innenhof.
In diesem ursprünglichen, bis Mitte des 19. Jahrhunderts existierenden Zustand machte der Große Speicher von den ohnehin engen und fast ständig dunklen umgebenden Straßen aus einen eher schlichten Eindruck. Die Außenfassaden des Süd- und Nordflügels waren durch anschließende Bauten an der Rotkreuz- und Rosengasse völlig verbaut. Gegenüber ihrem baulichen Umfeld hob sich die Anlage allerdings dadurch hervor, dass sie überwiegend aus Stein konstruiert war, nämlich die Sockel des Nord- und Westbaus sowie der gesamte Ost- und Südbau.
Baumaterial war für die verputzten konstruktiven Teile gelber Kalkstein, für sichtbar belassenen Partien wie Tür- und Fenstergewände roter Mainsandstein. Die Obergeschosse des Nord- und Westbaus, des Treppenturms sowie die vier Giebeldächer bestanden aus Eichenholzfachwerk. Den Dächern war gemein, dass sie zum Innenhof jeweils mittig ein großes Zwerchhaus sowie meist drei oder vier kleinere Gauben besaßen. Ausgenommen war der Nordbau, der neben dem Zwerchhaus überhaupt keine Dachaufbauten besaß, sowie der Westbau, bei dem die Gauben hofseitig gruppiert waren.
==== Nordbau ====
Die Nordseite des Nordbaues war seit der Bauzeit von dem anschließenden Haus Rotkreuzgasse 3 verdeckt, das zwischen 1895 und 1902 abgebrochen wurde. Dies erklärt, wieso die ab dato zum so vergrößerten Rotkreuzplätzchen zeigende Fassade keinerlei Gestaltung oder Fenstereinbauten hatte und einzig das auch nordseitige Überkragen des Fachwerkobergeschosses dokumentierte. Das Rotkreuzplätzchen war seinerseits erst durch zwischen 1832 und 1852 erfolgte Abbrüche in der Rotkreuz- und Rosengasse entstanden, zuvor bestand von alters her eine geschlossene Häuserreihung zwischen Schüppen- und Weißadlergasse.
Der Giebel zur Rotkreuzgasse war im Gegensatz zu den verputzten Untergeschossen vollständig verschiefert, besaß eine für Häuser der Spätgotik und Renaissance in Frankfurt typische Nase unterhalb des Firsts. Dort befand sich auf dem Brett, das die Nase nach unten abschloss, die inschriftliche Datierung 1542. Erd- und Dachgeschoss zeigten jeweils ein doppeltes Rechteckfenster, das Obergeschoss zusätzlich zu einem solchen noch einzelnes, die allesamt stilkritisch noch der Erbauungszeit zuzurechnen waren. Im Erdgeschoss wies einen bemerkenswerten, so nur noch am Ostbau wiederzufindender Fenstertypus mit einem stichbogigen Sturz auf. Der zum ummauerten Garten des Nordbaus weisende Westgiebel war analog zur gegenüberliegenden Seite gestaltet, besaß abweichend jedoch nur ein doppeltes Rechteckfenster im Obergeschoss und ein kleines Viereckfenster im Dachgeschoss direkt unterhalb des Firsts.
Die Hoffassade des Nordbaus bildete den kunsthistorisch bedeutsamsten Teil der Anlage. Das zentrale, von einem Rundbogen überspannte Eingangstor lag fünf Treppenstufen über dem Hofniveau. Der an der ganzen Anlage häufig zu findende Übergangsstil von der Gotik zur Renaissance wurde dort in der Verwendung einer architravartigen Gliederung des Portalgewändes deutlich, die von einem Rundstabprofil in Kämpferhöhe durchschnitten wurde. Am Sturz befanden sich drei in ihrer Formensprache mehr Richtung Renaissance tendierende Zierschilder von fantastischem Umriss, von denen das mittlere die inschriftliche Datierung 1587 zeigte. Links des Eingangs hatte das Erdgeschoss vier, davon drei gruppierte, rechts ein einzelnes, mit einer aufwendigen Schlosserarbeit geschütztes bauzeitliches Rechteckfenster. In der westlichen Ecke des Erdgeschosses ermöglichte ein weiteres, drei Stufen über dem Hofniveau liegendes Portal mit flachem Stichbogen den Zugang in den nordwestlich anstoßenden Garten.
Als Gemeinsamkeit des darüber liegenden Fachwerkgeschosses war das deutliche Hervortreten sämtlicher Elemente gegenüber der Erdgeschosswand zu bemerken, was die ohnehin sehr plastische Wirkung nochmals betonte. Eine Gruppe von acht zusammengefassten und einem einzelnen Rechteckfenster wurden dort von dem reichsten Schnitzschmuck gerahmt, den in Frankfurt neben dem Salzhaus ein Fachwerkbau aufzuweisen hatte. Der unter den Fenstern befindliche, mit Bandornamentik und einem stabförmigen Blattgewinde verzierte Brustriegel ging nicht durch, sondern war zwischen den einzelnen Fensterpfosten eingespannt, wo er jeweils mit einer liegenden Volute endete. Der Fenstersturz zeigte einen durchgehenden Eierstab. Unterhalb des Brustriegels waren die Fensterpfosten als geschuppte Konsolen mit aufsitzender und nach oben hin weit vorgekröpfter Maske, jenseits der Brüstung als zierliche Hermenfiguren ausgearbeitet. Nach den älteren Abbildungen war sowohl jede Maske als auch jede Hermenfigur individuell gestaltet, was an ein etwaiges, jedoch nicht mehr nachvollziehbares ikonografisches Programm denken lässt. Der Frankfurt Kunsthistoriker Fried Lübbecke ging davon aus, dass es sich um Porträts des Bauherrn, seiner Familienmitglieder und des Hauspersonals handelte.Die Brüstungsfelder zierten liegende Spangenkreuze sowie verschiedene Varianten von Andreaskreuzen. Dabei handelte es sich jedoch nicht um konstruktive Verstrebungen, wie sie an Fachwerkhäusern der Renaissance im mitteldeutschen Raum typisch sind. Tatsächlich waren es aus Bohlen ausgesägte und nur eingelegte Verzierungen. Aufgrund dieser Fertigungstechnik wirkten sie in ihrer Formensprache auch viel „krauser“ und verwiesen so noch deutlich auf Maßwerke der gotischen Epoche. Unterhalb der Brüstungsfelder befand sich ein aus einem einzelnen Stück Holz gefertigtes Schalbrett, das die Balkenköpfe der Zwischendecke verkleidete. Es war mit einem Deckprofil sowie einem reichen, von Masken unterbrochenen Festonfries versehen.
Auch das einzelne große Zwerchhaus zum Hof war mit aufwändigem Schnitzschmuck verziert. Im Gegensatz zu den Untergeschossen erweckte das Bauteil gar den Eindruck, als wäre es etwas später, da völlig frei von den gotischen Anklängen des darunterliegenden Geschosses entstanden, was sich freilich nicht beweisen lässt. Die Fensterpfosten zeigten die gleichen Hermenfiguren, an die spiegelsymmetrische Seitenteile mit äußerst bewegtem Umriss und schnabelartigem Vorsprung anschlossen. Über dem Fenstersturz mit flachem Stichbogen befanden sich zwei liegende Figuren zwischen einer Maske, die den oberen Teil eines ionischen Kapitells trug.
==== Ostbau ====
Der zwischen Nord- und Südbau eingestellte, massive Ostflügel stellte den architektonisch schlichtesten und in seiner ursprünglichen Funktion wohl auch eher einen Verbindungstrakt dar. Da der Dachfirst niedriger lag als die der Anschlussbauten hatte das Bauteil somit nur zwei gestaltete Seiten – eine zur Rotkreuzgasse und eine zum Hof.
Zur Straße lag im Erdgeschoss neben zwei von Stichbögen überdeckten, aus der Erbauungszeit stammenden Doppelfenstern ein bemerkenswertes Portal. Obgleich es schon sehr der Formensprache der Renaissance verpflichtet war, wich es in seiner Gestaltung dennoch völlig vom Hauptportal am Südbau ab. Das den Türstock umgebende Gesims vergrößerte sich auf Höhe des Türsturzes zu „Ohren“, oberhalb dessen ein weiteres Gesims aus Fries und Kranz der ionischen Ordnung anschloss. Dieses bildete das Auflager für eine zierliche, zweiteilige Bekrönung. In der Mitte befand sich ein Schild, das von Rollwerk, durchgesteckten Riemenornamenten und Früchten gerahmt wurde und in Ansätzen bereits an das Beschlagwerk der Hochrenaissance erinnerte. Auf dem Schild saß ein Engelskopf, seitlich davon entrollten sich mit Schuppenornament verzierte Voluten aus fantastischen, bewegten Aufsätzen nach oben zu winkelartigen Formen. Diese bildeten wiederum den Aufsatz für das von einem Palmettenornament ausgefüllte Giebeldreieck.
Das Obergeschoss besaß noch ein Paar der überall am Haus verbreiteten doppelten Rechteckfenster wie sie sich auch an der äußerst schlichten Hofseite des Ostbaus im Obergeschoss wiederfanden. Das Erdgeschoss zeigte zwei der Straßenseite entsprechende Doppelfenster mit Stichbögen. Ferner gab es dort noch zwei nicht näher beschriebene Eingänge, die dem vorhandenen Bildmaterial nach zu urteilen ebenfalls noch bauzeitlich waren.
==== Südbau ====
Am Südbau, der nach Süden hin weniger als einen Meter durch einen schmalen und unzugänglichen Traufgang von der Brandmauer des anschließenden und zudem deutlich höheren Hauses Heydentanz getrennt war, bestanden an der Außenfassade drei bauzeitliche, schmale Rechteckfenster im ersten Obergeschoss. Jenseits der Mauer, die den Traufgang verstellte, knickte der Südflügel etwa im letzten Fünftel seines östlichen Verlauf nach Norden hin ab, so dass dieser Teil auch von der Schüppengasse bzw. späteren Bethmannstraße aus sichtbar war. Im Erdgeschoss dieses diagonal zwischen Süd- und Nordbau befindlichen Teils befand sich eine von einem unregelmäßigen Kreuzgewölbe überspannte Durchfahrt in den Innenhof.
Die Gestaltung des rundbogig geschlossenen Tors der Durchfahrt zeugte vom repräsentativen Anspruch des Bauherrn. Links und rechts des Portals bildeten ionische, sich nach oben verjüngende Pfeiler den Aufsatz für ein verkröpftes, ionisches Gebälk aus Architrav, Fries und Kranzgesims. Der darunter befindliche Türsturz lagerte auf zwei kleinen Innenpfeilern mit einem Architravgesims als Kapitell. In der Mitte des Türsturzes entwickelte sich aus den dort ebenso wie in die Außenpfeiler eingehauenen Diamantquadern zwei Voluten, zwischen denen eine männliche Maske hervorschaute. Das Tor selbst besaß noch Reste der bauzeitlichen Beschläge mit hakenförmiger Endung.
Über der Durchfahrt kragte das Obergeschoss des Bauteils in eigentümlicher Weise nach Osten hin zunehmend vor, so dass seine Wand einen spitzen Winkel mit der des Erdgeschosses bildete. In der dadurch entstandenen rechten Ecke saß ein einfacher Kragstein mit zwei nebeneinander gestellten Löwenköpfen. Im Obergeschoss befand sich ein großes, von den Formaten her fast quadratisches Doppelfenster in Form eines für Renaissancebauten typischen fränkischen Erkers. Anstatt eines „echten“ Erkers wie etwa am Westbau traten dort also nur die mit Bandornamenten verzierten Eichenholzpfosten des Fenstersturzes und der -bank etwas hervor. Zudem wurden die beiden äußeren Pfosten von kleinen Holzkonsolen unterstützt.
Zur Rotkreuzgasse schloss der Südbau mit einem einfachen Nasengiebel ab. Im Gegensatz zum Haus, das nur ein einfaches, bauzeitliches Doppelfenster im Obergeschoss aufzuweisen hatte, war der ebenso von zwei Fenstern durchbrochene Giebel nicht verputzt, sondern verschiefert. Seine leichte Vorkragung wurde abermals von einem Kragstein mit Löwenmaske unterstützt.
Die Hofseite des Südbaus war einfach gehalten. Im Erdgeschoss besaß sie im Westen ein Eingangsportal mit flachem Stichbogen, zwischen die schmale verbleibende Wand war eine Gruppe von drei wohl noch bauzeitlichen Rechteckfenstern gestellt. Das – analog der Straßenseite – im westlichen Verlauf nach Norden in einem spitzen Winkel hin überkragende Fachwerkobergeschoss besaß fünf klassizistische Rechteckfenster. Der dort ausnahmsweise wohl schon Anfang des 19. Jahrhunderts zerstörte bauzeitliche Zustand lässt sich nicht mehr rekonstruieren.
==== Westbau ====
Der Nordbau stellte zwar den repräsentativen Teil des Gebäudes dar, der an der Rosengasse gelegene Westbau war jedoch das eigentliche Hauptgebäude. Im Gegensatz zum Ostbau schloss er nicht bündig mit den Giebelseiten von Nord- und Südbau, sondern sprang gegenüber diesen leicht zurück. Somit stand die nördliche, von einer Brandmauer gebildete Giebelwand frei zum daran anschließenden Garten. Im Süden stand direkt an einer dort ebenfalls befindlichen Brandmauer das nicht mehr zum Großen Speicher gehörige Haus an der Schüppengasse bzw. späteren Bethmannstraße.
Durch diese Konstruktion ergab sich prinzipiell das Problem von Lücken in der Nordwest- und Südwestecke des Innenhofs. Im Nordwesten war es im Erdgeschoss durch die über die Breite des eigentlichen Gebäudes weitergezogene Mauer des Nordbaus mit dem bereits beschriebenen Eingangsportal zum Garten gelöst. Im Obergeschoss verhinderte ein Erker auf rechteckigem Grundriss den Einblick in den Innenhof. Er lag im Norden auf der Mauer mit dem Portal, die die Lücke im Erdgeschoss schloss, im Süden auf einem weit vorgezogenen Konsolstein auf. Im Südwesten war die Lücke durch den dort eingeschobenen, sämtliche Gebäude des Hofs überragenden Treppenturm sowie eine komplexe Dachkonstruktion dahinter geschlossen.
Das Aussehen der Straßenfassade an der Rosengasse vor ihrer Veränderung im Jahre 1863 ist nicht dokumentiert, dürfte aber aus reinen Zweckformen und Rechteckfenstern des sonst auch am Haus vorkommenden Typus bestanden haben, da dort historisch nie ein Eingang bestand. Die Nordseite zum Garten besaß im Erdgeschoss sechs zu einer Gruppe zusammengefasste, bauzeitliche Rechteckfenster, im Obergeschoss zwei einzelne.
Auch die Hoffassade bezeugte – neben dem bereits beschriebenen Erker – durch ihre fast völlige Auflösung in die größten am Hof zu findenden Rechteckfenster den repräsentativen Anspruch des Bauherren. Das dem am Nordbau sehr ähnliche Hauptportal war zudem in einem ähnlich reichen Mischstil von Gotik und Renaissance ausgeführt und ist einzig in einer (bisher nicht veröffentlichten) Zeichnung Carl Theodor Reiffensteins überliefert. Nördlich davon befand sich ein einzelnes, südlich davon eine Gruppe von vier und nochmals zwei, im Obergeschoss zwei Vierergruppen, mittig unterbrochen von einer Gruppe von zwei der genannten Fenster.
=== Treppenturm ===
Tief zwischen Süd- und Westbau war der Treppenturm auf sechseckigem Grundriss eingestellt und somit nur ein schmales Stück seiner nordöstlichen Kante in der Südwestecke des Hofs sichtbar. Den eigentlichen Zugang zur Treppe bildete das Portal im Südbau, eine weit kleinere Tür in der zum Hof gewandten Turmwand führte unter der Treppe hindurch in den Westbau. Seine polygonale Form offenbarte der Turm erst in seinem oberen Drittel, wo er deutlich über die Firsthöhe der umgebenden Bauten hinausragte. Ungefähr ab der Traufhöhe des Westbaus bildeten dort zwei verschieferte, sich nach oben verjüngende Fachwerkgeschosse mit Zeltdach und Wetterfahne seinen Abschluss. Die zwei zum Hof gewandten Treppenfenster des steinernen Teils hatten eine parallel zum inneren Lauf liegende schräge Bank und Sturz, das Obergeschoss mehrere kleine Fenster.
=== Inneres ===
Im Gegensatz zur guten Überlieferung des äußeren bauzeitlichen Zustandes existieren nur fragmentarische Beschreibungen des Inneren. Nur der Nordbau und Westbau hatten durch Luken vom Hof aus zugängliche Keller. Ersterer wurde von einem flachen, in seinen Widerlagern längs zur Parzelle liegenden Tonnengewölbe mit Stichkappen überspannt. Der niedriger ausgefallene Keller des Westbaus war von flachen Kreuzgewölben überdeckt. Dort befand sich eine alte Zisterne mit rechteckigem Steindeckel und einem noch bauzeitlichen, schmiedeeisernen Griff in Renaissanceformen.
Analog dem Keller war auch das Erdgeschoss des Nordbaus von einer Tonne überwölbt. Es besaß zwei Zimmer, wobei das eine die rund zwei Drittel der Hausbreite westlich der Hauptportals, das andere den verbleibenden Raum östlich davon beanspruchte. Die Trennung erfolgte im Inneren durch eine senkrecht zur Hoffront gestellte Zwischenwand mit einem rundbogigen Portal. Die Erschließung des äußerlich so prachtvoll verzierten Obergeschosses, das die gleiche Aufteilung wie das Erdgeschoss besaß, ist nicht überliefert. Von der ursprünglich sicherlich weit aufwändigeren Ausstattung war in Anbetracht des Mangels an Beschreibungen wohl bereits Mitte des 19. Jahrhunderts nur noch wenig erhalten. Das zum Garten zeigende Doppelfenster in der westlichen Giebelwand zeigte von innen eine Profilierung mit Rundstäben, die am trennenden Mittelpfosten gegen einen Sockel mit Volutenkonsolen anliefen. In der Nordwand befand sich zudem noch ein hölzerner Wandschrank mit hakenförmigen Beschlägen ähnlich denen des Hauptportals an der Rotkreuzgasse.
Das Erdgeschoss des Ostbaus war von drei flachen, scharfgratigen Kreuzgewölben überdeckt. Die von Stichbögen überwölbten Doppelfenster in Ost- und Westwand umrahmte eine schlichte Kehle. Die Verzierung der Fenster im Obergeschoss war aufwändiger und zugleich ähnlich dem in der Westwand des Nordbaus. Vom Südbau ist noch weniger bekannt, nämlich nur, dass die Fenstergruppe zwischen der Hofeinfahrt und dem Eingang zum Treppenturm von innen ebenfalls auf das Schlichteste profiliert war. Die Erschließung der Obergeschosse als auch die Raumdisposition sind dort nicht bekannt. Beim Südbau bleibt eine Mitnutzung des Treppenturms zu vermuten.
Der Westbau war das innerlich noch am prächtigsten in das 19. Jahrhundert überkommene Bauteil. In jedem Stockwerk waren zwei Räume vorhanden, das Obergeschoss wurde durch den Treppenturm erschlossen. Der südliche Raum des Erdgeschosses, erreichbar auch durch die kleine Tür in der zum Hof gewandten Turmwand, beherbergte einst Ställe mit Fenstern zur Rosengasse. Durch das eigentliche Hauptportal im Hof gelangte man in einen Gang, der die Räume zu beiden Seiten erschloss. In dem Gang befand sich auch ein Wandschrank mit einer aufwändig gearbeiteten Eisentür aus der Bauzeit. Während die Tür als solche bereits antikisierende und somit Renaissancemotive verwendete, war das Schloss noch von einer sehr deutlich auf die Gotik verweisenden Rosette umgeben.
Der nördliche Raum, dessen Inneres – wenn auch bereits verändert – durch eine Zeichnung von Otto Lindheimer überliefert ist, besaß eine reiche, jedoch nicht genauer beschriebene Vertäfelung. Bis zuletzt erhalten war dagegen die in der Nordwand zum Garten integrierte Fenstergruppe. Die sechs Fenster überdeckten Stichbögen, die mittig von drei korinthischen Zwergsäulen, in den Ecken von Pfeilern getragen wurden. Der mittlere Pfeiler war nicht nur Auflager für den Bogen, sondern diente auch als Tragstein für den sich darüber einschiebenden Unterzugsbalken. Die Laibung der Fensterbögen zierten je drei Rosetten und dazwischen liegenden Diamantquader. Das untere Drittel einer jeden Säule zeigte Riemenornamente, die Eckpfeiler eine einfachere Facettierung. Zusammen mit einem – gedachten – entsprechenden Mobiliar vermittelte der von Dehio auch als „Prunkstube“ bezeichnete Raum so das stimmige Bild einer Patrizierwohnung des frühen 17. Jahrhunderts. Über die Obergeschosse des Westbaus ist nichts bekannt.
Der äußerlich schlichte Treppenturm wiederholte innerlich erneut Mischformen. Das Gewände der Eingangstür hatte ein Renaissanceprofil, das kurz über dem Boden in Voluten auslief. Der Turm selbst beinhaltete bis zum Dachgeschoss eine frei gewundene Spindel aus rotem Sandstein. Anfang und Ende der Spindel waren als gotische Dienstockel mit reicher Facettierung ausgestaltet, darauf saß eine ebenso aufwändig gearbeitete Holzspindel für die Dachgeschosse auf. In der Turmwand verlief eine tiefgekehlte steinerne Handleiste.
=== Zerstörung des bauzeitlichen Zustands ===
Carl Theodor Reiffenstein hielt in seiner Beschreibung bereits 1853 fest, dass das Getäfel der Prunkstube bei einem jüngeren Umbau entfernt worden war. 1858 fand die erste tiefgreifende bauliche Veränderung statt. Um im hinteren Teil eine Kegelbahn einzurichten, ließ der damalige Besitzer im Erdgeschoss des Nordbaus eine parallel zur Hofseite verlaufende, massive Zwischenwand einziehen. Im Frühjahr 1859 wurden dann Ost- und Südbau im spätklassizistischen Stil aufgestockt, ersterer erhielt zwei, der südliche ein weiteres Geschoss.
Endgültig den bauzeitlichen Eindruck verwischte die Aufstockung des Westbaus und des Treppenturms um jeweils zwei Geschosse im Sommer 1863. Das hofseitige Portal wurde zerstört und vermauert, ebenso der Erker. Der Fachwerkaufbau des Treppenturms fiel zugunsten eines massiven Aufbaus mit flachem Abschluss. Gleichzeitig richte man einen neuen Hauseingang von der Rosengasse her ein. Neben dem Verlust der bauzeitlichen Dächer auch bei den übrigen Hofbauten ist anzunehmen, dass in diesem Zusammenhang in den Innenräumen weitere Substanz verschwand. Die Skizzen der Gebrüder Treuner aus den 1930er Jahren zeigen sowohl neu gebrochene Türen als auch Fenster aus dieser Periode.
Der als einziges Bauteil äußerlich noch unversehrte Nordbau stand nun fast ganztägig im Schatten der jetzt überdimensioniert wirkenden, übrigen Hofflügel. Ein derartiger Umgang mit historischer Bausubstanz war in jenen Jahren allerdings keine Seltenheit. So wurde etwa zur gleichen Zeit im nahegelegenen Karmeliterkloster einer der größten spätmittelalterlichen Freskenzyklen nördlich der Alpen zerstört, um dort eine Feuerwache einzurichten. Auch Abrisse oder Aufstockungen mittelalterlicher Bauten zugunsten turmartiger „Mietskasernen“, die als die ersten Bausünden der Frankfurter Altstadt bezeichnet werden konnten, waren in der Zeit des städtischen Wachstums bis wenigstens 1866 Normalität. Erst im Kaiserreich expandierte die Stadt in planmäßig angelegten Gründerzeitgebieten, wodurch sich die Tendenz, in der Altstadt Neubauten zu errichten, deutlich abschwächte.
Entsprechend waren die weiteren Veränderungen am Großen Speicher bis zum endgültigen Abriss 1938, soweit feststellbar, nur noch marginal. Einer etwas späteren Zeit dürfte noch der Bau eines Häuschens im nordwestlich eingestellten Garten zuzurechnen sein. Da man dieses direkt vor die aufwändige Fenstergruppe des Erdgeschosssaals im Westbau stellte, konnte auch dieser nicht mehr länger den bauzeitlichen Eindruck vermitteln.
== Bedeutung ==
Die Bedeutung des Großen Speichers ergibt sich nicht aus seiner Betrachtung als Einzelbauwerk, sondern erst aus seiner Einordnung in die gesamte Frankfurter Kunstgeschichte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Die Renaissance fand in der Stadt eine sehr verhaltene Rezeption, die Gotik hatte dafür einen umso längeren Ausklang, der im Grunde noch bis in das 18. Jahrhundert hinein ausstrahlte. Ein gutes Beispiel für diesen Zug war die 1716 zwischen Fahrgasse und Garküchenplatz erbaute städtische Mehlwaage (1944 zerstört), die rein stilkritisch noch gut ein Abkömmling des 16. Jahrhunderts hätte sein können. Die zudem seit jeher für Frankfurt typische Ablehnung von nach außen gekehrtem Ornament und die dahinter zunächst zu vermutende konservative Grundhaltung stand in eigentümlichen Gegensatz zu anderen Entwicklungen, etwa der geradezu stürmisch aufgenommenen Reformation.
Abgesehen vom Salzhaus, das in seiner bis 1944 erhaltenen Form aber selbst im nationalen Vergleich ein Unikum darstellte, erst um 1600 und zudem von einem Zuwanderer erbaut wurde, entstand so in den ersten 80 Jahren des 16. Jahrhunderts kein einziges Gebäude, das Ideen der Renaissance in größerem Maßstab verarbeitete. Selbst der 1562 erbaute Große Engel am Römerberg (1944 zerstört, 1981–1983 rekonstruiert), der mit seinen reichen Schnitzverzierungen auf den ersten Blick als Beginn einer Entwicklung gesehen werden könnte, ist auf den zweiten Blick doch sowohl in seinem Schmuck wie auch der gesamten turmartigen Kubatur noch völlig gotisch. Das Gebäude kann somit höchstens als Beispiel einer stärkeren grundsätzlichen Tendenz zu geschnitzten hölzernen Architekturteilen, vor allem Knaggen, ab Mitte des Jahrhunderts gelten.
Frankfurt lag damit weit hinter der Entwicklung in vielen anderen, selbst kleineren Reichsstädten wie z. B. Rothenburg ob der Tauber oder Hildesheim zurück, wo der frühneuzeitliche Kunststil meist uneingeschränkt spätestens ab der Jahrhundertmitte regierte. Nach dem Fall von Antwerpen im Jahr 1585 brachten die reformierten Flüchtlinge nun nicht nur eine Vorliebe für nach außen gekehrten Schmuckreichtum mit, die in ihrer Heimat bereits seit der Gotik bestand, sondern auch eine Kunstauffassung, in der der mittelalterliche Stil schon seit Jahrzehnten verdrängt war. Darüber hinaus dominierte dort der Steinbau, Holzbauten waren dort schon aus klimatischen Gründen mit Bohlen verkleidet und wiesen deswegen auch eine weit geringere Haltbarkeit auf, was wiederum ihre Ausgestaltung zu Repräsentationsbauten verbot.
Aufgrund des Zunftzwanges waren Zuwanderer wie Franz de le Boë jedoch auf Handwerker aus ihrer neuen Heimatstadt angewiesen, woraus sich eine Wechselwirkung ergeben musste. Einerseits machten sich die Formen der Spätgotik in dem ansonsten ganz der Renaissance verschriebenen Bauvorhaben immer wieder bemerkbar, andererseits waren die Handwerker gezwungen, sich erstmals mit Musterbüchern des neuen Stils zu beschäftigen und mussten zudem bisher nur aus dem Steinbau bekannte Zierformen in die des Fachwerks übersetzen.
So entstand trotz manchem stilistischen Rückgriff ein Haustypus, der für sämtliche Frankfurter Renaissancebauten typisch wurde: ein zur Straße gekehrtes Dach mit einem großen Zwerchhaus – obwohl im Falle des Großen Speichers als Hofbau anders kaum zu konstruieren – brachte erstmals die Firstschwenkung und damit die Annäherung an das Ideal des italienischen Palas zum Ausdruck. Ebenfalls in den nächsten Jahrzehnten vielfach zu beobachten war die Diamantierung von Sandsteinbögen, wie am Hauptportal an der Rotkreuzgasse erstmals zu sehen, die bei anderen Bauten meist für die Gliederung des Erdgeschosses verwendet wurden. Auch das Füllen der Brüstungsfelder mit Zierhölzern, wenngleich im Falle des Großen Speichers noch eher in Formen von spätgotischem Maßwerk, nahm bereits mittelrheinische Fachwerkformen der Zeit um 1600 voraus, ebenso die Reihung von schmalen, hohen Fenstern in den Obergeschossen.
Als wichtigster direkter Nachfolger konnte das 1595 erbaute Haus Silberberg (1944 zerstört) in der Limpurger Gasse gelten, das alle Ideen des Großen Speichers in nochmals etwas gereifteren Formen aufgriff. Da es für die Frankfurter Patriziergesellschaft Alten Limpurg errichtet wurde, die ständig Mitglieder des Stadtrats stellte, markierte es die endgültige Ankunft der Ideen der Renaissance auch in den maßgeblichen Kreisen der Stadt.
Um 1600 entstand dann eine ganze Reihe von Folgebauten, von denen mit dem Haus Wertheym am Fahrtor und dem Schwarzen Stern am Römerberg (1944 zerstört, 1981–1983 rekonstruiert) noch zwei erhalten sind. Viele wichtige Beispiele, etwa das Goldene Kännchen in der Alten Mainzer Gasse, sind mit der Altstadt 1944 zu Grunde gegangen. Da der weitaus größte Teil auch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs unter Verputz lag, ist allerdings mit einer erheblichen Dunkelziffer von ähnlich gearteten Bauten zu kalkulieren, die niemals dokumentiert worden sind.
Trotz der vom Großen Speicher ausgehenden Entwicklung blieb die grundsätzliche Kunstauffassung der Stadt jedoch so konservativ wie vor Ankunft der Reformierten, was etwa der Streit um den Bau der Goldenen Waage noch in den Jahren 1618–1619 beweist. Auch waren die Bauherren weiter meist Auswärtige, eine wirklich bedeutende Leistung vom Rang eines Pellerhauses wurde aus dem Kreis der alteingesessenen Bürgerschaft nicht hervorgebracht. Das heute noch erhaltene, ebenfalls im Auftrag der Gesellschaft Alten Limpurg 1627 errichtete Treppentürmchen im Römerhöfchen markierte bereits das Ende der Hochrenaissance in der Stadt.
Der Hof von Franz de le Boë wirkte somit letztlich nur stark stilbildend, konnte das Desinteresse der Frankfurter an der Zurschaustellung von Pracht jedoch nicht durchbrechen, ein Zug, der im Grunde bis in die Zeit des Historismus Bestand hatte. Nicht Einzelbauten, sondern der bis 1944 praktisch völlig in seinem spätgotischen Zustand erhaltene Kern der Stadt zwischen Dom und Römer als organisches Ensemble bildete das eigentliche kunstgeschichtlich national bedeutsame Erbe Frankfurts.
== Literatur ==
=== Hauptwerke ===
Johann Georg Battonn: Oertliche Beschreibung der Stadt Frankfurt am Main – Band V. Verein für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1869, S. 224–230 u. 244–249 (online).
Rudolf Jung, Julius Hülsen: Die Baudenkmäler in Frankfurt am Main – Band 3, Privatbauten. Selbstverlag/Keller, Frankfurt am Main 1902–1914, S. 87–97.
Walter Sage: Das Bürgerhaus in Frankfurt a. M. bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Wasmuth, Tübingen 1959 (Das Deutsche Bürgerhaus 2), S. 54, 55, 93 u. 94.
=== Verwendete, weiterführende Werke ===
Architekten- & Ingenieur-Verein (Hrsg.): Frankfurt am Main und seine Bauten. Selbstverlag des Vereins, Frankfurt am Main 1886.
Olaf Cunitz: Stadtsanierung in Frankfurt am Main 1933–1945. Abschlussarbeit zur Erlangung des Magister Artium, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich 08 Geschichtswissenschaften / Historisches Seminar, 1996.
Das nächste Sanierungsprojekt. Abbruch der Schüppengasse. Der große Durchbruch zum Main. In: Frankfurter General-Anzeiger. 5. November 1937. In: Wolfgang Klötzer im Auftrag des Frankfurter Vereins für Geschichte und Landeskunde und der Freunde Frankfurts (Hrsg.): Die Frankfurter Altstadt. Eine Erinnerung. Mit Zeichnungen von Richard Enders. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-7829-0286-6, S. 270 u. 272.
Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Band IVa. Südwestdeutschland. 5. unveränderte Auflage. Deutscher Kunstverlag, Berlin 1937.
Alexander Dietz: Frankfurter Handelsgeschichte – Band II. Herman Minjon Verlag, Frankfurt am Main 1921.
Dietrich-Wilhelm Dreysse, Björn Wissenbach: Planung Bereich – Dom Römer. Spolien der Altstadt 1. Dokumentation der im Historischen Museum lagernden Originalbauteile Frankfurter Bürgerhäuser. Stadtplanungsamt, Frankfurt am Main 2008 (online (Memento vom 21. Februar 2014 im Internet Archive)).
Karl Emil Otto Fritsch: Denkmäler Deutscher Renaissance. Verlag von Ernst Wasmuth, Berlin 1891.
Wolfgang Klötzer: Zu Gast im alten Frankfurt. Hugendubel, München 1990, ISBN 3-88034-493-0.
Friedrich Krebs: Der Altstadtgesundungsplan der Stadt Frankfurt am Main (1936). In: Wolfgang Klötzer im Auftrag des Frankfurter Vereins für Geschichte und Landeskunde und der Freunde Frankfurts (Hrsg.): Die Frankfurter Altstadt. Eine Erinnerung. Mit Zeichnungen von Richard Enders. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-7829-0286-6, S. 216 u. 217.
Georg Ludwig Kriegk: Deutsches Bürgerthum im Mittelalter. Neue Folge. Rütten und Löning, Frankfurt am Main 1871.
Hans Lohne: Frankfurt um 1850. Nach Aquarellen und Beschreibungen von Carl Theodor Reiffenstein und dem Malerischen Plan von Friedrich Wilhelm Delkeskamp. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1967, ISBN 3-7829-0015-4.
Fried Lübbecke: Frankfurt am Main. Verlag E. A. Seemann, Leipzig 1939 (Berühmte Kunststätten 84).
Bernhard Müller: Die Mehlwaage. In: Alt-Frankfurt. Vierteljahrschrift für seine Geschichte und Kunst. 1. Jahrgang, Heft 1, Herman Minjon Verlag, Frankfurt am Main 1909.
Karl Nahrgang: Die Frankfurter Altstadt. Eine historisch-geographische Studie. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1949.
Elsbet Orth: Frankfurt am Main im Früh- und Hochmittelalter. In: Frankfurter Historische Kommission (Hrsg.): Frankfurt am Main – Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen. (= Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission. Band XVII). Jan Thorbecke, Sigmaringen 1991, ISBN 3-7995-4158-6.
Anton Schindling: Wachstum und Wandel vom Konfessionellen Zeitalter bis zum Zeitalter Ludwigs XIV. Frankfurt am Main 1555–1685. In: Frankfurter Historische Kommission (Hrsg.): Frankfurt am Main – Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen. (= Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission. Band XVII). Jan Thorbecke, Sigmaringen 1991, ISBN 3-7995-4158-6.
Magnus Wintergerst: Franconofurd. Band I. Die Befunde der karolingisch-ottonischen Pfalz aus den Frankfurter Altstadtgrabungen 1953–1993. Archäologisches Museum Frankfurt, Frankfurt am Main 2007, ISBN 3-88270-501-9 (Schriften des Archäologischen Museums Frankfurt 22/1).
Hermann Karl Zimmermann: Das Kunstwerk einer Stadt. Frankfurt am Main als Beispiel. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1963.
=== Abbildungen (soweit bibliografisch nachweisbar) ===
Dieter Bartetzko, Detlef Hoffmann, Almut Junker, Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Frankfurt in frühen Photographien 1850–1914. Neuauflage. Schirmer-Mosel, München 1988, ISBN 3-88814-284-9.
Bibliographisches Institut (Hrsg.): Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig und Wien 1902–1910.
Carl Friedrich Fay, Carl Friedrich Mylius, Franz Rittweger, Fritz Rupp: Bilder aus dem alten Frankfurt am Main. Nach der Natur. Verlag von Carl Friedrich Fay, Frankfurt am Main 1896–1911.
Hans Pehl: Kaiser und Könige im Römer. Frankfurts Rathaus und seine Umgebung. Verlag Josef Knecht, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-7820-0455-8.
Friedrich August Ravenstein: August Ravensteins Geometrischer Plan von Frankfurt am Main. Verlag des geographischen Instituts zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1862.
Ludwig Ravenstein: Ludwig Ravenstein's Spezial-Plan von Frankfurt a.M., Bockenheim & Bornheim. Stich, Druck und Verlag der geographischen Anstalt von Ludwig Ravenstein in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1895.
Benno Reifenberg, Fried Lübbecke, Richard Kirn, Franz Lerner, Bernd Lohse: Porträt einer Stadt. Frankfurt am Main. Vergangenheit und Gegenwart. Umschau Verlag, Frankfurt am Main 1958.
James Westfall Thompson: The Frankfort Book Fair. The Francofordiense Emporium of Henri Estienne. The Caxton Club, Chicago 1911.
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
== Weblinks ==
Bethmannstraße und Großer Speicher. altfrankfurt.com
Großer Speicher. In: Virtuelles Altstadtmodell Frankfurt am Main
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fer_Speicher
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Landschaftspark Grütt
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= Landschaftspark Grütt =
Der Landschaftspark Grütt (auch Grüttpark) ist eine 51 Hektar große Grünfläche in Lörrach. Im Jahr 1983 fand auf dem neu gestalteten Gelände die baden-württembergische Landesgartenschau statt. Der größte Park in Lörrach gilt als Naherholungsgebiet für die Stadt und ihr Umland. (→ Grün- und Parkflächen in Lörrach) Gleichzeitig sind große Teile der Parkfläche ein Wasserschutzgebiet mit mehreren Tiefbrunnen. Insgesamt umfasst das Areal eine Fläche von rund einem Quadratkilometer. Die naturnahen Binnengewässer einschließlich ihrer Ufervegetation sind gesetzlich geschützte Biotope.
Zum Freizeitangebot des Grüttparks gehören neben Spiel- und Sportplätzen und Grillgelegenheiten auch ein Café sowie Spazier- und Fahrradwege. Am Rande des Parkgeländes befinden sich Messehallen, diverse Freizeitanlagen, das Grüttpark-Stadion und weitere Sportstätten. Der Park wird durch die zur A 98 gehörende Wiesentalbrücke und eine Querspange zur Bundesstraße in zwei Abschnitte geteilt, die durch einen Steg und eine Fußgänger- und Fahrradunterführung verbunden sind. Der Park ist Standort mehrerer Kunstwerke im öffentlichen Raum.
== Geschichte ==
=== Vor der Gestaltung zum Park ===
Vor der Parkeröffnung im Jahr 1983 war das Grütt Teil einer nur mit wenigen Wegen erschlossenen Auenlandschaft. Der Name Grütt leitet sich vom Wort rütten ab, was roden bedeutet.
Die Flussniederung und der Auwald waren in diesem Gewann in früheren Zeiten abgeholzt worden, die Wiese mit einer Vielzahl von Nebenläufen schlängelte sich durch das Gebiet. Nach der Flussbegradigung in den Jahren 1806 bis 1823 durch den badischen Wasserbaumeister Johann Gottfried Tulla entstanden Wiesen und überwiegend landwirtschaftlich genutzte Äcker in der Aue, womit auch eine reiche Artenvielfalt verloren ging.Am Rande des heutigen Grüttparks befand sich von November 1920 bis Juli 1921 der Flugplatz Lörrach mit Passagier- und Postverkehr. Aufgrund einer Weisung, die aus dem Friedensvertrag von Versailles resultierte, folgte die Stilllegung. Der verwaiste Platz wurde letztmals am 24. März 1954 für einen Flugtag genutzt. Das Gelände ist seither vollständig überbaut. Am 7. Januar 1925 ereignete sich ein Flugzeugabsturz auf dem Flugplatz Lörrach, bei dem der Pilot starb. An das Unglück und den Flugplatz erinnert ein Denkmal am nordwestlichen Rand des Grüttparks. Seine Einweihung fand am 10. Oktober 1988 durch den damaligen Verteidigungsminister Manfred Wörner statt.
Das Gebiet zwischen Brombach und der Lörracher Innenstadt dient seit 1967 der städtischen Wasserversorgung. Der erste Tiefbrunnen im Grütt wurde 1968 in Betrieb genommen, nachdem im Vorfeld umfangreiche Wasserleitungsbauten vorgenommen wurden. In den Folgejahren wurde die Versorgung mit Tiefbrunnen stufenweise ausgebaut und damit auch eine Grundsatzentscheidung für die Wasserversorgung der Stadt getroffen und das Versorgungsnetz weiter ausgebaut.
Nach 1960 beginnt sich der südliche Teil des Grütts zu einem Sportgelände zu entwickeln. Da der Tennisclub der Schwimmbaderweiterung weichen muss, entstehen 1961 neue Tennisanlagen an der Arndtstraße. Ein Jahr später siedelt auch der Schützenverein ans Grütt, da der alte Platz am Hünerberg wegen der neu entstehenden Wohnbebauung weichen muss. Entscheidend wird allerdings der Umzug des TSV Rot-Weiss Lörrach, dessen Sportplätze sich vormals an der Brombacher Straße, etwa auf Höhe der Einmündung zur Schwarzwald Straße, befanden. Ebenfalls aufgrund des Platzbedarfs der wachsenden Stadt erhält der Sportverein ein großzügig gestaltetes Stadiongelände mit Laufbahn, Tribüne, Gaststätte, Gymnastikhalle und Sanitäranlagen. Am 5. November 1966 wird das Grüttpark-Stadion eröffnet, das damals noch den Namen Rot-Weiß-Stadion trug. Damit genügte das moderne Stadion erstmals auch Wettkampfansprüchen.
=== Bewerbung zur Landesgartenschau ===
Am 29. September 1978 nannte der damalige Oberbürgermeister Egon Hugenschmidt drei Beweggründe für die Kandidatur Lörrachs für die Landesgartenschau:Erstens wollte man mit der dauerhaften Ausweisung des rund 100 Hektar großen Geländes als Grünfläche eine Ausgleichsmaßnahme zu den Verkehrsbauten der A 98 und der neuen B 317 schaffen. Die Beeinträchtigungen des Landschaftsraums in Lörrach könnten damit kompensiert werden. Zweitens schaffte eine grenzüberschreitende Grünfläche entlang des Flusses Wiese und der Langen Erlen in Riehen und Basel eine Verbindung zum Nachbarstaat. Drittens ergreife man aufgrund der besonderen Lage im Dreiländereck Frankreich-Schweiz-Deutschland die Chance, sich zu präsentieren.
Als Termin für die Landesgartenschau hätte sich das 300-jährige Jubiläum der Stadtrechtsverleihung 1682/83 angeboten. Gemeinsam mit externen Beratern und Vertretern der Wasserwirtschaft formulierte die Stadtplanung die Zielvorgaben für die Wettbewerbsfläche, die auch als wichtiges Wassereinzugsgebiet der Stadt dient. Bedeutsam wäre etwa die Sohlenisolierung der Gewässer, wie Teiche und Bäche und die Platzierung der Gebäude. Als Naherholungspark sollten die nördlichen Stadtteile Brombach, Haagen, Hauingen und Tumringen mit der südlich gelegenen Kernstadt verbunden und das bis dahin herrschende Grünflächendefizit reduziert werden.
Ein halbes Jahr nach der Bewerbung erteilte am 27. März 1979 Baden-Württemberg den Zuschlag für Lörrach gegenüber 30 Mitbewerbern.
=== Wettbewerb, Planung und Bau ===
Das Land und die Stadt schrieben nach der erfolgreichen Bewerbung am 22. August 1979 einen offenen Ideen- und Realisierungswettbewerb für die Gartenschau aus. Von 15 eingereichten Arbeiten mussten drei wegen Mängeln ausscheiden, so dass dem Preisgericht zwölf Arbeiten zur Beurteilung vorlagen. Unter dem Vorsitz des Garten- und Landschaftsarchitekten Horst Wagenfeld aus Düsseldorf wurden am 18. und 19. Januar 1980 die ersten drei Preisträger prämiert. Den ersten Preis errangen Bernd Meier, Landschaftsarchitekt aus Freiburg im Breisgau, E. Riedel, Landschaftsarchitekt aus Lahr, Manfred Morlock, Architekt aus Schallstadt und Hubertus Bühler, Architekt aus Freiburg.Die Stadtratsfraktionen der CDU, SPD und Freien Wähler trugen das Projekt von Anfang an mit. Die Grünen und eine Interessensgruppe aus Naturschützern und engagierten Bürgern kritisierten, dass das Konzept zu parkartig sei und nicht den Anforderungen an ein Wasserschutzgebiet genüge. Außerdem bringe die Nutzung durch die Landwirtschaft und gärtnerische Anpflanzungen zusätzlichen Düngereinsatz. Zudem ließen die mit der Landesgartenschau verbundenen Verkehrsbauwerke das Projekt vom Gesichtspunkt des Naturschutzes aus unglaubwürdig erscheinen.
Für die Werbung und Öffentlichkeitsarbeit entschied man sich für einen ortsfremden Journalisten. Als schweres Versäumnis wertete man im Nachhinein die unterlassene Werbung bei den Busunternehmen, was dazu führte, dass wenige Besucher über Reiseunternehmen den Weg nach Lörrach fanden. Komplett versäumt hatte man es, rechtzeitig Pressearbeit in der benachbarten Schweiz zu veranlassen. Dies stellte sich als Missgriff heraus. Man löste das Engagement mit dem Journalisten auf und betraute zwei ortsansässige Journalisten in Nebentätigkeit mit der Aufgabe.Im August 1982 wählte eine Fachjury das Logo des Basler Grafikers Francis Rusterholz für die Landesgartenschau. Es besteht aus drei ineinander greifenden Grafikelementen aus Blau- und Grüntönen. Links trägt es den blauen Buchstaben „L“, in der Mitte stellt ein stilisierter Bogen in Dunkelgrün die geografische Nähe Lörrachs zum Rheinknie dar, rechts oben soll ein hellgrünes Blatt den Park und die Natur symbolisieren. Das Signet verwendete man auf allen Plakaten, Banderolen, Aufklebern und weiteren Werbeträgern; es war auch das Logo der neu gegründeten Landesgartenschau Lörrach 1983 GmbH.Am 2. September 1981 fand der Spatenstich am Landesgartenschaugelände statt. Oberbürgermeister Hugenschmidt fuhr zusammen mit Bürgermeister Edmund Henkel an diesem Tag ein Raupenfahrzeug als symbolischen Auftakt der Bauarbeiten. Im Dezember des Jahres waren die Aushubarbeiten für den Grüttsee und den Bachlauf vollendet. Die brach liegenden, vorher meist landwirtschaftlich genutzten Flächen, renaturierte man und richtete ein Wegesystem für Spaziergänger ein. Die von der Bevölkerung gestifteten Bäume pflanzten am 20. März 1982, dem Tag des Baumes engagierte Bürger.
=== Landesgartenschau 1983 ===
==== Eröffnung und allgemeine Daten ====
Am 15. April 1983 wurde anlässlich des 300-jährigen Stadtrechtsjubiläums die Landesgartenschau feierlich im Beisein des damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth und des Oberbürgermeisters Hugenschmidt eröffnet. Die Deutsche Bundesbahn ließ zur Eröffnung eigens einen Sonderzug (Gartenschau-Kurier) von Karlsruhe bis zum Bahnhof in Lörrach-Haagen an das Ausstellungsgelände fahren. Nach einem Festakt am Lörracher Rathaus stieg die Prominenz am Hauptbahnhof Lörrach zusammen mit einer Trachtenabordnung in diesen Sonderzug und ließ sich zum Gartenschaugelände fahren. Ein Kuriosum am Rande war der Umstand, dass der hohe Politikgast Späth auf dem Gartenschaugelände zwar das obligatorische Band zur Eröffnung durchschnitt, aber sich die Gartenschau gar nicht anschaute. Er flog zurück nach Stuttgart und versprach, die Gartenschau zu einem späteren Zeitpunkt zu besuchen. Späth soll einige Wochen danach sehr spät nach Lörrach gereist sein, so dass es wieder nicht zu einem Bummel durch die Ausstellung reichte, wobei es dabei dann auch blieb.
Die Landesgartenschau dauerte bis zum 16. Oktober 1983 und verzeichnete 1.045.000 Besucher. Damit blieb die Zahl rund 400.000 Besucher hinter den Erwartungen. Die Gartenschau begann bei starkem Dauerregen, gefolgt von einer ungewöhnlichen Hitzewelle. Abgesehen vom Wetter wird die ungeschickte Werbung und die Fehleinschätzung des Schweizer Publikums für das Besucherdefizit verantwortlich gemacht.
Motto der Gartenschau war des alemannische „Chumm go luege“ – „Komm, schau Dir’s an“; präsentiert von der Gans „Lörli“ als Maskottchen. Die Gestaltung der Grünflächen geht unter anderem auf den Stadtbaudirektor Klaus Stein zurück.Neben dem Gartenschau-Kurier war der Blütenexpress der zweite Sonderzug, der während der Landesgartenschau von Heidelberg bzw. Offenburg nach Lörrach und zurück verkehrte. Die Namen der beiden Sonderzüge wurden durch einen Wettbewerb bestimmt, den die Landesgartenschau GmbH ins Leben gerufen hatte.Zum Auftakt gab die Deutsche Bundespost am 15. April einen großen Rundstempel heraus, der auf Ersttagsbriefen auf die Landesgartenschau aufmerksam machte. Gleichzeitig erschienen auch vier Gartenschau-Sonderpostkarten und zwei historische Postkarten mit Motiven von Lörrach um die Jahrhundertwende.
==== Infrastruktur ====
Bei der Landesgartenschau in Lörrach war nur der östliche Teil kostenpflichtig und umzäunt. Der Haupteingang befand sich im Nordosten, am heutigen Sport- und Freizeitzentrum. Am Westeingang (Eingang „Grütt“), östlich des Wasserwerks, befindet sich heute eine Wiese.Neben der Möglichkeit, mit dem Zug zur Landesgartenschau zu kommen, stellten die LGS-Organisation am Gelände rund 1600 PKW- und 40 Busparkplätze zur Verfügung.Im Parkgelände gab es acht Restaurants, davon fünf im umzäunten Bereich. Insgesamt standen 1000 überdachte und 600 Außenplätze den Besuchern zur Verfügung.Eine elektrisch betriebene, gummibereifte Ausstellungsbahn des Herstellers Intamin verband den Haupteingang mit dem rund 3,5 Kilometer entfernten Westrand des Grüttparks. Die Unterführung am Eingang „Grütt“ war ursprünglich für die Ausstellungsbahn zu steil, so dass sie abgeflacht werden musste.Ein provisorisches Gebäude am Haupteingang diente als Informations- und Pressestelle. Dort gab es neben Telefonen einen Briefkasten, eine Hundeaufbewahrungsmöglichkeit, einen Rollstuhlverleih und Toiletten. Acht Toilettenhäuschen waren auf dem Gelände verteilt. Eine behindertengerechte Toilette befand sich am Haupteingang. Dort waren auch Hilfsdienste, Sanitäter, Bewachung und Polizei stationiert. Für den Unterhalt der Gartenanlage waren zwölf Arbeitskräfte einem Kolonnenführer unterstellt. Nach dem Ende der Landesgartenschau verblieben acht dieser Kräfte als Gärtner beim städtischen Gartenbauamt.
==== Ausstellungen und Aktionen ====
Im nordöstlichen Teil des Gartenschaugeländes wurde durch den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) ein Biotop angelegt. Dort fanden auf 2000 Quadratmeter die Hallenschauen und Veranstaltungen zu unterschiedlichen Themen statt. Neben einem Dauerprogramm folgten in zweiwöchigem Wechsel 26 gärtnerische Sonderschauen. Im „Treffpunkt Baden-Württemberg“ standen gärtnerische Ausstellungsthemen im Vordergrund, unter anderem: Ikebana und Bonsai, Beeren- und Kirschsortenschau, Florale Objekte und Textile Bilder – Florale Objekte. Weitere Ausstellungen gab es zur Flurbereinigung und deren Nutzen, zum Biotopschutz, zur Landschaftspolitik, zum Schutz des Menschen vor dem Wasser, zum Hochwasserschutz und die Vorstellung der Naturschutzkampagne Rettet die Frösche des BUND.Die gestalterische Konzeption des Parks versuchte eine landschaftliche Bindung des Umlandes zu realisieren. Es gab eine Ausstellungsreihe zum Thema Wasser im neuen Wasserwerk im „Treffpunkt Baden-Württemberg“ und in der Eishalle. Dem Thema Land- und Forstwirtschaft trug man mit einem Lehrpfad Rechnung. Die Landwirte, deren Äcker (etwa 20 ha) man während der Gartenschau gepachtet hatte, pflanzten die Flächen mit Mais, Raps, Getreide, Klee und Sommerblumen an. Das Thema Weinbau war mit einem nachgestellten historischen Weinberg und einer neuzeitlichen Rebanlage vertreten. Dabei stellte man alte und neue Rebsorten, Kulturmethoden und Erträge von früher und heute gegenüber.Neben einer Reihe von Skulpturen und weiteren Kunstinstallationen gab es ein Aktionswochenende Junge Künstler stellen sich vor und den Beitrag „Kunsthandwerk in Baden-Württemberg“ sowie Kunstausstellungen in der Villa Fehr und auf der Burg Rötteln zum Thema Kunst.
Die Landesgartenschau behandelte auch weitere Themen in einer Reihe von Ausstellungen, darunter: Solidarität mit der Dritten Welt, Gesund und fit ins hohe Alter, Gesund bleiben – aktiv werden, Die Museen der Region stellen sich vor, zwei Aktionswochenenden der Landfrauen, Bundesverband für den Selbstschutz, Trachtenpuppen zum Kreistrachtenfest sowie der Schülerwettbewerb des Landtages von Baden-Württemberg „Mach’ mit“.
==== Veranstaltungen und Programme ====
Sowohl für Laien- wie Fachpublikum gab es verschiedene Veranstaltungen und Informationen. Dem Laienbesucher bot man donnerstags im „Treffpunkt Baden-Württemberg“ wöchentlich wechselnde Vorträge, Filme, Dia-Schauen zu den Themen Gartenanlage, Obst- und Gemüsebau, der Schädlingsbekämpfung und zum Naturschutz wie der Floristik dar. Für das Fachpublikum gab es im Zentrum an der Gärtnerinformation einen umzäunten Ausstellungsbereich für den fachlichen Austausch. Außerdem fanden im Gartenschaujahr in Lörrach mehrere gärtnerische Fachtagungen statt.Mittwochs hielt man spezielle Aktivitäten für Kinder und Jugendliche ab. Neben einem Spiele-Nachmittag auf dem Spielplatz am „Treffpunkt Baden-Württemberg“ und „Grütt-Treff“ fanden Rollschuh-Discos in der Eishalle, Jugendnachmittage, Kinderpartys, Märchennachmittage, Puppentheater, Ferienprogramme und ein Kinderzirkus statt.Neben den Aktionen und Programmen direkt auf dem Gartenschaugelände nutzten auch andere Einrichtungen das erhöhte Besucheraufkommen für besondere Veranstaltungen aus. Beispielsweise fand vom 6. bis zum 8. Mai 1983 eine Oldtimer-Auto-Rallye statt. Die Landesbausparkasse veranstaltete vom 11. bis zum 17. Juni ein mehrtägiges Radrennen für Amateure, das von Mannheim bis Lörrach lief. Die Schlussetappe von Bonndorf bis Lörrach endete an den Sportstätten im Grütt. Die Siegerehrung hielt man auf dem Landesgartenschaugelände ab. Darüber hinaus fand am 28. und 29. Juni der Badische Gärtnertag statt und vom 16. bis zum 18. September wurde das Turnfest Landesgymnaestrada abgehalten.Am 20. Juli 1983 ehrte man den 500.000sten Besucher der Lörracher Landesgartenschau.
==== Kosten und Fazit ====
Nicht alle erforderlichen Flächen befanden sich im städtischen Besitz, Teile pachtete man für die Dauer der Veranstaltung. Die Kosten hierfür betrugen 7,4 Millionen DM. Eine externe Erschließungsmaßnahme war der Bau eines provisorischen Bahnsteiges am Bahnhof Haagen.
Der Investitionshaushalt wurde innerhalb des städtischen Vermögenshaushaltes abgewickelt. Zusammen mit dem Landeszuschuss in Höhe von 5 Millionen DM beliefen sich die Gesamtkosten auf 17.569.518 DM (entspricht einer heutigen Kaufkraft von 18.661.900 Euro). Kosten für flankierende Baumaßnahmen schlugen mit gut 8 Millionen DM zu Buche. Die Kosten gliedern sich grob in drei Hauptposten auf:
Dem gegenüber standen Einnahmen aus dem Kartenverkauf in Höhe von 2.855.185 DM und aus Miete, Provisionen und Spenden von 1.887.061 DM. Die für die Stadt Lörrach zu tragende Unterdeckung belief sich auf rund 5,3 Millionen DM.Neben 25.000 Dauerkarten verkaufte man 350.000 Einzelkarten und 450.000 Sonderkarten. Der reguläre Eintrittspreis betrug 7,50 DM, für Kinder von 6 bis 14 Jahren waren 3 DM zu bezahlen, eine Familienkarte kostete 17 DM. Ab 17:30 Uhr gab es einen um gut die Hälfte reduzierten Abendbeitrag.Das Urteil über die Landesgartenschau fiel durchwegs positiv aus. Der Park sei für die Lörracher Bevölkerung nützlich, urteilte das Fachmagazin Heim + Garten, und beschrieb in einem mehrseitigen Artikel das Angebot der Landesgartenschau. Bezüglich der Kostenproblematik kam das Blatt zu dem Schluss, dass die Mittel für die Grünsicherung der Autobahnbrücke hätten ohnehin eingesetzt werden müssen. Allein durch das dauerhaft geschaffene Grün seien die Mehrausgaben gerechtfertigt. Trotz ausgebliebenem Besucherrekord müsse man den Beteiligten ein hohes Lob zollen, konstatierte das Fachblatt Deutscher Gartenbau in seiner August-Ausgabe 1983. Es sei eine progressive Lösung, in der Planung nicht das gesamte Gelände als Ausstellungspark gestaltet zu haben und auch die Trennung des Ausstellungsteils vom Landschaftspark sei gut gelungen. Dazu sei für eine Stadt wie Lörrach, die kein grünplanerisches Gesamtkonzept besitze, die Schaffung dieses Landschaftsparks eine bemerkenswerte Leistung, die ohne die Gartenschau in der Form nicht möglich gewesen wäre. Die Gartenabozeitschrift Mein schöner Garten nannte die Landesgartenschau in Lörrach die „kleine Schwester der IGA“, die im selben Jahr in München stattfand. So wohlwollend und lobend die Fachpresse das Ereignis im zeitüberdauernden Kontext sah, so kritisch urteilte die Lokalpresse über die unmittelbaren finanziellen Auswirkungen der Gartenschau. Das Oberbadische Volksblatt prangerte an, das kalkulierte Defizit habe sich nahezu verdoppelt und die Zahlen sollten der Öffentlichkeit vorenthalten werden. Ein „Schlussverkauf“ von während der Gartenschau verwendetem Inventar, solle wohl das Desaster in Grenzen halten. Der letzte Besuchstag der Landesgartenschau war der 17. Oktober 1983.
=== Nach Ende der Landesgartenschau ===
Nach dem Ende der Gartenschau wandelte man bereits ab dem 1. Oktober 1983 auch den Ausstellungsbereich im Osten in einen öffentlichen Park um. Die Wiesen des Parks blieben als Wasserschutz- und Wassereinzugsgebiet teilweise naturbelassen. Da die städtischen Jugendverbände den „Jugendtreff Grütt“ ablehnten, wurde dieser in einen städtischen Kindergarten (aktuell: Waldorfkindergarten) umgewandelt.Seit 1972 organisieren der SV Weil und der FV Lörrach-Brombach ein internationales Fußball-Nachwuchsturnier. Die Altersklassen der U10- bis U14-Junioren spielen dabei sowohl in der Halle wie auf dem Feld. Neben der Sporthalle der Markgrafenschule in Weil am Rhein finden die meisten Spiele in der südlich zum Grütt angrenzenden Wintersbuckhalle und den Kunstrasenplätzen am Grüttpark-Stadion statt. Teilnehmer des traditionellen Fußballturniers sind u. a. Nachwuchsmannschaften von FC Barcelona, Juventus Turin, FC Chelsea, Bayern München, Borussia Dortmund und FC Basel. Das Sponsoring der Sportveranstaltung wird seit einigen Jahren von einem Lörracher Immobilienunternehmen übernommen.
Von 2005 bis 2015 fand auf den Grünflächen im Nordteil das regionale Metal-Freiluftkonzert Baden in Blut statt. Da die Besucherzahl in den letzten Jahren stetig stieg und die Verschmutzung zunahm, gestattete die Stadt Lörrach das Festival nicht mehr im Wasserschutzgebiet. Der „Tag des Pferdes“ ist eine seit 1925 federführend vom Reiterverein veranstaltete Reitshow. Sie war ursprünglich ein Pferdemarkt und fand an wechselnden Standorten in Lörrach statt. Sie fand bis 2013 im Grüttpark statt. Mit mehreren tausend Besuchern hat sie eine Art Volksfestcharakter.Seit 1997 wird im Grüttpark durch den TuS Lörrach-Stetten der „Grüttlauf“ veranstaltet mit einem 800 Meter langen Kurs für Kleinkinder und einem zehn und fünf Kilometer langen Hauptlauf. Start und Ziel ist das Grüttpark-Stadion. An der Veranstaltung nahmen 2019 rund 500 Läufer teil.Am 17. Juni 2023 fand zum 40-jährigen Bestehen des Grüttparks ein Aktionstag statt, bei dem sich Sportvereine und Lörracher Institutionen präsentierten. Neben den Veranstaltungen wurden auch kostenfreie Führungen angeboten.
== Beschreibung und Nutzung ==
Der Landschaftspark im nördlichen Teil der Lörracher Kernstadt dient heute als Naherholungsgebiet. Neben Wegen für Spaziergänger und Fahrradfahrer führt ein Naturlehrpfad mit zehn Stationen durch die Anlage. Durch den Grüttpark verläuft außerdem ein Abschnitt des Hebel-Wanderwegs; eine Station befindet sich am Südufer des künstlich angelegten Grüttsees. Das teilweise asphaltierte und teilweise geschotterte Wegenetz im Park umfasst über zehn Kilometer.
Der Park ist eben, praktisch ohne natürliche oder künstliche Hügel. Der größte Teil des Parks liegt auf einer Höhe von 300 m ü. NN, der Grüttsee hat eine Höhe von 294 m ü. NN. Lediglich an den Rändern führen teilweise in sanften Rampen Wege zum – verglichen mit dem Stadtgebiet – etwas tiefer gelegenen Parkgelände.
Die 51 Hektar große Parkanlage unterteilt sich in folgende Teilflächen:
Am Ostrand des Grüttparks befindet sich eine Kleingartenanlage mit einer Fläche von rund 8000 Quadratmetern. Die Parzellen sind an einen Verein verpachtet. Die Verwaltung der Hütten mit Strom und Wasseranschluss obliegt der Stadt.
=== Einrichtungen und Bauwerke ===
Durch den Park und den Grüttsee fließt der Grüttbach. Beide Gewässer wurden künstlich angelegt. Der Grüttbach entspringt einem künstlichen, begehbaren Quelltrog. Der Bach fließt fast durch den kompletten Park von Nordost nach Südwest. Kleinere Stege und Brücken überqueren ihn. In der Parkanlage befinden sich vier als Pavillons gestaltete Schutzhütten. Eine Kneipp-Anlage am Bachlauf wurde 1982/83 als flankierende Maßnahme für die Gartenschau installiert.Am westlichen Ende liegen ein 1970 eingerichteter Campingplatz mit Wohnmobilstellplätzen, Tennis- und Fußballplätze. Dort steht auch das 1964 bis 1966 erbaute Grüttpark-Stadion. In der Nähe des Haupteingangs zum Stadion befindet sich ein Restaurationsbetrieb.
Im südlichen Bereich steht neben einem Abenteuerspielplatz die St.-Peters-Kirche. Die moderne Kirche mit dem 42 Meter hohen Glockenturm steht etwas exponiert und ist fast im ganzen Park sichtbar. Der Kindergarten westlich der Kirche gehört zur katholischen Pfarrei. In der Nähe des Grüttparkstadions befindet sich ein Waldorfkindergarten, der von 2020 bis 2022 umgebaut wurde. Östlich der Kirche ist ein Rosengarten; daneben befindet sich ein Café.
Weitere kleine Kinderspielplätze liegen im östlichen Teil des Parks. Mit einem Seilfloß für Kinder knapp 50 Meter südlich vom Quelltopf kann man sich mit der eigenen Muskelkraft über den Grüttbach ans gegenüberliegende Ufer ziehen.
Durch den Landschaftspark Grütt verlaufen drei Stromleitungen, die teilweise zu den überregionalen Stromtrassen gehören. Die hohen Freileitungsmasten stehen im Ostteil des Parks über dem Wiesental.
Der größte Gebäudekomplex am Grüttpark sind das Sport- und Freizeitzentrum und die Messehallen am Nordostrand des Geländes. Neben einem Hotel sind dort mehrere Sporthallen untergebracht, die unter anderem die Indoor-Ausübung von Tennis, Badminton, Squash, Fußball, Bowling und Kegeln ermöglichen. Im Außenbereich sind Anlagen für Beachsoccer und Beachvolleyball vorhanden. Außerdem ist in dem Gebäude eine Taekwon-Do-Schule und ein Fitnessstudio untergebracht.
Nordwestlich des Freizeit- und Messezentrums steht die im Jahr 1900 erbaute Villa Feer auf dem Parkgelände. Sie war bis 1983 im Privatbesitz und wurde zur Landesgartenschau von der Stadt Lörrach als Restaurant umgebaut. Seit 2005 ist das Haus nicht mehr im Besitz der Stadt, dient aber nach wie vor als Restaurant. In einem Nebengebäude der Villa – dem ehemaligen Ökonomietrakt – ist das Vereinshaus des Jazzclub Lörrach mit dem Clublokal Jazztone untergebracht. Während seines 60-jährigen Bestehens traten international bekannte Jazzkünstler auf. Auch das Jazzlokal wurde im Zuge der Landesgartenschau 1983 ins Leben gerufen.
Im Jahr 1984, ein Jahr nach der Landesgartenschau, fand die erste REGIO-Messe, damals mit fünf Hallen, auf dem Messegelände im Grütt statt. Mittlerweile hat die Messe drei permanente Hallen, die bei Bedarf um temporäre Zelthallen erweitert werden. Die REGIO-Messe ist die größte Messe in Lörrach. Sie hat eine Ausstellungsfläche von 29.000 Quadratmetern und wird von über 400 Ausstellern beschickt. Die Messehallen befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Sport- und Freizeitzentrums. Der an die Hallen nördlich angrenzende Festplatz wird außerhalb von Messen für Zirkus-Gastspiele oder anderen Freiluftveranstaltungen genutzt.
=== Grüttsee und -bach ===
Das Gewässersystem des Grütts wird unter anderem durch die Heilisauquellen gespeist. Die Quellen auf rund 340 Meter Höhe liegen etwa 50 Meter höher als der Park und werden von den unterirdisch fließenden Bächen nördlich in den Park eingeleitet und südlich wieder ausgeleitet. Der von Norden nach Süden fließende, etwa 2 Kilometer lange Grüttbach tritt aus einem künstlich angelegten Quelltopf in der Nähe der Messehallen hervor.
In der Mitte des Parks liegt der rund 12.000 Quadratmeter große und nur wenige Meter tiefe Grüttsee. Sein Seespiegel ist auf 294 m ü. NN Höhe angelegt. Ursprünglich war zur Landesgartenschau ein zweiter, etwa 3100 Quadratmeter großer See („Modellbootsee“) geplant, um den Grüttsee nicht durch Freizeitaktivitäten zu stören. Aus ökologischen Gründen verzichtete man später bei der Planung auf diesen zweiten Flachsee. Im Grüttsee ist nach der Umweltschutzverordnung das Baden, Bootfahren, Surfen, Fischen, die Benutzung von Modellbooten sowie das Eislaufen und Betreten von Eisflächen verboten.Der Grüttsee erhielt nach etwa 27 Tagen der Zuleitung Anfang September 1982 seinen maximalen Stand.
=== Rosarium ===
Südlich des Grüttsees liegt an einer Niederterrassenkante der etwa 1 Hektar große Rosengarten, dessen Standort aufgrund der städtischen Schutzverordnung festgelegt wurde. Das Rosarium enthält etwa 2500 Rosenbüsche aus 170 Arten und Sorten, die verschiedene Formationen ergeben. Im Hang zum See pflanzte man rund 7500 Rosen aus 30 Arten. Den verschiedenen Rosenklassen dienen unterschiedliche Rankhilfen und Gerüste. Der Hauptgang unter einem Rosenbogen führt zum Café Rosengarten. Die Beetformen sind quadratisch, rechteckig und rund. Im Zentrum des Rosengartens steht ein Brunnen des Freiburger Künstlers Bollin. Den Platz umsäumen zehn Kugelakazien. Von dort führen sternförmig Wege zu den halbkreisförmig angelegten Beeten. Die Beete, die im Sommer vielfältige Farben und Formen aufweisen, sind durch grüne Rasenflächen getrennt. Der Rosengarten ist in Richtung Wohnbebauung mit Eiben, Eichen, Hainbuchen und Japanischen Zierkirschen begrenzt.
=== Flora ===
Der Landschaftspark Grütt, der naturräumlich noch zum Markgräfler Hügelland bzw. zu den Ausläufern des Dinkelbergs gehört, zeichnet sich durch weiträumige Wiesenflächen aus. Die Rasen- und Pflanzenflächen machen über 80 % der gesamten Parkfläche aus. Insbesondere um den Grüttsee und am Quelltopf des Grüttbachs umsäumen Pflanzen die Gewässer. Am Grüttsee geht durch Röhricht die Wasser- zur Landfläche über. Heimische und exotische Bäume und Sträucher bilden die pflanzliche Vielfalt der Anlage. Entlang des Weges in Richtung Wasserwerk befinden sich mehrere Mammutbäume (u. a. Riesenmammutbaum, Urweltmammutbaum). Gegenwärtig stehen rund 60.000 Bäume und Sträucher aus rund 60 Arten im Grüttpark – zur Landesgartenschau waren es rund 25.000. Neben den heimischen Pappeln und Erlen gibt es im Grütt Bitterorangebäume, Sumpfzypressen, Mispeln, Schlangenhautahorn und Ginkgobäume.Sowohl der naturnahe Bachlauf des Grüttbachs und das Feldgehölz am Grüttsee sowie zwei kleineren Randgebiete sind nach § 30 Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) und § 33 Naturschutzgesetz Baden-Württemberg (NatSchG) am 20. Oktober 1993 durch das Land Baden-Württemberg als Biotope kartiert, insgesamt sind es rund 1,32 Hektar geschütztes Gebiet. Der renaturierte Bachlauf ist zwischen drei und vier Meter breit und nur an wenigen Stellen mit Steinen befestigt. Er enthält teilweise kleine Stufen und Kiesbänke. Die angepflanzten Galeriewäldchen, zum überwiegenden Teil aus Grau-Erlen, sind sehr mit Lücken durchsetzt, so dass sie keine Auwälder sind. In Biotopen sind vor allem folgende Pflanzenarten anzutreffen: Schwarz-Erle, Grau-Erle, Gelbe Schwertlilie, Rohrglanzgras, Sal-Weide und Gewöhnlicher Schneeball.Folgende Flächen stehen im Park unter besonderem Schutz:
=== Skulpturen und weitere Installationen ===
Im Park, insbesondere im Ostteil, sind Skulpturen, andere Kunstwerke und weitere Installationen aufgestellt.
Die Skulptur Hüter des Wassers von Konrad Winzer von 1983 steht am künstlichen Quelltopf des Grüttbachs. Am Ufer weist das 2,50 Meter hohe und 1200 Kilogramm schwere Kunstwerk aus Wachauer Marmor auf die Schutzwürdigkeit des Elementes Wasser hin.(Lage)
Die Bronzeskulptur auf einem Steinsockel Begegnung der Formen stammt von Herbert Bohnert aus Lörrach-Haagen, der sie von 1982 bis 1983 schuf. (Lage)
Vier aufgetürmte, von stilisierten Tulpenmotiven ausgestanzte Würfel bilden die Skulptur Feuer-Tulpen-Turm von Max Meinrad Geiger aus Inzlingen. Das Kunstwerk wird zweimal jährlich, zur Sommer- und zur Wintersonnenwende, mit Holzscheiten gefüllt und angezündet. Das Feuerspektakel wird oft musikalisch untermalt. (Lage)
Am Ostrand des Grüttparks gibt es ein Rasenlabyrinth mit sieben Umgängen entlang einer Achse. Es entstand vom 7. bis 29. Mai 2001 im Rahmen des REGIO-Mädchenprojektes Herzklopfen von Schülerinnen und Schülern sowie Unterstützern in zwei Wochen gemeinschaftlicher Arbeit. Im Durchmesser von 20 Metern beherbergt es einen 300 Meter langen und 70 Zentimeter breiten Pfad, der durch tiefe Spatenstiche entstand und der mit Granitsplit aufgefüllt wurde. (Lage)
An einem zentralen Wegkreuzungspunkt im Südteil des Parks, unweit der Peterskirche, steht eine Statue des Franz von Assisi. Die Steinskulptur eines unbekannten Künstlers trägt die Aufschrift „Gelobt seist du Herr durch all deine Geschöpfe“ – ein Franz von Assisi zugeschriebenes Zitat. (Lage)
Das südliche Eingangstor zum Landschaftspark Grütt, bestehend aus drei mehrere Meter hohen parallelen Holzrahmen, die von Pflanzen überwuchert sind, hat Manfred Morlock aus Schallstadt gestaltet. (Lage)
In der Mitte des Rosengartens steht im Zentrum von konzentrisch angelegten Wegen ein Wasserspiel des Künstlers Jörg Bollin. (Lage)
Ebenfalls im Rosengarten, am Rand des äußeren halbkreisförmigen Umgangs, befinden sich drei Brunnenplastiken aus Carrara-Marmor, gestaltet von Hans-Peter Wernet aus Freiburg. (Lage, Lage, Lage)
Am 10. Oktober 1988 weihte man einen Gedenkstein zur Erinnerung an den Mitte der 1950er Jahre abgetragenen Flugplatz Lörrach und den Flugzeugabsturz am 7. Januar 1925 im Grütt ein. Auf dem Naturstein sind eine bronzene Inschriftentafel und ein dreiflügeliger Propeller angebracht. Das Denkmal steht in der Nähe des Eingangs zum Grüttpark-Stadion. (Lage)
=== Wasserversorgung ===
Das 1982 am Südrand des Parks erbaute Wasserwerk bereitet für die städtische Versorgung jährlich rund 3,2 Millionen Kubikmeter Wasser auf. Das Wasser läuft dort aus vier im Park verteilten Tiefbrunnen zusammen, die ihr Wasser bis zu einer Tiefe von 20 Metern hochpumpen. Das gesamte Stadtgebiet Lörrachs verfügt über sieben dieser Tiefbrunnenanlagen. Damit ist das Grütt von zentraler Bedeutung für die Wasserversorgung der Stadt. Das Lörracher Wasserwerk mit der markanten blauen Fassadenverkleidung wurde Ende 1982 zunächst testweise in Betrieb genommen und löste am 29. April 1983, vom damaligen Oberbürgermeister Egon Hugenschmidt eingeweiht, den hundert Jahre alten Vorgängerbau, der seither für Veranstaltungen genutzt wird, in der Tumringer Straße ab. Das im Rohbau 10,9 Millionen Euro teure Wasserwerk verfolgt den Zweck der Gewinnung, Aufbereitung und Verteilung des Wassers in der Stadt. In der Zeit der Landesgartenschau fanden im Wasserwerk Veranstaltungen zum Thema Wasser statt.
=== Verkehrswege ===
Die Wiesentalbrücke überführt im östlichen Teil des Landschaftsparks die A 98. Die Pfeiler sind vor allem im südlichen Abschnitt durch eine waldähnliche Bepflanzung umsäumt. Die Flächen der 56 Brückenpfeiler sind seit Anfang August 2010 von der Stadt für legales Graffiti freigegeben. Die etwa 110 mehrere Meter hohen Bilder – manche sind bis zu 20 Meter hoch – wurden von internationalen Sprayern kreiert und sind als Bridge-Gallery bekannt.Östlich der Autobahn befindet sich die Gartenanlage Weidenpalast und daran angrenzend das Sport-, Freizeit- und Messezentrum Grütt. Im Nordostteil verläuft der Park fast bis an den Homburger Wald, einem bewaldeten Höhenzug, der Teil des Dinkelbergs ist. Nordwestlich wird der Landschaftspark von der in diesem Abschnitt parallel zur Wiese verlaufenden B 317 begrenzt. Der Grüttpark wird im östlichen knappen Drittel durch die Querspange zwischen der B317 und dem Kreisel zur Brombacher und Lörracher Straße in zwei Teile getrennt. Die Querspange kann im Norden von einer schmalen Brücke parallel zur Bahnstrecke sowie im Süden durch eine barriere- und stufenfreie Unterführung hinübergewechselt werden.
Eine 1983 erbaute und Ende Juli 2016 für knapp eine Million Euro komplett ersetzte, 85 Meter lange und 2,80 Meter breite gedeckte Holzbrücke mit schmalen Diagonalen aus Stahl für Fußgänger und Radfahrer über den Fluss Wiese und die Bundesstraße verbindet den Park mit dem Ortsteil Haagen. Die Holzfachwerkbrücke besteht aus Fichten- und Lärchenholz, und ist der einzige Zugang an der Nordwestflanke des Parks, der ansonsten an der Bundesstraße grenzt.
Der 200 Kilometer lange Oberrhein Römer-Radweg führt nordwärts von Brombach kommend durch den Grüttpark in die Innenstadt und von dort weiter über die Lucke nach Binzen. Auch der touristische Dreiland-Radweg durchquert den Park, zweigt über die Holzbrücke von Brombach kommend dann direkt über die Lucke ins Markgräflerland ab. Bestimmte Abschnitte des Rheintal-Wegs führen ebenfalls durch das Grütt, so wie die Variante Dinkelberg des Südschwarzwald-Radweges. Darüber hinaus nutzen auch die innerstädtischen Pendlerrouten das Wegenetz des Landschaftsparks Grütt mit.
=== Sportinfrastruktur ===
Entlang des Promenadenwegs im Südteil des Grüttparks befindet sich ein im Mai 2014 eingerichteter Bewegungsparcours mit sechs Stationen. Die installierten Geräte sollen für Einsteiger und Fortgeschrittene mit Hilfe von Übungstafeln Ausdauer- und Kraftübungen unter freiem Himmel ermöglichen.Auf den Grünflächen des Grüttparks ist eine permanente Discgolf-Anlage mit 18 Stationen installiert; sie beginnt am Rosengarten und führt um den Grüttsee herum. Die Anlage wurde 2014 im Park installiert. Im März findet jährlich ein Turnier statt.Seit 2010 sind mehrere Laufstrecken im Park ausgeschildert. Die blau gekennzeichnete Laufrunde ist 4,5 Kilometer lang und führt weiträumig in alle Teile des Parks. Die kürzere gelbe (2,9 Kilometer) und rote Runde (2,6 Kilometer) beschränkt sich jeweils auf den westlichen Teil des Parks. Dazu werden zwei kleinere Runden um den Weidenpalast (800 Meter) und um den Grüttsee (550 Meter) als Schleifen angeboten. Sämtliche Strecken sind ohne nennenswerte Steigungen.Im nordwestlichen Teil des Parks am Grüttpark-Stadion ist eine Pumptrack-Anlage für Tretroller, BMX- und Mountainbike-Fahrer installiert. Der Parcours ist sowohl für Kinder als auch für Jugendliche und Erwachsene konzipiert. Ebenfalls am Grüttpark-Stadion gibt es einen Streetball- und Skatepark. Die offene Sportanlage bietet auch Möglichkeiten für Skateboard, Inliner oder Basketball.
=== Öffentlicher Nahverkehr ===
Die Linien 5 und 6 der S-Bahn Basel fahren auf der Wiesentalbahn durch das Parkgelände, deren Stationen Schwarzwaldstraße und Haagen/Messe befinden sich beide in Laufnähe zu unterschiedlichen Teilen des Grüttparks. (→ Karte des Landschaftsparks Grütt)
Die Buslinie 7 fährt die Nordstadt an, so dass die Südeingänge des Parks über zwei Haltestellen (Wintersbuckstraße und Karl-Herbster-Platz) in Laufnähe von wenigen Minuten erreichbar sind. Die Ortsbuslinie 10 fährt ebenfalls die Haltestelle Haagen/Messe an, an welchem auch ein P+R-Parkplatz angeschlossen ist.
== Literatur ==
Hubert Bernnat: Das Grütt – vom Auenwald zum Landschaftspark. in: Stadtbuch Lörrach 2020, Verlag Stadt Lörrach, 2020, ISBN 978-3-9820354-3-7, S. 136–143.
Thomas Schwarze: Bäume im Grütt. In: Stadt Lörrach (Hrsg.): Lörrach 2008. Lörracher Jahrbuch mit Chronik vom 1. Oktober 2007 bis 30. September 2008., Waldemar Lutz Verlag, Lörrach, 2008, ISBN 978-3-922107-80-4, S. 36–61.
Wolfgang Göckel: Lörrachs grüner Schatz. In: Stadt Lörrach (Hrsg.): Lörrach 2008. Lörracher Jahrbuch mit Chronik vom 1. Oktober 2007 bis 30. September 2008., Waldemar Lutz Verlag, Lörrach, 2008, ISBN 978-3-922107-80-4, S. 21–23.
Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Hrsg.): 4. Landesgartenschau Baden-Württemberg. Lörrach 1983. Dokumentation, 1985.
Stadt Lörrach (Hrsg.): Lörrach: Landschaft – Geschichte – Kultur. Verlag Stadt Lörrach, Lörrach 1983, ISBN 3-9800841-0-8, S. 550–554.
Christian Vortisch: Wässerungsstreit im Grütt. Zusammenarbeit war im Wasserbau schon vor 400 Jahren nötig. In: Das Markgräflerland. 1973, 1/2, S. 38–50. (Digitalisat in der UB Freiburg)
== Weblinks ==
Stadt Lörrach: Naturlehrpfad im Landschaftspark Grütt
Deutsche Digitale Bibliothek: Historisches Bildmaterial zur Landesgartenschau 1983 in Lörrach
Förderungsgesellschaft für die Baden-Württembergischen Landesgartenschauen mbH: Landesgartenschau Lörrach 1983
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Landschaftspark_Gr%C3%BCtt
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Gymnasium Soltau
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= Gymnasium Soltau =
Das Gymnasium Soltau ist das einzige Gymnasium und eine der größten Schulen der niedersächsischen Stadt Soltau.
Das Gymnasium wurde 1893 als Höhere Privatschule gegründet. Nach jahrelangen vergeblichen Versuchen der staatlichen Anerkennung unter Schulleiter Hans Christian Cordsen wurde die Schule am 1. April 1944 durch die nationalsozialistische Regierung als Staatliche Oberschule für Jungen anerkannt. Seit 1956 trägt es den heutigen Namen. Nach knapp dreijähriger Bauzeit wurde 1958 das auch heute noch genutzte mehrtraktige Schulgebäude im Böhmewald bezogen.
Mehrfach in der Geschichte betrug die Zahl der Schüler bis zu 1400, nach einigen Umstrukturierungen besuchen heute knapp 1000 Schüler das Gymnasium Soltau. Schulleiter ist seit 2015 Volker Wrigge. Als Logo des Gymnasiums wurde das Möbiusband ausgewählt, eine Skulptur von Manfred Klatte schmückt den Eingangsbereich der Schule. Schwerpunkte werden in der Schule unter anderem auf die Berufsvorbereitung, Austauschprogramme und verschiedene Musik- und Theatergruppen gelegt, die in der Aula des Gymnasiums regelmäßig Auftritte veranstalten.
== Schulprogramm ==
Schüler, Lehrer und Eltern haben gemeinsam ein Schulprogramm entwickelt, das die Leitlinien und perspektivischen Entwicklungsmöglichkeiten der Schule aufzeigt. Das Programm wird seit 2006 im Rahmen einer systematischen Qualitätsentwicklung basierend auf dem Orientierungsrahmen „Schulqualität in Niedersachsen“ stetig aktualisiert und erweitert.
Es umfasst gesammelte Informationen u. a. zur Schulentwicklungsplanung, aktuellen und historischen Rahmenbedingungen, laufenden und geplanten Projekten und Schwerpunkten in den Bereichen Unterricht und Schulleben sowie Aussagen über Kooperationsbeziehungen der Schule. Im Mittelpunkt steht insbesondere auch das Konzept Fordern und Fördern, das unter anderem auch eine Hausaufgabenbetreuung von Schülern für Schüler und eine Hochbegabtenförderung beinhaltet.
Als Leitgedanke des Gymnasiums wurde der Satz „Bildung ist mehr als Wissen.“ ausgewählt.
== Geschichte ==
=== Gründung der Höheren Privatschule (1893) ===
Am 20. Februar 1893 versammelten sich knapp zwanzig Soltauer Bürger im heutigen Hotel Meyn an der Poststraße, um die Gründung einer höheren Privatschule zu beraten. 16 von ihnen gaben schriftlich eine Garantie ab, die Schule im Bedarfsfall mit jährlichen Zahlungen von insgesamt 4600 Mark zu unterstützen. Die an diesem Abend neu gegründete Generalversammlung, dessen Vorsitz zwei Wochen später Landrat Wilhelm Heinichen übernahm, formulierte die Ziele der Lehranstalt in § 1 seiner Satzung mit den Worten: „Die Schule soll die Knaben für die höhere Real- und Gymnasialschulen, die Mädchen für höhere Töchterschulen vorbereiten bzws. ihnen eine abgeschlossene Bildung verleihen.“ Nach der Genehmigung durch die Königliche Regierung am 7. März, wurde zu Ostern 1893 eine Sexta mit elf Schülern eingerichtet, der Unterricht begann am 11. April 1893 mit einer kleinen Feier. Die Volksschule bot ein Klassenzimmer zur Miete an, Lehrer der Volksschule übernahmen einige Unterrichtsstunden. Für den restlichen Unterricht war der Schulleiter Christian Gerdes zuständig. Bereits zum 1. Juli 1893 verließ Gerdes jedoch die Schule wieder, sein Nachfolger wurde der 25-jährige Max Busse, der entscheidenden Anteil am Aufbau der Schule in den folgenden Jahren haben sollte.
=== Entwicklung der Privatschule in den Anfangsjahren (1894–1922) ===
Im zweiten Schuljahr ihres Bestehens 1894/1895 hatte die Schule trotz des nach wie vor parallel bestehenden häuslichen Privatunterrichts bereits drei Klassen. Die Raumsituation wurde zunächst provisorisch gelöst; im Sommer 1894 stellte der Superintendent den Konfirmandensaal und zwei kleine Räume im Gemeindehaus (heutiges Heimatmuseum) zur Verfügung, danach wurden Räume der Soltauer Schulgemeinde in der Mühlenstraße genutzt. Im Februar 1985 plante das Kuratorium ein eigenes, kleines Schulgebäude am Rühberg, dessen Eröffnung bereits am 15. Oktober 1895 gefeiert wurde. Nachdem Schulleiter Busse im Februar 1899 zurück in seine sächsische Heimat ging, gab es in den folgenden Jahren aus verschiedenen Gründen mehrere Schulleiter- und Lehrerwechsel, was auch dazu führte, dass die Schülerzahlen deutlich zurückgingen.Erst nachdem Heinrich Aschermann 1902 den Posten übernahm und ihn für 21 Jahre innehatte, ging es mit der Entwicklung der Schule wieder bergauf. Auch während des Ersten Weltkrieges ging der Schulbetrieb für die 116 Schüler (Schuljahr 1913) überwiegend seinen normalen Gang inklusive Schulausflügen und Feiern. Einige Lehrer und 26 ehemalige Schüler der Soltauer Privatschule fielen jedoch im Krieg. Nach Kriegsende geriet die Höhere Privatschule aufgrund der finanziellen Probleme und der Arbeitslosigkeit vieler Bürger, der Vernichtung von Geldvermögen durch die Inflation und gleichzeitig steigenden Ausgaben in Nöte. Zum 28. Oktober 1920 erklärte Schulleiter Aschermann, dass das gesamte Lehrpersonal wegen mangelhafter Besoldung gekündigt hatte. Das Schulgeld stieg daraufhin auf 500 Mark an, was die Lage zunächst etwas verbesserte, dennoch blieb die Lage angespannt. Ein über die Presse ausgetragener Streit mit der Volksschule, die ihrerseits eine Mittelschule gründen wollte und damit in Konkurrenz zur Privatschule treten wollte, heizte die Situation weiter an. Die Mittelschule wurde schließlich im März 1921 gegründet und die dortige Schülerzahl wuchs rasch an.
=== Umwandlung in ein Privat-Realgymnasium (1923–1926) ===
Am 13. Dezember 1922 kamen etwa vierzig Eltern zu einer Generalversammlung zusammen, um das Fortbestehen der Schule zu beraten. Dieses Treffen markierte einen wichtigen Meilenstein in der Geschichte der Schule. Es wurde nicht nur das Weiterbestehen der Privatschule beschlossen und eine Kommission gewählt, die das Kuratorium bei der Suche eines Nachfolgers des Schulleiters – Aschermann hatte aus gesundheitlichen Gründen sein Ende zum April 1923 angekündigt – unterstützen sollte, gleichzeitig wurde beschlossen, dass der neue Schulleiter die Schule zur Vollanstalt ausbauen sollte, sodass sie in Zukunft das Maturum (Abitur) selbst verleihen kann. Im Januar 1923 wurde als neuer Schulleiter Hans Christian Cordsen vorgestellt. Die Soltauer Nachrichten kommentierten dies am nächsten Tag mit den Worten: „Selbst die zuständige Regierungsstelle in Lüneburg und seine frühere Schulbehörde in Hamburg beglückwünschen das Kuratorium, einen so bedeutenden Schulmann für Soltau gewonnen zu haben.“ Zum neuen Schuljahr 1923/1924 wurde die Höhere Privatschule in Privat-Realgymnasium Soltau umbenannt.Die Aufbruchstimmung wurde durch die erfolgreiche Entwicklung der Mittelschule gedämpft. 1923 besuchten bereits mehr als 220 Schüler diese Einrichtung, im Januar 1924 wurde dort zudem der Anschluss an das Realgymnasium Uelzen beschlossen, was den Schülern der Soltauer Mittelschule den Erwerb der Hochschulreife ermöglichte und der Mittelschule einen deutlichen Vorteil gegenüber dem Privat-Realgymnasium verschaffte. Auch die extremen Schwierigkeiten während der Inflation – 1923 wurde das Schulgeld im nahezu zweiwöchentlichen Rhythmus erhöht, im September stieg es auf 50 Millionen Mark – erschwerten die Situation. Dank der Bereitschaft der Eltern und Unterstützung durch Kreis und Stadt überstand die Privatschule auch diese Zeit und plante zudem seinerseits den Anschluss an das Realgymnasium Lüneburg, der am 3. November 1924 von der Regierung in Lüneburg genehmigt wurde. Der Lüneburger Schulleiter besuchte von jetzt an mehrmals jährlich die Soltauer Klassen im Unterricht und hielt die staatlichen Versetzungsprüfungen ab.Die vom Soltauer Schulleiter Cordsen ins Leben gerufenen höheren Privatschulen in Wietzendorf (1922–1926), Bispingen (1924–1935) und Neuenkirchen (1924–1937) bildeten kurzzeitig den Unterbau der Soltauer Privatschule. Nach ihren Auflösungen wechselten die Schüler nach Soltau.
=== Einrichtung eines Schülerheims und vergeblicher Wunsch nach staatlicher Anerkennung (1927–1937) ===
Den Ausbau zu einer staatlich anerkannten Vollanstalt mit Berechtigung zur Reifeprüfung geriet jedoch schnell ins Stocken. Finanzielle Sorgen, bürokratische Hürden, regionale Widerstände und zu geringe Schülerzahlen insbesondere in den älteren Jahrgängen ließen dieses Vorhaben nahezu unmöglich erscheinen. Doch Cordsen gab nicht auf und nachdem ihm 1927 das Kultusministerium in Berlin zur Einrichtung eines Schülerheims geraten hatte, um die erforderliche Schülerzahl von etwa 220 zu erreichen, begann er zügig mit der Planung.Noch im Jahr 1927 begann das Schülerheim Böhmewald mit drei Schülern. Zunächst war es in der Viktoria-Luise-Straße 3 untergebracht, dort war allerdings lediglich Platz für 18 Schüler. Die Schülerzahlen wuchsen jedoch schnell an, sodass Cordsen im November 1928 den sogenannten Grünhagenhof, ein Wohnhaus mit Nebengebäuden und Garten an der Rosenstraße 10, anmietete. Das Gebäude bot zwischen Mai 1929 und Mai 1932 35 Heimschülern und den betreuenden Lehrern Unterkunft. Parallel wurden zunächst übergangsweise einige Zimmer im ehemaligen Böhmewald-Hotel an der Bornemannstraße 20 angemietet. Nach weiteren Verhandlungen kaufte der Schulverein das Hotelgebäude zum 1. Oktober 1929 der Stadt ab, welches nach umfangreichen Umbauarbeiten ab dem 10. Januar 1930 auch als neues Schulgebäude diente. Dazu wurde ab Dezember 1930 noch ein Gebäude in der Viktoria-Luise-Straße 1 angemietet. Bereits 1931 übertraf die Zahl der Heimschüler (103) die der einheimischen (99), und die Gesamtzahl näherte sich der benötigten Zahl für die staatliche Anerkennung. Das Schülerheim war also ein voller Erfolg, auch wenn es für Cordsen aufgrund der zahlreichen Umzüge und Renovierungen eher ein Verlustgeschäft war.Ostern 1931 gab es auch erstmals eine Oberprima an der Privatschule, doch die Prüfung mussten die Schüler weiterhin an einer öffentlichen Schule ablegen. Cordsen wurde klar, dass die staatliche Anerkennung vorerst nicht zu erreichen war. Neben der damaligen allgemeinen Schulpolitik, die Anzahl von weiterführenden Schulen eher zu senken als zu erhöhen, verhinderten dies vermutlich weitere Gründe. So wäre der mit der Anerkennung einhergehende Wegfall staatlicher Zuschüsse finanziell nicht zu verkraften gewesen, zudem war der Schulbehörde offenbar das Engagement einiger Schüler für den aufstrebenden Nationalsozialismus ein Dorn im Auge. Die angestrebte Anerkennung wurde also zurückgestellt.Im Januar 1934 gab Cordsen bekannt, dass im Laufe der Jahre 1932 und 1933 beschlossen worden sei, dass die Oberstufe der Soltauer Privatschule nach Malente in Ostholstein verlegt werden solle. Die dortige bereits nationalsozialistische Regierung in Oldenburg gestattete, anders als die preußische, die Abhaltung der Reifeprüfungen. Das Landschulheim Nordmark sollte als staatliche nationalsozialistische Bildungsanstalt geleitet werden. Nach der Machtübernahme der NSDAP in Preußen hätte Cordsen die Oldenburger Genehmigung wohl gern ruhen lassen, doch der Eutiner Regierungspräsident Böhmcker drängte auf die Ausführung und Weihnachten 1933 war der Weg für die Gründung des Landschulheims frei. Cordsen entschied sich schließlich für das Haus Waldfrieden in Sielbeck als Standort. Nach einem Missverständnis war das Ablegen der Reifeprüfung zunächst doch nicht möglich und nachdem im Januar 1936 Cordsens Antrag auf staatliche Anerkennung aufgrund von mangelnden Leistungen der Schüler doch nicht erteilt wurde, schloss Cordsen das Landschulheim im Oktober 1936 mit erheblichen finanziellen Verlusten wieder.1937 wagte Cordsen gemeinsam mit dem Bürgermeister Klapproth einen neuen Vorstoß für eine staatliche höhere Schule in Soltau. Die Stadt feierte in diesem Jahr ihr 1000-jähriges Jubiläum, die Einwohnerzahl war auf 8000 angewachsen und zahlreiche Behörden hatten ihren Sitz in der Stadt. Doch auch dieser Antrag wurde mit dem Vermerk „vorläufig zurückgestellt“ abgewiesen. Hauptgrund war vermutlich, dass Reichserziehungsminister Bernhard Rust noch nicht abschließend über die Neugestaltung des höheren Schulwesens in Deutschland entschieden hatte.
=== Anerkennung als staatliche Oberschule durch die Nationalsozialisten (1938–1944) ===
Nach der Schulreform und der Einrichtung von Deutschen Oberschulen zu Beginn des Schuljahres 1938/1939 war Cordsen, der zunächst noch große Hoffnungen in eine Schulreform der Nationalsozialisten setzte, mittlerweile ernüchtert. Dennoch verfolgte er weiter sein Ziel der staatlichen Anerkennung. 1938 wurde weiter verhandelt und schließlich am 11. August durch den Reichsminister entschieden, dass Soltau zu Ostern 1939 eine öffentliche höhere Schule, beginnend mit der Sexta, erhalten sollte. Bedingungen dafür waren aber die Klärung der Finanzierung und ein Neubau des Schulgebäudes, insbesondere einer Turnhalle. Für die älteren Jahrgänge wurde die Privatschule übergangsweise staatlich anerkannt. Die Staatlich anerkannte Private Oberschule für Jungen sollte zunächst den Namen Hermann-Löns-Schule erhalten, was aber bei den Schülern auf Ablehnung stieß.Ein Treffen von Vertretern der beteiligten Orts-, Provinz- und Reichsbehörden in Soltau am 23. Juni 1939 führte zu dem Ergebnis, dass die Privatschule möglichst bald in eine öffentliche Anstalt umgewandelt werden sollte. Den Großteil der Kosten sollte der Staat übernehmen, auch die Stadt beteiligte sich und sagte unter anderem ein kostenloses Grundstück für den geplanten Neubau zu. Aufgrund des Beginns des Zweiten Weltkrieges passierte zunächst jedoch nichts. Im März 1942 schlug der Oberschulrat Schmadtke Alarm, da die Existenz der Schule aufgrund extremen Lehrermangels – die private Schule konnte keine Beamten einstellen – in Gefahr war. Der Antrag auf Verstaatlichung ging am 1. April 1942 erneut nach Berlin und wurde aus finanziellen Gründen abgelehnt. Mit Unterstützung der ansässigen Behörden wurde noch im gleichen Jahr ein erneuter Anlauf gewagt, die wachsenden Schülerzahlen duldeten keinen Aufschub mehr.Tatsächlich geschah etwas. Die privat geleitete Schule unter dem erkrankten Schulleiter Cordsen war den Nationalsozialisten offenbar nicht mehr recht. Auch Gerüchte über eine homosexuelle Affäre an der Schule, die zu mehreren Festnahmen führten, waren der Grund für eine unangemeldete Schulinspektion am 8. Dezember 1943 durch den stellvertretenden Gauleiter Peper und den NSDAP-Kreisleiter. Diese führte zu folgendem Ergebnis: „Die Schule muss unverzüglich aus den Händen des Professors Cordsen kommen und zu einer Heimschule unter SS-Obergruppenführer Heißmeyer umgewandelt werden.“ Dann ging alles sehr schnell: Cordsen wurde der Rücktritt zum Jahresende nahegelegt, dem er nachkam, im Januar 1943 wurde Schaeffer als kommissarischer Leiter der Soltauer Privatschule eingesetzt. Schule, Schulverein und Schülerheim wurden gleichgeschaltet und waren nun in der alleinigen Verantwortung von Bürgermeister Klapproth.Am 25. Juni 1943 erklärte sich der Reichserziehungsminister schließlich einverstanden mit der Einrichtung einer staatlichen Oberschule in Soltau. Diskussionen über die Finanzierung des Neubaus und schließlich ein Bombenangriff auf die Schulabteilung in Hannover im Oktober 1943 sorgten für weitere Verzögerungen, bis am 21. April 1944 schließlich die Genehmigung aus Berlin erfolgte. Rückwirkend zum 1. April 1944 wurde aus der Staatlich anerkannten Höheren Privatschule die Staatliche Oberschule für Jungen.
=== Die Soltauer Oberschule während des Zweiten Weltkrieges (1939–1945) ===
Die im Schuljahr 1940/1941 erstmals vorhandene Klasse 8, deren Schüler 1941 die ersten Reifeprüfungen der Schule ablegen sollten, wurde im Oktober 1940 aufgelöst. 18 Jungen wurden in den Heeresdienst eingezogen und erhielten von der Schule ein Abgangszeugnis mit Reifevermerk. Ein Jahr später wurde auch die nächste Jahrgangsstufe aufgelöst, da die zwölf Jungen ebenfalls eingezogen wurden. Das einzige Mädchen der Klasse erhielt am 27. März 1942 das erste durch eine Prüfung erworbene Reifezeugnis an der Soltauer Oberschule. Auch 1943 (ein Schüler) und 1944 (sechs Schüler) legte aufgrund des Krieges nur ein kleiner Teil der Schüler die Prüfung ab. Zahlreiche Lehrer wurden ebenfalls in den Krieg einberufen. In den Jahren 1941 bis 1944 erwarben insgesamt 70 Schüler die Hochschulreife. Unter anderem aufgrund der Bombardierung Hamburgs stieg die Schülerzahl 1943/1944 weiter an und schon bald wurde es in den Gebäuden an der Bornemannstraße zu eng. Die Stadt Soltau kaufte daraufhin zwei Unterkunftsbaracken der Luftwaffenmunitionsanstalt Oerrel, die am 3. Mai 1944 der Schule übergeben wurden. Als der Krieg in die letzte Phase eintrat, kamen im Februar 1944 zum Teil komplette Schulklassen aus Hamburg nach Soltau.Am 9. September 1944 wurden alle Soltauer Schulen geschlossen, um für die Aufnahme von Evakuierten genutzt werden zu können. In den Räumen der Oberschule bezogen 400 Personen Notquartier. In den nächsten Monaten fand der Unterricht nur sehr eingeschränkt und unregelmäßig statt. Ab April 1945 nutzte die Wehrmacht das Schulgebäude als Lazarett. Am 17. April 1945 wurde die Stadt durch die Alliierten eingenommen, die britische Militärregierung übernahm die Kontrolle. Die Schulgebäude wurden von der Besatzungsmacht beschlagnahmt.
=== Neuanfang und Neubau (1946–1969) ===
Der Oberschullehrer Wilhelm Stietz trat als Vermittler und Dolmetscher des britischen Gouverneurs ein und wurde später als kommissarischer Schulleiter eingesetzt. Bis Mitte Oktober 1945 war jeglicher Schulunterricht verboten, Lehrer und Lehrmaterialien wurden eingehend geprüft. Ab Oktober begann dann der Unterricht für die Klassen 1–3 wieder, er fand in den Baracken statt. Ende November folgten auch die Klassen 4–7, insgesamt nahmen zunächst 304 Schüler am Unterricht teil. In den Weihnachtsferien 1945/1946 wurde das Haupthaus wieder eingerichtet, ein Großteil der Möbel und Materialien waren geplündert worden. Im Februar 1946 öffnete auch das Schülerheim wieder seine Tore. Zwischen Oktober 1945 und Dezember 1947 fanden vier „Übergangslehrgänge“ statt, in denen insgesamt 128 Teilnehmern aus allen Gebieten des Reiches die Möglichkeit gegeben wurde, die Reifeprüfung nachzuholen. Insbesondere durch zugezogene Heimatvertriebene stieg die Schülerzahl in den nächsten Monaten rasch an (536 Schüler zu Ostern 1946).
Der Unterricht in den Nachkriegsjahren wurde insbesondere durch den Mangel an Lebensmitteln und Lehrmaterialien aller Art und die Raumnot erschwert. Der Bau von drei weiteren Baracken auf dem Schulgelände in den folgenden Jahren linderte letztere kaum. Pläne für einen Neubau der Oberschule lagen ab 1952 vor. Nachdem der Landkreis Soltau zum 30. September 1954 die Trägerschaft der Schule übernahm und das vorgesehene Gelände im Böhmewald von der Stadt kaufte, erfolgte am 9. Dezember 1955 die Grundsteinlegung. Die Fertigstellung der Klassentrakte und die Schlüsselübergabe, die eigentlich bereits im Frühjahr 1957 vorgesehen war, erfolgte am 8. Oktober 1958. Im Herbst 1959 wurde auch die neue Turnhalle eröffnet.Aufgrund des Düsseldorfer Abkommens von 1955 wurde die Soltauer Oberschule bereits zu Ostern 1956 umbenannt in Gymnasium Soltau. Das Schülerheim hatte aufgrund der finanziellen Probleme vieler Familien sinkende Schülerzahlen zu verzeichnen, zu Ostern 1957 wurde der Heimbetrieb auch aufgrund des bevorstehenden Umzuges schließlich eingestellt. Das Schuljahr 1959/1960 war das erste, in dem kein Schulgeld mehr gezahlt werden musste.
=== Wachstum und Reformen (1970–1989) ===
Die Aula und damit der ursprünglich geplante Gesamtkomplex war 1970 gerade fertiggestellt, da gab es bereits erneute Raumprobleme in dem eigentlich doch so geräumigen Neubau. Da die Schülerzahl mittlerweile die 1000 erreicht hatte und weiter anstieg, mussten einzelne Fachräume zu Klassenräumen umgebaut werden, es folgte außerdem ein kleiner Anbau an den Trakt C. Dennoch wurden zahlreiche Wanderklassen eingerichtet, einzelne Klassen mussten später in die Räume der benachbarten Berufsschule ausgelagert werden. Dazu kam ab 1969 ein großer Lehrermangel in ganz Niedersachsen, was zu großen Klassen und vermehrtem Unterrichtsausfall führte. In den Klassen 11 bis 13 wurde eine Aufteilung in einen sprachlichen und einen mathematisch-physikalischen Schwerpunkt vorgenommen, meistens wurden drei Klassen (sprachlich-latein, sprachlich-französisch sowie mathematisch) zum Abitur geführt.Dem Zeitgeist entsprechend gab es in dieser Zeit auch in Soltau etliche kleinere und größere Konflikte und Proteste zwischen Lehrern und Schülern. Dazu beschlossen Bund und Länder zahlreiche Schulreformen, die auch das Soltauer Gymnasium betrafen.Ab 1971 wurden zwei Klassen mit Schneverdinger Schülern direkt vor Ort unterrichtet, daraus entstand 1976 die Kooperative Gesamtschule Schneverdingen. Zum 1. August 1980, dem letztmöglichen Zeitpunkt, wurde im Altkreis Soltau die Orientierungsstufe eingerichtet. Die Klassen 5 und 6 waren damit nicht mehr Teil des Gymnasiums. 1982 wurden zwei der sieben 7. Klassen in einer neu eröffneten Zweigstelle im Schulzentrum in Munster unterrichtet, daraus entstand zum 1. August 1986 das eigenständige Gymnasium Munster. Diese Maßnahmen und die geburtenschwächeren Jahrgänge führten zu einer Halbierung der Schülerzahlen von über 1400 (1979) auf knapp 700 (1989). Die Probleme Unterrichtsausfall und Raumnot waren – auch aufgrund von bereits 1974 genehmigten, aber erst 1986 verwirklichten, umfangreichen Um- und Anbauten (Fachbereiche, Forum) – damit vorerst deutlich entschärft.
=== Entwicklung in jüngerer Zeit (seit 1990) ===
Der Förderverein des Gymnasium Soltau e.V. wurde 1997 gegründet und unterstützt die Schule unter anderem beim Erwerb von Lehrmaterialien und bei der Finanzierung verschiedener Projekte. Zudem betreiben die Mitglieder des Vereins die Cafeteria.Als zum Ende des Schuljahres 2003/04 die Orientierungsstufen wieder abgeschafft wurden, wuchs die Schülerzahl des Gymnasiums durch die Wiederaufnahme der Jahrgänge 5 und 6 um 50 Prozent an. Die Jahrgangsstufe 11 (später auch 10) wurden ausgelagert in die ehemaligen Gebäude der Orientierungsstufe I an der Rosenstraße.Seit 2003 ist das Gymnasium eine offene Ganztagsschule. 2007 eröffnete im Schulzentrum im Böhmewald eine Mensa für die gemeinsame Nutzung durch die Schüler von Gymnasium und Oberschule (vormals Haupt- und Realschule). Im gleichen Jahr erfolgte der Beschluss für den Abriss und Neubau der mittlerweile veralteten Turnhalle. Der Bau der modernen Einfeldhalle mit Solaranlage erfolgte mit Mitteln aus dem Konjunkturpaket II, die Eröffnung fand am 11. November 2011 statt. Parallel wurde auch der Naturwissenschaftstrakt (Atrium) erweitert und modernisiert.Die Schülerzahlen stiegen in den nächsten Jahren bis auf 1363 (Schuljahr 2007/2008) an. Seitdem sind die Zahlen rückläufig, auch die Zuordnung der Bispinger Schüler an das Gymnasium in Munster brachte Entspannung. 2011 übernahm daher die Kreisvolkshochschule das Gebäude an der Rosenstraße, dort nutzt das Gymnasium nur noch vier Klassenzimmer und einen Musikraum.Im Jahr 2009 wurde die Bibliothek modernisiert und in Zusammenarbeit mit der Bibliothek Waldmühle zu einem Selbstlernzentrum aufgebaut. Ab Sommer 2013 folgten umfassende Sanierungen der drei Klassentrakte, auch eine digitale Ausstattung aller Klassenräume wurde angestrebt. Im Frühjahr 2014 wurde dann die Aula grundsaniert. Im ersten Halbjahr 2015 wurde direkt an das Forum anschließend eine Pausenhalle und ein dritter Musikraum errichtet, die auch zusammen für Veranstaltungen mit bis zu 150 Personen genutzt werden können.2018 feierte das Gymnasium sein 125-jähriges Bestehen mit einer Feierstunde und anschließendem Schulfest sowie mit mehreren Konzerten unter anderem gemeinsam mit der NDR Bigband. Höhepunkt war ein Funkkontakt mit dem Astronauten Alexander Gerst auf der Internationalen Raumstation, der im Rahmen des Projektes ARISS von einer Schülergruppe vorbereitet und am 23. Oktober durchgeführt wurde.
== Gebäude ==
Das Hauptgebäude an der Ernst-August-Straße im Böhmewald gliedert sich in drei langgezogene, zweigeschossige Trakte, einen als Atrium angelegten Naturwissenschaftstrakt und einen Haupttrakt, in dem unter anderem Verwaltung und Lehrerzimmer untergebracht sind. Im Forum, das für Veranstaltungen und als Aufenthaltsbereich genutzt wird, befindet sich eine von den Schülern betriebene Cafeteria; in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hauptgebäude wird gemeinsam mit der Oberschule Soltau eine Mensa betrieben. Im Gebäude ist zudem die Kreisbildstelle im A-Trakt untergebracht. 2010 wurde eine neue Turnhalle gebaut, zuletzt wurde auf dem Schulhof eine kleine Pausenhalle errichtet. Als Raumausgleich wurden zeitweilig zusätzlich einige Räume im Gebäude der ehemaligen Orientierungsstufe I an der Rosenstraße genutzt. Neben der neuen Sporthalle am Gymnasium wird auch die Sporthalle in der Rosenstraße für den Sportunterricht genutzt.
In der Aula des Gymnasiums finden regelmäßig Theater- und Musikveranstaltungen statt. Sie bietet eine professionelle Theaterbühne und hat eine Kapazität für 530 Besucher.Nahe der Schule befinden sich das Hindenburgstadion und die Soltau-Therme, die beide für den Sportunterricht genutzt werden.
== Ausstattung und Angebote ==
Als zweite Fremdsprache neben Englisch werden Latein, Französisch und seit 2021 auch Spanisch ab der sechsten Klasse angeboten. Ab der achten Klasse steht wahlweise auch Russisch zur Auswahl. Auch bilingualer Geschichtsunterricht stehen auf dem Lehrplan.Es stehen spezielle Fachräume für die Bereiche Musik, Kunst, Chemie, Physik, Biologie und Erdkunde sowie zwei Sprachlabore und ein Computerraum zur Verfügung.Im Juni 2009 wurde ein Selbstlernzentrum eröffnet. In Kooperation mit der Bibliothek Waldmühle bietet diese ein sogenanntes Schülercenter an, indem für einzelne Fächer spezielle Bücher angeboten werden.
== Kooperationen und Projekte ==
=== Studien- und Berufsvorbereitung ===
Das Gymnasium bemüht sich seit 1994 sehr, im Rahmen der Berufsorientierung mit den örtlichen Unternehmen zusammenzuarbeiten. Jedes Jahr finden an der Schule die Studien- und Berufsinformationstage (BIT) statt, an denen sich die Schüler mit Referenten aus allen Berufsfeldern austauschen können. Weitere Verbindungen, insbesondere in der Vermittlung von Praktikumsplätzen, bestehen mit lokalen Unternehmen und der Redaktion der Böhme-Zeitung. Des Weiteren wurden Kooperationsverträge mit der TU Hamburg und mit dem Standort Suderburg der Ostfalia Hochschule abgeschlossen. Für dieses Engagement erhielt die Schule 2005 die Auszeichnung „proBeruf! – Schule-Wirtschaft“. Zudem gibt es eine MINT-Klasse (Themenschwerpunkte Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Diese nimmt unter anderem an zahlreichen Wettbewerben, wie zum Beispiel dem Daniel-Düsentrieb-Wettbewerb oder Jugend Baut statt.
=== Soziales und Gesundheit ===
2009 wurde die Schule als Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage ausgezeichnet. Sie gewann zudem den Wettbewerb Fair bringt mehr unter der Schirmherrschaft des niedersächsischen Ministerpräsidenten. Auch Aktionen zur Sucht- und Gewaltprävention (Schritte gegen Tritte) gehören zum Schulprogramm. Weitere Projekte sind die Mitwirkung beim Hochbegabtenverbund Soltau und die Einrichtung eines Raumes der Stille zur Entspannung für Lehrer und Schüler. Das Konzept zum Gesundheitsmanagement wird zurzeit einer Bearbeitung unterzogen.
=== Kunst und Kultur ===
Die Schule nimmt am Comenius-Programm teil und organisiert darüber hinaus regelmäßig Austausche mit Partnerschulen in Rennes (Frankreich), Tynset (Norwegen), Myślibórz (Polen), Uherské Hradiště (Tschechien) und Smolensk (Russland).Seit 2012 existiert die Schülerfirma uniqART, die sich Design, Produktion und Verkauf von verschiedenen Textilartikeln zur Aufgabe gemacht hat.Das Gymnasium Soltau legt außerdem großen Wert auf seine zahlreichen musikalischen Arbeitsgemeinschaften (z. B. Bigband, Orchester, Chor), die zweimal jährlich ein großes Konzert organisieren. Auch Theater- und Musicalaufführungen der Schüler haben Tradition. Zusätzlich gibt es derzeit eine Bläserklasse, in der alle Schüler ein Instrument erlernen.
== Persönlichkeiten ==
=== Schulleiter ===
1893: Christian Gerdes
1893–1899: Max Busse
1899: Oskar Deppe
1899–1900: Martin Wilbrandt
1900–1902: Reinhold Ungefroren
1902–1923: Heinrich Aschermann
1923–1942: Hans Christian Cordsen
1943–1945: Wilhelm Schaeffer
1945–1946: Wilhelm Stietz (kommissarisch)
1946–1954: Wilhelm Weber
1954–1960: Wilhelm Geiger
1960–1962: Carl Böse
1962: Hermann Buse (kommissarisch)
1962–1969: Helmut Büngener
1969–1994: Karl-Heinz Liebe
1994–1999: Hermann Wulfert
2000–2006: Jutta Wolf
2006: Uwe Neumann (kommissarisch)
2006–2014: Ursula Tiedemann
2014–2015: Ulrike Begemann (kommissarisch)
seit 2015: Volker Wrigge
=== Bekannte Lehrer ===
Otto Calliebe (1893–1976), NS-Funktionär
Willi Eggers (1911–1979), Autor und Lyriker in niederdeutscher Sprache
Arnold Kirsch (1922–2013), Mathematikdidaktiker
Jürgen Kroymann (1911–1980), klassischer Philologe
=== Bekannte Schüler ===
Hans-Christian Biallas (1956–2022), Politiker und Mitglied des niedersächsischen Landtages
Mijk van Dijk (* 1963) (eigentlich Michael van den Nieuwendijk), DJ und Musikproduzent elektronischer Musik
Michael Farin (* 1953), Germanist, Verleger und Autor
Peter Goerke-Mallet (* 1955), Bergbau-Ingenieur und Markscheider des Bergwerks Ibbenbüren
Klaus Klang (* 1956), Politiker und Staatssekretär
Gesine Meißner (* 1952), Politikerin und Mitglied des Europäischen Parlaments
Karsten Möring (* 1949), Politiker und Mitglied des Deutschen Bundestages
Helge Röbbert (* 1966), Bürgermeister in Soltau
Andrea Schröder-Ehlers (* 1961), Politikerin und Mitglied des niedersächsischen Landtages
Martin Visbeck (* 1963), Hochschullehrer und Klimaforscher
Nathalie Volk (* 1997), Model und Reality-Show-Teilnehmerin
Lutz Winkelmann (* 1956), Politiker und Mitglied des niedersächsischen Landtages
Wolfgang von Gahlen-Hoops (* 1974), Pflegewissenschaftler und Hochschullehrer Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
== Weblinks ==
Homepage des Gymnasiums
== Literatur ==
Klaus Otte: Hundert Jahre Schule. Ein Rückblick auf die Geschichte der allgemeinbildenden höheren Schule in Soltau 1893–1993. Drei-Birken-Verlag Soltau, 1995
Wolfgang Bargmann: Die Stadt Soltau in der Niedersächsischen Geschichte: Band III. Vom Ende des Ersten Weltkriegs 1918 bis zum Beginn der zweiten Phase der Stadterneuerung Anfang 2009. 2009, ISBN 978-3-933802-19-4.
Tim Strehle: Das Gymnasium Soltau im Informationszeitalter: Informationskompetenz als Ausbildungsziel, Diplomarbeit im Studiengang Allgemeine Dokumentation an der Fachhochschule Hannover, 1997. (Online verfügbar unter www.strehle.de, PDF-Dokument)
Schülerzeitungen (Auswahl)
Der neue Wecker, 1964 bis 1969. DNB 944319157.
Abraxas, ca. 1983 bis 1984. DNB 551664835
Der Mond, ca. 1988 bis 1992. DNB 982657501
Zensiert, 1999 bis 2003
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gymnasium_Soltau
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Gävlefischer
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= Gävlefischer =
Gävlefischer [ˈjɛːvlə-] (schwedisch gävlefiskarna) wurden Fischer aus der schwedischen Stadt Gävle genannt, die zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert entlang der Küste Norrlands Hering fischten. Von 1557 bis 1776 hatten sie ein vom König ausgestelltes Monopol auf den gesamten Fischfang an der etwa 2000 Kilometer langen Küstenlinie. Die Gävlefischer unterhielten neben ihren Wohnsitzen in Gävle entlang der Küste Fischerdörfer, von denen aus sie den Fischfang betrieben. Jährlich segelten die Fischerfamilien im Frühjahr in ihr Dorf, fischten dort den Sommer über und verkauften den produzierten Salzhering im Herbst auf Märkten in Mittelschweden. Hauptsächlich wegen der Konkurrenz anderer Fischer begann ab dem Ende des 16. Jahrhunderts der Niedergang der Fernfahrten. Die letzte Fahrt unternahmen Erik August Grellson und Erik Wilhelm Högberg im Jahr 1899 nach Trysunda.
== Geschichte ==
=== Anfänge ===
Anfang des 15. Jahrhunderts begannen Fischer aus mittelschwedischen Städten, vor allem aus Gävle, längere Fahrten entlang der Küste von Norrland zu unternehmen, um dort Heringe zu fischen. Neuerungen in der Verarbeitung des gefangenen Fisches, wovon die wichtigste das Einsalzen war, ermöglichten Fernfahrten. Bis ins 14. Jahrhundert aßen die Menschen Ostseeheringe frisch oder getrocknet; erst als Lübecker Kaufleute begannen, Salz aus der Lüneburger Saline in das salzarme Skandinavien zu exportieren, gewann der Fischfang dort an Bedeutung. Den Salzhering verkaufte die Hanse in ganz Europa als Fastenspeise.Gävle liegt an der Mündung des Gavleån in den Bottnischen Meerbusen und war ursprünglich ein kleines Fischerdorf, das 1446 die Stadtrechte von König Christoph III. erhielt. Anfangs konkurrierten die Gävler Fischer mit denen aus südlicher gelegenen Städten um die besten Fangplätze. 1557 erhielten sie von König Gustav Wasa das alleinige Recht, entlang der Küste von Norrland zu fischen, und führten dafür jede zehnte Tonne Salzhering als Steuer an die Krone ab. Im Jahr 1559 gab es 149 Fischer in verschiedenen Fischerdörfern, die vor allem an der Küste Ångermanlands fischten. Ihr Gesamtfang belief sich in diesem Jahr auf 340 Fässer Heringe.
=== Konkurrenz durch andere Fischer und Niedergang ===
Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts wurden nördlich von Gävle neue Städte gegründet, deren Bewohner versuchten, die Gävlefischer aus ihren Fischfanggründen zu verdrängen. Bei den Auseinandersetzungen kam es mehrmals zu kleinen Schlägereien zwischen den Konkurrenten. 1623 erhielt die Stadt Sundsvall von der Krone einige der besten Fangplätze in Medelpad. Die Gävlefischer durften die Häfen gegen die Zahlung einer Pacht weiterhin nutzen. Das Fischerdorf Ulvöhamn war der bedeutendste Stützpunkt der Gävlefischer und ein wichtiger Verbindungspunkt zwischen Stockholm und dem Norden Schwedens. Dort fand ein eigentlich verbotener reger Handel mit den örtlichen Bauern statt, die vor allem Salz kauften. Auf Betreiben der Bürger von Härnösand, die den lukrativen Handel mit den Bauern selber abwickeln wollten, untersagte ihn der Staat 1646. Fischer und Bauern umgingen das Verbot jedoch. 1668 erreichten die Härnösander Bürger bei König Karl XI. eine Anordnung, die die Gävlefischer zwang, im Frühjahr und Herbst nach Härnösand einzulaufen und sich dort visitieren zu lassen. Dadurch konnte verhindert werden, dass sie im Frühjahr andere Produkte als das zum Einsalzen benötigte Salz und im Herbst die entsprechenden Mengen Salzhering mitführten. Die Fischer beschwerten sich ihrerseits beim König über die zeitraubenden Kontrollen. Als Lösung mussten die Kontrolleure ab 1675 aus Härnösand in die Fischerdörfer fahren, um die Fischer dort zu visitieren. Der illegale Handel endete – unter anderem wegen der hohen Geldstrafen für Gesetzesverstöße – um das Jahr 1700. Im Jahr 1701 stellten die Fischer aus Gävle ihre Fernfahrten nach Medelpad ein, da die Zahl der konkurrierenden Fischer aus Sundsvall stetig stieg. Teilweise fischten die Gävlefischer nun von anderen, weiter nördlich gelegenen Fischerdörfern aus, teilweise wurden sie in Medelpad sesshaft. Ihre Anzahl sank bis 1737 auf 71, sie besuchten weniger Fischerdörfer und diese lagen weiter nördlich als zu Beginn des 17. Jahrhunderts.
Im Jahr 1766 schaffte der König das Wasserregal ab und gab den Landbesitzern ihr Fischereirecht zurück; dadurch verloren die Gävlefischer ihr Vorrecht auf den Fischfang im gesamten Norrland. Sie mussten ihre alten Fischerdörfer pachten, die Fischereifahrten gingen noch gut 100 Jahre lang weiter. Im Oktober 1802 geschah eines der größten Unglücke in der Geschichte der Gävlefischer, als drei Fischer mit ihren Familien auf dem Rückweg nach Gävle in einen Sturm gerieten und ihr Boot vor der Küste Ålands kenterte. Alle siebzehn Insassen ertranken. Der Niedergang der Fischereifahrten hatte viele Ursachen, einer der Hauptgründe war die stärkere Konkurrenz durch andere Fischer. Viele der Gävlefischer kamen ursprünglich aus Ångermanland, ihre Vorfahren waren nach Gävle gezogen und dort Mitglied der Bürgerschaft geworden. Nun entschieden sich immer mehr Fischer, sesshaft zu werden, oft in ihren alten Fischerdörfern. Gründe waren der Wunsch nach besseren Wohnhäusern sowie der Bau von Eisenbahnlinien von der Westküste Schwedens an die Ostküste. Dort hatten bisher die Gävlefischer ihren Salzhering verkauft, mit der Eisenbahn konnte frischer Fisch in großen Mengen transportiert und billiger als der Salzhering verkauft werden. Die Wirtschaft Gävles richtete sich auch immer stärker auf den Handel ein, zusammen mit der beginnenden Industrialisierung wurden dort viele Arbeitskräfte gebraucht. Die letzten Gävlefischer Ende des 19. Jahrhunderts waren Erik August Grellsons Familie und Erik Wilhelm Högberg. Sie segelten zum letzten Mal im Jahr 1899 nach Trysunda. Högberg fuhr noch bis 1914 jedes Jahr im Frühjahr mit einem Dampfschiff nach Skeppsmalen, fischte dort den Sommer über und fuhr im Herbst wieder heim nach Gävle. Als er Weihnachten 1914 starb, endete die Tradition der Gävlefischer endgültig.
== Reise im Frühjahr ==
Die Fischfahrten begannen um den Monatswechsel April/Mai, wenn das Meereseis zu schmelzen begann. Ins Fischerdorf kam die gesamte Familie und das Gesinde, teilweise fuhren mehrere Familien in einem Boot. Das meiste, was sie den Sommer über brauchten, nahmen die Menschen mit: Hausgerätschaften, Lebensmittel (darunter lebende Tiere), Salz zum Einsalzen und Waren zum Tauschen mit der Lokalbevölkerung. Ihre Netze brachten die Fischer aus Gävle mit, andere Werkzeuge ließen sie den Winter über im Fischerdorf. Die Fässer für den Salzhering wurden nicht mitgeführt, sondern jedes Jahr im Sommer neu gefertigt. Die bis zu 350 Kilometer lange Reise dauerte meistens ein bis zwei Wochen, nach der Überlieferung sollen jedoch einzelne Fischer die Strecke bei günstigen Winden in 48 Stunden zurückgelegt haben.
== Fischerdörfer ==
In ihre Fischerdörfer nahmen die Familien Ziegen und Schafe mit, selten auch Schweine und Kühe. Ziegen waren für die Gävlefischer als Milchlieferanten wichtig, viele Familien besaßen mehrere davon. Ziegen konnten einfacher als Kühe transportiert werden und waren für die kargen Verhältnisse auf den Inseln besser geeignet. Schweine konnten sich an den Fischabfällen fett fressen, ihr Fleisch schmeckte dadurch jedoch leicht tranig.Die Fischerfamilien lebten anfangs in einfachen Blockhäusern mit einem Raum und dem aus Naturstein gemauerten Kamin. Die Ausstattung beschränkte sich auf Bett, Tisch und Stühle. Ihre Boote zogen die Fischer nach jeder Fahrt an Land. Spätere Häuser hatten mehrere Räume und waren aus Brettern gezimmert, jedoch weiterhin sehr einfach eingerichtet. In einem typischen Fischerdorf standen Anfang des 19. Jahrhunderts Schuppen um eine Bucht herum, am Strand daneben lagen die Boote und oberhalb davon die Wohnhäuser. Bootshäuser zum Schutz vor der Witterung wurden erst Ende des 19. Jahrhunderts errichtet oder die alten Schuppen dazu umgebaut. Die Schuppen, deren Giebel zum Wasser ausgerichtet waren, verwendeten die Fischer zum Lagern von Bottichen, Fässern und Werkzeugen. An der Wasserseite hatten die Gebäude einen Anleger zum Be- und Entladen der Boote. Ursprünglich waren Wohnhäuser und Schuppen nicht gestrichen, erst Anfang des 20. Jahrhunderts bekamen sie ihre falunrote Farbe.Die Fischer eines Dorfes beschlossen jährlich im Frühjahr gemeinsam Regeln, die für alle Bewohner galten. Sie bestimmten beispielsweise, wie der Fischfang ablaufen und wie den Ärmsten des Dorfes geholfen werden sollte. Als Vorsitzenden der Fischer wählten sie einen Ältesten, den mehrere Beisitzer unterstützten. Der Landshövding vereidigte das Gremium, das juristische Gewalt besaß. Die wichtigste Funktion des Ältesten war, zu kontrollieren, ob alle Fischer die geltenden sozialen Regeln befolgten. Verstöße, etwa kleinere Diebstähle, Schlägereien oder das Leeren der Netze eines anderen Fischers konnte er mit Bußgeldern oder dem Pranger ahnden. Bei groben Verstößen konnte der betreffende Fischer aus dem Fischerdorf verwiesen werden, meistens verhandelten solche Fälle jedoch normale Gerichte. Mit einer Reform zur Vereinheitlichung des Justizsystems schaffte der Staat diese Dorfgerichte 1852 ab.In den Fischerdörfern errichteten die Gävlefischer kleine Kapellen. Die älteste erhaltene ist die Ulvö gamla kapell von 1622. Die Fischer versammelten sich jeden Sonntag in der Kapelle zum Gebet und zu Vorlesungen aus der Bibel. Da die nächste Kirche oft weit entfernt war, kam der Pfarrer des Kirchspiels nur wenige Male im Jahr ins Dorf. Die Kapellen hatten neben ihrer Funktion als Gebetsraum auch einen praktischen Nutzen: als es in den Fischerdörfern noch keine Schuppen gab, dienten sie im Winter als Lagerplatz für die Werkzeuge der Fischer.Insgesamt gab es 87 Fischerdörfer, die die Gävlefischer zeitweise nutzten. Die meisten der Dörfer, 43, lagen in Hälsingland, an der Küste zwischen Söderhamn und Sundsvall. Um das Jahr 1800 verteilten sich die Fischerdörfer größtenteils auf Gästrikland und Ångermanland. Die nördlichsten namentlich erwähnten Fischerdörfer lagen auf der Höhe von Örnsköldsvik. Es gab vermutlich noch weiter nördlich gelegene Fangplätze, mehrere Fischerfamilien in Gävle stammten aus der Gegend um Umeå. Meistens waren es zwischen drei und zehn Familien in einem Dorf. Im größten Fischerdorf der Gävlefischer, Ulvöhamn, wohnten im Jahr 1791 maximal 27 Gävlefischer mit ihren Familien. Nebenstehend sind alle 87 Fischerdörfer aufgelistet, die die Gävlefischer im Laufe der Zeit nutzten. Die Dörfer sind von Süden nach Norden geordnet, angegeben sind außerdem das Kirchspiel und die Landskap, in der sie liegen.
== Fang- und Konservierungsmethoden ==
Den Fischfang betrieben kleine Gruppen von Fischersöhnen und Knechten. Die Familienväter unternahmen im Sommer mit dem großen Boot der Familie Handelsfahrten die Ostseeküste entlang bis nach Danzig und Königsberg. Vom Frühjahr bis Mitte Juli verwendeten die Fischer in Buchten nahe dem Fischerdorf rund 15 Meter breite und 90 Meter lange feinmaschige Ringwaden. Bei dieser Fangmethode waren die Fischer aufeinander angewiesen. Eine Bootsbesatzung zog das Netz zur Hälfte ins Wasser hinaus. Wenn ein Heringsschwarm in die Bucht schwamm, ruderte sie um ihn herum und an Land zurück. Die so entstandene Schlaufe zogen die Fischer immer enger, bis sie den Fang gemeinsam an Land holen konnten. Von Mitte Juli bis Ende September fischten sie mit normalen, zwei Klafter breiten Netzen im offenen Meer. Diese wurden, mit Steinen beschwert, auf den Meeresboden hinabgelassen und durch Schwimmer aufrecht gehalten. Die Auslegung der Netze am Abend geschah gemeinsam, nachts zwischen drei und vier Uhr holten die Fischer sie ein. In kleinen Mengen wurden für den Eigenbedarf auch Lachs und Aal gefischt, um den sonst etwas eintönigen Speiseplan zu bereichern.Salzhering wurde von Frauen und Männern gemeinsam zubereitet; es begann mit dem Ausnehmen des gefangenen Herings, den man dann einen Tag lang in starke Salzlake einlegte, die dem Fischfleisch das Blut entzog und es eine weiße Farbe annehmen ließ. Nachdem am nächsten Tag die Salzlake in Holzkörben vom Fisch abgelaufen war, wurde er in Bottichen übereinander gelegt und mit Salz bedeckt. Nach rund einer Woche konnte der Fisch in Fässer mit Salzlake gefüllt werden. Eine andere Methode, den Hering haltbar zu machen, war der durch Säuerung hergestellte Surströmming. Nach der Ausweidung und Wäsche des Herings ließ man ihn gründlich abtropfen. Der mit Salz vermischte Hering stand anschließend mehrere Wochen lang in Fässern in der Sonne, danach war er fermentiert und haltbar. Ein kleines Extraeinkommen verdienten sich die Fischer mit den Innereien der Heringe, die sie einen Tag lang in Salzlake einlegten, dann auf Felsen zum Trocknen ausbreiteten und an lokale Bauern verkauften. Diese verwendeten die Innereien als Viehfutter.
== Verkauf und Ertrag ==
Den Salzhering verkauften die Fischer teilweise im Sommer und Herbst auf lokalen Märkten, bevor die Familien Anfang Oktober zurück nach Gävle fuhren. In Ångermanland befand sich der wichtigste Markt in Nätra, zu dem die örtliche Bevölkerung, Handelsreisende und teilweise Samen kamen. Die Gegend um Nätra war bekannt für ihr Leinen; für den Salzhering bekamen die Gävlefischer Leinentuch, dazu Holzteer, verschiedene Lebensmittel (darunter Geflügel) und in früheren Zeiten auch Felle. Von Gävle kam der Salzhering nach Bergslagen und Dalarna. Wichtige Handelsplätze für die Gävlefischer waren die jährlich an Mittsommer und im Oktober stattfindenden Märkte in Älvkarleby. Ins südlich gelegene Stockholm verkauften sie nur selten Hering, die dortigen Fischer duldeten keine Konkurrenz. Mit den Einnahmen mussten die Gävlefischer einen Großteil des Lebensunterhalts im Winter und die Fahrt im nächsten Frühjahr finanzieren.Die Fangmengen der Fischer variierten sehr stark, was auf die jährlichen Schwankungen der Heringsbestände zurückzuführen war. So wurden zum Beispiel im Jahr 1742 insgesamt 6500 Fässer Salzhering produziert, im darauffolgenden Jahr jedoch nur 2700. Einige Jahre später war die Menge wieder auf rund 5000 Fässer gestiegen, die Anzahl der Fischer blieb in dieser Zeit weitgehend konstant. Der Höhepunkt wurde 1816 erreicht, als 10.000 Fässer Salzhering jährlich produziert wurden. 1839 war die Zahl wieder auf 2048 Fässer gesunken, die 117 aktiven Fischer produzierten durchschnittlich 17,5 Fässer. Im Jahr 1844 stellten 105 Fischer insgesamt 3346 Fässer Salzhering her, rund 32 Fässer pro Fischer. 1850 war das letzte sehr produktive Jahr mit einer Jahresproduktion von 5408 Fässern und einem Durchschnitt von 52,5 Fässern bei 103 aktiven Fischern. Danach sanken die Mengen immer weiter, im Jahr 1890 kamen auf 64 Fischer insgesamt nur noch 339 Fässer, durchschnittlich 5 Fässer pro Fischer.Durch die starken Einkommensschwankungen waren die meisten Fischer darauf angewiesen, Darlehen aufzunehmen, um schlechte Jahre zu überbrücken. In guten Jahren hatten sie genügend Einnahmen, um ein mittelständlerisches Leben zu führen, die Schulden trugen sie jedoch nur selten ab und überschuldeten sich immer mehr. Aufgrund der Steuererklärungen der Gävlefischer wurden 1759 91,8 Prozent von ihnen wegen geringer Fangmengen als „arm“ klassifiziert. Im Jahr 1765 war die Zahl der armen Fischer wieder auf 12,5 Prozent gesunken. Selbst in guten Jahren konnten die Fischer finanziell nicht mit den reichsten Bürgern der Stadt, den Kaufleuten, mithalten. Durch das ständige Auf und Ab konnten die wenigsten wirtschaftliche Reserven bilden, um in wenig produktiven Jahren keine Schulden aufnehmen zu müssen. Höchstens ein Zehntel der Fischer war am Ende ihres Lebens wohlhabender als zu Beginn, mindestens ein Viertel war bettelarm. Wenn ein Fischer seine Galeasse in einem Sturm oder durch Eisgang verlor, war dies oft gleichbedeutend mit dem Bankrott. Das Geld für einen Neubau war meistens nicht vorhanden und die Familie konnte nicht mehr zu ihren Fangplätzen fahren.
== Boote ==
Für ihre Fernfahrten benutzten die Gävlefischer Galeassen, offene Boote in Klinkerbauweise. Ursprünglich waren sie nur mit einem Großsegel ausgestattet, Mitte des 18. Jahrhunderts änderte sich die Takelung. Die Boote hatten dann Rahsegel an Großmast und Besanmast, dazu Fock und Klüver. Die Größe der Galeassen schwankte stark, die reicheren Fischer konnten bis zu 120 Tonnen laden und führten Handelsfahrten durch. Im Durchschnitt waren die Boote für etwa 30 bis 50 Tonnen ausgelegt, Galeassen ärmerer Fischer konnten teilweise nur mit 15 Tonnen beladen werden. Die letzte für Fernfahrten benutzte Galeasse war Anna, die Anfang des 19. Jahrhunderts gebaut worden war. Sie gehörte Erik August Grellson und hatte eine Größe von 44 Registertonnen. Nachdem Grellson 1895 zum letzten Mal nach Trysunda gesegelt war, verkaufte er das Boot an ein Sägewerk. Nach dem Umbau zum Prahm lief es 1916 bei einem Holztransport vor Söderhamn auf Grund und sank.In den Fischerdörfern hatten die Fischer kleinere Boote für den täglichen Fischfang. Die größten dieser Ruderboote waren etwa 26 Fuß lang und wurden bei der Ringwadenfischerei verwendet. Zum Fischfang mit normalen Netzen benutzten sie Boote mit einer Länge von rund 24 Fuß. Wie die Galeassen waren die Ruderboote in Klinkerbauweise gebaut, bestanden aus bis zu 14 Querspanten und vier oder fünf Planken. Als Material benutzten die Bootsbauer Fichtenholz, teilweise mit verdrehtem Holz zur Verstärkung.
== Leben in Gävle ==
In Gävle wohnten die Fischer in den östlichen Stadtvierteln, an den Östra Lillån und Islands Lillån genannten Mündungsarmen des Gavleån. Am Fluss standen Magazine und Schuppen, an denen die Boote vertäut lagen. Oberhalb davon lagen Scheunen, Speicher und Plumpsklos, ganz oben die zweigeschossigen Wohnhäuser mit den Giebeln zur Straße. Die Grundstücke hatten eine längliche Form, das Wohnhaus belegte fast die gesamte Breite, daneben führte ein Weg zur Freifläche vor den Wirtschaftsgebäuden. Im Gegensatz zu den einfachen Behausungen in den Fischerdörfern waren die Häuser in Gävle komfortabel und geräumig, teilweise sogar luxuriös eingerichtet.Die Fischer Gävles waren ab 1738 in der Fischersozietät organisiert. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie die größte Gruppierung innerhalb der Bürgerschaft Gävles und konnten zusammen mit der Handwerkerzunft bestimmen, welche Personen die Ämter der Stadt bekleideten. Mit einer gemeinsamen Kasse unterstützte die Gemeinschaft arme Mitglieder und Fischerwitwen. Die Fischersozietät musste 1865 aufgelöst werden, da veränderte Gesetze eine andere Rechtsform erforderten. Als Nachfolger entstand der „Fischerverein“. Untereinander pflegten die Fischer enge soziale Kontakte, die meisten von ihnen waren miteinander verwandt. Fremde Fischer konnten leichter Mitglieder der Bürgerschaft werden, wenn sie Fischertöchter oder -witwen heirateten. Durch die Gemeinschaft in den Fischerdörfern kannten sich alle gut, teilweise arbeiteten Söhne oder Töchter eines Fischers als Knechte oder Mägde bei einem anderen. Manchmal nahmen die Gävlefischer im Herbst junge Männer aus der Gegend um ihr Dorf mit nach Gävle. Diese studierten den Winter über an der Universität Uppsala und fuhren im Frühjahr mit den Fischern zurück zu ihren Familien.
== Literatur ==
Albert Eskeröd: Gävlebornas strömmingsfiske. In: Ur Gävle stads historia. hrsg. v. Philibert Humbla, Gävle 1946, S. 321–360.
Bo Hellman: Skeppsmalns fiskeläge – en gammal gävlebohamnn. Örnsköldsviks museums småskriftserie nr 2, Örnsköldsvik 1979. ISSN 0348-7245
Jan Moritz: Gävlefiskarna i Ångermanland. W-Sönst., Gävle 1992.
Johan Nordlander: Gävlebornas fiskefärder till Ångermanlands kust. In: Från Gästrikland – Gästriklands kulturhistoriska förenings meddelanden. Gästriklands kulturhistoriska förening, Gävle 1923, S. 93–109. ISSN 0429-2820
Kjell E. G. Söderberg: Fiskarkulturen på Ulvön. Örnsköldsviks museums småskriftserie nr 10, Örnsköldsvik 1982. ISBN 91-86138-20-0, ISSN 0348-7245
Kjell E. G. Söderberg: Ulvö gamla kapell. Kulturnämnden i Örnsköldsviks kommun, Örnsköldsvik 1972.
Kjell E. G. Söderberg: Ulvöhamn – två bilder ur ett fiskeläges historia. Göteborg 1995.
Per Vedin: Det forntida fisket vid norrlandskusten: Gävlebohamnar under gångna århundraden. Skolförlaget, Gävle 1930.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%A4vlefischer
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Hagen Keller
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= Hagen Keller =
Ruedi Hagen Keller (* 2. Mai 1937 in Freiburg im Breisgau) ist ein deutscher Historiker, der die Geschichte des frühen und hohen Mittelalters erforscht. Vor allem arbeitet er über das Zeitalter der Ottonen, die italienischen Stadtkommunen und die Schriftkultur im Mittelalter. Keller lehrte von 1982 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002 als Professor für mittelalterliche Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Eine besonders fruchtbare Zusammenarbeit ergab sich dort mit seinem Kollegen Gerd Althoff. Mit ihren Arbeiten haben Keller und Althoff entscheidend zum Ansehen Münsters in der internationalen Mediävistik beigetragen. Kellers Forschungen üben seit den 1980er Jahren erheblichen Einfluss auf die deutsche und internationale Mediävistik aus und führten zu einer Neubeurteilung der früh- und hochmittelalterlichen Königsherrschaft.
== Leben ==
=== Herkunft und frühe Jahre ===
Hagen Keller wurde im Mai 1937 in Freiburg im Breisgau geboren als Sohn des selbständigen Kaufmanns Rudolf Keller und dessen Frau Ruth, geb. Frankenbach. Er hat vier Geschwister, darunter den Vulkanologen Jörg Keller. Italien übte auf die ganze Familie eine besondere Anziehungskraft aus. Die Familie reiste erstmals 1952 nach Italien an den Lago Maggiore. Ab den 1950er Jahren knüpfte der Vater Geschäftsbeziehungen nach Italien. Er importierte italienische Holzbearbeitungsmaschinen. Kellers jüngere Brüder führten diesen Geschäftszweig fort. Kellers jüngere Schwester gab als Au-pair-Mädchen den Kindern einer italienischen Familie Deutschunterricht. Jörg Keller ging für das Studium zeitweilig nach Catania und befasste sich später als Vulkanologe mit Italien.Nach der Bombardierung Freiburgs im Jahr 1944 lebte die Familie in Pfullendorf nördlich des Bodensees. 1950 kehrte sie nach Freiburg zurück. Während seiner Schulzeit beschäftigte sich Hagen Keller intensiv mit der Astronomie. Seit seiner Kindheit interessierte er sich weniger für historische Romane oder Biographien, seine historische Neugierde wurde vielmehr durch Denkmäler und konkrete Objekte angeregt. Ausgangspunkt für sein historisches Bewusstsein waren die unmittelbaren Erlebnisse aus seiner Kindheit, der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus.Keller legte 1956 das Abitur am Kepler-Gymnasium in Freiburg ab. Angeregt durch den Oberstufenunterricht in Mathematik und Physik wollte er zunächst diese Fächer studieren. Diesen Plan verwarf er jedoch kurz vor Beginn des Semesters. Keller entschied sich, Lehrer zu werden. Vom Sommersemester 1956 bis zum Sommersemester 1962 studierte er Geschichte, Lateinische Philologie, Wissenschaftliche Politik, Germanistik, Philosophie sowie Sport an den Universitäten Freiburg und Kiel. Das mediävistische Proseminar absolvierte er im ersten Semester bei Manfred Hellmann. Sein Interesse für das Mittelalter wurde in seinem dritten Semester im Sommer 1957 durch die Kieler Vorlesung von Hans Blumenberg über die Philosophie des 14. und 15. Jahrhunderts gefördert. Nach seiner Rückkehr nach Freiburg konzentrierte Keller sich vor allem bei Gerd Tellenbach auf diese Epoche.
=== Akademische Laufbahn ===
Seit Anfang 1959 gehörte Keller zum „Freiburger Arbeitskreis“ zur mittelalterlichen Personenforschung, einer Gruppe junger Forscher um Gerd Tellenbach. Dort lernte er Karl Schmid, Joachim Wollasch, Eduard Hlawitschka, Hansmartin Schwarzmaier und Wilhelm Kurze kennen. Der fachliche Austausch mit Karl Schmid hat ihn dabei in besonderem Maße dauerhaft geprägt. Als Schüler Tellenbachs befasste sich Keller zunächst mit Grundfragen der alemannisch-fränkischen Geschichte des Frühmittelalters. Im Jahr 1962 wurde er bei Tellenbach über das Thema Kloster Einsiedeln im ottonischen Schwaben promoviert.
In den Jahren 1962/63 war Keller wissenschaftlicher Assistent bei Tellenbach am Institut für Geschichtliche Landeskunde der Universität Freiburg, anschließend von 1963 bis 1969 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Rom. Während seines Romaufenthaltes fand Keller in der Gesellschaftsstruktur Italiens im Mittelalter einen seiner künftigen Arbeitsschwerpunkte. In Italien verbrachte Keller auch die ersten Ehejahre mit Hanni Kahlert, die er 1964 heiratete.
Von 1969 bis 1972 arbeitete Keller wieder als wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Dort erwarb er 1972 mit einer Arbeit über Senioren und Vasallen, Capitane und Valvassoren. Untersuchungen über die Führungsschicht in den lombardischen Städten des 9.–12. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung Mailands die Lehrbefähigung für Mittlere und Neuere Geschichte. Die Habilitationsschrift wurde für den Druck wesentlich überarbeitet und erweitert. Seine Freiburger Antrittsvorlesung hielt er im Juli 1972 über Spätantike und Frühmittelalter im Gebiet zwischen Genfer See und Hochrhein.Nach einem erneuten Aufenthalt am Deutschen Historischen Institut in Rom von 1972 bis 1973 war Keller als Universitätsdozent in Freiburg tätig. 1976 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. 1978 erhielt er eine C3-Professur für mittelalterliche Geschichte an der Universität Freiburg. 1979/80 war er Dekan der Philosophischen Fakultät IV und Sprecher des Gemeinsamen Ausschusses der Philosophischen Fakultäten der Universität Freiburg. Keller leitete in den Jahren 1980 bis 1982 die Abteilung Landesgeschichte im Historischen Seminar.
1982 wurde er als Nachfolger von Karl Hauck an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002 Ordentlicher Professor für mittelalterliche Geschichte und Mitdirektor des Instituts für Frühmittelalterforschung war. Seine Antrittsvorlesung hielt er im Juni 1983 über das Bevölkerungswachstum und die Gesellschaftsorganisation im europäischen Hochmittelalter am Beispiel der oberitalienischen Agrargesellschaft während des 12. und 13. Jahrhunderts. In Münster war Keller einer der Gründer und langjähriger Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit“ und des Graduiertenkollegs „Schriftkultur und Gesellschaft im Mittelalter“. Keller sorgte wesentlich dafür, dass sich Münster zu einem Zentrum der internationalen Mediävistik entwickelte.
Als akademischer Lehrer betreute er 25 Dissertationen und fünf Habilitationen. Zu seinen akademischen Schülern gehören Franz-Josef Arlinghaus, Marita Blattmann, Christoph Dartmann, Jenny Rahel Oesterle, Hedwig Röckelein, Thomas Scharff und Petra Schulte. Seine Nachfolge in Münster trat Martin Kintzinger an. Keller hielt seine Abschiedsvorlesung in Münster im Juli 2002 über die Überwindung und Gegenwart des „Mittelalters“ in der europäischen Moderne. Darin versuchte er den gegenwärtigen Standort des Mittelalters zu definieren. Das verbreitete gesellschaftliche Selbstverständnis, sich vom Mittelalter abzugrenzen, sei seit dem 15. Jahrhundert feststellbar. Reform, Revolution, Rationalität und die technischen Erfindungen samt ihrer wirtschaftlichen und militärischen Nutzung hätten die Leitbilder und den Lebensrahmen gebildet, mit denen man sich vom Mittelalter habe absetzen wollen. Die Historiker der letzten drei Jahrzehnte hätten die Epochengrenze um 1500 jedoch immer weiter relativiert. Die fachwissenschaftliche Diskussion über Epochengrenzen und Epochenbezeichnungen verdeutliche ein neues Nachdenken über das Verhältnis der Gegenwart zu unserer langen Vergangenheit. Angesichts eines immer unklareren Epochenbewusstseins verortet Keller Aufgabe und Aktualität der Mediävistik in der Selbstvergewisserung des Menschen, für die die Kenntnis der Vergangenheit erforderlich sei.Keller war von 1982 bis 1995 Mitherausgeber der Propyläen Geschichte Deutschlands und ist seit 1991 Mitherausgeber der Reihe Münstersche Historische Forschungen. Von 1988 bis 2011 war er Herausgeber der Frühmittelalterlichen Studien. Seit 1980 ist er Mitglied der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, seit 1989 des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte und seit 1990 der Historischen Kommission für Westfalen. Keller lehrte als Gastprofessor am Istituto Italiano per gli Studi Storici in Neapel (1979), an der Universität Florenz (1997) und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris (2001). Im Jahr 2002 wurde er in die British Academy aufgenommen und im selben Jahr Mitglied der Royal Historical Society in London.
Ihm wurde der 36. Band der Frühmittelalterlichen Studien gewidmet. Anlässlich seines 70. Geburtstags 2007 wurde ihm zu Ehren in Münster eine Tagung abgehalten, deren Ergebnisse 2011 in dem Sammelband Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur veröffentlicht wurden. Zum 80. Geburtstag wurde im Mai 2017 ein Kolloquium am Historischen Seminar der Universität Münster abgehalten. Dabei standen aktuelle Perspektiven einer Geschichte des Politischen im Mittelalter im Blickpunkt.
== Werk ==
Keller legte über 150 Veröffentlichungen vor. Bedeutend sind seine Arbeiten zu Grundlagen und Erscheinungsformen ottonischer Königsherrschaft, über Adel und städtische Gesellschaft in Italien, über Umbrüche in der Salier- und Stauferzeit und über die Frühzeit des alemannischen Herzogtums. Seit 1975 arbeitete er eng mit Gerd Althoff zusammen, einem Schüler von Kellers Mentor Karl Schmid. Besonders fruchtbar war ihr Austausch für die Beschäftigung mit der ottonischen Geschichtsschreibung und dem Problemkomplex von Gruppenverhalten und Staatlichkeit.
=== Grundlagen der ottonischen Königsherrschaft ===
Ausgangspunkt für Kellers Arbeiten zu den Funktionsweisen der ottonischen Königsherrschaft sind die Forschungen seines Lehrers Gerd Tellenbach. In den 1950er Jahren erkannte der „Freiburger Arbeitskreis“, dass Eintragungen in den Verbrüderungs- und Gedenkbüchern des frühen Mittelalters gruppenweise erfolgten. Angehörige der Führungsschichten ließen in Krisenzeiten verstärkt die Namen ihrer Verwandten und Freunde in die Gedenkbücher von Klöstern eintragen. Dies war der älteren, verfassungsgeschichtlich ausgerichteten Forschung verborgen geblieben. Die Analyse der Memorialüberlieferung brachte ein völlig neues Verständnis der Bindungen und Kontakte, die Adel, Kirche und Königtum zueinander unterhielten. Dadurch wurden auch die Ausführungen in der ottonischen Geschichtsschreibung besser verständlich. Der „Freiburger Arbeitskreis“ legte zahlreiche prosopographische sowie adels- und sozialgeschichtliche Arbeiten vor allem zum 10. Jahrhundert vor. Die fachwissenschaftliche Diskussion über die „Entstehung“ des „deutschen“ Reiches war laut Gerd Althoff ebenfalls für Kellers Forschungen von Bedeutung. Als Resultat formulierte Keller 1983 anlässlich des 80. Geburtstags von Gerd Tellenbach seine neue Sicht auf die „Grundlagen ottonischer Königsherrschaft“. Seine Ausführungen zeigten, dass er diese Königsherrschaft anders einschätzte als sein Lehrer Tellenbach und einige von dessen älteren Schülern wie beispielsweise Josef Fleckenstein. Nach Fleckensteins Darstellung waren alle Aktivitäten des Königs langfristig darauf ausgerichtet, dessen Macht gegenüber Adel und Kirche zu stärken. Keller hingegen ging bei seiner Analyse der politischen Ordnung des ottonischen Reichs von einer polyzentrischen Herrschaftsordnung aus. Nach seiner Auffassung beschreibt eine Auszählung der Königshöfe sowie von Königsgut, Abgaben, Zöllen und anderen Einkünften die staatliche Ordnung und die politischen Gestaltungsmöglichkeiten im 10. und 11. Jahrhundert nicht hinreichend. Nicht mehr Erwerb und Steigerung der Macht waren für Keller der Beurteilungsmaßstab für die Leistungen der ottonischen Herrscher, sondern ihre Integrationsfunktion. Dem Königtum sei die Aufgabe zugefallen, die einzelnen Adelsherrschaften „über die Gestaltung der personalen Beziehungen zu integrieren und ihnen so die Qualität einer Herrschafts- und Rechtsordnung zu verleihen“. Als überholt galt mit diesen Einsichten das unter dem Einfluss des Nationalsozialismus von Otto Brunner und Theodor Mayer gezeichnete Bild eines auf Treue und Gefolgschaft gegenüber einem Führer basierenden Personenverbandsstaates. In der Folge untersuchte Gerd Althoff die personalen Beziehungsgeflechte, die König und Große untereinander aufbauten, unterhielten und bei Bedarf auch verändern konnten.Als methodisch wichtige Studie für das Verständnis der ottonischen Königsherrschaft gilt Kellers 1982 veröffentlichter Aufsatz Reichsstruktur und Herrschaftsauffassung in ottonisch-frühsalischer Zeit, den Gerd Althoff als „Initialzündung“ für die weitere Forschung über die Grundlagen der ottonischen Königsherrschaft bezeichnete. In dieser Arbeit untersuchte Keller anhand der Ausstellungsorte von Urkunden Ottos I., Heinrichs II. und Heinrichs III. das Verhältnis der ottonisch-salischen Herrscher zu den süddeutschen Herzögen in Bayern und Schwaben. Erstmals wurde damit die Bedeutung Schwabens im Itinerar der Ottonen und frühen Salier untersucht. Keller beobachtete dabei einen tiefgreifenden Wandel der ottonischen Königsherrschaft. Bis in die Zeit Ottos III. wurde Schwaben nur als Durchreiseland nach Italien genutzt; die Königsaufenthalte fielen möglichst kurz aus. Ab dem Jahr 1000 hingegen wurde die Königsherrschaft durch „die periodische Präsenz des Hofes in allen Teilen des Reiches“ öffentlich demonstriert. Dieser Aufsatz ebnete den Weg für ein neues Verständnis der Ausdehnung des ottonischen Königtums im Reich.In ihrer 1985 veröffentlichten Doppelbiographie der beiden ersten Ottonen Heinrich I. und Otto I. machten Hagen Keller und Gerd Althoff intensiven Gebrauch von den Erkenntnissen zum mittelalterlichen Gebetsgedenken. Insbesondere das Gebetsgedenken in den ottonischen Hausklöstern von Lüneburg und Merseburg vermittelte einen Eindruck von den verwandtschaftlichen und Bündnisbeziehungen der adligen Besitzer. Amicitiae (Freundschaftsbündnisse) wurden zum zentralen Herrschaftsinstrument Heinrichs I. im Umgang mit den Großen, convivia (gemeinsame Ritualmahle) waren Ausgangspunkte für politische Bündnisse und Verschwörungen. Die beiden ersten ottonischen Herrscher waren für Althoff und Keller nicht mehr Symbole für Deutschlands frühe Macht und Größe, sondern eher Repräsentanten einer neuzeitlichem Denken fernen archaischen Gesellschaft. Keller und Althoff machten einen Strukturwandel in der Herrschaft Heinrichs I. und Ottos I. aus. Heinrich habe als König mit Hilfe formeller Freundschaftsbündnisse einen Ausgleich mit zahlreichen Herrschaftsträgern erzielt. Das auf der Basis dieser Freundschaftseinungen getroffene Arrangement mit den Herzögen gehörte für Keller und Althoff zu den „Grundlagen für den raschen Erfolg bei der Stabilisierung der Königsherrschaft“. Heinrichs Sohn Otto I. habe dagegen diese wechselseitig bindenden Bündnisse (pacta mutua) mit den Großen seines Reiches nicht fortgesetzt und dadurch Konflikte heraufbeschworen. Otto habe keine Rücksicht auf die Ansprüche seiner Verwandten und des Adels genommen; vielmehr sei es ihm um die Durchsetzung seiner königlichen Entscheidungsbefugnis gegangen. Mit der Aufnahme karolingischer Traditionen habe Otto den Abstand zwischen König und Adel verdeutlicht. Angesichts der Freundschaftsbündnisse zwischen Heinrich und den süddeutschen Herzögen vertraten Althoff und Keller die Ansicht, dass nach damaligem Verständnis „die Ansprüche der Herzöge kaum weniger begründet oder berechtigt waren als sein eigener Anspruch auf die Königsherrschaft“. Demnach sei es nur konsequent gewesen, dass Heinrich durch den Verzicht auf die Salbung bei seiner Königserhebung auf eine zusätzliche Legitimation seines Königtums verzichtete. Die Erkenntnis über Sinn und Bedeutung der Amicitia-Bündnisse relativierte auch das in der älteren Forschung gezeichnete Bild eines antiklerikalen Königs. Die Gebetsverbrüderungen schloss Heinrich gleichermaßen mit geistlichen und weltlichen Großen. Laut Althoff und Keller schufen die Freundschaftspakte mit den Herzögen auch neue Gestaltungsspielräume für den König. Die Großen hatten selbst Bindungen und Verpflichtungen, die die Reichsgrenzen überschritten. Das Arrangement mit den Herzögen und die damit einhergehende Macht- und Ruhmvergrößerung brachten dem König neue Möglichkeiten, in den Nachbarräumen des Reiches zu seinem Vorteil zu wirken.Auf dem Deutschen Historikertag 1988 in Bamberg leitete Keller die Sektion „Gruppenbindung, Herrschaftsorganisation und Schriftkultur unter den Ottonen“. Damals befasste er sich mit dem grundsätzlichen Problem der „Staatlichkeit“ im Frühmittelalter und hielt ein Referat „Zum Charakter der ‚Staatlichkeit‘ zwischen karolingischer Reichsreform und hochmittelalterlichem Herrschaftsausbau“. Nach Keller lässt sich die politische Kultur der Ottonen im 10. Jahrhundert nicht mit den Kategorien moderner Staatlichkeit erfassen. Die ottonische Herrschaft sei weitgehend ohne Schriftlichkeit, ohne Institutionen, ohne geregelte Zuständigkeiten und Instanzenzüge, vor allem aber ohne Gewaltmonopol ausgekommen. Die politische Ordnung der Ottonenzeit sei vielmehr durch Mündlichkeit, Rituale und personale Bindungen charakterisiert, während das Reich der Karolinger von Schriftlichkeit, Institutionen, einer starken zentralistischen Herrschaftsform und der königlichen Vergabe von Ämtern geprägt gewesen sei. Die Möglichkeiten und Grenzen von Königsherrschaft im 10. Jahrhundert unter diesen Bedingungen wurden in Bamberg von Gerd Althoff mit Blick auf die institutionellen Mechanismen der Konfliktaustragung und -lösung zwischen König und Großen und von Rudolf Schieffer anhand des Verhältnisses des Episkopats zum König ausgeleuchtet. Die in Bamberg gehaltenen Vorträge erschienen 1989 in den Frühmittelalterlichen Studien und gelten als wichtiger Ausgangspunkt für eine Neubeurteilung der ottonischen Königsherrschaft.Die Befunde der Memorialüberlieferung schufen auch neue Voraussetzungen für die Lektüre der Werke der ottonischen Geschichtsschreibung. Karl Schmid war im Zuge der Erschließung der klösterlichen Gedenkbücher aus karolingischer und ottonischer Zeit im Reichenauer Gedenkbuch auf einen Eintrag gestoßen, der Otto bereits 929 als rex bezeichnet. Seine Forschungsbeiträge von 1960 und 1964 zur Thronfolge Ottos I. führten neue Fakten in die fachwissenschaftliche Diskussion ein. Bis dahin war die Forschung ausschließlich von den Angaben Widukinds von Corvey ausgegangen, aus dessen Sachsengeschichte hervorzugehen schien, dass König Heinrich I. seinen ältesten Sohn Otto 936 und damit erst kurz vor seinem Tod zum Nachfolger bestimmt hatte. In einem Aufsatz zu Widukinds Bericht über die Königserhebung Ottos des Großen in Aachen, der 1995 im Zusammenhang der Diskussion um die Erinnerungs- und Überlieferungskritik entstand, hob Keller demgegenüber die Bedeutung der Ergebnisse hervor, die Karl Schmid auf der Basis der Memorialüberlieferung gewonnen hatte: Sie „ermöglichen und erzwingen einen andersartigen Zugriff: nämlich die Darstellungsabsicht und deren ‚verformende‘ Wirkung auf die ‚Berichterstattung‘ an einem zentralen Punkt durch die Konfrontation mit abweichenden Angaben zu überprüfen“. Gleichzeitig wies Johannes Fried darauf hin, dass historische Ereignisse einem starken Verformungsprozess unterliegen. Die geschichtliche Erinnerung „wandelte sich unablässig und unmerklich, selbst zu Lebzeiten der Beteiligten“. Die so entstandene Sicht auf die Vergangenheit war nach Fried „mit der tatsächlichen Geschichte nie identisch“. Die Sachsengeschichte Widukinds von Corvey, die Hauptquelle für das frühottonische Königtum, ist für Fried „ein fehlergesättigtes Konstrukt“. Ausgehend von Schmids Arbeiten über eine mögliche Nachfolgeregelung Heinrichs I. bereits um 928/29 widmete sich Keller erneut der Widukind-Kritik. Im Gegensatz zu dem von den Historikern Fedor Schneider, Martin Lintzel und Carlrichard Brühl herausgearbeiteten und von Johannes Fried weiterverfolgten Ansatz der Unzuverlässigkeit der ottonischen Geschichtsschreibung konzentrierte Keller sich jedoch auf die Auswirkungen einer absichtlich formenden und verformten Darstellung, die am Geschehen etwas Bestimmtes zeigen will. Keller bezweifelte grundsätzlich, dass es legitim sei, ethnologische Methoden zur Erforschung gänzlich schriftloser Kulturen auf einen literarisch gebildeten mittelalterlichen Geschichtsschreiber wie Widukind anzuwenden. Vielmehr habe Widukind seinen Standpunkt „gestützt auf das ganze Arsenal literarischer Gestaltungsmöglichkeiten einer traditionsreichen Schriftkultur“ vertreten. Gegen Frieds Überlieferungskritik wandte Keller ein, dass es 967/68 noch Zeitzeugen gab, die die Geschehnisse bei den Königserhebungen und Nachfolgeregelungen der Jahre 919, 929/30 und 936 unmittelbar miterlebt hatten. An ihrer Erinnerung habe man nicht vorbeigehen können. Aus italienischen Zeugenverhören des 12. und 13. Jahrhunderts sei bekannt, dass die Erinnerung der ältesten Befragten nach eigenen Angaben bis zu 70 Jahre zurückreichte. Nach Keller fand eine Königserhebung mit gleichzeitiger Salbung in ottonischer Zeit erstmals 961 und nicht schon 936 statt. Widukinds Bericht über die Aachener Wahl und Krönung Ottos I. von 936 verstand Keller als Rückprojektion des Geschichtsschreibers nach dem Vorbild der Krönung und Salbung Ottos II. 961 in Aachen, bei der er als Zeuge zugegen war. Diese These hatte Keller bereits in Vorträgen von 1969 und 1972 vertreten. Die geistliche Weihe Ottos sei bereits 930 in Mainz erfolgt. Dabei beruft sich Keller auf eine Notiz der aus dem 13. Jahrhundert überlieferten Lausanner Annalen, die durch die Arbeiten Schmids über Heinrichs Nachfolgeregelung im Königtum neue Bedeutung erhält. Der Aachener Akt von 936 erscheine dadurch nur noch als Herrschaftsdemonstration. Diese Rekonstruktion klärt nach Keller auch die bislang „eher verworren erscheinende Geschichte des Krönungsrechtes und des Krönungsortes im römisch-deutschen Reich“. Sie entlarve Widukind aber nicht als Fabulierer. Vielmehr bewertet Keller Widukinds Darstellung „selbsterfahrener“ Geschichte als eine Stellungnahme zu aktuellen Fragen. Widukinds Beschreibung der Krönung sei als Kritik am wachsenden Einfluss der Kirche auf die Herrschaftslegitimation und an der zunehmenden Sakralisierung des Königtums zu verstehen. Der Geschichtsschreiber stelle dieser Entwicklung den „göttlichen Heilsplan“, also den Aufstieg der Sachsen zum Königtum als Ausdruck göttlichen Wirkens, und das Kriegerkönigtum entgegen. Keller kam damit zu gänzlich anderen Ergebnissen als Hartmut Hoffmann, der Schmids Thesen von einer Entscheidung über die Nachfolge 929/30 und einer damit verbundenen frühen Salbung Ottos ablehnte.In einer weiteren Untersuchung versucht Keller zu zeigen, dass Widukinds Geschichtsbild im Hinblick auf die ottonische Königsherrschaft von biblischem Gedankengut geprägt war. Die Ermahnungen, die Judas Makkabäus oder seine Brüder vor Beginn einer Schlacht an ihre Truppen gerichtet haben sollen, seien vergleichbar mit den Reden der sächsischen Könige Heinrich und Otto vor den Ungarnschlachten 933 und 955. Die makkabäischen Heerführer hätten ihre Gefolgsleute ermahnt, ihr ganzes Vertrauen auf Gott und die von Gott gewährten Siege ihrer Vorväter zu setzen und für die Geltung des göttlichen Gesetzes mit ihrem Leben einzustehen. Die Feinde könnten dagegen nur auf ihre Übermacht und ihre eigenen Waffen vertrauen. Nach Widukinds Überzeugung wiederholten sich in den militärischen Erfolgen König Heinrichs und seines Sohnes Otto die Siege, die Gott den Makkabäern gegen die Übermacht gottloser Feinde gewährt hatte.Bei der Untersuchung der Herrscherdarstellung in der ottonischen Historiographie der 960er Jahre (Widukind, Liudprand von Cremona und Hrotsvit) lehnt Keller es ab, „die Aussagen der Autoren einfach als Zeugnisse für eine freischwebende Ideengeschichte des Königtums zu interpretieren“. Vielmehr standen nach Keller die Aussagen der ottonischen Geschichtsschreibung in einem „unmittelbaren Lebensbezug“ und ihre Formulierungen sind als eine „Stellungnahme zu Fragen, die den innersten Kreis des Hofes, die Machtträger jener Zeit bewegten“, zu verstehen.
Keller konnte anhand der Untersuchung verschiedener Quellengattungen (Historiographie, Herrschaftszeichen, Herrscherbilder) eine grundsätzliche Gebundenheit der ottonischen Königsherrschaft an die christliche Herrscherethik herausarbeiten. In seinen Studien zum Wandel des Herrscherbildes auf den karolingischen und ottonischen Königs- und Kaisersiegeln verstand er diese nicht mehr nur als bloße Herrschaftspropaganda, sondern berücksichtigte stärker den liturgischen Überlieferungskontext. Er beobachtete eine grundlegende Veränderung in der Herrschaftsrepräsentation unter Otto dem Großen. Auf den Siegeln wandelte sich nach der Kaiserkrönung von 962 die Darstellung des Herrschers von fränkisch-karolingischen Vorbildern zu einer Herrscherdarstellung nach byzantinischem Vorbild: Aus der Halbfigur des Königs in Seitenansicht wird die Darstellung des Kaisers im Frontalbild. Keller untersuchte das Herrscherbildnis des in Montecassino aufbewahrten Codex der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek Ottobonianus latinus 74. Er will diese Handschrift der Zeit Heinrichs III. („um 1045/47“) zuweisen. Das Herrscherbild auf Folio 193v stelle nicht Heinrich II., sondern Heinrich III. dar. Für seine These stützt er sich auf Wipos Tetralogus und zeigt Gemeinsamkeiten im Herrschaftsverständnis zwischen Miniatur und literarischem Werk auf. Bis zu Kellers Interpretation war das Bildnis immer auf Heinrich II. bezogen worden.Für eine Neubewertung der früh- und hochmittelalterlichen Königsherrschaft wurde auch die symbolische Kommunikation bedeutsam. Hagen Keller machte sich in enger Zusammenarbeit mit Gerd Althoff Gedanken über demonstrativ-rituelle und symbolische Handlungsweisen in der Ottonenzeit. Die Erforschung von Ritualen und Formen symbolischer Kommunikation führte zu der Erkenntnis, dass die Darstellungsabsicht der ottonischen Geschichtsschreiber vor allem auf die Bindungen und Verpflichtungen des Herrschers gegenüber Gott und den Getreuen fokussiert sei. Angesichts der Bedeutung von personalen Bindungen und symbolischen Kommunikationsformen entwickelte Gerd Althoff die zugespitzte These von der ottonischen „Königsherrschaft ohne Staat“.Neben der fehlenden institutionellen Durchdringung des Ottonenreiches ist die auf konsensualen Bindungen beruhende Herrschaftsausübung zentrales Kriterium in Kellers Analyse der Grundlagen ottonischer Königsherrschaft. Nach Keller erhielt der König seine Dignität und Autorität aus dem Konsens seiner Getreuen und aus der durch Gott legitimierten Ordnung, als deren Sachwalter er auftrat. In einer Untersuchung über die Rolle des Königs bei der Einsetzung der Bischöfe im Ottonen- und Salierreich hat Keller gezeigt, dass die Promotionen meist das konsensuale Ergebnis von Verhandlungen zwischen Herrscher und Domkapitel waren.Im Jahr 2001 veröffentlichte Keller eine knappe Darstellung der Ottonengeschichte für ein breiteres Publikum. Diese Überblicksdarstellung erschien 2008 in vierter Auflage und wurde 2004 ins Tschechische und 2012 ins Italienische übersetzt. Im Jahr 2002 wurden zu Kellers 65. Geburtstag sieben zwischen 1982 und 1997 erschienene Aufsätze in dem Sammelband Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht neu herausgegeben. Zusammen mit Gerd Althoff verfasste Keller den 2008 erschienenen Band 3 des neuen „Gebhardt“ (Handbuch der deutschen Geschichte) über die Zeit der Spätkarolinger und Ottonen. Keller verfasste dabei den Abschnitt über die Zeit vom Ende des karolingischen Großreiches bis zum Ende der Herrschaft Ottos II. Das Kapitel „Lebensordnungen und Lebensformen“ wurde von beiden Autoren gemeinsam geschrieben. Ihr erklärtes Ziel war eine „grundlegende Revision des überkommenen Geschichtsbildes“, also die „Entnationalisierung des Bildes vom ottonischen Reich“.
=== Italienische Stadtkommunen und Schriftkultur im Mittelalter ===
Seit etwa 1965 werden mit Hilfe von Privaturkunden die Beziehungsfelder von Personen und Familien im Mittelalter erforscht. Dieser neue Zugang wurde durch Gerd Tellenbach und seine Schüler an Beispielen aus der Toskana und der Lombardei umgesetzt. Die eingehende Erforschung der Herrschaftsstrukturen auf der Grundlage von Privaturkunden war auch für die Stadtgeschichte von besonderer Bedeutung. Im Jahre 1969 legte Keller seine erste Untersuchung über Italien vor. Darin befasste er sich mit dem Gerichtsort innerhalb der größeren Städte der Toskana und Oberitaliens vom 9. bis zum 11. Jahrhundert und zog daraus Schlussfolgerungen über das Kräfteverhältnis zwischen König, Bischof, Graf und städtischem Patriziat. Die Untersuchung zeigt, wie die aufsteigenden Kräfte in den Städten, die Capitani (hoher Adel) und die Valvassoren, dem Einfluss des Herrschers entglitten. Keller konstatiert außerdem einen Zerfall der materiellen Grundlagen des langobardisch-italienischen Königtums: Reichsgut und Reichsrechte gingen an den Feudaladel verloren. In seiner 1979 veröffentlichten Habilitationsschrift Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien nimmt er nicht mehr nur die Hocharistokratie der Grafen und Markgrafen in den Blick, sondern den mittleren Adel, die als bischöfliche (Unter-)Vasallen bekannten capitani und Valvassoren. Keller analysiert zunächst die Entwicklung der Begriffe plebs, populus, civis, capitaneus und valvassor im 11. und 12. Jahrhundert. Anschließend untersucht er die Vermögenssituation von Capitanen, Bauern und Valvassoren. Die Ursache für die oberitalienischen Vasallenaufstände Ende des 10. und Anfang des 11. Jahrhunderts sieht er in der „Revindikation von Kirchengut und von Reichsrechten, die den Kirchen überlassen worden waren“. Es ging also um Widerstand gegen Maßnahmen, die die Stellung des Adels gefährdeten. In der sozialen Entwicklung konstatiert Keller „eine Konstanz der adligen Oberschicht vom späten 9. bis in das 12. Jahrhundert und eine vom Wandel der Herrschaftsstrukturen geprägte und von der wirtschaftlichen Entwicklung bestärkte soziale Dynamik unterhalb dieser adligen Führungsgruppe“. Da die Untersuchung hauptsächlich Mailänder Quellen auswertete, wurde sie in Italien vor allem als Studie über Mailand und seinen Einflussbereich wahrgenommen. Keller wollte jedoch an einem regionalen Beispiel zeigen, „wie weit und in welchen Formen die Sozialgeschichte Oberitaliens in die allgemeinen Entwicklungen der société féodale während des 10.–12. Jahrhunderts einbezogen war“. Kellers Arbeit, die 1995 ins Italienische übersetzt wurde, gilt als eine der wichtigsten Fallstudien zu den italienischen Kommunen.Im Jahre 1986 wurde an der Universität Münster der neue mediävistische Sonderforschungsbereich 231 zum Thema „Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter“ eingerichtet. Anlass für ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben über die Entwicklung der europäischen Schriftkultur im Mittelalter war die in den 1960er und 1970er Jahren geführte internationale Debatte über die Kommunikationsbedingungen in oralen Gesellschaften. Die Arbeit des Sonderforschungsbereichs knüpfte an diese Forschungssituation an. Aus dem von Keller initiierten und geleiteten Sonderforschungsbereich gingen zahlreiche Arbeiten zur Pragmatik der Schrift selbst oder zur Funktion des Verwaltungsschrifttums in den oberitalienischen Kommunen hervor. Der Sonderforschungsbereich befasste sich mit der europäischen Schriftlichkeitsentwicklung vom 11. bis zum frühen 16. Jahrhundert. Laut dem Erstantrag von 1985 war dies die Epoche, in der Schriftlichkeit „eine für die Gesellschaft wie für den Einzelnen lebensbestimmende Funktion“ erhielt. Als entscheidende Übergangsphase wurde für Oberitalien das 11. und 12. Jahrhundert verstanden. In dieser Zeit weitete sich die Schriftlichkeit auf alle Bereiche der menschlichen Interaktion aus. Das Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs wurde ab 1986 durch Untersuchungen in sieben Teilprojekten umgesetzt. Die auf vier internationalen Kolloquien vorgestellten und diskutierten Ergebnisse wurden in vier umfangreichen Bänden veröffentlicht. Pragmatische Schriftlichkeit wird dabei als handlungsorientierte Schriftlichkeit aufgefasst. Als „pragmatisch“ im Sinne des Forschungsprogramms werden alle „Formen der Schriftlichkeit, die unmittelbar zweckhaftem Handeln dienen oder die menschliches Tun und Verhalten durch Bereitstellung von Wissen anleiten wollen“ verstanden, das heißt „Schriftgut, für dessen Entstehung und Nutzung Erfordernisse der Lebenspraxis konstitutiv waren“. Mit der pragmatischen Schriftlichkeit hat sich Keller vor allem im Hinblick auf die italienischen Stadtkommunen und die kommunalen Gesellschaften des Hochmittelalters beschäftigt.Von 1986 bis 1999 leitete Keller im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 231 das Teilprojekt A, „Der Verschriftlichungsprozess und seine Träger in Oberitalien“. Ab dem 12. Jahrhundert erweitert sich die Quellengrundlage im kommunalen Italien. Die schriftliche Dokumentation für Regierung und Verwaltung nahm dort in einem Ausmaß zu, für das es in Europa trotz allgemeiner Zunahme der Schriftlichkeit keine Parallele gibt. Nach Keller haben drei Faktoren den Verschriftlichungsprozess in der Administration der italienischen Stadtkommunen besonders begünstigt. Der erste war die zeitliche Beschränkung der kommunalen Amtsausübung; sie erforderte zur Sicherstellung der Kontinuität die schriftliche Fixierung des Verwaltungshandelns und der Verfahrensschritte in der Rechtspflege. Zweitens führte die Furcht vor Amtsmissbrauch zu einer detaillierten Festlegung der Amtsbefugnisse und der Verhaltensregeln für Amtsträger, um Amtsführung und Verwaltungshandeln auf ihre Korrektheit überprüfen zu können. Bei Übertretung der Vorschriften mussten Sanktionen bestimmt werden. Der dritte Faktor waren die zunehmenden Maßnahmen der Kommune zur Vorsorge für Lebensunterhalt, Sicherheit und Wohlstand der Gemeinschaft. Die Ausweitung des Schriftgebrauchs im kommunalen Italien brachte in Form der Statutencodices, der umfassenden Sammlungen des geltenden Satzungsrechts, eine neue Quellengattung hervor, deren Entstehung, frühe Geschichte, Struktur und gesellschaftliche Bedeutung Keller mit seinem Forschungsprojekt untersuchte. Die Normsetzung durch Statuten wird als Ausdruck eines tiefgreifenden Kulturwandels in den italienischen Kommunen verstanden. Der starke Anstieg der Schriftlichkeit ging demnach mit einer Vielzahl neuer statutarischer Bestimmungen einher, einer systematischen Ordnung der Statutenbücher und einer periodischen Neuredaktion. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten veränderten sich die Formen der Rechtssicherung und des Rechtsverfahrens grundlegend.Das Forschungsprojekt zum pragmatischen Schriftgebrauch im kommunalen Italien konzentrierte sich zunächst auf die Modernisierung von Regierung und Verwaltung. Weitere Forschungen machten aber auch die Nachteile des Schriftgebrauchs deutlich. Die Schriftlichkeit habe eine verstärkte Reglementierung der bäuerlichen Wirtschaftsführung und des dörflichen Lebens mit sich gebracht. So wurde den Landgemeinden, nach Sorten aufgeschlüsselt, vorgeschrieben, wie viel Getreide sie in die Stadt zu liefern hatten. In den verstärkt auftretenden Pachtverträgen wurden die Abgaben der einzelnen Feldfrüchte detailliert festgelegt. Die Viehhaltung der Bauern wurde reduziert. Die städtischen Kommunen verboten der Bergbevölkerung das Halten von Tragtieren. Eine jeweils genau festgelegte Zahl dieser Tiere durften nur noch Müller und Fuhrleute halten; sie mussten für Polizeikontrollen Zulassungspapiere bei sich führen.Keller und seine Münsteraner Forschungsgruppe konnten an zahlreichen Beispielen zeigen, wie kontinuierlich und lückenlos das Verwaltungs- und Regierungshandeln in den italienischen Kommunen verschriftlicht wurde. Damit ging auch ein neuer Umgang mit den Aufzeichnungen einher. Durch eine gezielte Archivierung konnten Akten auch nach Generationen wieder aufgefunden und benutzt werden. Die schriftliche Dokumentation half beispielsweise in Notzeiten, die Versorgung der eigenen Bürger zu gewährleisten, und sie erleichterte auch das Aufspüren von Häretikern. So war die mittelalterliche Ketzerinquisition nach Thomas Scharff, einem Mitarbeiter Kellers, ohne „den Zuwachs an pragmatischer Schriftlichkeit überhaupt nicht denkbar“.Ausgehend von seinen Untersuchungen zum administrativen Schriftgut in den italienischen Kommunen, das ab dem ausgehenden 12. Jahrhundert immens anwuchs, befasste sich Keller mit den gesellschaftlichen Begleiterscheinungen und anthropologischen Folgen dieses Verschriftlichungsprozesses. Er fragte nach der Bedeutung der Schrift für Weltorientierung und Handlungsstrategien der Menschen. Seine These lautet, „daß an die Verschriftlichung gebundene Formen kognitiver Orientierung von unmittelbarer Bedeutung sind für den Prozeß der Individualisierung, der sich in der Gesellschaft Europas seit dem Hochmittelalter verfolgen läßt“. Diese Überlegungen hängen mit der allgemeinen Diskussion um die Entstehung der Individualität ab dem 12. Jahrhundert zusammen. Keller zeigte anhand der Steuererhebung und der Getreide- und Versorgungspolitik, dass die Lebensumstände jedes einzelnen Bürgers in der Kommune durch administrative Schriftlichkeit in kontrollierbare Verfahren eingebunden wurden. Ebenso hatte der Verschriftlichungsprozess um 1200 auch eine tiefgreifende Veränderung des Rechtslebens in den italienischen Städten zur Folge. Die Verschriftlichung des Rechts bewirkte, dass das Individuum sich aus Gruppenbindungen lösen und sich selbst in der politischen und sozialen Ordnung verorten konnte.
=== Symbolische Kommunikation ===
Das von Keller geleitete Teilprojekt Urkunde und Buch in der symbolischen Kommunikation mittelalterlicher Rechtsgemeinschaften und Herrschaftsverbände (2000–2008) gehörte zum Sonderforschungsbereich 496: Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution. Eine der Leitfragen des Sonderforschungsbereichs lautete: „Wann und warum veränderte man Akte symbolischer Kommunikation, führte neue ein oder verzichtete auf ältere?“ Auch in diesem Teilprojekt bildete das kommunale Italien einen Schwerpunkt der Untersuchungen. Das Projekt befasste sich mit den Interpretationsmöglichkeiten des Schriftgebrauchs in seinem kommunikativen Kontext. Dabei sollten neue Erkenntnisse zur Entstehung und Verwendung herrscherlicher Urkunden im Früh- und Hochmittelalter gewonnen werden.Die Einbeziehung der symbolischen Kommunikation trug zu einer Neubeurteilung der Schriftform bei. Nach Keller waren in Herrschaftsverbänden und Rechtsgemeinschaften des früheren Mittelalters die Urkunden „das wichtigste und zugleich das feierlichste Medium schriftlicher Kommunikation“. Keller plädierte bei den Herrscherurkunden für eine stärkere Berücksichtigung des bislang wenig erforschten Privilegierungsaktes und der Umstände, die zur Entstehung der Urkunden führten. Eine umfassende und angemessene Beurteilung der historischen Aussagekraft einer Urkunde sei nur unter Berücksichtigung der symbolischen Kommunikation möglich. Keller geht von einer engen Verschränkung von Urkundentext und symbolbeladener öffentlicher Interaktion aus. Erst wenn bei einem Diplom die jeweilige Gesamtstruktur und -aussage und die jeweilige historische Situation berücksichtigt werde, seien die Voraussetzungen für ein besseres Verständnis von Privileg und Privilegierungsakt gegeben. Keller betrachtet Urkunden somit nicht nur als Text- oder Rechtsdokumente, sondern als Mittel der Repräsentation und Selbstdarstellung des Herrschers und als „Hoheitszeichen“ in der Kommunikation des Königs mit seinen Getreuen. Der Akt der Urkundenausstellung war nach Keller weniger Ausdruck eines freien Herrscherwillens, sondern vielmehr das Ergebnis eines Kommunikations- und Konsensfindungsprozesses zwischen dem Herrscher und verschiedenen Interessengruppen. Die Privilegierung sei als rituell geprägtes Kommunikationsgeschehen zu deuten, das weit über den bloßen Akt der Urkundenübergabe hinausgehe. Der unmittelbare Entstehungs- und Verwendungszusammenhang einer Urkunde sei durch die Einordnung in feierliche Akte besser zu verstehen. Teile der Urkunde seien als gezielte kommunikative Signale zu deuten. Aus einer Herrscherurkunde, die einen juristischen Sachverhalt schriftlich fixiert, werde so eine Quelle für eine konkrete Situation im mittelalterlichen Herrschaftsverband. Nach Kellers Forschungen wurden die „schriftkulturellen Elemente der Authentizitätssicherung“ bei den früh- und hochkarolingischen Urkunden um 860 von einer größeren Öffentlichkeit und Repräsentativität beim Akt der Beurkundung abgelöst. Das vom König vervollständigte Monogramm und das Siegel wurden dazu vergrößert und deutlich vom Text abgesetzt. Die „visuelle Präsentation des Dokuments“ scheine „eingebettet zu sein in einen Wandel der öffentlichen Kommunikation des Herrschers mit seinen Getreuen“. Mit dieser Art der Besiegelung wurde die geringe Lese- und Schreibfähigkeit der weltlichen Amtsinhaber berücksichtigt. Die Urkunde wurde dadurch im 10. Jahrhundert zu einem Träger symbolischer Kommunikation. Nach Keller änderte sich während des 11. und 12. Jahrhunderts der Stellenwert von Beurkundungsakt und Dokument, weil sich die Auffassungen über die gesellschaftlichen Grundlagen von Recht und die Garantie des Rechts durch Herrschaft und Gemeinschaft veränderten. Ab der Mitte des 12. Jahrhunderts ist eine in den gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhang eingreifende Ausweitung des Schriftgebrauchs und Differenzierung des Geschäftsschriftguts zu beobachten.
=== Umbrüche in der Salier- und Stauferzeit ===
In einem 1983 veröffentlichten Aufsatz über das Verhalten von schwäbischen Herzögen des 11. und 12. Jahrhunderts als Thronbewerber leitete Keller mit der Vorstellung einer „Fürstenverantwortung für das Reich“ einen Paradigmenwechsel in der deutschsprachigen Mediävistik ein. Sein neuer Forschungsansatz ging von den Motiven der Großen und dem grundlegenden Verhältnis von König, Fürsten und Reich insgesamt aus. Keller ermittelte eine Veränderung des Wahlverständnisses im 11. und 12. Jahrhundert und konnte zeigen, dass das Verhalten der schwäbischen Herzöge andere Beweggründe hatte als das bislang unterstellte Motiv „Eigennutz der Fürsten“. Die Fürsten erhoben seit 1002 und verstärkt seit 1077 den Anspruch, als „Gruppe für das Reich handeln […] und sich als die Allgemeinheit gegen Sonderinteressen durchsetzen“ zu können. Dadurch wurde das Reich „zu einem auch ohne den König handlungsfähigen Verband“. Mit dieser Sichtweise stellte sich Keller gegen die ältere Forschungsmeinung, welche die Fürsten als „Totengräber des Reiches“ ansah, die mit ihrem Verhalten im Verlauf des Mittelalters zum Niedergang der königlichen Zentralgewalt beigetragen hätten.Kellers Darstellung des Hochmittelalters im zweiten Band der Propyläen-Geschichte Deutschlands (1986) fand große Anerkennung in der Mittelalterforschung. Das Buch gliedert sich in die drei Hauptteile Das Reich der Salier im Umbruch der frühmittelalterlichen Welt (1024–1152) (S. 57–216), Die Neugestaltung der Lebensverhältnisse in der Entfaltung menschlichen Denken und Handelns (S. 219–371) und Das deutsche Reich zwischen Weltkaisertum, päpstlicher Vollgewalt und Fürstenmacht (1152–1250) (S. 375–500). In seiner Darstellung deutete Keller die Konflikte in der Zeit der Salier und Staufer nicht mehr als Auseinandersetzungen zwischen Königtum und Adel, sondern beschrieb die „Königsherrschaft in und über dem Rangstreit der Großen“. Aufstände zu bekämpfen sei ein wesentlicher Bestandteil der Herrschaftstätigkeit der Salier gewesen. Konflikte entstanden nach Keller überall da, wo Veränderungen der Rangordnung und des Machtgefüges drohten. Wenn Ämter oder Lehen nach dem Tod ihrer Inhaber neu zu vergeben waren, sei Streit entstanden. Eine zentrale Herrscheraufgabe des Königs habe aber auch darin bestanden, lokale Konflikte zu schlichten. Anders als Historiker wie Egon Boshof oder Stefan Weinfurter betrachtete Keller die zunehmende Kritik an der Regierung Heinrichs III. im letzten Jahrzehnt seiner Herrschaft nicht als Anzeichen einer grundsätzlichen Krise, da man ansonsten die ganze ottonische und salische Zeit als Krisenepoche bezeichnen müsse.In einem im September 2000 gehaltenen und 2006 veröffentlichten Vortrag konstatiert Keller einen Wandel der gesellschaftlichen Werte im 12. Jahrhundert. Er beobachtet ein deutlicheres Hervortreten der Einzelpersönlichkeit in der Gesellschaft. Zugleich werde ein Wandel der politischen Ordnungen sichtbar, der die persönliche Existenz der Menschen stärker als bisher in universell gültige Normen eingebunden habe. Laut Keller gehören beide Entwicklungen als komplementäre Phänomene unmittelbar zusammen. Anhand zahlreicher politischer und sozialer Veränderungen untermauert er seine These einer Verflechtung von Ordnung der Gemeinschaft und Verantwortung des Einzelnen. So habe der Eid seit dem 12. Jahrhundert nicht nur eine größere Bedeutung erlangt, sondern durch die Eidesleistung habe sich nunmehr der Einzelne an das Ganze des politischen Verbandes gebunden. Seit dem 12. Jahrhundert trete als Neuerung beim Eid eine Selbstbindung an Prinzipien des Zusammenlebens in der Gemeinschaft hervor. Außerdem habe sich im 12. Jahrhundert nicht nur die Rechtsordnung verändert, sondern vor allem auch die Auffassung vom Recht. Im Strafrecht habe sich das Verständnis von Strafe und Schuld gewandelt: Die in Eigenverantwortung begangene Tat sollte nun nicht mehr mit einer compositio ausgeglichen, sondern mit einer gerechten Strafe belegt werden, abgestuft nach der Schwere der Untat. Dem Wandel und den Umbrüchen im 12. Jahrhundert widmete Keller weitere Veröffentlichungen.
== Wissenschaftliche Nachwirkung ==
Keller hatte mit seiner Analyse der ottonischen Königsherrschaft, seinen verfassungs- und landesgeschichtlichen Beobachtungen zur herrschaftlichen Durchdringung eines Territoriums durch das Königtum, mit der Erforschung der Rituale und Konflikte sowie mit seinen Ausführungen über Urkunden und Siegel als Träger der Kommunikation zwischen Herrscher und Urkundenempfänger wesentlichen Anteil an der Neubewertung des hochmittelalterlichen Königtums, die in der Forschung seit den 1980er Jahren einsetzte. So sieht Hans-Werner Goetz (2003) in einer Überblicksdarstellung die frühmittelalterliche Königsherrschaft vor allem durch Rituale und Herrschaftsrepräsentation geprägt.Kellers 1982 vorgetragene Ergebnisse zur königlichen Herrschaftsausübung, die um 1000 alle Reichsteile einbezog, wurden in der Forschung weitgehend anerkannt. Im Jahr 2012 hat jedoch Steffen Patzold, im Gegensatz zu Kellers Auffassung über die Integration der süddeutschen Herzogtümer, Schwaben auch unter Heinrich II. als Randzone des Reiches angesehen, da nicht eine einzige Synode, die im Beisein Heinrichs II. tagte, in Schwaben stattfand. Die Feier eines Hochfests (Weihnachten, Ostern und Pfingsten), die als Akt königlicher Repräsentation und Herrschaftsausübung galt, fand nur einmal in Schwaben statt. Patzold verwies außerdem auf das urkundliche Material: Nur fünf Prozent aller Urkunden Heinrichs II. wurden in Schwaben ausgestellt.Die von Keller und seiner Forschergruppe vertretene Deutung von Herrscherurkunden als visuelle Medien hat sich in der Geschichtswissenschaft allgemein durchgesetzt. Neuere Arbeiten nehmen Urkunden kaum noch lediglich als bloße Texte wahr.Die in den Jahren von 1986 bis 1999 aus dem Projekt „Der Verschriftlichungsprozess und seine Träger in Oberitalien“ hervorgegangenen Arbeiten sind in der italienischen Mittelalterforschung – wohl vorwiegend aus sprachlichen Gründen – bisher nur selektiv rezipiert worden.Gegen eine Überbetonung des Gegensatzes zwischen „karolingischer Staatlichkeit“ und ottonischer „Königsherrschaft ohne Staat“ sprach sich 2001 August Nitschke aus. Seine Ausführungen schließen mit dem Ergebnis: „Der Übergang von der karolingischen Staatlichkeit zur personal begründeten Herrschaft der Ottonen, zu einem ‚Personenverbandsstaat‘, muß nicht erklärt werden; denn es gab diese ‚Staatlichkeit‘ bei den Karolingern gar nicht“. Auch in anderen Untersuchungen, etwa von Roman Deutinger und Steffen Patzold, wird der von Keller betonte Gegensatz zwischen den Herrschaftsformen der Karolinger- und der Ottonenzeit als weitaus weniger tief angesehen.Kellers und Althoffs Forschungen über Amicitia-Bündnisse und Schwureinungen, polyzentrische Herrschaftsordnung, Schriftkultur, Rituale und Symbole brachten einen erheblichen Erkenntnisgewinn. Ihre Sichtweise wurde in der gegenwärtigen Mediävistik zu den Ottonen stark rezipiert. Ihre 1985 veröffentlichte Doppelbiographie Heinrich I. und Otto der Große wurde 2008 durch die Biographie von Wolfgang Giese um den aktuellen Forschungsstand ergänzt. Jutta Schlick untersuchte in einer 2001 erschienenen Arbeit vor allem auf der Grundlage von Kellers Forschungen die Königswahlen und die Hoftage von 1056 bis 1159. Elke Goez befasste sich in ihrer 2003 veröffentlichten Passauer Habilitationsschrift mit der pragmatischen Schriftlichkeit, indem sie „die Verwaltungs- und Archivpraxis der Zisterzienser, ihr[en] Umgang mit dem eigenen urkundlichen und administrativen Schriftgut“ untersuchte.Die meisten Schüler Kellers waren zugleich Mitarbeiter des Münsteraner Sonderforschungsbereichs; ihre Stellen wurden im Rahmen des Sonderforschungsbereichs von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Die Untersuchungen blieben daher in starkem Maße auf die Thematik des von Keller geleiteten Forschungsprojektes „Der Verschriftlichungsprozess und seine Träger in Oberitalien“ ausgerichtet. Dadurch konnte sich in Münster eine „Schule“ im Sinne eines Kreises von Schülern mit einem gemeinsamen Forschungsgebiet herausbilden: Roland Rölker untersuchte die Rolle verschiedener Familien im Contado (als Herrschafts- und Wirtschaftsgebiet beanspruchtes Umland) und in der Kommune Modena, Nikolai Wandruszka analysierte die gesellschaftliche Entwicklung Bolognas im Hochmittelalter, Thomas Behrmann verfolgte anhand der beiden Urkundenbestände in Novara, des Domkapitels von S. Maria und des davon abgespaltenen Kapitels der Basilika von S. Gaudenzio, den Verschriftlichungsprozess vom 11. bis zum 13. Jahrhundert und analysierte den starken Anstieg der Schriftzeugnisse in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts, Jörg W. Busch befasste sich mit der Mailänder Geschichtsschreibung vom späten 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert, Petra Koch arbeitete über die Vercelleser Kommunalstatutencodices von 1241 und 1341 und Peter Lütke Westhues über die Veroneser Kommunalstatutenbücher von 1228 und 1276. Patrizia Carmassi analysierte den Gebrauch und die Verwendung liturgischer Bücher in den kirchlichen Institutionen der Stadt Mailand von der Karolingerzeit bis in das 14. Jahrhundert, Thomas Scharff verfolgte in mehreren Beiträgen die Verwendung von Schrift im Rahmen der Inquisition, Christoph Dartmann erforschte die Anfänge der Mailänder Kommune (1050–1140), der konsularischen Kommune Genuas im 12. Jahrhundert und der städtischen Kommune in Florenz um 1300 und Petra Schulte befasste sich mit dem Vertrauen in die oberitalienischen Notariatsurkunden des 12. und 13. Jahrhunderts.
== Schriften ==
Ein Schriftenverzeichnis erschien in: Thomas Scharff, Thomas Behrmann (Hrsg.): Bene vivere in communitate. Beiträge zum italienischen und deutschen Mittelalter. Hagen Keller zum 60. Geburtstag überreicht von seinen Schülerinnen und Schülern. Waxmann, Münster 1997, ISBN 3-89325-470-6, S. 311–319.
Monographien
Die Ottonen. 6., aktualisierte Auflage. Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-77413-3.
mit Gerd Althoff: Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen. Krisen und Konsolidierungen 888–1024. 10., völlig neu bearbeitete Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-608-60003-2.
Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-15998-5.
Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024 bis 1250 (= Propyläen-Geschichte Deutschlands. Bd. 2). Propyläen-Verlag, Berlin 1986, ISBN 3-549-05812-8.
mit Gerd Althoff: Heinrich I. und Otto der Große. Neubeginn auf karolingischem Erbe. Muster-Schmidt, Göttingen u. a. 1985, ISBN 3-7881-0122-9.
Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien. 9. bis 12. Jahrhundert (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Bd. 52). Niemeyer, Tübingen 1979, ISBN 3-484-80088-7 (Teilweise zugleich: Freiburg (Breisgau), Habilitationsschrift, 1971, unter dem Titel: Senioren und Vasallen, Capitane und Valvassoren. T. 1).
Kloster Einsiedeln im ottonischen Schwaben (= Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte. Bd. 13). Alber, Freiburg i. Br. 1964.Herausgeberschaften
mit Marita Blattmann: Träger der Verschriftlichung und Strukturen der Überlieferung in oberitalienischen Kommunen des 12. und 13. Jahrhunderts (= Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster. Bd. 25). Westfälische Wilhelms-Universität, Münster 2016, ISBN 3-8405-0142-3.
mit Christel Meier, Volker Honemann, Rudolf Suntrup: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Akten des Internationalen Kolloquiums Münster 26.–29. Mai 1999 (= Münstersche Mittelalter-Schriften. Bd. 79). Fink, München 2002, ISBN 3-7705-3778-5 (Digitalisat).
mit Christel Meier, Thomas Scharff: Schriftlichkeit und Lebenspraxis im Mittelalter. Erfassen, Bewahren, Verändern (Akten des internationalen Kolloquiums 8.–10. Juni 1995) (= Münstersche Mittelalter-Schriften. Bd. 76). Fink, München 1999, ISBN 3-7705-3365-8 (Digitalisat).
mit Franz Neiske: Vom Kloster zum Klosterverband. Das Werkzeug der Schriftlichkeit. Akten des Internationalen Kolloquiums des Projekts L 2 im SFB 231, 22.–23. Februar 1996 (= Münstersche Mittelalter-Schriften. Bd. 74). Fink, München 1997, ISBN 3-7705-3222-8 (Digitalisat).
mit Thomas Behrmann: Kommunales Schriftgut in Oberitalien. Formen, Funktionen, Überlieferung (= Münstersche Mittelalter-Schriften. Bd. 68). Fink, München 1995, ISBN 3-7705-2944-8.
mit Klaus Grubmüller, Nikolaus Staubach: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen (Akten des internationalen Kolloquiums, 17.–19. Mai 1989) (= Münstersche Mittelalter-Schriften. Bd. 65). Fink, München 1992, ISBN 3-7705-2710-0 (Digitalisat).
== Literatur ==
Gerd Althoff: Der Schrift-Gelehrte. Zum sechzigsten Geburtstag des Historikers Hagen Keller. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Mai 1997, Nr. 101, S. 40.
Christoph Dartmann, Thomas Scharff, Christoph Friedrich Weber (Hrsg.): Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur (= Utrecht studies in medieval literacy. Bd. 18). Brepols, Turnhout 2011, ISBN 978-2-503-54137-2.
Thomas Scharff, Thomas Behrmann (Hrsg.): Bene vivere in communitate: Beiträge zum italienischen und deutschen Mittelalter. Hagen Keller zum 60. Geburtstag überreicht von seinen Schülerinnen und Schülern. Waxmann, Münster 1997, ISBN 3-89325-470-6.
Keller, Hagen. In: Kürschners Deutscher Gelehrtenkalender. Bio-bibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Wissenschaftler der Gegenwart. Bd. 2: H – L. 26. Ausgabe. de Gruyter, Berlin u. a. 2014, ISBN 978-3-11-030257-8, S. 1730 f.
Hagen Keller. In: Jürgen Petersohn (Hrsg.): Der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte. Die Mitglieder und ihr Werk. Eine bio-bibliographische Dokumentation (= Veröffentlichungen des Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte aus Anlass seines fünfzigjährigen Bestehens 1951–2001. Bd. 2). Thorbecke, Stuttgart 2001, ISBN 3-7995-6906-5, S. 217–224 (online).
Wer ist wer? Das deutsche Who’s Who. LI. Ausgabe 2013/2014, S. 547.
== Weblinks ==
Literatur von und über Hagen Keller im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Veröffentlichungen von Hagen Keller im Opac der Regesta Imperii
Seite von Hagen Keller am Institut für Frühmittelalterforschung der Universität Münster
Intervista a Hagen Keller / Interview mit Hagen Keller, a cura di Paola Guglielmotti, Giovanni Isabella, Tiziana Lazzari, Gian Maria Varanini. In: Reti Medievali Rivista. Bd. 9, 2008 (italienische Fassung / deutsche Fassung).
== Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hagen_Keller
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Harvestehuder Weg
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= Harvestehuder Weg =
Der Harvestehuder Weg ist eine Straße im Hamburger Bezirk Eimsbüttel, die am Vorland der Außenalster von der Alten Rabenstraße bis zum Klosterstern auf zwei Kilometern Länge durch die Stadtteile Rotherbaum und Harvestehude führt. Mit zahlreichen freistehenden Villen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, inmitten großer, teils parkartiger Gärten, gilt sie als eine Prachtstraße der Hansestadt und, neben der Elbchaussee, als Zeugnis des Reichtums der Hamburger Kaufleute und Unternehmer während der Gründerzeit.
Die Straße ist in weiten Teilen nur halbseitig bebaut und lässt dadurch, soweit der reiche Baumbestand dies zulässt, den Blick über die angrenzenden weitläufigen Grünanlagen und die Außenalster frei. Weitere Attraktivität genießt sie durch ihre Innenstadtnähe. Hohe Quadratmeterpreise für Grundstücke, Wohnungen und Häuser machen den Harvestehuder Weg zu einer der teuersten Wohnstraßen Deutschlands. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Straße mit ihrer ersten Bebauung, Landhäuser und Sommerwohnsitze reicher Hamburger Familien im damals außerstädtischen Gebiet, eine herausragende Stellung ein. Sie unterlag bau- wie sozialhistorisch den jeweiligen Umbrüchen in Politik und Wirtschaft und spiegelt in ihrer Geschichte den Aufstieg und Fall der jeweiligen Macht- und Geldinhaber, der in Hamburg gern so genannten Pfeffersäcke, wider.
== Allgemeines ==
=== Name ===
Der Name, 1858 verwaltungsrechtlich eingetragen, bezeichnet den Weg zum ehemaligen Kloster Harvestehude, das von 1293 bis 1530 nordwestlich des heutigen Eichenparks lag. Er ist zurückzuführen auf den Ort Herwardeshude, dem vormaligen Standort des Klosters am Pepermölenbek bei dem späteren Altona. In der wörtlichen Übertragung wäre die Bedeutung Fährstelle (Hude) des Hüters des Heeres (Herward), allerdings war Herward im 12. und 13. Jahrhundert ein regional überaus gebräuchlicher Name, sodass die naheliegende Vermutung, ein gewisser Herward habe die Anlegestelle an diesem Ort gegründet, weitverbreitet in der Literatur zu finden ist. Nach dem Umzug an die Alster nannten die Nonnen ihr Kloster „In valle virginum“ (Jungfrauenthal), doch der volkstümliche Name blieb Die Frauen von Herwardeshude, aus dem sich schließlich in sprachlicher Veränderung und aus Wortspielerei der Name Harvestehude entwickelte. Der Hamburger Geschichten- und Sagenschreiber Otto Beneke führte zusätzlich aus, dass diesen Ort „manche gute Hamburger, da ein Winterhude gegenüber liegt, auch wohl Herbstehude nennen und zwar gar nicht so irrig, denn ‚Harvest‘ ist das plattdeutsche Wort für Herbst.“ Auch auf alten Karten ist teilweise der Name Herbstehude verzeichnet. Vor der offiziellen Bezeichnung wurde der Harvestehuder Weg auch Unterer Fahrweg genannt, in Unterscheidung zu den parallel verlaufenden Oberen (Rothenbaumchaussee) und Mittleren (Mittelweg) Fahrwegen.
=== Lage ===
Der Harvestehuder Weg ist die Verlängerung der aus Richtung der Hamburger Neustadt kommenden Straße Alsterufer und liegt am Geesthang des westlichen Ufers der Außenalster. Seinen Anfang nimmt er einen Kilometer vom Innenstadtbereich entfernt und durchläuft die Stadtteile Rotherbaum, nördlich der ehemaligen Gartenhauskolonie Fontenay, und Harvestehude, entlang des Stadtviertels Pöseldorf, bis zum Klosterstern. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war die Straße durch die Einmündung der Hundebeck in die Alster von der Fontenay getrennt, der Zugang aus Richtung Stadt, vom Dammtor kommend, verlief über den Mittelweg und die Alte Rabenstraße. Das Alstervorland an der östlichen Seite der Straße ist mit dem 1953 angelegten Alsterpark auf ganzer Länge öffentlich zugänglich. Mit der Krugkoppelbrücke besteht am nördlichen Ende der Außenalster eine Verbindung zu den östlich gelegenen Stadtteilen Winterhude und Uhlenhorst. Das Gebiet westlich des Harvestehuder Wegs ist der Alsterkamp, eine Geesthöhe, die sich zwischen Isebek und Alster bis zum Grindelberg zieht, im heutigen Stadtplan von Hamburg durch die Straßenzüge Grindelallee / Edmund-Siemers-Allee und Alsterufer / Harvestehuder Weg noch gut als Oval zu erkennen.
Teilweise werden die Grundstücke des Harvestehuder Wegs über die parallel und quer verlaufenden Straßen dieses Gebiets, wie die Magdalenenstraße, die Milchstraße, den Pöseldorfer Weg, den Alfred-Beit-Weg, die Sophienterrasse und den Alsterkamp, rückwärtig erschlossen. Nördlich des Wegs liegt das bis zum Isebekkanal reichende Gelände des ehemaligen Frauenklosters Herwardeshude, dem durch zahlreiche Straßennamen im Quartier Rechnung getragen wird. Neben Klosterstern, Klosterstieg und Klostergarten führen auch die Bezeichnungen Frauenthal, Jungfrauenthal und Nonnenstieg, die St. Benedictstraße, zu Ehren des Heiligen Benedict, des Schutzpatrons des Klosters, und die Heilwigstraße in Erinnerung an die Gründerin des Klosters, Heilwig von Holstein und Schauenburg, Gemahlin von Adolf IV., auf diesen Ursprung zurück.
=== Verlauf ===
Der Harvestehuder Weg beginnt im Stadtteil Rotherbaum an der Alten Rabenstraße mit dem gleichnamigen Schiffsanleger für Alsterdampfer. Auf einer Länge von weit mehr als einem Kilometer verläuft an der östlichen Seite der Straße der Alsterpark. Das dem Park gegenüberliegende erhöhte Gelände der westlichen Straßenseite ist vor allem mit freistehenden Villen in großzügigen Gartenanlagen aus dem 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erschlossen, vereinzelt auch mit flachen Bürokomplexen aus den 1930er und 1960er Jahren sowie Wohnanlagen jüngerer Zeit.
Zwischen den Häusern Nummer 12, der heutigen Hochschule für Musik und Theater, und Nummer 13 mündet die Milchstraße des Stadtviertels Pöseldorf. Hinter der Kreuzung mit der Alsterchaussee und deren Verlängerung des Fährdamms, auf der Höhe der Hausnummern 22 und 23, verläuft die Stadtteilgrenze zwischen Rotherbaum und Harvestehude. Vor dem Grundstück Nummer 25 stößt der Pöseldorfer Weg auf die Straße, auf Höhe der Nummer 36 die Sophienterrasse. Anschließend beschreibt die Straße einen ausgeprägten Bogen um die Anhöhe der Sophienterrasse und biegt in nordwestlicher Richtung in das Innere des Stadtteils Harvestehude ab. Hier, am Ende des Alsterparks, befinden sich die ersten drei Gebäude auf der rechten Straßenseite stadtauswärts. Dahinter zweigt eine Straße zur Krugkoppelbrücke ab und trennt das Alstervorland von dem Eichenpark. Bis zu dieser Stelle wird der Abschnitt, aufgrund der flachen, offenen Seite zum Fluss, auch der nasse Teil des Harvestehuder Wegs genannt, im Gegensatz zu dem folgenden trockenen Teil, der von der Alsterniederung auf leicht erhöhtes Geestgelände führt. Nach knapp zweihundert Metern endet der Eichenpark mit einer Bebauung durch zweistöckige Miethäuser der 1960er Jahre.
Die linke Straßenseite wird ab der Hausnummer 57 von zwei- bis dreigeschossige Reihenvillen und Etagenhäusern der Gründerzeit, durchsetzt mit Reihenhäusern und Wohnanlagen jüngerer Zeit, dominiert. Sie bilden eine abschnittsweise geschlossene Bebauung, die Vorgärten sind weitaus schmaler als die am vorderen Abschnitt des Harvestehuder Wegs. Hinter dem linksseitig gelegenen Licentiatenberg, auf dem ebenfalls eine kleine Parkanlage mit altem Baumbestand angelegt ist, kreuzen der Mittelweg und das Frauenthal die Straße, zudem münden die Hagedornstraße und nach fünfzig Metern der Klostergarten ein, so dass sich ein langgestreckter Verkehrsknotenpunkt bildet. Nach der Kreuzung der Abteistraße ist im letzten Straßenabschnitt linksseitig der Bolivar-Park angelegt. An der rechten Straßenseite befindet sich die Harvestehuder Sankt Nikolai Kirche. Der Harvestehuder Weg endet nach insgesamt zwei Kilometern am Klosterstern, einem großangelegten Kreisverkehr, in dem insgesamt sechs Straßen münden.
=== Demografie ===
Rotherbaum und insbesondere Harvestehude gelten sowohl historisch wie aktuell als zwei der einkommensstärksten und sozialstrukturell am höchsten entwickelten Stadtteile Hamburgs. Das Einkommen der hier lebenden Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen ist gut doppelt so hoch wie im Hamburger Durchschnitt. Der Harvestehuder Weg mit seiner exponierten Lage und Bebauung bildet darin bereits seit dem 19. Jahrhundert die sichtbare Repräsentanz des reichen bis millionenschweren Hamburger Kaufmanns und ist laut einer Umfrage der Zeitschrift Capital im Juni 2010 die teuerste Wohnstraße Deutschlands. Demnach liegen die Kaufpreise für Einfamilienhäuser zwischen fünf und fünfzehn Millionen Euro, der Quadratmeterpreis für Eigentumswohnungen zwischen 6.500 und 13.500 Euro und der Mietpreis von Wohnungen bei 22 bis 24 Euro pro Quadratmeter. Mit den Neubau-Vorhaben am Harvestehuder Weg ist in der Preisentwicklung eine weitere Steigerung angelegt, so soll der Verkaufspreis einer Eigentumswohnung im Bauprojekt Sophienterrasse bei bis zu 15.000 Euro pro Quadratmeter liegen.
=== Milieuschutz ===
Verwaltungsrechtlich unterliegt der Harvestehuder Weg seit den ersten Bebauungsplänen von 1899/1906 einer Vielzahl von Schutzbestimmungen und Einschränkungen, vor allem den städtebaulichen Erhaltungsverordnungen nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 Baugesetzbuch. Nach dem Flächennutzungsplan für die Freie und Hansestadt Hamburg vom 22. Oktober 1997 gilt er als reines „Wohngebiet mit zweigeschossiger offener Bauweise“, als so genanntes W2o-Gebiet, in dem eine eingeschränkte gewerbliche Nutzung nur für Bürobauten im Ausnahmewege und unter Einhaltung der Geschosszahl vorgesehen ist. Weiterhin ist für die Straße nach dem Landschaftsprogramm einschließlich Arten- und Biotopschutzprogramm für die Freie und Hansestadt Hamburg vom 14. Juli 1997 „gartenbezogenes Wohnen mit Grünqualitätssicherung“ vorgesehen, in dem eine „offene Wohnbebauung mit artenreichen Biotopelementen und mit parkartigen Strukturen“ vorherrscht. Hinzu kommt die Außenalster-Verordnung vom 29. März 1953, nach der die an das Alstervorland grenzenden Bereiche baulich einheitlich gestaltet werden und die Gartenanlagen sich in die Umgebung einfügen müssen, der Einblick in den Garten nicht durch Hecken oder hohe Zäune verwehrt und keine Fremdwerbung angebracht werden darf. Für den reichen und teilweise sehr alten Baumbestand, vorrangig Linden, Buchen, Eichen und Rosskastanien, gilt zudem die Baumschutzverordnung des hamburgischen Landesrechts vom 17. September 1948. Einige prägnante Einzelbäume stehen unter dem Schutzstatus erhaltenswert.
=== Verkehr ===
Im Teilstück zwischen Alter Rabenstraße und Krugkoppelbrücke ist der Harvestehuder Weg 2014 als Fahrradstraße angelegt worden. Um den Verkehr einzugrenzen, wurden einige Stellen durch gekennzeichnete Parkplätze eingeengt. In den Kreuzungsbereichen mit der Krugkoppelbrücke und dem Mittelweg wird sie teilweise vierstreifig ausgebaut, vom Mittelweg bis zum Klosterstern ist sie wieder zweistreifig. Das Verkehrsaufkommen liegt im mittleren Bereich, da der städtische Hauptverkehrsfluss den parallel verlaufenden Mittelweg benutzt.Durch die Straße selbst führen keine Linien des öffentlichen Nahverkehrs, doch an der Kreuzung Mittelweg und Frauenthal erschließt sie eine Haltestelle der querenden Buslinie 19. Diese wurde 1974 statt der seit 1895 über den Mittelweg führenden Straßenbahnlinien 9 bzw. 19 eingesetzt. Die nächstgelegene U-Bahn-Station ist der Klosterstern. Bis 1984 fuhren zudem die Alsterschiffe innerhalb des Hamburger Verkehrsverbunds im Linienverkehr. Drei Linien legten am Anleger Rabenstraße an, die Schiffe der Hauptlinie hielten auch am Anleger Krugkoppelbrücke. Am Fährdamm bestand zudem eine Verbindung zum Uhlenhorster Fährhaus. Seit der Einstellung des öffentlichen Alsterverkehrs bietet die Alster-Touristik GmbH sogenannte Alsterkreuzfahrten an. Die Alsterdampfer bedienen dabei die nach wie vor existierenden Anleger am Alstervorland.
An der rechten Straßenseite stadtauswärts gibt es entlang des Alsterparks großzügige und voneinander getrennte Fuß- und Radwege; der Radweg zwischen Alte Rabenstraße und Krugkoppel wird in beide Richtungen befahren, da es an der gegenüberliegenden, stadteinwärts führenden Straßenseite keine Radverkehrsanlage gibt. Der dortige Fußweg ist teilweise unbefestigt und durchgängig baumbestanden. Ab der Krugkoppelbrücke und insbesondere im Kreuzungsbereich Mittelweg/Frauenthal/Hagedornstraße ist eine beidseitige Radverkehrsführung angelegt, die mit rotem Wegebelag gekennzeichnet und mit eigenen Ampelanlagen versehen ist. Zwischen der Einmündung der Straße Klostergarten und dem Klosterstern gibt es beidseitig keinen Radweg, jedoch ist auf den Fußgängerwegen teilweise Radverkehr zugelassen.
== Geschichte ==
Das Gelände, das der Harvestehuder Weg durchläuft, ist geprägt durch das Aufstauen der Alster im 13. Jahrhundert und den dadurch gebildeten Alstersee. Am westlichen Ufer findet dieser eine natürliche Begrenzung an einem eiszeitlichen Moränenrücken von bis zu 20 Metern Höhe, der bis in das 15. Jahrhundert stark bewaldet war. Der Weg führt zwischen dem Fuß dieses Geesthangs und den zum Fluss hin liegenden – ehemals sumpfigen und reetbestandenen – Wiesen entlang. Im Süden war das Gebiet bis Ende des 19. Jahrhunderts durch die Hundebeck begrenzt, ein Flüsschen, das im Grindelwald, beim heutigen Universitätsgelände, entsprang und bei der Fontenay in die Alster mündete. Im Norden führte der Weg durch das später so genannte Frauenthal in Richtung des Eppendorfer Baums, einer Furt durch die Isebeck. Ein Grabhügel aus der Bronze- und Eisenzeit, an der Ecke zum Mittelweg gelegen und ab dem 18. Jahrhundert Licentiatenberg genannt, gilt als sichtbare Spur frühen menschlichen Lebens am Harvestehuder Weg.
=== Klosterland ===
Im 13. Jahrhundert verband der Weg die Ansiedlung Heimichhude nördlich der Hundebeck und das Dorf Oderfelde südlich der Isebeck. Diese Dörfer sowie die zugehörigen und umliegenden Ländereien, von der Alster bis einschließlich des Grindels, des Schlumps und des Schäferkamps und im Norden bis zur Isebeck, gehörten dem Schauenburger Grafen Heinrich I. von Holstein-Rendsburg (etwa 1258–1304) und wurden von ihm im Jahr 1293 an das beim Pepermölenbeck an der Elbe gelegene Kloster Herwardeshude des Zisterzienserinnenordens gekauft, „mit Gebüsch, Mooren, Wiesen, Weiden, Gewässern und allen Freiheiten, von allen Abgaben befreit“. Zwei Jahre später, im August 1295, verlegte der Konvent den Klosterstandort von der Elbe in das Tal von Oderfelde, westlich des heutigen Eichenparks. Im Jahr 1310 schloss das Kloster einen Vertrag mit der Stadt Hamburg, die seinen Schutz übernahm. Im Gegenzug verpflichteten sich die Nonnen, die stadtnahen Ländereien von Gebäuden zu räumen. Aus Verteidigungsgründen sollte das Gebiet vor der Stadtfestung unbebaut bleiben, demgemäß wurden die Dörfer Oderfelde und Heimichhude niedergelegt. Ein weiterer Vertrag setzte die Hundebeck als Grenze zwischen Klosterland und Stadtgebiet fest.Das Kloster bestand über dreihundert Jahre und bewirtschaftete das Gelände am Harvestehuder Weg. Der auf der westlichen Geesthöhe gelegene Alsterkamp war das Kernland der klösterlichen Landwirtschaft und wurde sowohl zum Ackerbau wie zur Weide für Großtiere genutzt, das östlich gelegene feuchte bis sumpfige Alstervorland diente saisonal ebenfalls als Weideland. Der Weg selbst war als Unterer Fahrweg eine von drei Verbindungsstraßen zwischen Kloster und Stadt.
Infolge der Reformation wurde der Konvent 1530 aufgelöst, die Nonnen innerhalb der Stadt untergebracht und die Klostergebäude auf Beschluss von Rat und Bürgerschaft zerstört und abgerissen. Rechtsnachfolger und neuer Eigentümer der Ländereien war das Hamburger St.-Johannis-Kloster, die Verwaltung übernahm ein zu diesem Zweck eingerichtetes Konsortium. Das Gebiet am Harvestehuder Weg wurde 1532 an den Ratsherrn Joachim Moller (1500–1558) verpachtet und weiterhin als Ackerland und Weidefläche für Pferde, Schafe und Rinder genutzt. Er errichtete an Stelle der Klostergebäude einen Pachthof nebst Ausflugslokal, was den Historiker Lambecius zu dem Ausspruch veranlasste: „Der Platz ist dem Bacchus geweiht und in eine Schänke verwandelt.“Der Bau des Hamburger Stadtwalls in den Jahren 1616 bis 1625 brachte mit der Errichtung des Lombarddamms nebst Brücke durch die Alster die Trennung des Flusses in Binnen- und Außenalster und damit eine deutliche landschaftliche Veränderung mit sich. Von der Stadt aus lag das Gebiet nun vor dem Dammtor und wurde allgemein But’n Dammdoor genannt.
Bei der Belagerung Hamburgs durch die Dänen unter Christian V. im Jahr 1686 wurden die Gebäude des Klosterhofs verwüstet und zerstört. Der damalige Pächter des Klostergeländes, Johann Böckmann (der Ältere), ließ das Wirtshaus 1688 wieder aufbauen. Zugleich wurde auf dem an der Alster gelegenen Teil des Geländes ein „Lusthaus für die Klosterjungfrauen“ errichtet, das als Ausflugsziel der nun städtischen Klosterangehörigen diente. Doch auch für andere Stadtbewohner wurde das Gebiet zum beliebten Naherholungsort, im 18. Jahrhundert gewannen Naturspaziergänge und Landpartien zunehmend an Bedeutung. Von 1703 bis 1716 pachtete Bartoldo Huswedel, Licentiat der Rechte und Präsident des Hamburger Niedergerichts, das Klosterwirtshaus ausdrücklich wegen des Wertes seiner reizvollen Umgebung. Das Gasthaus und sein mit Linden bestandener Biergarten wurde sowohl wegen seiner idyllischen Lage wie des Ausschanks „erfrischender und geistiger Getränke“ bekannt. Der Weg von der Stadt dorthin konnte am Unteren Fahrweg als Wanderung oder über den Mittleren Fahrweg, mit dem Pferdewagen zurückgelegt werden. Als reizvoll galt auch die Fahrt über den Fluss mit den Arche genannten Alsterbooten, die mit einem Dach aus Segeltuch überspannt waren und gerudert wurden. Ein weiteres Ausflugslokal wurde im 18. Jahrhundert am stadtnäheren Anfang des Harvestehuder Wegs eröffnet, an dem auch eine Fährstelle angelegt war. Es trug den Namen De Rave, aus dem später Die Alte Rabe wurde.
=== Gartenland ===
Johann Böckmann (der Ältere), Pächter der Ländereien und Eigentümer des Klosterwirtshauses, legte zwischen 1680 und 1690 am südlichen Teil des Alsterkamps, zwischen der späteren Alten Rabenstraße und Milchstraße, eine Gärtnerei und Baumschule an. Diese war bis 1856 im Besitz der Familie. Gegenüber, in Richtung des Mittelwegs, entstand im 18. Jahrhundert die Steindorfsche Kattunfabrik, die die Wiesen an der Hundebeck bis zur Alster als Bleiche benutzte. Eine weitere Gärtnerei wurde ab 1717 durch Johann Nicolaus Roose und Matthias Stamp in dem Gelände von der Milchstraße bis zur heutigen Alsterchaussee angelegt. Die Erben, Otto Friedrich Rönn und Bernhard Jochim Stamp, teilten das vom Klosterkonsortium gepachtete Land auf und gaben es an Unterpächter weiter. Dort entstanden Kleingärten mit Wohnhütten der Gärtner sowie Gartenhäuser für den Sommeraufenthalt von Stadtbürgern. Über diese Pächter wurde der Überlieferung nach gesagt, sie „pöselten gemütlich vor sich hin“, was so viel bedeutete wie „sie arbeiten ohne großen Erfolg“. Der daraus abgeleitete Name Pöseldorf für den Flecken hinter dem Harvestehuder Weg wurde im 19. Jahrhundert auf das wachsende Quartier übertragen, einen eigenständigen Stadtteil mit festgelegten Grenzen aber bezeichnete er nie.
Das Klosterkonsortium missbilligte die Vorgänge in mehreren Schreiben und Protokollen und überschrieb im Jahr 1776 sechzehn Grundstücksnutzern das Land als Eigentum. Dort entstanden um 1800 erste klassizistische Landhäuser, die in der unerschlossenen Gegend dem Sommeraufenthalt dienten, so 1795 für den Senator Nicolaus Bernhard Eybe, 1799 für den preußischen Geheimrat Martin Jacob von Faber und 1802 für die Familie Amsinck. Die Bauerlaubnis war unter der Bedingung erteilt worden, dass die Gebäude bei Kriegsgefahr wieder zu beseitigen sind. Die Besiedlung des Alsterufers, des Kleinods der Hamburger Naherholung, wurde wohlwollend kritisch beobachtet:
Während der französischen Besatzungszeit ließ der Kommandant, Marschall Louis-Nicolas Davout, 1813 alle Ansiedlungen und Gebäude im Umfeld der Stadtbefestigung niederbrennen. Davon war die gesamte Bebauung am Unteren Fahrweg einschließlich der Gasthäuser betroffen, die Gegend war „wieder zur Wüste geworden“. Nach Abzug der Franzosen ging der Wiederaufbau relativ schnell vonstatten, Die Alte Rabe wurde wieder eingerichtet und das Klosterwirtshaus, weitaus größer als zuvor, im Stil eines klassizistischen Landhauses neu gebaut. Böckmanns Garten konnte ebenfalls bald weitergeführt werden. Johann Heinrich Böckmann (1767–1854), Nachfahre des ersten Johann Böckmann, hatte die Ländereien bereits 1788 vom Klosterkonsortium gekauft und teilte nun zum Harvestehuder Weg hin einige Grundstücke zur Bebauung ab.
Ab 1818 verkaufte die in Geldnot geratene Stiftung des St.-Johannis-Klosters weitere Bauplätze am Alsterkamp. Bekanntester Grundbesitzer am nördlichen Teil wurde der Bauunternehmer Christian Diederich Gerhard Schwieger. Er legte in seinem Gelände die Schwiegerallee an, die später Alsterchaussee genannt wurde, und errichtete dort 1828 ein Landhaus. Da für die Stadt Hamburg, die ein großes Bevölkerungswachstum verzeichnete, die stadtnahen Flächen äußerst bedeutend waren, beschloss der Senat 1826 die Übernahme der obrigkeitlichen Rechte, 1830 wurden die Klosterländereien in die neugegründete Landherrenschaft der Geestlande eingegliedert, Vogtei Rotherbaum und Vogtei Harvestehude benannt und zum Stadterweiterungsgebiet erklärt. Sie wurden parzelliert und mit neuen Straßen erschlossen. Nur der Pachthof blieb im Besitz der Klosterstiftung. Eine städtische Nutzung des Geländes erfolgte jedoch erst nach dem Großen Brand von 1842. Das Klosterwirtshaus, das seit einigen Jahren keinen neuen Pächter gefunden hatte, wurde provisorisch als Waisenhaus für die obdachlos gewordenen Kinder eingerichtet. Die Institution bestand dort bis zum Jahr 1858, dann zog sie in ein neues Haus auf der Uhlenhorst. Anschließend diente das ehemalige Wirtshaus noch zwei Jahre als Dragonergarnison, bevor es endgültig aufgegeben und 1860 abgebrochen wurde.
=== Landhäuser und Stadtvillen ===
Die für Harvestehude zuständigen Oberalten, in der damaligen Zeit bedeutende Gemeindevertreter, versuchten den Verkauf von Grundstücken am Harvestehuder Weg an private Investoren zu verhindern. In einer Pro-Memoria-Schrift vom 19. März 1838 an den Senat heißt es, dass „dadurch die einzige hübsche Landschaft, welche wir noch in solcher Nähe der Stadt besitzen, verkümmert und zerstört“ würde. Sie konnten die Bebauung letztlich nicht verhindern, doch wurde der Verkauf des Gebiets am Licentiatenberg vorerst gestoppt. Alle weiteren Grundstücke wurden „cum conditonibus“, also unter hohen Auflagen, veräußert. So mussten die neuen Eigentümer Bürger der Stadt Hamburg oder der umliegenden Landgemeinden sein, durften „keine Wirtschaft irgendeiner Art“ auf dem Grundstück betreiben und Eichen und Buchen nicht ohne Erlaubnis fällen oder beschneiden. Der ländliche Charakter sollte erhalten bleiben, das Alstervorland durfte nicht bebaut werden. Baurechtlich war vorgegeben, Einfamilienhäuser mit Vor- und Hintergärten zu errichten, der Bau von „kleinen Wohnungen, Wohnsälen und Buden“ war verboten, ebenso die Ansiedlung von Geschäften, „welche durch üblen Geruch oder übermäßigen Lärm die Nachbarn belästigen“. Auch waren zunächst Juden vom Erwerb der Grundstücke ausgeschlossen, diese Auflage wurde 1842 allerdings wieder aufgehoben. Die übrigen Bestimmungen flossen sinngemäß in spätere Richtlinien ein und sind heute noch in der Außenalster-Verordnung von 1953 gültig.
Neben dem Bau einzelner Landhäuser, wie zum Beispiel die der Familien Amsinck und Sthamer, ging die Erschließung des Gebiets nur langsam voran. Öffentliche Aufmerksamkeit erhielt 1848 der Bau der später so genannten Slomanburg als erstes Wohngebäude am Harvestehuder Weg, das ganzjährig bewohnt werden konnte. Tatsächlich führte erst die Aufhebung der Torsperre 1861 zu einer verstärkten Bebauung der Straße. Sie erhielt 1853 ihre erste Wasserleitung, 1873 wurde sie an das Geeststammsiel angeschlossen. Die Ausfahrtsstraßen vom Dammtor, wie die Grindelallee und der Rote Baum wurden „chaussiert“, also mit Steinen befestigt, der Mittelweg war bis zur Höhe Alsterchaussee gepflastert und ging dann in einen Sandweg über. Doch der Harvestehuder Weg blieb ein „unergründlicher“ Sandweg und „gänzlich unbeleuchtet“. Verwaltungsrechtlich wurden die beiden Vogteien Rotherbaum und Harvestehude 1874 zu Vororten und 1894 zu Stadtteilen von Hamburg erklärt.
Nach Johann Heinrich Böckmanns Tod 1854 gaben die Erben die Gärtnerei endgültig auf und stellten das Gelände für die weitere Bauplanung zur Verfügung. Mit der Anlage der Magdalenenstraße, nach Böckmanns Ehefrau Catharina Magdalena (1777–1864), und der Böttgerstraße, nach dem Obergärtner Böckmanns Elias Heinrich Böttger (1766–1847) benannt, wurde eine Hinterlandanbindung zum Harvestehuder Weg geschaffen. In der kleinteiligen Bebauung des Pöseldorfs siedelten sich vor allem Handwerker und „kleinbürgerliches Gewerbe“ an. Die Straßen waren, dieser Erschließung entsprechend, eng und winklig von den dortigen Eigentümer angelegt worden. Sie wurden ebenfalls als rückwärtiger Zugang der großen Villengrundstücke genutzt und, als deren Bestandteile, zudem mit Pferdeställen, Kutscherwohnungen, Wagenremisen und Schlossereien bebaut.Im Zuge der Bebauung des Rothenbaums wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Hundebeck nach und nach zugeschüttet, 1908 auch der Mündungsbereich überbaut. Damit konnte eine Verbindung zwischen der Straße Alsterufer und dem Harvestehuder Weg hergestellt und eine durchgängige Verbindungsstraße an der Alster geschaffen werden. Die Anfang der 1950er Jahre wieder aufgegriffene Planung einer den Alstersee gänzlich umrundenden öffentlichen Straße wurde in diesem Zusammenhang bereits 1906 in der Bürgerschaft debattiert und mit einem bildhaften Vergleich belegt:
Als zwischen 1899 und 1906 der erste Bebauungsplan für das inzwischen Stadtteil gewordene Stadterweiterungsgebiet erarbeitet wurde, waren die meisten Grundstücke bereits bebaut. Dem Plan kam vor allem die Funktion zu, „thunlichst auf eine Erhaltung der vernehmen Bebauung Rücksicht zu nehmen.“ In Grundzügen befindet sich dieser Milieuschutz noch in den aktuellen Flächennutzungsplänen und Erhaltungsprogrammen.
=== Straße der Millionäre ===
Der „fast nur aus Palästen bestehende vorstädtische Anbau“ am Harvestehuder Weg ist hauptsächlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden und hat die älteren Landhäuser verdrängt. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg und der wachsenden Bevölkerungszahl Hamburgs ging auch die Umstrukturierung der Stadt einher. Die Errichtung der Speicherstadt hatte nicht nur veränderte Stadträume zur Folge, sie hatte auch Einfluss auf die Wohn- und Lebensform der Kaufleute. Lager, Kontor und Wohnung, zuvor unter einem Dach, wurden nun getrennt, für die reichen Kaufleute boten die Grundstücke am Harvestehuder Weg eine hohe Attraktivität, im Gegensatz zu der in dieser Zeit ebenfalls prachtvoll bebauten Elbchaussee im damals preußischen Altona befand man sich im Stadterweiterungsgebiet und in Innenstadtnähe. Um 1900 waren fast alle Grundstücke bebaut, die fünfundzwanzig Gartenhäuser, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts dort standen, waren für Neubauten abgebrochen oder von diesen überbaut worden. 1910 gab es zwischen Alter Rabenstraße und Licentiatenberg fünfzig freistehende Villen, beim Eichenpark weitere sechs und zwischen Mittelweg und Klosterstern etwa dreißig Reihenvillen.
Durch die Bauvorgaben, insbesondere die Auflage der Errichtung von Einzelhäusern in Gartengrundstücken, war die Sozialstruktur des Quartiers vorgegeben. Im Jahr 1911 lebten in Hamburg 723 Millionäre, über die Hälfte von ihnen in den Stadtteilen Harvestehude und Rotherbaum, von diesen wiederum etwa 12,5 % am Harvestehuder Weg. Aus dem von Rudolf Martin aufgestellten Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre von 1912 ist ersichtlich, dass zwischen Alter Rabenstraße und Licentiatenberg nahezu jede Villa von einer Millionärsfamilie bewohnt war. Die Eigentümer kamen zum größten Teil aus namhaften Hamburger Kaufmannsfamilien und waren als Senatoren oder als Inhaber öffentlicher Ämter bekannt. Neben den Slomans und Lutteroths wohnten dort nach der Jahrhundertwende unter anderem Mitglieder der Familien Amsinck, Behrens, Blohm, Hudtwalcker, Krogmann, Laeisz und Robinow. Der „regionale Hamburger Uradel lebte ganz unter sich“ schrieb der Schriftsteller und Politiker Ascan Klée Gobert.Das Eigentum an den Immobilien unterlag jedoch häufigem Wechsel; sie geben ein Abbild der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse im 20. Jahrhundert. Bis zum Ersten Weltkrieg fand der ständig wachsende Reichtum der Hamburger Kaufleute seinen sichtbaren Ausdruck in der Bebauung an der Alster. Die wirtschaftlichen Probleme der Nachkriegszeit bis hin zur Weltwirtschaftskrise und deren Auswirkungen 1930 führten zum materiellen Abstieg etlicher wohlhabender Hamburger Kaufleute und Bankiers; zahlreiche Insolvenzen waren begleitet von den Verkäufen der Villen und Grundstücke. Es kam zu einer teilweisen Umnutzung der großen Gebäude; sie wurden in Mehrfamilienhäuser, zur Kontor- und Büronutzung oder für Repräsentationszwecke umgewandelt. Innerhalb der gewachsenen Stadt war der Harvestehuder Weg in Innenstadtnähe gerückt und so auch für Firmen und Konsulate zur repräsentativen Adresse geworden.
=== Regierungssitz ===
Ab 1933 interessierten sich die neuen nationalsozialistischen Machthaber des für das Gebiet an der westlichen Alster und insbesondere für den Harvestehuder Weg. Es kam zu zahlreichen Enteignungen und Zwangsverkäufen von Grundstücken, vor allem jüdischer oder jüdisch-stämmiger Eigentümer, die anschließend von staatlichen und nationalsozialistischen Institutionen übernommen wurden. Die angestrebte Zentrierung der Hamburger Verwaltung sowie der politischen und wirtschaftlichen Machtbereiche im Reichsgau Hamburg unter der Führung des Gauleiters und Reichsstatthalters Karl Kaufmann fand eine Entsprechung in der Konzentration ihrer Wohn- und Amtssitze am Harvestehuder Weg. So richtete Kaufmann die Gauleitung in der großen Villa Am Alsterufer 27. dem heutigen US-amerikanischen Konsulat, ein. Für seine zweite Funktion belegte er das ehemalige Budge-Palais sowie zwei benachbarte Villen am Harvestehuder Weg mit der Reichsstatthalterei; die Entrechtung der jüdischen Eigentümer machte dies möglich. Auch das Reichsgaupropagandaamt, die SS-Gruppenführung, die SA-Obergruppe, Dienststellen der Wehrmacht, der Kriegsmarine und ein Luftwaffenstab wurden in den Villen dieser Straße untergebracht, ebenso bezogen Funktionsträger aus Politik und Wirtschaft dort ihre Wohnung.
Die städtebaulich einschneidendste Veränderung wurde zwischen 1935 und 1937 mit der Errichtung der monumentalen Standortkommandantur für das Generalkommando des Wehrkreises X bei der Sophienterrasse geschaffen. Im Zweiten Weltkrieg kam es insbesondere während der Fliegerangriffe bei der Operation Gomorrha in der Nacht vom 29. auf den 30. Juli 1943 zu einigen Zerstörungen am Harvestehuder Weg, insgesamt aber wurden verhältnismäßig geringe Kriegsschäden für diesen Teil der Stadt verzeichnet. Von Zerstörungen oder Beschädigung waren vor allem die Grundstücke rund um die Kommandantur betroffen. Als im April 1945 die Stadt Hamburg angesichts der heranrückenden alliierten Truppen zur Festung erklärt wurde, ließ Karl Kaufmann das Gebiet am Harvestehuder Weg mit hohem Stacheldrahtzaun und durch Militärposten sichern. Der Zugang war nur über die Milchstraße mit einem Sonderausweis möglich. Neben militärischen Gründen sah Kaufmann dies als persönliche Notwendigkeit, da er befürchtete, durch Heinrich Himmler und Karl Dönitz abgesetzt zu werden.Nach Kriegsende beschlagnahmten die britischen Besatzungstruppen die zuvor von Behörden und nationalsozialistischen Institutionen belegten Gebäude, ebenso einige Privathäuser, unter anderem die Villen des Bürgermeisters Carl Vincent Krogmann und des Werftbesitzers Rudolf Blohm, der im U-Boot-Bau der Kriegsmarine involviert gewesen war. In den Häusern wurden Truppenangehörige und Militäreinrichtungen untergebracht, teilweise wurden sie auch neuen Nutzern zur Verfügung gestellt. Über die Besatzungszeit hinaus bestand von 1956 bis 2006 in der Nr. 8a das Britische Generalkonsulat; in Nr. 44 befindet sich nach wie vor der Anglo-German Club.
=== Neubebauung ===
Eine wesentliche Veränderung der Nutzung am Harvestehuder Weg war die Anlage des Alsterparks anlässlich der Internationalen Gartenausstellung 1953. Die dazu notwendige Enteignung von privaten Gärten der Anlieger im Alstervorland geht auf eine Initiative des Bürgermeisters Max Brauer zurück und wurde als „Meilenstein für die kulturelle und soziale Aufbruchsstimmung der Hansestadt Hamburg im ersten Nachkriegsjahrzehnt“ bezeichnet. Eine weitere Änderung der Sozialstruktur stellte der Umbau der vormaligen Reichstatthalterei zur Musikhochschule dar. Zugleich entstanden mit der Neubebauung kriegszerstörter Grundstücke und der Umnutzung der großen Villen, die nicht den zeitgemäßen Wohnvorstellungen entsprachen, neue Gebäude und Komplexe in der nüchternen Architektur der 1960er Jahre. Die günstige innerstädtische Lage und die nach wie vor prestigeträchtige Adresse führten zu einem Zuzug von Betrieben der Verwaltung, Konsulaten, Versicherungsgesellschaften, Konzernzentralen und Rechtsanwaltsbüros. Die Umstrukturierung stieß auf harsche Kritik:
„Diese in der ganzen Welt bewunderte Straße mit ihren Eichen, ihren Gärten, ihrem großzügigen Raumgefühl, sie hätte eine repräsentative Straße der Landhäuser bleiben sollen.“Seit den 1990er Jahren findet am Harvestehuder Weg ein erneuter Umbruch sowohl im Umgang mit dem Bestand wie in der Art und Weise der Bebauung statt. Zum einen wurden mehrere Villen und Appartementanlagen von Investoren gekauft, zur Repräsentation teuer saniert oder weiterverkauft oder auch abgerissen. Hinzu kamen Neubauprojekte, die das obere Segment des Wohnungsmarktes bedienen. Nachdem die Bundeswehr im Jahr 2005 ihre ehemalige Standortkommandantur an der Sophienterrasse 14 verlassen hatte, wurde dieses rund 44.000 Quadratmeter große Liegenschaftsareal, das bis an den Harvestehuder Weg reicht, für ein neues Wohnquartier erschlossen. Mit 40.000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche wurden Stadthäuser in Luxusausführung errichtet. Weitere exklusive Appartements legte man auf dem benachbarten Grundstück Harvestehuder Weg 36 an. Auch das großzügige Gelände des Anfang 2010 abgerissenen Bürohauses vom Gerling-Konzern bei der Nr. 25, Ecke Klosterstieg, wurde in diesem Stil bebaut.Der Kunsthistoriker Hermann Hipp hatte bereits 1976 die Hintergründe und die Gefahr dieser Entwicklung beschrieben:
== Längs der Straße ==
Bereits Fritz Schumacher (1869–1947), in dessen Zeit als Hamburger Baudirektor (1909–1933) die erste Gestaltung des Harvestehuder Wegs weitgehend abgeschlossen war, nannte die Architektur am Weg ein „krauses Durcheinander“, denn die Baustile der letzten hundertfünfzig Jahre seien nachempfunden und zu einem abenteuerlichen Stil-Salat vermengt worden. Zwar hatte der Ingenieur William Lindley (1808–1900) um 1850 ein einheitliches Gesamtkonzept für das Stadterweiterungsgebiet Rotherbaum/Harvestehude entworfen, doch setzte sich diese Idee insbesondere am Harvestehuder Weg nicht durch. Der heutige Bestand weist eine Vielzahl von Bautypen auf, der Stilmix hat sich auch nach Schumachers Zeit fortgesetzt.
=== Architektur ===
Ältestes erhaltenes Baudenkmal am Harvestehuder Weg ist die sogenannte Slomanburg, erbaut auf dem Grundstück Nr. 5 und 6 von dem Architekten Jean David Jollasse (1810–1876) in den Jahren 1848/1849. Sie gilt als das bemerkenswerteste Gebäude des romantischen Historismus in Hamburg, angereichert mit Details, wie Türmchen, Zinnen und Maßwerk, aus der englischen Tudor-Gotik und charakterisiert durch die weitläufige Gartenanlage. Im historischen Kontext ist sie das deutliche Zeichen für die Ablösung des ländlich bescheidenen Gartenhauses durch den aufwändigen Landsitz.
Den Kern der gründerzeitlichen Einzelvillen bildet die Gruppe rechts und links der Einmündung der Milchstraße, bestehend aus dem Budge-Palais (Hausnummer 12), der Villa Beit (Hausnummer 13) und der Villa Behrens (Hausnummer 14/15). Alle drei Gebäude wurden von dem Architekten Martin Haller (1835–1925) zwischen 1884 und 1899 in der Formsprache der Neorenaissance gebaut, auch spätere Umbauten und Erweiterungen bis 1910 wurden von ihm vorgenommen. Zum Gesamtensemble der weißen Putzbauten gehören auch die ehemaligen Stall- und Wirtschaftsgebäude an der Rückseite. Von Haller stammen zwei weitere erhaltene Villen, die Heine-Villa, Hausnummer 41 und der Anglo-German Club mit der Hausnummer 44. Die sechste Haller-Villa am Harvestehuder Weg, 1885 für die Familie Amsinck bei der Hausnummer 20 gebaut, wurde 1943 bei einem Bombenangriff zerstört.
Als beispielgebende Gruppe der Gründerzeit werden auch die drei Villen mit den Nummern 7a bis 8a bezeichnet. Dort ist nebeneinander eine Entwicklung der Bautypen zu beobachten, während die Villa Horschitz mit der Hausnummer 8, gebaut 1872 von dem Architekten Albert Rosengarten (1809–1893), mit Belvedere, Portikus und Dreiecksgiebel noch die klassizistische Tradition aufgreift, tritt die Nummer 7a, gebaut 1879 im Stil der Neorenaissance, Architekt unbekannt, vor allem mit Verblendziegel-Wandflächen hervor. Bei der Villa Laeisz mit der Hausnummer 8a, 1906 von Ernst Paul Dorn geplant, hingegen werden, durchzogen von neobarocken Formen, erste Elemente des in Hamburg seltenen Jugendstils sichtbar.Anlehnungen an die Reformarchitektur sind bei dem Haus Harvestehuder Weg 50 am Ende des Alsterparks zu finden. Es stammt aus dem Jahr 1928, wurde für Ricardo Sloman gebaut und war der erste Backsteinbau an dieser Straße. Es korrespondiert mit der wenige Meter entfernten, 1927/1928 von Fritz Schumacher konzipierten Krugkoppelbrücke, deren drei markant geschwungenen Korbbögen aus Klinkermauerwerk ausgeführt sind. Neues Bauen mit deutlichen Bezügen zum Bauhaus ist in dem Haus mit der Nummer 45 auf dem Gelände von Hoffmann und Campe angewandt. Es wurde 1930/1931 von dem Architekten Emil Fahrenkamp (1885–1966) gebaut. Als eines der wenigen Gebäude der NS-Architektur in Hamburg gilt das 1936 von Hermann Distel (1875–1945) und August Grubitz (1876–1964) errichtete Generalkommando der Wehrmacht an der Sophienterrasse. Es wird als Merkwürdigkeit angesehen, dass, entgegen der am Elbufer geplanten megalomanischen Hochbauten dieser neoklassizistische Monumentalkomplex, hinter dem Harvestehuder Weg versteckt, seine Wirkung kaum entfalten kann.Eine der Inkunabeln der Wiederaufbauarchitektur stellt das langgestreckte Bürogebäude des Architekten Ferdinand Streb (1907–1970) am Anfang der Straße dar, das 1953/1954 im Gesamtensemble mit weiteren Gebäuden an der Alten Rabenstraße erbaut wurde. Als ruppiger Eindringling, der sich dennoch gut in die gründerzeitlichen Stuckvillen einpasst, wird das Mehrgeschosshaus bei der Hausnummer 55 im Hamburger Architekturführer bezeichnet. Es wurde zwischen 1972 und 1974 von Helmut Wolff und Dieter Schlühr geplant und ausgeführt. Auffällig sind neben zwei Giebelschotten und einer Mittelschotte seine orange gerahmten verandaartigen Vorbauten. Als ein weiterer gut in die Umgebung eingepasster Neubau wird das zwischen 1989 und 1991 errichtete Verlagshaus Hoffmann und Campe am Harvestehuder Weg 42 angesehen, das von Jochem Jourdan und Bernhard Müller im Stil der Postmoderne mit eklektizistischem Charakter – mit Anleihen aus dem Klassizismus und der Wiener Sezession – gestaltet wurde.
=== Denkmalschutz ===
Am Harvestehuder Weg stehen 26 Objekte unter Denkmalschutz, davon 20 Gebäude und 18 Wohn- bzw. Bürohäuser: neun Villen und eine Remise aus dem 19. Jahrhundert, sieben Villen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, ein Mehrfamilienhaus mit seinen Garagen und Außenanlagen aus den 1970er Jahren. Weitere geschützte Gebäude sind das Generalkommando der Wehrmacht von 1936 bei der Sophienterrasse sowie die Kirche St. Nicolai von 1960/1962. Im Straßenverlauf erkennbar ist das sozialtopografische Gefälle: freistehende repräsentative Einzelbauten mit opulentem Fassadenschmuck inmitten großzügiger Gartengrundstücke, am sogenannten „nassen Teil“ mit Alsterblick, und von der Alster wegführend, im „trockenen Teil“, kleinere Doppel- oder Reihenvillen mit Putzfronten. Entsprechend befinden sich in diesem Teil der Straße nur drei der achtzehn denkmalgeschützten Wohnhäuser.
Neben den Gebäuden sind in der Liste der erkannten Denkmäler der Stadt Hamburg weitere sechs Objekte im Harvestehuder Weg und seiner unmittelbaren Umgebung eingetragen. Dazu gehören das Alstervorland mit dem 1953 nach dem Entwurf von Gustav Lüttge entstandenen Alsterpark, der Bootsanleger Alte Rabenstraße insbesondere wegen seiner Jugendstilelemente, ein 1943 errichteter Luftschutzbunker auf dem Grundstück Harvestehuder Weg 10/12, ein Denkmal für den Dichter Friedrich Hagedorn im Eichenpark, eine Denkmalplakette für Heinrich Heine auf dem Grundstück Harvestehuder Weg 41 sowie die von Fritz Schumacher geschaffene Krugkoppelbrücke.
=== Östliche Straßenseite ===
Die zur Außenalster gelegene östliche Straßenseite ist seit Anfang der 1950er Jahre weitgehend im Eigentum der Stadt Hamburg und mit großzügigen Parkanlagen und Bootsanlegern als öffentlicher Raum konzipiert. Auch die Bebauung am Ende des Eichenparks in Richtung der Straße Frauenthal fand auf städtischem Grund statt, die dortigen Häuser Nummer 78 bis 84 gehören zum Bestand des städtischen Wohnungsunternehmens SAGA.
==== Alte Rabe ====
Der Harvestehuder Weg beginnt bei dem Fähranleger Alte Rabenstraße, der als Haltepunkt der Alsterschifffahrt und als Bootssteg sowie zum Bootsverleih dient. In den Sommermonaten ist dort ein Gastronomiebetrieb eingerichtet. Dieser Ort bestand bereits im 18. Jahrhundert als Ausflugslokal, das De Rave genannt wurde. Bei der späteren Übertragung ins Hochdeutsche wurde aus einer Artikelverwechslung daraus Die Rabe. Nachdem um 1800 vor dem Dammtor ein weiteres Gasthaus als Die Neue Rabe eröffnet worden war, erweiterte man den Namen zu Die Alte Rabe. Überliefert ist, dass es sich um einen viel besuchten Gastronomieort mit guter Küche handelte, der zudem durch die Anlegestelle für Alsterarchen (Boote, die mit einem Dach aus Segeltuch überspannt waren) gut erreichbar war. Mit Beginn der Alsterschifffahrt 1859 wurde der Anleger zum Einsatzplatz der Fähre nach St. Georg. Die heutige Anlegebrücke stammt aus dem Jahr 1909, sie steht einschließlich des Pontons, der schmiedeeisernen Balustraden und der Lampen im Jugendstil als Ensemble unter Denkmalschutz.
Das Straßenschild Ecke Alte Rabestraße/Harvestehuder Weg schuf Oberbauingenieur Franz Andreas Meyer (1837–1901) als schmiedeeiserne Konstruktion mit der Figur eines Raben zur Erinnerung an die Gaststätte. Über diese Figur ist durch den Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1892–1968) die Anekdote überliefert, dass der Rabe während der Novemberrevolution von 1918 die Brille eingebüßt habe. Darum schrieb „ein jüngerer, zu Scherzen geneigter Bekannter“ einen rührenden Brief an die Bau-Deputation, in dem er unter dem Vorwand, eine 80-jährige Bewohnerin der Alten Rabenstraße zu sein, um die Wiederherstellung des Urzustandes bat; sie, die alte Dame, könne nicht im Grabe ruhen, bevor der Alte Rabe seine Brille wieder hätte. Ein paar Wochen später wurde die Brille wieder angebracht.
==== Alstervorland ====
Das Alstervorland ist mit der Aufstauung der Alster im 13. Jahrhundert als sumpfige und häufig überschwemmte Wiese entstanden. Es diente bis in das 19. Jahrhundert saisonal als Weidefläche. Ab 1850 wurde mit der Errichtung neuer Schleusen der Wasserspiegel der Alster um einen Meter gesenkt; die Wiesen wurden damit weitgehend trockengelegt. Mit der Erschließung der Grundstücke des Harvestehuder Wegs legten die Eigentümer im Alstervorland ihre Gärten an. Eine Bebauung war nach den baurechtlichen Bestimmungen des 19. Jahrhunderts, die 1953 in die Außenalster-Verordnung einflossen, ausgeschlossen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts plante der Oberbauingenieur Franz Andreas Meyer (1837–1901) eine Ringstraße um die Alster, die den öffentlichen Zugang zu den Ufern ermöglichen sollte; im Bebauungsplan von 1902 war das Harvestehuder Vorland als öffentliche Grünanlage ausgewiesen. Doch erst nach einem von Bürgermeister Max Brauer 1950 im Senat durchgebrachten Beschluss, die kleinteiligen privaten Gärten zu enteignen, konnte ein öffentlicher Park gestaltet werden. Die Umsetzung erfolgte 1953 anlässlich der Internationalen Gartenbauausstellung (IGA). Nach dem Entwurf des Gartenarchitekten Gustav Lüttge (1909–1968) wurde der Harvestehuder Teil des Alsterparks mit einer Promenade, mit Brücken, einem Rondell, Skulpturen und einem Teich angelegt. Der Alsterpark führt ganz um die Außenalster herum. Im Alstervorland befinden sich auch die Fähranleger der Alsterschifffahrt, der Anleger Alte Rabenstraße am Beginn des Harvestehuder Wegs und etwa in der Mitte der Anleger Fährdamm.
==== Eichenpark ====
Am Ende des Vorlands wurde 1892 die Krugkoppelbrücke errichtet. 1927/1928 schuf Fritz Schumacher anstelle der ersten Holzkonstruktion die noch bestehende Stahlbetonbrücke mit Backsteinoptik. Sie markiert den Übergang vom Alsterfluss zum Alstersee, zugleich trennt ihre Auffahrtsstraße den
Eichenpark vom Alstervorland. Beiderseits der Brücke befindet sich ein weiterer Anleger der Alsterschifffahrt, jeweils für eine Fahrtrichtung. Während die Schiffe vor ihrer Fahrt flussaufwärts am bereits zu Winterhude gehörenden Teil des Anlegers festmachen, ist für die abwärts fahrenden Alsterdampfer eine Landebrücke am Eichenpark vorgesehen. Diese Grünanlage mit gut 200 Meter Länge liegt zwischen Alster und Harvestehuder Weg. Sie ist, ihrem Namen entsprechend, vor allem mit Stieleichen besetzt. Einzelne Bäume, die die Brandschatzungen der Franzosenzeit überstanden haben, sind über 200 Jahre alt. Die Fläche gehörte zu dem Gelände des ehemaligen Klosters Harvestehude, der Standort der Klostergebäude im westlichen Teil ist überbaut. Eine Erinnerungstafel enthält die wichtigen Daten der Geschichte des Ortes. Der Park wurde 1785 auf der zum Klosterwirtshaus gehörenden Weide, der Krugkoppel, als Englischer Landschaftsgarten angelegt. Damals waren die Ausflüge vor die Stadt und zu dem Klosterkrug sehr beliebt.
1897 setzte die Stadt Hamburg nach langen Diskussionen um dem richtigen Standort dem Dichter Friedrich von Hagedorn (1708–1754) in diesen Park einen Gedenkstein, da dort einer seiner Lieblingsplätze gewesen sein soll. Er widmete ihnen die Gedichte Ode an die Alster und Harvestehude. Überliefert ist zudem, dass er oftmals unter einer bestimmten Linde auf dem Licentiatenberg saß, die lange Jahre Hagedorn-Linde genannt wurde und als sein Denkmal galt.Auch ein weiteres Denkmal bekam erst nach langen Jahren seinen Platz im Park. Im Auftrag des Hamburger Senats schuf der Bildhauer Friedrich Wield (1880–1940), Mitglied der Hamburgischen Sezession, zwischen 1931 und 1933 die Bronzefigur Ätherwelle. Sie erinnert an den Physiker und Sohn der Stadt Heinrich Hertz (1857–1894), dem 1886 der Nachweis von elektromagnetischen Wellen gelang. Das nationalsozialistische Regime verhinderte jedoch die Aufstellung, da Hertz Jude war. Erst aufgrund der Initiative von Boris Kegel-Konietzko, dem Erben und Verwalter des Nachlasses Friedrich Wields, wurde die Gipsfigur 1985 durch den Bildhauer Manfred Sihle-Wissel restauriert und 1987 von der Kunstgießerei Schmäke in Düsseldorf in Bronze gegossen. Das Denkmal sollte zunächst in der Grünanlage vor dem Funkhaus des NDR an der Rothenbaumchaussee aufgestellt werden, doch 1994 fand es zwischenzeitlich am Alsterufer seinen Platz. Seit 2016 steht es doch vor dem Funkhaus.
==== St. Nikolai ====
Die Harvestehuder Nikolai-Kirche und ihre Gemeindegebäude belegen die Grundstücke Nr. 112 bis 118. Das Ensemble wurde Anfang der 1960er Jahre gebaut und die Kirche 1962 als neue fünfte Hamburger Hauptkirche geweiht als Ersatz für die kriegszerstörte und als Mahnmal dienende ehemalige St.-Nikolai-Kirche am Hopfenmarkt in der Hamburger Innenstadt. Entworfen wurde sie von den Architekten Gerhard und Dieter Langmaack, in ihrer Ausstattung korrespondiert sie mit der alten Kirche; so ist das von Oskar Kokoschka entworfene Altarbild Ecce Homines (Seht die Menschen) von 1974 ein Pendant zu dem gleichen Mosaik in schwarz-weißer Ausführung im Chorraum der Mahnmal-Kirche. Das große Kirchenfenster war von der Glasmalerin Elisabeth Coester (1900–1941) für die alte Kirche entworfen aber aufgrund des Krieges nicht eingebaut worden. So fand es unzerstört seinen Platz in der Eingangshalle der jetzigen Nikolai-Kirche. Die Kirche war in vielen Jahren Treffpunkt der Ostermarsch-Bewegung.
Vorbesitzer des Grundstücks war im 19. Jahrhundert der Oberalte Johann Jürgen Nicolas Albrecht. Um 1900 wurde es mit Villen bebaut. 1911 lebte in der Nr. 114 Otto Meyer, Alleininhaber der Firma Otto Meyer jr. und in der Nr. 116 der Direktor der Vereinsbank, Christian E. Frege.
=== Westliche Straßenseite – Alte Rabenstraße bis Milchstraße ===
==== Böckmannscher Garten ====
Bis 1856 bestand auf dem Grundstück mit den Hausnummern 1 bis 4 der Böckmannsche Garten. Die Familie Böckmann hatte seit 1680 über mehrere Generationen das Gelände von der Alten Rabenstraße bis zur Milchstraße gepachtet und als Gartenland genutzt. Ab Anfang des 19. Jahrhunderts waren nach und nach einzelne Grundstücke am Harvestehuder Weg abgegeben worden, das Eckgrundstück mit den Wirtschaftsgebäuden der Gärtnerei war das letzte im Besitz der Familie. Um 1880 wurde auch dieses bebaut, es entstand ein großes Wohnhaus im Tudorstil, das als Reihenvilla die Hausnummern 1 bis 4 trug. Das Haus stand nicht in einer Bebauungslinie mit den folgenden Einzelvillen und war deutlich zur Straße vorgezogen. Unter dieser Adresse lebten um die Jahrhundertwende mehrere Persönlichkeiten der Stadt, unter anderem der Seidenfabrikant und Gründer der Vaterstädtischen Stiftung, Johann Rudolf Warburg und seine Frau Bernhardine Warburg (1870–1925) und der Millionär F.F. Smith. Während des Nationalsozialismus war in den Gebäuden die Hamburger Dienststelle der Kriegsmarine untergebracht. Im Krieg wurde es zerstört.
1953 wurde das Grundstück in einer Gesamtgestaltung der Eckgrundstücke der Alten Rabenstraße durch den Architekten Ferdinand Streb neu bebaut. Es entstand ein Pendantbau zum gegenüberliegenden Iduna-Germania-Gebäude, zu dessen ausschwingendem Südflügel der kubische Eckbau als Kontrapunkt gesetzt ist. Das Verwaltungsgebäude war für die Vela-Versicherung errichtet worden, in den 1960er Jahren bezog die Deutsche Grammophon das Haus. Nach einem Umbau wurde der Eingang verlegt, seitdem dient es als Bürohaus mit verschiedenen Mietern und ist ausschließlich über die Alte Rabenstraße 32 zu erreichen, die Adresse Harvestehuder Weg 1–4 wurde aufgehoben.
==== Slomanburg ====
Die Doppelvilla wurde 1848 auf dem Grundstück der Gärtnerei Böckmann von dem Architekten Jean David Jollasse mit der Nr. 5 für den Reeder Robert Miles Sloman (1783–1867) und mit der Nr. 6 für den Kaufmann und Senator Ascan Wilhelm Lutteroth (1783–1867) errichtet. Wegen ihres burgartigen Aussehens mit Türmen, Staffelgiebeln und einem zinnenbesetzten Hauptgesims wird sie auch Slomanburg genannt. Sie war das erste Gebäude am Harvestehuder Weg, das als Hauptwohnsitz konzipiert war:
1911 lebten in der linken Hausseite die aus einer hugenottischen Familie stammenden Kaufleute Louis und Ad. Th. Des Arts. Beide gehörten als Teilhaber der Firma Des Arts & Co. zu den reichsten Familien Hamburgs. Louis Des Arts war der Eigentümer dieses Gebäudeteils. Die rechte Haushälfte gehörte einem weiteren Millionär, dem Amtsrichter Martin Anton Popert. Seit 1972 steht die gesamte Villa unter Denkmalschutz.
==== Horschitz-Villen ====
Die Grundstücke der Hausnummern 7 und 8 wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrfach parzelliert, so dass bei der amtlichen Nummerierung die Zwischennummern a und b vergeben wurden. Auf dem Grundstück Nr. 7 wurde 1852 das Sthamersches Landhaus der Familie Sthamer errichtet. 1883 übernahm Robert Miles Sloman jun. (1812–1900) das Gelände und ließ eine ganzjährig zu bewohnende Villa bauen. Diese überließ er 1890 seiner Tochter Stefani Brödermann (1848–1945), die bis zu ihrem Tod dort lebte und 1911 als eine der reichsten Frauen der Stadt galt. Um 1970 wurde das Grundstück zusammen mit dem Nachbargrundstück Nr. 7a mit einem Appartementehaus neubebaut. Neben der Wohnung befindet sich dort auch das chilenische Generalkonsulat. Das Gelände gehört noch den Erben der Familie Sloman.
Die Grundstücke Nr. 7a, 7b und 8 gehörten in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Familie Doormann, die dort ihr Landhaus hatte. Um 1870 erwarb sie der Kaufmann Sally Horschitz (1822–1883) und ließ 1872 bei der Nr. 8 durch den Architekten Albert Rosengarten eine Villa in klassizistischer Tradition mit Belvedere, Portikus und Dreiecksgiebel bauen. Bereits 1879 verkaufte er das Haus wieder und ließ an dessen linker Seite bei der Nr. 7 b eine weitere Villa errichten. Auch das Grundstück 7a wurde 1879 bebaut, hier lebte der Kapitän und Kaufmann Johannes Lühmann. 1921 musste er Insolvenz anmelden und die Villa verkaufen. 1890 bezog die Preußische Gesandtschaft das Haus Nr. 7b, 1912 kam die ältere Villa Horschitz Nr. 8 hinzu. Von 1921 bis 1945 übernahm die Stadt Hamburg alle drei Villen für die Oberfinanzdirektion.
Nach dem Krieg beschränkte sich die Behörde auf das Gebäude Nr. 7b, 1967 zog sie in den Harvestehuder Weg 14 um. Das Haus Nr. 7a wurde um 1970 abgerissen und zusammen mit dem Grundstück Nr. 7 überbaut. Die Horschitz-Villa auf Nr. 8 war ab 2000 wegen teurer Sanierung und mehrmaliger Verkäufe im öffentlichen Interesse.
==== Villa Laeisz ====
Das Grundstück mit der Hausnummer 8a wurde von dem Reeder Carl Laeisz (1828–1901) bereits 1870 erworben. Nach seinem Tod ließ die Witwe Sophie Laeisz (1831–1912) die Villa in den Jahren 1905/1906 durch den Architekten Ernst Paul Dorn errichten, sie sollte ihr Altersruhesitz werden. Der Bau gilt als zurückhaltender Jugendstil, überlagert durch spätbarocke Formen und betont mit seinem Gliederungsschema durch Säulen und Balkone die Mitte der Hausfassade. Die pavillonartigen Vorbauten werden als Reminiszenz an den Architekten Martin Haller angesehen.Nach Sophie Laeisz’ Tod blieb die Villa noch zwei Jahre im Eigentum der Familie und wurde von ihrem Enkel Erich Laeisz (1888–1958), dem Erben der Reederei, bewohnt. 1914 übernahm der im chilenischen Salpeter-Geschäft reich gewordene Kaufmann Hermann Fölsch das Haus. Zwischen 1920 und 1923 ließ er durch den Architekten Georg Radel umfassende Umbaumaßnahmen durchführen. 1928 ging das Haus auf den Sohn Conrad Johann Fölsch über. Der Börsenkrach von 1929 führte zum Zusammenbruch der Firma Fölsch, das Unternehmen musste 1930 liquidiert werden, die Einrichtung des Hauses sowie zahlreiche Antiquitäten, Sammlungs- und Kunstgegenstände wurden im Juni 1931 versteigert. Das Haus selbst konnte anscheinend zunächst gehalten werden, Conrad Fölsch lebte dort bis 1934.
Im April 1934 wurde die Villa durch den gleichgeschalteten Hamburger Senat gekauft, die Umstände legen nahe, dass es sich um einen Zwangsverkauf handelte, der Kaufpreis betrug 115.000 Reichsmark statt des veranschlagten Wertes von 238.000 Reichsmark. Der Kauf fand auf Anordnung der SS (Oberabschnitt Nord-West) statt, die das Haus übernahm und ihre Dienststelle dort einrichtete. Dieses Verfahren wurde rechtlich durch eine Anordnung des Reichsministers für Finanzen vom 3. März 1934 gedeckt, nach der der NSDAP und ihren Gliederungen staatliche und öffentliche Gebäude überlassen werden mussten. Bis 1945 wurden zahlreiche Umbauten und Erweiterungen vorgenommen, ab 1942 unter Einsatz von Häftlingen aus dem KZ Neuengamme.Nach der Einnahme Hamburgs beschlagnahmten britische Truppen Gebäude und benutzten es zunächst als Lagerraum und Kleiderkammer. 1949 ließ es der Landeskommissar und spätere britische Generalkonsul John K. Dunlop als „Wohn- und Gästehaus für eigene Zwecke“ einrichten, mit einem weiteren Umbau erweiterte er das Haus 1952 für das Britische Generalkonsulat, das dort bis 2006 residierte. 1986 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Im Mai 2008 übernahm die Sal. Oppenheim-Privatbank die Villa.
==== Musikhochschule ====
Mitte des 19. Jahrhunderts befanden sich auf den Grundstücken der Hausnummern 10 bis 12 die Landhäuser der Hamburger Familien H. A. Hellmrich, S. Albrecht und Robert Miles Sloman. Grundstück Nr. 11 wurde 1872 mit einer Villa bebaut, in der zunächst der Millionär S. Löwenstein und später der Innenarchitekt Kurt Clavier lebte. Auf dem Grundstück Nr. 12 errichtete der Architekt Martin Haller 1884 ein Haus für den Schiffsmakler Ivan Gans. Um 1900 kauften es Henry (1840–1927) und Emma Budge (1852–1937) und ließen es von Haller zu dem später so genannten Budge-Palais erweitern. Von der Villa Gans sichtbar erhalten sind der mittlere, zweigeschossige Trakt und die beiden Außenflügel mit Erkern. Zur Alsterseite hin wurde das Gebäude mit dem halbrunden Mittelrisaliten und den ausgebauten steilen Dächern erweitert. In den Jahren 1909/1910 kam auf der Rückseite ein Saalanbau hinzu, der als Spiegelsaal eingerichtet, privaten Theater- und Musikaufführungen diente. Das Grundstück Nr. 10 wurde 1910 für Hermann Blohm (1848–1930), dem Gründer der Werft Blohm + Voss, bebaut; zur Unterscheidung von anderen Bauten der Familie Blohm am Harvestehuder Weg wurde das Gebäude als Villa Blohm I bezeichnet.
Diese drei Villen wurden während der Zeit des Nationalsozialismus Amts- und Wohnsitz des Hamburger Reichsstatthalters Karl Kaufmann; in seiner zweiten Funktion als Gauleiter residierte er in der großen Villa Am Alsterufer 27, dem heutigen Amerikanischen Generalkonsulat. 1935 erwarb Kaufmann zunächst die Villa von der Familie Blohm bei der Nr. 10 und richtete dort ein Verwaltungsgebäude ein. Anschließend machte er Emma Budge ein Kaufangebot, das diese jedoch ablehnte. Nach ihrem Tod 1937 brachte die Stadt Hamburg, durch Druck auf die jüdischen Erben und Testamentsvollstrecker, das Haus in ihren Besitz. Missachtet wurde dabei der letzte Wille Emma Budges, die ihre 1932 mit dem damaligen Staatsrat Leo Lippmann ausgehandelte Vereinbarung der Schenkung des Hauses an die Stadt, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in ihrem Testament widerrief und ausdrücklich verfügte, dass das Haus nicht in das Eigentum Hamburgs übergehen dürfe. Die letzten Bewohner der Villa, Henry Budges Neffe Siegfried Budge (1869–1941) und seine Ehefrau Ella Budge (1875–1943), mussten nach dem Eigentumsübergang das Haus verlassen, beide starben während der weiteren Verfolgung durch die Nationalsozialisten.Der Eigentümer des Hauses Nr. 11, Kurt Clavier, wollte 1938 sein Haus an das ägyptische Konsulat verkaufen, doch wurde ihm die dazu notwendige Genehmigung verweigert. Stattdessen nahm die Hamburger Grundstücksverwaltungsgesellschaft die Villa unter Treuhand und verkaufte sie 1939 zu einem deutlich reduzierten Preis an die Stadt Hamburg. Das Vermögen Claviers wurde durch die Oberfinanzdirektion mit einer Sicherungsanordnung nach dem Devisengesetz versehen; Clavier gelang die Emigration nach Südafrika.Die Reichsstatthalterei bezog 1938 das Budge-Palais (die Villen auf den Grundstücken Nr. 10 und 11 wurden in den Komplex als Verwaltungstrakte und Angestelltenhäuser einbezogen). Auf dem hinteren Grundstück zwischen Nr. 10 und 11 ließ Kaufmann 1939/1940 für sich und seinen Stab einen Bunker einrichten. Dieser wurde im April 2010 unter Denkmalschutz gestellt.
1945 beschlagnahmten die britischen Truppen die drei Gebäude und belegten sie bis 1955. Im Haus Nr. 10 kam zeitweilig die Gerichtsmedizin unter. In einem Wiedergutmachungsverfahren handelte der von den Nationalsozialisten eingesetzte und nach 1945 nicht abgesetzte Testamentsvollstrecker Emma Budges mit der Stadt Hamburg einen Vergleich über den Grundstückskomplex Harvestehuder Weg 12 aus, ohne dass die in den USA lebenden Erben benachrichtigt wurden. Am 10. November 1952 wurde nach einem Beschluss des Landgerichts Hamburg der Budge-Palais einschließlich der Nebengrundstücke für einen Nachzahlungsbetrag von 22.500 DM an die Stadt veräußert.Seit 1959 wird das Budge-Palais von der Hochschule für Musik und Theater genutzt. Zu deren Erweiterung wurden die ehemalige Blohm-Villa 1960 und die ehemalige Clavier-Villa 1964 abgerissen, der 1909 errichtete Spiegelsaal wurde abgetragen. Sein Interieur konnte im Museum für Kunst und Gewerbe untergebracht und dort 1986 rekonstruiert werden. Die Anbauten der Musikhochschule wurden nach Entwürfen des Architekten Fritz Trautwein (1911–1993) zwischen 1969 und 1982 errichtet. 1974 schuf der Künstler Jan Meyer-Rogge die Skulptur Dreiklang aus Leichtmetall, die vor der ehemaligen Hausnummer 11 installiert ist. Seit 1993 erinnert am Eingang Milchstraße eine Bronzetafel an Henry und Emma Budge und im Sommer 2007 wurden zum Gedenken an Ella und Siegfried Budge zwei Stolpersteine in den Gehweg gesetzt.
=== Westliche Straßenseite – Milchstraße bis Klosterstern ===
==== Villa Beit und Villa Behrens ====
Auch die Grundstücke Nr. 13 bis 15 waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts teilweise mit Landhäusern namhafter Hamburger Familien bebaut. Bei der Nr. 13 stand das Sommerhaus des Kaufmanns Johann Friedrich Carl Refardt sen. (1800–1871), das dieser 1848 gekauft hatte. 1890/1891 errichtete der Architekt Martin Haller an seiner Stelle ein imposantes Haus für Johanna Beit, die Witwe des Chemikers Ferdinand Beit (1817–1870). Nach ihrem Tod erbte ihr Sohn Ferdinand Beit jun. (1858–1928) die Villa. Bemerkenswert an diesem Bau sind insbesondere die Remise und die Wirtschaftsgebäude mit zahlreichen Türmchen und Vorbauten im Hof des Eingangsbereichs an der Milchstraße, der als cour d’honneur bezeichnet wird.
Nr. 14 war ein 1845 von dem Architekten Alexis de Chateauneuf für Frau von Heß, geborene Hudtwalcker, errichtetes Haus und Nr. 15 gehörte dem Kaufmann C. F. Michahelles. Auf dem Grundstück Nr. 14 baute Haller bereits 1866 für den Kaufmann Isaac Joseph Jaffé (1806–1890) ein Wohnhaus. Der Bankier Eduard L. Behrens kaufte es 1896 mitsamt dem Nachbargrundstück Nr. 15. Haller wurde mit der Erweiterung und Zusammenführung der Bauten beauftragt. Es entstand ein langgestrecktes Gebäude, das an eine Schlossanlage erinnert. Zusammen mit dem Budge-Palais gilt diese Reihung weiß verputzter großer Villen des Architekten Haller als Inbegriff der Alsterarchitektur. Die Eigentümer Beit und Behrens gehörten bis zur Zeit des Nationalsozialismus zu den reichsten Familien Hamburgs, sie galten als großzügige Mäzene und unterstützten materiell wie ideell unter anderem den Ausbau der Kunsthalle und der Universität. Sie waren assimilierte Juden, evangelisch getauft und teilweise durch Heirat mit anderen Hamburger Kaufmannsfamilien verwandt und verschwägert. Insbesondere gehörten sie durch ihre wirtschaftlichen und politischen Tätigkeiten zur Hamburger Oligarchie. Nach der Machtübernahme griffen die Nationalsozialisten in die Vermögensverhältnisse ein, sowohl die Erben Beits als auch die Familie Behrens mussten ihre Grundstücke und Villen am Harvestehuder Weg an die Stadt Hamburg verkaufen. In die Villa Beit zogen Angestellte der Reichsstatthalterei ein, die Villa Behrens wurde ab 1939 von der Wehrmacht belegt.
Nach dem Krieg beschlagnahmten die Briten die Villen, bis 1950 war dort unter anderem eine britische Offiziersmesse untergebracht. In der Nr. 13 residierte ab 1952 die Olympic Maritime, eine Reederei im Imperium von Aristoteles Onassis, das Haus wurde für deren Zwecke von dem Architekten Cäsar Pinnau umgebaut. In die Villa Nr. 14 zog 1967 die Oberfinanzdirektion ein. Beide Villen wurden Ende der 1990er Jahre von der Modemacherin Jil Sander erworben, in der Nr. 14 ist die Modefirma Jil Sander Collection GmbH untergebracht. Seit 1993 stehen die Häuser einschließlich ihrer Nebengebäude und Remisen unter Denkmalschutz.
==== Landhäuser Eybe und Amsinck ====
Die Grundstücke mit den Hausnummern 18 bis 20 haben die längste Bebauungsgeschichte im ehemaligen Gartenland. So errichtete der Architekt Johann August Arens bei der Nr. 18/19 in den Jahren 1795/1796 ein Landhaus für den Senator Nicolaus Bernhard Eybe (1749–1821) und im Jahr 1802 auf dem benachbarten Grundstück Nr. 20 ein Landhaus für die Familie des Hamburger Bürgermeisters Wilhelm Amsinck (1752–1831). Das Grundstück hatte bereits dessen Vater Paul Amsinck (1714–1777) im Jahr 1776 erworben. Beide Häuser wurden 1813 während der Franzosenzeit zerstört und anschließend wieder aufgebaut. Um 1850 befanden sich am gleichen Ort die Landhäuser der Söhne Wilhelm Eybe (1783–1852), ebenfalls Senator, und Johannes Amsinck (1792–1879), Kaufmann.
Das Grundstück Nr. 18 und 19 wurde am Ende des 19. Jahrhunderts parzelliert, es entstanden zwei Villen. 1911 lebte in der Nr. 18 der Jurist Wilhelm Anton Riedemann, Mitbegründer der Deutsch-Amerikanischen Petroleum Gesellschaft und in der Nr. 19 Gerhard Bruns, Teilhaber der Holzimportfirma Goßmann & Jürgens und Mitbegründer der Hamburger Wissenschaftlichen Stiftung. 1925 übernahm Rudolf Blohm das Grundstück Nr. 19 und ließ es mit einer Villa bebauen, der so genannten Villa Blohm II. Wegen seiner Verstrickungen in der nationalsozialistischen Rüstungspolitik wurde dieses Haus 1945 von der britischen Besatzungsmacht beschlagnahmt. Es wurde in den 1950er Jahren in ein Mehrfamilienhaus umgewandelt. Prominente Mieter waren Gustaf Gründgens und Oscar Fritz Schuh. Auch das Grundstück Nr. 19 wurde um 1930 neu bebaut. Dort entstand ein zweistöckiges Bürogebäude aus Backstein mit hohem Säuleneingang, das heute noch so genutzt wird. Unter anderem hat hier das Container-Leasing-Unternehmen des ehemaligen Wirtschaftssenators Ian Karan seinen Sitz.
Das Grundstück Nr. 20 blieb im Besitz der Familie Amsinck. 1885 baute Martin Haller für den Reeder Martin Garlieb Amsinck (1831–1905) anstelle des alten Landhauses eine repräsentative Villa. Nach Martin Amsincks Tod bezogen seine Tochter Clara und sein Schwiegersohn, der spätere Bürgermeister von Hamburg, Max Predöhl (1854–1923), das Haus. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude bei einem Bombenangriff zerstört. 1953 entstand dort eine große klassizistische Villa, die bis in das Jahr 2004 das Französische Konsulat beherbergte.
==== Sophienterrasse ====
Das Gelände des nördlichen Alsterkamps, zwischen Harvestehuder Weg, Mittelweg und Klosterstieg kaufte 1818 der Bauunternehmer Christian Diederich Gerhard Schwieger von der Stiftung des St. Johannisklosters. Den Teil südlich der Sophienterrasse parzellierte er und verkaufte die einzelnen Grundstücke, heute Nr. 27 bis 36, weiter.
Das Grundstück Nr. 27 kaufte 1830 der Senator Ami de Chapeaurouge, der den Architekten Alexis de Chateauneuf mit dem Bau eines Landhauses beauftragte. 1894 übernahm der Diamantenhändler Alfred Beit (1853–1906) das Gelände, ließ das alte Haus abbrechen und eine neue Villa errichten. Nach seinem Tod lebte seine Mutter, Laura Beit (1824–1918), in dem Haus. 1928 wurde das Grundstück abermals neu bebaut, der jüdische Kommerzienrat Schöndorff ließ ein großes Haus mit imposantem, eichengetäfeltem Treppenhaus errichten. Doch lebte er nur kurz an diesem Ort, nach seinem erzwungenen Rücktritt aus dem Aufsichtsrat der Karstadt AG am 29. März 1933 emigrierte er. Das Haus wurde von der Hamburger SA-Obergruppe unter Herbert Fust in Besitz genommen. Nach Kriegsende zog die britische Geheimpolizei in das Gebäude ein. 1966 wurde es abgerissen und das Grundstück mit Mehrfamilienhäusern im Appartementstil neu bebaut. Prominenter Bewohner eines der Appartements war der Schauspieler Harry Meyen. 1962 wurde im rückwärtigen Teil des Grundstücks eine kleine Straße angelegt, mit der unter anderem das Grundstück Nr. 28 erschlossen wird, sie wurde in Erinnerung an den Vorbesitzer Alfred-Beit-Straße genannt.
Ab 1860 war der Kaufmann und spätere Konsul Julius Friedrich Wilhelm Reimers der Eigentümer der Grundstücke Nr. 28 bis 36, die bis an den Mittelweg heranreichten. Zur Erschließung legte er 1861 eine Privatstraße an und benannte sie nach seiner Frau Maria Sophie Frederica Reimers (1826–1918) Sophienterrasse. Bei der späteren Hausnummer 30 ließ er die Villa Sophia, einen „von Zinnen bewehrten, palaisartiges Bau“ errichten.Nach 1900 wurde das Gelände ein weiteres Mal parzelliert; Erich Laeisz kaufte das Grundstück Nr. 28 und baute dort von 1915 bis 1921 eine Villa, die er das „Haus seiner Träume“ nannte. Es wurde bei einem Bombenangriff 1944 zerstört, wie auch die Reithalle, Remisen und Garagen im hinteren Teil des Grundstücks. 1964 wurde auf diesem Gelände das Wilhelm-Gymnasium errichtet. Christina Mitzlaff-Laeisz, die Tochter von Erich Laeisz, ließ 1963 auf dem väterlichen Grundstück ein neues Wohnhaus errichten. Durch die Erschließung über die neue Zufahrtsstraße bekam es die Adresse Alfred-Beit-Straße 8.Das Grundstück Nr. 36 wurde 1920 durch Otto Blohm (1870–1944), einem Vetter Walter und Rudolf Blohms, und seiner Frau Magdalene (1879–1952) mit einer Villa bebaut, zur Unterscheidung Villa Blohm III genannt. Das Haus wurde im Krieg beschädigt, konnte aber noch bewohnt werden. In den 1960er Jahren war dort die Allianz-Versicherung untergebracht. 1965 wurde das Haus abgerissen und das Gelände mit Appartementhäusern bebaut. 2009 übernahm die Investmentfirma Peach Property Group AG dieses Grundstück. Sie plant den Abriss der Appartements und den Neubau von fünf vierstöckigen Gebäuden mit insgesamt 63 Eigentumswohnungen im obersten Preissegment.
Der große Mittelteil des Geländes mit der Villa Sophia wurde 1935 vom Deutschen Reich gekauft und mit einer Standortkommandantur und verschiedenen Wirtschaftsgebäuden bebaut. Dort war das Generalkommando des Wehrkreis X. der Wehrmacht untergebracht. Die Entwürfe für diesen umfangreichen Baukomplex mit monumentaler Dreiflügelanlage und einem durch strenge Pfeiler geordnetem Mittelrisalit stammten von den Architekten Distel & Grubitz. Die Villa Sophia wurde durch den Kommandanten des X. Armeekorps, General Wilhelm Knochenhauer (1878–1939), bezogen, von 1939 bis 1945 hieß die Sophienterrasse General-Knochenhauer-Straße. Nach dem Krieg kamen die britischen Truppen in dem Militärgelände unter, von 1956 bis 2005 war dort das Standortkommando der Bundeswehr in Hamburg untergebracht.
Mit dem Auszug der Bundeswehr wurde das rund 7,6 Hektar große Grundstück für die Stadtplanung interessant. 2006 erwarb die Frankonia Eurobau Investment das Areal für einen geschätzten Kaufpreis zwischen 35 und 40 Millionen Euro. Nach dem im Januar 2008 verabschiedeten Bebauungsplan für das Bauprojekt Sophienterrassen im Bezirk Eimsbüttel sollen unter Einbeziehung der denkmalgeschützten Standortkommandantur rund 200 Wohneinheiten in Stadthäusern, etwa 6000 Quadratmeter Büroflächen und etwa 420 Tiefgaragenstellplätze entstehen. Der Masterplan für das Gelände zwischen Mittelweg und Harvestehuder Weg stammt von der Hamburger Architektin Mirjana Markovic (MRLV Architekten). Der Flügelbau der ehemaligen Standortkommandantur wurde entkernt und soll mit Wohnungen eine neue Nutzung erfahren. Teile des Innendesigns der Anlage sollen durch den Modeschöpfer Karl Lagerfeld vorgenommen werden. Am Harvestehuder Weg errichtete Frankonia fünf weitere Wohnhäuser mit jeweils mehreren Wohnungen. Mit direktem Bezug zur Alster stehen an den Hausnummern 29 und 33 zwei mit Sandstein verkleidete Stadthäuser von Mirjana Markovic, dahinter mit den Hausnummern 30 bis 32 drei klassizistische Wohnhäuser von Petra und Paul Kahlfeldt, Berlin.
==== Hoffmann und Campe ====
Auf den Grundstücken Nr. 41 bis 45 ist seit der Nachkriegszeit der Verlagskomplex von Hoffmann und Campe angesiedelt. Er besteht aus vier Einzelhäusern unterschiedlicher Geschichte und Architektur. Die Nr. 41 war die ehemalige Villa Krogmann, sie wurde 1878 durch den Architekten Martin Haller für die Familie Krogmann errichtet. Es ist ein für die Alsterarchitektur ungewöhnlicher Backsteinbau mit einer Giebelkrönung im Renaissance-Stil. Der Erbe Carl Vincent Krogmann war in der Zeit des Nationalsozialismus Bürgermeister von Hamburg, er richtete das Haus als Reichsgaupropagandaamt ein. Das Haus wurde 1945 von der britischen Besatzungsmacht beschlagnahmt und dem Hoffmann und Campe Verlag von der britischen Militärbehörde anstelle ihrer kriegszerstörten alten Räumlichkeiten im Neuen Wall als Verlagsgebäude zugewiesen. Neben dem Gebäude wurde 1959 die von dem Bildhauer Caesar Heinemann geschaffene bronzene Heinrich-Heine-Plakette angebracht. Sie war 1898 vor dem alten Verlagshaus zum ersten Mal enthüllt und während des Nationalsozialismus abmontiert und versteckt worden. Sie ist damit das einzig originale Denkmal an den Dichter, das die Zeit des Nationalsozialismus überstanden hat. Das ehemalige Haus des Bürgermeisters Krogmann wird seither Heine-Villa genannt. 2022 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt.Im Laufe der folgenden Jahre kaufte der Verlag nach und nach die benachbarten Häuser und Grundstücke hinzu. Die Nr. 43 ist eine 1873 erbaute klassizistische weiße Villa. Von 1935 bis 1945 residierten dort der Konsul und Vorsitzende des Vereins Hamburger Schiffsmakler, Guido Caulier-Eimbcke, und sein Schwiegersohn, der Geograf und Forschungsreisende Otto Schulz-Kampfhenkel. Das Gebäude Nr. 45 ist ein Rotklinkerkubus aus den Jahren 1930/1931 mit deutlichem Bauhaus-Bezug. Es wurde von dem Architekten Emil Fahrenkamp für Walter Kruspig, den Generaldirektor der Rhenania-Ossag, entworfen. Auf dem Grundstück Nr. 42 wurde von 1989 bis 1991 ein neues Verlagsgebäude errichtet, Architekten waren Jochem Jourdan und Bernhard Müller. Der Stil wird als eklektizistische Postmoderne bezeichnet, der klassizistische Motive mischt, Anleihen bei der Wiener Sezession nahm und der sich einfühlsam sowohl zwischen die Altbauvillen wie in das baumbestandene Gelände einpasste.
==== Licentiatenberg und Bolivar-Park ====
Der Licentiatenberg liegt dem Eichenpark gegenüber auf der stadtauswärts linken Straßenseite, vor der Einmündung des Mittelwegs in den Harvestehuder Weg. Er ist der sichtbare und unbebaute Ausläufer der Geesthöhe des Alsterkamps und wird durch eine bronzezeitliche Grabstätte erhöht. Auch diese Grünanlage hat einen alten Baumbestand, so befindet sich dort die mit etwa 450 Jahren älteste Eiche Harvestehudes. Seinen Namen soll er von einem zwischenzeitlichen Pächter des Klosterwirtshauses, Bartoldo (Barthold) Huswedel, am Anfang des 18. Jahrhunderts erhalten haben, der in Hamburg Licentiat der Rechte und Präsident des Niedergerichts war. Ein Zusammenhang mit dem ebenfalls Licentiatenberg genannten Hünengrab im Hamburger Stadtteil Großborstel besteht insofern, dass die Nonnen des Klosters auch dorthin Ausflüge unternahmen und der Großborsteler Hügel bis in das 19. Jahrhundert Jungfernberg hieß. Eine weitere Erklärung für die häufiger auftretende Bezeichnung besteht darin, dass diese Orte mit Erlaubnis versehen waren, Recht zu sprechen, entsprechend der Bedeutung des lateinischen Wortes Licentiat.Der Bolivar-Park liegt am Ende des Harvestehuder Wegs zwischen der Abteistraße und dem Klosterstern und zieht sich westlich bis zur Rothenbaumchaussee hin. In seinem markant aufsteigenden Gelände erkennt man noch die Grube, in der bis in das 19. Jahrhundert Sand und Kies abgebaut wurden. In schneereichen Wintern ist er ein ausgewiesener Rodelplatz. Die Geländestruktur führte dazu, dass das Grundstück aus den Bebauungsplänen Harvestehudes herausgenommen und um 1900 als Park angelegt wurde. Er hieß zunächst nach der benachbarten Straße Abteipark. Im Jahr 1960 schenkte die neu erstandene Republik Venezuela der Stadt Hamburg ein Denkmal des südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar (1783–1830). Als Standort wurde der südliche Ausgang des Abteiparks gewählt, der aus diesem Anlass in Bolivar-Park umbenannt wurde.
=== Kunstwerke entlang der Straße ===
Entlang des Harvestehuder Wegs, vor allem in den Grünanlagen, aber auch in den Vorgärten der Grundstücke, befindet sich eine Vielzahl von Denkmälern und Kunstwerken. Die meisten stammen aus der Zeit um 1960 und sind als Kunst im öffentlichen Raum in das Konzept des Alsterparks eingebunden. Die folgende Liste enthält die augenfälligsten Kunstwerke und ein ehemaliges Kunstwerk:
== Literatur ==
Michael Ahrens: Das britische Generalkonsulat am Harvestehuder Weg. Hamburg 2003, OCLC 249041882.
Christian Hanke, Reinhard Hentschel: Harvestehude – Rotherbaum im Wandel. Hamburg 1993, ISBN 3-929229-09-9.
Arno Herzig (Hrsg.): Die Juden in Hamburg von 1590 bis 1990. Wissenschaftliche Beiträge der Universität Hamburg zur Ausstellung Vierhundert Jahre Juden in Hamburg. Hamburg 1991, ISBN 3-926174-25-0.
Hermann Hipp: Harvestehude – Rotherbaum. Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Hamburg Nr. 3. Hans Christians Verlag, Hamburg 1976, ISBN 3-7672-0425-8.
Felix Rexhausen: In Harvestehude. Aufzeichnungen eines Hamburger Stadtteilschreibers. Hamburg 1979, ISBN 3-920610-26-1.
Wilhelm Schwarz: But’n Dammdoor. Aus der Vergangenheit des hamburgischen Stadtteiles Harvestehude-Rotherbaum. Hamburg um 1930.
Silke Urbanski: Geschichte des Klosters Harvestehude „In valle virginum“. Wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung eines Nonnenklosters bei Hamburg 1245–1530. (Dissertationsschrift). Münster 1996, ISBN 3-8258-2758-5.
Eberhard von Wiese: Hier ist das Paradies. Schicksale am Harvestehuder Weg. In: Eberhard von Wiese: Hamburg. Menschen – Schicksale. Frankfurt 1967.
Jonas Ludwig von Heß: Hamburg topographisch, politisch und historisch beschrieben, Band 3, Verlag (der Verfasser), 1811, Die alte Rabe und Harvestehude ab S. 55 Volltext bei InternetArchive.
== Weblinks ==
Homepage Kloster St. Johannis, abgerufen am 30. September 2010.
Klaus Mühlfried: Baukunst als Ausdruck politischer Gesinnung – Martin Haller und sein Wirken in Hamburg (2005) (PDF; 8,2 MB), abgerufen am 30. September 2010.
Freie und Hansestadt Hamburg: Landschaftsprogramm. Neue Wohnbaufläche östlich Mittelweg in Harvestehude (PDF; 1,0 MB), abgerufen am 30. September 2010.
Bürgerinitiative Sophienterrasse mit zahlreichen Links auf Bebauungspläne, Verwaltungsrechtliche Sachstände, Verfahrensfahrensstände und Presseartikeln zu den Bebauungen an der Sophienterrasse und am Harvestehuder Weg, abgerufen am 30. September 2010.
Hamburg Tourismus: Kunst zwischen Hauptbahnhof und Alster (PDF), abgerufen am 30. September 2010.
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Harvestehuder_Weg
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Hauptzollamt
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= Hauptzollamt =
Hauptzollämter, kurz HZA, sind (mit den Zollämtern als Dienststellen) örtliche Bundesfinanzbehörden. Sie verwalten und erheben die Zölle und Verbrauchsteuern, die Einfuhrumsatzsteuer sowie die Kraftfahrzeugsteuer und überwachen die Einhaltung aller Vorschriften im Zuständigkeitsbereich der Zollverwaltung. Als Vollzugsbehörde sind die 41 Hauptzollämter in Deutschland zuständig für die Kontrolle und Strafverfolgung im Aufgabenbereich der Zollverwaltung. Sie unterstehen der Generalzolldirektion als Bundesoberbehörde und dem Bundesministerium der Finanzen als oberste Bundesbehörde.
Sie befinden sich in Aachen, Augsburg, Berlin, Bielefeld, Braunschweig, Bremen, Darmstadt, Dresden, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Erfurt, Frankfurt am Main, Frankfurt (Oder), Gießen, Hamburg, Hannover, Heilbronn, Itzehoe, Karlsruhe, Kiel, Koblenz, Köln, Krefeld, Landshut, Lörrach, Magdeburg, München, Münster, Nürnberg, Oldenburg, Osnabrück, Potsdam, Regensburg, Rosenheim, Saarbrücken, Schweinfurt, Singen, Stralsund, Stuttgart und Ulm.
== Aufbau ==
Ein Hauptzollamt ist in Sachgebiete gegliedert und seine untergeordneten Dienststellen bestehen aus Zollämtern und Abfertigungsstellen.
=== Die Hauptzollämter bis 2008 ===
Der organisatorische Aufbau eines Hauptzollamtes sah bis 2008 folgendermaßen aus:
Sachgebiete A (Allgemeine Verwaltung (Personal, Organisation, Haushalt, IT, Zahlstellen))
Sachgebiete B (Grundsatzangelegenheiten, Abgabenerhebung (Zölle und Verbrauchsteuern))
Sachgebiete C (Fachaufsicht über die Zollämter und Abrechnungen, Nacherhebungen und Erstattungen)
Sachgebiete D (Prüfungsdienst und Steueraufsicht und MKG Mobile Kontrollgruppen)
Sachgebiete E (Finanzkontrolle Schwarzarbeit)
Sachgebiete F (Bußgeld- und Strafsachenstellen)
Sachgebiete G (Vollstreckungsstellen)
Zollämter (Binnenzollämter, Grenzzollämter)
Zollabfertigungsstellen
Zollkommissariate (Grenzaufsichtsdienst, ZKom Land, ZKom See: s. a. Wasserzoll)
Grenzaufsichtsstellen
Zollschiffsstationen
Zollzahlstellen (ZZ)
Nebenzollzahlstellen (NZZ)
=== Die Hauptzollämter seit 2008 ===
Der Aufbau hat sich im Rahmen des Projekts Strukturentwicklung Zoll erheblich geändert und neben Änderungen in der Struktur der Sachgebiete wurde ein Großteil der waffentragenden Bereiche an die Sachgebiete C angegliedert. Das Personal und die Aufgaben der alten Sachgebiete C befinden sich jetzt in den Sachgebieten B, sowie einige Änderungen mehr:
Hauptzollämter (mit Stabsstellen auf Leitungsebene)
Zollämter (ZA, Binnenzolldienst/Grenzabfertigungsdienst)
Zollabfertigungsstellen
Sachgebiete
Sachgebiete A (Personal, Haushalt, Organisation)
Sachgebiete B (Zölle und Verbrauchsteuern, Grundsatzangelegenheiten, Abgabenerhebung, Abrechnungen, Nacherhebungen und Erstattungen)
Sachgebiete C (Kontrolleinheiten)
Kontrolleinheiten Verkehrswege (KEV)
Kontrolleinheiten Grenznaher Raum (KEG)
Kontrolleinheiten See (KES, Wasserzoll)
Kontrolleinheit Flughafen Überwachung (KEFÜ)
Kontrolleinheit Flughafen Reiseverkehr (KEFR)
(und andere)
Sachgebiete D (Außenprüfung und Steueraufsicht)
Sachgebiete E (Prüfung und Ermittlung FKS, Kontrolleinheiten Prävention Schwarzarbeit (KEP, Prävention FKS))
Sachgebiete F (Straf- und Bußgeldstellen, Ahndung FKS)
Sachgebiete G (Vollstreckungsstellen)
Sachgebiet H – Bundesstelle Vollstreckung Zoll (nur Hauptzollamt Hannover)
Zollzahlstellen (ZZ)
Nebenzollzahlstellen (NZZ)
== Siehe auch ==
Bundeszollverwaltung
Zollfahndungsdienst
Liste der deutschen Zollämter
== Weblinks ==
Zolldienststellen
Hauptzollamtszuständigkeitsverordnung vom 18. November 2019 (BGBl. I S. 1781)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hauptzollamt
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Haus Fürsteneck
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= Haus Fürsteneck =
Das Haus Fürsteneck, häufig nur Fürsteneck genannt, war ein historisches Gebäude in der Altstadt von Frankfurt am Main. Es lag östlich des Doms in einem stumpfen Winkel an der südöstlichen Ecke des sogenannten, sich hier zur Fahrgasse hin öffnenden Garküchenplatzes; die Hausanschrift war Fahrgasse 17. Vor allem wegen seiner in großen Teilen erhaltenen Inneneinrichtung aus der Zeit der Renaissance, aber auch wegen seines hohen architektonischen und historischen Wertes zählte das Mitte des 14. Jahrhunderts errichtete Haus zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Stadt.
Im März 1944 wurde das Fürsteneck durch die alliierten Bombenangriffe auf Frankfurt vollständig zerstört, die ausgelagerte Inneneinrichtung verbrannte zeitgleich im Museum für Kunsthandwerk. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Parzelle des Gebäudes modern überbaut, so dass es zu den verlorenen Baudenkmälern der Frankfurter Altstadt gezählt werden muss.
== Geschichte ==
=== Vorgeschichte und Entstehungszeit ===
Wie der Großteil des Geländes östlich des Domes gehörte auch die Parzelle, auf dem das Fürsteneck entstand, zum alten Frankfurter Judenviertel. Erwähnung findet das Gelände erstmals 1362, also nur 13 Jahre nach dem bis dato schlimmsten Pogrom, bei dem die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt ermordet wurde. Die Behauptung des Stadthistorikers Battonn, der Vorgängerbau des Fürsteneck habe einer jüdischen Familie namens Liepmann gehört, kann aufgrund nicht existierender Nachweise der reinen Spekulation zugeordnet werden. Die Häuser des Viertels, die in der Folge der Vernichtung der jüdischen Gemeinde nicht niedergebrannt worden waren, beschlagnahmte die Stadt, die Grundstücke wurden erst vermietet und später auch verkauft.
So gelangten vermutlich in den 50er Jahren des 14. Jahrhunderts auch Johann von Holzhausen und seine Frau Guda in den Besitz des Fürsteneck-Geländes. Die Familie von Holzhausen zählt zu den bedeutendsten Adelsfamilien des Mittelalters in Frankfurt: Johann war, wie viele seiner Nachfahren, Ratsherr, Bürgermeister sowie Mitglied der bis heute existierenden Ganerbschaft Alten Limpurg.
Ein überlieferter, umfangreicher Vertrag vom 18. Mai 1362, den die von Holzhausen mit ihren Nachbarn schlossen, gibt erstmals zeitlich genaue Auskunft über die Besitzstandsverhältnisse und baulichen Ereignisse der Zeit. Demnach vereinbarte man mit den Nachbarn, dem Ehepaar Heinz und Gerhus Byrbruwer, einen steinernen Giebel zwischen den beiden Grundstücken zu errichten, der den Firstbalken des Nachbarhauses mittragen sollte. Auch wenn längst nicht der komplette Hausbau beschrieben wird, ist schon der Hinweis auf die offenbar überragende Höhe des Neubaus genug, um auf das Fürsteneck zu schließen, da es bis ins 20. Jahrhundert hinein in seinem städtebaulichen Umfeld das, vom Dom einmal abgesehen, überragende Gebäude der östlichen Altstadt blieb. Auch die meisten baugeschichtlichen Beschreibungen des 20. Jahrhunderts datieren den Bau des Fürstenecks auf 1362, womit es eines der frühesten Häuser seines Typs war, von denen heute nur noch das Steinerne Haus am Markt erhalten ist. Die Bezeichnung als Fürsteneck taucht historisch belegt erstmals 1399 auf, unklar bleibt die Etymologie des Hausnamens. Das -eck als Silbe im Hausnamen war im alten Frankfurt, das bis Mitte des 18. Jahrhunderts keine Hausnummern kannte, für Eckhäuser häufig und einleuchtend. Die erste Wortsilbe war möglicherweise schlicht eine im Volksmund überkommene Bezeichnung für ein Haus, in dem einer der bedeutendsten Patrizier seiner Zeit residierte.
Im Gegensatz zu den anderen gotischen Steinbauten der Frankfurter Altstadt wies das Fürsteneck allerdings von Anfang an einige Besonderheiten auf, die zum einen in der Geschichte, zum anderen in der Lage des Gebäudes zu erklären sind. Der gesamte Häuserblock, in dem das Fürsteneck auf den meisten historischen Bildern des 19. und 20. Jahrhunderts eher eingebaut erscheint, existierte im 14. Jahrhundert nicht. Das Gebäude stand fast alleine, mit dem ihm vorgelagerten Turm zu den drei Sauköpfen (vgl. Bild) am östlichen Ende des damaligen Domfriedhofs. Das Gebäude erhielt sich bis ins 20. Jahrhundert, war jedoch zu dieser Zeit nicht mehr ohne weiteres zu erkennen, da es vor allem im 17. und 18. Jahrhundert mit neuen Häuser umbaut wurde; der Turm bildete somit die Rückseite des Hauses zum kleinen goldenen Hirsch (Hausanschrift: Garküchenplatz 3). Unter Sauköpfen, einem Wort altdeutschen Ursprungs, verstand man die, hier entsprechend drei zinnengekrönten Ecktürmchen des Wehrgangs auf seinem Dach, die in gleicher Form auch die vier Ecken des Fürstenecks schützten.
Die Anlage war weiter von einer acht Meter hohen Mauer umgeben, so dass sich zwischen dem Fürsteneck und dem als Bergfried dienenden Turm zu den drei Sauköpfen eine Art Burghof befand, welcher auch Ställe beherbergte. Der Merian-Plan von 1628 (vgl. Bild) lässt diesen Bauzustand noch erahnen, allerdings ist er gerade hier ungenau und erweckt den Anschein, als ob zwischen Fürsteneck und Turm kaum Platz für einen Hof sei; der maßstabsgetreue Ravenstein-Plan von 1862 (vgl. Bild) offenbart dagegen die Bausituation, beinhaltet andererseits aber schon die Neubauten. Der Blick auf den Turm wird auf den meisten neuzeitlichen Fotos durch das vorgelagerte Haus Badischer Hof mit der Anschrift Garküchenplatz 1 versperrt, das wohl im 18. Jahrhundert über die dort befindliche Burgmauer gebaut wurde. Die einst festungsartige Konstruktion begründete sich in den Gefahren der Zeit, 1355 hatten sich die Zünfte gegen die herrschenden Geschlechter erhoben; nur wenig später, 1364, ersetzte Johann von Holzhausen den Bürgermeister Jakob Knoblauch vor Ablauf seiner Amtszeit und drückte auch den zum zweiten Bürgermeister gewählten Volksführer Henne Wirbel aus seinem Amt. Ein Haus, das dem damals herrschenden Zorn der Straße widerstehen konnte, war demnach eine von Umsicht zeugende Investition.
Weiter war die Fahrgasse im 14. Jahrhundert eine der wenigen bereits gepflasterten Straßen und eine der Lebensadern Frankfurts. Über sie flutete von Süden über die Alte Brücke und von Norden durch die Bornheimer Pforte der Hauptverkehr in die Stadt. Einen festungsartigen Bau an dieser Straße zu besitzen bedeutete Einfluss und Macht, was Holzhausen in seiner Position als Bürgermeister nur recht sein konnte. Nach seinem Tode am 7. Februar 1393 ging das Haus als Erbstück in den Besitz der Familie von Breidenbach über.
=== 15. und 16. Jahrhundert ===
1447 verkaufte Johann von Breidenbach das Fürsteneck für 1.530 Gulden an seinen mit Anna von Breidenbach verheirateten Schwiegersohn Wigand von Heringen, wie eine Urkunde der Zeit belegt. Auch hier ist die von Battonn aufgebrachte, jedoch selbst in der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg noch unkritisch zitierte Behauptung, das Haus habe in jener Zeit einem Philipp von Fürstenberg gehört, ohne historisch belegbare Untermauerung; gleichermaßen eine Verlegung des Baudatums in diese Zeit. Bereits die Literatur um die Jahrhundertwende, die vollen Zugriff auf die vor dem Zweiten Weltkrieg noch wesentlich vollständigeren städtischen Archivquellen hatte, verneint dies explizit. Eine weitere Bestätigung findet sich bei Fried Lübbecke in, einer der umfangreichsten und auch jüngsten Schriften zur Historie des Gebäudes überhaupt.
Auch der vorgenannte Wigand von Heringen war eine bedeutende Persönlichkeit der Frankfurter Stadtgeschichte. Wie die Steuerbücher des 15. Jahrhunderts belegen zahlte er in dem Jahr, als er das Fürsteneck kaufte, die zweithöchste Steuer in Frankfurt überhaupt – 132 Pfund Heller. Entsprechend war er nicht nur einer der reichsten Männer der Stadt, sondern im direkten Vergleich auch des ganzen Heiligen Römischen Reichs. 1478 war er gar jüngerer Bürgermeister und starb, 99 Jahre nach von Holzhausen, 1492 wie dieser im Fürsteneck.
Das Haus blieb auch in den folgenden Jahrzehnten im Familienbesitz der von Heringen bzw. der mit ihnen verschwägerten Familie Hynsberg und Schleunitz zu Stauchitz. Nachdem das Fürsteneck zwei Jahrhunderte ununterbrochen im Besitz von Patriziern gewesen war, ging es 1582 erstmals an das, wenn auch hochstehende Bürgertum über, als der reiche Tuchhändler Siegfrid Deublinger es zusammen mit einigen umliegenden Häusern für 3.200 Gulden kaufte. Deublinger stammte aus einer reichen, aus Ulm nach Frankfurt eingewanderten Tuchhändlerfamilie und trat auch im Zusammenhang mit dem Bau des prächtigen Großen und Kleinen Engels am Markt in Erscheinung. Das Fürsteneck ließ er dagegen nur geringfügig renovieren, ohne es grundlegend zu verändern, wie Dokumente der Zeit berichten. Es blieb bis über das Ende des 16. Jahrhunderts hinaus in seinem Familienbesitz.
=== Das Fürsteneck zur Zeit der Renaissance ===
Um 1600 verkauften die Deublingers die westliche Hälfte der Anlage an die Familie Unckel, 1608 starb Siegfried Deublinger. Schon ein Jahr darauf verkauften die Erben Deublingers die übrigen Gebäudeteile an Dietrich Goßmann, der dafür 5.000 Gulden zahlte. Goßmann war 1596 als Tuchhändler und Hutstaffierer aus Düsseldorf ins Frankfurter Bürgerrecht eingetreten und erwarb 1616 auch das südlich an das Fürsteneck anstoßende Haus zur Wiede (Anschrift: Fahrgasse 15). Bemerkenswert ist die enorme Preissteigerung des inzwischen halbierten Grundstücks in der kurzen Zeit von 1582 bis 1609 von 3.200 auf 5.000 Gulden, hieran lässt sich gut ablesen, wie starke Zuwanderung von vermögenden niederländischen Calvinisten die Grundstückspreise in die Höhe trieb.
1610 schloss Goßmann mit dem westlichen Hausherren, der sich zu dieser Zeit schon Johann Karl Unckel zu den drei Sauköpfen nannte, einen umfangreichen, und in seinem wesentlichen Inhalt überlieferten Vertrag. Hieraus ist zu erfahren, dass beide Grundstücke vorher „eine einige, ganze und unzerteilte Behausung“ waren, die nun zerrissen wurde. Goßmann im Fürsteneck musste sich mit einem hochummauerten Brunnenhöfchen hinter dem Hause begnügen, und verpflichten, die übrigen Türen zum Hofe zuzumauern und die Fenster dorthin zu vergittern, damit der Nachbar, so der Vertrag weiter, „gegen Ausschütten, Werfen usw. gesichert“ sei. An diesem äußeren baulichen Zustand änderte sich nun bis ins späte 18. Jahrhundert nichts mehr.
Im Inneren erlebte das Fürsteneck unter Goßmann dagegen seine glanzvollste Zeit überhaupt, erhielt es von ihm doch die einzigartige Ausstattung, die es zu einem Unikum unter den Frankfurter Bauten und wohl überhaupt erst zu einem Baudenkmal machte. 1615 ließ er den Saal des ersten Stocks mit einem aufwändig gearbeiteten Holzgetäfel im Renaissancestil verkleiden und die Decke mit einer nicht minder reichen Stuckdecke verzieren. Diese Ausstattung wurde in späterer Zeit als Rittersaal bzw. Fürsteneckzimmer berühmt (vgl. Bilder).
Dietrich Goßmann starb nur fünf Jahre später, am 30. Dezember 1620 im Fürsteneck. Seine Witwe heiratete 1623 den reichen Tuchhändler Nikolaus Leye, der aus erster Ehe hervorgegangene Sohn Gerhard führte bis zu seinem Tode im Jahr 1640 die Geschäfte seines Vaters weiter. Erst 1674 verkauften die Enkelerben Dietrich Goßmanns das Gebäude für 6.000 Gulden an den Tuchhändler Philipp Mangold aus Mainz.
=== Vom 18. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg ===
Die Erben Mangolds verkauften das Fürsteneck 1726 für 12.000 Gulden an den Tuchhändler Markus Fester. Hier reißt die bis dato historisch lückenlose Besitzgeschichte des Gebäudes kurz ab, erst 1786 belegt ein Kaufvertrag, dass ein Tuchhändler namens Johann Peter Bauer das Gebäude an den Eisenhändler Johann Anton Zickwolff verkaufte.
Der Vater von Zickwolff war aus Friedberg zugewandert und hatte sich zunächst mit dem Eisenhändler Johannes Olenschlager aus Sachsenhausen geschäftlich vereinigt. Dieser bewohnte das Haus zur Wiede, das an der Fahrgasse südlich an das Fürsteneck angrenzte (Hausanschrift: Fahrgasse 15). Als Olenschlager früh starb, kaufte er sein Geschäft, das sein vorgenannter Sohn schließlich durch den Zukauf des Fürstenecks erweiterte. Dabei modernisierte er das Haus offenbar noch im selben Jahr im Louis-seize-Stil, der in Frankfurt damals sehr beliebt war. Auch die zur gleichen Zeit unter dem Einfluss von Salins de Montfort entstandenen Bauten der Deutsch-reformierten und der französisch-reformierten Kirche entsprechen diesem Baustil.
Im Rahmen der Umbauten mussten die gotischen Spitzbögen im Erdgeschoss viereckigen Öffnungen weichen (vgl. Bilder), barocke Baluster und Türdekorationen wurden in den Formen des Zeitgeschmacks verändert. Der Giebel wurde zu allen Seiten verbreitert und über den Zinnenkranz des vierten Stocks gezogen. Einzig der Rittersaal des ersten Stocks blieb unverändert, obwohl er im Sinne des herrschenden Stils eigentlich deutlich zu üppig war. Dass Zickwolff diesen Zustand nicht nur tolerierte, sondern besondere Beachtung schenkte, zeigt sich wohl daran, dass er, wie Battonn berichtete, „alle Möbel in antikem Geschmack verfertigen“ ließ und dadurch „das Ganze in eine zaubernde Harmonie“ brachte. Dieses Wandeln des Besitzers auf frühen historistischen Pfaden, vielleicht aber auch nur ein außergewöhnliches Empfinden für ihre kunsthistorische Bedeutung rettete die kostbare Einrichtung durch die klassizistische Zeit, der andernorts manche Innendekoration zum Opfer fiel.
1860 ging das Fürsteneck in den Besitz der Schreinermeisterfamilie Beydemüller über. Die Industrialisierung sorgte für einen enormen Bedarf an Wohnraum in den Städten, und so wurde auch die großen Räume des Gebäudes in einzelne Wohnungen verwandelt, die in ihrer Qualität sicher eher mit den gründerzeitlichen Neubauten konkurrieren konnten als die zahllosen mittelalterlichen Fachwerkbauten der Stadt, wo Menschen unter unsäglichen Bedingungen auf engstem Raum hausten. Der Rittersaal im ersten Stock diente als Übungsraum für eine Frankfurter Tanzschule, was seinem Erhaltungszustand keinen Abbruch tat. 1863 gründete der Uhrmachermeister Wilhelm Alexander Christ (1836–1927) im Fürsteneck sein erstes Ladengeschäft.
1887 wurde das hölzerne Wandgetäfel des Saals von der Familie Beydemüller für 10.000 Mark an die Antiquitätenfirma J. & S. Goldschmidt verkauft, um nach wenigen Jahren wieder von reichen Frankfurter Bürgern zurückgekauft zu werden, die es im März 1891 der Frankfurter Niederlassung des Mitteldeutschen Kunstgewerbevereins schenkten. Dieser übergab es 1908 dem Frankfurter Museum für Kunsthandwerk, wo es ab diesem Zeitpunkt in einem speziellen Raum ausgestellt wurde, der auch mit einem Gipsabdruck der immer noch im Fürsteneck befindlichen Stuckdecke geschmückt war.
1923 wechselte das Fürsteneck ein letztes Mal den Besitzer, als es zwei Erben aus der Familie Beydemüller zusammen mit dem südlichen Nachbargrundstück zum Verkauf stellten. Da, wie er selbst schrieb, „Gefahr bestand, dass ein saarländischer Metzger das ehrwürdige Anwesen für wenige Franken erwürbe und zu einer Fleischzentrale umbauen ließe“, kaufte es der von Fried Lübbecke gegründete Bund tätiger Altstadtfreunde. Unter ihm wurde das Gebäude behutsam saniert und bot, wie Lübbecke weiter 1937 berichtete, „heute außen und innen ein erfreuliches Ansehen“. 1931 fand auch die Druckwerkstatt von Paul und Ursula Koch, den Kindern des berühmten Offenbacher Typographen Rudolf Koch im einstigen Rittersaal einen Platz. Viele von Lübbecke zu dieser Zeit verfasste Schriften zur Frankfurter Altstadt oder Geschichte, die noch heute im Antiquariatshandel verbreitet sind, wurden nachweislich in dieser Werkstatt gedruckt. 1934 schließlich verlegte der Bund tätiger Altstadtfreunde seine Geschäftsstelle aus den Räumlichkeiten des Römers in den zweiten Stock des Fürsteneck.
=== Zweiter Weltkrieg und Gegenwart ===
Die Stunde des Fürstenecks schlug, wie für den Großteil der Frankfurter Altstadt, am 18. März 1944. Fried Lübbecke beschrieb die Zerstörung eindrücklich, hier in Auszügen wiedergegeben:
Das Original der Stuckdecke des Fürsteneckzimmers war damit verloren. Zeitgleich verbrannte auch die Renaissance-Täfelung im ebenfalls schwer getroffenen Museum für Kunsthandwerk. Ein weiterer Kommentar Fried Lübbeckes belegt den Unwillen des Regimes, es, wie zahlreiche unersetzliche Kunstschätze, vor der schon länger absehbaren Zerstörung zu bewahren:
Am Garküchenplatz bzw. der Fahrgasse entstanden in den 1950er Jahren die ursprüngliche Parzellierung ignorierende, groß angelegte Neubauten, auf dem Grundstück des einstigen Fürsteneck steht heute ein sich über mehrere einstige Hausnummern der Fahrgasse erstreckender Wohnbau. Eine Rekonstruktion des Gebäudes erscheint in Anbetracht der Tatsache, dass die gesamte es als besonders auszeichnende Inneneinrichtung verloren und auch der Bautypus bereits durch das Steinerne Haus und Leinwandhaus in Frankfurt repräsentiert ist, unwahrscheinlich.
== Architektur ==
=== Äußeres ===
Äußerlich zeigte sich das Fürsteneck, wie fast alle gotischen Frankfurter Gebäude dieses Typs, im baulichen Umfeld vergleichsweise schlicht. Das Erdgeschoss war am Garküchenplatz durch eine, an der Fahrgasse durch vier Spitzbogenarkaden zugänglich. Darüber erhob sich ein dreistöckiger Bau mit für die Entstehungszeit ungewöhnlich groß und zahlreich gehaltenen Kreuzstockfenstern, derer man am Garküchenplatz je zwei, an der Fahrgasse je vier pro Stockwerk zählen konnte. Darüber schloss ein Zinnenkranz mit sechseckigen Ecktürmchen das Gebäude ab, innerhalb des Zinnenkranzes erhob sich ein steiles Walmdach, das nochmals vier Dachgeschosse beherbergte. Zwischen dem Zinnenkranz und dem Dachansatz verlief ein schmaler, jedoch für einen Menschen gerade noch begehbarer Wehrgang.
Somit war das Gebäude grundsätzlich kaum anders aufgebaut als z. B. das knapp 100 Jahre später entstandene Steinerne Haus am Markt. Außergewöhnlich dagegen war der asymmetrische, fünfeckige Grundriss, über dessen Herkunft nur spekuliert werden kann, sowie die Verbindung des Gebäudes mit dem Turm zu den drei Sauköpfen zu einer am ehesten an eine Wehranlage erinnernden Konstruktion.
Wie bereits im geschichtlichen Teil beschrieben änderte sich das vorgenannte Erscheinungsbild erst im 18. Jahrhundert, als man den Dachstuhl über den Zinnenkranz hinaus vergrößerte, um ein zusätzliches Geschoss zu gewinnen. Auch die Spitzbogenarkaden im Erdgeschoss wurden vermauert und durch dem Zeitgeschmack entsprechende Portale mit rechteckigem Grundriss ersetzt. Obwohl durch diese Umbauten zwei charakteristische Merkmale des Gebäudes verlorengingen, erinnerten doch die verbliebenen Ecktürmchen mit Zinnenaufsatz noch an das ursprüngliche Aussehen.
Weiterhin erfolgten, dem Bautypus nach wohl im selben Jahrhundert, größere Neubauten im Bereich des Garküchenplatzes, die den Charakter der Wehranlage zumindest äußerlich in den Hintergrund treten ließen. Sowohl der zum Fürsteneck gehörige Hof als auch der vorgenannte Wehrturm im gleichen Baustil wurden völlig eingebaut und ab dieser Zeit nur noch über die Neubauten zugänglich.
Carl Theodor Reiffenstein rekonstruierte um 1850 bildlich das präbarocke Aussehen aufgrund der Berichte noch lebender Zeitzeugen. Eine Skizze von ihm (vgl. Bild) zeigt das Gebäude mit intaktem Zinnenkranz und den ins Erdgeschoss führenden Spitzbogenarkaden vermutlich so, wie es schon 1362 ausgesehen haben dürfte.
=== Inneres ===
==== Allgemein ====
Hinter den Arkaden des Erdgeschosses eröffnete sich eine große, von Kreuzgewölben überdeckte und vermutlich seit frühester Zeit vornehmlich Handelszwecken dienende Halle. In einer aus um 1900 stammenden Beschreibung findet sich ein Hinweis, dass zu jener Zeit bis auf zwei alle Kreuzgewölbe den „neueren baulichen Veränderungen“ zum Opfer gefallen seien; mit größter Sicherheit waren hiermit Umbauten aus der Zeit Beydemüllers gemeint.
Eine Treppe an der Westwand führte von hier aus in den weitestgehend mit einheitlichem Grundriss gestalteten ersten bis dritten Stock (vgl. Bilder). Ab dem dritten Stock war die Treppe schmaler, aber auch kunstvoller gehalten, gemäß einer Beschreibung aus dem Jahr 1914 ähnelte sie in ihrem aufwändig geschnitzten Geländer stark der Treppe, die sich im Salzhaus bis zu seiner Zerstörung 1944 befand. In jedem Stockwerk trat man von der Treppe in einen dielenartigen Vorraum, von dem aus alle Zimmer, aber auch die Bedienung der jeweiligen Kamine bzw. Öfen (vgl. Bild) zugänglich war.
Wer im ersten Stock vom Vorraum aus durch die westliche Tür ging, gelangte in den Raum, durch den der Name des Gebäudes überhaupt erst über die Grenzen Frankfurts hinweg zur Geltung gekommen war.
==== Der Rittersaal des ersten Stocks ====
Das durch den asymmetrischen Grundriss des Gebäudes fünfeckige, nördliche Eckzimmer enthielt eine der prachtvollsten Inneneinrichtungen der deutschen Renaissance, bezüglich deren wechselvoller Geschichte von der Entstehung um 1615 bis zur Zerstörung 1944 auf den geschichtlichen Teil dieses Artikels verwiesen sei. In unterschiedlicher Literatur finden sich auch verschiedene Bezeichnungen für das im Wesentlichen aus einer aufwändigen Stuckdecke und einer die Wände vollständig bedeckenden Holztäfelung bestehende Gesamtkunstwerk, die häufigsten sind dabei Rittersaal und Fürsteneckzimmer. Erstgenannte Bezeichnung rührte von der Darstellung zweier mit einem Drachen kämpfender Ritter im Bereich der Täfelung her.
Die ihrer Ausführung nach wohl einst direkt vor Ort modellierte Stuckdecke (vgl. Bild) beinhaltete keinerlei figürliche Darstellungen und war geschickt der Asymmetrie des Raumes angepasst. Bei genauerer Betrachtung unterteilte sie sich durch einen die Decke durchlaufenden, tragenden Balken der Decke, der ebenfalls verputzt und mit Rankwerk stuckiert worden war, in eine Nord- und Südhälfte. Die Hälften zerfielen in Kassetten einfacherer geometrischer Figuren, die teils durch feine Zahnschnittfriese voneinander getrennt wurden. Sie zeigten in Anbetracht der händischen Anfertigung bemerkenswert filigrane, aber für die Renaissance typische Motive wie verschränkte Diamantquader, antikisierende Akanthusdarstellungen sowie reichlich Bändel- und Rollwerk.
Bezüglich des Aufbaus der Täfelung, deren Schilderung aufgrund mangelhaften und auch nur in schwarz-weiß vorliegenden Bildmaterials nicht in eigenen Worten erfolgen kann, sei hier eine ausführliche Beschreibung einer Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Zeitschrift des Mitteldeutschen Kunstgewerbevereins auszugsweise wörtlich, zwecks besserer Leserlichkeit jedoch mit einigen hinzugefügten Absätzen zitiert:
Nicht erwähnt werden in der Beschreibung zwei aufwändige, heraldische Tontafeln, die oberhalb der Türen in das Getäfel eingearbeitet waren. Sie zeigten die Wappen Dietrich Goßmanns und seiner Frau. Auf der Rückseite des einen Wappens fand sich mit folgender Inschrift auch der definitive Hinweis auf die Entstehungszeit, da es stilistisch mit dem restlichen Raumschmuck zusammenfiel:
Demnach fertigte Christian Steffen, der sich selber als Bossierer (possirer) und Häfner (haffner) bezeichnete, im Jahr 1615 wenigstens die heraldischen Tontafeln und mit größter Sicherheit auch die Stuckdecke an. Glücklicherweise ist in städtischen Archiven mehr von ihm überliefert: er war aus Langula in Thüringen und im März 1615 in das Bürgerrecht der Stadt eingetreten. Weiter war er gemäß der Archivquellen zu seiner Zeit der einzige Bürger, der das Häfnerhandwerk erlernt hatte, was nur die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass er auch für die Stuckarbeiten im Fürsteneck verantwortlich zeichnete. Eine Vorstellung von der hohen Qualität seiner Arbeit kann man sich noch heute machen, da er einige Jahre später Stuckaturen für die Gruft des Landgrafen Philipp III. von Hessen-Butzbach in der Stadtkirche Butzbach fertigte.Bezüglich der Bedeutung der gesamten Einrichtung sei abschließend noch darauf hingewiesen, dass angeblich sogar der letzte König von Frankreich, Ludwig Philipp I. in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts dem damaligen Besitzer ein vergebliches Kaufangebot gemacht habe.
==== Das Dachgeschoss und die Dachböden ====
Die das Gebäude erschließende Treppe in der Westwand endete im vierten Stock. Dieser war bis zu den bereits zuvor beschriebenen Umbauten ein echtes Dachgeschoss innerhalb des Giebels, von dem aus man den Wehrgang zwischen Dach und dem Zinnenkranz des Gebäudes sowie die vier Ecktürmchen betreten konnte. Selbst nach den Umbauten dürfte er jedoch, wie Querschnitte des Gebäudes (vgl. Bild) und auch die vollständige Ausführung in Holzfachwerk rückschließen lassen, nur ca. 60 % der Raumhöhe der darunterliegenden Stockwerke gehabt und höchstens eine Nutzung als Dachboden, keinesfalls jedoch für Wohnzwecke zugelassen haben. Eine zeichnerische Innenansicht des Dachstuhls des Turms zu den drei Sauköpfen (vgl. Bild) gibt auch einen Eindruck, wie es wohl im vierten Stock des Fürstenecks aussah, entstanden beide Gebäude doch mit größter Sicherheit durch die gleichen Handwerker und in einem völlig identischen Baustil.
Schließlich ermöglichte eine einfache Holztreppe von diesem Stockwerk aus den Zugang zu noch drei weiteren Dachgeschossen, die durch die zahlreichen Gauben im Dach aufgrund der hohen Lage eine enorme Weitsicht ermöglichten. Johann Georg Battonn beschreibt in seinem um 1820 entstandenen Standardwerk zur Frankfurter Topographie sehr anschaulich den besonderen Charakter des Dachbodens. Sein Bericht lässt ausschnittsweise erahnen, wie die Bewohner des Fürstenecks im Verlauf der Jahrhunderte von hier aus Zeuge von Ereignissen wurden, die heute in den Geschichtsbüchern stehen:
== Literatur ==
Johann Georg Batton: Oertliche Beschreibung der Stadt Frankfurt am Main – Band II. Verein für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1861–1875
Architekten- & Ingenieur-Verein (Hrsg.): Frankfurt am Main und seine Bauten. Selbstverlag des Vereins, Frankfurt am Main 1886, S. 34 und S. 59–62
Carl Wolff, Julius Hülsen, Rudolf Jung: Die Baudenkmäler von Frankfurt am Main – Band 3, Privatbauten. Selbstverlag/Völcker, Frankfurt am Main 1914, S. 26–34
Paul Wolff, Fried Lübbecke: Alt-Frankfurt, Neue Folge. Verlag Englert & Schlosser, Frankfurt am Main 1924, S. 36–39
Fried Lübbecke: Ein Baudenkmal Altfrankfurts – Das Haus zum Fürsteneck. In: Frankfurter Verkehrsverein (Hrsg.): Frankfurter Wochenschau. Bodet & Link, Frankfurt am Main 1937, S. 513–517
Armin Schmid: Frankfurt im Feuersturm. Verlag Frankfurter Bücher, Frankfurt am Main 1965, S. 168–171
Hans Lohne: Frankfurt um 1850. Nach Aquarellen und Beschreibungen von Carl Theodor Reiffenstein und dem Malerischen Plan von Friedrich Wilhelm Delkeskamp. Frankfurt am Main, Verlag Waldemar Kramer 1967, S. 196–199
Georg Hartmann, Fried Lübbecke: Alt-Frankfurt. Ein Vermächtnis. Verlag Sauer und Auvermann, Glashütten 1971, S. 301–304
Manfred Gerner: Fachwerk in Frankfurt am Main. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt 1979, S. 12
Hartwig Beseler, Niels Gutschow: Kriegsschicksale Deutscher Architektur – Verluste, Schäden, Wiederaufbau – Band 2, Süd. Karl Wachholtz Verlag, Neumünster 1988, S. 820
== Quellen ==
== Weblinks ==
Haus Fürsteneck. altfrankfurt.com
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https://de.wikipedia.org/wiki/Haus_F%C3%BCrsteneck
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Haus Weitmar
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= Haus Weitmar =
Das Haus Weitmar ist ein ehemaliger Adelssitz im Bochumer Stadtteil Weitmar. Er ging aus einem Schultenhof des Klosters Werden hervor, dessen Wurzeln im 8./9. Jahrhundert zu suchen sind. Im 12. Jahrhundert mit einem Wassergraben umgeben, wurde er in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu einem repräsentativen Sitz ausgebaut. Erweiterungen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts unter der Familie von Brüggeney genannt Hasenkamp und ein Ausbau im 18. Jahrhundert mündeten in einem klassizistisch aussehenden Herrenhaus mit Vorburg. Nordwestlich davon stand eine dem heiligen Silvester geweihte Kapelle, die jedoch während der Reformation ihre Funktion als Hauskapelle einbüßte. Nach Aussterben der Familie von Hasenkamp war Haus Weitmar kurzzeitig Eigentum der Familie von Vaerst, ehe es 1780 von Andreas Friedrich Wilhelm von Berswordt-Wallrabe gekauft wurde. Seine Familie ist auch heute noch Eigentümerin.
Haus Weitmar wurde im Zweiten Weltkrieg durch Fliegerbomben zerstört. Die Ruinen des Herrenhauses mit seiner Freitreppe, die Reste der Kapelle inklusive dreier Grabplatten sowie ein Torhaus und eine Toranlage vom Beginn des 20. Jahrhunderts sind seit dem 26. April 1995 als Baudenkmal geschützt.
== Geschichte ==
=== Anfänge ===
Haus Weitmar entwickelte sich aus einer Hofstelle, die schon in karolingischer Zeit existierte. Dies bewiesen Keramikfragmente von unter anderem Hunneschans Keramik, die bei einer Ausgrabung gefunden wurden und in das 8./9. Jahrhundert datiert werden konnten. Um das Jahr 1000 war dieser Hof ein Oberhof (curtis) mit sechs abhängigen Unterhöfen, den Hugbald und seine Schwester Reinwi mitsamt wichtigen Rechten in der Weitmarer Mark an die Benediktinerabtei Werden übertrugen. Das Kloster vergab das Gut fortan als Lehen und nutzte ihn als Schultenhof, der dem Kloster abgabenpflichtig war. Er erscheint während des 11. und 12. Jahrhunderts unter verschiedenen Namensvarianten in Urkunden: Uuedmeri (um 1000), Uuetmere (11. Jahrhundert), Wetmare (1153) und Weitmere (ca. 1150). Seit dem 12. Jahrhundert war der Hof von einer Gräfte geschützt und somit ein für Westfalen typischer Gräftenhof. Ausgrabungen zeigten, dass dieser Wassergraben mindestens zwei Meter tief und mehr als zehn Meter breit gewesen ist. Durch darin gefundene Scherben von Pingsdorfer und Paffrather Irdenware konnte festgestellt werden, dass er im frühen 13. Jahrhundert bei einem umfassenden Ausbau des Oberhofs zugeschüttet worden sein muss. Zu jener Zeit wurde im Bereich des einstigen Grabens ein Zweiraumhaus errichtet, das den Kern der späteren Anlage bildete. Offenbar baute ein Dienstmann der Werdener Abtei den Schultenhof zu einem repräsentativeren Sitz aus, denn vor 1250 entstand auf dem Hofareal auch eine nordwestlich des Zweiraumhauses gelegene Kapelle.Erster namentlich bekannter Lehnsnehmer des Hauses Weitmar war im späten 14. Jahrhundert der auf Haus Heck ansässige Johann von Lüttelnau. Während seiner Zeit wurde Weitmar – ebenso wie die umliegenden Bauerschaften Bisping, Klevinghusen, Nevel, Branthorpe und Eppendorf – in der Dortmunder Fehde 1388/1389 durch 40 Reisige unter ihrem Führer Bitter von Raesfeld geplündert. Johanns Tochter Grete heiratete 1391 den späteren Amtmann von Werden und Hattingen, Johann von Kückelsheim. Als Pfand für die Aussteuer in Höhe von 500 Goldschilden stellte ihm der Brautvater das Haus Weitmar zur Verfügung. Entsprechend belehnte der Werdener Abt nach der Hochzeit Johann von Kückelsheim mit dem Schultenhof. Nach seinem Tod im Jahr 1421 folgte Wilhelm von Uhlenbrock von Haus Oefte als Lehnsnehmer des Hauses. Nach ihm belehnte der Werdener Abt Johann und Heinrich von Galen mit dem Gut. Letzterer trat es 1481 an Wennemar von (der) Brüggeney, genannt Hasenkamp, ab, der in der Folge damit belehnt wurde. Außerdem erhielt er als Lehen auch das Holzrichteramt der Weitmarer Mark und den Hof Bisping, der gleichfalls dem Kloster Werden gehörte.
=== Allmählicher Ausbau ===
Wennemar war märkischer Amtmann von Bochum und hatte schon im Mai 1464 die Erlaubnis erhalten, auf dem Grund des Schultenhofes Weitmar ein neues Wohnhaus zu errichten, weil sein alter Familienstammsitz in Stiepel baufällig geworden war. Möglicherweise steht ein in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erfolgter Ausbau des Zweiraumhauses in Zusammenhang mit dem Umzug Wennemars nach Weitmar. Er war der erste Lehnsnehmer, der das Gut selbst bewohnte, anstatt es von Bauern bewirtschaften zu lassen. Bei dem Ausbau wurde dem Haus an seiner Südostecke ein nahezu quadratischer Anbau hinzugefügt, sodass es anschließend einen L-förmigen Grundriss besaß.
Im 16. Jahrhundert war die Familie von Hasenkamp nicht mehr alleiniger Besitzer Weitmars. Sie musste es sich mit der Familie von Eickel teilen. Christine, die Tochter von Wennemars Enkel Wessel, hatte Heinrich von Eickel geheiratet, der 1577 mit einem Teil des Hauses Weitmar belehnt wurde. 1644 war aber Johann von Hasenkamp der Meinung, dass ihm der Eickeler Teil als Ausgleich für nie beglichene Schulden zustehe und jagte Dietrich von Eickels Witwe und ihre Kinder am 14. August aus dem Haus. Zur endgültigen und rechtskräftigen Übereignung des Hauses kam es allerdings erst am 2. Juni 1650, als die Witwe gegen eine Zahlung von 300 Reichstalern für sich und 2125 holländische Talern für ihre Kinder auf den Eickelschen Teil des Besitzes verzichtete.
Wohl erst im 16. Jahrhundert erhielt Haus Weitmar den Status eines Rittersitzes. Nach einer Brandschatzung durch spanische Soldaten im Jahr 1588 war 1592 schon unter Johanns Vater gleichen Namens ein Neubau errichtet worden. Lange Zeit wurde dies in der Forschung als Neubau des Herrenhauses angesehen, jedoch widerlegten dies Ausgrabungen im Jahr 2009, durch welche die Bauphasen des Haupthauses in andere Zeiten datiert werden konnten. Wahrscheinlicher ist, dass durch die Teilung des Lehens zwischen den Familien von Hasenkamp und von Eickel ein zweites Herrenhaus errichtet wurde. Auf einer Karte aus dem Jahr 1780 ist im Vorburgbereich ein Bau zu erkennen, der nur unwesentlich kleiner war als das eigentliche Haupthaus. Bei diesem könnte es sich um den Neubau aus dem Jahr 1592 gehandelt haben. 1823 war er allerdings schon wieder niedergelegt, denn auf der westfälischen Uraufnahme aus jenem Jahr war er schon als abgerissen gekennzeichnet.Die Familie Hasenkamp blieb bis in das 18. Jahrhundert Besitzerin des Anwesens. Schon zu seinen Lebzeiten übertrug der Domscholaster Johann Georg von Hasenkamp 1707 das Haus Weitmar seinem Neffen Johann Werner. Damit wurde der Besitz zum ersten Mal seit sieben Generationen nicht vom Vater an einen Sohn vererbt. 1748 baute die Familie noch eine neue katholische Hauskapelle, da die alte Sylvesterkapelle schon seit der Reformation von einer lutherischen Kirchengemeinde genutzt wurde. Jedoch ging es der Familie finanziell schlecht. 1756 erfolgte ein Zwangsverkauf einiger zum Haus gehörender Güter. 1762 wurde gar der Konkurs über das Vermögen des Besitzers von Haus Weitmar eröffnet. Mit dem Tod des unverheirateten Johann von Hasenkamp starb das Geschlecht 1764 aus, und die Rechte an Haus Weitmar sollten verkauft werden. Eine Taxierung des Besitzes im Juni 1764 ergab einen Wert von 8200 Reichstalern, der aber schon beim zweiten Verkaufstermin am 2. November 1764 mit einem Gebot von 13.000 Reichstalern weit übertroffen wurde.
1774 erstand Friedrich Goswin von Vaerst das Gut in einem öffentlichen Nachlassprozess. Er löste das Haus aus dem Lehnsverhältnis zu Werden und wurde Eigentümer des Anwesens. Dies blieb er jedoch nicht lange, sondern er verkaufte es bereits 1780 wieder an Andreas Friedrich Wilhelm von Berswordt-Wallrabe, dessen Familie noch heute Eigentümerin ist und in der benachbarten Galerie m Quartier bezogen hat. Sie ließ im ausgehenden 18. Jahrhundert noch einmal Veränderungen am Herrenhaus vornehmen. Der im Nordosten liegende Raum im Winkel von Kern- und Anbau wurde geschlossen. Dabei kam es entweder zu einer starken Überarbeitung oder zu einer völlig neuen Aufmauerung der Fassaden, um ihnen ein einheitliches klassizistisches Aussehen zu verleihen. Außerdem erhielt das Haus ein mehrgeschossiges Mansarddach. Fassaden und Dachform waren die Gründe dafür, dass spätere Kunsthistoriker Haus Weitmar oft fälschlicherweise als rein klassizistischen Bau einordneten. Ebenfalls im 18. Jahrhundert wurde die spätestens im 16. Jahrhundert angelegte teichartige Gräfte des Anwesens trockengelegt und durch Gartenanlagen ersetzt. Noch bis in die 1930er Jahre existierte nördlich des Hauses ein großer Obstgarten.
=== 19. bis 21. Jahrhundert ===
Wilhelm Friedrich von Berswordt-Wallrabe heiratete 1848 Philippine von Syberg. Durch diese Verbindung kam auch Haus Kemnade in den Besitz der Familie. Ende des 19. Jahrhunderts ließen die Eigentümer fast alle Gärten in einen Landschaftspark umwandeln. Auf der Vorburginsel entstand zeitgleich, unter Einbeziehung von älterer Bausubstanz wie zum Beispiel der Hauskapelle, ein Stall- und Wohngebäude, das zugleich torartigen Charakter hatte. Bei der Gestaltung des Landschaftsgartens blieb die zentrale Mittelachse des Anwesens als dominierendes Element erhalten. Sie wird unter anderem durch eine lange Zufahrtsallee gebildet, an deren Anfangspunkt im Osten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Torhaus gebaut wurde. 1890 erwarb Ludwig von Berswordt-Wallrabe die derweil heruntergekommene Sylvesterkapelle samt zugehörigem Land für 1000 Mark für das Haus Weitmar zurück. Das kleine Gotteshaus war derart baufällig gewesen, dass die evangelische Kirchengemeinde sich schon in den 1860er Jahren zum Bau einer neuen Kirche an anderer Stelle entschieden und damit keine Verwendung mehr für die Kapelle hatte.
Im Zweiten Weltkrieg wurde Haus Weitmar bei einem Luftangriff am 13. Mai 1943 von Bomben getroffen und brannte bis auf die Außenmauern aus. Dabei ging auch die viele Tausend Bände umfassende Bibliothek des Hauses verloren. Das Vorburggebäude aus dem späten 19. Jahrhundert blieb zwar unversehrt, wurde aber 1968 abgebrochen und vollständig eingeebnet. Im selben Jahr gründete Alexander von Berswordt-Wallrabe im anliegenden Bereich des Schlosses die Galerie m Bochum. Die Ruinen von Herrenhaus und Kapelle wurden in den 1970er Jahren dank der Initiative des Kunstvereins Bochum vor dem endgültigen Verfall gerettet. Die Stadt Bochum pachtete 1974 den derweil verwilderten Park und setzte ihn bis 1978 wieder instand, um ihn anschließend für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mit der Öffnung des Parks für ein breites Publikum und der zeitgleichen Eröffnung der Galerie m ging die Platzierung zeitgenössischer Skulpturen im Park einher. Bei Auslaufen des Pachtvertrags 2000 waren konservatorische Maßnahmen an den Ruinen nötig, denn Baumwurzeln gefährdeten das Mauerwerk. Die Sanierungskosten wurden mit 290.000 Euro veranschlagt, die aber weder die Stadt noch der Eigentümer zahlen wollten. Im September 2005 mussten die Reste beider Bauwerke mit Bauzäunen abgesperrt werden, weil herunterfallende Steinbrocken Besucher gefährdeten.
Der geplante Bau eines Veranstaltungs- und Ausstellungsgebäudes im Bereich des einstigen Herrenhauses bedingte eine zuvor durchgeführte Grabung auf dem Areal, um die seinerzeit noch untertägig erhaltene Bausubstanz zu dokumentieren. Die Hauptgrabung begann im April 2009 und dauerte nur 24 Tage. Dabei wurden das Tonnengewölbe im Keller abgerissen und alle Einbauten des 18. bis 20. Jahrhunderts entfernt. Ursprünglich war eigentlich geplant, das Kellergewölbe zu erhalten. Durch die bei der Ausgrabung gemachten Funde konnte die bis dahin überlieferte Geschichte des Schultenhofes an einigen Stellen korrigiert werden. Eine weitere Grabung fand ab Juli 2014 im Bereich der ehemaligen Vorburg statt, weil auf ihrem Areal das „Museum unter Tage“ errichtet werden sollte. Dabei wurden die Fundamente der östlichen Bebauung und eines Torhauses freigelegt.
=== Heutige Nutzung ===
Durch einen neuen Pachtvertrag, den die Stadt Bochum mit der Eigentümerfamilie des Weitmarer Parks geschlossen hat, liegen Pflege und Erhaltung des Parks sowie der denkmalgeschützten Ruinen bis 2026 weiterhin in städtischer Hand.
Auf Initiative Alexander von Berswordt-Wallrabes entstand ab Ende der 1980er Jahre im Park von Haus Weitmar die Situation Kunst (für Max Imdahl), eine zeitgenössische Kunstsammlung mit Skulpturen und Bildern, die er 1990 der Kunstsammlung der Ruhr-Universität Bochum schenkte. Die Sammlung entstand im Andenken an den Kunsthistoriker Max Imdahl, der 1965 erster Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte an der Bochumer Universität wurde. Für Situation Kunst wurde im Mai 2010 im Rahmen des RUHR.2010-Kulturhauptstadtjahres ein Gebäude fertiggestellt, das etwa 1200 Quadratmeter Fläche für kulturelle und wissenschaftliche Veranstaltungen, Ausstellungen sowie Lager- und Arbeitsräume zur Verfügung stellt. Das „Kubus“ genannte Gebäude wurde nach Entwürfen der Architekten Pfeiffer, Ellermann und Preckel aus Münster errichtet und in die Weitmarer Herrenhausruine hineingebaut. Im Zuge seiner Fertigstellung wurde die alte Gräfte des Anwesens wieder mit Wasser gefüllt. Am 13. November 2015 eröffnete mit dem „Museum unter Tage“ (MuT) eine unterirdische Erweiterung der Situation Kunst.Der Park selbst dient auch als Kunstfläche. An verschiedenen Standorten sind Kunstwerke der Konkreten Kunst zu sehen. Die vertretenden, in der Kunstszene sehr bekannten Künstler, sind François Morellet, David Rabinowitch, Erich Reusch, Ulrich Rückriem, Richard Serra, Giuseppe Spagnulo, William Tucker und Lee Ufan.
Ganz im Zeichen der Kunst stand früher auch seit den 1990er bis 2010 jedes Jahr im Sommer der Auftritt von Schülern der Schauspielschule Bochum im Park. Dabei wurden traditionell ein Stück oder Szenen von Shakespeare gezeigt. Die eintrittsfreien Vorstellungen dieses Freilufttheaters wurden vom Bochumer Publikum sehr gut besucht. 2022 wurde, nach Jahren der Pause, wieder ein Stück aufgeführt.
== Beschreibung ==
=== Herrenhaus und Vorburg ===
Herrenhaus und Vorburg standen früher auf zwei separaten Inseln, die inmitten eines durch die Linnebecke gespeisten Hausteichs (Gräfte) lagen. Eine lange Brücke führte auf die Vorburginsel mit Stall- und Speichergebäuden. Dort stand ab 1748 auch eine Kapelle, die später profaniert und als Stallung genutzt wurde. Über ihrem Eingang befanden sich die Wappen der Familien von Hasenkamp und von Eerde.Eine heute noch erhaltene einbogige Brücke aus Bruchsteinmauerwerk führte von der Vorburginsel über die Gräfte zum schlichten, zweigeschossigen Herrenhaus. Das Gebäude entstand in drei Bauphasen. Vermutlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde ein 27 × 12 Meter messendes Zweiraumhaus errichtet, dessen Fundamente zwei Meter dick waren. Seine oberirdischen, zweischaligen Mauern aus Ruhrsandstein waren bis zu 1,40 Meter dick und umfassten mindestens zwei bis drei Geschosse. Dieser Bau wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts an der Südostecke durch einen 9 × 10 Meter großen Anbau erweitert. Ende des 18. Jahrhunderts ließ die Familie von Berswordt-Wallrabe dieses L-förmige Gebäude zu einem fast querrechteckigen Haus mit mehrgeschossigem Mansarddach ausbauen. In dieser dritten Bauphase erhielt es auch einen tonnenüberwölbten Keller mit stichbogigen Fenstern. Seine leicht geknickte Fassade an der Ostseite resultierte wahrscheinlich aus dem nicht standsicheren Baugrund im Bereich der ehemaligen Gräfte, die zu jener Zeit trockengelegt wurde.Von dem einstigen Herrenhaus sind heute nur noch die zweigeschossigen Außenmauern der Süd- und der Ostseite erhalten. Ihre rechteckigen Tür- und Fensteröffnungen besitzen Sandsteinfassungen. Am Mauerwerk sind noch Spuren von älteren Elementen wie zum Beispiel Aborterker und Kreuzstockfenster zu sehen. Eine doppelläufige, geschwungene Freitreppe führt zum Haupteingang.
=== Sylvesterkapelle ===
Die 1397 erstmals urkundlich erwähnte Sylvesterkapelle steht nordwestlich des Herrenhauses und weist überwiegend gotische Elemente auf. Der kleine Friedhof neben der Kapelle zeugt davon, dass das Gotteshaus jahrhundertelang die Kirche der evangelischen Kirchengemeinde war. Teile ihres quadratischen Westturms zeigen noch romanische Formen. Der Turm besitzt ein rundbogiges Portal mit darüberliegendem Ochsenauge. Im Obergeschoss sind noch die unteren Teile von ehemals rundbogigen Fenstern erhalten. Ein Rundbogendurchgang führt in das Langhaus, unter dem eine nicht zugängliche Gruft liegt. Dort sollen nach dem Bericht eines Weitmarer Pfarrers früher Mitglieder der Besitzerfamilien von Haus Weitmar und Haus Bärendorf bestattet worden sein. Die Südmauer des Langhauses ist noch bis zur Höhe der Fensterbänke erhalten, die Nordmauer ist aber nur noch im Sockelbereich vorhanden. An der Ostseite führt eine Spitzbogenöffnung in den spätgotischen Chor, der drei Stufen höher liegt als das Langhaus. Der quadratische Bereich besitzt einen 3/8-Schluss und Öffnungen für Spitzbogenfenster. Die Konsolen für das einstige Chorgewölbe sind noch erhalten. An der Nordseite findet sich eine spätgotische Tabernakelnische mit bekrönendem Wimperg. Dieser gegenüber liegt eine dreieckige Lavabonische.
In der Ruine stehen drei Grabplatten. Sie stammen aus dem Umfeld der Kapelle und wurden dort in den 1970er Jahren aufgestellt. Auf ihnen finden sich die Sterbejahre 1625, 1705 und 1765.
=== Schlosspark ===
Haus Weitmar ist von einem 7,8 Hektar großen Park umgeben, der Schlosspark genannt wird und zuletzt 2010 instand gesetzt wurde. Der Landschaftspark besteht aus größeren Rasenflächen mit Solitärgehölzen, einem Teich und einem Eichen-Buchen-Wald, der die Rasenflächen umgibt. Sein dominierendes Gestaltungselement ist die lange Zufahrtachse, die von Osten kommend auf das Herrenhaus zuführt. An ihrem Startpunkt an der Hattinger Straße steht ein Pförtnerhaus mit Mansarddach und Ecktürmchen vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Direkt daneben befindet sich eine Toranlage, deren großes zweiflügeliges Haupttor zwei achteckige Torpfeiler aus Sandstein mit bekrönenden Laternen besitzt. Die Pfeiler zeigen Wappen mit Eber und Lilie als Zeichen für die Familien Berswordt und Wallrabe. Das Gittertor ist aus Schmiedeeisen gefertigt und besteht aus Elementen in Form von Bögen, Blattwerk und züngelnden Spitzen. Rechts und links des Haupttores gibt es zwei kleinere Nebentore, deren viereckige Pfeiler von kugelförmigen Gebilden abgeschlossen sind.
Im Park des Hauses Weitmar stehen zahlreiche zum Teil Jahrhunderte alte Bäume. Ziersträucher füllen Lücken, die durch Absterben und Überalterung des Bewuchses entstanden. Zu den wertvollsten Pflanzen im Park gehören Edelkastanien mit einem Stammumfang bis zu vier Metern, Rotbuchen mit einem Umfang bis zu drei Metern und in Deutschland seltene Eiben sowie Eichen mit ähnlich großen Stammumfängen. Kurios ist eine drehwüchsige Rotbuche. Bis zum Jahr 2000 stand dort auch der älteste Baum Bochums, eine 1740 gepflanzte Süntelbuche, bis sie durch Brandstiftung auseinanderbrach. Der Baum ging in den folgenden Jahren ein.
Erwähnenswert ist auch eine Gruppe von Findlingen, die aus unterschiedlichen Gesteinsarten bestehen. Zu finden sind unter anderem Granit, Gneis, Gabbro und Porphyr. Die großen Steine wurden von früheren Besitzern des Hauses Weitmar zusammengetragen.
== Literatur ==
Willi Berneiser: Haus Weitmar. In: Vereinigung für Heimatkunde Bochum (Hrsg.): Bochum. Heimatbuch. Band 7. Schürmann & Klagges, Bochum 1958, S. 93–97 (online).
Georg Eggenstein, Wolfram Essling-Wintzer: Tief im Westen – neue Grabungen am Haus Weitmar in Bochum. In: LWL-Archäologie in Westfalen, Altertumskommission für Westfalen (Hrsg.): Archäologie in Westfalen-Lippe 2014. Beier & Beran, Langenweißbach 2015, ISBN 978-3-95741-040-5, S. 166–169 (PDF; 3,3 MB).
Klaus Gorzny: Burgen, Schlösser und Adelssitze entlang der Ruhr. Ein Wegbegleiter. Piccolo, Marl 2002, ISBN 3-9801776-7-X, S. 113–115.
Albert Ludorff: Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Bochum-Land (= Die Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen. Band 23). Schöningh, Münster 1907, S. 49–50 (Digitalisat).
Stefan Pätzold: Haus Weitmar. In: Kai Niederhöfer (Red.): Burgen AufRuhr. Unterwegs zu 100 Burgen, Schlössern und Herrensitzen in der Ruhrregion. Klartext, Essen 2010, ISBN 978-3-8375-0234-3, S. 27–31.
Eduard Schulte: Geschichtsbilder der Rittersitze Crange im Emscherbruch und Weitmar bei Bochum. Heitkamp, Bochum 1977.
Wolfram Wintzer, Cornelia Kneppe: Ein bewegtes Schicksal: zur Geschichte von Haus Weitmar in Bochum. In: LWL-Archäologie in Westfalen, Altertumskommission für Westfalen (Hrsg.): Archäologie in Westfalen-Lippe 2009. Beier & Beran, Langenweißbach 2010, ISBN 978-3-941171-42-8, S. 98–101 (PDF; 715 kB).
== Weblinks ==
Eintrag des Hauses Weitmar in der Denkmalliste der Stadt Bochum unter A336 (PDF; 812 kB)
Eintrag von Tom Bauer zu Haus Weitmar in der wissenschaftlichen Datenbank „EBIDAT“ des Europäischen Burgeninstituts
Vortrag von Wolfram Essling-Wintzer am 23. August 2009 über die Ergebnisse der Grabung im Jahr 2009
Hans H. Hanke: Haus Weitmar – Kunstvolle Romantik (Memento vom 9. Januar 2017 im Internet Archive)
Haus Weitmar im GenWiki
== Fußnoten ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Haus_Weitmar
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Heidelberg in römischer Zeit
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= Heidelberg in römischer Zeit =
Im Gebiet der heutigen Stadt Heidelberg befand sich bereits in römischer Zeit eine Siedlung. Das römische Heidelberg – sein damaliger Name ist unbekannt – bestand aus einem um 70 n. Chr. gegründeten Kastell im heutigen Stadtteil Neuenheim und einer Zivilsiedlung (Vicus), die sich um das Kastell herum bildete und auch auf den heutigen Stadtteil Bergheim erstreckte. Das ursprünglich hölzerne Militärlager wurde um das Jahr 90 durch ein Steinkastell ersetzt. Seit 80/90 führte zunächst eine hölzerne, ab ca. 200 schließlich eine auf Steinpfeilern gegründete Brücke über den Neckar. Auch nachdem die Besatzung des Heidelberger Kastells um das Jahr 135 abgezogen worden war, florierte die Zivilsiedlung dank ihrer günstigen verkehrsgeografischen Lage weiterhin und entwickelte sich zu einem prosperierenden Töpfereizentrum. Dennoch blieb Heidelberg stets im Schatten des benachbarten Lopodunum (heute Ladenburg), das zu jener Zeit der Hauptort der Region war. Als Folge der Alamanneneinfälle wurde das römische Heidelberg im 3. Jahrhundert im Rahmen des sogenannten Limesfalls aufgegeben.
== Topografie und Name ==
Heidelberg liegt am Ausgang des Neckars aus dem Odenwald in die Oberrheinische Tiefebene. Rund 20 Kilometer vor der Mündung des Neckars in den Rhein gelegen, gehört Heidelberg zum rechtsrheinischen Gebiet. Die Lage am Kreuzungspunkt des Neckars und der am Gebirgsrand verlaufenden Bergstraße ist verkehrsgeografisch äußerst günstig. Während die Altstadt, die Keimzelle der heutigen Stadt, zu Füßen des Schlosses zwischen Fluss und Bergen eingezwängt liegt, mied man vor dem Mittelalter das enge und hochwassergefährdete Flusstal und zog die dank der Lössböden fruchtbare Ebene als Siedlungsplatz vor. Auch der 440 Meter hohe Heiligenberg, der sich gegenüber der Altstadt am Rand des Odenwaldes erhebt, hat wegen seiner günstigen Schutzlage seit Jahrtausenden Menschen angezogen. Das römerzeitliche Heidelberg lag knapp zwei Kilometer westlich der Altstadt in der Ebene am Nordufer des Neckars im heutigen Stadtteil Neuenheim. Auch das gegenüberliegende Neckarufer in Bergheim war in römischer Zeit besiedelt.
Der Name des römerzeitlichen Heidelbergs ist unbekannt. Ob die Römer ein altes keltisches Toponym übernahmen oder dem Ort einen lateinischen Namen gaben, kann nicht gesagt werden. Vorschläge wie Traiectum ad Nicrem („Neckarübergang“; in Analogie zu Traiectum ad Mosam, heute Maastricht) müssen als rein spekulativ gelten. Das vom antiken Geographen Claudius Ptolemäus als Standort eines Kastells erwähnte Rufiana wird heute jedenfalls mit Ludwigshafen-Rheingönheim in Verbindung gebracht, während das ebenfalls vorgeschlagene Piri Mons der Name eines unbekannten Berges im rechtsrheinischen Gebiet, möglicherweise des Heidelberger Heiligenbergs, jedoch nicht der Siedlung an der Stelle Heidelbergs war.
== Geschichte ==
=== Vorrömische Zeit ===
Das Gebiet des heutigen Heidelberg ist schon seit der Jungsteinzeit dauerhaft besiedelt. Vorgänger der Römer im Heidelberger Raum waren während der Latènezeit die Kelten. Der Überlieferung der antiken Autoren Ptolemäus und Tacitus nach handelte es sich bei den keltischen Bewohnern des südwestdeutschen Raums um Angehörige des Volksstamms der Helvetier. Im 5. Jahrhundert v. Chr. gründeten die Kelten auf dem Gipfel des Heiligenbergs eine befestigte Stadt (Oppidum). Zwei Jahrhunderte später wurde die Höhensiedlung aus ungeklärtem Grund aufgegeben. In der Ebene zu Füßen des Berges befanden sich beiderseits des Neckars zahlreiche keltische Kleinsiedlungen. Im 1. Jahrhundert v. Chr. gaben die Helvetier unter dem Druck des vordringenden germanischen Stamms der Sueben unter Ariovist ihre angestammten Wohnsitze auf. In Heidelberg wird dies am abrupten Abbrechen von archäologischen Funden aus der Spätlatènezeit ersichtlich.
=== Neckarsueben ===
Nach ihrer Massenauswanderung versuchten die Helvetier in Gallien Fuß zu fassen. Dies diente Gaius Iulius Caesar als Anlass für den Gallischen Krieg. 58 v. Chr. schlugen die Römer unter Caesar die Helvetier bei Bibracte, eroberten bis 51 v. Chr. Gallien und drangen so bis zum Rhein vor. Das als Agri decumates bekannte Gebiet östlich des Rheins blieb fast ein Jahrhundert lang weitgehend unbesiedelt und wird von Ptolemaeus als „helvetische Einöde“ beschrieben. Nachdem der unter Augustus begonnene Versuch der Eroberung der Germania magna gescheitert war, bauten die Römer zur Zeit des Kaisers Tiberius ab 17 n. Chr. den Rhein als Außengrenze aus und begannen, im rechtsrheinischen Gebiet zum Schutz der Rheingrenze romtreue germanische Volksgruppen anzusiedeln. Am Unterlauf des Neckars ließ sich ein Teilstamm der Sueben nieder. Die Neckarsueben erhielten den Status einer Civitas und wurden so in das römische Verwaltungssystem eingegliedert. Hauptort der Civitas Ulpia Sueborum Nicrensium war Lopodunum, das heutige Ladenburg.
Die Neckarsueben behielten anfangs ihre elbgermanische Kultur bei und siedelten in eigenen Dorfgemeinschaften. In Heidelberg lassen sich neckarsuebische Dörfer in den heutigen Stadtteilen Bergheim, Wieblingen und Kirchheim nachweisen. Unter dem Einfluss der römischen Kultur wurden die Neckarsueben bis ins 2. Jahrhundert romanisiert.
=== Heidelberg als Teil des Römischen Reichs ===
Die endgültige Eingliederung Heidelbergs in das Römische Reich und der Bau des römischen Kastells erfolgten unter Kaiser Vespasian (69–79). Nachdem dieser aus den Wirren des Vierkaiserjahrs als Sieger hervorgegangen war und im Jahre 70 den Bataveraufstand am Niederrhein niedergeschlagen hatte, ließ er 73/74 die Kinzigtalstraße anlegen, um den Anmarschweg von der Donau an den Mittel- und Niederrhein zu verkürzen. Zur gleichen Zeit wurde die römische Außengrenze auch am nördlichen Oberrhein nach Osten vorgeschoben. Die Römer ersetzten die neckarsuebischen Milizen durch eigene Truppen und legten zur Sicherung der Grenze mehrere Kastelle an: Außer in Heidelberg entstanden in Aquae (Baden-Baden), Lopodunum (Ladenburg) und Groß-Gerau neue Kastelle.
In Heidelberg wurde das erste Kastell, das sogenannte Ostkastell, schon nach wenigen Jahren aufgegeben und einige hundert Meter weiter westlich verlegt. Das im Jahre 74 erbaute hölzerne Westkastell wurde durch einen Brand zerstört und um das Jahr 90 durch ein Steinkastell an gleicher Stelle ersetzt. Eine erste Pfahljochbrücke über den Neckar wurde um 80/90 erbaut. Um das Kastell herum entstanden beiderseits des Neckars Ansiedlungen (Vici), die dank der verkehrsgeografisch günstigen Lage Heidelbergs bald anwuchsen und wirtschaftlich prosperierten.
Im Jahre 85 wurden die ober- und niederrheinischen Heeresbezirke in zivile Provinzen umgewandelt. Dadurch wurde Heidelberg zu einem Teil der Provinz Germania superior (Obergermanien), deren Hauptstadt Mogontiacum (Mainz) war. Als Reaktion auf einen Aufstand des Provinzstatthalters Lucius Antonius Saturninus in Mogontiacum hielten die Römer es für nötig, die Verkehrssituation zwischen Rhein und Donau weiter zu verbessern. Daher wurde wohl zwischen 100 und 120, gleichzeitig mit dem Bau des Neckar-Odenwald-Limes, eine neue Militärstraße zwischen Mogontiacum und Augusta Vindelicum (Augsburg) angelegt. Dieser Weg führte auch über Heidelberg und querte hier den Neckar.
Im 2. Jahrhundert wurde die römische Grenze durch den Bau des Obergermanisch-Raetischen Limes erneut vorgeschoben. Um 135 wurde die zuvor in Heidelberg stationierte Einheit abgezogen und an den Limes nach Butzbach in die Wetterau verlegt. Die Zivilsiedlung prosperierte aber auch nach dem Abzug der Soldaten. Die alte hölzerne Brücke wurde um das Jahr 200 durch eine Steinpfeilerkonstruktion ersetzt.
=== Germaneneinfälle und Abzug der Römer ===
Im 3. Jahrhundert erlebte das Römische Reich eine schwerwiegende Reichskrise, als äußere Bedrohungen und innere Unruhen das römische Staatswesen erschütterten. Im Osten sahen sich die Römer durch das persische Sassanidenreich bedroht, an der Donau übten die Goten Druck aus, und am Rhein kam es zum Ansturm der Alamannen. Im Jahr 233 überrannte dieser Germanenstamm erstmals den Limes und führte einen Raubzug in römisches Territorium. Den römischen Kaisern gelang es trotz mehrerer Feldzüge gegen die Alamannen nicht, die Lage zu stabilisieren, so dass sich in den nächsten Jahrzehnten in Obergermanien Überfälle und Brandschatzungen häuften. Zugleich mit der Usurpation des Postumus, der 260 ein gallisches Sonderreich gründete, kam es zu einem verheerenden Einfall von Alamannen, Franken und Juthungen. Um 260/70 mussten die Römer den Limes aufgeben und zogen sich an den Rhein und die Donau zurück (Limesfall). Zwar gelang Kaiser Diokletian (284–305) die Konsolidierung des Römischen Reiches, doch war das rechtsrheinische Provinzgebiet endgültig verloren.
Auch Heidelberg war von den alamannischen Überfällen betroffen. Archäologisch lässt sich nachweisen, dass der Vicus um die Mitte des 3. Jahrhunderts mehrmals abbrannte – vermutlich als Folge der Brandschatzung durch die Alamannen. Als Reaktion auf die Einfälle wurden die Tortürme des Steinkastells verstärkt. Zeugnisse der Krisensituation sind auch die Funde eines Keramik- und Metalldepots in einem römischen Keller sowie eines Münzschatzes, der in den 30er Jahren des 3. Jahrhunderts aus Furcht vor den Germanen am Westtor des Kastells vergraben und nie wieder gehoben wurde. Ein Meilenstein aus dem Jahr 253 ist das späteste bekannte römische Inschriftenzeugnis in Heidelberg und (zusammen mit einem weiteren Meilenstein aus Lopodunum) überhaupt im rechtsrheinischen Gebiet Obergermaniens. Spätestens mit dem Abzug der Römer vom Limes wurde der Militärstandort in Heidelberg endgültig aufgegeben.
=== Nachrömische Zeit ===
Nach der Aufgabe des Limes begannen die Alamannen, das frei gewordene Land zu besiedeln, wovon in Heidelberg Grabfunde aus dem 4. und 5. Jahrhundert zeugen. Das römische Kastell und der Vicus wurden aber aufgegeben und auch die Brücke verfiel. Anders als im benachbarten Lopodunum, wo die Römer noch im 4. Jahrhundert einen Burgus als militärischen Brückenkopf in rechtsrheinischem Gebiet errichteten, erneuerten die Römer ihre Präsenz in Heidelberg nicht. Die ältesten Stadtteile Heidelbergs gehen auf Dorfgründungen aus der Zeit der fränkischen Landnahme im 6. Jahrhundert zurück, während die eigentliche Stadt erst im Mittelalter zu Füßen des Schlosses gegründet wurde und erstmals 1196 erwähnt wird. Somit besteht keine Kontinuität zwischen der antiken Besiedlung auf Heidelberger Gemarkung und der im Mittelalter einsetzenden Geschichte der heutigen Stadt.
== Das römerzeitliche Heidelberg ==
=== Kastell ===
In Heidelberg lässt sich eine Abfolge mehrerer römischer Kastelle nachweisen. Die ersten Anlagen waren aus Holz gebaut. Daher hatten sie keine allzu lange Lebensdauer und mussten alle 10–15 Jahre erneuert werden. Im östlichen Bereich Neuenheims lassen sich vier aufeinanderfolgende Holzkastelle nachweisen. Das sogenannte Ostkastell befand sich zu beiden Seiten der heutigen Ladenburger Straße zwischen Kepler- und Werderstraße. Das Ausfalltor (Porta praetoria) an der Südseite war direkt auf die Neckarbrücke ausgerichtet. Schon während der Regierungszeit Kaiser Vespasians (69–79) wurde das Ostkastell aufgegeben und planiert. Aus ungeklärtem Grund verlegten die Römer den Standort des Kastells rund 500 Meter nach Westen. Die ersten drei Westkastelle waren ebenfalls aus Holz gebaut.
Um das Jahr 90 wurde die Holzkonstruktion durch ein steinernes Kastell ersetzt. Es befand sich in etwa im Bereich der heutigen Straßenzüge Posseltstraße, Kastellweg, Gerhart-Hauptmann-Straße und Furchgasse und hatte eine fast quadratische Form mit 176 bzw. 178 Metern Seitenlänge. Die aus Buntsandsteinquadern erbaute Lagermauer war etwa 5 Meter hoch, 1,80–2,20 Meter stark. Hinter der Mauer war ein Erdwall aufgeschüttet, vor ihr lag ein 5–8 Meter breiter und 3,50 Meter tiefer Spitzgraben. An der Mauer befanden sich vier trapezförmige Ecktürme und 16 Zwischentürme. Das Heidelberger Kastell war nach dem typischen Schema römischer Militärlager angelegt: An jeder der vier Seiten befand sich ein Tor, an dessen Stelle der Graben unterbrochen war und das durch zwei massive Steintürme geschützt wurde. Den Lagermittelpunkt bildete das Stabsgebäude (Principia) mit Schreibstuben, Waffenkammern und Fahnenheiligtum. Vom Stabsgebäude führte die Via praetoria, die Hauptachse des rechtwinkligen Straßennetzes, zur Porta praetoria im Süden. Die beiden Seitentore (Porta principalis dextra und sinistra) wurden durch die Via principalis verbunden. Rechtwinklig zu dieser verlief die Via decumana zum Nordtor, der Porta decumana. Die Soldaten waren in Baracken untergebracht, die mit zehn Wohneinheiten für je acht Soldaten und einer separaten Wohnung für den Centurio jeweils für eine Zenturie Platz boten. Die Baracken waren ebenso wie die Stallanlagen in Fachwerkbauweise errichtet. Aus Stein gebaut waren das Wohnhaus des Kommandanten (Praetorium) samt Badeanlage, ein Speichergebäude (Horreum) und vermutlich auch das Lazarett (Valetudinarium).Der Fund der beinernen Endverstärkung eines Bogens im Bereich des Ostkastells legt nahe, dass in Heidelberg zeitweise eine Einheit von Bogenschützen stationiert war. Da Pfeil und Bogen bei den Römern nicht gebräuchlich waren, müsste es sich um Auxiliartruppen aus Syrien, Thrakien oder Spanien gehandelt haben. Funde von Ziegelstempeln sowie einer Weiheinschrift und eines eisernen Axtstempels belegen, dass im Westkastell nacheinander zwei Kohorten von Auxiliartruppen stationiert waren: die Cohors XXIV Voluntariorum und die Cohors II Augusta Cyrenaica. Letztere bestand aus 480 Fußsoldaten und 120 Reitern und stammte ursprünglich aus der Cyrenaica im heutigen Libyen. Um 135 wurde diese Einheit abgezogen und an den Limes nach Butzbach verlegt.
=== Vicus ===
Nach Gründung des Heidelberger Kastells entstanden um dieses herum kleinere Zivilsiedlungen (Vici). Zu Beginn des 2. Jahrhunderts wuchsen die Lagerdörfer an und verschmolzen zu einem großen Vicus beiderseits des Neckars. Auch nach dem Abzug der Garnison aus dem Kastell existierte der Vicus fort und erlebte sogar eine ausgesprochene Blütezeit. Dennoch entwickelte Heidelberg nie einen städtischen Charakter und blieb stets in Schatten des nahegelegenen Lopodunum (Ladenburg), das zwar auch nie den rechtlichen Status eines Municipium erlangte, aber dank Basilika, Forum und Theater deutlich urban geprägt war.
Der Vicus erstreckte sich entlang der Landstraße und nahm eine recht große Fläche von ca. 30 Hektar ein. Das Erscheinungsbild des Vicus wurde von den für Obergermanien typischen Streifenhäusern geprägt. Diese Gebäude waren in Fachwerkbauweise, ab dem 2. Jahrhundert auch aus Stein erbaut und zeichneten sich durch ihren schmalen Grundriss aus: Die stets zur Straße hin ausgerichtete Schmalseite war nur 6–12 Meter breit, während die Länge des Hauses bis zu 38 Meter betragen konnte. Neben Wohngebäuden, Geschäften und Werkstätten gab es im Vicus auch öffentliche Bauten wie mehrere Tempel und ein Badehaus. Die Wasserversorgung der Siedlung wurde wohl durch eine Druckleitung aus Tonröhren gewährleistet.Die Einwohner des römerzeitlichen Vicus lebten vor allem von Handel und Handwerk. Wegen der reichen Tonvorkommen im Gebiet des heutigen Ziegelhausen wurde in Heidelberg Töpferei betrieben. Das zum Brennen benötigte Holz konnte im Odenwald gewonnen und über den Neckar herbeigeflößt werden, die verkehrsgünstige Lage erleichterte den Vertrieb. So entwickelte sich der Vicus von Heidelberg zu einem bedeutenden Töpferzentrum. Insgesamt sind 60 Töpferöfen nachgewiesen worden. Weitere Erwerbszweigen belegen die Werkzeuge von Schmieden, Schreinern, Gerbern, Malern, Maurern, Zimmermännern und Fleischern, die in Heidelberg gefunden worden sind. Von Handelsaktivitäten zeugt eine ungewöhnliche Waage, deren ursprünglich vergoldete Waagschalen mit Porträts des Kaisers Domitian (regierte 81–96) verziert waren.Der Heidelberger Vicus ist größtenteils überbaut worden, sodass viel archäologische Substanz zerstört worden ist. Größere Flächengrabungen konnten nie stattfinden, einzig im Bereich der Ladenburger Straße 80–84 wurden vier Streifenhäuser ausgegraben.
=== Neckarbrücke ===
Die römische Neckarbrücke querte den Fluss an der Stelle einer schon in vorgeschichtlicher Zeit begangenen Furt etwa auf der Höhe der heutigen Keplerstraße auf Neuenheimer Seite bzw. der Thibautstraße am Bergheimer Ufer. Die erste Brücke wurde spätestens um 80/90 errichtet. Vielleicht entstand sie aber auch schon zur Zeit Kaiser Neros (54–68), als die Römer Heidelberg noch nicht dauerhaft in ihr Reich eingegliedert hatten, aber schon strategische Vorposten rechts des Rheins eingerichtet hatten. Diese erste Konstruktion war eine hölzerne Pfahljochbrücke. Um das Jahr 200 wurde sie durch eine Steinpfeilerbrücke ersetzt.
Die Römerbrücke bestand aus einem hölzernen Oberbau, der auf sieben Steinpfeilern ruhte, und besaß eine Länge von 260 Metern. Die Fahrbahn dürfte ebenso wie die zur Brücke führende Fernstraße neun Meter breit gewesen sein und lag zehn Meter über dem mittleren Wasserstand. Die Pfeiler standen im Abstand von 34,50 Metern zueinander und hatten einen Grundriss von 15,80 Metern Länge und 7,20 Metern Breite. Die Buntsandsteinquader des Pfeilers waren auf Pfahlrosten gegründet, die aus Eichenpfählen mit eisernen Pfahlschuhen bestanden. Auf dem mittleren Pfeiler befand sich ein Neptun-Heiligtum mit einer kleinen Kapelle. Dessen Altar nennt den Namen des Baumeisters der Brücke, Valerius Paternus. Am Ufer flussabwärts der Brücke ist eine Kaimauer nachgewiesen, die auf einen Hafen hinweist. Am südlichen Brückenkopf befand sich eine Benefiziarierstation, welche die Legio VIII Augusta nach dem Abzug der Garnison aus dem Heidelberger Kastell um das Jahr 150 zum Schutz der Brücke eingerichtet hatte.Der Altar des Neptun-Heiligtums wurde 1876 im Neckar gefunden. Ein Jahr später wurden erstmals die hölzernen Pfeilerfundamente, die bei Niedrigwasser aus dem Fluss ragten, untersucht. Das nördliche Widerlager der Brücke wurde 1894 angeschnitten. Im Zuge der Absenkung des Flussbetts im Jahr 1972 wurden insgesamt 43 Eichenpfähle der Pfeilergründungen geborgen.
=== Religion ===
In Heidelberg sind zahlreiche Weihungen und religiöse Denkmäler aus der Römerzeit gefunden worden, die belegen, dass neben römischen Göttern wie Jupiter, Minerva, Neptun, Fortuna, Hercules oder Vulcanus auch orientalische Gottheiten wie Mithras sowie die keltisch-germanischen Götter Cimbrianus und Visucius verehrt wurden. Ein Zeugnis für die Vermischung der römischen Religion mit einheimischen Glaubensvorstellungen sind auch mehrere in Heidelberg gefundene Jupitergigantensäulen. Diese auf einer Säule stehenden Darstellungen des Jupiter, der einen Giganten niederreitet, waren typisch für die Nordwestprovinzen. Sie gehörten meist zu kleineren Heiligtümern, in denen neben Jupiter auch andere Gottheiten verehrt wurden.
Auf dem Gipfel des Heiligenbergs befand sich ein Kultbezirk mit mehreren Tempeln und einer Jupitergigantensäule. Eines der Kultgebäude wurde 1983 unter den Ruinen des mittelalterlichen Michaelsklosters ausgegraben. Wie die bei den Ausgrabungen entdeckten Votivgaben beweisen, wurde in diesem Gebäude der Gott Merkur verehrt. Seine Gleichsetzung mit Cimbrianus bzw. Visucius (sog. Interpretatio Romana) könnte auf eine Verbindung mit einem älteren keltischen Heiligtum an gleicher Stelle hinweisen. Auch das Michaelskloster steht in einer gewissen Kontinuität zu dem römischen Tempel, da der Erzengel Michael ebenso wie Merkur als Begleiter der Toten ins Jenseits gilt.Ab dem 2. Jahrhundert verbreiteten sich in Heidelberg vor allem unter Kaufleuten und Soldaten verschiedene orientalische Mysterienkulte, allen voran der Mithraismus. In Heidelberg befanden sich zwei größere Mithras-Heiligtümer (Mithräen). In dem 1838 an der Neuenheimer Landstraße 80 entdeckten Mithräum I wurden mehrere Reliefbilder gefunden, welche verschiedene zentrale Motive der mithräischen Ikonografie darstellen. Abgebildet sind Mithras, der einen mythischen Stier tötet (Tauroktonie), Mithras mit dem Sonnengott Sol und ein reitender Mithras.
=== Totenkult ===
Die Römer bestatteten ihre Toten stets außerhalb der Siedlungen. Daher befanden sich auch in Heidelberg die Friedhöfe entlang der Ausfallstraßen im Westen von Neuenheim und im Süden von Bergheim. Mit über 1400 Gräbern ist das Neuenheimer Gräberfeld, das sich auf einer Länge von 450 Metern beiderseits der Landstraße nach Lopodunum erstreckte, eines der größten im römischen Deutschland. Der Friedhof ist äußerst gut erhalten, da sein Gebiet lange landwirtschaftlich genutzt wurde und unter der schützenden Humusschicht unangetastet blieb. Als die Universität Heidelberg in den 1950er und 60er Jahren im Neuenheimer Feld einen neuen Campus baute, wurde das Gräberfeld durch systematische Flächengrabungen archäologisch erschlossen. Die Grabfunde datieren aus der Zeit zwischen dem späten 1. Jahrhundert und der Wende zum 3. Jahrhundert. Warum der Friedhof schon ein halbes Jahrhundert früher als der Vicus aufgegeben wurde, ist unklar. Brandbestattungen waren in Heidelberg wie in den meisten Provinzen des Reiches vorherrschend, doch kam ab dem Ende des 2. Jahrhunderts, wie wiederum in vielen Teilen des römischen Reiches, auch die Sitte der Körperbestattung verstärkt auf. Je nach den Vermögensverhältnissen des Verstorbenen wurden die Gräber durch einfache Holztafeln oder repräsentative Grabbauten aus Stein markiert. Ein besonders monumentales Beispiel ist ein ca. 25 Meter hohes, reich geschmücktes Pfeilergrabmal aus der Zeit um 200, das 1896 in Rohrbach entdeckt wurde. Es lag an einer weithin sichtbaren Stelle an der römischen Fernstraße südlich von Heidelberg und gehörte zum Friedhof einer nahegelegenen Villa rustica.
== Forschungsgeschichte ==
Zu den ersten Gelehrten, die sich mit der römischen Geschichte Heidelbergs beschäftigten, gehörte Philipp Melanchthon. Der Philologe und Reformator versuchte 1508, die römischen Inschriften, die in den Mauern der Klöster auf dem Heiligenberg eingelassen waren, zu entziffern. Der Historiker Marquard Freher berichtete 1613 in seinem Werk Origines Palatinae über Funde aus der Römerzeit. 1838 wurde das Mithräum von Neuenheim entdeckt. Der Philologe Friedrich Creuzer, der zu jener Zeit an der Universität Heidelberg wirkte, veröffentlichte eine Abhandlung über den Fund. Systematische archäologische Untersuchungen erfolgten in Heidelberg ab der Mitte des 19. Jahrhunderts unter Leitung von Karl Pfaff und wurden nach dem Ersten Weltkrieg von Ernst Wahle weitergeführt. Um die in Heidelberg ausgegrabenen Fundstücke auszustellen, kaufte die Stadt Heidelberg das Palais Morass auf, in dem 1908 das Kurpfälzische Museum untergebracht wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg widmete sich Berndmark Heukemes der Erforschung des römischen Heidelberg und konnte die antiken Hinterlassenschaften vor der Zerstörung durch den Bauboom der 1950er und 60er Jahre dokumentieren.Anders als etwa in Mainz oder Trier (Augusta Treverorum) sind in der heutigen Stadt praktisch keine Reste des antiken Heidelbergs zu sehen. Die Einzelfunde der Grabungen sind größtenteils im Kurpfälzischen Museum der Stadt Heidelberg und im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe ausgestellt.
== Literatur ==
Berichte über Ausgrabungen zum römischen Heidelberg erscheinen in der jährlich publizierten Fachzeitschrift Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg.
Tilmann Bechert: Die Frühzeit bis zu den Karolingern. In: Elmar Mittler (Hrsg.): Heidelberg. Geschichte und Gestalt. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1996, ISBN 3-921524-46-6, S. 20–37.
Francisca Feraudi-Gruénais, Renate Ludwig: Die Heidelberger Römersteine. Bildwerke, Architekturteile und Inschriften im Kurpfälzischen Museum Heidelberg. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017, ISBN 978-3-8253-6693-3.
Andreas Hensen: Das römische Brand- und Körpergräberfeld von Heidelberg I (= Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg. Band 108). 2 Teilbände, Theiss, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-8062-2333-0.
Berndmark Heukemes: Heidelberg. In: Philipp Filtzinger, Dieter Planck, Bernhard Cämmerer (Hrsg.): Die Römer in Baden-Württemberg. 3. Auflage, Konrad Theiss, Stuttgart 1986, ISBN 3-8062-0287-7, S. 310–321.
Renate Ludwig: Unterwegs von Lopodunum nach Heidelberg. In: Vera Rupp, Heide Birley (Hrsg.): Landleben im römischen Deutschland. Theiss, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8062-2573-0, S. 71–74.
Renate Ludwig: Kelten, Kastelle und Kurfürsten. Archäologie am Unteren Neckar. Katalog zur Ausstellung „Archäologie in Heidelberg“. Hrsg.: Kurpfälzisches Museum der Stadt Heidelberg. Theiss, Stuttgart 1997, ISBN 3-8062-1241-4.
Renate Ludwig, Petra Mayer-Reppert, Einhart Kemmet: Dem Bildersturm entkommen. Die neuentdeckte Jupitergigantensäule aus Heidelberg. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg. Jahrgang 39, Heft 2, 2010, S. 87–91 (PDF).
Imperium Romanum – Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau. Begleitband zur Ausstellung des Landes Baden-Württemberg im Kunstgebäude Stuttgart 1. Oktober 2005 bis 8. Januar 2006. Hrsg. Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg. Theiss, Stuttgart 2005, ISBN 3-8062-1945-1.
== Weblinks ==
http://www.zum.de/Faecher/G/BW/Landeskunde/rhein/hd/km/archaeol/index_rom.htm
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heidelberg_in_r%C3%B6mischer_Zeit
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Heppenheimer Tagung
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= Heppenheimer Tagung =
Als Heppenheimer Tagung oder Heppenheimer Versammlung wird ein Treffen von 18 führenden süd- und westdeutschen liberalen Politikern am 10. Oktober 1847 im Gasthof „Zum halben Monde“ in Heppenheim an der Bergstraße bezeichnet. Ein wesentliches Diskussionsergebnis der Heppenheimer Tagung war die Forderung nach der Schaffung eines deutschen Nationalstaats und der Gewährung von Bürgerrechten. Diese Forderungen können als Programm der gemäßigten bürgerlich-liberalen Kräfte im Vorfeld der Märzrevolution angesehen werden. Gleichzeitig war das Treffen ein Wegbereiter der Frankfurter Nationalversammlung.
== Politisches Umfeld ==
Die nach der Französischen Revolution durch den napoleonischen Code civil in einigen deutschen Staaten eingeführten Bürgerrechte sowie die anschließend noch nach dem Wiener Kongress von 1815 meist in Anlehnung an Artikel 13 der Bundesakte in einigen Staaten des Deutschen Bundes gewährten und oft an alte standesrechtliche Traditionen anknüpfenden Verfassungen waren in den Jahren zwischen 1819 und 1830 durch die Karlsbader Beschlüsse und weitere restaurative Maßnahmen beschnitten worden. Für eine kurze Zeit gelang durch die 1830 aufkommenden Unruhen in Frankreich und Belgien nochmals eine Umkehr dieser Tendenz, in deren Folge Staaten wie Sachsen oder das Kurfürstentum Hessen Verfassungen erhielten und in Baden die Pressefreiheit nicht mehr beeinträchtigt wurde. Doch nach der Demonstration für Bürgerrechte und nationalstaatliche Einheit beim Hambacher Fest 1832 und dem erfolglosen Versuch einer bewaffneten Erhebung beim Frankfurter Wachensturm 1833 wurde der Druck auf die Vertreter konstitutioneller und demokratischer Ideen durch Zensur und Versammlungsverbote wieder erhöht.
Als Betätigungsfeld der parlamentarisch-demokratischen Opposition und der Bewegung für einen deutschen Nationalstaat verblieben danach im Wesentlichen nur noch die Kammerparlamente der Staaten, in denen Landesverfassungen umgesetzt worden waren. Dies gilt insbesondere für die süddeutschen Staaten, allen voran Baden. Die Abgeordneten der unterschiedlichen Länderkammern hatten im Vormärz allerdings vergleichsweise wenig Kontakt untereinander, wenngleich einzelne Politiker in ganz Deutschland über persönliche Netzwerke verfügten. Hier ragt insbesondere der Hallgartenkreis um Adam von Itzstein heraus. Aber auch andere bekannte Politiker wie Robert Blum, David Hansemann oder Friedrich Daniel Bassermann verfügten über ausgedehnte Kontakte in vielen Staaten des Deutschen Bundes.
Mitte der 1840er Jahre gab es infolge der Verstärkung des Nationalbewusstseins durch die Eskalation der Schleswig-Holsteinischen Erhebung und der Errichtung der Festung Rastatt und der Bundesfestung Ulm sowie durch die Zunahme der sozialen und ökonomischen Spannungen, die in mehreren Staaten zu den Hungerunruhen 1847 führten, intensivere Versuche, die Zusammenarbeit der oppositionellen liberalen und nationalstaatlichen Kräfte zu vernetzen und zu vereinheitlichen, so beispielsweise durch die Gründung der Deutschen Zeitung 1847.
== Die Tagung ==
=== Organisation und Planung ===
In diesem Zusammenhang kam es gemäß einer schriftlichen Schilderung Itzsteins an Blum 1847 zu einem zufälligen Treffen Itzsteins mit Hansemann in der Wohnung des Mitherausgebers der Deutschen Zeitung, Karl Mathy. Hierbei vertrat Hansemann die Idee, dass sich oppositionelle Kammerabgeordnete der Landtage Badens, Württembergs, Hessens und Rheinpreußens in einem gemeinsamen Treffen über ein koordiniertes Verhalten in den jeweiligen Kammerparlamenten abstimmen sollten, um der Idee der deutschen Einheit und der Bürgerrechte zu einem größeren Einfluss zu verhelfen. Die Hoffnungen der Organisatoren gingen nach einem Schreiben Bassermanns an Heinrich von Gagern so weit, „daß wir hoffen dürfen, einen Anfang eines Deutschen Parlaments in Heppenheim zu bilden“.In der Folge suchte Hansemann nach einem geeigneten Veranstaltungsort und entschied sich schließlich für das hessische Heppenheim. Das ländliche Heppenheim hatte den Vorteil, abseits der Zentren potenzieller Revolutionäre wie beispielsweise Mannheim gelegen zu sein. Zugleich war es über die neueröffnete Main-Neckar-Eisenbahn auch bequem von Norden über Frankfurt am Main und von Süden über Mannheim zu erreichen und verfügte mit dem Halben Mond auch über ein überregional bekanntes Gasthaus in Bahnhofsnähe.
Die Einladungen an die gewünschten Teilnehmer erfolgten ab dem 20. September 1847 durch Briefe Hansemanns, Bassermanns und Mathys an ausgewählte Landtagsabgeordnete, die aufgefordert wurden, ihrerseits weitere vertrauenswürdige Abgeordnete einzuladen. Während Hansemann insbesondere Abgeordnete aus dem Rheinland und Kurhessen einlud, darunter Hermann von Beckerath, Ludolf Camphausen, August von der Heydt, Gustav Mevissen, Georg von Vincke und Karl Wilhelm Wippermann, schrieben Mathy und Bassermann hauptsächlich an süddeutsche Parlamentarier, unter anderem an Theodor Reh und Heinrich von Gagern, der in diesen Schreiben aufgrund seines Bekanntheitsgrads als Teilnehmer stets werbend herausgestellt wurde, aber auch an eher radikal-demokratische Politiker wie Franz Peter Buhl und Christian Kapp. Zwar ist in den Schreiben der Initiatoren immer wieder die Rede von Einladungen auch an sächsische Abgeordnete, doch scheinen diese Schreiben nicht abgegangen zu sein.
=== Teilnehmer ===
Die Eingeladenen stimmten sich ihrerseits bezüglich gemeinsamer Anreise untereinander ab. Hierbei unterlief Mevissen das Missgeschick, dass er sich im Datum irrte und daher erst einen Tag nach der Veranstaltung anreiste. Absagen erhielten die Initiatoren von mehreren Eingeladenen, darunter von allen angeschriebenen kurhessischen, bayerischen und fast allen preußischen Abgeordneten. Einige der Absagenden, beispielsweise Theodor Reh und August Emmerling, begründeten ihren Entschluss auch mit der Furcht vor staatlichen Repressalien und dem Unwillen der eigenen Wählerschaft, wenn die Teilnahme an einem als radikal einzustufenden Treffen bekannt würde.
Am Treffen nahmen daher schließlich nur 18 Kammermitglieder teil, die zum großen Teil Abgeordnete der badischen Zweiten Kammer oder der württembergischen Zweiten Kammer waren. Die meisten der Teilnehmer waren über ihren Staat hinaus renommierte Liberale, der größte Teil der Personen war später auch im Vorparlament und der Frankfurter Nationalversammlung vertreten.
==== Teilnehmer aus Baden ====
Neun der 18 Teilnehmer an der Heppenheimer Tagung waren Abgeordnete in der badischen Zweiten Kammer:
Friedrich Daniel Bassermann (1811–1855) war Kaufmann aus Mannheim. Seit 1841 war er einer der profiliertesten Oppositionspolitiker in der badischen Zweiten Kammer. Er war Mitgründer und Verleger der Deutschen Zeitung. In der Frankfurter Nationalversammlung wurde er 1848 Vorsitzender des Verfassungsausschusses.
Franz Peter Buhl (1809–1862), Winzer aus Deidesheim, war seit 1844 Abgeordneter für Waldshut-Tiengen in der badischen Zweiten Kammer.
August Dennig (1805–1883), Unternehmer aus Pforzheim, war seit 1845 Abgeordneter in der badischen Zweiten Kammer.
Adam von Itzstein (1775–1855) war seit 1822 Abgeordneter in der Zweiten Kammer, 1823 schied er aus politischen Gründen aus dem badischen Staatsdienst aus. Sein Gut in Hallgarten diente der liberalen Opposition als Treffpunkt für Diskussionsveranstaltungen.
Christian Kapp (1798–1874) war bis 1844 Professor an der Universität Heidelberg und badischer Hofrat, danach verzichtete er aus politischen Gründen auf seinen Lehrstuhl. Er vertrat seit 1846 Offenburg in der Zweiten Kammer. 1848 wurde er Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung.
Karl Mathy (1807–1868) arbeitete seit seiner Rückkehr aus der Schweiz, in die er 1835 aus politischen Gründen emigrieren musste, als Journalist in Karlsruhe und Mannheim und war Mitherausgeber der Deutschen Zeitung. Seit 1842 war er Abgeordneter für Konstanz in der badischen Zweiten Kammer. 1866 wurde Mathy badischer Staatsminister.
Alexander von Soiron (1806–1855) arbeitete als Rechtsanwalt in Mannheim. Seit 1845 war er Abgeordneter für Lahr in der Zweiten Kammer. 1848 wurde er Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung.
Carl Theodor Welcker (1790–1869) war Professor an der Universität Freiburg und wurde aus politischen Gründen mehrfach zwangssuspendiert und in den Ruhestand versetzt. Welcker war zusammen mit Karl von Rotteck Herausgeber des Staatslexikons. Seit 1831 war er Mitglied der Zweiten Kammer Badens.
Ludwig Weller (1800–1863) war wie Soiron Rechtsanwalt in Mannheim. Er gehörte der Zweiten Kammer von 1835 bis 1852 an.
==== Teilnehmer aus Hessen-Darmstadt ====
Zwei Teilnehmer waren Abgeordnete der Zweiten Kammer des Großherzogtums Hessen:
Heinrich von Gagern (1799–1880) war bis zu seiner zwangsweisen Versetzung in den Ruhestand 1832 hessischer Beamter. Gagern gehörte zu den bekanntesten Oppositionspolitikern im Deutschen Bund und war der profilierteste Verfechter einer konstitutionellen Monarchie für Deutschland. 1847 war er Abgeordneter für Lorsch in der hessischen Zweiten Kammer. 1848 wurde er Präsident der Nationalversammlung, Reichsministerpräsident sowie Ministerpräsident des Großherzogtums Hessen.
Philipp Wilhelm Wernher (1802–1887) lebte als Winzer in Nierstein. Er war seit 1844 Mitglied der Zweiten Kammer Hessen-Darmstadts. 1848 wurde er Mitglied der Nationalversammlung.
==== Teilnehmer aus Nassau ====
August Hergenhahn (1804–1874) war der einzige Abgeordnete aus der nassauischen Zweiten Kammer in Heppenheim. Er war Justizbeamter aus Wiesbaden, das er seit 1846 als Abgeordneter vertrat. 1848 wurde er Ministerpräsident der Märzregierung des Herzogtums.
==== Teilnehmer aus Preußen ====
David Hansemann (1790–1864) war ein erfolgreicher Industrieller und Bankier aus Aachen. Seit 1845 war er Abgeordneter im rheinischen Provinziallandtag. 1848 wurde Hansemann in der preußischen Märzregierung Finanzminister. 1851 gründete er die Disconto-Gesellschaft.
==== Teilnehmer aus Württemberg ====
Fünf Abgeordnete der württembergischen Zweiten Kammer nahmen an der Versammlung in Heppenheim teil:
Friedrich Federer (1799–1883) war Mitinhaber eines Bankhauses in Stuttgart. Von 1845 bis 1849 war er Abgeordneter in der württembergischen Zweiten Kammer. 1848 wurde er Mitglied der Nationalversammlung und war 1849 wie Gagern und Soiron Delegierter in der Kaiserdeputation.
Karl August Fetzer (1809–1885) lebte als Rechtsanwalt und Richter in Stuttgart und war Abgeordneter in der Zweiten Kammer. 1848 wurde er Schriftführer der Frankfurter Nationalversammlung.
Adolf Goppelt (1800–1875) betrieb ein Handelsgeschäft in Heilbronn. Seit 1839 war er Abgeordneter für Heilbronn in der Zweiten Kammer Württembergs. 1848 wurde er zum Finanzminister der württembergischen Märzregierung berufen.
Friedrich Römer (1794–1864) war Rechtsanwalt in Stuttgart und der überregional bekannte Führer der liberalen Opposition in der württembergischen Zweiten Kammer. 1848 wurde er Justizminister der württembergischen Märzregierung. 1849 lud er die zerfallende Nationalversammlung als Rumpfparlament nach Stuttgart und sorgte kurz darauf mit Militärgewalt für die endgültige Auflösung der Nationalversammlung.
Wilhelm Murschel (1795–1869) arbeitete ebenfalls als Rechtsanwalt in Stuttgart. Er war Abgeordneter für Rottweil in der Zweiten Kammer und wurde 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung.
=== Ergebnis der Versammlung ===
Die Bekanntmachung der Verhandlungen und Diskussionsergebnisse der Heppenheimer Tagung erfolgte hauptsächlich durch einen Bericht Mathys in der Deutschen Zeitung vom 15. Oktober 1847. Weitere Zeitungen übernahmen diese Informationen und sorgten so für eine weite Verbreitung der Ergebnisse der Heppenheimer Tagung. Die Schaffung dieser Öffentlichkeit war eine Besonderheit, da bisherige Treffen auch aus Sorge vor staatlicher Verfolgung stets privat gehalten wurden. Bassermann sah gerade in dieser Veröffentlichung „den großen Unterschied zwischen dieser Zusammenkunft und den früheren auf Hallgarten, in Sachsen usw.“
Entsprechend diesem Zeitungsbericht war
Das Treffen wies jedoch weit über dieses Thema hinaus, da es über den Wunsch nach jährlichen Treffen bereits den Weg bereitete für die Heidelberger Versammlung und das Vorparlament.
Die Verhandlungen und Beschlüsse der Versammlung beschäftigten sich vor allem mit der Schaffung eines deutschen Nationalstaats und dessen zugehöriger Volksvertretung. Insbesondere auf Vorschlag Hansemanns und Mathys und gegen anfänglichen Widerstand Bassermanns sowie Welckers wollten die Anwesenden diese „Nationalanliegen“ durch die Ausweitung der Kompetenzen und Schaffung einer Regierung für den seit 1834 bestehenden Deutschen Zollverein erreichen, da „vom Deutschen Bund nichts ersprießliches zu erwarten sei“. Letzteres vor allem aufgrund der Tatsache, „dass auswärtige Mächte wie Dänemark und Niederlande“ Teil des Bundes seien und dieser daher niemals ein Interesse an einer Vereinigung Deutschlands haben könne. Der Zollverein war für die Anwesenden dagegen „das einzige Band gemeinsam deutscher Interessen“ und dieses war eben „nicht vom Bunde, sondern außerhalb desselben durch Verträge zwischen den einzelnen Staaten geschaffen“. Die Herausbildung eines einheitlichen Staatswesens sollte daher durch die Kompetenzübertragung der Handels-, Verkehrs-, Steuer- und Gewerbepolitik der Staaten des Deutschen Bundes an den Zollverein geschehen. Hierbei sei „die Mitwirkung des Volkes durch gewählte Vertreter unerlässlich“. Hierunter wurde in der Tagung eine konsultativ arbeitende Ständeversammlung verstanden, von deren Vertrauen ein fünfköpfiges den Zollverein führendes Kollegium abhängig sein sollte.
Dass die Umwandlung des Zollvereins in ein politisches Instrument nicht leicht sein würde, war den Anwesenden bewusst, insbesondere da man sich den Zollverein letztendlich als großdeutsche Lösung vorstellte. Die Tagungsteilnehmer gingen auch davon aus, dass die Staaten nicht von alleine dem Zollverein beitreten und weitere Kompetenzen abtreten würden, hofften aber auf das Entstehen einer ökonomischen Zwangssituation durch die volkswirtschaftlichen Vorteile des dann mit mehr Kompetenzen versehenen Zollvereins. Hierbei legte Hansemann Wert darauf, dass diese Lösung nicht zu einer Hegemonie Preußens führen sollte, wie sie im bisherigen Zollverein durch die einzelvertraglichen Gestaltungen der Mitgliedsstaaten mit Preußen bereits angelegt war.
Des Weiteren forderten die Parlamentarier stellten aber hierbei klar, dass dies mit verfassungsmäßigen Mitteln, also nicht durch Revolution, erreicht werden sollte.Zu den drängenden sozialen Problemen der unteren Bevölkerungsschichten, die durch mehrere Missernten und zerbrechende vorindustrielle Strukturen erhebliche Not litten (Pauperismus), nahm die Aufstellung der Tagungsergebnisse nur dahingehend Stellung, dass eine Kommission die Angelegenheit untersuchen und in einem Jahr Anträge formulieren solle, die die „gerechte Verteilung der öffentlichen Lasten zur Erleichterung des kleinen Mittelstandes und der Arbeiter“ berücksichtigen.
Die Besprechungsergebnisse der Tagung wichen damit vom traditionellen liberalen Forderungskatalog, der für gewöhnlich eine parlamentarische Vertretung beim Deutschen Bund vorsah, ab. Die auf Hansemann zurückzuführende Argumentation, den Zollverein dem Deutschen Bund vorzuziehen, basierte dabei zum einen auf der bereits stattfindenden Harmonisierung der Gesetze innerhalb des Zollvereins, die ein zentrales Gesetzgebungsorgan nach sich ziehen werde, zum anderen auf der außenpolitischen Sogwirkung, die der Zollverein als gesamtdeutsche Vertragspartei der Handelspolitik bilde. Darüber hinaus erwartete Hansemann von einem Bedeutungszuwachs des Zollvereins eine Stärkung der politischen Position der Gewerbetreibenden gegenüber dem Adel.
== Heppenheimer Tagung und Offenburger Versammlung ==
Die Forderungen zum Umgang mit den sozialen und ökonomischen Problemen der Kleinbauern und Handwerker sowie die Mittel und Wege zur Durchsetzung politischer Ziele unterschieden sich von den einen Monat zuvor in Offenburg im Rahmen einer Volksversammlung proklamierten Forderungen der Offenburger Versammlung. Hieraus sowie aus der Tatsache, dass am linken Rand einzuordnende Politiker wie Gustav Struve, Robert Blum und Friedrich Hecker nicht eingeladen wurden, wurde in der Forschung, insbesondere der DDR-Forschung, oft der Schluss gezogen, dass die Heppenheimer Tagung zum einen eine Antwort der gemäßigten Liberalen auf die „demokratische“ Offenburger Veranstaltung gewesen wäre, und zum anderen, dass bereits hier der spätere Bruch zwischen radikal-demokratischer und konstitutionell-liberaler Opposition sichtbar würde. Dieser Schluss erweist sich jedoch als vorschnell. Der Kreis der Eingeladenen war zum einen von Anfang an auf Abgeordnete beschränkt, was Blum und Struve ausschloss, auch Hecker hatte sein Mandat in der badischen Zweiten Kammer bereits im März 1847 niedergelegt. Dagegen war beispielsweise Kapp, einer der Hauptredner in Offenburg und daher von Hochverratsermittlungen Betroffener, in Heppenheim anwesend, was gegen die Konkurrenz der Veranstaltungen spricht. Auch hatte das Offenburger Treffen den Charakter einer regionalen Volksversammlung, so dass notwendigerweise die Forderungen einfacher und radikaler waren und vor allem soziale Themen sowie Bürgerrechtsfragen dominierten, während beim Heppenheimer Treffen als Versammlung von Abgeordneten mehrerer Staaten die deutsche Einigung im Vordergrund stand. Darüber hinaus sind sich die Programme noch recht ähnlich. Aus diesen Gründen und aus späteren freundschaftlichen Kontakten der beiden angeblichen Lager kann geschlossen werden, dass der Bruch in der Opposition erst 1848 erfolgte und mit der Heppenheimer Tagung nicht in Zusammenhang steht.
Der einzige bereits zu diesem Zeitpunkt auftauchende Konfliktpunkt war ein ökonomischer und betraf die Sicherung der Lebensverhältnisse der von den zerfallenden vorindustriellen Strukturen betroffenen Kleinbauern und Handwerker. Hier vertraten Hecker und Struve ein aus Sicht der Liberalen rückwärtsgewandtes Industrie- und Handelsprogramm, das gegen die Abschaffung von Zöllen und grenzüberschreitendem Handel gerichtet war, während die Liberalen die Freigabe von Handel und Gewerbe im Deutschen Bund gerade als Schrittmacher der Schaffung eines Nationalstaats und der Hebung des allgemeinen Wohlstands betrachteten.
== Auswirkungen der Heppenheimer Tagung ==
Der Bericht über die Tagung in der Deutschen Zeitung löste bei den Regierungen im Deutschen Bund neben Konsultationen auch geheimdienstliche Aktivitäten gegen die teilnehmenden Abgeordneten aus. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. schmähte die Teilnehmer der Tagung in einem Brief an seinen Londoner Gesandten Christian Karl Josias von Bunsen als „Sekte“ und „Heppenheimer Demagogen“.
Der badische Minister Alexander von Dusch äußerte sich gegenüber dem württembergischen Gesandten dahingehend, dass die Tagung
Aufgrund der sich zu Beginn des Jahres 1848 überschlagenden politischen Ereignisse im Vorfeld der nahenden Märzrevolution erfolgten jedoch kaum Aktionen der Regierungen. Die Heppenheimer Programmpunkte tauchten zusammen mit den Offenburger Forderungen an unterschiedlichen Stellen und in mehreren Volksversammlungen immer wieder auf, so beispielsweise bei der Stuttgarter Volksversammlung am 17. Januar 1848 und der Mannheimer Volksversammlung am 27. Februar 1848.
Bassermann stellte schließlich – nach eigenen Worten „Der in Heppenheim getroffenen Verabredung gemäß“ – am 12. Februar 1848 in der badischen Zweiten Kammer in Anlehnung auf die von ihm schon 1844 gestellte Motion Bassermann den Antrag auf eine – allerdings vom Zollverein unabhängige – deutsche Nationalversammlung. Hiermit erzielte er im Zuge der politischen Entwicklung der Februarrevolution in Frankreich und der sich anschließenden Märzrevolution in den Staaten des deutschen Bundes eine breite Aufmerksamkeit. Die sich verselbständigende öffentliche Bewegung führte über die Heidelberger Versammlung zur Einberufung des Vorparlaments, das die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung vorbereitete und in dessen Abschlussdokument vom 4. April 1848 auf die „zu Heppenheim und Heidelberg zusammengetretenen Männer“ ausdrücklich Bezug genommen wird. Am 18. Mai 1848 trat schließlich in der Paulskirche in Frankfurt die Nationalversammlung erstmals zusammen.
== Bezugnahme auf Heppenheim ==
Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt die FDP am 10. Dezember 1948 ihren Gründungsparteitag in Heppenheim ab. Auf diesem Parteitag schlossen sich die liberalen Parteien der drei westlichen Besatzungszonen zu einer Partei zusammen. Mit dieser Ortswahl wollten sich die Gründungsmitglieder in das liberale Erbe der historischen Heppenheimer Tagung stellen.
== 21. Jahrhundert ==
Im Jahre 2011 wurde an der Stelle des Tagungsortes in Heppenheim das leerstehende Gebäude des Halber Mond in ein Tagungshotel umgewandelt, das den Namenszusatz Haus der Demokratie trägt.
== Quellenangaben ==
== Literatur ==
Friedrich Daniel Bassermann: Denkwürdigkeiten 1811–1855. Herausgegeben von Ernst von Bassermann-Jordan und Friedrich von Bassermann-Jordan. Frankfurter Verlags-Anstalt, Frankfurt 1926.
Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland. Siedler, Berlin 1989, ISBN 3-88680-259-0.
Roland Hoede: Die Heppenheimer Versammlung vom 10. Oktober 1847. W. Kramer, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-7829-0471-0.
Karl Mathy: Versammlung von Kammermitgliedern aus verschiedenen deutschen Staaten; [...]. In: Deutsche Zeitung. Heidelberg 1847, 17 (15. Oktober), S. 1, (Online-Version auch bei germanhistorydocs).
== Weblinks ==
Rezension zu Hoede 1997
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heppenheimer_Tagung
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Hestercombe Gardens
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= Hestercombe Gardens =
Hestercombe Gardens ist eine zum Hestercombe House gehörende Gartenanlage in der südwestenglischen Grafschaft Somerset. Die gesamte Gartenanlage umfasst drei einzelne Gärten aus unterschiedlichen Stilepochen. Überregionale Bedeutung hat der edwardianische Garten von Anfang des 20. Jahrhunderts, das erste gemeinsame Werk der Gärtnerin und Künstlerin Gertrude Jekyll und des Architekten Edwin Lutyens. Hestercombe Gardens zählt heute zu den wichtigsten denkmalgeschützten Gärten des 20. Jahrhunderts und befindet sich im Besitz des Hestercombe Garden Trusts.
== Lage ==
Hestercombe Gardens liegt nahe der englischen Ortschaft Cheddon Fitzpaine und nördlich der Stadt Taunton im Taunton Deane der englischen Grafschaft Somerset. Haus und Garten sind von den Quantock Hills umgeben. Das Gelände fällt nach Süden hin leicht ab und gibt den weitläufigen Blick in das Taunton-Tal und zu den Blackdown Hills frei.
== Geschichte ==
Im 16. Jahrhundert wurde auf dem heutigen Gelände von Hestercombe Gardens erstmals ein Landhaus für die englische Familie von Richard Warre gebaut. Dessen Sohn war ein Schwiegersohn des einflussreichen englischen Lordrichters John Popham. Im 18. Jahrhundert befanden sich das Landhaus und die umliegenden Ländereien in Besitz von Coplestone Warre Bampfylde (1720–1791), ein Freund Henry Hoares. Das Landhaus wurde vergrößert und unter Bampflydes Anleitung wurde ein georgianischer Landschaftsgarten angelegt. 1873 ging das Anwesen in den Besitz von Edward Portman, 1. Viscount Portman, über. Auch dieser veranlasste größere Veränderungen an Haus und Garten, die zwischen 1873 und 1878 durchgeführt wurden. Dabei bekam das Hauptgebäude seine heutige Gestalt in vornehmlich viktorianischem Stil. E.W.B. Portman, ältester Sohn des 2. Viscount Portman, bekam das Anwesen als Hochzeitsgeschenk von seinem Großvater übereignet. Er gab bei Gertrud Jekyll und Edward Lutyens die bauliche und gärtnerische Neugestaltung des Gartens vor dem Haus und seitlich davon in Auftrag. Diese wurde von 1904 bis 1909 durchgeführt.
Haus und Gartenanlage waren bis 1944 in Besitz der Familie Portman. Im Zweiten Weltkrieg nutzte die Britische Armee das Gebäude. Hier befand sich ein Teil des Hauptquartiers des 8th Korps, dessen Aufgabe die Verteidigung von Somerset, Devon, Cornwall und Bristol war. Im Rahmen der Vorbereitung der Invasion der Normandie wurde hier zusätzlich das 398th General Service Engineer Regiment stationiert und nach dem D-Day ein amerikanisches Hospital aufgebaut. 1951 gingen Haus und Ländereien in Besitz des Somerset County Council über. Diese nutzte das Gebäude für administrative Zwecke und – bis heute – als Hauptquartier des Somerset Fire and Rescue Service. Mittlerweile ist die gesamte Anlage in den Besitz des Hestercombe Garden Trusts übergegangen, deren Pächter das Somerset County Council nun ist.
In den 1970er Jahren kam es zu einer aufwendigen Restaurierung von Haus und Gartenanlage, die beide zu diesem Zeitpunkt in einem ruinösen Zustand waren. Die Restaurierung der Staudenbeete konnte aufgrund deren Komplexität nicht original nach Jekylls Bepflanzungsplänen erfolgen, wurde aber in vereinfachter Form und im Stil Jekylls durchgeführt.1992 wurde der zwischenzeitlich in Vergessenheit geratene Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt, freigelegt und nach Originalabbildungen restauriert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde zusätzlich ein Teil des Gebiets als „Biological Site of Special Scientific Interest“ ausgewiesen, da hier eine seltene Fledermausart (Kleine Hufeisennase, Rhinolophus hipposideros) lebt.
== Der georgianische Landschaftsgarten ==
Der englische Landschaftsgarten aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts stellt den ältesten Garten der Hestercombe Gardens dar. Er wurde im Zeitraum 1750 bis 1786 von dem damaligen Besitzer des Anwesens, Coplestone Warre Bampfylde, angelegt. Der etwas mehr als 16 Hektar große georgianische Landschaftspark liegt in einem Tal nördlich des Herrenhauses. Inspiration des von Bampfylde selbst entworfenen Landschaftsgartens war der damals sehr moderne „arkadische Stil“. Pflanzen waren als Zierobjekte in diesen so gestalteten Gartenanlagen eher weniger wichtig und spielten keine große Rolle als eigenständiges Gestaltungselement. Vielmehr sollten Bäume und Büsche im Zusammenspiel mit der umgebenden Landschaft Stimmungen und Ausblicke schaffen. Bestandteile des Landschaftsgartens waren ein Kaskadenwasserfall, Sitzgelegenheiten an landschaftlich und perspektivisch herausragenden Stellen, ein kleiner Tempel sowie künstliche Ruinen eines Tempels im griechischen Stil und ein Mausoleum.
Der Landschaftsgarten wurde später vernachlässigt und geriet spätestens Ende des 19. Jahrhunderts vollkommen in Vergessenheit. 1992 wurde er wiederentdeckt und freigelegt. Die relativ hohen Kosten bei der Restaurierung entstanden vor allem bei der Wiederherstellung der Bauwerke. Hierzu wurden auch Gelder aus der National Lottery verwendet. Die von Bampfylde, der Maler war, angefertigten und erhaltenen Aquarelle seines Landschaftsgartens lieferten zur originalgetreuen Wiederherstellung wertvolle Hinweise.
Als Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts war die Anlage allerdings eher unbedeutend. Sie ist keinesfalls mit zeitgleich entstandenen Landschaftsgärten wie beispielsweise dem nahe liegenden Stourhead zu vergleichen.
== Der Viktorianische Garten ==
Der Viktorianische Garten (die so genannte victorian terrace oder Südterrasse) liegt vor dem Herrenhaus und oberhalb der Great Plat. Wahrscheinlich ließ der erste Viscount Portman diesen Garten zwischen 1873 und 1878 von dem Architekten Henry Hall anlegen, als er größere Veränderungen an dem Haus in Auftrag gab. Von der Terrasse aus blickt man über den formalen Garten in das Taunton-Tal. Eingerahmt wird der Viktorianische Garten von einem Rosengarten (westlich) und der Rotunde (östlich).
Lutyens und Jekyll fügten der Südterrasse noch den so genannten Grey walk hinzu. Hierbei handelt es sich um eine dicht bepflanzte, sich über die ganze Länge des Gebäudes hinwegziehende Staudenrabatte. Verwendet wurden dabei Duftstauden in blau-silberweißen Farben wie Lavendel, Rosmarin, Katzenminze oder Schleierkraut.
== Der edwardianische formale Garten ==
Edward Lutyens bekam 1903 den Auftrag, einen formalen Garten für Hestercombe House zu gestalten. Lutyens’ erste Aufgabe bei der Erstellung des Gestaltungskonzeptes für das circa 1,5 Hektar große Gelände war die Berücksichtigung des Hauses selbst. Es handelte sich damals um einen viktorianischen Bau, der als äußerst unattraktiv und wenig elegant galt. Vor der Hausfront fiel das Gelände sanft nach Süden ab und gab einen unverstellten Blick in das Taunton-Tal frei. Deshalb plante er das Zentrum des Gartens südlich und damit in Front des Vorderhauses. Die Aufmerksamkeit des Besuchers sollte damit weg vom Haus zum Zentrum der Anlage gelenkt werden. Darüber hinaus fiel der Blick dann in die sich weithin erstreckende Landschaft Ostdevons über den Tornton Dean bis zu den Blackdown Hills. Weitere Teile der neuen formalen Anlage zogen sich zusätzlich diagonal östlich des Hauses hin.
Lutyens arbeitete insgesamt fünf Jahre an dem formalen Garten. In dieser Zeit hatte er die Gesamtplanung als Architekt inne und war zusätzlich für die Planung architektonischer Details wie der Verwendung der Baustoffe oder der Gestaltung der Wasseranlagen, der Orangerie oder der Schmuck- und Nutzelemente des Gartens zuständig. Seine Mitarbeiterin in gartenbaulichen Fragen war, wie bereits bei früheren gemeinsamen Projekten, Gertrude Jekyll. Sie entwarf die Bepflanzungspläne der Rabatten und Beete und stimmte die Pflanzen auf die jeweils vorhandenen baulichen Gegebenheiten ab.
=== The Great Plat – Zentrum des edwardianischen Gartens ===
Mittelpunkt des zentralen Gartenteils ist The Great Plat, ein Parterre aus Rasenflächen und Blumenbeeten. Hierbei bediente sich Lutyens der Stilmittel von Gartenanlagen der Tudor-Zeit sowie italienischer Renaissancegärten. Es handelt sich hierbei um einen so genannten sunken garden, also ein großes abgesenktes Parterre mit Rasen und Bepflanzung sowie einer abschließenden Pergola am südlichen Ende.
Der Parterregarten liegt unterhalb des Hauses und ist quadratisch angelegt. Bindeglied zu dem höher liegenden Haus ist an der Nordseite eine abgrenzende Mauer aus Bruchsteinen. Ein direkter Zugang zu dem Haus mit seiner davor liegenden horizontal verlaufenden Doppelrabatte und dem dazwischen liegenden Rasenweg war in der Planung nicht vorgesehen.
Die relativ große Fläche der Great Plat wurde von Lutyens vor allem durch ein diagonal verlaufendes Wegekreuz geometrisch gegliedert und aufgelockert. Das Wegekreuz besteht aus im Gras verlaufenden Steinbändern, die mit Schiefer eingefasst sind und die vier breiten Rasenwege begrenzen. Am Ende jedes Weges wurde ein jeweils viertelkreisförmiger Treppenaufgang angelegt. Das Parterre ist auf drei Seiten von massiven Bruchsteinmauern aus gebrochenen Schieferplatten eingefasst, die ebenfalls bepflanzt sind.
Die Fläche des Great Plat ist in vier dreieckige Beete unterteilt, deren Ränder Natursteinplatten und Bänder aus gepflanzten Bergenia cordifolia bilden. Hier ließ sich Lutyens vom Konzept der parterre de pièces coupées pour des fleurs und der parterre à l'angloise inspirieren. Das bedeutet, dass die Blumenrabatten nicht zwischen Kies, sondern zwischen Rasen und Pflaster liegen und, entgegen den Konzepten der Renaissance- und Barockgärten, mit natürlichen Einfassungen aus Pflanzenbändern eingefasst sind. Gemeinsame Elemente bei der Planung der einzelnen Beete von Jekyll sind die Doppelrabatten und die Bepflanzung der Stützmauern.
Über die gesamte Länge der Südseite der Great Plat (72 m) setzte Lutyens eine niedrige Mauer mit einer abschließenden Pergola. Diese dient sowohl als Abschluss der Terrasse nach Süden hin, durch ihre Bauweise aber auch gleichzeitig als transparentes Bindeglied des Gartens zur jenseitigen Landschaft. Gleichzeitig verbindet sie auch die beiden Wasserbecken der seitlich an das Mittelparterre anliegenden Terrassen. In der Pergola wechseln sich runde und eckig geformte Säulen ab, die aus Bruchsteinen regionaler Herkunft aufgeschichtet sind. Die Pergola ist üppig mit verschiedenen Kletterpflanzen wie Kletterrosen, Waldreben, Glyzinen, Geißblatt oder Weinreben bewachsen.
Pflanzpläne von Jekyll zeigen, dass sie bei den Pflanzungen verschiedene vertikale Akzente setzte, um der Tiefe des abgesenkten Parterres entgegenzuwirken. So sorgten beispielsweise Solitärpflanzungen mit hohen Grasstauden für eine visuelle Annäherung der Great Plat an die drei höher liegenden Gartenseiten.
=== Seitliche Terrassen ===
Jeweils seitlich des Great Plat liegen zwei höher gelegene Gartenterrassen. Sie rahmen von beiden Seiten den zentralen Gartenbereich ein und verbinden die nördlich liegende Gebäudepartie mit der Pergola am südlichen Ende des Gartens. Über die gesamte Länge der Seitenterrassen von 43 m laufen jeweils von Nord nach Süd zwei kleine gemauerter Wasserkanäle, die von Rasenflächen und Pflanzbeeten umgeben sind. In regelmäßigen Abständen weist die Ummauerung der Kanäle insgesamt je drei kreisförmige Schlaufen auf. Gespeist werden die Wasserkanäle von zwei runden grottenförmigen Nischenbrunnen an den nördlichen Terrassenenden. Beide Wasserkanäle enden in rechteckigen Seerosenteichen kurz vor der quer verlaufenden Pergola und sind üppig mit verschiedenen Wasser- und Sumpfpflanzen bepflanzt. Verwendet wurden hierbei beispielsweise Schwertlilien, Calla, Froschlöffel oder Pfeilkraut.
Während die westliche Seitenterrasse unterhalb des vor dem Haus liegenden Viktorianischen Garten endet, endet die östliche Seitenterrasse unterhalb der Rotunde, welche die unterhalb des Hauses liegenden Gartenpartien mit der östlich des Haupthauses liegenden Orangerie und dem Dutch Garden verbindet.
Bei dem zentralen Gartenelement, den teils kreisförmig verschlungenen Wasserkanälen, ließ sich Gertrud Jekyll von dem Muster alter Handarbeiten inspirieren. Zudem sind deutliche italienische und maurisch-islamische Einflüsse erkennbar.
=== Östlicher Gartenteil ===
Der sich östlich abschließende Gartenteil besteht im Wesentlichen aus drei Teilen: der Rotunde, einer rechteckigen Orangerie in der Mitte und dem so genannten Dutch Garden als Abschluss. Der Gesamtkomplex folgt dabei dem an der östlichen Seite zurückweichenden Haupthaus und hat somit eine leicht nordöstliche Ausrichtung.
Die Rotunde ist das Verbindungsstück einerseits zu der östlich liegenden Seitenterrasse und grenzt anderseits direkt an die victorian terrace, dem Viktorianischen Garten auf der Südterrasse vor der Hauptfront des Hauses. Die Rotunde ist ein runder Hof mit einem zentralen kreisrunden Wasserbecken. Der Hof ist von mannshohen Mauern aus Bruchsteinen umgeben, in die Nischen eingelassen sind. Die sich anschließende Orangerie sollte der Familie als privater Rückzugsraum dienen. Lutyens entwarf sie im Baustil des Christopher Wren und umgab sie mit geometrischen Rasenpaneelen. Der Dutch Garden ist quadratisch angelegt und weist vier polygonale Hauptstaudenbeete sowie zahlreiche weitere, kreisförmige, quadratische oder polygonale Pflanzbeete auf. Von Lutyens selbst entworfene Schmuckelemente wie beispielsweise Schmuckkübel oder Vasen werten diese auf.
Die Staudenbeete des Dutch Gardens sind überwiegend mit weiß-silberfarbigen Pflanzen bepflanzt. Große weißblühende Yucca gloriosa als gruppenweise eingesetzte Vertikalelemente wechseln sich mit lilafarben blühenden Zwerglavendel (Lavandula), Katzenminze (Nepeta) oder silbrigfarbenen Zieste (Stachys), Santolina oder Rosmarin ab. Farbig abgehoben davon sind die ebenfalls verwendeten China-Rosen oder Fuchsien (Fuchsia magellanica).
== Pflanzpläne und -konzepte ==
Die von Gertrud Jekyll entworfenen Pflanzpläne für den formalen Garten der Hestercombe Gardens waren äußerst komplex und umfassten eine Vielzahl von genau aufeinander abgestimmte Staudenarten und -sorten sowie Sommerflorpflanzen. Dazu benutzte und mischte sie einheimische Kulturpflanzen mit einfachen Wildkräutern und exotischen Pflanzen aus anderen Kontinenten. Oft kombinierte sie Blüten- mit Blattpflanzen um die Farbwirkung der Blüten durch geeignete, farblich kontrastierende Blattfarben noch mehr hervorzuheben.
Die vorgenommene Bepflanzung hatte in Hestercombe Gardens sowohl einen verstärkenden wie auch abmildernden Effekt in Bezug auf die Architektur. Gertrud Jekyll nutzte die strenge Ordnung und Gesetzmäßigkeit der architektonischen Elemente quasi als Rahmen für ihre „Pflanzenbilder“, ihre Stauden- und Florrabatten.Als ausgebildete Malerin brachte sie in die Pflanzenarrangements eigene impressionistische Einflüsse und Sehweisen in die farbliche Komposition der Pflanzen. Auch ist bekannt, dass sich Jekyll im Umgang mit Farben und Farbschattierungen gerne von dem bekannten englischen Landschaftsmaler William Turner inspirieren ließ, dessen Arbeiten sie während ihrer Studienjahre in der National Gallery in London kopierte.
Die für den formalen Garten entworfenen Pflanzpläne waren allerdings auf Dauer nicht realisierbar – zu groß war der gärtnerische Aufwand gewesen. Auch bei der Wiederherstellung des formalen Gartens ab 1973 wurden die Stauden- und Sommerflorbeete nicht mehr exakt nachgepflanzt, sondern nur in vereinfachter Anlehnung an Jekylls Originalpläne rekonstruiert.
== Gartenarchitektur ==
Für die Bauplanung, die architektonischen Elemente des formalen Gartens sowie die Auswahl und Verwendung der dafür benötigten Bauelemente und -stoffe war Edward Lutyens alleine verantwortlich. Aufgrund der Nichteinbeziehung des Herrenhauses plante er den Garten perspektivisch vom Haus wegstrebend. Der Blick des Besuchers sollte also von dem eher unauffälligen Haus wegführen. Dazu bezog Lutyen die natürliche Umgebung von Hestercombe House und vor allem das sich anbietende Panorama der südwestenglischen Landschaft ein. Der Besucher sollte den Garten als vielfältig gestalteten Raum erfahren.So entstand ein formaler Garten, bei dem sich Lutyens von stilistischen Gartenelementen verschiedener Epochen inspirieren ließ. Das Konzept der quadratisch geometrisch gegliederten Grundfläche mit seitlich begrenzenden und höher liegenden Terrassen wurde beispielsweise bereits im 16. und 17. Jahrhundert verwendet. Der erhöht liegende Dutch Garden wird in der heutigen Betrachtung des Gartens als Reminiszenz an den niederländischen Einfluss auf englische Tudor-Gärten interpretiert. Die ebenfalls seitlich vom Hauptparterre liegende Orangerie wiederum ist in ihrem Baustil ebenfalls historisierend und kopiert bewusst den Baustil Christopher Wrens. Besonderen Wert legte Lutyens auch auf die Blickachsenbeziehung in den einzelnen Gartenarealen, die bereits bei italienischen Vorbildern der Renaissancezeit wie beispielsweise der Villa Lante zu finden sind. Die vorhandenen Wasserbecken und -kanäle erinnern wiederum an Gartenkonzepte des typischen Architekturgartens des 19. Jahrhunderts.
Solchermaßen inspiriert und eigene Ideen weiter ausbauend bevorzugte Lutyens bei der Anlage der Gartenflächen geometrische Strukturen, die sich vielfach abwechselten. So finden sich in Hestercombe Gardens zahlreiche Ebenenwechsel mit Treppenauf- und -abgängen, Orientierungsachsen, Pergolen, Aussichtspunkte (so genannte „Vistas“) sowie Wasserbecken und Wasserkanäle. Lutyens achtete streng darauf, dass die Architektur dem Garten selbst dient und ihn nicht dominiert. Überall wurden bewusst Verbindungen zwischen Stein und Pflanze geplant, so beispielsweise beim Bewuchs der großen Terrassenstützmauern der seitlichen Parterre.
Lutyens war bekannt dafür, dass er bei seinen architektonischen Planungen sehr auf das verwendete Material achtete. Gerne verwendete er dafür regional vorkommende Steinarten, so auch in dem formalen Garten von Hestercombe Gardens. Hier wurde in großem Maße der so genannte „Ham-Hill stone“, eine warme sandfarbene Sandsteinart, verwendet. Aus diesem Sandstein wurden vorwiegend Nischen, Balustraden, Treppengeländer und auch die Orangerie als Großbau gebaut. Lokal vorkommender Schiefer (heimischer Lias, Morte genannt) wurde in größerem Umfang vor allem für Mauern, Steinplatten, Stufenanlagen oder Wasserbecken verwendet. Lutyens griff hier das Prinzip der aus Schiefersteinen geschichteten Trockenmauer auf, die regional in Südwestengland häufig vorkommt. Mauern dieser Art ließen sich ohne größere Umstände großflächig bepflanzen, ein Umstand, den Jekyll nutzte, um die immer wieder anzutreffende Verbindung zwischen Pflanze und Architektur weiter auszubauen. Auch die große Pergola wurde aus Schiefer gebaut. Die sich abwechselnden quadratischen und runden Säulen wurden aus gleichmäßig dünnen Natursteinen geschichtet. Als weiteres gestalterisches Element wurde das verwendete Baumaterial unterschiedlich verarbeitet und verwendet, so als Bruchstein, fein geschnitten oder geschliffen.
Lutyens sorgte durch die Verwendung heimischer Steinarten in abwechselnder Form und Farbe für eine gewisse Rustikalität. Dies war für Gartenanlagen der frühen edwardianischen Zeit nicht typisch, zeigt aber deutlich den Einfluss der Arts-and-Craft-Bewegung auf ihn.
== Zusammenarbeit von Gertrude Jekyll und Sir Edwin Lutyens ==
Die produktive Zusammenarbeit der Gärtnerin (wie sie sich selbst nannte) Gertrud Jekyll mit dem deutlich jüngeren Architekten Edward Lutyens begann 1896 und dauerte bis 1912. In dieser Zeit entwarfen sie zusammen um die 100 Gärten. Bei ihrer Zusammenarbeit entwarf Lutyens das Gebäude, konzipierte die räumliche Ordnung des Gartens und plante die baulichen Details. Jekyll war für die Pflanzpläne zuständig und kontrollierte abschließend das Gesamtbild von Architektur und Pflanze.
Typisch für diese Zusammenarbeit war dabei die Synthese von Formalismus und Architektur mit dem Naturalismus und der Natur mittels der fein abgestimmten Auswahl der Pflanzen. Lutyens stellte das formale Rückgrat der Anlage bereit und sorgte für eine harmonische Verklammerung von Haus und Freifläche. Jekyll ergänzte dies durch in Farbe und Textur abgestimmte Rabattenkompositionen. Es besteht in Fachkreisen Einigkeit darüber, dass Jekylls Wirken dem gartenarchitektonischen Element der Staudenrabatten dank der Kombination von gärtnerischem Wissen und künstlerischem Anspruch zu neuem Ansehen verholfen hat. Mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und deren Kombination entwickelten Jekyll und Lutyens Gartenanlagen, deren typischer Stil die Aufgliederung der Anlage in Abteilungen und Räume, die Konzeption von Blickachsen sowie das Vorhandensein unterschiedlicher Ebenen war. Kunstvolle Treppen und Pflasterungen, das häufige Verwenden von Material der jeweiligen Region, das Element Wasser sowie die immer mit den jeweiligen Gegebenheiten korrespondierende Bepflanzung waren ebenfalls typisch.
Der formale Garten von Hestercombe Gardens war das erste größere Gartenprojekt von Jekyll und Lutyens, das in diesem Stil entstand. Beide erlangten im Rahmen ihrer Zusammenarbeit schnell einen gewissen Grad der Bekanntheit in englischen Landadelskreisen, wobei der als Architekt bis dahin eher unbekannten Lutyens von Jekylls guten Kontakten profitierte. Um 1900 war die Aussage „A Lutyens House with a Jekyll garden“ der Inbegriff feinsten englischen Lebensstils. Die bekannte englische Gartenschriftstellerin Penelope Hobhouse schreibt dazu:
== Beurteilung von Hestercombe Gardens in Gartenarchitektur und -historie ==
Führende Gartenarchitekten und -historiker sehen den formalen Garten von Hestercombe Gardens heute noch als herausragendes Beispiel und Meisterwerk der langjährigen Zusammenarbeit von Gertrud Jekyll und Edward Lutyens an. Die Kombination von formal gestalteten Anlagen als „strukturelles Prinzip“ mit üppiger nichtformaler Bepflanzung als typisch „dekoratives Prinzip“ erreichte hier ihren künstlerischen Höhepunkt. Hestercombe Gardens gilt auch als Beispiel dafür, „… daß der Architekt sich sehr wohl im Einklang mit der Natur befinden kann, daß ein formaler Garten Bestandteil der Landschaft sein kann.“Gleichzeitig ist Hestercombe Gardens eine wichtige zeitgenössische Manifestierung der damals populär werdenden Arts and Craft-Bewegung. Sowohl Lutyens als auch Jekyll sympathisierten in vielfältiger Weise mit dieser sowohl gesellschaftlichen wie auch künstlerischen Strömung. Wichtige Prinzipien der Bewegung wie Naturverbundenheit und solides Handwerk oder der Materialgerechtigkeit bei der Auswahl der Baumittel wurden hier konsequent umgesetzt. So lautet auch eine Beurteilung von Hestercombe Gardens: „Der Reiz von Hestercombe liegt in der subtilen Verknüpfung der unterschiedlichen Ebenen, den wechselnden Aussichtspunkten und vor allem in der harmonischen Auswahl von Bepflanzung und Baumaterial.“In der Entwicklung der Gartenkunst in England ist Hestercombe Gardens ein wichtiger Meilenstein und gehört folgerichtig auch zu den wichtigsten denkmalgeschützten Gärten des 20. Jahrhunderts. Er zeigt die Abkehr vom viktorianischen Repräsentationsgarten mit seinen Teppichbeeten und historisierenden Elementen und dem weitläufigen englischen Landschaftsgarten hin zum Architekturgarten. Aspekte des natürlichen Pflanzenwuchses wurden wieder wichtiger. Letztendlich prägte auch Hestercombe Gardens bei vielen Gartenliebhabern das typische Bild eines üppig bepflanzten englischen Landhausgartens, der in dieser Form typisch für das ländliche England ist.
== Auszeichnungen ==
Die Gartenanlage wurde 2016 mit dem Europäischen Gartenpreis in der Kategorie „Beste Weiterentwicklung eines historischen Parks oder Gartens“ ausgezeichnet.
== Literatur ==
Ursula Buchan, Andrew Lawson: Englische Gartenkunst. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007, ISBN 978-3-421-03663-6.
Reiner Herling: Klassische englische Gärten des 20. Jahrhunderts. Ulmer Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 3-8001-6541-4.
Richard Bisgrove: Die Gärten der Gertrude Jekyll. Ulmer Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 3-8001-6561-9.
Mark Laird, Hugh Palmer: Der formale Garten. Architektonische Landschaftskunst aus fünf Jahrhunderten. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2000, ISBN 3-421-03056-1.
Ehrenfried Kluckert, Rolf Toman: Gartenkunst in Europa. Von der Antike bis zur Gegenwart. Ullmann, Potsdam 2013, ISBN 978-3-8480-0351-8.
Penelope Hobhouse: Der Garten. Eine Kulturgeschichte Dorling Kindersley, München 2003, ISBN 3-8310-0481-1.
Günter Mader: Geschichte der Gartenkunst. Streifzüge durch vier Jahrtausende. Ulmer Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 3-8001-4868-4.
Günter Mader, Laila Neubert-Mader: Britische Gartenkunst. DVA, München 2009, ISBN 978-3-421-03722-0.
Geoffrey Jellicoe, Susan Jellicoe, Patrick Goode, Michael Lancaster: The Oxford Companion to Gardens. Oxford University Press, Oxford 1991, ISBN 0-19-286138-7.
Ira Diana Mazzoni: 50 Klassiker Gärten & Parks. Gartenkunst von der Antike bis heute. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2008, ISBN 3-8369-2543-5.
Patrick Taylor: 100 englische Gärten. Die schönsten Anlagen des English Heritage Parks and Gardens Register. Falken Verlag, Niedernhausen/Ts. 1996, ISBN 3-8068-4885-8.
== Weblinks ==
hestercombe.com – Offizielle Webseite des Gartens (englisch)
Hestercombe Gardens – Parks & Gardens UK (Memento vom 5. Mai 2012 im Internet Archive) (englisch)
Die Gärten von Hestercombe House – Europäisches Gartennetzwerk (EGHN)
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hestercombe_Gardens
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Geschichte der Berliner U-Bahn
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= Geschichte der Berliner U-Bahn =
Die Geschichte der Berliner U-Bahn nahm ihren Ursprung 1880 mit einer Anregung des Unternehmers Werner Siemens, in Berlin eine Hoch- und Untergrundbahn zu bauen. In den neun Jahren nach Gründung des Deutschen Kaiserreiches war die Einwohnerzahl von Berlin um über ein Drittel angestiegen, was zunehmende Verkehrsprobleme verursachte. Anfang 1896 begann daraufhin Siemens & Halske mit dem Bau der ersten Strecke als Hochbahn. Am 1. April 1897 wurde die Gesellschaft für elektrische Hoch- und Untergrundbahnen in Berlin (Hochbahngesellschaft) gegründet, die den weiteren Bau und Betrieb übernahm und 1929 in der Berliner Verkehrs-AG aufging. Das 1938 in Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) umfirmierte Unternehmen wurde Eigenbetrieb der Stadt Berlin. Die BVG ist seit 1994 eine Anstalt des öffentlichen Rechts.
Als erste Linie eröffnete die Hochbahngesellschaft am 18. Februar 1902 die Strecke zwischen Stralauer Thor und Potsdamer Platz (weitgehend die heutige Linie U1). Bereits am 15. Februar war die „Ministerfahrt“ auf der Strecke Potsdamer Platz–Zoologischer Garten–Stralauer Tor–Potsdamer Platz vorausgegangen, im Fahrgastverkehr war der Zoologische Garten aber erst ab dem 11. März erreichbar. Bis 1913 wurden vier weitere Strecken ausgeführt, ehe der Erste Weltkrieg und die in der Weimarer Republik folgende Hyperinflation zunächst den weiteren Ausbau verhinderten. Erst 1923 wurde wieder eine neue U-Bahn-Linie eingeweiht, die mit dem neu eingeführten Großprofil breitere Wagen besaß. Von 1923 bis 1931 wurden dann neue Strecken dieses Typs dem Fahrbetrieb übergeben, auch im Kleinprofil gab es noch Neueröffnungen.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurden keine weiteren Bahnhöfe gebaut. Der Zweite Weltkrieg richtete im Netz der Berliner U-Bahn große Schäden an: die Luftangriffe der Alliierten zerstörten viele Stationen und gegen Ende der Schlacht um Berlin Anfang Mai 1945 wurden mit der Sprengung des Nord-Süd-Tunnels der S-Bahn neben diesem auch weite Streckenabschnitte der U-Bahn überflutet. Der Wiederaufbau des vor dem Krieg bestehenden Netzes war erst 1950 abgeschlossen.
Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 brachte neue Einschränkungen: die beiden U-Bahn-Linien C (ab 1966: Linie 6) und D (Linie 8) fuhren fortan ohne Halt durch die zu Geisterbahnhöfen gewordenen Stationen der beiden Ost-Berliner Tunnelstrecken – Ausnahme war der zum Grenzübergang ausgebaute Bahnhof Friedrichstraße (siehe auch: Tränenpalast). Die Bahnhöfe Warschauer Straße und Potsdamer Platz wurden stillgelegt. Während der U-Bahn-Bau auf West-Berliner Gebiet durch den S-Bahn-Boykott weiter voranschritt, gab es in Ost-Berlin einen Quasi-Baustopp. Lediglich der Bahnhof Tierpark (Linie E) eröffnete 1973 neu. Von 1985 bis 1989 wurde die Linie E (heute: U5) ab Tierpark oberirdisch bis Hönow verlängert.
Schon zwei Tage nach dem Mauerfall konnte am 11. November 1989 der erste ehemalige Geisterbahnhof Jannowitzbrücke als Grenzübergangsstelle wiedereröffnet werden. Am 22. Dezember folgte die Station Rosenthaler Platz, am 12. April der nur von West-Berlin aus zugängliche Bahnhof Bernauer Straße, alle an der U8 gelegen. Am 1. Juli 1990 wurden schließlich auch alle anderen früheren Geisterbahnhöfe der U-Bahn wiedereröffnet. Nun war vor allem die Zusammenführung der Netze das Ziel. 1993 konnte die Linie U2 von Vinetastraße nach Ruhleben wieder durchfahren, seit 1995 fährt die Linie U1 wieder von Kreuzberg über die Oberbaumbrücke nach Friedrichshain zum Bahnhof Warschauer Straße. Danach wurden nur noch die an der Linie U2 gelegene Station Mendelssohn-Bartholdy-Park (Oktober 1998) und der kurze Abschnitt von Vinetastraße nach Pankow (September 2000) neu eröffnet. Wegen der angespannten Haushaltslage der Stadt Berlin stagniert seitdem der weitere Ausbau. Im Hauptstadtvertrag war eine Verlängerung der U5 vom Alexanderplatz nach Westen durch das Regierungsviertel vorgesehen, die 2009 zur Eröffnung der Linie U55 und 2020 zur Eröffnung der neuen Strecke über das Rote Rathaus und Unter den Linden führte.
Der U-Bahn-Ausbau wird allgemein in drei Entwicklungsphasen unterteilt:
bis 1913 (Aufbau des Kleinprofilnetzes in Berlin, Schöneberg, Charlottenburg, Wilmersdorf und Dahlem im Deutschen Kaiserreich)
bis 1930 (Aufbau des Großprofilnetzes im Groß-Berlin der Weimarer Republik)
ab 1953 (Netzausbau nach dem Zweiten Weltkrieg)
== Erste Bauphase ==
=== Die Anfänge ===
Die zunehmenden Verkehrsprobleme in der Millionenstadt Berlin führten Ende des 19. Jahrhunderts zur Suche nach modernen, leistungsfähigen Verkehrsmitteln. Inspiriert von Werner von Siemens’ Vorschlag, neue Wege zu gehen, entstanden zahlreiche Ideen für Hängebahnen nach dem Beispiel der Wuppertaler Schwebebahn, Hochbahnen nach New Yorker Vorbild und Röhrenbahnen wie in London. Schließlich legte Siemens den Plan für eine Hochbahn in der Friedrichstraße vor, der aber nicht die Zustimmung der Behörden fand. Auch die AEG entwickelte Projektideen, in diesem Fall für Untergrundbahnen. Doch die Berliner Stadtverwaltung wehrte sich gegen deren Bau, da sie Schäden an der gerade erst angelegten Kanalisation befürchtete.
Daraufhin bemühte sich die Firma Siemens & Halske zunächst, ihre Leistungsfähigkeit an anderer Stelle zu demonstrieren. Dies gelang ihr in Budapest mit dem Bau der elektrischen Untergrundbahn Ferencz József. Den Auftrag hatte ein Konsortium von Nahverkehrsunternehmen erteilt, das sich zur Errichtung einer Schnellverbindung von der Innenstadt zum Gelände der Millenniumsausstellung gebildet hatte. Zur Lösung des Problems einer Beeinträchtigung des Stadtbildes durch eine Hochbahn hatte Siemens eine elektrische Unterpflasterbahn angeboten. Nach nur zwanzigmonatiger Bauzeit vom 13. August 1894 bis zum 2. Mai 1896 stellte Siemens & Halske die über drei Kilometer lange Strecke mit neun unterirdischen und zwei oberirdischen Bahnhöfen fertig. Der Berliner Bürgermeister Martin Kirschner befürwortete nach einem Besuch in der ungarischen Hauptstadt das Projekt von Siemens & Halskes in Berlin. Beim späteren Bau der U-Bahn konnte Siemens & Halske auf ihre Budapester Erfahrungen aufbauen.Unterdessen baute die AEG einen ersten Bahntunnel auf dem eigenen Betriebsgelände, durch den vom 31. Mai 1897 bis 1904 eine elektrische Bahn für die interne Personen- und Lastenbeförderung verkehrte. Dieser 295 Meter lange, 3,60 Meter breite und 3,15 Meter hohe unterirdische Bau gilt als erster U-Bahn-Tunnel Deutschlands. Im Ersten Weltkrieg wurde der Tunnel neben oberirdischen Standorten auf dem Werksgelände zur Produktion von Wurfminen benutzt. Im Zweiten Weltkrieg war er Luftschutzraum für die AEG-Mitarbeiter. Der Tunnel kann bei Führungen besichtigt werden.Im Dezember 1899 wurde der im Februar 1896 begonnene Spreetunnel zwischen Stralau und Treptow in Betrieb genommen. Beim Bau dieses Tunnels hatte die AEG zum ersten Mal den bergmännischen Schildvortrieb angewandt. Der Tunnel kann, auch wenn er für den Betrieb einer Straßenbahn diente, als Vorläufer der U-Bahn angesehen werden. Die aus England übernommene bergmännische Bauweise setzte sich im Folgenden jedoch nicht als Standardbauweise durch – der Konkurrent Siemens baute später Tunnel in offener Bauweise dicht unter der Straßenoberfläche.
Nach vielen Jahren und Verhandlungen setzte sich Siemens schließlich mit einer Hochbahntrasse von der Warschauer Brücke über Hallesches Tor und Bülowstraße, auf großen Teilen entlang der Führung der 30 Jahre zuvor abgerissenen Berliner Zollmauer, durch. Die private Firma Siemens & Halske führte als Bauherr auch alle Bauarbeiten aus. Der erste Spatenstich erfolgte am 10. September 1896 in der Gitschiner Straße. Die Bauarbeiten mussten schnell vorangehen, denn der Konzessionsvertrag mit Berlin sah eine Vertragsstrafe von 50.000 Mark vor (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund 408.000 Euro), wenn die Strecke nicht innerhalb von zwei Jahren fertiggestellt worden wäre.
Für die Hochbahn entwickelten die Ingenieure spezielle Hochbahn-Pfeiler. Da diese den Berlinern überhaupt nicht gefielen, wurde der Architekt Alfred Grenander beauftragt, eine künstlerisch akzeptable Lösung für dieses Problem vorzulegen. Grenander blieb 30 Jahre lang der Hausarchitekt der Hoch- und U-Bahn.
Nach zähen Verhandlungen mit der Stadt Charlottenburg wurde beschlossen, in der Tauentzienstraße keine Hochbahn, sondern eine Unterpflasterbahn zu bauen und die Strecke bis zum Knie (dem heutigen Ernst-Reuter-Platz) zu führen. Somit konnte die Vorgabe, die Strecke bis zum 1. Januar 1900 fertigzustellen, nicht eingehalten werden. Die gerade ausgewechselte Führungsspitze des Berliner Stadtbauamtes betrachtete das Thema U-Bahn mit deutlich größerem Wohlwollen. Da die U-Bahn offensichtlich keine Schäden an der Kanalisation anrichtete, sollte eine unterirdische Abzweigung zum Potsdamer Platz entstehen. Damit war nun auch eine weitere Verlängerung in das Berliner Stadtzentrum jederzeit möglich. Die staatliche Genehmigung für die Planungsänderungen ging in einem Nachtrag am 1. November 1900 an die Hochbahngesellschaft.
Das Gesamtprojekt der Hoch- und Untergrundbahn hatte im Jahr 1900 eine Länge von 10,1 Kilometern. Der größte Teil der Trasse, ungefähr acht Kilometer, sollte auf Viadukten errichtet werden und elf Hochbahnhöfe verbinden. Dazu kamen noch zwei Kilometer unterirdischer Strecke mit drei U-Bahnhöfen. Die damaligen Planer glaubten nicht, dass 8-Wagen-Züge benötigt würden, und ließen die Bahnsteige mit 80 Meter Länge errichten, was für einen 6-Wagen-Zug ausreichte.
Im ersten Jahr nach der Jahrhundertwende waren sechs Kilometer Strecke fertiggestellt. Nach etwa 5 1⁄2-jähriger Bauzeit war die Stammstrecke fertig. Am 15. Februar 1902 fand die sogenannte „Ministerfahrt“ auf der Strecke Potsdamer Platz – Zoologischer Garten – Stralauer Tor – Potsdamer Platz statt. Diese hieß so, weil mehrere preußische Minister an der Eröffnungsfahrt teilnahmen, so der Minister der öffentlichen Arbeiten Karl von Thielen, der Minister des Inneren Hans von Hammerstein-Loxten, der Kriegsminister Heinrich von Goßler und der Kultusminister Heinrich Konrad von Studt. Am 18. Februar 1902 wurde die erste Teilstrecke (Stralauer Tor – Potsdamer Platz) der Berliner U-Bahn offiziell eröffnet, am 11. März die sogenannte „westliche Stammstrecke“ zum Zoologischen Garten in Betrieb genommen. Sie konnte am 14. Dezember bis zum damaligen Knie verlängert werden. Am 17. August wurde außerdem die Strecke zum Stralauer Tor um 380 Meter bis zur Warschauer Brücke verlängert.
Ende 1902 gab es drei Linien:
Warschauer Brücke – (Gleisdreieck –) Potsdamer Platz
Warschauer Brücke – (Gleisdreieck –) Zoologischer Garten
Potsdamer Platz – (Gleisdreieck –) Zoologischer GartenDie Hochbahngesellschaft war zu einem 5-Minuten-Betrieb vertraglich verpflichtet worden, den sie dadurch sicherstellte, dass jede der drei Linien im 10-Minuten-Takt befahren wurde und somit auf jedem Streckenast ein Zugabstand von fünf Minuten bestand.
=== Verlängerung nach Westen ===
Nach der Eröffnung der Stammstrecke entstanden weitere Pläne zur Verlängerung der drei Streckenäste: auf Charlottenburger Stadtgebiet zum Wilhelmplatz (heutiger U-Bahnhof Richard-Wagner-Platz) und in Richtung Reichskanzlerplatz (heute: U-Bahnhof Theodor-Heuss-Platz), vom Potsdamer Platz ausgehend in die Berliner Innenstadt und durch die Warschauer Straße zum Frankfurter Tor. Am schnellsten waren die Verhandlungen mit der jungen und aufstrebenden Stadt Charlottenburg abgeschlossen, da es dort sehr viel unbebautes Gelände gab, das erschlossen werden konnte. Wichtigster Verhandlungspunkt war der Bau einer Strecke zum Rathaus Charlottenburg am Wilhelmplatz. Hier hätte sich die Verlängerung entlang der Berliner Straße (heutige Otto-Suhr-Allee) angeboten, doch dort fuhr zu dieser Zeit die Berlin-Charlottenburger Straßenbahn und ein Parallelverkehr erschien nicht sinnvoll. Deshalb sollte diese Strecke unter der Bismarckstraße weiter in Richtung Westen und dann in einem Bogen zum Rathaus verlaufen. Unter dem Arbeitstitel Krumme Straße wurden zunächst die Bahnhöfe Bismarckstraße (heute: Deutsche Oper) und weiter der Endbahnhof Wilhelmplatz. geplant. Die Eröffnung der Strecke zwischen Knie (heute: Ernst-Reuter-Platz) und Wilhelmplatz fand am 14. Mai 1906 statt. Beide U-Bahn-Linien fuhren nun bis Bismarckstraße, aber nur die den Abzweig zum Potsdamer Platz befahrende Linie führte bis zum Wilhelmplatz.
Während diese Strecke im Bau war, einigten sich die Hochbahngesellschaft und die Stadt Charlottenburg auf eine Linienabzweigung Richtung Westend. Daher wurde am geplanten Bahnhof Bismarckstraße eine Planungsänderung notwendig, denn hier sollte die Linie nach Westend abzweigen. Deshalb wurde der Bahnhof als erster viergleisiger U-Bahnhof Deutschlands eingerichtet. Von den beiden inneren Gleisen sollte die Strecke zum Wilhelmplatz, von den äußeren nach Westend fahren. So entstand eine ungewohnte Situation: Obwohl der kurze Abschnitt zum Charlottenburger Rathaus eigentlich als Hauptstrecke geplant war, wurde es nun die Strecke nach Westend.
Da das westliche Charlottenburger Gebiet noch völlig unbebaut und damit nicht bewohnt war, konnte die Strecke in ihren Anfangsjahren keine Gewinne erbringen. Die Hochbahngesellschaft handelte deshalb mit der Stadt Charlottenburg und den anderen Grundstücksbesitzern einen Ausgleich des Streckendefizits aus: dieser Vertrag wurde am 23. Juni 1906 abgeschlossen.
Für die Strecke Richtung Westen sollten folgende Bahnhöfe gebaut werden:
Bismarckstraße (heute: Deutsche Oper)
Sophie-Charlotte-Platz
Kaiserdamm
Reichskanzlerplatz (heute: Theodor-Heuss-Platz, vorläufiger Endpunkt)Am 16. März 1908 befuhr Kaiser Wilhelm II., in Anlehnung an die „Ministerfahrt“, erstmals diese Strecke. Offiziell wurde die Strecke am 29. März eingeweiht. Die zwei vorhandenen Linien führten nicht weiter bis zum Reichskanzlerplatz; vielmehr wurde eine dritte Linie eröffnet, die nur zwischen Bismarckstraße und Reichskanzlerplatz verkehrte.
Wegen der deutlich erweiterten Streckenlänge entstand der Wunsch nach einer neuen Werkstatt, denn die bisherige Werkstatt in der Rudolfstraße (bzw. Warschauer Brücke) genügte nun nicht mehr. Deshalb suchte die Hochbahngesellschaft ein passendes Gelände. Da die preußische Forstverwaltung ihr Gelände des Grunewaldes gewinnbringend vermarkten wollte, trafen sich die Interessen beider Partner. Die Gesellschaft kaufte dort 14 Hektar Land, um ihre neue Betriebswerkstatt zu errichten. Gleichzeitig verpflichtete sie sich, eine Streckenverlängerung zum Bahnhof Stadion (heute: Olympia-Stadion) vorzunehmen. Dafür zahlte die Forstverwaltung einen Zuschuss von 200.000 Mark an die Hochbahngesellschaft. Es sollten hier nur Betriebs- und Gelegenheitsverkehre stattfinden, ein Linienverkehr war nicht vorgesehen. Gleichzeitig mit der Verlängerung zum Bahnhof Stadion erbaute man auf der Strecke die Station Neu-Westend im Rohbau mit, denn ein Verkehrsbedürfnis bestand damals noch nicht.
Zur Eröffnung des Deutschen Stadions am 8. Juni 1913 konnte der Streckenabschnitt mit der neuen Endstation Stadion und der im Rohbau fertigen Station Neu-Westend in Betrieb gehen. Die dazugehörige Betriebswerkstatt Grunewald wurde bereits im Januar 1913 vollendet. Das für die Stromversorgung der U-Bahn errichtete nahegelegene Kraftwerk Unterspree am Wiesendamm in Ruhleben hatte schon 1911 den Betrieb aufgenommen.Die ursprünglich von Warschauer Brücke zum Frankfurter Tor geplante östliche Verlängerung der Stammstrecke wurde nicht realisiert. Die von der Hochbahngesellschaft als Vorläufer angelegte und als Straßenbahn betriebene Flachbahn vom U-Bahnhof Warschauer Brücke zum Central-Viehhof wurde 1909 von der Stadt erworben und ging am 1. Januar 1910 in den Straßenbahnen der Stadt Berlin auf.
=== Der Weg ins Stadtzentrum ===
Nachdem die Stammstrecke bis zum Wilhelmplatz verlängert worden war, plante die Hochbahngesellschaft, auch das Stadtzentrum Berlins an die neue U-Bahn anzubinden. Die Stadt Berlin untersagte dies jedoch erst, da sie angesichts des Erfolgs der ersten Strecke eigene Pläne für den Bau von Untergrundbahnen hatte. Doch der höchste Entscheidungsträger, der Berliner Polizeipräsident, griff ein und stimmte den Plänen zu.
Die Hochbahngesellschaft plante, die neue Strecke geradlinig unter der Leipziger Straße vom Potsdamer Platz zum Spittelmarkt zu führen. Die „Große Berliner Straßenbahn“, deren Strecke durch diese Straße verlief, verhinderte mit der Androhung von Schadensersatzforderungen, gemeinsam mit der Stadt Berlin, die Realisierung dieser Pläne. Die Verhandlungspartner einigten sich schließlich auf die langfristige Streckenführung über den Spittelmarkt, Alexanderplatz und die Schönhauser Allee zum Bahnhof Nordring. Die Pläne sahen zunächst die Bahnhöfe Kaiserhof (heute: Mohrenstraße), Friedrichstraße (heute: Stadtmitte), Hausvogteiplatz und Spittelmarkt vor. Später sollte die Linie über folgende Bahnhöfe weiter verlaufen: Inselbrücke (heute: Märkisches Museum), Klosterstraße, Alexanderplatz, Schönhauser Tor (heute: Rosa-Luxemburg-Platz), Senefelderplatz, Danziger Straße (heute: Eberswalder Straße; als Hochbahnhof) und Nordring (heute: Schönhauser Allee; als Hochbahnhof).
Da der Streckenabschnitt am Spittelmarkt durch die erforderliche Unterfahrung der Spree sehr aufwendig und kostenintensiv werden sollte, sahen die Pläne als Kompensation eine (preiswertere) Hochbahntrasse in der Schönhauser Allee vor. Die Bauarbeiten begannen am 15. Dezember 1905. Um eine Weiterführung zu ermöglichen, wurde der damals mit Seitenbahnsteigen versehene Bahnhof Potsdamer Platz abgerissen. Am 28. September 1907 wurde der 200 Meter entfernte neue Bahnhof Leipziger Platz (heute: Potsdamer Platz) eröffnet.
Hinter dem Spittelmarkt entstand im Jahr 1908 ein gleichnamiger Bahnhof. Dieser liegt unmittelbar an der Spree, wo der Untergrund sehr morastig ist. Damit der Bahnhof nicht absackte, war eine Pfahlgründung notwendig. Zur Spree erhielt er eine Fenstergalerie, die im Zweiten Weltkrieg geschlossen wurde. Erst nach der deutschen Wiedervereinigung und der Zusammenführung der Berliner Verkehrsadern, im Jahr 2004, wurde die Galerie wieder geöffnet.
Am 1. Oktober 1908 wurde die „Spittelmarktlinie“ offiziell eröffnet. Es gab nun vier verschiedene Linien, zwei davon nutzten die Neubaustrecke:
Warschauer Brücke – Potsdamer Platz – Spittelmarkt
Wilhelmplatz (Charlottenburg) – Wittenbergplatz – Potsdamer Platz – Spittelmarkt
=== Die Schönhauser Allee bekommt eine Hochbahn ===
Im März 1910 begannen die Bauarbeiten zur Verlängerung der „Spittelmarktlinie“ (jetzt auch „Centrumslinie“ genannt) in Richtung Norden. Auch hier gab es einige Herausforderungen. Hinter dem Bahnhof Spittelmarkt verläuft die Strecke am Ufer der Spree entlang. Deshalb musste ein Gefälle vorgesehen werden, um unter dem Bett des Hauptstadtflusses hindurchzukommen. Dort entstand etwa 6,5 Meter unter der Straßenoberfläche der Bahnhof Inselbrücke (heute: Märkisches Museum). Weil die Station in so großer Tiefe lag, konnte mit einem Korbbogengewölbe ein in Berlin einmaliger Bahnhof gebaut werden. Er ist neben dem U-Bahnhof Platz der Luftbrücke der einzige stützenfreie Untergrundbahnhof Berlins.
Hinter dem Märkischen Museum unterquerte die Linie die Spree und schwenkte auf die Klosterstraße mit dazugehörigem Bahnhof ein. Da damals bereits Pläne existierten, eine U-Bahn-Strecke (Linie E) unter der Frankfurter Allee zu bauen, blieb in der Mitte des Bahnsteigs der Station Klosterstraße Platz für ein weiteres Gleis. Das wurde aber nicht benötigt, denn heute fährt vom Bahnhof Alexanderplatz aus die Linie U5 in Richtung Frankfurter Allee. Von der Klosterstraße ging die „Centrumslinie“ weiter bis zum Alexanderplatz. Beim Bau dieses Bahnhofs wurde darauf geachtet, dass später Umstiegsmöglichkeiten zu anderen Linien eingefügt werden konnten. Die Eröffnung der Strecke zwischen Spittelmarkt und Alexanderplatz fand am 1. Juli 1913 statt. Die Linie zwischen dem Wilhelmplatz mit dem U-Bahnhof Kaiserhof (heute: Mohrenstraße) und dem Alexanderplatz wurde schnell zur meistgenutzten Berliner U-Bahn-Linie.
Im weiteren Verlauf führt diese Strecke zur Schönhauser Allee. Dort entstand der erste Bahnhof unter der heutigen Torstraße mit dem Namen Schönhauser Tor (heute: Rosa-Luxemburg-Platz). Da die Schönhauser Allee breit genug war, gab es keine Probleme beim Tunnelbau.
Darauf folgte der Bahnhof Senefelderplatz. Hinter diesem steigt eine Rampe aus dem Tunnel hervor und führt zum damaligen Bahnhof Danziger Straße (heute: Eberswalder Straße). Dieser wurde – wie erwähnt – als Hochbahnhof ausgeführt, denn die Tunnelstücke am Spittelmarkt waren sehr kostenintensiv, und auf der breiten Schönhauser Allee war der Bau als Hochbahn recht günstig zu bewerkstelligen.
Hinter dem Bahnhof Danziger Straße folgte ein längerer Hochbahnviadukt zur Station Nordring (heute: Schönhauser Allee). Dort wurde die bereits vorhandene Ringbahn auf dem Viadukt gekreuzt. Die heutige S-Bahn verläuft dort im Einschnitt. Damit war der vorläufige Endpunkt der Strecke erreicht. Die Erweiterung vom Alexanderplatz zum Nordring wurde schon 3½ Wochen nach Eröffnung der Strecke zum Alexanderplatz, am 27. Juli 1913, eröffnet.
=== Die erste kommunale U-Bahn ===
Die damals selbstständige Stadt Schöneberg plante seit 1903 den Bau einer U-Bahn zur besseren Erschließung ihres Stadtgebietes. Die Verhandlungen zwischen der Schöneberger Stadtverwaltung und der Hochbahngesellschaft führten zu keinem Ergebnis, weil die Strecke nach Ansicht der Hochbahngesellschaft keinen Gewinn versprach. Deshalb nahm Schöneberg die Angelegenheit selbst in die Hand und plante die erste kommunale U-Bahn Deutschlands.
Diese U-Bahn-Linie sollte als Unterpflasterbahn vom bestehenden Hochbahnhof Nollendorfplatz bis zur Hauptstraße im Süden verlaufen. Auch eine Verlängerung nach Norden wurde nicht ausgeschlossen, sogar eine Strecke bis Weißensee erwogen. Zunächst plante man jedoch die Bahnhöfe Nollendorfplatz (als eigenen U-Bahnhof neben dem bestehenden Hochbahnhof), Viktoria-Luise-Platz, Bayerischer Platz, Stadtpark (heute: Rathaus Schöneberg) und Hauptstraße (heute: Innsbrucker Platz).
Der erste Spatenstich fand am 8. Dezember 1908 bei volksfestähnlicher Stimmung der Schöneberger statt. Alle Normen wurden der bereits in Berlin bestehenden Hoch- und Untergrundbahn angepasst, um später eine direkte Anbindung an deren Strecken zu ermöglichen. Nach zwei Jahren Bauzeit konnte die Strecke am 1. Dezember 1910 eröffnet werden. Die Feierlichkeiten waren jedoch sehr zurückhaltend, da der Schöneberger Oberbürgermeister Rudolph Wilde als größter Förderer der neuen Strecke vier Wochen zuvor gestorben war.
Die Schöneberger U-Bahn war anfangs vom restlichen Berliner Netz völlig getrennt und deshalb mussten für die Linie neben den Wagen auch eigene Betriebsanlagen bereitgestellt werden. Dazu gehörten ein Umformerwerk und eine kleine Werkstatt, die am südlichen Ende der Strecke gebaut wurden. Während des Zweiten Weltkriegs diente bei Luftangriffen die Werkstatt als Schutzraum. Sie ist seit dem Bau der Stadtautobahn am Innsbrucker Platz vom U-Bahn-Netz abgetrennt. Als einzige Anbindung an das restliche Berliner U-Bahn-Netz wurde ein überdachter Fußgänger-Übergang zwischen den beiden Bahnhöfen am Nollendorfplatz gebaut.
Die Stadt Schöneberg war zwar Bauherr und Eigentümer der Strecke, übertrug aber den Betrieb auf die Berliner Hochbahngesellschaft. Da einen Tag vor der Eröffnung eine Tarifgemeinschaft vereinbart worden war, merkten die Fahrgäste kaum die verschiedenen Besitzverhältnisse.
=== U-Bahn nach Dahlem und unter dem Kurfürstendamm ===
Im Sommer 1907 schlug die Hochbahngesellschaft der jungen Stadt Wilmersdorf den Bau einer U-Bahn-Strecke durch Wilmersdorfer Gebiet vor. Vorgesehen war eine Führung bis zum Nürnberger Platz und, falls Wilmersdorf dies bezahlen würde, weiter bis zum Breitenbachplatz. Da die Gemeinde Wilmersdorf eine schlechte Verkehrsanbindung hatte, nahmen die Wilmersdorfer Stadtväter diesen Vorschlag erfreut auf. Auch hatte die königliche Domäne Dahlem, die südlich von Wilmersdorf lag und noch unbebaut war, großes Interesse an einer U-Bahn-Verbindung. Diese wollte die projektierte Linie vom Breitenbachplatz weiter bis zum Thielplatz bauen.
Nun ergab sich jedoch ein großes Problem. Die zukünftige Strecke würde teilweise über Charlottenburger Gebiet verlaufen. Und diese damals selbstständige Stadt sah in der ebenfalls unabhängigen Stadt Wilmersdorf einen großen Konkurrenten bei der Ansiedlung finanzstarker Steuerzahler. Es wurden langwierige Verhandlungen geführt, bis sich schließlich im Sommer 1910 ein Vorschlag durchsetzte: Neben der bereits geplanten sollte eine weitere Linie unter dem Kurfürstendamm mit einem Endbahnhof an der Uhlandstraße gebaut werden.
Im Sommer 1910 begannen die Arbeiten. Folgende Bahnhöfe waren neu zu bauen:
Wittenbergplatz (Umbau/Erweiterung)
Nürnberger Platz (1959 geschlossen und durch den U-Bahnhof Spichernstraße ersetzt)
Hohenzollernplatz
Fehrbelliner Platz
Heidelberger Platz
Rüdesheimer Platz
Breitenbachplatz (ursprünglich als Rastatter Platz geplant)
Podbielskiallee
Dahlem-Dorf
Thielplatz (vorläufiger Endbahnhof)sowie auf der Charlottenburger Linie:
Uhlandstraße
Der 1902 eröffnete Bahnhof Wittenbergplatz, der mit nur zwei Seitenbahnsteigen ausgerüstet war, musste umfassend erweitert werden. Es entstand nun ein Bahnhof mit fünf Gleisen, ein sechstes wurde vorbereitet und eine Vorhalle gebaut. Die Städte Wilmersdorf und Charlottenburg legten viele Vorschläge vor. Schließlich empfahl der Königliche Polizeipräsident aber die Idee des Hausarchitekten der Hochbahngesellschaft, Alfred Grenander.
Die Bahnhöfe auf dem Wilmersdorfer Gebiet erhielten eine pompöse Ausgestaltung, denn die Gemeinde hatte Geld und wollte dies auch zeigen. Heute kann man das noch vor allem an den Bahnhöfen Hohenzollernplatz, Fehrbelliner Platz, Heidelberger Platz, Rüdesheimer Platz und Breitenbachplatz sehen. Am Bahnhof Heidelberger Platz musste der S-Bahn-Ring sehr tief unterquert werden, deshalb gab es hier die Möglichkeit, die Station kathedralenartig auszugestalten. Dieser Bahnhof wird in einigen U-Bahn-Büchern sogar mit Moskauer Metrobahnhöfen verglichen.
Hinter dem Breitenbachplatz erreichte die Strecke die Domäne Dahlem. Da es dort nur lockere beziehungsweise keine Bebauung gab, gelang es, die Strecke im Einschnitt verlaufen zu lassen. Die Architekten gestalteten die Eingangshäuser besonders aufwendig, weil die Bahnsteige nicht übermäßig auszuschmücken waren.
Die zusätzliche Linie zur Uhlandstraße, die Charlottenburg im Verhandlungspoker gewonnen hatte, besaß nur eine neue Station. Die Strecke zweigt am Wittenbergplatz ab und führt unter dem Kurfürstendamm zum U-Bahnhof Uhlandstraße. Geplant war eine spätere Verlängerung nach Halensee, jedoch bekam die Linie erst 1961 mit dem Bau der Linie U9 einen weiteren Bahnhof, den U-Bahnhof Kurfürstendamm.
Beide Strecken, sowohl die zum Thielplatz als auch die zur Uhlandstraße, eröffnete die Hochbahngesellschaft am 12. Oktober 1913. Zusammen waren sie etwa zehn Kilometer lang. Dies war die letzte U-Bahn-Eröffnung in Berlin vor dem Ersten Weltkrieg, der am 1. August 1914 begann. Erst zehn Jahre später sollte das nächste neue Stück U-Bahn eröffnet werden.
=== Das neue Gleisdreieck ===
Das Gleisdreieck, das die Hauptstrecke zwischen Warschauer Brücke und Zoologischem Garten mit der Zweigstrecke zum Potsdamer Platz verband, bildete einen beträchtlichen Gefahrenpunkt. Diese Abzweigung wurde nur durch Signale gesichert, sodass ein unaufmerksamer Zugfahrer reichte, um eine Katastrophe auszulösen. Am 26. September 1908 geschah solch ein Unglück. Ein U-Bahn-Zug fuhr einem anderen Zug in die Flanke und drückte zwei Wagen aus dem Gleis. Einer der Wagen stürzte dabei vom Viadukt. 21 Fahrgäste kamen ums Leben. In der Folge wurde ein Umbau des Gleisdreiecks angeordnet.
Im Mai 1912 begannen die Bauarbeiten. Statt eines Dreiecks war jetzt eine kreuzförmige Anlage mit einem Turmbahnhof geplant, der dennoch Gleisdreieck genannt wurde. Nur noch für betriebliche Fahrten gibt es noch ein Verbindungsgleis zwischen beiden Strecken. Der Umbau erfolgte grundsätzlich bei vollem Betrieb, wobei verschiedene Verbindungen kurzzeitig eingestellt werden mussten. Am 3. November 1912 wurde der neue Bahnhof Gleisdreieck eröffnet, die Bauarbeiten dauerten aber noch bis August 1913 an.
== Zweite Bauphase ==
=== Überblick ===
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sollte das Liniennetz wiederum erweitert werden. Bislang bestand das Netz der Hochbahn überwiegend aus Ost-West-Strecken, die hauptsächlich durch die Wohngebiete der Besserverdienenden (Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf) führten. Die Stadt Berlin beabsichtigte, auch die Wohngebiete der Arbeiter (Neukölln, Wedding) durch neue U-Bahn-Strecken in Nord-Süd-Richtung zu erschließen. Daran zeigt sich allerdings der Interessensunterschied zwischen der privaten Hochbahngesellschaft, die vor allem rentable Strecken bauen wollte, und der Stadt Berlin, die eher kommunale Aufgaben im Sinn hatte.
Etwas anderes rückte außerdem in den Vordergrund: In den ersten Jahren der Hoch- und Untergrundbahn war es noch nötig, mit den einzelnen Gemeinden und Städten über Verträge zu verhandeln. Schon früh wollte man den Raum Berlin verwaltungstechnisch zusammenfassen, denn die Gemeinden waren sowieso schon so sehr aneinander gewachsen, dass ein Fahrgast das Überschreiten einer „Grenze“ üblicherweise nicht bemerkte. Bereits 1912 wurde der Zweckverband Groß-Berlin gegründet, meistens nur „Zweckverband“ genannt. Dieser übernahm bereits alle Pflichten und Rechte bezüglich der Planung, Erbauung und Ausführung der schienengebundenen Verkehrsmittel. Das hatte aber noch keine Auswirkung auf die U-Bahn. Mit dem Groß-Berlin-Gesetz wurden dann 1920 fast alle umliegenden Gemeinden mit der Stadtgemeinde Berlin zu Groß-Berlin zusammengefasst.
=== Die Nord-Süd-Bahn ===
Bereits um 1901 besaß die Stadt Berlin Pläne für eine Untergrundbahn unter der Friedrichstraße von Nord nach Süd. Werner von Siemens hatte Pläne für eine parallele Linie unter der Nobelstraße. Auch deshalb verweigerte die Stadt Berlin dem Unternehmen Siemens die Zustimmung für eine Nord-Süd-Linie und baute die U-Bahn, die damit in kommunaler Hand blieb, selbst. Die Bauarbeiten für die Nord-Süd-Linie von Wedding bis Tempelhof mit Abzweig nach Neukölln wurden durch den Ersten Weltkrieg erschwert und im Verlauf des Krieges eingestellt.
Im Jahr 1919 begannen die Bauarbeiten wieder, doch wurde 1921 in der Zeit der Hyperinflation aus Geldmangel sogar erwogen, die bereits vorhandenen Tunnel zuzuschütten. Dennoch wurden die Bauarbeiten stückweise fortgesetzt und so konnte schließlich am 30. Januar 1923 – noch vor Einführung der Rentenmark – der erste Tunnelabschnitt zwischen Hallesches Tor und Stettiner Bahnhof (heute: Naturkundemuseum) doch noch eröffnet werden. Eine weitere Teilstrecke der U-Bahn wurde am 8. März zwischen Stettiner Bahnhof und Seestraße in Betrieb genommen. Eine Betriebswerkstatt kam am Bahnhof Seestraße hinzu. Da die Stadt Berlin sehr sparsam sein musste, wurde auf jegliche Verschönerung der Bahnhofswände verzichtet. Der Fahrgast sieht nur einfachen Putz.
An der Ecke Mohren-/Friedrichstraße kam es zur ersten Kreuzung zweier U-Bahn-Linien (Nord-Süd-Bahn (Linie C) und die Stammstrecke Linie A). Doch die Stadt Berlin baute 160 Meter weiter einen eigenen U-Bahnhof mit dem Namen Leipziger Straße (heute: Stadtmitte), auch deshalb, weil das Turmbahnhofsprinzip noch nicht verbreitet war. So müssen noch heute die Fahrgäste beim Umsteigen zwischen den beiden Linien durch einen langen Tunnel gehen, der von den Berlinern „Mäusetunnel“ genannt wird.
Der Abzweigungsbahnhof an der Belle-Alliance-Straße (heute: Mehringdamm) wurde als dreigleisiger Bahnhof Belle-Alliance-Straße in Betrieb genommen. Vom östlichen Mittelbahnsteig fuhren die Züge aus Neukölln und Tempelhof in Richtung Innenstadt, der westliche Seitenbahnsteig diente dem Verkehr in Richtung Süden. Der Bahnhof wurde in den 1960er Jahren im Zuge des Baus der heutigen U7 vollkommen umgestaltet und heißt jetzt Mehringdamm.
Zuerst wurde der Streckenast nach Neukölln (Linie CI) gebaut. Dieser verläuft direkt unter der Gneisenaustraße. Am Hermannplatz entstand der erste unterirdische Turmbahnhof Berlins, denn hier sollte, so sahen es die Pläne vor, eine weitere Nord-Süd-Linie gekreuzt werden (Linie D, heute: U8). Die neue Linie befuhr den unteren Bahnsteig, die andere sollte über dieser fahren. Da am Hermannplatz von 1927 bis 1929 Berlins erstes Karstadt-Warenhaus entstand und dessen Geschäftsführung in den U-Bahn-Fahrgästen neues Kundenpotenzial sah, finanzierte das Unternehmen den Bau des Bahnhofs Hermannplatz, der als Gegenleistung einen direkten Zugang zum neuen Warenhaus erhielt. Die Station gilt als eine der prächtigsten in Berlin.
Der Streckenast nach Neukölln wurde in verschiedenen Abschnitten in Betrieb genommen:
Hallesches Tor – Gneisenaustraße (19. April 1924)
Gneisenaustraße – Hasenheide (14. Dezember 1924)
Hasenheide – Bergstraße (11. April 1926)
Bergstraße – Grenzallee (21. Dezember 1930)Die Arbeiten für den Streckenast der Linie CII Richtung Tempelhof begannen ebenfalls 1924. Am 14. Februar 1926 konnte der erste Abschnitt Belle-Alliance-Straße – Kreuzberg (heute: U-Bahnhof Platz der Luftbrücke) eröffnet werden. Ein Jahr später ging es zum Bahnhof Flughafen (heute: Paradestraße). Östlich der Strecke war von 1923 bis 2008 der Flughafen Tempelhof in Betrieb.
Zwischen 1927 und 1929 wurde die Strecke von der Station Flughafen zum Bahnhof Tempelhof gebaut. Dieser erhielt ein gemeinsames Zugangsbauwerk mit der U-Bahn, die am 22. Dezember 1929 bis Tempelhof eröffnet wurde. Da der U-Bahnhof sehr tief unter der Ringbahn gebaut werden musste, ergab sich die Möglichkeit einer großzügigen Halle.
Doch das auffälligste an der neuen U-Bahn-Linie waren die Tunnelanlagen beziehungsweise die Züge. Aus den Erfahrungen der konkurrierenden Hochbahngesellschaft lernend, wurde ein größeres Tunnelprofil, das Großprofil gewählt. Das Lichtraumprofil der Tunnel ist für die breiteren Züge größer angelegt. Diese fahren zwar auch auf normalspurigem Gleis, doch liegt ihre Wagenkastenbreite bei 2,65 Meter (Kleinprofil: 2,35 Meter). Der Grund dafür war, dass die Stadt Berlin meinte, größere Züge würden eine wesentlich größere Kapazität haben. Damals betrachtete der Betreiber eine Bahnsteiglänge von 80 Meter (bei einer damaligen Wagenlänge von 13 Meter) als ausreichend. Dies erwies sich später als falsch. Die Konsequenz war, dass die Bahnsteige in den 1950er beziehungsweise 1990er Jahren verlängert werden mussten.
Waren die finanziellen Mittel für die Bauarbeiten schon sehr knapp, fehlten diese beim Wagenmaterial vollkommen. Deshalb wurde 1922 ein Vertrag mit der Hochbahngesellschaft geschlossen, der vorsah, dass diese die Linie verwalten und mit ihren Zügen betreiben sollte. So kam es zur eigenartigen Situation, dass Kleinprofilzüge beim Großprofil fuhren. Wegen der nun unterschiedlichen Wagenbreite mussten an den Seiten Ausgleichshölzer angebracht werden, die im Volksmund „Blumenbretter“ genannt wurden.
=== Von Gesundbrunnen nach Neukölln – die GN-Bahn ===
Wie schon erwähnt, hatte auch die AEG sowohl Untergrund- als auch Hochbahnpläne vorgestellt. Manche davon waren schon sehr gewagt, andere waren durchaus realistisch. Schließlich legte AEG 1907 einen Plan für eine Nord-Süd-U-Bahn von Gesundbrunnen nach Neukölln vor. Die Verhandlungen mit Berlin waren sehr zäh, bis sich schließlich die beiden Parteien 1912 auf einen Vertrag einigen konnten. Denn es drohte der bereits erwähnte Zweckverband, der das U-Bahn-Projekt nicht akzeptieren wollte.
In dem Vertrag wurde der ungefähre Streckenverlauf sowohl mit U-Bahn- als auch mit Hochbahn-Abschnitten festgelegt. Die Linie sollte als Hochbahn in der Schwedenstraße beginnen, dann weiter über die Badstraße und die Brunnenstraße und weiter zum Humboldthain verlaufen. Dann sollte die Linie als U-Bahn über die Brunnen-, Rosenthaler- und die Münzstraße weiter zum Alexanderplatz führen. Durch die Litten-, Brücken- und Neander- und Dresdener Straße sollte die U-Bahn zur Kottbusser Straße gehen. Außerdem gab es eine Festlegung darauf, dass die neue Linie im Großprofil gebaut werden sollte.
Der Bau begann 1912. Ähnlich wie Siemens & Halske die Hochbahngesellschaft, hatte auch die AEG mit der AEG-Schnellbahn-AG eine Tochterfirma gegründet. Diese führte alle Bauarbeiten aus. Doch bis zum Ersten Weltkrieg wurden nur wenige Tunnelabschnitte fertiggestellt, unter anderem die Unterführung der Spree an der Jannowitzbrücke. Schließlich war die wirtschaftliche Lage der AEG so schwierig, dass sie im Oktober 1919 alle Bauarbeiten einstellte. Darauf klagte die Stadt Berlin erfolgreich gegen die AEG. Schließlich musste die AEG-Schnellbahn-AG liquidiert werden. Die Stadt Berlin erhielt nun alle bereits gebauten Tunnelabschnitte. Berlin wollte die Linie in Eigenregie fertigbauen, war aber noch an die Bauarbeiten zur ersten Nord-Süd-U-Bahn gebunden. Erst 1926 konnten die Bauarbeiten an der GN-Bahn (nach den beiden Ortsteilendpunkten Gesundbrunnen und Neukölln) fortgesetzt werden. Der Wechsel des Bauherrn hatte Vorteile für Berlin, denn man korrigierte einige Abschnitte, zum Beispiel den nördlichen Hochbahnabschnitt, der ganz wegfiel, und den Verlauf zwischen Alexanderplatz und Jannowitzbrücke sowie Moritzplatz und Kottbusser Tor.
Zuerst begannen die Bauarbeiten im südlichen Bereich der GN-Bahn, sodass am 17. Juli 1927 zwischen Boddinstraße und Schönleinstraße der Betrieb aufgenommen werden konnte. Zwischen diesen Stationen lag auch der bereits erwähnte U-Bahnhof Hermannplatz, an dem die Fahrgäste zum ersten Mal zwischen zwei verschiedenen Großprofillinien umsteigen konnten. Dabei berücksichtigten die Projektanten vorsorglich, dass im Zuge des Nord-Süd-U-Bahn-Baus auch ein Überführungsgleis zwischen beiden Linien benötigt wurde. Dann fingen die Bauarbeiten weiter nördlich an. Am U-Bahnhof Kottbusser Tor wurde der bereits erbaute Hochbahnhof verschoben, um eine günstige Umsteigesituation zu schaffen. Der Betrieb der Stammstrecke erfolgte über Holzviadukte weiter.
Nun lag es nahe, die Linie weiter über die Dresdener Straße zur Neanderstraße (heute: Heinrich-Heine-Straße) verlaufen zu lassen. Doch hatte der Wertheim-Konzern den Vorteil einer U-Bahn-Anbindung auch erkannt (ähnlich wie Karstadt am Hermannplatz) und so bezahlte dieser fünf Millionen Mark für eine Planänderung. Die GN-Bahn sollte nun zum Moritzplatz schwenken und dann eine scharfe Kurve zur Neanderstraße machen. Am U-Bahnhof Moritzplatz gab es einen direkten Zugang zu dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Wertheim-Kaufhaus.
Darauf folgte die Linie der Neanderstraße und endete vorläufig am gleichnamigen Bahnhof (heute: U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße). Die Strecke Schönleinstraße – Neanderstraße wurde am 6. April 1928 eröffnet. Ein Jahr später im August 1929 wurde südlich des Bahnhofs Boddinstraße noch eine weitere Station eröffnet, der Bahnhof Leinestraße.
Hinter dem Bahnhof Neanderstraße folgte die nun bereits erbaute Spreeunterführung. Da diese aber korrigiert werden musste und die Jannowitzbrücke sowieso schlechten Zustandes war, wurde eine ganz neue Brücke mit Unterquerung gebaut. Der alte Tunnel (auch „Waisentunnel“ genannt) wurde später für ein Betriebsgleis zwischen der U2 und U8 verwendet.
Am Alexanderplatz zog sich der U-Bahn-Bau lange hin, denn die Situation wurde für eine gänzliche Umgestaltung des Platzes genutzt. Es mussten einige Gebäude abgerissen werden, darunter das Haus mit den 99 Schafsköpfen. Auch wurden, wie bereits erwähnt, einige Korrekturen am Streckenverlauf vorgenommen, und somit die GN-Bahn wesentlich besser in den öffentlichen Nahverkehr integriert.
Am Alexanderplatz erbaute man einen für damalige Zeiten riesigen Umsteigebahnhof für U-Bahn, S-Bahn, Straßenbahn und Omnibus. Damals entstand auch die sogenannte „Mutter aller unterirdischen Ladenpassagen“. Heute wirkt sie im Vergleich zum Beispiel zur Passage An der Hauptwache in Frankfurt am Main eher bescheiden.
Auf einer Karte erkennt man den Bahnhof Alexanderplatz als „H“. Den östlichen Schenkel des „H“ bildet der schon 1913 eröffnete U-Bahnhof der heutigen U2, den westlichen Schenkel der damals erbaute Bahnhof der GN-Bahn (heute: U8). Das Mittelstück bildet das Ende der damals schon in Bau befindlichen U-Bahn-Strecke unter der Frankfurter Allee (heute: U5). Hier wurden zwei parallele Bahnsteige mit insgesamt vier Gleisen erbaut: Die beiden inneren Gleise für die heutige U5 und die beiden äußeren für eine geplante Linie vom Potsdamer Platz nach Weißensee.
Im weiteren Verlauf gab es keine großen Hindernisse mehr, größtenteils waren bereits errichtete Tunnel der AEG-Schnellbahn-AG vorhanden. Am 18. April 1930 wurde der Abschnitt Neanderstraße – Gesundbrunnen eröffnet.
Der Linienbetrieb wurde wie schon bei der anderen Großprofillinie auf die Hochbahngesellschaft übertragen.
=== Der Hochbahnvertrag ===
Die Schaffung einer einheitlichen Stadtverwaltung für Groß-Berlin im Jahr 1920 schwächte die Position der privaten Hochbahngesellschaft, die nur noch einen einzigen Verhandlungspartner hatte. Die Stadt Berlin konnte nun in den Verhandlungen erheblichen Druck auf die Hochbahngesellschaft ausüben, zumal die Stadt bereits einen großen Teil des Straßenbahn- und Omnibus-Netzes besaß und deshalb sehr gut mit der U-Bahn konkurrieren konnte.
Deshalb wurde am 10. Juli 1926 der Hochbahnvertrag geschlossen. Dieser sah vor, dass sich die Stadt Berlin mit gewaltigen aktienrechtlichen Transaktionen das Bestimmungsrecht über das gesamte U-Bahn-Netz einverleibte. Da die Hochbahngesellschaft einer ungewissen Zukunft entgegenblickte, stimmten auch die Hochbahnaktionäre für den Vertrag. Schließlich wurden alle Nahverkehrsmittel mit Ausnahme der S-Bahn am 1. Januar 1929 zur „Berliner Verkehrs Aktiengesellschaft“ zusammengeschlossen. Das dazugehörige Kürzel „BVG“ wird auch heute noch genutzt, obwohl es nun „Berliner Verkehrsbetriebe“ heißt.
=== Letzte Eröffnungen im Kleinprofil ===
In den Jahren der Weimarer Republik wurde das Kleinprofil-Netz nur geringfügig erweitert. So gab es seit dem 22. Mai 1922 regelmäßigen Zugverkehr zum Stadion, und auch der bereits im Rohbau errichtete Bahnhof Neu-Westend konnte endlich seiner Bestimmung übergeben werden.
Mit der Fertigstellung des neuen Bahnhofs Gleisdreieck konnte am 24. Oktober 1926 auch die „Entlastungsstrecke“ vom Gleisdreieck über Kurfürstenstraße zum Nollendorfplatz eröffnet werden. Der sparsam ausgestaltete U-Bahnhof Kurfürstenstraße zeugt von der schwierigen Finanzlage der damaligen Zeit. Im Zusammenhang mit dem Bau der Entlastungsstrecke sollte auch der U-Bahnhof Nollendorfplatz umfassend umgebaut und umgestaltet werden, da die Schöneberger U-Bahn immer noch autark betrieben wurde, obwohl sie bereits seit 1920 Eigentum der Stadt Berlin war.
Der erweiterte Bahnhof Nollendorfplatz wurde gemeinsam mit der Entlastungsstrecke eröffnet. Er besitzt seitdem zwei unterirdische Bahnsteige, die direkt übereinander liegen und identisch aussehen. Oben befindet sich der Bahnsteig der Züge zum Innsbrucker Platz (U4) sowie der Züge, die in Richtung Warschauer Straße fahren (U1). Unten fahren die Züge in Richtung Uhlandstraße (U1) bzw. Krumme Lanke (U3). Nollendorfplatz ist somit ein Bahnhof mit Richtungsverkehr, bei dem die Bahnsteige übereinander liegen. Der Hochbahnhof der heutigen U2 blieb völlig unverändert. Die imposante Kuppel wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und erst zum 100-jährigen U-Bahn-Jubiläum 2002 vereinfacht in Profilform wiedererrichtet.
Die sogenannte „Stammlinie“ von Nordring zum Stadion sollte in beide Richtungen um jeweils eine Station verlängert werden. Im Norden entstand 1930 der Bahnhof Pankow (heute: Vinetastraße). Für dessen Bau gab es vor allem einen Grund: Die Züge am Bahnhof Nordring (heute: Schönhauser Allee) fuhren so oft, dass eine Zugwende auf dem Viadukt nicht möglich war. Es war wesentlich einfacher, die Züge im Untergrund zu kehren. Eine weiter geplante Verlängerung bis zur Breiten Straße in Pankow und zum S-Bahnhof Pankow kam nicht mehr zustande, erst 1997 wurde hier weitergebaut.
Von Anfang an war eine Verlängerung der Stammlinie bis nach Spandau beabsichtigt, die jedoch wegen der sehr teuren Havelquerung nicht gebaut wurde. Zur besseren Anbindung des Spandauer Straßenbahnnetzes begannen im Sommer 1928 die Bauarbeiten für eine Verlängerung zum zukünftigen Bahnhof Ruhleben. Diese Strecke verkehrte auf Dammlage und wurde am 22. Dezember 1929 eröffnet. Die Station besitzt keine Kehrgleise, sodass die Züge direkt am Bahnsteig enden und wieder zurückfahren. Zwar gibt es Planungen, die U2 eines Tages bis zum Rathaus Spandau zu verlängern. Doch gibt es dafür keinen erkennbaren Bedarf, nachdem 1984 die U7 bis Spandau geführt wurde, das zudem seit 1998 auch wieder von der Spandauer Vorortbahn bedient wird.
Im Süden der Wilmersdorfer-Dahlemer-Bahn sah es nicht gerade günstig für eine Verlängerung aus. Die Strecke war hoch defizitär, ab Breitenbachplatz fuhr sogar nur ein sogenannter „Solowagen“ (ein Waggon) bis zum Endbahnhof Thielplatz. Die Stadt Berlin sträubte sich sehr dagegen, diese Strecke von der Domäne Dahlem beziehungsweise dem preußischen Finanzministerium zu übernehmen. Doch 1926 verbesserte sich die Situation erheblich. Der preußische Staat wollte die Strecke Berlin unentgeltlich und schuldenfrei übergeben. Gleichzeitig bot der Sommerfeld-Konzern, der große, noch zu bebauende Gebiete im Berliner Süden besaß, kostenloses Gelände und eine Baukostenübernahme für eine Verlängerung bis Krumme Lanke. Somit bekam Berlin faktisch drei Kilometer U-Bahn geschenkt.
Die Strecke sollte diese ebenfalls im Einschnitt befindlichen Bahnhöfe haben:
Oskar-Helene-Heim
Onkel Toms Hütte
Krumme Lanke (vorläufiger Endpunkt)Der Abschnitt ging am 22. Dezember 1929 in Betrieb. Der auch heute noch so benannte Bahnhof Onkel Toms Hütte erhielt diesen nach einem in der Nähe liegenden Lokal. Der Bahnhof Krumme Lanke erhielt ein sehr sachliches Eingangsgebäude, das eines der späten Werke Alfred Grenanders ist. 1988 kam es zum Abriss des baufälligen Gebäudes, 1989 wurde es originalgetreu wiedererrichtet. Der Endbahnhof der heutigen Linie U3 ist nach dem in der Nähe liegenden See Krumme Lanke benannt. Eine Verlängerung der Linie um eine Station zum S-Bahnhof Mexikoplatz ist möglich, um die U-Bahn an die Wannseebahn anzubinden. Die zu erwartende Nachfrage wird allerdings als relativ gering eingeschätzt.
=== Die U-Bahn unter der Frankfurter Allee ===
Für eine Linie unter der Frankfurter Allee gab es bereits sehr früh Pläne. Wie erwähnt, wollte auch die Hochbahngesellschaft unter dieser belebten Straße eine Kleinprofil-Strecke bauen, extra dafür wurde der schon erbaute, heute auf der U2 befindliche, Bahnhof Klosterstraße ausgebaut. Die Hochbahngesellschaft bemühte sich schon seit 1908 um eine Konzession für diese Strecke, die sie 1914 auch erhielt. Doch dann kam der Erste Weltkrieg, der den weiteren U-Bahn-Bau verhinderte. Nach dem Krieg sollten jedoch alle neuen Linien im Großprofil eingerichtet werden, außerdem schien es nicht angebracht, eine weitere Zweiglinie von der Stammstrecke zu bauen. Deshalb wurden am Bahnhof Alexanderplatz bereits bei der Fertigstellung der GN-Bahn (U8) zwei Bahnsteige für die Linie zur Frankfurter Allee und für eine weitere noch nicht realisierte Strecke nach Weißensee eingerichtet.
Die Hochbahngesellschaft besaß weiterhin die Konzession für ihre Pläne, die sie 1927 verlängern ließ. Doch wie bereits beschrieben, gehörte das gesamte U-Bahn-Netz bereits der Stadt Berlin, sodass das Kuriosum eintrat, dass die Hochbahngesellschaft erstmals eine Großprofil-Strecke baute. Die Bauarbeiten begannen im Mai 1927. Es sollten folgende Bahnhöfe gebaut werden:
Alexanderplatz (teilweise bereits vorhanden)
Schillingstraße
Strausberger Platz
Memeler Straße (heute: Weberwiese)
Petersburger Straße (heute: Frankfurter Tor)
Samariterstraße
Frankfurter Allee (Übergang zur S-Bahn)
Magdalenenstraße
Lichtenberg (Übergang zur Reichsbahn)
Friedrichsfelde (vorläufiger Endpunkt; Anbindung an neue Betriebswerkstatt)
Die Bauarbeiten unter der Frankfurter Allee gelangen ohne größeren Aufwand. Die Bahnhöfe lagen genau unter der Straße, sodass Verteilergeschosse errichtet wurden. Am bereits bestehenden Bahnhof Frankfurter Allee gab es gleichzeitig mit dem U-Bahn-Bau eine Erneuerung der Eisenbahnbrücke. Der vorläufige Endbahnhof Friedrichsfelde war nicht aus einem bestimmten Verkehrsbedürfnis entstanden, sondern diente lediglich als Endpunkt dieser Strecke. In dem damals noch unbebauten Gebiet entstand ein Unterpflasterbahnhof, und es wurde gleichzeitig eine neue Betriebswerkstatt für die neue U-Bahn-Strecke erbaut. Diese war die erste im Osten der Stadt.
Am 21. Dezember 1930 wurde die Linie unter der Frankfurter Allee mit zehn Bahnhöfen und sieben Kilometern Länge vollständig eröffnet.
=== Ende der zweiten Bauphase ===
In den letzten Jahren der Weimarer Republik wurden noch die Nord-Süd-U-Bahn verlängert und die Linie E unter der Frankfurter Allee eröffnet. Das Netz erreichte eine Streckenlänge von 76 Kilometern. 1931 wurden 265,5 Millionen Fahrgäste befördert. Während der Weltwirtschaftskrise fehlte der Stadt das Geld für den Neubau weiterer U-Bahn-Strecken. In den 1930er Jahren wurde vorrangig an der neuen unterirdischen Nord-Süd-S-Bahn gebaut.
Außerdem erhielten die einzelnen U-Bahn-Strecken Linienbezeichnungen, wie bei Omnibus und Straßenbahn schon lange üblich. Bisher wurden diese Strecken immer nur nach den Planungsnamen benannt, zum Beispiel „GN-Bahn“ oder „Nord-Süd-Bahn“. Doch schon bei den letzten Eröffnungen ergaben sich immer mehr sprachliche Probleme, zum Beispiel „Wilmersdorfer-Dahlemer-Bahn“. Ende der 1920er Jahre wurden die Bezeichnungen aus Buchstaben und römischen Ziffern endlich eingeführt. Diese setzten sich jedoch nur nach und nach durch.
== Die Berliner U-Bahn zur Zeit des Nationalsozialismus ==
=== Neue politische Situation ===
Nachdem Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, griffen die Nationalsozialisten in alle Bereiche des Lebens ein. Ob Politik, Bildung, Gesundheit oder Verkehr – es gab allgemein tiefgreifende Veränderungen. So fanden diese auch bei der U-Bahn statt. Zum 1. Dezember 1933 wurde der U-Bahn-Bereich der BVG völlig umstrukturiert in Bauplanung/Bauerhaltung, Stromversorgung, Materialbeschaffung und Wagenunterhaltung.
Am 24. April 1933 wurde der Reichskanzlerplatz zusammen mit dem gleichnamigen Bahnhof (heute: Theodor-Heuss-Platz) in Adolf-Hitler-Platz umbenannt. Der Bahnhof Schönhauser Tor (heute: Rosa-Luxemburg-Platz) wurde zur Station Horst-Wessel-Platz. Diesen Namen trug der Bülowplatz ab dem 1. Mai 1934. Damals war es üblich, dass in allen Bahnhöfen die Nationalflagge (Hakenkreuz auf rotem Untergrund) hing. Nach Kriegsende wurden die alten Namen zunächst wieder verwendet.
=== Große Pläne für Berlin ===
Die geplante riesige neue Reichshauptstadt Deutschlands (geplanter Name: „Germania“) sollte eine Einwohnerzahl von zehn Millionen erreichen. Dafür war auch eine erhebliche Erweiterung des U-Bahn-Netzes vorgesehen. Zahlreiche U-Bahn-Linien sollten neu gebaut oder verlängert werden. Die meisten Pläne konzipierte der neue Generalbauinspektor Albert Speer. Geplant war neben dem bereits bestehenden S-Bahn-Ring eine Berliner „Circle-Line“. Diese sollte alle damals bestehenden Linien kreuzen und etwa 30 Bahnhöfe haben. Auch sollte es verschiedene Linien nach Spandau, Gatow, Kladow, Lichterfelde, Marienfelde, Weißensee, Karlshorst und Lankwitz geben. Teile dieser Linie verwirklichte der Senat später mit dem Bau der U7.
Der U-Bahn-Bau ruhte aber ab 1930, weil der Bau der neuen unterirdischen Nord-Süd-S-Bahn und des Olympiastadions vorrangig ausgeführt wurde. Erst im Sommer 1938 fanden erste Bauarbeiten am Reichskanzlerplatz, am Reichstag und am Tempelhofer Damm statt. Es kam jedoch nicht zu einer Verlängerung des U-Bahn-Netzes.
=== Olympische Spiele ===
Am 13. Mai 1931 verkündete das Internationale Olympische Komitee, dass die XI. Olympischen Sommerspiele vom 1. bis 16. August 1936 in Berlin ausgetragen werden sollten.
Das Deutsche Stadion auf dem Reichssportfeld wurde zugunsten eines neuen Olympiastadions abgerissen; in Döberitz entstand für die Teilnehmer das Olympische Dorf.
Da ein hohes Verkehrsaufkommen nur für einen geringen Zeitraum zu erwarten war, entschloss man sich, keine neuen Strecken zu bauen, sondern die Verkehrsströme mit der S-Bahn (Spandauer Vorortbahn) und der U-Bahn-Linie A (heute: U2) zu bewältigen. Es erfolgten jedoch Bauarbeiten an den einzelnen Bahnhöfen: So wurde der U-Bahnhof Reichssportfeld am neuen Stadion mit drei Gleisen und einem neuen Empfangsgebäude ausgebaut. Der S-Bahnhof Olympiastadion (bis 1935: Stadion – Rennbahn Grunewald) bekam vier zusätzliche Bahnsteige mit acht dort endenden Gleisen. Auch heute wird dieser Service von Fußball-Fans genutzt. Der zusätzliche Personalbedarf während der Spiele wurde durch eine 46-Stunden-Woche und viele Überstunden ausgeglichen. 1937 wurde die Arbeitszeit auf 48 Arbeitsstunden pro Woche erhöht.
=== Kriegszerstörungen ===
Bereits vor dem Anfang des Zweiten Weltkriegs gab es merkliche Veränderungen bei der U-Bahn. So wurden die Messingtürgriffe durch Holz ersetzt. Ebenso wurden die gusseisernen Bremsklötze bei den Kleinprofilwagen gegen Holz ausgetauscht. Außerdem verschwanden die BVG-Liniennetzpläne, die annähernd genau Berlin darstellten.
Nachdem am 1. September 1939 die Nationalsozialisten den Zweiten Weltkrieg begonnen hatten, erfolgte sofort der Befehl zur Verdunkelung. So durfte auf den offenen Strecken der U-Bahn abends und nachts kein Licht mehr brennen. Zur besseren Orientierung für die Fahrgäste wurden die Bahnsteigkanten, heute längst üblich, mit weißer Farbe angestrichen. Auch wurden vor den Signallampen Verdunkelungsscheiben eingesetzt.
Am 29. August 1940 traf die erste Bombe den U-Bahn-Tunnel am Kottbusser Tor. Da die Bombe aber ein Blindgänger war, richtete sie nur geringen Sachschaden an. Infolgedessen wies die Reichsregierung an, dass in einigen U-Bahnhöfen Luftschutzräume eingerichtet werden sollten. Dies geschah an den Bahnhöfen Alexanderplatz, Ruhleben, Friedrichstraße, Gesundbrunnen, Gleisdreieck, Hermannplatz, Moritzplatz, Nollendorfplatz und Seestraße, im Waisentunnel, im Eisacktunnel, im ungenutzten Tunnel unter der Dresdener Straße sowie am teilweise noch im Rohbau befindlichen U-Bahnhof Hermannstraße. – Die Bunker in den Bahnhöfen Alexanderplatz, Gesundbrunnen, Hermannstraße und im Waisentunnel sind erhalten und können besichtigt werden.
Eine weitere Folge des Krieges war, dass die meisten Kraftfahrzeuge, auch Omnibusse, eingezogen wurden. Damit waren die Berliner auf die schienengebundenen Verkehrsmittel, also S-Bahn, U-Bahn und Straßenbahn, angewiesen. So stiegen die Fahrgastzahlen drastisch an. Die S-Bahn beförderte im Jahr 1942 etwa 700 Millionen Fahrgäste, die U-Bahn etwa 405 Millionen. Dies war ein neuer Rekord bei beiden Verkehrsmitteln. Doch beförderten diese nun nicht mehr nur Personen, auch der Güterverkehr verlagerte sich auch auf die Schiene. Transportiert wurden nun auch Lebensmittel, Papier und Zeitungen, Maschinenteile sowie die Post.
In den folgenden Jahren nahmen die alliierten Luftangriffe mit den damit resultierenden Bombenschäden immer weiter zu. Erst wurden auf den Liniennetzen die Strecken gekennzeichnet, die nicht befahren wurden. Später wurden nur noch diejenigen markiert, auf denen überhaupt noch Züge fuhren.
Der schlimmste Tag für die U-Bahn war der 3. Februar 1945: 27 Volltreffer auf Bahnhöfe und Anlagen wurden registriert. Die Tunneldecke am Bahnhof Halleschen Tor wurde von einer Bombe durchschlagen, es starben 43 Menschen. Der Bahnhof Bayerischer Platz, an dem sich gerade zwei Züge befanden, wurde von mehreren Bomben zerstört, wobei 63 Menschen ums Leben kamen. Ebenfalls Treffer erlitt der nördliche Teil des Bahnhofs Moritzplatz, in dem 36 Personen umkamen. Das schrecklichste Ereignis geschah jedoch am Bahnhof Memeler Straße (heute: Weberwiese), wo durch mehrere gleichzeitig fallende Bomben etwa 200 Menschen den Tod fanden.
Obwohl es einer reinen Sisyphos-Arbeit glich, versuchten die Bautrupps, jeden Schaden wieder zu beheben. Es galt, den Betrieb so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, ob nun als Pendelverkehr oder mit Umsteigen von Station zu Station. Nach und nach wurden jedoch die Schäden so groß, dass auf vielen Abschnitten ein Betrieb nicht mehr möglich war und der Verkehr gänzlich zum Erliegen kam. Darüber hinaus wurden Teile der U-Bahn-Tunnel umgewidmet. So wurden zum Beispiel der Bahnhof Grenzallee und der angrenzende Tunnelabschnitt stillgelegt und an ein Rüstungsunternehmen vermietet.
Schließlich meldeten die Nachrichten am 25. April 1945, dass das BVG-eigene Elektrizitätswerk Unterspree in Ruhleben beschossen wurde. Dieses stellte etwa um 18 Uhr die Stromversorgung ein. An diesem Tag fuhren lediglich auf zwei Strecken Züge im Pendelverkehr: Wittenbergplatz bis Kaiserdamm und von Kaiserdamm bis Ruhleben. Auch diese konnte nun nicht mehr betrieben werden. Der Verkehr ruhte nun in ganz Berlin.
=== Die U-Bahn unter Wasser ===
Kurz vor Ende der Schlacht um Berlin verursachten Truppen der SS einen der größten Schäden für das Berliner Nahverkehrsnetz: Am 2. Mai 1945 sprengten sie zwischen den Stationen Anhalter Bahnhof und Yorckstraße (Großgörschenstraße) der S-Bahn die Tunneldecke der Nord-Süd-Bahn. Die Angaben zu Datum und Verursachung gelten seit der Nachkriegszeit als umstritten.
Das Wasser des Landwehrkanals ergoss sich in den S-Bahn-Tunnel und lief am Bahnhof Friedrichstraße über den erst ein paar Jahre zuvor eröffneten Übergang auch in den Tunnel der Nord-Süd-U-Bahn (Linie U6) bis hinter die Stationen Wedding im Norden und Belle-Alliance-Straße (heute: Mehringdamm) im Süden. Vom damaligen U-Bahnhof Leipziger Straße (heute: Stadtmitte) der Nord-Süd-U-Bahn lief das Wasser über die Strecke der Linie A (heute: U2) zum Bahnhof Alexanderplatz und von dort in den Tunnel der Linie D (GN-Linie, heute: U8) bis hinter die Station Rosenthaler Platz. Auch die Linie E (heute: U5) unter der Frankfurter Allee stand bis zum Bahnhof Samariterstraße unter Wasser. Von insgesamt 63,3 Tunnelkilometern der U-Bahn waren rund 19,8 Kilometer von über einer Million Kubikmetern Wasser überflutet. Bezogen auf das Gesamtnetz war fast ein Viertel der Strecken betroffen. Am Bahnhof Potsdamer Platz war der Wasserhöchststand noch bis zur Sanierung nach 1989 zu erkennen.
== Jahre der Spaltung ==
=== Wiederaufbau ===
Mit Inkrafttreten der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endete in Europa der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945. Die Schadensbilanz für die Berliner U-Bahn war beträchtlich: Insgesamt wurden 437 Schadensstellen gezählt, sowie 496 beschädigte Fahrzeuge. 144 Volltreffer auf unterirdische, 33 auf oberirdische Strecken.
Am schwersten hatte es die Frankfurter-Allee-Linie (heute: U5) und die Schöneberger U-Bahn (heute: U4) getroffen. Aber auch andere Streckenteile waren zerstört: zwischen Stadtmitte und Hallesches Tor (heute: U6), von Stadtmitte bis Gleisdreieck und vom Nollendorfplatz zum Bahnhof Zoo (beide: U2). Zu den zahlreichen Bombentreffern kamen aber auch noch die Wassermassen des Landwehrkanals hinzu. Etwa ein Drittel aller Strecken und 26 Bahnhöfe waren überflutet. Es wurden insgesamt etwa 400 Opfer bei der Berliner U-Bahn angenommen.
Das Ausmaß der Schäden war für heutige Zeiten unvorstellbar. Dennoch resignierten die Berliner nicht, sondern engagierten sich bei Schadensbeseitigung und Reparatur, sodass der Wiederaufbau bis 1950 bewerkstelligt war. Es gab auch immer wieder Verzögerungen, vor allem beim Auspumpen der überfluteten Tunnel, denn oft fehlte der nötige Treibstoff.
Doch bereits am 14. Mai 1945 konnten aufgrund eines noch funktionsfähigen Unterwerkes zwei Streckenteile im eingleisigen Pendelbetrieb eröffnet werden. Die ersten U-Bahn-Züge fuhren zwischen Hermannplatz und Bergstraße (Teil der heutigen U7) sowie zwischen Boddinstraße und Schönleinstraße (Teil der heutigen U8).
In den nächsten Wochen und Monaten konnten immer weitere neue Streckenstücke wiedereröffnet werden, sodass am 16. Juni 1945 die gesamte Linie D (heute: U8) wieder im Umlaufbetrieb befahren werden konnte. Die Bahnhöfe Adolf-Hitler-Platz und Horst-Wessel-Platz wurden wieder umbenannt. Man schraubte einfach die vorhandenen Schilder ab, darunter kamen die ursprünglichen Namen Reichskanzlerplatz und Schönhauser Tor wieder zum Vorschein.
Ende 1945 waren bereits 69,5 Kilometer Streckenlänge und 93 U-Bahnhöfe wieder befahrbar, etwa 91,6 Prozent des damaligen Netzes. Da die Bahnhöfe Stadtpark (heute: Rathaus Schöneberg), Kaiserhof (heute: Mohrenstraße) und Hausvogteiplatz total zerstört waren, verzichtete man vorerst auf deren Eröffnung und die Züge fuhren dort einfach durch. Der Bahnhof Osthafen wurde aufgrund der Nähe zur Station Warschauer Brücke (heute: Warschauer Straße) als einziger Berliner U-Bahnhof nicht wieder aufgebaut.
Die Spreeunterfahrung zwischen den Bahnhöfen Märkisches Museum und Klosterstraße bereitete große Schwierigkeiten. Zuerst konnte nur ein provisorisch hergestelltes Gleis befahren werden. Am 17. November 1946 konnte das zweite Gleis eröffnet werden. Das letzte Stück U-Bahn konnte am 27. April 1947 zwischen Gleisdreieck und Hallesches Tor (heute: U1) wiedereröffnet werden. Und am 18. August 1950 konnte die letzte noch nicht wiederhergestellte Station Mohrenstraße nun mit dem neuen Namen Thälmannplatz in Betrieb gehen.
Der Fahrzeugmangel war in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein großes Problem und konnte nur schrittweise behoben werden. Grund hierfür war einerseits der am 11. Juli 1945 eingegangene Befehl der sowjetischen Besatzer, dass 120 C-Wagen aus der Betriebswerkstatt Friedrichsfelde beschlagnahmt werden sollten. Der Protest der BVG war vergeblich. Die eingezogenen U-Bahn-Züge verrichteten nun in Moskau ihren Dienst, zwischen 1949 und 1966 fuhren die Berliner C-Wagen nun auf der Moskauer Filjowskaja-Linie. Andererseits dezimierte aber auch ein Brand in der Abstellanlage Tempelhof den Wagenbestand weiter. Somit standen für die Linie E (Frankfurter Allee-Linie) sehr wenige Großprofil-Fahrzeuge zur Verfügung. Deshalb mussten vorhandene Kleinprofil-Fahrzeuge, wie schon in den 1920er Jahren, mit zusätzlich angebrachten Holzbrettern (auch „Blumenbretter“ genannt) auf dieser Großprofil-Linie fahren.
=== Spaltung der BVG ===
Nachdem die Westalliierten beschlossen hatten, am 20. Juni 1948 in den Westzonen eine Währungsreform durchzuführen, reagierte die UdSSR und tat selbiges in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, einschließlich des Gebietes von Berlin. Daraufhin beschloss der Magistrat die Einführung der Westmark auch in Berlin, die aber nur in den Westsektoren verwirklicht werden konnte. Als Antwort riegelten die Sowjets ab dem 24. Juni mit der Berlin-Blockade die Transitwege zwischen Westdeutschland und den Westsektoren ab und unterbanden deren Stromversorgung aus dem Umland und dem Ostsektor. Die Straßen-, Bahn- und Schiffsverbindungen waren dagegen nicht blockiert. Am 26. Juni befahl der amerikanische General Lucius D. Clay die Einrichtung der Berliner Luftbrücke zur Versorgung der Westsektoren. Diese bestand bis zur Wiederfreigabe der Transitwege durch die Sowjets am 12. Mai 1949.
Ab dem 9. Juli 1948 18 Uhr musste die U-Bahn in den Westsektoren den Betrieb aus Strommangel einstellen, weil die West-Berliner Kraftwerke nicht genug Strom produzieren konnten. In Ost-Berlin wurden alle Strecken befahren. Auch auf den späteren Transitlinien (Linie C, später: U6; Linie D, später: U8) fuhren Züge.
Dieses Ereignis belastete die BVG neben der sich gerade vollziehenden Teilung Berlins erheblich. Der Sitz der BVG war seit 1945 in der Potsdamer Straße. Um die Trennung beider Stadthälften zu verhindern, wurde in der Stralauer Straße im Ostsektor ein Kontaktbüro eingerichtet. Der damalige Leiter war Wilhelm Knapp, und so wurde das Büro nur noch das „Büro Knapp“ genannt. Dies war die De-facto-Spaltung der BVG. Ab dem 19. September 1949 nannte sich das „Büro Knapp“ nun „BVG-Ost“. So wurde die Trennung des stadteigenen Betriebs auch de jure vollzogen.
Für die BVG-Ost entstand dadurch ein großes Problem: Die Wartung der Kleinprofil-Fahrzeuge. Denn alle Kleinprofil-Werkstätten befanden sich in West-Berlin (Bw Grunewald und Bw Krumme Lanke). Die Fahrzeuge mussten fortan per Tieflader zur Großprofil-Werkstatt Friedrichsfelde gebracht werden. Um dieses Problem zu beseitigen, beschloss die BVG-Ost, einen Tunnel von der Linie A (heute: U2) zur Linie E (heute: U5) zu bauen. Die Bauarbeiten begannen 1951 und konnten rechtzeitig zum 50-jährigen U-Bahn-Jubiläum 1952 fertiggestellt werden. Durch den ersten Nachkriegs-Tunnelneubau in Berlin wurden die eigentlich zum Wiederaufbau vorgesehenen Reste des Grauen Klosters stark beschädigt. Die betriebsinterne Strecke wurde „Klostertunnel“ genannt.
== Dritte Bauphase ==
=== 200-Kilometer-Plan, Richtlinien und neue Verkehrspolitik ===
Da Berlin zu weiten Teilen zerstört war, gab es die große Chance, einige Strecken neu- oder umzubauen. Erste Vorschläge zielten darauf ab, die Hochbahnviadukte zu entfernen, denn diese wurden teilweise als hässlich, immer noch störend und ärgerlich empfunden. Der damalige Stadtrat für Verkehrsfragen, Ernst Reuter, lehnte dies jedoch ab:
Erstens seien diese Viadukte nun schon so alt, dass eine Gewöhnung eingetreten sei, an der man nicht rühren sollte; zweitens aber sollte man, wenn man schon viel Geld für U-Bahn ausgeben wolle, damit lieber neue U-Bahn-Strecken bauen, die der Bevölkerung auch neue Verkehrsverbindungen bringen würden.
Da dies nun vom Tisch war, wurde ein Plan für die Erweiterung des U-Bahn-Netzes vorgelegt:
Der Plan wurde von 1953 bis 1955 entworfen und wurde alle paar Jahre an die aktuelle Situation angepasst. Das Ziel war, das Berliner U-Bahn-Netz auf 200 Kilometer Länge zu verlängern. Daher stammt auch der Name 200-Kilometer-Plan. Dieser Plan ist heute auch insofern noch gültig, da er in den Berliner Flächennutzungsplan eingegangen ist. Das Besondere damals war, dass der Plan sich ausschließlich an den Pendlerströmen und nicht an den damaligen Grenzen orientierte. Höchste Priorität im 200-Kilometer-Plan besaß der Ausbau der Linie C nach Tegel und Mariendorf. Deshalb wurden diese Streckenabschnitte auch zuerst gebaut.
Neben dem 200-Kilometer-Plan wurden auch die Richtlinien für den Bau von U-Bahnen beschlossen. Die neue Verkehrspolitik sah vor, dass die U-Bahn und der Autobus die zwei wichtigsten Verkehrsmittel werden würden, während die Straßenbahn durch jene ersetzt werden sollte. Dieser Beschluss stand nicht von Anfang fest, er kristallisierte sich erst nach und nach heraus.
Es begann mit einer Bestellung neuer Straßenbahnwagen und Autobusse, die inzwischen dringend benötigt wurden und für deren Finanzierung ein Kredit über zwölf Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund 34,8 Millionen Euro) für den Kauf von 40 Straßenbahnwagen und 20 Autobussen beantragt wurde. An der Spitze der BVG wurden immer mehr Bedenken geäußert, denn einmal seien die Tests für den neuen Straßenbahntyp nicht erfolgversprechend verlaufen und zweitens wies man auf andere europäische Metropolen, in denen die Straßenbahnen ebenfalls eingestellt wurden. Die Straßenbahn wurde als überflüssig betrachtet, da Berlin zu jener Zeit bereits ein gutes Basis-U-Bahn-Netz besaß. Der damals stark wachsende Oberflächenverkehr würde die Straßenbahn (die damals meist ohne eigenen Gleiskörper fuhr) nur behindern. Diesem Problem könne man nur mit Tunnelstrecken entgegenwirken. Aufgrund dieser Argumente wurde der Kredit schließlich umgewandelt und mit Zustimmung des Berliner Senats für den Kauf von 120 Doppeldeckerbussen verwendet. Dies war zwar kein direkter Beschluss zur Abschaffung der Straßenbahn, doch war dies die logische Konsequenz daraus, wenn der Wagenpark nicht erneuert werden würde.
In den Richtlinien für den Bau von U-Bahnen wurde beschlossen, dass es zukünftig keine Linienverzweigungen, die es damals noch sehr häufig gab, geben sollte. Die Richtlinien gingen auch ausführlich darauf ein, wie die Bahnhöfe auszusehen haben, welche Geometrie die Tunnel haben, und dass Neubaustrecken nur noch im Großprofil gebaut werden sollten. Außerdem wurde festgelegt, dass in Zukunft bevorzugt Turmbahnhöfe oder Richtungsbahnsteige erbaut werden sollten. T- oder L-förmige Umsteigebahnhöfe sollten, wenn möglich, vermieden werden.
=== Die Netze trennen sich ===
Die Gründung der DDR löste bei den Berlinern eine große Unsicherheit aus. Viele West-Berliner mieden den Ostteil der Stadt und so bildeten sich neue Verkehrsströme, die den Ostsektor umfuhren. Anfang 1953 stellte die BVG auf den letzten Bahnhöfen in den Westsektoren Lautsprecher auf, die vor der Durchquerung des sowjetischen Sektors warnten (Beispiel: „Kochstraße, letzter Bahnhof im Westsektor“). Vor oder hinter diesen Bahnhöfen wurden Weichen eingebaut, um die Züge gegebenenfalls dort wenden zu lassen. Außerdem gestaltete die West-Berliner BVG den Fahrplan so, dass gleichzeitig eine U-Bahn Richtung Osten fuhr und ein anderer Zug wieder zurückkehrte. Somit würde der Westen bei Zwischenfällen nur wenige Fahrzeuge an den Osten verlieren.
Dies bewährte sich im Juni des Jahres 1953, als Ost-Berliner Arbeiter mit Protest auf die Erhöhung der Arbeitsnorm reagierten. Im Laufe des 17. Juni 1953 entwickelte sich ein Generalstreik. Die BVG-Ost und die Deutsche Reichsbahn stellten gegen etwa 11 Uhr den Betrieb der U-Bahn beziehungsweise der S-Bahn ein. Die Westzüge wendeten nun über die vorbereiteten Wendeanlagen. Insgesamt verlor die West-Berliner BVG aufgrund des durchdachten Fahrplans nur 18 Züge. Die BVG (West) legte auch den Nordabschnitt der Linie D mit den Bahnhöfen Voltastraße und Gesundbrunnen still, da dieser ohne Netzverbindung verkehrstechnisch unbedeutend war.
Wenige Tage später normalisierte sich die Lage wieder. Nun fuhren auch die S- und U-Bahnen in Ost-Berlin wieder. Als Folge des Aufstandes vom 17. Juni wurde eine neue Linienführung von Krumme Lanke nach Kottbusser Tor eingerichtet. Außerdem fuhr die Schöneberger U-Bahn jetzt nur noch bis Nollendorfplatz, nicht wie vorher bis Warschauer Brücke.
=== Die erste neue U-Bahn-Strecke nach Tegel ===
Als die Linie C in den 1920er Jahren gebaut wurde, wurde deren Verlängerung nach Tegel fest eingeplant. Nun konnten diese Pläne endlich verwirklicht werden. 1929 waren bereits 400 Meter Tunnel dafür entstanden.
Da in Berlin seit gut 20 Jahren keine Tunnel mehr gebaut wurden, mussten die U-Bahn-Bauer praktisch bei Null anfangen. Die Strecke vom bereits bestehenden Bahnhof Seestraße zum Zentrum des Ortsteils Tegel sollte keine schweren Hindernisse haben und mit dem Bau konnten auch einige Autobus- und Straßenbahnlinien eingestellt werden. So entschied man sich für diese Strecke als ersten Nachkriegsneubau im Westteil der Stadt.
Der erste Rammschlag fand am 26. Oktober 1953 in der Müllerstraße nördlich des Bahnhofs Seestraße statt. Die 6,9 Kilometer lange Strecke sollte in zwei Abschnitten gebaut werden: Seestraße – Kurt-Schumacher-Platz und Kurt-Schumacher-Platz – Tegel. Aus Kostengründen wählte man nördlich des Bahnhofs Kurt-Schumacher-Platz eine Dammbahn, denn der sehr hohe Grundwasserstand sprach gegen eine Einschnittbahn. Hinter jenem genannten Bahnhof steigt eine Rampe bis zum 15 Meter hohen Damm auf und erreicht den ersten Großprofildammbahnhof Scharnweberstraße. Hinter dem Bahnhof Holzhauser Straße geht die Strecke wieder in den Untergrund und folgt der wichtigen Berliner Straße bis ins Tegeler Zentrum.
Die Bahnhöfe wurden im Stil der Vorkriegszeit sehr sachlich mit hellen pastellfarbenen Keramikfliesen ausgestaltet. Die Dammbahnhöfe wurden aus dem damals sehr beliebten Spannbeton gebaut. Diese erscheinen heute nur noch sehr wuchtig und strahlen nicht den Flair der Vorortbahnhöfe, wie zum Beispiel auf der südlichen U3, aus.
Der erste Abschnitt wurde am 23. April 1956, der zweite am 31. Mai 1958 eröffnet. Mit der Eröffnung der Linie C erfolgte eine weitgreifende Umstrukturierung des nördlichen BVG-Netzes. Dabei wurden auch zahlreiche Straßenbahnlinien in diesem Bereich stillgelegt.
=== Die neue Linie G – von Steglitz bis zum Wedding ===
Wie schon erwähnt, fixierten sich die West-Berliner nun auf Busse und Straßenbahnen, die den Ostsektor umfuhren. Außerdem brauchten die bevölkerungsreichen Bezirke Steglitz, Wedding und Reinickendorf eine Schnellbahnverbindung zum damals neu entstandenen West-Zentrum um den Zoologischen Garten. Diesen Verkehrsbedürfnissen konnte man jedoch nicht mit Streckenverlängerungen gerecht werden, sodass ein Neubau nötig wurde. Deshalb konzipierte man nach dem damals geltenden Buchstabenkonzept eine neue Linie G (heute: U9). Sie sollte von der Osloer Straße (Gesundbrunnen) über Moabit, das Zentrum am Zoo und Kurfürstendamm, die Bundesallee und die Schloßstraße zum Rathaus Steglitz am Hermann-Ehlers-Platz geführt werden. Diese Linie war nun bereits die dritte Nord-Süd-Linie, nach den Linien C (U6) und D (U8).
Der erste Rammschlag für den Bau der neuen Linie erfolgte am 23. Juni 1955 im Großen Tiergarten. Diese U-Bahn-Strecke musste vier U-Bahn-Linien (heutige Linien U1, U2, U3 und U6), zwei S-Bahn-Strecken (Ring- und Stadtbahn) sowie drei Wasserläufe (Spree, Landwehrkanal und Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal) unterqueren.
So fuhren 1960 für sechs Monate die Züge der Linie C (heute: U6) ohne Halt an der Station Leopoldplatz durch. In dem Zeitraum wurden der alte Mittelbahnsteig abgerissen und für die Linie C zwei neue Seitenbahnsteige erbaut. Direkt darunter erhielt die Linie G einen Mittelbahnsteig. Außerdem kam ein Betriebsgleis zur Haupt- und Betriebswerkstatt Seestraße dazu. Südlich des Leopoldplatzes folgt die Strecke der Luxemburger- und Putlitzstraße. Hier waren nun einige der erwähnten Hindernisse zu unterqueren: Der Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, die Ringbahn und ein sehr massiver Häuserblock. Diese Herausforderungen wurden erfolgreich gemeistert.
Das nächste große Hindernis war das neue West-Zentrum um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, den Kurfürstendamm und den Bahnhof Zoo. Außerdem fuhr hier die stark benutzte Linie A (Stammlinie, heute: U2) zwischen Ruhleben und Pankow (Vinetastraße), deren Betrieb nicht gestört werden durfte. Am Kurfürstendamm, wo sich bereits die heutige U1 mit der Endhaltestelle Uhlandstraße befand, war der Tunnelbau wesentlich einfacher. Diese Kleinprofilstrecke als Teil der Linie B wurde vorübergehend stillgelegt und an der Kreuzung mit der Joachimsthaler Straße entstand der neue Umsteigebahnhof Kurfürstendamm.
Diese Situation wiederholte sich am vorläufigen Endpunkt der Linie G in der Bundesallee. Da es dort an der Querung mit der heutigen Linie U3 im Bereich Bundesallee/Spichernstraße keinen Bahnhof gab, wurde der neue Umsteigebahnhof Spichernstraße erbaut und Mitte 1959 der nahe gelegene Bahnhof Nürnberger Platz der U3 geschlossen. Jetzt war jedoch der Abstand von 1106 Metern zwischen den Stationen Wittenbergplatz und Spichernstraße nicht mehr akzeptabel, sodass als Ersatz der neue Bahnhof Augsburger Straße gebaut wurde. Diese beiden U-Bahn-Stationen erhielten Seitenbahnsteige, um den Eingriff in die vorhandene Substanz so gering wie möglich zu halten. Sie wurden am 2. Juni 1959 (Spichernstraße) beziehungsweise am 8. Mai 1961 (Augsburger Straße) eröffnet.
Alle neu erbauten Stationen orientierten sich sehr am Vorbild Grenanders. Sie folgten dem Stil der Neuen Sachlichkeit, die vom damaligen U-Bahn-Architekten Bruno Grimmek ausgeführt wurde.
Letztendlich wurden diese Bahnhöfe erweitert bzw. neu gebaut:
Leopoldplatz (Erweiterung)
Amrumer Straße
Putlitzstraße (heute: Westhafen, später mit Übergang zur Ringbahn)
Birkenstraße
Turmstraße
Hansaplatz
Zoologischer Garten (Erweiterung, Übergang zur U2 und zur Stadtbahn)
Kurfürstendamm (Übergang zur U1)
Spichernstraße (Übergang zur U3)
Augsburger Straße (auf der Linie U3)Die Linie G sollte am 2. September 1961 in Betrieb genommen werden. Doch bereits am 13. August befahl die DDR-Regierung den Bau der Mauer. Deshalb wurde der Eröffnungstermin auf den 28. August vorverlegt, was die Notwendigkeit dieser neuen U-Bahn-Linie bewies.
=== Mauerbau ===
1961 befahl der SED-Generalsekretär Walter Ulbricht den Bau der Berliner Mauer rund um West-Berlin. Der damalige Innenminister Karl Maron ließ im Punkt 3 des Befehls 003/61, auch als „Maron-Befehl“ bekannt, folgendes verkünden:
Durch diesen Beschluss wurden die Bahnhöfe der Linien C und D im Ostsektor zu sogenannten „Geisterbahnhöfen“. Die Umsteigemöglichkeiten an den Bahnhöfen Alexanderplatz und Stadtmitte wurden zugemauert.
Die BVG ließ ihre Züge jedoch nicht wie von Karl Maron geplant am Potsdamer Platz kehren, sondern bereits eine Station zuvor am Gleisdreieck. Dort hatte man als Vorsichtsmaßnahme Anfang der 1950er Jahre die Kehrgleise eingebaut. So benutzte die BVG-Ost den Bahnhof Potsdamer Platz nach Absprache mit der West-BVG als Kehranlage.
Mit diesem Beschluss waren die letzten gemeinsamen Berliner Verkehrsmittel, U-Bahn und S-Bahn, getrennt, denn die Straßenbahn fuhr bereits seit 1953 (Anlass war, dass die West-Berliner Polizei Straßenbahn-Züge mit Fahrerinnen stoppte) und die Omnibusse schon lange nicht mehr über die Sektorengrenze.
Die Folge des 13. August 1961 war, dass in West-Berlin zu einem S-Bahn-Boykott für die von der Deutschen Reichsbahn betriebenen Strecken aufgerufen wurde. Es skandierten nicht selten die Sprüche: „Der S-Bahn-Fahrer zahlt den Stacheldraht“ oder „Keinen Pfennig mehr für Ulbricht“. So fuhren die Berliner mehr mit U-Bahn, Bus und – wenn noch vorhanden – mit der Straßenbahn.
Für die Nutzung der beiden Nord-Süd-Strecken, auf deren „Geisterbahnhöfen“ die Züge nur langsam durchfahren konnten und deren Bahnsteige lange Zeit von bewaffneten „Grenzorganen“ bewacht wurden, zahlte der West-Berliner Senat jährlich 20 Millionen Mark an die DDR.
=== U-Bahn-Bau bis Rudow ===
Im Süden West-Berlins wurden zwei riesige neue Wohnsiedlungen mit dem Namen Britz und Britz-Buckow-Rudow (BBR), die heutige Gropiusstadt, errichtet. Für diese Großprojekte sollte auch eine möglichst gute Schnellbahnverbindung ins West-Berliner Zentrum erbaut werden. Dafür sah man die Linie CI vor, die künftig als eigene Linie betrieben werden sollte. Die Strecke von 6,2 Kilometer Länge wurde in drei Abschnitten in Richtung Süden gebaut. Grenzallee – Britz-Süd (1963), Britz-Süd – Zwickauer Damm (1970) und Zwickauer Damm – Rudow (1972). Der erste Rammschlag für die Verlängerung fand am 2. November 1959 in der Nähe des damaligen Endbahnhofs Grenzallee statt. Damals diskutierte man heftig, ob die Linie im Süden nicht als Damm- oder Einschnittbahn angelegt werden sollte. Die Planer, besonders Professor Walter Gropius, und die BVG wehrten dies ab mit der Begründung, dass so die Siedlung geteilt werden würde, was nicht das Ziel wäre.
Die Strecke folgt der Buschkrugallee unter dem Teltowkanal hindurch, schwenkt unter die Fritz-Reuter-Allee und unterfährt diese bis zum U-Bahnhof Britz-Süd. Dort wurde beim U-Bahn-Bau auch die erste Halle der neuen Betriebswerkstatt Britz-Süd errichtet, denn diese war nun durch die Verlängerungen und die dafür beschafften Fahrzeuge nötig geworden. Die Linie war direkt mit dem Siedlungsbau Britz-Buckow-Rudow verbunden; so waren keine Straßen zu unterqueren, da diese ja erst später gebaut werden mussten. Eine weitere Folge war, dass die Ausgänge nun günstig gelegt werden konnten und keine Verteilergeschosse vorzusehen waren.
Einziges bauliches Hindernis auf dieser Strecke war der Teltowkanal, der aber gut gemeistert werden konnte. Die Ausgestaltung der Bahnhöfe bis Britz-Süd übernahm nun Werner Düttmann, nachdem Bruno Grimmek seine Arbeit bei der U-Bahn beendete. Düttmann arbeitete vor allem mit kleinteiligen und rechteckigen Fliesen. Ab Johannisthaler Chaussee war der Architekt Rainer Gerhard Rümmler für die Stationen zuständig. Dieser verwendete wiederum größere Keramikfliesen, gestaltete die Bahnhöfe jedoch dunkler als die bisherigen Berliner Bahnhöfe. Rümmler war für alle neu zu bauenden Berliner U-Bahnhöfe bis 1998 zuständig.
=== Linie C bis nach Mariendorf ===
Schon seit dem Bau der Linie C (heute: U6) war es geplant, diese Linie bis nach Alt-Mariendorf zu verlängern. Auch die Nationalsozialisten planten diese Linie bis zur Mariendorfer Trabrennbahn zu bauen. Nun, da das Geld aus dem Bundeshaushalt reichlich zur Verfügung stand, konnte die lang ersehnte Verlängerung erbaut werden. Dennoch diskutierte man oft über die Kosten, es wurde zum Beispiel vorgeschlagen die Strecke neben dem Tempelhofer beziehungsweise Mariendorfer Damm als Einschnittbahn zu bauen. Die BVG wehrte sich dagegen mit der Begründung, dass man ja das Tempelhofer Rathaus und die wichtige Einkaufsstraße anbinden wolle und dies nur mit einer unterirdischen Linie möglich wäre.
Der erste Rammschlag für die 3,5 Kilometer lange Strecke fand am 6. März 1961 statt. Eröffnet wurde sie bis zum U-Bahnhof Alt-Mariendorf am 28. Februar 1966. Die Strecke folgt vom S- und U-Bahnhof Tempelhof geradlinig Richtung Süden dem Tempelhofer Damm und trifft dann auf den Teltowkanal. Ähnlich wie beim Bau der heutigen Linie U7 in Richtung Rudow war auch hier dieses Gewässer das größte Problem auf der Strecke. Da es generell weit kostengünstiger ist, eine Brücke zu bauen als einen Tunnel, die U-Bahn aber unter den Straßen Tempelhofer Damm bzw. Mariendorfer Damm verlaufen sollte, wählte man hierzu eine Doppelstockbrücke, bei der die U-Bahn unten fährt und oben die Straße verläuft. Im östlichen Teil der heutigen Stubenrauchbrücke befindet sich sogar noch ein Teil des U-Bahnhofs Ullsteinstraße. Da aber für die Schiffe die Durchfahrtshöhe von 4,6 Metern eingehalten werden musste, erbaute man für die Straße Rampen. Die Straßenebene lag durch diese Konstruktion 1,2 Meter über dem ursprünglichen Niveau.
Südlich des Teltowkanals folgt die U-Bahn dem Mariendorfer Damm bis zum Endbahnhof Alt-Mariendorf, der an der Kreuzung der Reißeckstraße bzw. Friedenstraße mit dem Mariendorfer Damm errichtet wurde. Von diesem Ort führen heute zahlreiche Buslinien in die locker bebaute Umgebung, die eine U-Bahn-Linie nicht unbedingt rechtfertigt. Mit diesem Ausbau war die heutige Linie U6 vollendet. Weitere Ausbauten sind heute nicht mehr geplant.
Abgesehen vom Bahnhof Alt-Tempelhof wurden alle Bahnhöfe vom senatsangestellten Architekten Rainer Gerhard Rümmler gestaltet. Genauso wie bei der südlichen U7 verwendete er hier große rechteckige Keramikfliesen. Bei Fahrgästen sind diese Bahnhöfe nicht sehr beliebt, denn sie sind recht dunkel gehalten. Außerdem bedürfen die Bahnhöfe inzwischen einer dringenden Sanierung.
=== Der Tierpark bekommt eine U-Bahn ===
Schon seit langem wurde eine Verlängerung der Linie E (heute: U5) über ihren damaligen Endpunkt Friedrichsfelde hinaus geplant. Diese Linie sollte sogar bis zum Ortsteil Karlshorst führen, der vor allem für seine Villenkolonie bekannt war. Dort hatte sich auch in der Nachkriegszeit die sowjetische Militäradministration eingerichtet. Doch beide Gründe reichten nicht aus, um die Verlängerung der Linie E dorthin zu rechtfertigen. Denn das Einzige, was die DDR damals baute, waren Wohnungen in ungeahnten Ausmaßen. Zu den ersten zu bebauenden Gebieten gehörten Flächen um den Tierpark. Für etwa 25.000 Bewohner sollten hier 9000 Wohnungen errichtet werden. Dieses Wohnviertel sollte selbstverständlich auch eine Nahverkehrsanbindung bekommen. Die beste Variante war, die Linie E um eine Station zu verlängern. Zusätzlich zu den zukünftigen Einwohnern des Viertels wurden auch noch etwa 2,5 Millionen Tierparkbesucher pro Jahr hinzugezählt. Für diese zu erwartenden Fahrgastströme lohnte sich die Verlängerung der U-Bahn.
Die Bauarbeiten für das erste U-Bahn-Neubau-Projekt der DDR begannen 1969. Die Strecke verläuft nordöstlich an der Betriebswerkstatt Friedrichsfelde vorbei und erreicht dann die Straße Am Tierpark. Dort entstand der neue Endbahnhof Tierpark. Die Gestaltung des Bahnhofs orientierte sich an den davor liegenden von Grenander entworfenen Bahnhöfen. Cremefarbene Fliesen und türkisfarbene Stützen prägen heute das Stationsbild. Der Bahnhof wurde mit einer großen, dreischiffigen Halle, die mit zwei Stützenreihen versehen war, erbaut. Damals wie heute sehr ungewöhnlich wurde das Abfertigungshäuschen hochgelegt, sodass das Personal zwar einen guten Überblick über den Bahnhof hat, für die Fahrgäste jedoch der Blick durch die Halle versperrt wird.
Die 1,2 Kilometer lange Strecke wurde am 25. Juni 1973 eröffnet. Die lange Bauzeit von vier Jahren entstand einerseits durch die Mangelwirtschaft der DDR und das Fehlen von Betonfertigteilen, andererseits durch die notwendigen Verlegungsarbeiten der Betriebswerkstatt und durch einen Brand in der Abstellanlage Alexanderplatz.
=== Die neue Linie 7 und geänderte Linienbezeichnungen ===
Im Jahr 1924 wurde der heutige U-Bahnhof Mehringdamm als Belle-Alliance-Straße eröffnet. Dieser Bahnhof besaß zwei Bahnsteige: einen Seitenbahnsteig und einen Mittelbahnsteig. Vom Mittelbahnsteig fuhren die Linien CI und CII in Richtung Seestraße, vom Seitenbahnsteig abfahrend trennten sie sich. Diese Linienverzweigung stellte sich später als problematisch heraus, sodass in den 1950er Jahren in den Richtlinien für den Bau von U-Bahnen die Abschaffung der Linienverzweigungen beschlossen wurde. Außerdem führten diese Linien die Verkehrsströme am damaligen Zentrum um den Bahnhof Zoo vorbei. Dadurch würde die Umsteigestation Hallesches Tor sehr belastet, wofür diese nicht ausgelegt war. Deshalb sollte der Neuköllner Ast von der Nord-Süd-U-Bahn getrennt und zu einer eigenständigen U-Bahn-Linie umgebaut werden.
Im 200-Kilometer-Plan war zwar festgeschrieben, dass die getrennte Linie H (heute: U7) nach Wilmersdorf fahren sollte, doch dies war nicht so schnell zu realisieren wie gewünscht. Auch ein Ende der Linie am Bahnhof Mehringdamm war ungünstig, denn es wäre trotzdem zum großen Umsteigeverkehr am Halleschen Tor gekommen. Deshalb wählte man den bereits bestehenden Hochbahnhof Möckernbrücke als Knotenpunkt aus. Die zukünftige Linie H würde nun auf eigener Strecke zum Bahnhof Möckernbrücke verkehren und die Linie C ebenfalls auf eigener Strecke von Tegel bis nach Mariendorf. Neben dem Neubau des U-Bahnhofs Möckernbrücke wurde auch ein Umbau des Bahnhofs Mehringdamm notwendig, der nun eine Station mit Richtungsverkehr sein sollte. Die Bauarbeiten begannen im Sommer 1962 und wurden am 26. Februar 1966 beendet.
Ab 1. März wurden im West-Netz die Linienbezeichnungen und Linienführungen gemäß den U-Bahn-Richtlinien umgestellt, die Buchstaben wurden schon 1958 abgeschafft.
Der Bahnhof Möckernbrücke liegt direkt neben dem Landwehrkanal, sodass eine teure Unterfahrung des Kanals vermieden werden konnte. Dieser Bahnhof wird von einer Spundwandkonstruktion abgegrenzt, ähnlich wie am Bahnhof Spittelmarkt der heutigen U2. Eine überdachte Brücke über dem Landwehrkanal verbindet den U- mit dem Hochbahnhof. Gleichzeitig erhielt der Hochbahnhof der heutigen Linie U1 vier Rolltreppen. Mit Eröffnung der Linie 7 war das Berliner U-Bahn-Netz 93 Kilometer lang und hatte 105 Bahnhöfe.
Die Fahrgäste konnten somit niemals die Linie H benutzen, weil das Buchstabensystem am 28. Februar 1966, dem Tag der Betriebseröffnung der Strecke zur Möckernbrücke, durch ein System mit arabischen Ziffern ersetzt wurde. Nun hieß die Linie H fortan „Linie 7“. Die Linienziffern wurden der komplizierten Chronologie nach geordnet. Nachdem die Pendelstrecke zum Richard-Wagner-Platz wegen des Baus der U7 stillgelegt wurde, wurde die Nummer 5 stets für die Ost-Berliner U-Bahn-Linie zum Tierpark, die später nach Hönow verlängert wurde, freigehalten. 1984, als die BVG auch die West-Berliner S-Bahn übernahm, wurden nach westdeutschem Vorbild vor die Liniennummer auch ein „U“ für U-Bahn beziehungsweise ein „S“ für S-Bahn davorgesetzt.
=== U-Bahn-Bauboom im Westen ===
Da die Subventionen aus dem Bundeshaushalt auch weiterhin nach Berlin flossen, wurde wie bisher an der U-Bahn gebaut. Am 29. Januar 1971 wurde eine der bisher größten Streckenverlängerungen verwirklicht. Die Linie U7 fuhr nun von der Möckernbrücke bis zum Fehrbelliner Platz, die Linie U9 von der Spichernstraße bis zum Walther-Schreiber-Platz. Elf neue Bahnhöfe mit neun Kilometern Strecke gingen an diesem Tag in Betrieb. Bei beiden Neubauten war der Rammschlag am 1. Juli 1962. Damit erhielten die Steglitzer und Neuköllner Einwohner eine neue Verbindung ins West-Berliner Zentrum und mussten nicht mehr den langsameren Busverkehr benutzen.
Die Linie U7 führt hinter dem U-Bahnhof Möckernbrücke mit großen Kurven unter dem Anhalter Güterbahnhof und dem S-Bahnhof York- bzw. Großgörschenstraße durch. Außerdem wurde ein Umsteigebahnhof zu den S-Bahn-Linien S1 und S2 errichtet. Nun führt die Strecke unter dem Wilmanndamm zum neuerbauten U-Bahnhof Kleistpark. Hier erhielt auch endlich die BVG-Verwaltung, die direkt am Kleistpark in der Potsdamer Straße ihren Sitz hatte, einen direkten U-Bahn-Anschluss. Wie im damaligen 200-Kilometer-Plan vorgesehen, sollte eine Linie U10 von Weißensee über den S-Bahnhof Greifswalder Straße, Alexanderplatz, Leipziger Straße, Potsdamer Platz, Potsdamer Straße, Schloßstraße nach Lichterfelde geführt werden. Am Bahnhof Kleistpark sollten sich die Linien U7 und U10 kreuzen. Deshalb entstand neben dem sowieso zu bauenden Bahnsteig ein Bahnhof im Rohbau für die U10. Da diese Planung aufgrund des S-Bahn-Parallelverkehrs obsolet geworden ist, wurden die leeren Räume für eine Sicherheits- und Informationszentrale der BVG benutzt.
Weiter führt die Linie U7 unter der Grunewaldstraße zum Bayerischen Platz. Beim Bau der damaligen Schöneberger U-Bahn (heute: U4) verlangte die Bauaufsicht eine Brückenkonstruktion für eine zukünftige Linie. Diese konnte nun beim Bau der U7 mitbenutzt werden. Der Bahnhof wurde ebenfalls, wie der schon vorhandene Kleinprofil-Bahnhof, mit weißen und blauen Farbelementen, in Erinnerung an das Bayerische Staatswappen, verziert.
Der folgende Bahnhof entstand als erster geplanter Kreuzungsbahnhof in Berlin, der nicht nachträglich zu einer Umsteigestation umgebaut wurde. Hier kreuzen sich nun die Linien U7 und U9. Der untere Bahnsteig ist ein Mittelbahnsteig, jener der U9 ist allerdings ein Seitenbahnsteig. Dies aber nicht im üblichen Sinne: An einem Seitenbahnsteig steigen die Fahrgäste normalerweise auf der rechten Seite aus, am Bahnhof Berliner Straße geschieht dies aber auf der linken Seite. Man könnte die Bahnsteige auch als auseinandergezerrte Mittelbahnsteige sehen. Nur ein Gang am nördlichen Ende beider Bahnsteige verbindet diese. Der Grund dafür war, dass mit dem U-Bahn-Bau auch ein Straßentunnel zwischen den beiden Seitenbahnsteigen errichtet wurde.
Die Strecke der U7 folgt nun der Brandenburgischen Straße und hatte am Bahnhof Fehrbelliner Platz vorläufig ihren Abschluss. Hier treffen sich heute die Linien U3 und U7. Beim Bau des Bahnhofs wurde ein neues Eingangsbauwerk für beide Linien errichtet, um eine ampelfreie Kreuzung des Hohenzollerndamms mit der Brandenburgischen Straße zu erreichen.
Die U9 folgt direkt vom bisherigen Endbahnhof Spichernstraße der Bundesallee und kreuzt dabei, wie beschrieben, die Linie U7. Ähnlich wie am Bahnhof Berliner Straße beherbergt auch der neu erbaute Bahnhof Bundesplatz einen Autotunnel. Deshalb konnte auch hier kein Mittelbahnsteig errichtet werden. Die Gleise trennen sich kurz vor dem Bahnhof und es wurden zwei Seitenbahnsteige errichtet. Seit dem Wiederaufbau der Ringbahn und Verschiebung des ehemaligen Bahnhofs Wilmersdorf über die Bundesallee kann hier seit Dezember 1993 direkt zwischen der U9 und der Ringbahn umgestiegen werden.
Den vorläufigen Abschluss fand die U9 am Walther-Schreiber-Platz. Erst 1974 konnte diese Linie von hier aus weiter in Richtung Süden in Betrieb genommen werden.
Alle errichteten Bahnhöfe wurden von Rainer Gerhard Rümmler ausgestaltet. Dabei benutzte dieser aber auch schon, statt wie bisher große Keramikfliesen, großformatige bunte Metallplatten, so zum Beispiel am Bahnhof Eisenacher Straße. Auch sollen in der Farbgestaltung immer neue Assoziationen geweckt werden. Am Bahnhof Berliner Straße sollen die Farben Weiß und Rot an das Berliner Landeswappen erinnern, an der Station Eisenacher Straße die grünen Flächen an den Thüringer Wald bei Eisenach. Ebenso wie die Bahnhöfe auf der südlichen U7 sind die Stationen teilweise sehr dunkel und in schlechtem Zustand. Eine Sanierung wäre nach Meinung von Berliner Verkehrsexperten auch hier fällig.
=== Endausbau der Linie 9 ===
Während die U9 ab 1971 bis zum Walther-Schreiber-Platz fuhr, waren die Bauarbeiten in Richtung Süden in vollem Gange. An der Kreuzung Bundesallee/Rheinstraße verbanden sich die zwei Straßen zur Schloßstraße. Hier sollte nach dem 200-Kilometer-Plan die U10 auf die U9 treffen. Aufgrund der beengten Platzverhältnisse in der Schloßstraße sollten die zwei Linien im Richtungsverkehr übereinander fahren. Dies kann man bis heute sehr gut am Bahnhof Schloßstraße erkennen: Auf dem oberen Bahnsteig fährt die U9 in Richtung Zoologischer Garten, auf den unteren Bahnsteig in Richtung Rathaus Steglitz. Die Gleiströge der U10 sind, ähnlich dem Bahnhof Jungfernheide, mit Zäunen abgesperrt. Bis heute hängt dort das Schild „Kein Zugverkehr“. Durch diese enorme Bauvorleistung stiegen die Kosten für einen Kilometer U-Bahn-Strecke auf rund 78 Millionen Mark, das waren exorbitante Höhen.
Hinter dem Bahnhof Schloßstraße endet die U9 am Bahnhof Rathaus Steglitz. Auch hier wurde ein Bahnsteig für die zukünftige U10 in Richtung Weißensee mit erbaut. Bis heute benutzt die U9 jedoch den Bahnsteig der U10, da es damals aufgrund erfolgloser Verhandlungen mit der Deutschen Reichsbahn, die hier den S-Bahnhof Berlin-Steglitz betrieb, nicht zu einer Einigung kam. Nach der Übernahme der S-Bahn-Betriebsführung durch die BVG am 9. Januar 1984 wurde der westliche Seitenbahnsteig als Verbindungsgang zum S-Bahnhof ausgebaut. Am U-Bahnhof Steglitz kann man auch heute noch in zahlreiche Buslinien umsteigen, die in einem eigens dafür erbauten Busbahnhof im Steglitzer Kreisel halten.
Der Bahnhof Schloßstraße wurde ausnahmsweise nicht von Rainer Rümmler, sondern vom Architektenbüro Schüler & Witte entworfen. Die Bahnhofswände wurden verhältnismäßig sparsam mit roten, gelben und blauen Wandelementen ausgestaltet. Es dominiert jedoch der Nacktbeton. Der Bahnhof Rathaus Steglitz erhielt dagegen wieder eine typische Gestaltung Rainer Rümmlers. Es wurden riesige weiße und rote Wandelemente angebracht, außerdem versah man diese noch mit großen, matt-silberfarbenen Lettern, die den Stationsnamen bilden. Die Neubaustrecke ist 1,6 Kilometer lang und wurde am 30. September 1974 eröffnet. Bis heute gibt es Pläne für eine Verlängerung der U9 in Richtung Lankwitz.
Im Norden der Linie U9 wurde ebenfalls weiter gebaut. Man sah eine Verlängerung der Linie bis nach Pankow vor. Da dies aber aufgrund der politischen Verhältnisse nicht zu realisieren war, ließ man die U9 bis zur Kreuzung Osloer/Schwedenstraße bauen. Es waren zwei neue Bahnhöfe vorgesehen: Nauener Platz und der neue Turmbahnhof Osloer Straße. Bis dahin sollte auch die U8 verlängert werden. Hier ergab sich eine optimale Situation, denn der Turmbahnhof konnte ohne Rücksicht auf anderen U-Bahn-Verkehr erbaut werden, der Bahnhof musste nicht nachgerüstet werden. Mitgebaut wurde auch ein großzügiges, helles Zwischengeschoss, in dem sich zahlreiche Läden und Imbisse befinden. Der Bahnhof Nauener Platz wurde ähnlich der Station Rathaus Steglitz mit großen Wandelementen und silbernen Lettern ausgestaltet. Hier dominieren die Farben Rot, Weiß und Blau. Dies sollte eine Assoziation an die Machtverhältnisse wecken, denn die Station befindet sich im ehemaligen Französischen Sektor. Die Strecke vom Leopoldplatz zur Osloer Straße war 1,5 Kilometer lang und wurde am 30. April 1976 eröffnet. Nun war die U9 in ihrem vorläufigen Endzustand. Bis heute wurde diese Linie nicht weiter verlängert.
Im Februar 1989 beschloss der bereits abgewählte CDU/FDP-Senat den Weiterbau der U9 nach Lankwitz statt des Ausbaus des Südrings. Diese Entscheidung wurde kurz darauf vom damals neuen SPD/AL-Senat zurückgenommen und die Wiederinbetriebnahme des S-Bahn-Ringes beschlossen.
=== Schlechtes Schicksal für die Linie 8 ===
Nach 1961 stand es nicht gut für die Linie 8. Im Süden mit sechs Stationen beginnend, schloss sich ein sehr langer Transitabschnitt unter Ost-Berlin an (ebenfalls mit sechs Stationen) und endete am Bahnhof Gesundbrunnen. Der Verkehrswert dieser Linie war infolgedessen sehr niedrig, zumal sie gegebenenfalls immer den Störungen seitens der DDR ausgesetzt war. 1962 kristallisierten sich Pläne für ein neues Wohnviertel in West-Berlin heraus. Das Märkische Viertel sollte ebenso wie die Gropiusstadt einen U-Bahn-Anschluss erhalten. Die dort in der Nähe vorbeifahrende S-Bahn nach Frohnau wurde von den Planern nicht berücksichtigt, weil die Berliner S-Bahn von der Deutschen Reichsbahn betrieben wurde. Stattdessen sollte die U-Bahn-Linie 8 verlängert werden.
Bereits bei der Streckenerweiterung der Linie 9 zur Osloer Straße, wurde ein darunterliegender Bahnsteig für die U8 mitgebaut. Die ersten Bauarbeiten fanden 1973 statt, eröffnet wurde die 1,4 Kilometer lange Erweiterung am 5. Oktober 1977. Die Strecke verläuft hinter dem Bahnhof Gesundbrunnen weiter unter der Badstraße. An der Kreuzung mit der Pankstraße wurde ein gleich lautender Bahnhof errichtet. Der U-Bahnhof Pankstraße wurde so gebaut, dass dieser auch als Schutzraum beispielsweise in Kriegsfällen genutzt werden kann. So besitzt die Station Sanitärräume, eine Notküche, eine gefilterte Frischluftversorgung und so weiter. Im Notfall können hier genau 3339 Personen Schutz finden. Die Mehrkosten wurden vom Bundesfinanzministerium bezahlt. Die Wände wurden mit braunen Fliesen ausgestaltet, die Stützen mit Aluminiumblechen verkleidet.
Die Strecke folgt nun weiter der Schwedenstraße und trifft auf den schon vorbereiteten U-Bahnhof Osloer Straße. Zusätzlich wurde hier auch ein Betriebsgleis mitgebaut, sodass nun auch Züge von der U8 zur U9 überführt werden konnten.
Erst zehn Jahre später, am 27. April 1987, konnte das nächste Streckenstück bis zum Paracelsus-Bad in Betrieb genommen werden (die Bauarbeiten fingen 1980 an). Waren die Verlängerungen bei den anderen Linien wesentlich schneller vorangegangen, dauerte es hier ungewöhnlich lange für die Neubaustrecke. Auch dies zeigt, dass die U8 nicht wirklich unter einem guten Stern stand.
Hinter dem Bahnhof Osloer Straße folgt die U8 weiter der Schwedenstraße, die ab der Kreuzung mit der Reginardstraße Residenzstraße heißt. In der Nähe des Schäfersees entstand ebenfalls ein U-Bahnhof. Es gab viele Streitigkeiten, wie denn die Station zu heißen habe. Schließlich einigte man sich auf ‚Franz-Neumann-Platz (Am Schäfersee)‘. Dieser Bahnhof ist, genauso wie die folgenden Stationen, mit der unverwechselbaren Handschrift Rainer Rümmlers versehen worden. An den Wänden sieht man Bäume, die die Parklandschaft um den Schäfersee verdeutlichen sollen.
Die Strecke verläuft weiter unter der Residenzstraße, wo auch ein gleichnamiger Bahnhof errichtet wurde, macht dann eine lange Kurve unter der Kreuzung Residenzstraße/Lindauer Allee und endet nach wenigen Metern am Bahnhof Paracelsus-Bad. Der Bahnhof Residenzstraße, der an die Residenz Berlin erinnern sollte, ist mit Stadtplänen des Berliner Stadtschlosses versehen. Die Stützen sind äußerst bunt gestaltet und sollen wohl an die reichen Teppiche in der Residenz erinnern. Der Bahnhof Paracelsus-Bad sollte Assoziationen mit dem in der Nähe gelegenen Schwimmbad wecken. Zusätzlich wurden auch noch Bilder angebracht, eins davon zeigt den Arzt und Philosophen Philippus Aureolus Theoprastus Bombastus von Hohenheim. Dieser ist jedoch unter dem Namen Paracelsus bekannter. Eigentlich sollte der neue Streckenabschnitt am 30. April 1987, pünktlich zur 750-Jahr-Feier Berlins, eröffnet werden. Bis heute ist nicht klar, wieso dieser dennoch drei Tage früher als geplant in Betrieb ging.
Die nächste Verlängerung in Richtung Märkisches Viertel dauerte wieder recht lange. Um eine bessere Anbindung des Bezirks Reinickendorf zu erreichen, macht die Linie U8 einen kleinen Umweg zum Märkischen Viertel, d. h. die U-Bahn-Strecke führt nicht unter dem Industriegebiet um den S-Bahnhof Wilhelmsruh entlang, sondern über den Umweg über das Karl-Bonhoeffer-Krankenhaus und das Rathaus Reinickendorf. Erst 1994 konnte man mit der U8 bis zum S-Bahnhof Wittenau fahren.
=== In drei Etappen nach Spandau ===
Bereits zu Zeiten der Hochbahngesellschaft gab es Pläne eine U-Bahn nach Spandau zu bauen. Erste Schritte wurden Ende der 1920er Jahre mit der Verlängerung der heutigen Linie U2 bis Ruhleben getan. Der Endbahnhof Ruhleben liegt jedoch direkt an der Bezirksgrenze zu Spandau in kaum besiedeltem Gebiet und hatte lediglich als Umsteigepunkt zum Straßenbahn- und Busliniennetz eine verkehrliche Bedeutung.
Ende der 1960er Jahre wurden diese Pläne wieder aktuell, denn nun waren ausreichend finanzielle Mittel vorhanden, um sich mit einer U-Bahn nach Spandau zu befassen. In Erwägung gezogen wurde eine Verlängerung der Ruhlebener U-Bahn. Alternativen gab es indes: Die bis heute am Bahnhof Uhlandstraße endende Linie hätte über Adenauerplatz, Messe, Theodor-Heuss-Platz und weiter auf der schon bestehenden Linie 1 verlängert werden können. Die letzte Variante bestand darin, die Linie 7 über Mierendorffplatz, Jungfernheide und die Nonnendammallee zu verlängern. Diese Variante wurde von den Planern bevorzugt und letztendlich auch gebaut, weil sie die Siemensstadt mit ihren vielen Arbeitsplätzen erschloss. Die Bauarbeiten für den Abschnitt vom Fehrbelliner Platz zum Richard-Wagner-Platz begannen 1969.
Diese Trasse verläuft weiter unter der Brandenburgischen Straße und kreuzt den Kurfürstendamm am U-Bahnhof Adenauerplatz. Dieser ist bereits als Kreuzungsbahnhof angelegt, denn auch heute noch ist es geplant, die jetzige U1 zum Adenauerplatz zu verlängern. Darauf schwenkt die Linie unter die Wilmersdorfer Straße und unterquert wenige Meter weiter die Stadtbahn. Die Wilmersdorfer Straße wurde in diesem Zusammenhang in eine Fußgängerpassage umgewandelt. Dabei war diese wichtiger als die Umsteigemöglichkeit zum in der Nähe liegenden S-Bahnhof Charlottenburg. Im Jahr 2006 sind die Bauarbeiten zum Umklappen des S-Bahnsteigs abgeschlossen, die Umsteigewege haben sich damit verkürzt.
Als Kreuzungspunkt mit der Kleinprofilstrecke der früheren Linie A (heute: U2) wurde der Bahnhof Bismarckstraße als vollkommen neuer Turmbahnhof ausgeführt. Die schon bestehenden Tunnel an der Bismarckstraße waren jedoch in einem schlechten Zustand. Damals besaß man keine Erfahrungen mit diesem Problem und riss deshalb die ganze Konstruktion ab und erbaute diese erneut aus Stahl. Hinter der Bismarckstraße macht die U7 einen großen Schwenk von der Wilmersdorfer Straße zur Richard-Wagner-Straße. Dabei mussten 23 Häuser unterfahren werden, deshalb wurde hier der Schildvortrieb gewählt.
Bis zum Jahr 1970 pendelte die damalige Linie 5 als kürzeste U-Bahn-Linie Berlins zwischen Deutscher Oper und Richard-Wagner-Platz. Diese Linie brachte verständlicherweise keinen großen Profit ein. Durch die Verlängerung der Linie U7 sollte eine wirtschaftlichere Strecke entstehen. Damals wurde die alte Strecke stillgelegt und ein neuer U-Bahnhof entstand mehrere Meter unter dem alten Bahnhof. Die übrig gebliebene Tunnelanlage wandelte sich zu einer Betriebsstrecke um, die somit die zweite Austauschstrecke zwischen Klein- und Großprofil ist.
Die Etappe vom Fehrbelliner Platz bis zum Richard-Wagner-Platz wurde am 28. April 1978 eröffnet. Damit konnte auch die Anbindung des Charlottenburger Rathauses erfolgen, denn eigentlich nur dafür war die Kleinprofil-Linie 5 gebaut worden. Die Bahnhöfe, durchweg von Rainer G. Rümmler gestaltet, bekamen sehr unterschiedliche Gesichter. Die schwarzen, orangefarbenen, roten, gelben und weißen Längsstreifen am Bahnhof Konstanzer Straße, die an das Konstanzer Stadtwappen erinnern sollen, repräsentieren die Schnelligkeit der U-Bahn. Dagegen bekam der Bahnhof Wilmersdorfer Straße eine ganz neuartige Wandgestaltung. Kleine rechteckige Fliesen sind in Mustern angeordnet, die stilisierte Lilien zeigen, die sich im Wappen des namensgebenden damaligen Bezirks Wilmersdorf befanden.
Die Bauarbeiten für die nächste Etappe in Richtung Spandau begannen 1973. Die U-Bahn fährt hinter dem Bahnhof Richard-Wagner-Platz weiter unter der Sömmeringstraße. Auf halbem Wege zum Mierendorffplatz wird wieder einmal die Spree unterquert. Diese Strecke wurde in Senkkastenbauweise errichtet. Nach wenigen Metern folgt auch schon der Bahnhof Mierendorffplatz. Hinter diesem macht die Trasse einen großen Bogen, um den bereits bestehenden S-Bahnhof Jungfernheide an der Berliner Ringbahn zu erreichen. Hier wurde, ähnlich dem Bahnhof Schloßstraße in Steglitz, ein Bahnsteig mit zwei Ebenen erbaut. Die anderen Gleise waren für eine mögliche Verlängerung der Linie U5 vorgesehen. Diese sollte vom Alexanderplatz kommend über Turmstraße und Jungfernheide zum Flughafen Tegel führen. Nach dem Senatsbeschluss zur Außerbetriebsetzung des Flughafens Tegel nach Inbetriebnahme des neuen Großflughafens Berlin Brandenburg ist eine Verlängerung zum Flughafen Tegel jedoch nicht mehr zu erwarten. Die aktuelle Planungsdiskussion geht davon aus, die U5 bereits am Hauptbahnhof, eventuell später an der Turmstraße enden zu lassen.
Hinter dem Bahnhof Jungfernheide unterqueren der Tunnel der Linie U7 und der Tunnelstumpf der Linie U5 den Westhafenkanal. Darauf macht die Trasse der Linie U7 einen großen Bogen zum Jakob-Kaiser-Platz. Der bereits beim Bau des Berliner Stadtrings mit errichtete U-Bahnhof Jakob-Kaiser-Platz wurde zwischenzeitlich als Fußgängerunterführung benutzt. Hinter der Station Halemweg fährt die U-Bahn unter der Nonnendammallee. Hier gab es große Kritik von Umwelt- und Fahrgastverbänden sowie des Bundes der Steuerzahler, da die Strecke auch oberirdisch hätte geführt werden können. Der Berliner Senat war jedoch in dieser Sache stur geblieben. An der Kreuzung Nonnendammallee/Rohrdamm endete die zweite Etappe des U-Bahn-Baus nach Spandau mit der vorläufigen Endstation Rohrdamm.
Wie auch zuvor gestaltete Rainer Gerhard Rümmler alle Bahnhöfe, jedoch wesentlich schlichter als zuvor: Der Bahnhof Mierendorffplatz erhielt die gleichen Fliesen wie schon die Station Wilmersdorfer Straße. Die Bahnhöfe Jakob-Kaiser-Platz, Halemweg und Siemensdamm enthielten viele Komplementärkontraste. Der Bahnhof Siemensdamm könnte, ähnlich wie die Station Pankstraße, als Schutzraum für 4500 Menschen genutzt werden. Den Bahnhof Rohrdamm zieren Abbildungen von Zahnrädern und Rohren, die auf die umgebende Industrie hinweisen sollen. Zusätzlich wurde die Decke nicht verkleidet, dadurch sind unter anderem auch die Kabel der Beleuchtungsanlage sichtbar.
Die 4,6 Kilometer lange Strecke vom Richard-Wagner-Platz zum Rohrdamm wurde am 1. Oktober 1980 eröffnet. Damit erhielt der Bezirk Spandau den ersten richtigen U-Bahn-Anschluss. Aber es war geplant, die U7 bis ins Spandauer Zentrum zu führen.
Auf dem Weg dorthin gab es mehrere Varianten. So gab es Überlegungen die U-Bahn durch das Haselhorster Ortszentrum zu führen. Der Nachteil war allerdings, dass die Havel an einer ihrer breitesten Stellen unterquert werden müsste. Eine weitere Variante war, dass die U-Bahn die bestehende Spandauer Vorortstrecke der S-Bahn kreuzen würde und die U-Bahn von Süden her zum Spandauer Rathaus geführt werden würde. Diese Variante hätte jedoch die Spandauer Altstadt nicht an das U-Bahn-Netz angebunden, was das eigentliche Ziel dieser Verlängerung war. Die ursprünglich diskutierte Version mit einem Endbahnhof am Falkenseer Platz legte man aus gleichem Grund zu den Akten, obwohl dieses Vorhaben jahrzehntelang Bestandteil des 200-Kilometer-Plans war. Schließlich entschied man sich für eine Variante, dass die Trasse weiter der Nonnendammallee beziehungsweise der Straße Am Juliusturm folgen würde, südlich an der Spandauer Zitadelle vorbei und dann direkt zur Altstadt und weiter zum Spandauer Rathaus.
Die Kosten für diese Verlängerung stiegen in ungeahnte Höhen: 680 Millionen Mark war dieses Bauprojekt, das wesentlich günstiger hätte gebaut werden können, teuer. Die Kosten waren vor allem dadurch entstanden, dass die Havel unterquert werden musste und dass der Boden in diesem Umfeld bedingt durch tote Seitenarme der Spree sehr sumpfig war. Deshalb wurden hier fünf verschiedene Bauweisen eingesetzt: Erst arbeitete man weiter mit der Berliner Bauweise, die auch im restlichen Netz sehr oft angewendet wurde. Der anschließende Abschnitt wurde in Schlitzwand-Sohle-Bauweise errichtet. Bei der Havelunterquerung wurde die Senkkastenmethode eingesetzt. Die Spandauer Altstadt mit ihren sehr engen Straßen und Gassen konnte nur mit dem sehr teuren bergmännischen Schildvortrieb unterfahren werden. Der Endbahnhof Rathaus Spandau wurde schließlich in der Deckelbauweise errichtet.
Die Bahnhofsgestaltung überließ die Senatsbauverwaltung wieder Rainer G. Rümmler. Auch hier setzte er seine „kreative“ Arbeit fort. Der Bahnhof Paulsternstraße gleicht einer bunten Blumenwiese. Diese zeigt sehr deutlichen den damaligen Geschmack. Der Bahnhof Haselhorst dagegen besticht durch Schlichtheit, hier kam vor allem die Lichtgestaltung zum Zuge. Der Endbahnhof schließlich war der Höhepunkt der ganzen Strecke. Mit äußerst breiten Säulen, Lampen und anderer pompöser Dekoration fällt der viergleisige Bahnhof sehr auf. Die beiden inneren Gleiströge benutzt die U7, die beiden äußeren Gleiströge werden für die geplante Verlängerung der heutigen Linie U2 freigehalten.
Am 1. Oktober 1984 wurde mit dieser 4,9 Kilometer langen Strecke das letzte Teilstück der vollständigen Linie U7 eröffnet. Auch der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl wohnte der Eröffnung bei.
=== U-Bahn in die Neubaugebiete des Ostens ===
Ende der 1970er Jahre begannen die Planungen für ein neues Wohngebiet im dafür neu zu schaffenden Bezirk Hellersdorf. Die Größe des Neubaugebietes, in etwa doppelt so groß wie die Gropiusstadt, verlangte einen Schnellbahnanschluss ins Zentrum Ost-Berlins. Dafür wurden mehrere Vorschläge unterbreitet. Eine S-Bahn, wie schon für die neuen Wohnviertel in Marzahn und Hohenschönhausen, zu bauen, wurde verworfen, da die Stadtbahn schon vollkommen ausgelastet war und eine weitere Zuggruppe nicht mehr aufnehmen konnte. Eine Schnellstraßenbahn, wie schon in Potsdam realisiert, besaß jedoch nicht die erforderliche Kapazität. Letztendlich kam nur noch die U-Bahn in Frage, die vom damaligen Endpunkt Tierpark weiter verlängert werden sollte. Auch hier gab es mehrere Streckenvarianten. Man entschloss sich dafür, die U-Bahn oberirdisch über die nicht mehr genutzte Bahntrasse der VnK-Strecke (Verbindung nach Kaulsdorf) fahren zu lassen. Außerdem war eine Kreuzung der Ostbahn, die von der S-Bahn befahren wurde, vorgesehen.
Die Projektierung der Strecke fand in den Jahren 1983/1984 statt. Die Strecke sollte 10,1 Kilometer lang sein und neun Bahnhöfe haben. Der Neubau, der fast ausschließlich oberirdisch erfolgen sollte, wurde in zwei Abschnitten eröffnet. Die Bauarbeiten begannen am 1. März 1985.
Die Strecke beginnt direkt hinter dem Bahnhof Tierpark und macht dann eine sehr scharfe Kurve in Richtung Osten, kommt aus dem Tunnel und fährt dann auf der VnK-Strecke. Nach der Kreuzung des Berliner Außenrings erreicht die U5 die Station Biesdorf-Süd. Diese wurde als dreigleisige Anlage ausgeführt, um hier Verstärkerzüge enden zu lassen. Am Westende des Bahnhofs wurde eine Umsteigemöglichkeit für einen Bahnhof einer möglichen S-Bahn-Strecke mitgeplant. Danach folgt, auf einem Damm gelegen, der vorzeitige Endbahnhof für die Strecke, Elsterwerdaer Platz. Endstation war dieser von Juli 1988 bis Juli 1989. Der Abschnitt Tierpark – Elsterwerdaer Platz wurde am 1. Juli 1988 eröffnet.
Hinter dem Bahnhof Elsterwerdaer Platz geht die Strecke in nordöstlicher Richtung weiter und erreicht den Bahnhof Wuhletal. Diese Station, als Kreuzung mit der S-Bahn, ist bis heute einmalig im Berliner U-Bahn-Netz. Hier konnte durch die staatlich gelenkte Verkehrspolitik ein fahrgastfreundlicher Umsteigepunkt entstehen. Dort halten U-Bahn und S-Bahn an einem Bahnsteig, es kann in gleicher Richtung am gleichen Bahnsteig umgestiegen werden. Vergleichbare Anlagen gibt es in Deutschland nur am Endbahnhof München-Neuperlach Süd der dortigen U5, im Bahnhof Konstablerwache in Frankfurt am Main und am Endbahnhof der Hamburger U-Bahn-Linie U1, dem Bahnhof Norderstedt Mitte. Beim Bau des Umsteigepunktes wurde gleichzeitig ein Verbindungsgleis zur Eisenbahn geschaffen. Dadurch konnten die umständlichen und teuren Zugüberführungen per Tieflader aufgegeben werden. Auch heute noch wird dieses Gleis zur Anlieferung von neuen U-Bahn-Zügen, wie zum Beispiel des Typs H, benutzt.
Nordöstlich des Bahnhofs Wuhletal schließt sich ein hier notwendiger Tunnel unter der Gülzower Straße an. Dahinter kommen sechs weitere Stationen: Albert-Norden-Straße (heute: Kaulsdorf-Nord), Heinz-Hoffmann-Straße (heute: Kienberg [Gärten der Welt]), Cottbusser Platz, Hellersdorf, Paul-Verner-Straße (heute: Louis-Lewin-Straße) und der Endbahnhof Hönow. Die letzten beiden Bahnhöfe befanden sich kurzzeitig im Bezirk Frankfurt (Oder) und wurden nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 zu Berlin eingemeindet. Am Endbahnhof Hönow wurde eine große Kehranlage errichtet, hier war der Bau einer neuen Betriebswerkstatt geplant. Diese Gleise sind heute größtenteils abgebaut. Der Abschnitt zwischen Elsterwerdaer Platz und Hönow wurde am 1. Juli 1989 eröffnet.
Alle Bahnhöfe gestaltete der Entwurfs- und Vermessungsbetrieb der Deutschen Reichsbahn (EVDR). Erstmals wurden die Stationen mit Rampen ausgestattet, sodass auch Kinderwagen und Rollstuhlfahrer die U-Bahn bequem nutzen konnten. Die dadurch im Bahnhof Elsterwerdaer Platz errichtete Rampenanlage stellt schon fast ein Kuriosum dar, weil die Fahrgäste zwei Minuten benötigen, um vom Bahnsteig bis zum Ausgang zu kommen. In Hellersdorf wurde eine vorbildliche Umsteigestation zur dortigen Straßenbahn geschaffen, die Haltestelleninseln können über Tunnel erreicht werden, das lästige Überqueren der Straße entfiel nun.
Die Verlängerung der Strecke bis nach Hönow blieb die einzige U-Bahn-Verlängerung in der DDR.
=== Fall der Mauer und Wiedervereinigung der Netze ===
Am 9. November 1989 verlas das SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski vor laufenden Kameras nach einer entsprechenden Frage und eher nebensächlich, dass „sofort und unverzüglich Privatreisen ins Ausland ohne Vorliegen von Voraussetzungen wie Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden“ könnten. Die Genehmigungen würden „kurzfristig erteilt“. Ausreisen könnten „über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen“.
Massen von DDR-Bürgern eilten zu den Grenzübergängen. Als erstes wurde um etwa 22:30 Uhr der Grenzübergang Bornholmer Straße geöffnet. Auch andere Übergänge wurden nach und nach geöffnet. Es kam zu überschwänglichen Freudenszenen. Die BVG und die BVB ließen die Züge rund um die Uhr fahren. Auch Mitarbeiter, die frei hatten, halfen bei der Bewältigung der Massen mit. Teilweise mussten die Bahnsteige gesperrt werden, Züge fuhren ohne Halt durch, beispielsweise von Leopoldplatz zum Zoologischen Garten. Noch am gleichen Tag beschlossen die beiden Chefs von BVG und BVB, nach einem vorher in der Öffentlichkeit diskutierten IGEB-Vorschlag, den noch verschlossenen U-Bahnhof Jannowitzbrücke zu öffnen. Mitarbeiter beider Verkehrsgesellschaften reinigten gemeinsam kurzfristig die Bahnsteige, sodass die Station bereits am 11. November dem Fahrgastverkehr zur Verfügung stand. Da die Station zwei Zugänge hatte, konnten hier die immer noch als notwendig erachteten Grenzkontrollen vorgenommen werden. Seit dem 22. Dezember hielten nun auch wieder Züge im U-Bahnhof Rosenthaler Platz. Am 12. April wurden die Tore der Station Bernauer Straße geöffnet, bis zum 1. Juli 1990 war sie nur von West-Berlin aus zugänglich.
Vielen DDR-Bürgern waren die Verkehrslinien der BVG unbekannt, da sie auf ihren Stadtplänen nicht eingezeichnet waren und die westlichen Bezirke durch weiße Flächen dargestellt wurden.
Ab dem 1. Januar 1990 gab es die erste grenzüberschreitende Tarifgemeinschaft, die von den Betrieben BVG, BVB, Deutsche Reichsbahn und VKP Potsdam (VE Verkehrskombinat Potsdam) gebildet wurde. Zunächst bedeutete dies, dass Fahrscheine und Zeitkarten der BVG auch in Ost-Berlin und dem Umland galten. Für Bürger der DDR entfiel die Freifahrt auf Verkehrsmitteln der BVG. Dafür wurden neue Fahrscheine als Zwei-Stunden-Ticket bzw. Tageskarte im Ermäßigungs- und Normaltarif eingeführt. Diese Regelung galt bis zum 1. August 1991. Dann trat ein neuer Tarif mit gegenüber West-Berlin niedrigeren Fahrpreisen in Ost-Berlin und Brandenburg in Kraft.
Am 1. Juli 1990 trat eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft. In diesem Zusammenhang wurden alle übrigen, noch verschlossenen Stationen wiedereröffnet. Außerdem wurden die Ost-Linien A und E ins (West-)Berliner Nummernschema integriert. Die Linie E bekam nun die unbenutzte Linienbezeichnung „U5“. Die Linie A, die wieder an das West-Berliner U-Bahn-Netz angeschlossen werden sollte, erhielt die Bezeichnung „U2“. Das führte zu der dreijährigen Situation, dass die Linie „U2“ auf zwei getrennten Teilabschnitten verkehrte.
Vier Monate später, am 3. Oktober 1990, wurden alle Bahnhofsnamen geändert, die nach kommunistischen Politgrößen benannt waren und nunmehr in der Bundesrepublik als unerwünscht galten:
Dimitroffstraße → Eberswalder Straße
Otto-Grotewohl-Straße (bis 1986: Thälmannplatz) → Mohrenstraße
Marchlewskistraße → Weberwiese
Albert-Norden-Straße → Kaulsdorf-Nord
Heinz-Hoffmann-Straße → Neue Grottkauer Straße
Paul-Verner-Straße → Louis-Lewin-StraßeGleichzeitig wurden drei weitere Bahnhöfe umbenannt:
Frankfurter Tor → Rathaus Friedrichshain
Stadion der Weltjugend → Schwartzkopffstraße
Nordbahnhof → Zinnowitzer Straße (heute: Naturkundemuseum)Beim U-Bahnhof Frankfurter Tor entwickelte sich dies jedoch zu einer politischen Posse. Innerhalb weniger Jahre wechselte die Bezeichnung mehrfach: Frankfurter Tor → Rathaus Friedrichshain → Petersburger Straße → Frankfurter Tor.
Im August 1991 wurden die Tarife „A“ und „B“ eingeführt. Der „A“-Tarif galt in West-Berlin, der „B“-Tarif im Ostteil der Stadt und im Umland. Fahrgäste, die nachweislich ihren Wohnsitz vor dem 18. Oktober 1989 (Rücktritt des DDR-Staats- und Parteichefs Erich Honecker) im Ostteil hatten, durften im Tarifgebiet A mit Fahrausweisen des B-Tarif fahren. Alle anderen Fahrgäste durften den „B“-Tarif nur dort selbst nutzen. Der Einheitstarif der BVB und der Zonentarif der S-Bahn, die beide 1944 als Kriegstarife eingeführt wurden, waren damit abgeschafft.
Nachdem die ersten Schritte nach der Einheit vollbracht waren, war es an der Zeit über Reaktivierung von geschlossenen Strecken nachzudenken. Dies waren zwei: Die Verbindung vom Wittenbergplatz über Gleisdreieck und Potsdamer Platz zur Mohrenstraße. Die anderen waren der Wiederaufbau der Oberbaumbrücke und die Wiedereröffnung des Bahnhofs Warschauer Straße. Außerdem mussten die Bahnsteige der U6 auf dem ehemaligen Transitabschnitt verlängert werden, da aus Spargründen diese nur mit einer Bahnsteiglänge von 80 Metern gebaut wurden. Nun gab es aber Kapazitätsprobleme und so musste dieses Hindernis beseitigt werden. Im ehemaligen West-Berlin war dies schon in den 1950er Jahren geschehen.
Bei der Reaktivierung der U2 zwischen Mohrenstraße und Wittenbergplatz mussten einige Hindernisse überwunden und Probleme gelöst werden. Die Strecke zwischen Wittenbergplatz und Gleisdreieck wurde bis 1972 betrieben, danach wurde diese Linie verkürzt, weil sie als überflüssiger Parallelverkehr zur U1 angesehen wurde. Seitdem tat sich auf dem Streckenabschnitt so einiges. Im ungenutzten Bahnhof Bülowstraße quartierte sich ein „Türkischer Basar“, im Hochbahnhof Nollendorfplatz der Flohmarkt „Nolle“ ein. Zwischen beiden Bahnhöfen wurde auf der ehemaligen Hochbahntrasse eine Museumsstraßenbahn betrieben. All dies musste beseitigt werden, außerdem war eine Grundsanierung für beide Bahnhöfe überfällig, genauso wie für den seit 1961 stillgelegten Bahnhof „Potsdamer Platz“. Doch es bestand noch ein weiteres Problem: Vom Gleisdreieck aus war 1983/1984 eine Magnetschwebebahn (in Berlin „M-Bahn“ genannt) erbaut worden. Diese verlief aber teilweise über das Gelände der ehemaligen U-Bahn. Deshalb beschloss der Berliner Senat, die M-Bahn sowie ihre Bahnhofsgebäude abzureißen, um die alte U-Bahn-Trasse wiederaufzubauen. Dies geschah ab dem 1. August 1991.
Im Osten dagegen mussten noch die zahlreichen Sicherungs- und Grenzanlagen entfernt werden. Schließlich konnten nach zahlreichen Sanierungen, Um- und Rückbauten die beiden Strecken am 13. November 1993 wieder zusammengefügt werden. Gleichzeitig mit der Wiedereröffnung der U2 wurde eine Umsortierung im Berliner Kleinprofilnetz vorgenommen:
U1, bisher Ruhleben – Schlesisches Tor, nun Krumme Lanke – Schlesisches Tor
U2, bisher Krumme Lanke – Wittenbergplatz (West) und Mohrenstraße – Vinetastraße (Ost), nun Vinetastraße – Ruhleben.
U3, bisher Uhlandstraße – Wittenbergplatz, nun als U15 Uhlandstraße – Kottbusser Tor
neue Linie U12 Ruhleben – Schlesisches Tor
Das zweite Reaktivierungsprojekt betraf die Strecke vom Bahnhof Schlesisches Tor über die Oberbaumbrücke zum ehemaligen Bahnhof Warschauer Brücke, heute Warschauer Straße. Die Strecke, 1902 eröffnet, wurde bis zum August 1961 betrieben. Danach war die Strecke der heutigen U1 bis zum Schlesischen Tor gekürzt worden, denn der Bahnhof Warschauer Brücke gehörte damals zu Ost-Berlin. Über Jahre hin verfiel die Station, auch wenn sie teilweise von Betrieben der DDR genutzt wurde. Auch eine Aufnahme in die Liste „Nationale Kulturerben der DDR“ half nichts. 1992 begannen die ersten Bauarbeiten für die Strecke. Es waren zahlreiche Sanierungsarbeiten zu verrichten, auch Neubauten waren nötig, da einige Gebäude des Bahnhofs zu DDR-Zeiten abgerissen wurden. Als erstes wurde die Oberbaumbrücke saniert, die sich in einem desolaten Zustand befand. Der spanische Architekt Santiago Calatrava gewann die Ausschreibung und entwarf die Pläne zur Sanierung der Oberbaumbrücke. Neben dieser war auch noch der Bahnhof selber mit seinen drei Bahnsteigen, das alte Stellwerk und die Wagenhalle an der Rudolfstraße instand zu setzen.
Schließlich konnten alle Bauarbeiten abgeschlossen werden, und so fuhr am 14. Oktober 1995 der erste Zug wieder zum heutigen Bahnhof Warschauer Straße, der diesen neuen Namen bekam, um die Umsteigemöglichkeit zwischen U-Bahn und S-Bahn zu verdeutlichen. Die Planungen, dass beide Schnellbahnhöfe näher aneinanderrücken, bestehen noch immer (Stand Ende 2018). Die erste Zielstellung, dies ab 2010 in Verbindung mit der Sanierung der S-Bahnhöfe Warschauer Straße und Ostkreuz vorzunehmen, wurde nicht umgesetzt. Mit der Wiedereröffnung der Strecke über die Oberbaumbrücke wurden auch die damaligen zwei Hochbahnlinien, die U1 und U15, bis zur Warschauer Straße verlängert. Heute führt nur noch die U1 dorthin.
Als die heutige U6 in den Jahren 1912 bis 1923 gebaut wurde, herrschte einerseits der Erste Weltkrieg und andererseits die darauf folgende Hyperinflation. Deshalb musste die Stadt Berlin, als Bauherrin der neuen Nord-Süd-U-Bahn, sehr viel sparen. Während die vorher gebauten Kleinprofilbahnhöfe schmuckvoll ausgestattet waren, bekamen die Bahnhöfe der U6 nur weißen Putz als Verkleidung. Einziges Unterscheidungsmerkmal waren die Kennfarben der Stützen und Stationsschilder, glichen sich die Bahnhöfe doch sehr stark. Doch am meisten gespart wurde an der Bahnsteiglänge: Bei Neubauten sind heute Bahnsteige von 110 bis 120 Meter Länge üblich. Damals wurden nur 80 Meter lange Bahnsteige gebraucht und die Stadt Berlin rechnete damit, dass dies auch ausreichen würde. Schon in den 1970er Jahren gab es erste Kapazitätsprobleme, weil auf diesen Strecken nur 4-Wagen-Züge eingesetzt werden konnten. In den 1960er und 1970er Jahren wurden die ersten West-Berliner U-Bahnhöfe umgebaut, damit dort längere Züge hätten halten können. Da aber auf den drei Grenzbahnhöfen Friedrichstraße, Kochstraße und Reinickendorfer Straße ein Umbau nicht möglich war (an den anderen Bahnhöfen hielten ja keine Züge) beziehungsweise man sehr viel Geld an die DDR hätte überweisen müssen, blieb es bei dem Betrieb mit 4-Wagen-Zügen. Die BVG ließ die Züge deshalb bis zur Wiedervereinigung im 3-Minuten-Takt fahren.
Nach der deutschen Wiedervereinigung waren die kurzen Bahnsteige ein nicht akzeptabler Zustand in der nun nicht mehr geteilten Stadt. Deshalb beschloss der Berliner Senat, 250 Millionen Mark für die Verlängerung der Bahnsteige der Bahnhöfe Kochstraße, Stadtmitte, Französische Straße, Friedrichstraße, Oranienburger Tor, Zinnowitzer Straße, Schwartzkopffstraße und Reinickendorfer Straße zu investieren. Veranschlagt war eine Bauzeit von vier Jahren, das heißt von Juli 1992 bis September 1996. Die Zeitdauer der Bauarbeiten ergibt sich dadurch, dass die Arbeiten bei laufendem Betrieb zu verrichten waren.
Um den Eingriff in die Bausubstanz möglichst gering zu halten, entschieden sich die Planer dafür, die Bahnsteige nur an einer Seite zu verlängern. Dies konnte aufgrund folgenden Zustands gemacht werden: Die Bahnsteige enden mit jeweils zwei Treppen, um den Fahrgastfluss zu beschleunigen. Beide Treppen schlossen den Bahnsteig ab. Der Abstand von der ersten zur zweiten Treppe entsprach genau der des zu verlängernden Bahnsteigs. Nach dem Umbau befindet sich deshalb die erste Treppe noch auf dem Bahnsteig, während die zweite Treppe nun den neuen Bahnsteigsabschluss bildet.
Die ersten Arbeiten begannen am Bahnhof Oranienburger Tor, der auch schon im April 1994 fertig war. Zuletzt wurden die Stationen Zinnowitzer Straße und Schwartzkopffstraße ausgebaut, denn hier war die gerade laufende Olympiabewerbung Berlins zu berücksichtigen. Die Arbeiten begannen dort im April 1995 und endeten im September 1996. Seitdem können 6-Wagen-Züge auf der U6 verkehren.
=== Endausbau der U8 ===
Schon seit Ende der 1960er Jahre war den Einwohnern des Märkischen Viertels eine U-Bahn-Verbindung versprochen worden. Nach Prüfung mehrerer Varianten entschieden sich die Planer für eine Verlängerung der U8. Bis 1987 wurden bereits zwei Etappen (Gesundbrunnen – Osloer Straße und Osloer Straße – Paracelsus-Bad) auf dem Weg in Richtung Märkisches Viertel erreicht. Die dritte Etappe stand noch aus. Nach der Übernahme der West-Berliner S-Bahn durch die BVG und der Wiedereröffnung der Strecke am 1. Oktober 1984 Richtung Frohnau gab es immer mehr Kritik an der Verlängerung der U8, sollte diese doch nahezu parallel zur S-Bahn verlaufen. Der West-Berliner Senat ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken und setzte weiter auf den U-Bahn-Bau. Selbst eine Mahnung aus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn, die Zuschüsse einzustellen und das zu verbauende Geld in die sanierungsbedürftige S-Bahn zu investieren, stieß bei den BVG-Verantwortlichen auf taube Ohren. Die BVG argumentierte damit, dass ein Stopp des Berliner U-Bahn-Baus der Stadt schweren wirtschaftlichen Schaden bringen würde.
Der erste Rammschlag fand am 27. Februar 1985 statt, damals war der Streckenabschnitt davor noch in Bau. Als Endbahnhof der dritten Etappe der U8 war der Bahnhof Wilhelmsruher Damm in der Nähe des S-Bahnhofs Wittenau vorgesehen. Man grenzte sich damit offensichtlich von der S-Bahn ab. Erst kurz vor der Einweihung der Neubaustrecke korrigierte der Senat den Bahnhofstitel. Seitdem heißt die Station „Wittenau (Wilhelmsruher Damm)“, gebräuchlich ist allerdings nur „Wittenau“.
Die Strecke verläuft hinter dem Bahnhof Paracelsus-Bad weiter unter der Lindauer Allee. Darauf schließt sich auch gleichnamiger Bahnhof an, der als einzige Station der U8 einen Seitenbahnsteig hat. Nach einer langen Kurve unterfährt die U8 nun die S-Bahn. Hier wurde die Station so gelegt, dass ein sehr langer Umsteigeweg entstand. Auch hier gab es einen Namensstreit: Der neu anzulegende U-Bahnhof an dortiger Stelle sollte von vorneherein „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“ heißen. Der S-Bahnhof in der Nähe hieß „Wittenau (Kremmener Bahn)“, der nicht zu verwechseln ist mit „Wittenau (Nordbahn)“. Aufgrund dieser Verwechslungsgefahr wurde er auch in „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“ umbenannt. Für Geografen ein wahres Wortmonstrum, setzte sich der Name nur nach und nach durch. Bei der S-Bahn wird bis heute zwar „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“ angesagt, aber nur „Karl-Bonhoeffer-Klinik“ (ohne „Nerven“) angezeigt.
Im Anschluss unterfährt die U-Bahn die Klinik. Um den Betrieb nicht zu stören, musste hier der Schildvortrieb eingesetzt werden, sogar eine Gummimattierung musste hier eingesetzt werden. Die rief wieder die Kritiker auf den Plan, die eine offene Bauweise mit Gebäudeabfangung favorisierten. Bei dem Bau dieses Streckenabschnittes kamen aber noch andere Probleme: Der märkische Sand machte die Arbeiten besonders schwierig und auch zahlreiche überdimensionale Findlinge verzögerten die Bauarbeiten.
Hinter der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik schwenkt die U8 auf den Eichborndamm, wo auch die Station Rathaus Reinickendorf errichtet wurde. Nach 1101 Metern erreicht die U-Bahn-Linie U8 ihren eigentlich vorläufigen, aber wahrscheinlich wohl endgültigen Endbahnhof Wittenau. Bis heute ist es zwar vorgesehen, diese Linie ins Märkische Viertel zu verlängern. Doch wie auch bei anderen U-Bahn-Projekten verhindert die extreme Haushaltsnotlage des Landes Berlin einen Weiterbau.
Die gesamte Neubaustrecke, die 3,6 Kilometer lang ist und vier neue Bahnhöfe hat, wurde am 24. September 1994 eröffnet. Der Streckenbau kostete 600 Millionen Mark. Genau wie bei anderen neu gebauten U-Bahnstrecken dieser Zeit übernahm Rainer Gerhard Rümmler die Gestaltung der Bahnhöfe. Kritiker meinen, dieser Abschnitt würde seinen Höhepunkt darstellen, neigte Rümmler doch etwas zur Übertreibung. Dies stellt sich insbesondere im U-Bahnhof Lindauer Allee dar. Hier verwendete er vor allem das Symbol des Lindauer Wappens, des Lindenbaums. Am U-Bahnhof sollen die Farben grün und gelb eine gewisse Ruhe ausstrahlen, die er mit dem geplanten Bahnhofsnamen „Wilhelmsruher Damm“ assoziierte.
Baupläne für eine U-Bahn zum S-Bahnhof Hermannstraße gibt es bereits seit 1910. Auch als die sogenannte „GN-Bahn“ zwischen 1927 und 1930 schrittweise eröffnet wurde, gab man die Pläne für eine Verlängerung nicht auf. Im Jahr 1929 begannen die ersten Arbeiten in Richtung Süden, doch die damalige Wirtschaftskrise verhinderte deren weitere Ausführung. Letztendlich stellt die Stadt Berlin als Bauherrin 1931 die Arbeiten ein. Bis dahin war der Tunnel vom Bahnhof Leinestraße und etwa ein Drittel des zukünftigen Bahnsteigs Hermannstraße fertiggestellt.
Der noch in Rohbau befindliche Bahnhof wurde 1940 in einem Schutzbunker ausgebaut, da dieser aufgrund der Unterquerung der S-Bahn sehr tief lag. Auch heute erinnern noch Relikte an die Zeit. Nach 1961 wurden die Verlängerungspläne nicht mehr weiterverfolgt, da eine Umsteigeverknüpfung mit der von der DDR betriebenen S-Bahn nicht erwünscht war. Den bereits errichteten Tunnel benutzte die BVG als Abstellanlage für nicht mehr gebrauchte Züge.
Nach der deutschen Wiedervereinigung schien auf einmal vieles möglich. Der S-Bahn-Ring, der 1980 nach einem S-Bahner-Streik von der Deutschen Reichsbahn stillgelegt worden war, sollte wiedereröffnet werden. Die Eröffnung war für den 17. Dezember 1993 vorgesehen – dies bedeutete, der Senat und die BVG mussten sich sehr beeilen, da die Bauarbeiten des U-Bahnhofs vor der Wiedereröffnung des S-Bahn-Rings beginnen mussten.
Bei den Arbeiten für den Bahnhof entdeckte die BVG auch die in den 1960er Jahren dort abgestellten Züge. Viele U-Bahn-Liebhaber freuten sich, da dort ein schon musealer Zug wiedergefunden wurde, ein BI-Zug.
In den Bauarbeiten war die Sanierung des Altbautunnels und des schon vorhandenen Bahnsteigs inbegriffen sowie der Neubau des restlichen Bahnsteigs und eine 320 Meter lange Kehranlage. Außerdem waren Übergänge zum darüber liegenden S-Bahnsteig sowie mögliche Treppen zu einem geplanten Regionalbahnhof zu berücksichtigen.
Schließlich wurde am 13. Juli 1996 der 168. Berliner U-Bahnhof eröffnet. Auch hier war wieder Rainer Gerhard Rümmler, zum letzten Mal, für die Gestaltung des Bahnhofes zuständig. Er orientierte sich sehr stark an den auf der Strecke davorliegenden Bahnhöfen und entwarf einen sehr sachlichen mit türkisfarbenen Fliesen versehenen Bahnhof. An manchen Stellen wurden Fliesen entfernt, um die historischen Bunkerhinweise in die Station zu integrieren.
Mit diesem Bahnhof hat die U8 bisher ihren Endzustand erreicht. Auch wenn eine Verlängerung ins Märkische Viertel vorgesehen ist, so ist es doch unwahrscheinlich, dass diese in den nächsten Jahrzehnten realisiert wird. Eine Verlängerung in Richtung Britz, wie früher vorgesehen, wurde aufgrund des Parallelverkehrs mit der U7 aufgegeben.
=== Zwei neue Stationen für die U2 ===
Bereits bei der Wiedereröffnung der Linie U2 im Jahr 1993 waren Vorleistungen für einen neuen Bahnhof auf der Linie errichtet worden. Seinerzeit musste die Rampe zwischen den Bahnhöfen Gleisdreieck und Potsdamer Platz ganz neu gebaut werden, da es die Regelung gibt, dass ein 120 Meter langer Bahnhof vollkommen waagerecht sein muss. So musste die Rampe neu konzipiert und auch etwas steiler gebaut werden. Ein Bedarf für diesen Bahnhof besteht erst seit den letzten Jahren, seitdem das neue Areal um den Potsdamer Platz entstand. Angeblich soll auch der damalige DaimlerChrysler-Konzern zehn Millionen Mark für diesen Neubau bezahlt haben. Geplant als „Hafenplatz“ (Arbeitstitel) wurde der in BVG-Eigenregie erbaute Bahnhof Mendelssohn-Bartholdy-Park mit zwei Seitenbahnsteigen am 1. Oktober 1998 eröffnet. Die Bauarbeiten waren ohne Behinderung des Betriebes der Linie U2 erfolgt. Die vom Architektenbüro Hilmer, Sattler und Partner entworfene Station ist 619 Meter vom U-Bahnhof Potsdamer Platz und 469 Meter vom U-Bahnhof Gleisdreieck entfernt.
Seit Jahrzehnten gab es Planungen für eine Verlängerung der U2 zum S-Bahnhof Pankow an der Stettiner Bahn. 1930 war die Strecke bereits zum U-Bahnhof Vinetastraße verlängert worden. Eine weitere Verlängerung in Richtung Norden kam aufgrund der Weltwirtschaftskrise nicht mehr zustande. Auch in den Erweiterungsplänen der NS-Zeit war es stets vorgesehen, die U-Bahn mindestens bis zum Bahnhof Pankow, wenn nicht sogar bis zur Pankower Dorfkirche, zu führen. Gleiche Pläne gab es auch zu DDR-Zeiten und Ende der 1980er Jahre gab es sogar konkrete Bauankündigungen. Das lag vor allem daran, dass den Berliner Verkehrsbetrieben der DDR (abgekürzt: BVB) eine Kleinprofilwerkstatt fehlte. Alle Züge wurden sowohl in der Großprofil-Betriebswerkstatt Friedrichsfelde als auch im Reichsbahnausbesserungswerk Schöneweide gewartet, das die Funktion einer Hauptwerkstatt übernahm. Diese Zustände waren schon lange nicht mehr akzeptabel, und so suchte man Platz für eine neue Werkstatt, da auch die bestehende (sehr kleine) Werkstatt am U-Bahnhof Rosa-Luxemburg-Platz nicht den Ansprüchen genügte.
Diese sollte östlich an der Granitzstraße am Rangier- und Güterbahnhof der Stettiner Bahn errichtet werden. Im Zusammenhang damit sollte auch die U-Bahn um eine Station verlängert werden. Bis 1988 wurde der Tunnel verlängert, nach dem Mauerfall wurde bis 1994 der Tunnel zu einer Kehranlage ausgebaut.
Erst Mitte der 1990er Jahre wurde dieses Thema wieder aktuell. An zahlreichen Stellen im U-Bahn-Netz waren Lückenschlüsse zwischen S- und U-Bahn vorgesehen, dazu gehörte auch die U2 nach Pankow. Im Sommer 1997 begannen schließlich die ersten Bauarbeiten für diese Netzerweiterung. Diskutiert wurde auch der Mitbau einer neuen Kleinprofil-Werkstatt, wie sie zu DDR-Zeiten vorgesehen war. Man verzichtete zwar auf deren Bau, da die derzeitige Werkstatt Grunewald alle Arbeiten ohne Kapazitätsprobleme verrichten konnte, dennoch bereitete man baulich auch die Anbindung der geplanten Werkstatt vor. Äußerst schwere Bodenverhältnisse, der extrem hohe Grundwasserstand und Funde einer mittelalterlichen Siedlung verzögerten die Arbeiten dennoch erheblich. Schließlich konnte erst am 16. September 2000 der Lückenschluss zwischen S- und U-Bahn eröffnet werden. Zeitweilig war der Name „Bahnhof Pankow“ vorgesehen, die BVG entschied sich jedoch für „Pankow“.
Der in den Farben Blau, Weiß und Gelb gehaltene 110 Meter lange U-Bahnhof erhielt die im Berliner U-Bahn-Netz seltenen Oberlichter, so kann auch Tageslicht in die Station dringen. Bei den Bauarbeiten wurde gleichzeitig ein großzügiges Empfangsgebäude mit errichtet, das durch Rolltreppen und einem Aufzug ein gutes Umsteigen zur S-Bahn-Linie S2 nach Bernau ermöglicht. Es bestehen auch weiterhin Planungen, wonach die U2 bis zur Pankower Kirche bzw. der Breiten Straße verlängert werden würde. Diese Planung ist auch im „Finanzszenario 2030“ des Berliner Senats vorgesehen. So ist eine mittelfristige Realisierung sehr wahrscheinlich.
Beide Stationen waren die ersten Neubauten im Berliner Kleinprofilnetz seit Jahrzehnten. Auch damit wird verdeutlicht, dass die BVG das Großprofil favorisiert.
=== Der Hauptbahnhof bekommt einen U-Bahnhof ===
Die Verlängerung der Linie U5 (damals: Linie E) nach Westen war bereits im seinerzeitigen 200-Kilometer-Plan enthalten, wurde jedoch lange Zeit nicht realisiert. Der Bau startete 1995. Nach mehreren Komplikationen wurde der Abschnitt zwischen dem Hauptbahnhof und dem Brandenburger Tor als Linie U55 (sogenannte „Kanzler-U-Bahn“) am 8. August 2009 eröffnet. Im gleichen Jahr begannen die Bauarbeiten für den Lückenschluss zwischen Alexanderplatz und Brandenburger Tor. Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurde am 18. März 2020 der Betrieb der U55 vorübergehend eingestellt. Anfang Mai 2020 wurde entschieden, die Linie vor der Anbindung an die Linie U5, die am 4. Dezember 2020 eröffnet wurde, nicht wieder in Betrieb zu nehmen.
== Eröffnungsdaten ==
Die folgende Liste enthält das Eröffnungsdatum und den Streckenabschnitt.
== Entwicklung der Fahrgastzahlen ==
== Anmerkungen ==
== Literatur ==
Sabine Bohle-Heintzenberg: Architektur der Berliner Hoch- und Untergrundbahn. Planungen – Entwürfe – Bauten bis 1930. Verlag Willmuth Arenhövel, Berlin 1980, ISBN 3-922912-00-1.
Biagia Bongiorno: Verkehrsdenkmale in Berlin – Die Bahnhöfe der Berliner Hoch- und Untergrundbahn. Michael-Imhof-Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-86568-292-5.
Johannes Bousset: Die Berliner U-Bahn. Verlag von Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin 1935.
Ulrich Conrad: Planungen der Berliner U-Bahn und anderer Tunnelstrecken. Verlag Bernd Neddermeyer, 2008, ISBN 978-3-933254-87-0.
Petra Domke und Markus Hoeft: Tunnel Gräben Viadukte – 100 Jahre Baugeschichte der Berliner U-Bahn. kulturbild Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-933300-00-2.
Gustav Kemmann: Zur Eröffnung der elektrischen Hoch- und Untergrundbahn in Berlin. Berlin, Verlag von Julius Springer 1902. Verkleinerter Nachdruck hrsg. von der AG Berliner U-Bahn, GVE-Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-89218-077-6.
Ulrich Lemke, Uwe Poppel: Berliner U-Bahn. 3. Aufl. age-alba Verlag, Düsseldorf 1992, ISBN 3-87094-346-7.
Brian Hardy: The Berlin U-Bahn. Capital Transport Publishing, Middlesex/UK 1996, ISBN 1-85414-184-8.
Jürgen Meyer-Kronthaler: Berlins U-Bahnhöfe. Die ersten hundert Jahre. be.bra verlag, Berlin 1995, ISBN 3-930863-07-3.
Jürgen Meyer-Kronthaler, Klaus Kurpjuweit: Berliner U-Bahn – In Fahrt seit Hundert Jahren. be.bra verlag, Berlin 2001, ISBN 3-930863-99-5.
Uwe Poppel: Berliner U-Bahn: Zeitgeschichte in Liniennetzplänen – von 1902 bis heute. GVE-Verlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-89218-488-1.
Walter Schneider: Der städtische öffentliche Nahverkehr Berlins, Aufl. o. D. in 12 Bänden, Bd. 9, S. 232. Neuauflage des Historischen Archivs der BVG, Berlin 2014. (Mitteilung in BVG PLUS 07/14, S. 7.)
Klaus Konrad Weber, Peter Güttler, Ditta Ahmid (Hrsg.), Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin (Hrsg.): Berlin und seine Bauten. Teil X, Band B. Anlagen und Bauten für den Verkehr. Bd. 1. Städtischer Nahverkehr. Verlag von Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin – München – Düsseldorf 1979.
== Weblinks ==
Übersicht zu Strecken, Fahrzeugen, Geschichte etc. Zahlreiche Dokumente zum Download
Historische Dokumente als Webseiten aufbereitet
Die Elektrische Hoch- und Untergrundbahn zu Beginn des Jahres 1902. In: Königlich privilegierte Berlinische Zeitung.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Berliner_U-Bahn
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Hochwasserrückhaltebecken Jonenbach
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= Hochwasserrückhaltebecken Jonenbach =
Das Hochwasserrückhaltebecken Jonenbach, auch Rückhaltebecken Jonental genannt, war zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme eines der 21 existierenden und sechs geplanten Rückhaltebecken im Kanton Zürich in der Schweiz. Es wurde zum Schutz der Gemeinden Affoltern am Albis und Zwillikon vor Hochwasser des 17 Kilometer langen Jonenbaches gebaut. Durch den Bau konnten bereits zwei Hochwasser in den Jahren 2007 und 2008 abgewehrt werden. Das Rückhaltebecken oberhalb des Hochwasserrückhaltedamms stellt ein sogenanntes Trockenbecken oder grünes Becken dar und besteht zu einem grossen Teil aus Waldgebiet. Bei Normalwasser fliesst der Bach durch den Damm hindurch. Bei Hochwasser wird ein Teil des Wassers für kurze Zeit (meist nur Stunden) gestaut.
Dieses Bauvorhaben war ein gemeinsames Projekt des Amts für Abfall, Wasser, Energie und Luft, des Tiefbauamts und weiterer kantonaler Ämter.
== Lage und Geologie ==
Das Rückhaltebecken liegt südöstlich von Affoltern am Albis im Schweizer Kanton Zürich, nahe der Gemeindegrenze zu den Nachbargemeinden Mettmenstetten und Rifferswil. Das Jonental wird von Südosten her vom Jonenbach durchflossen. Kurz vor Affoltern verengt sich das Tal, so dass hier ein Damm mit verhältnismässig wenig Schüttvolumen errichtet werden konnte. Allerdings liegt der Damm damit sehr nahe am Dorf und das nächste Haus ist weniger als 50 Meter entfernt. Der Einzugsbereich für das Wasser im Jonenbach oberhalb von Affoltern beträgt ungefähr 21 km².In geologischer Hinsicht liegt Affoltern im Molassebecken des Schweizer Mittellandes, welches im Verlaufe des Tertiärs mit dem Abtragungsschutt der entstehenden Alpen aufgefüllt wurde, wobei sich die Sedimente in verschiedene Schichten der Meeresmolasse und Süsswassermolasse unterteilen lassen.
== Situation vor dem Bau des Hochwasserrückhaltebeckens ==
Der Jonenbach hatte bei Hochwasser vor dem Bau des Hochwasserrückhaltebeckens wiederholt Überschwemmungen verursacht. Die Stützpunktfeuerwehr musste jedes Jahr die Gemeinde mit Sandsäcken vor den Wassermassen schützen und vollgelaufene Keller und Garagen auspumpen. Die Hochwasser entstehen durch Starkregen und dadurch, dass der Mensch immer mehr Raum für sich beansprucht und das Wasser in enge Grenzen verweist. Die vor 1994 vorgestellten Projekte zum Hochwasserschutz fanden jedoch bei der Gemeinde keine Zustimmung.Bei den beiden starken Hochwassern von 1994 und 1999 stellte die Gemeinde Schäden von mindestens 11,4 Millionen Franken (ungefähr 7,5 Millionen Euro) fest. Nicht enthalten waren darin die Schäden im Siedlungs- und Landwirtschaftsgebiet, die durch die Versicherungen nicht gedeckt sind. Erst nach diesen Hochwassern wurde ein Projekt, welches sich schon 1982 als gute Lösung entpuppt hatte, weiterverfolgt. In diesem Projekt wurde vorgeschlagen, das Hochwasser vor Affoltern mit einem Erdschüttdamm in einem grossen Rückhaltebecken aufzufangen.
== Beschreibung des Rückhaltebeckens ==
Das Rückhaltebecken stellt ein sogenanntes Trockenbecken oder grünes Becken dar und besteht zu einem grossen Teil aus Waldgebiet. Dieses bedeutet, dass das Wasser des Flusses im Normalfall (Niedrig- und Mittelwasser) ungehindert durch einen Durchlass (1) im Damm geleitet wird (Querschnitt 3,80 m × 2,70 m mit Einlassdrosselung von 1,40 m × 0,95 m). Erst wenn die durch Starkregen anfallende Wassermenge grösser wird als die Menge, die durch den Grundablass (3) im Staudamm abfliessen kann, wird ein Teil des Wassers durch den Damm zurückgehalten und aufgestaut.
Das maximale Stauvolumen des Dammes beträgt ungefähr 392.000 m³ Wasser. Dabei hat sich der Bach oberhalb des Dammes auf einer Länge von etwa einem Kilometer und einer Breite von etwa 150 Metern aufgestaut. Dieser Wasserstand von 513,35 m ü. M. entspricht einer Höhe, wie sie im Mittel alle 100 Jahre einmal erreicht wird. Bei diesem als HQ100 bezeichneten Hochwasser fliessen oberhalb des Dammes etwa 34 m³ Wasser pro Sekunde zu. Durch den Grundablass im Damm fliesst jedoch nur eine Wassermenge von etwa 16 m3/s ab, die vom Bachlauf unterhalb des Dammes sicher aufgenommen werden kann. Dadurch ergibt sich bei einem HQ100 durch den Dammbau eine Dämpfungswirkung von etwa 18 m3/s.Wird dieser kritische Wasserstand überschritten, so fliesst zusätzlich Wasser durch die Hochwasserentlastung (2) ab, um einen weiteren Anstieg des Wasserspiegels und damit eine Überschwemmung der Dammkrone (7) zu verhindern. Dieser zusätzliche Abfluss mündet im Inneren des Dammes in den eigentlichen Durchlass (1), der hier einen Querschnitt von 3,80 v 4,10 Meter besitzt. Auch bei einem HQ1000 (ein Hochwasser, das im Durchschnitt einmal in 1000 Jahren zu erwarten ist) mit 78 m3/s oder sogar einem HQ10000 mit 116 m3/s Zufluss sollte nach den Berechnungen die Hochwasserentlastung ausreichen. Dieses entspräche einem Stauspiegel von 1,35 Metern über dem Hochwassereinlaufbauwerk. Zwar würde es dann in der Gemeinde Affoltern auch zu Überschwemmungen kommen, aber im Vergleich zur vorherigen Situation wäre die Wassermenge deutlich reduziert. Erst bei noch weiterem Anstieg des Wasserspiegels würde im sogenannten Überlastfall ein Abfluss über die östlich des Dammes verlaufende Neue Jonentalstrasse erfolgen. Ein Überspülen des Dammes sollte auch dann nicht geschehen.Der eigentliche Damm wird durch einen rund 163 Meter langen Schüttdamm gebildet und besteht aus Moränenmaterial und tonigem Lehm.
== Ablauf der Baumassnahmen ==
Der Spatenstich für die Bauarbeiten fand am 2. Juli 2004 statt. Für den Bau des Rückhaltebeckens musste zunächst ein rund 900 Meter langer Teil der Jonentalstrasse an der rechten Talflanke verlegt werden. Ausserdem musste ein Teil des Bachlaufes des Jonenbachs geändert werden.Vor der Aufschüttung des Dammes wurde zuerst im zentralen Bereich des Dammes der 141 Meter lange Durchlass (1) für den Jonenbach erstellt. Dieser Durchlass besteht aus Beton und wurde in Etappen von 7,5 Meter Länge gefertigt. Der Aussendurchmesser des Betondurchlassbauwerks beträgt etwa vier mal fünf Meter. Anschliessend folgte die ebenfalls aus Beton bestehende Hochwasserentlastung (2) mit dem knapp 17 Meter hohen, schachtförmigen Einlaufbauwerk, der in den Durchlass mündet. Der Zwischenraum unterhalb der Hochwasserentlastung wurde mit Beton unterfüttert. Zuletzt wurde der Erdwall mit einem Dammvolumen von 123.000 Kubikmetern aufgeschüttet. Das Schüttmaterial hierfür wurde zum Teil aus der nahen N4-Baustelle im Knonaueramt zugeführt.Im Zuge der Aushubarbeiten wurde im Bereich des linken Widerlagers unerwartet eine stark zerklüftete Sandsteinschicht entdeckt, die in Abweichung zum ursprünglichen Detailprojekt zusätzliche Injektionsmassnahmen erfordert hat.Die Bauarbeiten wurden von der STRABAG AG ausgeführt und im Mai 2007 beendet. Bauherr war die Baudirektion Kanton Zürich. Die Kosten für das Hochwasserrückhaltebecken beliefen sich einschliesslich der notwendigen Verlegung der Jonentalstrasse und Anpassungsarbeiten an der Aeugsterstrasse auf rund 13 Millionen Schweizer Franken (ungefähr 8,5 Millionen Euro). Am 24. Mai 2008 wurde das Bauwerk der Bevölkerung vorgestellt.
== Naturschutzbetrachtungen ==
Das Becken oberhalb des Hochwasserrückhaltedamms wird nur sehr selten und dann nur für kurze Zeit eingestaut. Es füllt und leert sich innerhalb von Stunden bis maximal einem Tag. Die Vegetation wird deswegen nicht beeinträchtigt. Mit dem Bau eines Rückhaltebeckens wird allerdings auch die Dynamik des Gewässers und der Geschiebetrieb unterbrochen. Auf lange Sicht kann dies beim unterhalb liegenden Bachabschnitt eventuell zu Sohlenerosionen und dann zu Verbauungen sowie zu einer kleineren Strukturvielfalt führen. Untersuchungen des Geschiebehaushalts im Auftrag der Baudirektion des Kantons Zürich im Jahre 2014 bestätigen eine Durchlässigkeit des Rückhaltebeckens in Normaljahren, während es bei grossen Hochwassern zu einem Rückhalt von etwa 100 m³ pro Ereignis kommen kann.Der unterste Bereich des Beckens direkt vor der Staumauer wird bei kleineren Hochwassern regelmässig überschwemmt. Daher wurde er im vorliegenden Fall als reiner Naturbereich gestaltet. Der Mülweiher wird durch ein oberhalb des Weihers befindliches Wehr im Jonenbach gespeist. Da dieses Wehr für Fische und Kleinstlebewesen nicht passierbar ist, wurde hier ein zusätzliches Umgehungsgewässer für diese Tiere angelegt. Auch am Auslaufbauwerk des Staudamms wurde eine Fischtreppe eingerichtet, so dass die Durchgängigkeit des Jonenbachs für Fische und Kleinstlebewesen gegeben ist.
== Hochwasserschutz nach der Inbetriebnahme ==
Am 8. und 9. August 2007 wurde die Region durch ein Hochwasser heimgesucht, wie es erwartungsgemäss nur alle 60 bis 70 Jahre vorkommt. Dabei wurde im Einzugsgebiet über zwei aufeinanderfolgende Tage eine Gesamtniederschlagsmenge von 80 bis 130 mm gemessen. Die Böden waren durch vorhergehende Regen bereits teilweise gesättigt, wodurch es schnell zu Oberflächenabfluss kam. Innerhalb weniger Stunden war das Becken knapp zur Hälfte gefüllt; der Wasserspiegel stieg bis 4,35 Meter unter die Überlaufkante der Hochwasserentlastung. Bei diesem Rückhalt wurde der Abfluss von 24 Kubikmeter auf 14 Kubikmeter pro Sekunde gedrosselt, so dass das Siedlungsgebiet unterhalb des Beckens vor Überschwemmung, aber auch vor Schlamm und Schwemmholz verschont blieb.Aus der Ereignisdokumentation des Amtes für Abfall, Wasser, Energie und Luft geht hervor: „Dieser Abfluss konnte im Siedlungsgebiet Affoltern schadlos abgeführt werden, lediglich bei der Fussgängerbrücke beim Optikergeschäft Büchi (Alte Dorfstrasse) konnte eine Ausuferung nur mit zusätzlichen Massnahmen der Feuerwehr in Form von Sandsäcken verhindert werden. Die Abflusskapazität des Gerinnes im Siedlungsgebiet ist bei einem Abfluss von 14 m3/s also praktisch ausgeschöpft. Bei vollem Einstau des HRB [HRB=Hochwasserrückhaltebecken] Affoltern am Albis wären allerdings rund 2 m3/s mehr abgeflossen, was beim jetzigen Gerinne zu Ausuferungen geführt hätte. Aus diesem Grund wurde die Drosselöffnung beim HRB nach dem Ereignis vorübergehend reduziert, so dass zukünftig auch bei vollem Einstau maximal 14 m3/s abfliessen.“Weiter heisst es in dem gleichen Bericht: „In der Ereignisdokumentation wurde ausserdem die Gerinnekapazität im Siedlungsgebiet beurteilt. […] Selbst bei einem Abfluss von knapp 12 m3/s (zum Zeitpunkt der Begehung) wiesen 6 von 28 untersuchten Querprofilen ein ungenügendes und weitere 7 ein knappes Freibord auf. Lokale Baumassnahmen mit geringem Aufwand zur Steigerung der Abflusskapazität werden empfohlen. In Zwillikon kam es zu leichten Überschwemmungen, welche keine grossen Schäden anrichteten. Die bekannten Engpässe werden mittelfristig behoben. Erst danach soll die Drosselöffnung wieder wie beim Hochwasser 2007 eingestellt werden.“Innerhalb des Bereiches des Rückhaltebeckens war ein neuer Bachlauf entstanden. Das Wasser suchte sich einen neuen Weg durch den Wald und riss viele Bäume mit.Die Schutzwirkung des Rückhaltebeckens bestätigte sich erneut beim Hochwasser im April 2008, das sich nur wenige Monate später ereignete. Die Stärke dieses Hochwassers war jedoch geringer als das von 2007. Auch im Februar 2021 konnte das Rückhaltebecken den unterhalb liegenden Ort erfolgreich vor dem Hochwasser schützen.
== Weblinks ==
Heinz Hochstrasser: Hochwasserrückhalt & Seeregulierung. AWEL Amt für Abfall, Wasser Energie und Luft, abgerufen am 16. Mai 2021 (Film über die Funktion eines Hochwasserrückhaltebeckens am Beispiel des Jonenbaches bei Affoltern am Albis, sowie Broschüre: So planen Sie ein Hochwasserrückhaltebecken – Ein Leitfaden für Planer und Behörden (mit Beispiel Jonenbach)).
Andrew Faeh, Lena Petersen und André Müller: Hochwasser vom 8./9. August 2007 im Kanton Zürich. (PDF; 2,0 MB) Basler & Hofmann Mai 2009, archiviert vom Original am 31. Dezember 2013; abgerufen am 14. September 2012 (Auswertung und Dokumentation eines Ereignisses – Kurzfassung).
Hans F. Wymann: Hochwasser Affoltern am Albis 09.08.2007. Schweiz-Motive, abgerufen am 5. November 2011 (Bilder zum Hochwasser am 9. August 2007).
== Fussnoten ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hochwasserr%C3%BCckhaltebecken_Jonenbach
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Hochwasserschutz in Dresden
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= Hochwasserschutz in Dresden =
Dresden liegt an der Elbe und an mehreren Gewässern, die im Osterzgebirge entspringen. Auf Grund der Nähe Dresdens zu den Gebirgen, in denen viel Wasser abregnen oder in großen Mengen als Schnee gespeichert werden kann, spielt Hochwasserschutz in Dresden historisch und gegenwärtig eine bedeutende Rolle. Als deutliche Schutzmaßnahmen in der Stadtentwicklung wurden entlang der Elbe mit den Elbwiesen ufernahe Bereiche von Bebauung freigelassen, Aufschüttungen entfernt und zwei Flutrinnen angelegt. Sowohl die historische Innenstadt als auch zahlreiche historische Dorfkerne entlang der Elbe liegen erhöht und bleiben deshalb vor den meisten Hochwassern bewahrt. Insbesondere durch das Elbhochwasser 2002 entstanden in Dresden jedoch große Schäden. Nach Jahrzehnten ohne starkes Hochwasser wurde dadurch das allgemeine Bewusstsein für die Gefährdung der Stadt wieder geweckt.
== Lage und Flussläufe ==
=== Elbe ===
Dresden liegt im Dresdner Elbtalkessel, einem teilweise verengten Durchbruchstal, größtenteils weitläufig ebenen Grabenbruch. Flussaufwärts verlässt die Elbe durch das enge und steile Tal im Elbsandsteingebirge ihr tschechisches Einzugsgebiet. Dort entwässert sie über Nebenflüsse wie Moldau, Orlice (Adler/Orlitz), Jizera (Iser) und Eger das Riesengebirge, das Böhmische Mittelgebirge und das Erzgebirge sowie den Böhmerwald und den Bayerischen Wald. Flussabwärts von Dresden befinden sich der Durchbruch durch das Spaargebirge und die Meißner Weinberge. Erst dahinter beginnt der flache und langsame Mittellauf der Elbe.
Die Elbe durchfließt die Stadt in mehreren seichten, aber auch engen Kurven (Mäandern), die nach Westen hin enger werden. Kurz vor dem Stadtzentrum liegt eine auf etwa 4 km langgezogene, von Nordwest- nach Südwest-Richtung biegende Kurve, an deren Beginn der Flusslauf bis auf wenige Meter an den nördlichen Elbhang heranrückt. In der Innenstadt biegt die Elbe nach Nordwesten, um sich dann am so genannten Pieschener Winkel erneut stark nach Süden zu wenden. Später verlässt sie nach zwei weiteren starken Kurven die Stadt in nordwestlicher Richtung. Die gesamte Flusslänge in Dresden beträgt etwa 30 Kilometer.
Der Elbtalkessel bot in der Stadtentwicklung Dresdens um den Fluss ausreichend Platz. Für eine teilweise Umflutung (vergleiche Elbe-Umflutkanal bei Magdeburg) der Innenstadt reichte zum einen der Raum nicht aus, zum anderen war der Anstieg im Hinterland der Uferbereiche zu stark.
=== Weißeritz ===
Die Weißeritz ist ein Abfluss des Osterzgebirges und entsteht unweit von Dresden durch den Zusammenfluss von Wilder Weißeritz und Roter Weißeritz in Freital. Die Gesamtlänge der (vereinigten) Weißeritz liegt damit bei 12 Kilometern. Beide Zuflüsse haben etwa gleich große Einzugsgebiete, die sich auf 323,9 km² summieren. Sie entspringen in 823 m bzw. 787 m Höhe etwa 30 Kilometer Luftlinie südöstlich von Dresden. Längster Zufluss der Weißeritz ist die Wilde Weißeritz mit 49 Kilometern Länge.
Die (vereinigte) Weißeritz mündete ursprünglich unweit der Dresdner Innenstadt in die Elbe und trennte die westliche Vorstadt Friedrichstadt vom Stadtkern. Sie wurde 1893, beginnend im Stadtteil Plauen und durch Cotta verlaufend, nach Westen verlegt. Die Verlegung erfolgte eigentlich aus Gründen des Hochwasserschutzes, da der neue Verlauf in einer Flutmulde des Flusses liegt. Durch den Bau von Bahnanlagen auf dem ehemaligen Flussbett wurde die Verlegung nicht rückführbar.
=== Weitere Gewässer ===
Ebenfalls im Erzgebirge entspringt der Lockwitzbach, der ein 80 km² großes Gebiet entwässert und dessen Quelle in etwa 500 Metern Höhe liegt. Er mündet zwischen Kleinzschachwitz und Laubegast in die Elbe.
Aus mittleren Lagen des Erzgebirges entstammen der Geber- und der Kaitzbach, die im Dresdner Stadtgebiet weitestgehend unterirdisch verlaufen. Die Prießnitz mündet von Norden her in die Elbe und entwässert die flachere Lage des Westlausitzer Hügel- und Berglands im Nordosten der Stadt.
== Hochwassergefahr ==
Dresden ist aus zwei Richtungen hochwassergefährdet. Zum einen bedrohen starke Hochwasser der Elbe tief liegende Stadtteile, zum anderen können die Nebengewässer der Gewässerklasse I (nach Sächsischer Gewässerordnung), also vor allem die Weißeritz und der Lockwitzbach, auch höher liegende Stadtteile überschwemmen. Daneben kann örtlich Gefahr durch weitere Nebengewässer der Gewässerklasse II entstehen.
Schäden an Bauwerken entstehen nicht nur durch Überschwemmung, sondern auch durch hochwasserbegleitende Erscheinungen wie Erhöhung und Verlagerung von Grundwasser. Hochwasser der Elbe lösen dabei sehr langanhaltende Veränderungen im Grundwasser aus.
=== Elbe ===
==== Hochwasser ====
Die Elbe hat in Dresden einen mittleren Wasserstand von 200 cm. Die Hochwasseralarmstufen wurden ab Pegeln von 400 (bis Juli 2012: 350), 500, 600 und 700 cm festgelegt. Dieser Wasserstand wird an der Augustusbrücke gemessen. Der Durchfluss beträgt in Dresden bei 200 cm Pegel etwa 350 m³ pro Sekunde.
Wasserstände zwischen vier und fünf Metern sind für die Stadt fast folgenlos. Übersteigt die Elbe fünf Meter, werden elbnahe Straßen und Wege von der Elbe überschwemmt und müssen gesperrt werden. In der Dresdner Innenstadt ist dies das Terrassenufer, an dem sich die Liegeplätze der Weißen Flotte befinden.
Zwischen sechs und sieben Metern entsteht durch Grundwassererhöhung eine Gefährdung von elbnahen Gebieten. In der Regel beginnt bei solchen Höhen der Objektschutz an einzelnen Bauwerken.
Wasserpegel oberhalb von sieben Metern gefährden dann erste Stadtteile wie Gohlis im Westen der Stadt sowie Laubegast und Pillnitz im Osten. Der 3200 Meter lange Deich von Niederwartha, am Dorfkern Gohlis vorbei bis Stetzsch, ist bis zu einer Wasserhöhe von etwa 7,40 m (Pegel Dresden) ausgelegt, da das Gebiet ab dieser Höhe als Überflutungspolder dient.
Oberhalb von acht Metern verschärft sich die Lage in weiten Teilen der Stadt sprunghaft, weil die Elbe dann alte Elbarme nicht nur füllt, sondern vollständig durchfließt, und der Flutraum an vielen Stellen nicht mehr ausreicht. Der alte Elbarm im Dresdner Südosten umschließt die Stadtteile Laubegast und Kleinzschachwitz und reicht an die höheren Stadtteile Leuben, Dobritz und Seidnitz heran. Die Elbe füllt dann auch die Mündungen der Nebengewässer aus. Die Mündung des Lockwitzbachs verschiebt sich in diesem Fall um einige Kilometer an den südlichen Rand des Elbarms zwischen Niedersedlitz und Kleinzschachwitz. Westlich der Innenstadt durchfließt die Elbe dann mit den beiden Flutrinnen zwei fast parallele Verläufe, die durch den Hauptstrom auf halber Strecke verbunden werden. Die Flutrinnen entlasten durch die Fliehkraft des fließenden Wassers vor allem die enge Kurve bei Pieschen (Pieschener Winkel), an der es sonst zu massiven Ausuferungen kommen würde.
Das Hochwasser im Jahr 2002 hatte einen maximalen Stand von 9,40 Metern und einen Durchfluss von mehr als 4.500 m³ pro Sekunde. Der extreme Wasserstand über neun Meter gefährdete auch Semperoper und Frauenkirche. Die Elbe überschwemmte dabei eine Fläche von etwa 24,8 km² im Stadtgebiet.
==== Häufigkeit und Entstehung ====
Die Elbe ist ein Fließgewässer des Regen-Schnee-Typs. Allgemein entstehen die Wassermassen, die Dresden passieren, an den Läufen der Elbe oder Moldau in Tschechien und in geringen Maßen in Deutschland. Hochwasser zwischen vier und fünf Metern sind in Dresden vor allem nach der Schneeschmelze sehr häufig. Insbesondere durch beschleunigtes Tauwetter (starker Temperatursprung und Regen – deshalb Regen-Schnee-Typ) nehmen diese dann bis sieben Metern in ihrer Häufigkeit stark ab. Das starke Tauwetterhochwasser im Frühjahr 2006 war das erste Frühjahrshochwasser seit 52 Jahren, das die Sieben-Meter-Marke in Dresden überspringen konnte. Das stärkste Winterhochwasser trat ebenfalls im März im Jahr 1845 auf. Problematisch wirken sich die Mittelgebirge im Osten Deutschlands und vor allem auf tschechischem Gebiet aus, die auf Grund der kontinentalen Lage sehr intensive Winter mit dauerhaftem Frost und Schneefall erleben können. Bei spätem Wechsel der Großwetterlage kann es dann, meist Mitte bis Ende März, zum starken Abschmelzen des Schnees in den Gebirgen kommen.
Die Stärke eines Hochwassers bei Tauwetter hängt nicht nur von Wettereinflüssen ab, sondern auch von der Beschaffenheit des abgelagerten Schnees. Ist dieser zum Beispiel durch ein vorhergehendes Tauwetter mit Wasser gesättigt, aber wieder eingefroren, kann es zu einem wesentlich schnelleren Abschmelzen bei stärkerem Regen kommen.
Sommerhochwasser nach Starkregenfällen sind an der Elbe sehr selten. Auch die Strömungsrichtung von feuchten Luftmassen spielt eine wichtige Rolle, da nicht alle Mittelgebirge die gleiche Kammausrichtung haben, an der sie abregnen. Hochwasserauslösend sind insbesondere von Süden einziehende Vb-Wetterlagen, die starken Steigungsregen im Erzgebirge, Böhmischen Mittelgebirge und Riesengebirge verursachen. Das Hochwasser 2002 wird mit einem Wiederkehrintervall als derartiges Ereignis mit 100 bis 200 Jahren für Dresden angegeben.Hochwasser wie das im August 2002 oder im Juni 2013 entstehen nicht allein durch starke Regenfälle, sondern erst durch eine bestimmte Reihenfolge des Abtauens bzw. Abregnens in Tschechien, da die Entstehungsgebiete im Einzugsbereich weit auseinander liegen und Flutwellen der Eger, der Elbe und der Moldau sich überlagern müssen.
Umstritten sind auch die Auswirkungen der in Tschechien unweit der deutschen Grenze geplanten Staustufe Děčín.
==== Registrierte Hochfluten ====
In Dresden werden zumindest extreme Flutereignisse seit Jahrhunderten registriert. Im Folgenden sind die Fluten im meteorologischen Sommerjahresviertel fett dargestellt. Pegelstände hängen wesentlich vom Abfluss ab. Verändert wird dieser Zusammenhang durch die Strömungsgeschwindigkeit und durch das Durchflussprofil.
==== Grundwasser ====
Dresden liegt zu großen Teilen im Elbtalkessel, der als kurzer Grabenbruch im tektonischen Zusammenhang mit der Erzgebirgsanhebung entstand. Geprägt ist der Elbtalkessel von den grundwasserstauenden Gesteinsschichten aus Ton, Sandstein und Pläner (geschichtetes Kalk-Sand-Ton-Gestein). Darüber lagerte die Elbe Schotter- und teilweise Sandschichten ab.
Ufernah folgen die Grundwasserstände in Dresden zeitnah den Hochfluten der Elbe. Am Dresdner Schloss treten die Spitzenstände im Grundwasser etwa zwei bis drei Tage nach Durchlaufen eines Hochwasserscheitels auf. An Stellen, die nicht von Infiltration oder Absickerung des Hochwassers betroffen sind, zeigt sich ein weniger starker Sprung der Grundwassertiefe und eine längere zeitliche Verzögerung.
Nach dem Hochwasser 2002 blieben die Grundwasserstände in Dresden verbreitet (und im Gegensatz zur Elbe) dauerhaft über dem Mittelwasser. Im Jahr 2002 wirkten zudem die örtlich vorhergegangenen Überflutungen und Niederschläge auf den Zustand des Grundwassers während des Elbhochwassers ein. Dort, wo Weißeritz und Lockwitzbach wenige Tage vorher für zusätzliche Versickerung durch Überschwemmung sorgten, konnte der Anstieg des Grundwassers kaum gedämpft werden. Auch die Niederschläge beeinflussen das Dämpfungsverhalten des Grundwassers. So wirken Frühjahrshochwasser weniger stark auf das Grundwasser ein, da erfahrungsgemäß in Dresden erheblich kleinere Wassermassen abtauen als in den Gebirgslagen und das Verhalten des Grundwassers beeinflussen. Das Hochwasser im August 2002 löste an Orten, die weiter entfernt von der Elbe, aber noch in der Sohle des Elbtalkessels liegen, einen kontinuierlichen Grundwasseranstieg aus, der noch im März des Folgejahres nicht abgeschlossen war.
=== Weißeritz ===
==== Gefährdung ====
Die Weißeritz gefährdet neben den ursprünglichen und neuen Mündungsbereichen auch andere Stadtteile, in denen das so nicht zu erwarten war. 2002 verließ sie ihr Bett in Löbtau an der Stelle, wo sie aus ihrem ursprünglichen Verlauf abzweigt. Dies geschah bei einem maximalen Durchfluss von 450 m³ pro Sekunde, etwa am Eintritt in das Stadtgebiet gemessen, was einer höheren Durchflussmenge entspricht, als bei Normalstand die Elbe in Dresden durchfließt. Die Weißeritz lief dabei zum einen nach Norden und überschwemmte die Friedrichstadt und die Wilsdruffer Vorstadt. In östlicher Richtung füllte sie die Seevorstadt bis zum Großen Garten und dabei vor allem den Hauptbahnhof. Aus diesem Gebiet, in dem ursprünglich mehrere Seen lagen, gab es aber keinen Abfluss in Richtung Elbe. Der ursprüngliche Grat innerhalb des Elbtalkessels, der das Tal der Weißeritz vom Tal des Kaitzbachs trennte, wurde durch den Bau der Eisenbahnstrecke in das Weißeritztal durchbrochen. Die Weißeritz überschwemmte 2002 eine Fläche von 5,67 km² in Dresden.In Dresden werden für die Weißeritz nur in der Nähe ihrer Mündung Pegel gemessen, was eher zu Beurteilung ihrer Mengeneinspeisung in die Elbe dient. Lässt sich die Weißeritz in ihrem festgelegten Flussverlauf halten, sind Hochwasser für die Stadt eher folgenlos. Weißeritzhochwasser verlaufen schnell und sind schwerer zu prognostizieren als die der Elbe.
==== Häufigkeit und Entstehung ====
Hochwasser der Weißeritz können wie 2002 durch Starkregen oder durch starkes Tauwetter im Osterzgebirge entstehen. In den letzten Jahren wurden in den oberen Tälern mehrfach Schneehöhen über 1,50 Meter verzeichnet. Unter der Bedingung von Dauerregen und warmen Luftmassen kann eine Gefährdung durch schnelles Abtauen entstehen. Auslöser für das Hochwasser 2002 waren Starkniederschläge von teilweise mehr als 300 Liter pro Quadratmeter in 24 Stunden im Einzugsbereich der beiden Flüsse.
Ein mit dem Sommerhochwasser 2002 vergleichbares Ereignis trat um einiges schwächer 1897, das letzte Hochwasser an der Weißeritz 1958 auf. Das Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie schätzt das Wiederkehrintervall für derartige Ereignisse auf 500 Jahre. Auch hier wird gegenwärtig untersucht, ob sich solche Ereignisse häufen. Die Häufigkeit der meteorologischen Ausgangssituation des heftigen Dauerregens wurde auf weniger als einmal in 100 Jahren geschätzt. Die Vb-Wetterlage verursachte in den letzten Jahren das Oderhochwasser 1997 und löste 2005 auch das Hochwasser in den nördlichen Vor- und Zentralalpen aus. Allerdings werden so extreme Niederschläge (312 mm in 24 Stunden in Zinnwald-Georgenfeld) wie 2002 im Osterzgebirge nach wie vor als selten angesehen.
Die Weißeritz kann in Dresden ohne Ausuferung im Allgemeinen 220 bis 420 m³ pro Sekunde Wasser abführen. Dort wird mit einem Ausufern infolge von Hochwasser alle 20 bis 50 Jahre gerechnet. An Engstellen beträgt die Kapazität im Flussbett allerdings nur 75 m³ pro Sekunde und ist damit erheblich kleiner.
=== Weitere Gewässer ===
Der Lockwitzbach im Südosten Dresdens überschwemmte 2002 Lockwitz und Teile von Niedersedlitz, Kleinzschachwitz, Leuben und Laubegast. Er flutete dabei ein System aus Entlastungsgräben und Teile eines Elbarms und hatte dabei am Zugang zum Dresdner Stadtgebiet einen Durchfluss von mehr als 45 m³ pro Sekunde. Derartige Ereignisse haben eine Häufung von etwa 200 Jahren; 1958 und 1995 entstanden zuletzt schwächere Hochwasser. Das Flussbett des Lockwitzbachs in Dresden fasst 25 bis 40, an Engstellen auch nur 15 m³ pro Sekunde. Geschätzt wird deshalb, dass im Mittel alle 20 bis 50 Jahre eine Ausuferung stattfindet. Der Lockwitzbach überschwemmte durch den Niedersedlitzer Flutgraben und weitere Entlastungsgräben feingegliedert eine Fläche von 2,313 km² in Dresden.Auch die Prießnitz gefährdet Dresden am Rand der Äußeren Neustadt.
Kleinere Bäche wie der im Dresdner Westen fließende Weidigtbach, der zu DDR-Zeiten stark verbaut war, sind inzwischen wieder an vielen Stellen offengelegt oder gar naturnah gestaltet sowie um kleinere Rückhaltebecken ergänzt worden, um bei Starkregen und Hochwasser ein größeres Volumen aufnehmen zu können.
=== Gefährdung der Infrastruktur ===
Wichtige Bestandteile der Dresdner Infrastruktur liegen nicht im historischen, höher gelegenen Kern der Stadt, sondern in den vorgelagerten Vorstädten, die heute weitestgehend auch zur Innenstadt gehören. Vor allem Eisenbahnanlagen und Verkehrsknotenpunkte des ÖPNV befinden sich halbkreisförmig in der Seevorstadt, Wilsdruffer Vorstadt und in der Friedrichstadt.
All diese Stadtteile sind durch Hochwasser der Weißeritz bedroht, aber eben auch die tragenden Elemente in der Infrastruktur. Im Jahr 2002 brach dadurch schon in den ersten 24 Stunden der Hochwasserkatastrophe der Straßenbahn-, Eisenbahn- und Straßenverkehr in der südlichen Altstadt zusammen. Besonders betroffene Punkte und Verkehrsknoten sind der Postplatz, die Könneritzstraße am Bahnhof Dresden Mitte und der Wiener Platz/Hauptbahnhof. Verkehrsknoten, die dann zentrale Aufgaben übernehmen können, sind der Pirnaische Platz und der Bahnhof Dresden-Neustadt.
Besonders betroffen waren auch die Krankenhäuser der Stadt, die teilweise evakuiert werden mussten, wie zum Beispiel in der Friedrichstadt. In Dresden wurden an zahlreichen Stellen nicht Parkhäuser, sondern Tiefgaragen gebaut, die bei Überschwemmung komplett mit Wasser volllaufen. Am Wiener Platz befindet sich auch ein Straßentunnel, der 2002 zusammen mit der anschließenden Tiefgarage am Hauptbahnhof überflutet wurde.
Durch Elbhochwasser wird die Infrastruktur insbesondere bei Sperrung von Brücken belastet. Abgesehen von Sperrungen des Terrassenufers sowie zwischen Blasewitz und Laubegast sind schwächere Hochwasser für das Straßen- und Straßenbahnnetz eher folgenlos. Infolge von starken Elbhochwassern entstehen aber durch Grundwasser Schäden am Unterbau von Straßen.
=== Gefährdung von Wohngebieten ===
Entlang der Elbe liegen viele Stadtteile mit unterschiedlichen Strukturen und Bevölkerungsdichten (Siehe dazu: Karte oben). Die Stadtteile weiter oben am Flusslauf sind mit 300 bis 4.500 Einwohnern pro Quadratkilometer bevölkert. In Innenstadtnähe steigt die Dichte auf bis zu 8.600 Einwohner pro Quadratkilometer an. In allen direkt an der Elbe liegenden Stadtteilen leben insgesamt etwa 155.000 Menschen.
Vor allem im Südosten liegen die Stadtteile Zschieren (linkselbisch), Kleinzschachwitz (l), Pillnitz (rechtselbisch), Wachwitz (r), Laubegast (l) und Tolkewitz (l) mit dörflichem Ursprung und auch gegenwärtig noch lockerer Bebauung und Besiedlung. Die historischen Dorfkerne dieser Stadtteile liegen fast durchweg so hoch, dass sie auch beim Hochwasser 2002 nicht überschwemmt wurden. Gefährdung tritt insbesondere bei den südlichen Stadtteilen durch Umschließung auf, was die Versorgung mit Trinkwasser, Strom und Lebensmitteln erschwert und teilweise unmöglich macht. In der Regel kommt es deshalb beim Durchfluten des einschließenden Elbarms zur Evakuierung dieser Viertel. Später bebaute Gebiete in Laubegast und Kleinzschachwitz, die beide zu den besten Wohngegenden der Stadt gehören, liegen heute auch deutlich tiefer, teilweise direkt an den flach verlandeten Altarmen der Elbe. Sie werden so durch Grund- und Oberflächenwasser bedroht. Insbesondere nordwestliche Teile von Laubegast sind als Überschwemmungsgebiet gekennzeichnet. Durch den alten Elbarm werden auch Teile von Gruna im Falle eines 100-jährlichen Hochwassers überschwemmt.
Weiter der Innenstadt zugewandt liegen die Stadtteile Blasewitz, Striesen, Johannstadt und Pirnaische Vorstadt, teilweise ebenfalls unmittelbar am linken Ufer der Elbe. Selbst bei starken Hochwassern kommt es in diesen Stadtteilen nur an sehr wenigen Stellen zu Überflutungen (zum Beispiel in Blasewitz), allerdings entsteht dann verbreitet Schaden durch hohes Grundwasser.
Unterhalb der Dresdner Innenstadt ist insbesondere Pieschen (rechtselbisch) durch Hochwasser gefährdet, weil dort an einer starken Kurve der Elbe starke Hochwasser nicht durch feste Deichanlagen abgewehrt werden können. Im Falle eines 100-jährlichen Hochwassers wird an dieser Stelle davon ausgegangen, dass bei Ausuferung der Elbe weite Teile von Pieschen, Trachenberge und Mickten überflutet werden könnten.Kurz vor dem Verlassen des Dresdner Stadtgebiets passiert die Elbe noch den Ortsteil Gohlis, der zur Ortschaft Cossebaude gehört. Gohlis wird als eines der ersten Gebiete an der Elbe in Deutschland durch einen Deich (hier ein Teildeich zur kontrollierten Flutung eines Polders) geschützt. Dieser ist für Wasserhöhen bis etwa 7,40 Metern Elbpegel ausgelegt und hielt sogar 2006 dem 7,49 Meter hohen Hochwasser stand. Eine ausführliche Hintergrundbeschreibung zum Schutzcharakter befindet sich im Kapitel zur Geschichte des Hochwasserschutzes.
Durch ihre Nebenflüsse entsteht (wie für die Infrastruktur auch) eine in vieler Hinsicht größere Gefahr für Wohngebiete als durch die Elbe selbst. Die Flüsse sind bei Hochwasser und Überflutung reißend und führen jede Menge Material und Geröll mit sich. Die Weißeritz erreicht das Dresdner Stadtgebiet bei 159 Metern über NN und fällt dann noch um etwa 55 Meter bis zur Mündung in die Elbe. Daraus resultierend überschwemmt sie die ufernahen Bereiche der Stadtteile Coschütz und Plauen mit hohen Fließgeschwindigkeiten. In der Gegenwart ist es in solchen Situationen nur noch mit Hubschraubern möglich, vor allem im engen Plauenschen Grund Menschen aus ihren Häusern zu evakuieren. Teilweise kam es dort zur totalen Zerstörung von Bauwerken. Im Jahr 2002 forderten die Hochwasser der Nebengewässer auch in Dresden Menschenleben. Der Fokus der Verbesserung des Hochwasserschutzes liegt in diesem Bereich vor allem auf der Verlängerung der Vorwarnzeiten.
Die Überschwemmungen in der Friedrichstadt und Wilsdruffer Vorstadt im Westen der Innenstadt durch die Weißeritz unterscheiden sich im Fließverhalten kaum von Überschwemmungen durch die Elbe. Aber auch in diesen Stadtteilen reichte die Fließgeschwindigkeit noch aus, besonders an langen Straßenzügen ohne große Fließwiderstände, um Straßen und Gleisanlagen zu unterspülen.
== Geschichte des Hochwasserschutzes ==
Bis zurück ins Jahr 1216, dem Jahr der ersten Erwähnung Dresdens als Stadt in einer Urkunde, sind Aufzeichnungen zu Elbhochwassern vorhanden. In Dresden wurden Dorfkerne an der Elbe bis auf wenige Ausnahmen entweder künstlich erhöht oder nur in höheren Lagen auf Umlaufbergen und Hängen angelegt.
Als wichtiges Ereignis für den Hochwasserschutz in Dresden kann das Elbhochwasser im März 1845 betrachtet werden. Es betraf Dresden wie zahlreiche andere Städte an der Elbe verheerend, vor allem, weil es ein Frühjahrshochwasser mit Eisgang war. Dieses Hochwasser lieferte Erkenntnisse über das Abflussverhalten und über die Flächen, die von Hochfluten getroffen werden. Erstmals wurde ein solches Hochwasser kartografisch erfasst.
Wenige Jahre später begann in Dresden das Stadtwachstum der Gründerzeit. Die in diesen Jahren getroffenen Entscheidungen zur Stadtentwicklung gelten als die prägenden Weichenstellungen bis in die Gegenwart.
1865 wurde die Breite der Elbe und ihrer Uferbereiche in Dresden festgelegt. Damit einhergehend wurde der Fluss vertieft, um auch so die Durchflusskapazität zu erhöhen und die Schiffbarkeit zu verbessern. Die Festlegung der Elbwiesen ging teilweise mit der Rücksetzung von Bauland und Bebauung einher und wurde unter zwei wichtigen Gesichtspunkten betrieben: Zum einen sollte die Wahrung der Sichtbeziehung zwischen Brühlscher Terrasse und Elbschlössern nebst dem Waldschlösschen den kulturellen Wert erhalten, auf der anderen Seite sollte ein Hochwasser wie 1845 die Stadt möglichst schadlos passieren. Für die Elbwiesen oberhalb der Mündung der Prießnitz wurde Baufreiheit festgelegt.
1869 legte das Sächsische Finanzministerium die zur Bebauung geeigneten Flächen fest. Zwischen Blasewitz und Innenstadt entstand die hochwasserfreie Uferstraße – das Käthe-Kollwitz-Ufer – als Bebauungsrahmen. In den 1870er Jahren wuchsen dann die Vorstädte und Vororte enorm, allen voran die Johannstadt. Diese bestand zur Jahrhundertwende aus geschlossener Bebauung. Blasewitz ging als Vorort mit wohlhabender Bevölkerung in Einzelbebauung auf. Die Nähe zur Elbe stand nicht mehr für weniger wertes und gefährdetes Bauland wie noch in den Dörfern, sondern für besonders teuren Boden und als Garant für Blickbeziehungen. Besonders der Bau der drei Elbschlösser am nördlichen Elbhang in der Mitte des 19. Jahrhunderts begünstigte die Bewertung der Bauflächen am gegenüberliegenden Ufer in Blasewitz und Striesen. Die Bebauung hätte ohne Regulierung der Bauflächen aller Voraussicht nach die Elbe kanalisiert.
Nach einem erneuten Hochwasser 1890 wurden die Flutrinnen als Flutentlaster unterhalb der Innenstadt angelegt. Während die Flutrinne durch das Ostragehege ein unbebautes Gebiet betraf, das zudem als sehr hochwasseranfällig galt, entbrannte um die Flutrinnen zwischen Mickten und Kaditz ein längerer Streit mit den Grundbesitzern. Die Flutrinne im Ostragehege konnte 1904 zusammen mit dem Schlachthof und dem Alberthafen angelegt werden. Unmittelbar an der Marienbrücke beginnend, führt sie zu einer Entlastung der Elbe und verhindert durch die Verlangsamung in den folgenden Kurven deren Aufstauung in der Innenstadt. Im Herbst 1918 begann der Bau der Kaditzer Flutrinne, dem Enteignungsprozesse vorhergingen.
Im Jahr 1904 wurde begonnen, die alte Augustusbrücke zu erneuern. Die neue Brücke war breiter und somit für den Straßenverkehr besser geeignet und erleichterte aufgrund ihrer weiteren Bögen den Schiffsverkehr. Damit einher ging auch eine Reduzierung der Staufläche und des Risikos von Eisverkeilung.
Das Poldersystem um Gohlis und Stetzsch im Dresdner Westen entstand am Anfang des 20. Jahrhunderts. Gohlis ist eines der Dörfer, das niedrig liegt, so dass es 1845 überflutet wurde. Beim Ausbau der Deiche im Dresdner Westen lehnte Gohlis selbst einen Deich ab, der es vor einem hundertjährlichen Hochwasser schützen konnte. Die regulierte Flutung bebauter Gebiete durch die Polder bei Hochfluten wurde gegenüber dem Risiko eines zerstörerischen Deichbruchs bevorzugt. Die Fläche ist weiterhin ein wichtiger Entlastungsraum für Radebeul auf der gegenüberliegenden Elbseite. Das Frühjahrshochwasser im Jahr 2006 zeigte, dass die Polder einem dauerhaften Wasserstand bis etwa 7,40 Meter am Pegel Dresden standhalten können. Bei Überschreitung dieser Höhe beginnt die Flutung der Gohliser Flur. Weiterhin soll der Teildeich Gohlis vor der Bedrohung durch Treibeis bei den häufigen Winterhochwassern schützen, da die Eisschollen in starken Strömungen enorme Schäden an Häusern verursachen. Auch bei Überflutung soll der Deich die Hauptströmung des Flusses an den bebauten Gebieten vorbeiführen.
Die alten Elbarme im Dresdner Osten und auf den Flächen von Heidenau und Pirna wurden nicht eingedeicht. Diese Flächen stellen, wie sich zeigte, einen wichtigen Retentionsraum für die Dresdner Innenstadt dar, da sie die ersten Flächen nach Passage der Durchbruchstäler sind, in denen sich Hochwasserscheitel abstumpfen können.
== Hochwasserschutz ==
=== Fluträume ===
Dresden besitzt für die Elbe großflächigen Flutraum. Die Elbwiesen verlaufen durch die gesamte Stadt und boten an einigen Stellen selbst 2002 Wohngebieten Schutz, die sich in unmittelbarer Elbnähe befinden (zum Beispiel Striesen, Johannstadt und Blasewitz). Diese Wiesenlandschaft wird durch Haine und Hecken unterbrochen und ist zwischen wenigen Metern am Elbhang und einigen hundert Metern breit. Teilweise, wie etwa bei Laubegast, reichen auch außerhalb der Innenstadt Bauwerke bis ans Ufer.
Zusätzlich zu den Elbwiesen gibt es zwei Flutmulden (in Dresden Flutrinnen genannt), die links- und rechtselbisch Mäander durchbrechen, also den Fluss im Hochwasserfall auch begradigen. Die linkselbische Flutrinne entstand innerhalb der Auenlandschaft des Ostrageheges im Zusammenhang mit dem Bau des Alberthafens. Diese Flutrinne umspült einen aufgeschütteten Umlaufberg, auf welchem sich der nach Plänen von Hans Erlwein errichtete neue Vieh- und Schlachthof befindet. Schon bei der Anlage des Schlachthofs wurde die Schlachthofbrücke über die Flutrinne errichtet. Inzwischen ist auf diesem Hügel auch die Messe angesiedelt. Die Flutrinne war lange Zeit allerdings nicht baufrei, da es auf Grund der dort gelegenen Eissporthalle ein Durchflusshindernis gab. Im Zuge eines Ersatzneubaus nach dem Hochwasser von 2002 wurde die Halle abgerissen, wodurch ein besseres Abflussverhalten an der Engstelle zwischen Altstadt und Neustadt erreicht wurde. Sie soll ab einem Elbpegel von 6,20 Metern an der Augustusbrücke durchflossen werden.
Die rechtselbische Flutrinne zwischen Mickten und Kaditz, etwa vier Kilometer westlich der Innenstadt, wurde zwischen 1918 und 1922 angelegt. An dieser Stelle befand sich dabei schon ein erodierender Altarm der Elbe, der bei Hochwassern entstand (vergleiche Mäandererosion). Die Flutrinne führt dazu, dass sich bei Hochwasser der Stadtteil Übigau als eine Insel darstellt. Im Vergleich zur ersten ist diese Flutrinne tiefer, aber auch schmaler. Sie soll etwa ab einem Elbpegel von 5,50 Metern an der Augustusbrücke durchflossen werden.
Im Südosten dient auch ein alter Elbarm als Flutraum. Dieser wurde aber in den letzten Jahren nicht frei von Gebäuden gehalten und wird auch nur bei sehr hohen Pegeln von der Elbe erreicht. Er umschließt die Stadtteile Zschieren, Kleinzschachwitz und Laubegast. Sowohl zwischen Kleinzschachwitz und Laubegast als auch zwischen Laubegast und Tolkewitz ist er mit der Elbe verbunden. Er wird schon teilweise überschwemmt, bevor er Wasser durchführen kann. Da zwischen Laubegast und Kleinzschachwitz der Lockwitzbach in die Elbe fließt, läuft Wasser der Elbe zuerst über diesen kurzen Arm in die Elbe zurück. Dieser östliche Teil wird nur durch Bergbau (Kiesabbau) und Landwirtschaft genutzt. Die nahen Ortsteile, darunter auch Sporbitz, liegen erhöht. Die Verbindungsstraßen von Kleinzschachwitz und Laubegast nach außen werden bei höchsten Hochwassern überflutet und die Stadtteile so abgeschnitten.
Der Elbarm, in dem sich Wassermassen etwa ab sieben Metern Pegel in die Breite verlaufen, kann Flutspitzen abflachen. Er verlagert aber auch den Rand des Überschwemmungsgebietes in die Nähe von Stadtteilen im Hinterland wie Leuben, Dobritz oder Seidnitz. Gefahr entsteht für diese Stadtteile dann, wenn der Altarm auf voller Breite durchströmt wird. Er ist allerdings auch schon vor der vollständigen Durchströmung wirksam als Retentionsraum.
Auf einer Karte, die die Ausbreitung des Hochwassers vom 18. März 1845 darstellt, ist erkennbar, dass die Fluren der Johannstadt und von Striesen weit über die Elbwiesen hinaus überflutet waren. Damals wurde dieses Gelände landwirtschaftlich genutzt oder war bewaldet. Bis zur Jahrhundertwende wurde dieser Flutraum im Zuge der Ausweitung von Johannstadt, Striesen und Blasewitz verbaut. Auch das Gebiet zwischen Mickten, Trachau und Pieschen wurde überschwemmt. Später wurde dieses Areal, das an einem alten Elbarm liegt, dicht bebaut, konnte aber 2002 durch einen Sandsackwall verteidigt werden.
=== Deichsysteme ===
In Dresden gibt es nur im geringen Maße Deiche, wie im Mittel- und Unterlauf der Elbe. Im Westen werden Gohlis und Teile von Cossebaude durch ein Deichsystem geschützt, welches bis etwa 7,40 Meter Fluthöhe Schutz bietet. Dabei handelt es sich nicht um einen voll ausgebauten Schutzdeich, sondern um ein Poldersystem, das bei hohen Fluten Entlastung durch Retention schaffen soll. Insbesondere die hohe Gefährdung ab acht Meter Elbpegel rührt daher, dass es keine Deiche gibt, die die Stadtteile vor allem im Osten bei Laubegast und Pillnitz schützen. Die alten Dorfkerne sind in diesen Teilen der Stadt aber auf höheren Lagen angelegt. Die einzige neuere Bebauung liegt zwischen den historischen Kernen und damit tiefer. Der erste Deich am deutschen Lauf der Elbe befindet sich in Übigau auf der Strecke zwischen Flügelwegbrücke und der Brücke der A 4.
Häufig werden aber die Elbwiesen und Flutrinnen durch einen sehr flachen Deich, meist den Damm einer Straße oder eines Weges, abgeschlossen. Ein Beispiel dafür ist die Straße Käthe-Kollwitz-Ufer, die als Uferstraße die Johannstadt mit Blasewitz verbindet.
Die Innenstadt kann durch ein flexibles Schutzwandsystem vor Hochwasser mit bis zu 9,24 m Dresdner Pegel geschützt werden, siehe Abschnitt „Ausbau im 21. Jahrhundert“.
=== Hochwasserrückhalt ===
Insbesondere im Umland wurden im letzten Jahrhundert Anlagen geschaffen, die Hochwasser der Erzgebirgsabflüsse auffangen, zurückhalten und regulieren sollen. Für die Elbe gibt es im deutschen Oberlauf keine Stau- oder Rückhalteanlagen. In der Tschechischen Republik gibt es vor allem an der Moldau und ihren Zuflüssen viele Stauseen und -stufen (→ Moldau-Kaskade), so zum Beispiel die 68 Kilometer lange Orlík-Talsperre und der Stausee Lipno. Moldau und Elbe besitzen in ihren tschechischen Läufen zahlreiche Staustufen, die mehr oder weniger als Hochwasserrückhalt dienen.
Die Hochwasser der Nebengewässer des Erzgebirges können in mehreren Anlagen zurückgehalten werden. Für die Weißeritz gibt es dafür die Talsperre Malter (Rote Weißeritz), die Talsperre Klingenberg und die Talsperre Lehnmühle (Wilde Weißeritz). Nach dem Hochwasser 2002 wurde der Hochwasserstauraum noch einmal erhöht. Diese Anlagen dienen nicht nur dem Schutz Dresdens, sondern auch zum Schutz umliegender Gemeinden und Städte wie zum Beispiel Freital.
Für den Lockwitzbach gibt es im Oberlauf vor Reinhardtsgrimma ein Rückhaltebecken. Für den Geberbach besteht südlich von Kauscha die Talsperre Kauscha, die sich zum Teil auch in Dresden befindet.
Für den Kaitzbach wurden Flächen in der Nähe des Stadtteils Strehlen baufrei gehalten. Diese Flächen wurden 1999 zum Rückhaltebecken Hugo-Bürkner-Park mit 11.000 m³ Fassungsvermögen ausgebaut. Das Stauvolumen erwies sich beim Hochwasser 2002 als zu klein und so wurden das linke Becken Anfang 2006 um zwei Meter vertieft. Die Anlage fasst nun 20.000 m³ und wurde schon kurz nach der Erweiterung bei der Flut der Nebengewässer während des Hochwassers der Elbe im März 2006 vollständig eingestaut. Die Anlage schützt neben Strehlen auch die Südvorstadt und insbesondere den Großen Garten. Weitere Rückhaltebecken im Einzugsgebiet des Kaitzbachs sind in Planung.
=== Objektschutz ===
Einzelne Gebäude müssen separat gegen Hochwasser geschützt werden, wie im Westen der Innenstadt das Kongresszentrum und das Heinz-Steyer-Stadion. Das Stadion würde bereits bei etwa sieben Meter Fluthöhe voll laufen, während das Kongresszentrum direkt am Ufer bis über acht Meter durch eine aufgestellte Wand geschützt wird.
Deutlich mehr Gebäude müssen auf Grund des steigenden Grundwasserspiegels gegen Auftrieb gesichert werden. Notwendig ist dies bei Neubauten, die einen druckfesten Keller besitzen. Verhindert wird der Auftrieb durch Wasserbecken, die im Gebäude befüllt werden. 2002 musste dieses Verfahren zum Beispiel beim Neubau des St. Benno-Gymnasiums in der Pirnaischen Vorstadt angewandt werden.
Nach wie vor werden zahlreiche Straßen und Gebäude mit Sandsackwällen geschützt. Dies ist der Fall zwischen Synagoge (die erhöht liegt) und Brühlscher Terrasse zur Verteidigung des Bärenzwingers, in der Nähe der Yenidze und bei äußerst starken Hochwassern am Neustädter Ufer.
=== Zuständigkeiten und Einsätze ===
In den Hochwasserschutz sind verschiedene Institutionen, Ämter und Verwaltungen involviert. Diese sind zum Teil ständig aktiv oder werden erst im Fall eines Katastrophenzustands einberufen.
==== Warnung und Gewässerverwaltung ====
Die Kontrolle und Beobachtung der Flusspegel obliegt dem Hochwasserzentrum des Landesamts für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie. Dieses Hochwasserzentrum dient der landesweiten Warnung vor Hochwassern. Es gibt dazu amtliche Warnungen heraus, die maßgeblich für das Handeln der Kommunen und Landkreise in den Hochwassergebieten sind. Über das Sirenenwarnsystem der Stadt Dresden können gesprochene Hochwasserwarnungen an die Bevölkerung standortspezifisch übermittelt werden. Von der Landestalsperrenverwaltung Sachsen werden die Deiche entlang der Elbe betreut. Nicht das Umweltamt der Stadt Dresden, sondern die Talsperrenverwaltung entscheidet über den Ausbau von Deichen in der Stadt.
==== Einsatz ====
Für die Steuerung der Talsperren und Rückhaltebecken ist die Landestalsperrenverwaltung verantwortlich. Im Fall von Hochwassern wird in Abstimmung mit dem Hochwasserzentrum Rückstauraum in den Talsperren geschaffen und, soweit möglich, Einfluss auf die Hochwasserspitzen genommen. Im Verlauf eines Hochwassers informiert das Hochwasserzentrum dabei auch über die noch zur Verfügung stehenden Stauräume. Hochwasserstauraum kann kurzfristig aufgebaut werden. Um diesen Stauraum, wie häufig verlangt, ebenfalls kurzfristig zu erweitern, müsste ein Grundablass erfolgen. Dieser ist im Rahmen der Vorwarnzeiten aber nicht realistisch bzw. würde die Durchflusskapazität der Gewässer unterhalb der Talsperren selbst überlasten und zur Ausuferung führen.
Der Stadt Dresden obliegt als Kommune das Recht und die Pflicht zur Ausrufung des Katastrophenvoralarms bzw. -alarms. In Sachsen wird der Katastrophenalarm durch § 47 des Sächsischen Gesetzes über den Brandschutz, Rettungsdienst und Katastrophenschutz ausgelöst. Damit ruft die Stadt das Technische Hilfswerk und die Bundeswehr zur Amtshilfe. Weiterhin kann sie bei diesem Alarm Evakuierungen anordnen. Bei Extremereignissen an den Nebenflüssen, insbesondere an der Weißeritz, können Evakuierungen teilweise nur mit Hilfe der Search-and-Rescue-Einheiten der Bundesrepublik durchgeführt werden. Diese sind unabhängig vom Katastrophenalarm binnen weniger Minuten einsatzfähig. 2002 mussten zur Evakuierung der Krankenhäuser auch MedEvac-Flugzeuge der Bundeswehr eingesetzt werden. Die meisten Patienten wurden in umliegende Krankenhäuser und Kliniken transportiert.
Die Stadt löst im Allgemeinen Katastrophenvoralarm aus, wenn die Gefahr besteht, dass die Elbe einen Pegel von sieben Metern erreicht. Mit Erreichen dieser höchsten Hochwasseralarmstufe wird der Katastrophenalarm für die Stadtteile an der Elbe ausgelöst. Bei Hochwassern der Nebengewässer löst die Stadt fast für das gesamte Stadtgebiet Katastrophenalarm aus oder grenzt den Alarm überhaupt nicht ein.
==== Logistik und Transport ====
Wichtiger Stützpunkt zur Versorgung von Dresden, aber auch des gesamten Ballungsraums im Oberen Elbtal ist der Flughafen Dresden. Er liegt auf einer Höhe von 230 Metern über Null nordwestlich der Innenstadt und ist damit hochwassersicher. Von diesem Flughafen aus können Patienten der Krankenhäuser evakuiert, aber auch schweres Gerät, zum Beispiel Schwimmpanzer, eingeflogen werden.
Die Bundesautobahn 4, die die Elbe im Westen der Stadt überquert, kann bei Hochwasser geöffnet bleiben, wodurch die Stadt aus allen Richtungen erreichbar bleibt.
==== Dokumentation ====
Die Aufgabe der Dokumentation, insbesondere der Überschwemmungsgebiete und des Abflussverhaltens, übernimmt in Dresden das Umweltamt. Sowohl 2002 als auch beim Hochwasser 2006 wurden dabei mit Hilfe der Luftwaffe umfangreiche Luftbildaufnahmen angefertigt und ausgewertet. Zudem ruft die Stadt Einwohner zum Beispiel im Internet auf, die Ausdehnung der Überschwemmung beim Höchststand zu präzisieren. 2002 und 2006 wurden Karten so umfangreich bearbeitet und detailliert fertig gestellt.
Die Gültigkeit von Informationen über Überschwemmungsgebiete und vor allem des Abflussverhaltens bei Extremereignissen ist durchaus eingeschränkt. Insbesondere durch neue Bebauung ändern sich Überschwemmungsgebiete enorm. Ein Beispiel dafür ist der Hauptbahnhof, dessen tiefer Kopfbahnhofsteil beim letzten Ereignis vor 2002 noch nicht existierte. Bebauung wirkt sich auch auf das Verhältnis von Durchflussmenge und Pegelhöhe aus. Vor allem bei Hochwassern im Abstand von zehn bis zwanzig Jahren spielt die Dokumentation eine wichtige Rolle. Auf der Basis solcher Überschwemmungskarten und den Erfahrungswerten lassen sich einfacher Entscheidungen treffen, an welchen Stellen Überschwemmungen durch mobile Wände oder Sandsackwälle effektiv abgewehrt werden können. Auch lässt sich auf Basis dokumentierter Erkenntnisse entscheiden, welche Gebiete und Objekte bei den prognostizierten Pegelständen verteidigt werden können.
Auch das Baurecht ist von der Ausweisung von Überflutungsgebieten betroffen. In Gebieten, die 2002 überschwemmt wurden, werden gegenwärtig keine Baugenehmigungen mehr erteilt, während insbesondere zwischen 1990 und 2002 an einigen Stellen, zum Beispiel bei Laubegast, noch Bauwerke im verlandeten Altarm der Elbe errichtet wurden.
=== Ausbau im 21. Jahrhundert ===
Seit dem Hochwasser 2002 plant die Stadt den Schutz weiter Teile vor Oberflächenwasser bei sehr hohen Überschwemmungen. Vorgesehen ist ein System aus Schutzwänden aus Stahlbohlen, ähnlich wie es seit längerem in Prag eingesetzt wird. Dort schützt diese Maßnahme insbesondere die historische Innenstadt. Eine akute Gefährdung liegt diesbezüglich in der Innenstadt Dresdens nur für die tiefere Bebauung am Neumarkt und Theaterplatz vor; vor allem am Zwinger und an der Semperoper können Schäden entstehen. Diese Bereiche einschließlich der westlichen Vorstadt Friedrichstadt können seit 2011 durch feste und mobile Wände gegen Hochwasser bis 9,24 Meter gesichert werden.Der Pegelstand von 9,24 Meter (also 16 cm unter dem Höchststand vom 17. August 2002) wurde im Jahr 2004 als neue Höchstmarke für das HQ100-Ereignis der Elbe in Dresden festgelegt, mit einem Scheitelwert von 8,76 m am 6. Juni 2013 blieb das verheerende Hochwasser elf Jahre später noch deutlich unter dieser Marke. Sowohl bei Hochwassern der Elbe als auch bei Ereignissen an den Gewässern zweiter Klasse können aber auch Wasserstände auftreten, die extremer sind als die im Jahr 2002.
Nach dem Hochwasser im Frühjahr 2006, das vor allem Gohlis bedrohte, wurde beschlossen, das dortige Poldersystem durch einen Schutzdeich zu ergänzen. Gohlis wäre damit auch vor Hochwassern über 7,40 Metern geschützt. Die flachen Deiche an der Elbe, die ursprünglich nur die Bodenerosion bei Hochwasser verhindern sollten, bleiben erhalten. Die Polderfläche (und damit der Flutraum) wird durch den Schutzdeich aber aller Voraussicht nach kleiner.
Die Stadt Dresden fordert, am Lauf des Lockwitzbachs ein weiteres Rückhaltebecken zwischen Kreischa und Dresden zu bauen und hat diesen Ausbau des Hochwasserschutzes mit hoher Priorität bei der Landestalsperrenverwaltung einordnen lassen. Auch fordert die Stadt, einen weiteren Pegel auf Höhe der Lockwitztalbrücke an der Stadtgrenze einzurichten, da der Pegel Kreischa im Februar 2006 keine Gefahr für die Stadtteile entlang des Lockwitzbachs erwarten ließ, Gefahr aber örtlich durch Eisversatz bei mäßigem Hochwasser entstand.Da die infolge des 2002er Hochwassers vom Umweltamt vorgeschlagene elbseitige Ummauerung von Laubegast auf Ablehnung seitens einiger Bewohner des Stadtteils stieß, wurde zur Lösungsfindung ein „Beteiligungsprozess“ in dem Stadtteil initiiert. Dieser verlief so schleppend, dass Laubegast beim Elbhochwasser 2013 noch schutzlos war und somit ähnlich wie 2002 zu beträchtlichen Teilen überflutet wurde.
== Siehe auch ==
Wiener Donauregulierung
Elbe-Umflutkanal und Pretziener Wehr
Hochwasser(schutz) in Würzburg
== Weblinks ==
Allgemein
Stadt Dresden: Hochwasser
Themenstadtplan Dresden: Anzeige der Maßnahmen der öffentlichen HochwasservorsorgeBezogen auf konkrete Hochwasser
Ereignisanalyse Hochwasser August 2002 in den Osterzgebirgsflüssen. (PDF; 3,94 MB) Sächsisches Landesamt für Umwelt und Geologie, archiviert vom Original am 7. Januar 2017; abgerufen am 15. Dezember 2016.
Dokumentation des Hochwassers vom August 2002 im Einzugsgebiet der Elbe. (PDF; 4,11 MB) Internationale Kommission zum Schutz der Elbe, abgerufen am 15. Dezember 2016.
Einfluss des August Hochwassers 2002 auf das Grundwasser. (PDF; 2,80 MB) Sächsisches Landesamt für Umwelt und Geologie, archiviert vom Original am 21. Dezember 2016; abgerufen am 15. Dezember 2016.
Hochwasser August 2002 in den Osterzgebirgsflüssen Ereignisanalyse: Managementreport. (PDF; 895 kB) Sächsisches Landesamt für Umwelt und Geologie, archiviert vom Original am 21. Dezember 2016; abgerufen am 15. Dezember 2016.
Hans-Ulrich Sieber: Auswirkungen des Extremhochwassers vom August 2002 auf die Sicherheit der Talsperren, Hochwasserrückhaltebecken und Wasserspeicher. Deutsches Talsperrenkomitee/Landestalsperrenverwaltung des Freistaates Sachsen, archiviert vom Original am 3. Mai 2018; abgerufen am 15. Dezember 2016.
Karte des Elbstromes innerhalb des Königreichs Sachsen: mit Angabe des durch das Hochwasser vom 31sten März 1845 erreichten Ueberschwemmungsgebietes. In: Deutsche Fotothek – Kartenforum. Abgerufen am 15. Dezember 2016.
== Einzelnachweise ==
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hochwasserschutz_in_Dresden
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